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Full text of "Randbemerkungen eines Philosophen zum Weltkriege, 1914-1920; mit Genehmigung des Verfassers, übersetzt von Julius Schlosser"

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Sg  BENEQETTO    i:ROCE 


■O 


■i  RANI^EEMERKUNQEN 
E1NE3  PHILOSOPHEN 
ZUM  WELTKRIEGE 


Qemalt  von  Giacomo  Qrosso 


/\       C4/VÄ. 


BEN 


TTO   CROCE 


RANDBEMERKUNGEN 
EINES  PHILOSOPHEN 
ZUM  WELTKRIEGE 

I914 — 1920 

* 

MIT 

GENEHMIGUNG  DES   VERFASSERS 

ÜBERSETZT  VON 

JULIUS    SCHLOSSER 


AMALTHEA-VERLAG 


ZÜRICH    /   LEIPZIG    /    WIEN 


Alle  Rechte   vorbehalten 
C  o  p  y  r  i  g  h  t    I  9  2  2    by   A  m  al  t  hea  -  V  er  1  a  g, 

Zürich  /  Leipzig  /  Wien 
Spamersche    B  u  ch  dr  u  ck  er  ei    in    Leipzig 


„Wahrheit  ist  Licht,  und  Licht  ist 
der  Welt  Leben."  Croce 


VORWORT  DES  ÜBERSETZERS 

Was  ein  Mann  wie  Benedetto  Croce  von  der 
höchsten  Warte  des  Gedankens  aus  während  des  Welt- 
krieges gedacht,  gefühlt,  geäußert  hat,  das  zu  erfahren 
scheint  mir  namentlich  für  uns  Deutsche  im  höchsten 
Grade  notwendig  und  nützlich  zu  sein.  Denn  ich  habe 
die  feste  Überzeugung  (und  ich  meine,  eine  nicht  mehr 
ferne  Zukunft  wird  mir  Recht  geben),  daß  hier  nicht 
nur  der  größte  Philosoph  unserer  Zeit  (was  nicht  all- 
zuviel besagen  würde,  auch  den  Modegötzen  gegen- 
über) zu  uns  spricht,  sondern  überhaupt  der  stärkste 
Denker  seit  der  ersten  Hälfte  des  vergangenen  Jahr- 
hunderts, dort  anknüpfend,  wo  die  letzten  wirklich 
großen  Denker,  die  der  deutschen  romantischen  Philo- 
sophie, den  Faden  haben  fallen  lassen,  und  diesen  wieder 
aufnehmend,  über  tote  Kathederphilosophie  hinweg: 
in  seiner  vierbändigen  ^^Philosophie  des  Geistes^^ .  Croce, 
der  zeitlebens  nie  etwas  anderes  als  ein  einfacher  Privat- 
gelehrter sein  wollte,  der  jede  akademische  Laufbahn 
bewußt  verschmäht  und  trotzdem  „Schule"  gemacht 
hat,  der  im  Kriege  seines  innigen  Verhältnisses  zum 
echten  deutschen  Geist  und  Wesen  halber  verfemt 
und  geschmäht  worden  war,  der  sein  Land  vor  dem 
furchtbaren  Wagnis,  in  das  es  geschichtliches  Schick- 
sal trieb,  solange  als  möglich  zurückhalten  wollte,  dann 
aber  stark  und  männlich  seine  Pflicht  als  Bürger  erfüllt 
hat,  —  wie,  sagt  das  nachfolgende  Buch  auf  jeder  Seite, 


vorbildlich  auch  für  uns  Deutsche  —  dieser  Mann  war  bis 
vor  kurzem  Unterrichtsminister  des  Königreichs,  und 
daß  er  diese  schvvrere  Bürde  übernehmen  konnte  und 
übernahm,  ist  ebenso  ein  schönes  Zeugnis  für  den  w^ohl- 
bekannten,  auch  von  ihm  selbst  mit  Recht  betonten 
„buon  senso"  seines  Volkes  —  im  stärksten  Gegensatz  zu 
gallischem  Nervenkoller —,  wie  für  sein  eigenes,  aufrech- 
tes, aber  nie  beirrbares  nationales  Fühlen.  Niemals  hat 
Croce  gegen  seine  Überzeugung  gesprochen,  stets  frei 
und  offen  seine  Meinung  gesagt,  vor  allem  den  eigenen 
Volksgenossen,  wie  dessen  Verbündeten,  und  uns,  den 
„Feinden"  von  damals,  ja  für  diese,  mitten  im  Kriege, 
mehr  als  einmal  seine  Stimme  erhoben.  Das  ehrt  ihn, 
wie  uns,  ehrt  auch  sein  so  oft  gerade  von  den  lateini- 
schen „Brüdern"  so  gründlich  verkanntes  und  von  oben 
herab  behandeltes  Land.  Es  ist  starke,  nährende,  frei- 
lich oft  auch  heilsam  bittere  Kost,  die  uns  hier  gereicht 
wird,  wieder  im  höchsten  Gegensatz  zu  der  viel  ein- 
gänglicheren, begehrten  und  gerühmten  des  zweifellos 
edlen,  aber  auch  viel  weichlicheren  und  voreinge- 
nommeneren Romain  Rolland.  Und  das  brauchen  ge- 
rade wir  in  diesen  schwersten  Tagen  deutschen  Ge- 
schehens ! 

Croces  Aufsätze  sind  in  verschiedenen  Zeitschriften 
und  Tageszeitungen,  vor  allem  in  der  von  ihm  heraus- 
gegebenen „Critica"  erschienen;  gesammelt  w^urden  sie 
als  ein  Band  der  von  seinem  treuen  Anhänger  G.  Ca- 
stellano  besorgten  „Pagine  sparse^^  (4  Bde.,  Neapel, 
R.Ricciardi  191 9);  eine  Auswahl  daraus  bietet,  mit  Ge- 
nehmigung von  Autor,  Herausgeber  und  Verleger,  der 
vorliegende  Band.  Was  nun  dem  Übersetzer  vor  allem 
am  Herzen  lag,  war  aber,  ein  Mittleramt  zwischen  den 
beiden  großen,  in  Glück  und  Leid  stets  schicksalhaft  und 

8 


einzig  in  Europa  verbundenen  Völkern,  die  sich  eben 
so  männlich  gemessen  haben,  auszuüben;  und  darin 
glaubte  ich,  als  ihnen  beiden  und  nur  ihnen,  durch 
Blut  und  Sinnesart  angehörig,  dazu  ein  Bürger  der 
zwischen  ihnen  liegenden  Ostmark,  eine  gewisse  Sen- 
dung erfüllen  zu  können,  an  dem  Brückenbau  mittun 
zu  dürfen,  der  sie  schon  heute  wieder  einander  nähert. 

Ich  habe  es  auch  hier  versucht,  Croces  unerhört 
kraftvollen  Stil,  den  langen  Atem  seiner  Perioden,  in 
welche  die  sich  drängenden  Gedanken  oft  fast  gewalt- 
sam gepref3t  werden ,  nachzubilden ,  auf  die  Gefahr 
hin,  ungelenk  zu  werden ;  es  schien  mir  für  das  Wesen 
des  Denkers  wichtig  zu  sein. 

Es  mag  aber  das  nachdenkliche  Wort  in  Erinnerung 
gebracht  werden,  das  der  weise  Cid  Hamet  ben  Engeli 
durch  den  Mund  seines  Junkers  von  der  Mancha  voll 
orientalischer  Gelassenheit  ausspricht:  „Bei  alledem 
scheint  es  mir,  daß  Übersetzen  aus  einer  Sprache  in  die 
andere  —  handelt  es  sich  nicht  um  die  Königinnen  der 
Sprachen,  Griechisch  und  Latein  —  gerade  so  viel 
heißt,  als  wenn  jemand  niederländische  Tapeten  von 
der  Rückseite  betrachtet,  wo  man  wohl  die  Figuren 
sieht,  aber  durchkreuzt  von  Fäden,  die  sie  undeutlich 
machen,  und  nichts  von  der  Glätte  und  dem  Aussehen 
der  Vorderseite  erkennen  lassen  .  .  .  Doch  will  ich  da- 
mit nicht  sagen,  daß  dieses  Geschäft  des  Übersetzens 
keine  löbliche  Sache  sei,  denn  es  gibt  schlimmere 
Dinge,  mit  denen  der  Mensch  sich  beschäftigen  kann 
und  die  weit  weniger  Nutzen  stiften." 

Abbazia,  im  Sommer  1921. 

J.  S. 


ALS   EINLEITUNG 

EIN  INTERVIEW  MIT  B.  CROCE  {Corriere 
d'ltalia.,  Rom^  13.  Okt.  191 4).  —  Ich  richtete  an  ihn  die 
Fragen  des  Tages :  Gibt  es  zwei  verschiedene  und  ein- 
ander entgegengesetzte  Gesittungen?  Glauben  Sie  an 
den  Unterschied  von  Rassen  und  Stämmen?  Glauben 
Sie,  daß  der  deutsche  Militarismus  sich  im  Wider- 
spruch zu  der  modernen,  industriellen  Gesittung  be- 
findet? 

Croce  ließ  sie  lächelnd  über  sich  ergehen;  auf  jede 
Frage  folgte  ein  Stillschweigen.  Da  ich  mir  dachte, 
daß  dieses  Stillschweigen  eine  Ermutigung  bedeutete, 
fuhr  ich  fort:  Sind  Sie  den  Federkriegen  der  italieni- 
schen und  ausländischen  Zeitungen  über  dies  Verhältnis 
der  italienischen  Kultur  zum  französischen  und  deut- 
schen Geiste  gefolgt,  über  die  größere  Verwandtschaft, 
die  .  .  . 

Ja,  —  unterbrach  mich  Croce  —  ich  habe  diese  und 
andere  Erörterungen  ähnlicher  Art  gelesen,  nicht  allein 
in  den  italienischen  Zeitungen  und  aus  ihnen,  wie  man 
sich  leicht  vorstellen  kann,  in  den  französischen  und 
englischen  ins  gehörige  Licht  gestellt,  sondern  auch 
Schriftchen,  Rundschreiben,  Kundgebungen,  offene 
Briefe,  wie  ich  sie  Tag  für  Tag  von  deutschen  Gelehrten, 
Philologen  und  Philosophen  erhalte,  die  auch  ihrer- 
seits in  den  erwähnten  Streitigkeiten  Partei  ergreifen 
und  ihre  Meinung  oder  vielmehr  ihr  heiß  verfoch- 

II 


tenes  Glaubensbekenntnis  mit  vieler  geschichtlicher 
Gelehrsamkeit  und  mit  Darlegungen  zu  stützen  suchen. 
Wollen  Sie  wissen,  was  ich  davon  halte? 

—  Gerade  darauf  kommt  es  mir  an. 

—  Es  ist  sehr  einfach.  Ich  betrachte  das  alles  als 
Ausstrahlungen  des  Kriegszustandes.  Es  handelt  sich 
nicht  so  sehr  um  vernünftige  Erwägungen,  als  um  den 
Zusammenprall  von  Leidenschaften ;  nicht  um  logische 
Lösungen,  sondern  um  die  Bekundung  nationaler  An- 
sprüche, so  edel  sie  auch  sein  mögen,  nicht  um  wirk- 
liche Vernunftgründe,  sondern  um  vorgespiegelte,  von 
der  Einbildung  erzeugte  ... 

—  Demnach  glauben  Sie,  daß  diese  Fragen  nicht 
wahrheitsgemäße  Lösung  finden  können  .f' 

—  Ich  glaube,  nach  beendetem  Krieg  wird  man  zur 
Einsicht  kommen ,  daß  der  Boden  Europas  durch 
einige  Monate  oder  Jahre  nicht  nur  unter  der  Last  der 
Waffen,  sondern  auch  unter  der  des  Aberwitzes  ge- 
zittert hat.  Franzosen,  Engländer,  Deutsche  und  Ita- 
liener werden  sich  schämen  oder  werden  lächeln,  und 
für  die  Urteile,  die  sie  von  sich  gegeben  haben,  um 
Nachsicht  bitten ;  sie  werden  sagen,  daß  es  nicht  Urteile, 
sondern  Gefühlsausdrücke  gewesen  sind.  Noch  mehr 
werden  wir  Neutrale  zu  erröten  haben,  die  wir  oft, 
als  von  einer  offenkundigen  Sache,  von  deutscher  Bar- 
barei gesprochen  haben;  unter  allen  Torheiten,  als 
Früchten  der  Jahreszeiten,  wird  diese  den  Vorrang  be- 
haupten, weil  sie  sicherlich  die  gewaltigste  ist. 

—  Sie  bedauern  also  diesen  Wettkampf  gegenseitiger 
Verleumdung.? 

—  Hören  Sie  —  schloß  Croce  -,  die  Philosophie 
der  Geschichte  werden  wir  später  zu  verwirklichen 
haben.   Für  jetzt  wollen  wir  bloß  auf  unsere  Ange- 

12 


legenheiten  achten,  wie  es  unsere  Pflicht  ist,  und  uns 
auf  die  Ereignisse  ohne  Taumel  und  ohne  Hast  vor- 
bereiten. Sollte  es  uns  späterhin  gelingen,  allen  recht  und 
allen  unrecht  zu  geben,  wie  es  zweifellos  der  künftige 
Geschichtschreiber  tun  wird,  so  wird  das  ein  schöner  Be- 
weis unserer  Stärke  sein.  Und,  glauben  Sie  mir,  es  würde 
uns  nicht  zum  Nachteil  ausschlagen,  weil  Wahrheit 
und  Klarheit  niemals  schaden  können.  Empfiehlt  man 
den  Leuten  doch,  auch  im  Augenblick  höchster  Gefahr 
nicht  den  „Kopf"  zu  verlieren ! 


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ANLÄSSLICH  EINER  UNTERSCHRIFT  De- 
zember igi4  {La  Critica  XIII).  —  Ein  geistreicher 
junger  Mann,  der  Philosophie  beflissen  und  mein 
guter  Freund,  richtet  in  den  Spähen  einer  pohtischen 
Zeitung  [Idea  nazionale  vom  5.  Dez.  19 14)  eine  Art 
Vorladung  an  mich:  ich  solle  erklären,  wieso  ich  vor 
einigen  Monaten  meine  Zustimmung  zu  einem  Briefe 
erklärt  hätte,  gerichtet  von  einigen  italienischen  For- 
schern an  den  Leiter  des  Deutschen  archäologischen 
Instituts  in  Rom,  der  einen  Aufschub  des  Urteils  über 
die  dem  deutschen  Heere  aufgebürdete  Zerstörung 
des  Doms  von  Reims  verlangt  hatte.  Nun  bin  ich  in 
Wahrheit  über  alles  das,  v^as  ich,  als  freier  Bürger, 
im  politischen  Wesen  der  gegenwärtigen  Stunde,  zu 
tun  für  gut  befinde,  niemand  anderem  als  meinem 
Gewissen  Rechenschaft  schuldig,  und  darum  habe  ich 
bis  jetzt  allen  Anwürfen  oder  vielmehr  Beleidigungen 
gegenüber  geschwiegen,  die  ein  paar  junge  politische 
Literaten  mir  entgegenzuschleudern  beliebten;  sie 
scheinen  zu  verlangen,  daß  ich  mit  ihrem  Hirn  denken 
solle,  statt  mit  dem  meinen,  wie  das  mein  alter  Brauch 
ist.  Aber  da  es  sich  jetzt  nicht  darum  handelt,  der 
Mitarbeiter  der  Idea  nazionale  vielmehr  ein  Tages- 
ereignis zu  einer  großen  philosophischen  Frage  auf- 
bauscht und  eine  weitläufige  Untersuchung  über  den 
Wert  der  „Geschichte  von  heute"  anstellt,  die  nicht 
weniger  Geschichte  ist  als  die,  die  „Geschichte  von 
morgen"  sein  wird;  da  wir  mithin  damit  das  Gebiet 

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der  Philosophie  betreten,  so  kann  ich  recht  wohl  und 
zwar  in  dieser  Rundschau  antworten.  Vor  allem  habe 
ich  es  nicht  nötig,  zu  erklären,  daß  ich  die  „Geschichte 
von  heute"  für  eine  vollkommen  echte  Geschichte  halte, 
da  gerade  dies  ein  seit  langer  Zeit  in  mir  ausgereifter 
und  in  meinen  Büchern  über  die  Theorie  und  Ge- 
schichte der  Historiographie  dargelegter  Begriff  ist. 
Allein  um  ihn  gänzlich  zu  verstehen,bedarf  es  vieler  Auf- 
merksamkeit und  feinen  Unterscheidungs Vermögens;  es 
mißversteht  ihn,  wer  den  historischen  (oder  gefühls- 
mäßig-historiographischen)  Augenblick  einer  Schrift 
oder  einer  Erzählung,  die  sich  geschichtlich  nennt,  mit 
dem  gefühlsmäßigen  (oder  rein  gefühlsmäßigen) 
Augenblick  verwechselt,  der  sich  kraft  der  Einheit  des 
Geistes  ebenfalls  in  jener  Schrift  oder  jener  Erzählung 
vorfindet.  Beispielsweise:  Die  gemäßigte  Schule  der 
italienischen  Wiedererhebung  unternahm  es,  unter  dem 
Antrieb  der  nationalen  Bestrebungen,  das  Wirken  des 
Papsttums  im  Mittelalter  von  neuem  zu  überprüfen: 
da  nun  die  Romantik  und  der  liberale  Katholizismus 
die  Einsicht  in  jenes  Wirken  förderten,  so  verstanden 
jene  Geschichtschreiber  sehr  gut,  was  die  voltairisieren- 
den  Geschichtschreiber  nicht  getan  hatten ,  daß  das 
Papsttum  das  Erbe  der  lateinischen  Kultur  an  sich  ge- 
nommen und  gegen  die  Barbaren  geltend  gemacht 
hatte,  in  einer  den  neuen  Zeiten  entsprechenden 
Form,  das  heißt  als  christliches  Römertum.  „Ge- 
schichte von  heute"  und  „historiographischer  Augen- 
blick" also  —  dadurch  förderten  die  Schriften  jener 
Historiker  die  wissenschaftliche  Geschichtschreibung 
und  brachten  ihr  Begriffe,  die  einen  festen  Bestandteil 
unserer  modernen  Anschauungen  ausmachen.  Allein 
jene  Historiker  hatten  außer  der  Leidenschaft,  die  sich 

i6 


zur  Geschichtschreibung  erhöhte,  noch  eine  andere: 
die  sogenannte  neuguelfische  Utopie,  das  Papsttum  als 
einzigen  Hort  des  Guten,  damals,  jetzt  und  immer;  und 
diese  Utopie  (die  der  Geschichte  der  liberalen  katho- 
lischen Politik  angehört)  von  jenem  historischen  Be- 
griff zu  unterscheiden,  (der,  wie  erwähnt,  der  Ge- 
schichte des  Denkens  angehört),  das  ist  Pflicht  des 
Kritikers ;  würde  er  sie  miteinander  vermengen,  so  wäre 
er  nicht  imstande,  jenen  Schriftstellern  Gerechtigkeit 
widerfahren  zu  lassen,  vermöchte  nicht  einmal  den 
Unterschied,  der  zwischen  dem  einen  und  dem  andern 
im  Hinblick  auf  ihr  Verdienst  als  Geschichtschreiber 
obwaltet,  erkennen,  und  die  Troya  und  Capponi  ver- 
mengten sich  ihm  mit  den  Balbo  und  Gioberti.  Ist 
dies  klar?  —  Mein  Freund  wird  freilich  sagen,  daß  er 
nicht  unterscheiden  wolle,  und  ich  muß  wiederholen, 
was  ich  ihm  in  dieser  Rundschau  im  Hinblick  auf 
andere  festumrissene  Aufgaben  gesagt  habe :  daß  er  da- 
mit irregeht  und  darauf  verzichten  muß ,  die  Lehre 
von  der  Historiographie  zu  entwickeln  und  ihre  Ge- 
schichte darzustellen,  da  diese  durchaus  auf  dieser 
Grundunterscheidung  ruht. 

Wünscht  er  noch  einen  weiteren  Beweis?  Da  er 
nicht  unterscheiden  will,  zwischen  Darlegung  der 
Wahrheit  und  Gefühlsäußerung,  und  eine  reine  Ge- 
fühlsäußerung für  ihn  ebenso  viel  gilt  als  die  Er- 
forschung der  Wahrheit,  weil  diese,  seiner  Ansicht 
nach,  nichts  anderes  als  eine  „Wahrheit  der  Tat  nach" 
ist,  so  wäre  auch  seine  an  mich  gerichtete  Vorladung 
ungerechtfertigt;  und  ich  könnte  mich,  wollte  ich  seine 
eigentümliche  Ansicht  mir  zu  eigen  machen,  darauf 
beschränken,  ihm  zu  antworten,  daß  meine  „Aktua- 
lität" mindestens  ebenso  viel  wert  sei  als  die  seine, 

2    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  I  ^7 


meine  Ungereimtheiten  ebenso  viel,  als  die  von  seiner 
Seite,  und  damit  Gott  befohlen!  Überhaupt  möchte 
ich  meinem  Freunde  (v^ie  andern  jungen  italienischen 
Philosophiebeflissenen)  raten,  sich  in  jenem  Nach- 
denken zu  üben,  das  die  Unterschiede  aufspürt  und 
das  ebenso  nötig  ist  als  das  Bewußtsein  der  Einheit- 
lichkeit des  Wirklichen,  das  sich,  ohne  jenes  Nach- 
denken, in  abstrakte  Einheitlichkeit  verliert.  Ich  möchte 
ihm  noch  einen  v^eitern  Rat  geben :  sich  in  jenem  andern 
Unterscheidungsvermögen  zu  üben,  das  zwischen  Phi- 
losophie und  praktischem  Tun  liegt,  gemeiniglich  der 
gesunde  Menschenverstand  genannt  wird,  und  ver- 
bietet, auf  Aussprüche  Piatos  oder  Kants  zurückzu- 
greifen, wenn  man  seine  Magd  oder  den  Kutscher  aus- 
schelten will.  Der  Brief,  zu  dem  ich  meine  Zustimmung 
erklärt  habe,  war  kein  philosophischer  Text,  noch  hatte 
ich  ihn  verfaßt;  auch  wäre  er,  hätte  ich  ihn  geschrieben, 
von  vielen  Unterzeichneten  nicht  unterfertigt  worden, 
da  sie  ihn  möglicherweise  abgeschmackt  oder  schul- 
füchsig  gefunden  hätten :  es  war  ein  gemeinsames  Un- 
ternehmen, und  wer  in  einer  Versammlung  für  eine 
Tagesordnung  stimmt,  geht  über  manches  Wort,  das 
ihm  überflüssig  erscheint,  hinweg  und  bescheidet  sich 
bei  manchem  andern,  das  er  im  Hinblick  auf  seine 
eigenen  Wünsche  vermißt.  Handelte  man  nicht  also, 
so  würden  keine  Tagesordnungen  mehr  zustande  kom- 
men, noch  wäre  es  möglich,  sich  zu  irgend  einem  ge- 
meinsamen Schritt  zusammenzutun.  Man  müßte  da- 
heim bleiben  und  wissenschaftliche  oder  dichterische 
Schriften  verfassen.  Das,  worauf  es  bei  einem  solchen 
gemeinsamen  Schritt  ankommt,  ist,  daß  man  sich  sei- 
nen Grundgedanken  aneignet;  ich  kann  meine  Ver- 
wunderung darüber  nicht  verhehlen,  daß  mancher  über 

i8 


eine  Sache  so  viel  redet  und  tüftelt,  deren  leitender 
Gedanke  ganz  klar  zutage  liegt.  In  Italien  hatte  in- 
folge von  offenkundig  zurechtgemachten  Telegram- 
men, die  von  einer  Gruppe  der  Kämpfenden  kamen, 
eine  Reihe  von  heftigen  Kundgebungen  gegen  die 
„deutsche  Barbarei"  eingesetzt,  die  die  HeimatWinckel- 
manns  so  behandelten,  als  w'äre  sie  die  eines  Attila  oder 
Omar;  und  nun  wendet  sich  ein  deutscher,  seit  vielen 
Jahren  in  Italien  lebender  Forscher,  Freund  und  Kollege 
italienischer  Forscher,  Leiter  eines  wissenschaftlichen 
Instituts,  in  höflicher  Form  an  seine  italienischen  Be- 
rufsgenossen,  im  Namen  jener  wissenschaftlichen 
Brüderschaft,  die  über  den  nationalen  Kämpfen  steht, 
und  ersucht,  man  möge  das  Endurteil  über  das  Vor- 
gehen der  Deutschen  vor  Rheims  aufschieben,  bis  sichere 
Belege  darüber  vorliegen.  War  es  also  nicht  vollkom- 
men natürlich,  daß  einige  italienische  Forscher  es  für 
großherzig  und  pflichtgemäß  ansahen,  ein  Wort  der 
Zustimmung  auf  jene  Aufforderung  hin  zu  äußern? 
Die  Sache  mag  andern  ja  nicht  zu  Gesichte  ge- 
standen haben:  aber  was  hat  damit  die  Lehre  vom 
„zeitgenössischen  Wesen"  aller  Geschichte,*  und  der 
„Geschichte  von  heute",  die  ebenso  Geschichte  ist  wie 
die  „von  morgen"  zu  schaffen?  Würde  der  in  Rede 
stehende  Artikelschreiber  einer  schlechten  Handlung 
geziehen  werden,  und  wendete  er  sich  an  mein  Billig- 
keitsgefühl, das  Urteil  so  lange  aufzuschieben,  bis  er 
die  Belege,  die  jene  Anklage  als  verleumderisch  er- 
härten, vorlegen  könne,  müßte  ich  dann,  im  Namen 
des  „zeitgenössischen  Wesens"  der  Geschichte  seine 
Bitte  abweisen,  und  dem  blinden  Trieb  des  Augen- 
blicks gehorchend,  ihn  einstweilen  verdammen  ?  Unser 
Brief  an  Prof.  Delbrück  mag  —  es  steht  das  auf  einem 

»•  _  .  19 


andern  Blatt  —  aus  politischen  Gründen  Mißfallen  er- 
regt haben  bei  denen,  die  es  für  förderlich  halten,  ge- 
genwärtig Deutschland  in  düstern  Farben  zu  malen 
und  aus  ihm  ein  Ungeheuer  oder  Schreckgespenst  zu 
machen ;  aber  es  erscheint  mir  keineswegs  notwendig, 
dabei  die  Philosophie  zu  bemühen.  Ich  halte  es  im 
Gegenteil  für  klug,  sie  nicht  zu  bemühen;  denn  es 
könnte  ihr  einfallen,  die  Mahnung  auszusprechen,  daß 
die  Therapeutik  der  Lügen  weder  für  ein  Einzel- 
wesen noch  für  ein  Volk  etwas  sonderlich  erquickliches 
hat;  und  die  Geschichte  möchte  ihrerseits  in  Erinne- 
rung bringen,  daß  im  Zeitraum  der  nationalen  Wieder- 
erhebung, nach  der  mißlungenen  Revolution  von 
1848/49,  Nicolo  Tommaseo  die  Italiener  anspornte, 
aller  Weichlichkeit  zu  entsagen  und  sich  „ein  wenig 
zu  Kroaten  machen";  desgleichen  haben  die  besten 
Männer  der  vaterländischen  und  freiheitlichen  Bewe- 
gung stets  gemahnt,  die  Schmähungen  gegen  Radetzky 
zu  unterlassen  und  sich  wohl  vor  Augen  zu  halten, 
daß  ebenso  wie  die  Italiener  das  Recht  hatten,  gute 
italienische  Patrioten  zu  sein,  ebenso  Papa  Radetzky 
für  sein  Teil  „ein  ausgezeichneter  Heerführer  und  ein 
guter  österreichischer  Patriot"  gewesen  ist. 

ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE  {Italia  nostra 
6.  Dezember  1914^).  —  Aufrichtig  gesagt,  würde  ich 
es  vorziehen,  wenn  die  Rede  nochmals  auf  den  Krieg 
und  die  Haltung  Italiens  kommt,  meine  Stimme  ab- 


*)  C.  bemerkt  hierzu:  Es  war  das  eine  Zeitschrift,  die  in  jenen  Tagen 
eine  überstürzte  Entscheidung  der  öffentlichen  Meinung  Italiens  zugunsten 
einer  der  beiden  kämpfenden  Gruppen  zu  verhindern  suchte;  für  mein  Teil 
war  ich  überzeugt,  daß  Italien  in  einer  oder  der  andern  We  se  am  Kriege 
wetde  teilnehmen  müssen  und  daß  es  sich  lediglich  um  die  Art  und  den 
Zeitpunkt  handelte. 

20 


zugeben,  einfach  abzugeben,  so  wie  es  der  Brauch 
ist,  wenn  man  den  Schluß  einer  Diskussion  verlangt 
und  erhält.  Ich  meine  sogar  schon  in  gewissem  Sinne 
abgestimmt  zu  haben,  als  ich  meine  Billigung  der 
Ziele  aussprach,  die  die  Zeitschrift  Pro  Italia  nostra 
verfolgt.  Und  da  die  Gründe  dieser  meiner  Abstimmung 
nichts  sonderlich  Auffälliges  haben,  so  genügt  es,  daß 
ich  sie  mir  selbst  hinreichend  klar  gemacht  habe ;  wo- 
zu die  andern  zum  Überdruß  wiederholen,  die  sie 
schon  einige  Male  von  gewichtigeren  Stimmen  als  der 
meinen  gehört  haben.? 

Ich  will  daher  bloß  sagen,  daß  ich  seit  dem  Aus- 
bruch des  Krieges  Gelegenheit  hatte,  mit  vielen  Ita- 
lienern der  verschiedensten  Art  zu  reden,  in  Neapel 
und  auf  Reisen  in  andere  Teile  Italiens ;  die  Empfin- 
dung, die  ich  bei  diesen  Gesprächen  feststellen  konnte, 
entsprach  in  ihren  Hauptumrissen  durchaus  der  mei- 
nen :  —  Schaudern  vor  diesem  Krieg,  der  sich  in  einer 
der  Geschichte  ganz  neuen  Gestalt  darstellt ;  —  Be- 
wunderung und  Mitgefühl  für  die  Kraft  und  den 
Opfermut,  der  von  allen  im  Kampf  stehenden  Völkern 
so  reichlich  bezeugt  wird;  —  die  Unmöglichkeit  für 
einen  Italiener,  die  eine  oder  die  andere  der  miteinan- 
der kämpfenden  Gruppen  anzufeinden  oder  (was  das- 
selbe ist)  ausschließlich  und  grundsätzlich  mit  einer 
von  ihnen  zu  fühlen,  und  unsere  eigenen  Ziele  selbst  von 
ihr  vertreten  zu  sehen;  —  Genugtuung  darüber,  daß 
Italien  nicht  seinerseits  dazu  beigetragen  habe,  das 
fürchterliche  Wirrsal  noch  zu  vermehren;  —  fester 
Entschluß,  alle  Anstrengungen  zu  machen,  um  uns 
vorbereitet  zu  halten,  aber  zugleich  auch  die  Über- 
zeugung, daß  unser  Eingreifen  nur  dann  und  in  der 
Art  stattfinden  könne,  wenn  uns  die  Notwendigkeit 

21 


dazu  zwinge;  —  eine  leise  Hoffnung  bei  einigen  zu 
Träumen  (aber  edlen  Träumen)  Geneigten,  daß  Italien, 
außer  seine  eigenen  völkischen  Interessen  zu  vertreten, 
zur  gegebenen  Zeit  mit  andern  Völkern  w^etteifern 
könne,  dieser  grauenhaften  Zerstörung  jeglicher  Art 
von  menschlichen  Kräften  ein  Ende  zu  machen. 

So  habe  ich  zu  mir  gesagt:  —  Das  ist  unser  echtes, 
tiefes  Volksgefühl ;  es  entspricht  den  schönen  Eigen- 
schaften des  Ebenmaßes  und  der  Unparteilichkeit, 
die  dem  italienischen  Geiste  zu  eigen  sind,  wit  den 
besten  Überlieferungen  unserer  Entw^icklung  zu  einem 
modernen  Volk  im  achzehnten  und  neunzehnten  Jahr- 
hundert. 

Gewiß,  außer  daß  ich  solchen  Unterredungen  bei- 
wohnte, habe  ich  auch  eine  lange  Reihe  von  Artikeln 
gelesen,  die  seit  drei  Monaten  Italien  anspornen,  sich 
in  den  Krieg  zu  stürzen,  mit  den  drohenden  Worten 
(die  sich  ebenfalls  schon  seit  drei  Monaten  wieder- 
holen): „Jetzt  oder  niemals!";  die  mit  fein  ausgeklü- 
gelten Gründen  beweisen,  wie  die  Bestrebungen  Italiens 
sich  vollkommen  mit  denen  einer  der  kämpfenden 
Gruppen  decken  und  die  ebendeshalb  den  Krieg  an 
der  Seite  dieser  Gruppe  empfehlen.  Wenn  ich  auch 
die  aufrichtigste  Hochschätzung  für  den  patriotischen 
Eifer,  den  man  zuweilen  in  diesen  Mahnungen  und 
hinter  der  Darlegung  jener  Gründe  empfindet,  aner- 
kenne, so  kann  ich  mich  doch  nicht  zu  diesem  krie- 
gerischen Kredo  bekehren  und  habe  zu  seinen  Apo- 
steln nicht  allzuviel  Vertrauen.  Denn  ich  bemerke 
unter  ihnen  sehr  viele,  die  ich  in  den  letzten  Jahren 
schon  kennen  gelernt  und  am  Werk  gesehen  habe,  als 
Improvisatoren  neuer  Philosophien,  neuer  Sozialismen, 
neuer  Formeln  in  Dichtung,  Malerei,  Musik:  ohne 

22 


daß  uns  jemals  neue  Religionen  oder  Philosophien 
oder  andere  als  höchst  mittelmäßige  Dichtungen,  Ge- 
mälde und  Tonwerke  beschert  worden  wären.  Und 
ich  fürchte,  daß  sie  sich  jetzt  mit  der  nämlichen  un- 
klugen Leichtfertigkeit  darauf  geworfen  haben,  Politik 
und  Krieg  zu  improvisieren,  und  über  das  Los  unseres 
gemeinsamen  Vaterlandes  zu  entscheiden.  Mit  der 
nämlichen  unklugen  Leichtfertigkeit,  aber  unter  viel 
größeren  Gefahren,  da  in  jenem  andern  Fall  die  Ge- 
fahr bloß  im  unnützen  Verbrauch  von  Papier  und 
Druckerschwärze  lag,  hier  aber  das  Schicksal  Italiens 
auf  dem  Spiele  steht. 

Worüber  ich  mich  aber  vor  allem  wundere,  ist  der 
Versuch,  ein  Volk  mit  Hilfe  von  Vernunftgründen  und 
Mahnungen  zum  Kriege  zu  bewegen.  Der  Krieg  ist 
gleich  der  Liebe  und  dem  Hasse  etwas,  das  tausend 
Vernunftgründe  und  Mahnungen  nicht  zu  erzeugen 
verstehen,  aber  das  plötzlich,  man  weiß  nicht  wie,  von 
selber  entsteht,  Seele  und  Körper  ergreift,  ihre  Kräfte 
verhundertfacht,  ihnen  die  Richtung  gibt,  und  seine 
Rechtfertigung  in  sich  selbst  hat,  durch  die  bloße  Tat- 
sache, daß  es  da  ist  und  wirksam  wird. 

Ich  wünsche  meinem  Lande,  daß  es  den  Krieg  nur 
dann  beginnen  möchte,  wenn  es  selbstwillig  auf  diesen 
Wendepunkt  von  Liebe  und  Haß  gelangt  ist,  der  das 
Unterpfand  des  Sieges  oder  wenigstens  e'ines  ruhmvollen 
Ringens  bedeutet.  Und  ich  denke  mit  Schauder  an 
das,  was  sich  bei  einigen  Völkern  ereignet  hat  (und 
die  Geschichte  Italiens  selber  bietet  dafür  Beispiele!), 
als  der  Krieg  durch  die  Vernünfteleien  Ungeduldiger 
hervorgerufen  worden  war. 


23 


DEUTSCHE  KULTUR  UND  ITALIENISCHE 
POLITIK  {Italianostra  2y,Dex.  1914).  Lieber  Freund! 
Auch  Du  stimmst  also  in  den  Chor  ein,  den  wir  aus 
Zeitungen  vernommen  haben,  kaum  daß  ich  und  an- 
dere Gelehrte  den  Brief  des  Prof.  Delbrück  unter- 
zeichnet haben  ?  Auch  Du  wiederholst,  daß  „wir  das 
Unrecht  begehen,  unsern  Forscheranteil  an  deutscher 
Philosophie  und  Wissenschaft,  an  Kant  und  Hegel, 
auf  das  Gebiet  der  Politik  zu  übertragen  ?"  Mir  schien 
es  ganz  natürlich,  wenn  irgend  ein  Tagesschreiber,  in 
gutem  oder  schlechtem  Glauben,  aus  Torheit  oder 
Böswilligkeit  dergleichen  in  Umlauf  gebracht  hat;  aber 
von  Dir,  der  Du  mich  kennst,  von  Dir,  der  die  Ge- 
wohnheit des  Überlegens  besitzt,  hätte  ich  mir  nicht 
erwartet,  was  ich  in  der  Sprache  Lombrosos:  „Echo- 
gerede" oder  in  der  Leibnitzens :  „Psittazismus"  nennen 
möchte,  um  zu  vermeiden,  es  auf  gut  deutsch :  Papa- 
geiengeschwätz zu  nennen! 

Wie  doch?  Wenn  ich  seit  vielen  Jahren  sage  und 
drucken  lasse,  daß  die  große  Zeit  des  deutschen  Ge- 
dankens, wie  sie  sich  zwischen  1780  und  1830  abge- 
spielt hat,  nicht  mehr  im  besonderen  Deutschland  an- 
gehört, in  derselben  Art,  wie  die  große  Zeit  des  helle- 
nischen Gedankens  nicht  mehr  dem  heutigen  Griechen- 
land, sondern  der  Menschheit  zugehört?  Und  daß  die 
Deutschen  von  Tieute,  längst  von  ihr  geschieden,  zu 
ihr  im  nämlichen  Verhältnis  wie  jedes  andere  Volk 
"stehen,  vielleicht  sogar  mit  einer  gewissen  Minder- 
wertigkeit anderen  Völkern  gegenüber,  da  diese  Ge- 
danken in  Italien  und  in  England  besser  verstanden 
und  fruchtbarer  gewesen  sind,  als  in  Deutschland? 
Mein  ganzes  bescheidenes  Tagwerk  war  immer  darauf 
gerichtet,  italienische  Überlieferungen  wieder  aufzu- 

24 


nehmen,  sie  mit  Bestandteilen  anderer  Kulturen  zu  be- 
reichern und  zu  verschmelzen,  und  so  die  Arbeit  fort- 
zusetzen, die  auf  dem  Gebiet  der  Forschung  von  den 
Männern  unserer  Wiedererhebung  begonnen  v^^orden 
ist.  Derart,  daß  die  deutschen  Kritiker  meiner  Bücher 
und  die  Professoren  der  deutschen  Hochschulen,  die 
von  ihren  Lehrstühlen  herab  ihre  Schüler  auf  sie  auf- 
merksam machen,  zu  bemerken  pflegen,  es  seien  „aus- 
gesprochen nationalistische"  Bücher,  und  darum  „mit 
einiger  Vorsicht"  zu  lesen !  Selbst  eine  deutsche  Uni- 
versität, die  mir  vor  Jahren  durch  Zuerkennung  ihrer 
Doktorv^ürde  ihr  Wohlv^ollen  bezeugt  hat,  hob  in  der 
Begründung  des  Diploms  hervor,  daß  ich  propugnntor 
apud  Italos  acernmus  (der  schärfste  Vorkämpfer  auf  ita- 
lienischem Boden),  nicht  der  deutschen  Philosophie 
der  Gegenv^art,  vielmehr  derjenigen  Kants  und  Hegels 
sei,  sublimioris  illius  phHosophiae  (jener  höheren  Phi- 
losophie), und  setzte  hinzu  sui  tarnen  juris,  das 
heißt  „auf  meine  Weise".  Auch  habe  ich  italienischen 
Philosophiestudenten,  die  sich  mit  Stipendien  nach 
Deutschland  begaben,  und  mich  um  Rat  fragten,  Viel- 
ehe Kollegien  sie  belegen  sollten,  stets  geraten,  ihre 
Stipendien  dazu  zu  benützen,  um  Deutschland  kreuz 
und  quer  zu  bereisen,  dieses  prächtige  Land  und  seine 
große  Zivilisation  kennen  zu  lernen,  v^as  aber  die 
Philosophie  betreffe,  überzeugt  zu  sein,  daß  sich  in 
jeder  italienischen  Bücherei  die  Hilfsmittel  finden,  um 
sie  zu  studieren,  so  daß  „die  philosophischen  Reisen 
sich  in  der  Zeit  und  nicht  im  Raum  abspielen." 

Ich  soll  also  in  der  Tat  so  töricht  gew^orden  sein, 
kindischerweise  die  Bewunderung  für  die  großen 
Männer  mit  der  politischen  Parteinahme  für  die  Län- 
der, in  denen  sie  geboren  sind,  zu  vermengen?    Da 

25 


müßte  ich  ja  in  politischer  Hinsicht  allen  Völkern,  die 
jetzt  im  Kriege  stehen,  zuneigen:  England  wegen 
Shakespeare,  Frankreich  wegen  Cartesius,  Rußland 
wegen  Tolstoi,  mithin  sämtlichen,  etwa  mit  Ausnahme 
des  armen  Serbiens,  dessen  dichterischen  oder  philo- 
sophischen Genius  —  meine  Unkenntnis  mag  daran 
schuld  sein  —  ich  bisher  nicht  kennen  gelernt  habe. 

Du  würdest  viel  mehr  ins  Ziel  treffen,  wenn  Du, 
was  das  heutige  Deutschland  anbetrifft,  von  meiner 
tiefen  Bewunderung  für  seine  politische  und  sittliche 
Kraft  sprächest.  Aber  auch  damit  könntest  Du  mir 
keine  Schuld  nachweisen ;  denn  wer  bewundert  nicht 
dieses  Deutschland?  Es  tun  dies  ja  sogar  jene,  die  es 
verabscheuen  oder  zu  verabscheuen  vorgeben;  denn 
in  diesem  Abscheu  liegt  Neid,  Eifersucht,  Wider- 
streben —  alles  in  allem  genommen  Ehrfurcht  und 
Bewunderung;  in  der  Abneigung  liegt  der  Versuch 
gewaltsamer  Gegenwirkung  gegen  eine  selbstwillige 
Neigung,  die  allzuviel  Tadel  gegen  uns  selbst  in  sich 
schlösse.  Sieh,  ich  war  einmal  leidenschaftlich  für  den 
parlamentarischen  Sozialismus  nach  Art  von  Marx, 
später  für  den  syndikalistischen  nach  Art  Sorels  ein- 
genommen, ich  erwartete  von  dem  einen  wie  dem 
andern  eine  Umgestaltung  des  gegenwärtigen  Lebens. 
Und  beide  Male  sah  ich  dieses  Ideal  von  Arbeit  und 
Gerechtigkeit  sich  auflösen  und  verflüchtigen.  Jetzt 
aber  ist  in  mir  die  Hoffnung  auf  eine  in  der  geschicht- 
lichen Überlieferung  beschlossene  und  durch  sie  ge- 
löste proletarische  Bewegung  erwacht,  auf  einen  staat- 
lichen und  nationalen  Sozialismus,  und  ich  denke,  daß 
dieser,  den  die  Demagogen  Frankreichs,  Englands  und 
Italiens  —  (die  nicht  dem  Proletariat  und  den  Arbeitern, 
sondern,  wie  mein  verehrter  Freund  Sorel  sagt,  den 

26 


„Schädlingen"  [noceurs]  den  Weg  bahnen)  —  nicht  oder 
nur  recht  übel  und  mit  schließlichem  Mißerfolg  ins 
Werk  setzen  werden,  vielleicht  eben  durch  Deutsch- 
land hervorgebracht  werden  dürfte,  das  den  übrigen 
Völkern  ein  Beispiel  und  Vorbild  geben  wird.  Daher 
beurteile  ich  das  Verhalten  der  Sozialisten  in  Deutsch- 
land wesentlich  anders  als  ihre  Genossen  in  Italien, 
und  glaube,  daß  diese  deutschen  Sozialisten,  die  sich 
mit  dem  Staat  und  seiner  eisernen  Manneszucht  völlig 
eins  fühlen,  die  wahren  Bahnbrecher  der  Zukunft  ihrer 
Klasse  sein  werden. 

Aber  nicht  einmal  dies  mein  Urteil  über  das  heutige 
Deutschland  ist  der  Leitgedanke,  der  mein  gegenwärtiges 
politisches  Verhalten  und  meinen  Beitritt  zu  der  Gruppe 
Pro  Italia  nostra  bestimmt.  Denn  so  hoch,  so  erhaben 
auch  die  Kraft  Deutschlands  sein  mag,  die  Verwick- 
lung der  Ereignisse  könnte  uns,  so  wie  sie  uns  zuerst 
zur  Neutralität  geführt  hat,  zwingen,  zum  Besten  Italiens 
uns  gegen  Deutschland  zu  stellen.  Wenn  uns  dieses 
zum  Beispiel  herausfordern  würde,  wenn  es  irgendwie 
unsere  Bestrebungen  bedrohte  oder  unsere  nationale 
Würde  antastete,  so  würde  augenblicklich  aus  meiner 
Brust  alle  Bewunderung  ihm  gegenüber,  alle  unzeit- 
gemäße Bewunderung  verschwinden,  und  es  bliebe 
nichts  als  mein  Gefühl  als  Italiener  übrig,  erregt  und 
verschärft  durch  die  Herausforderung.  Hier  ist  aber 
der  springende  Punkt.  Jetzt  und  dauernd  treibt  uns 
nicht  das  mindeste  gegen  Deutschland,  so  wie  uns  gar 
nichts  in  die  Arme  der  übrigen  kämpfenden  Völker 
treibt.  Freilich,  die  Einbildungskraft  schafft  Schreck- 
bilder von  Gefahren  im  Falle  eines  deutschen  Sieges; 
aber  sie  schafft  deren  ebenso  für  den  Fall  des  Sieges 
der  andern,  und  für  alle  möglichen  andern  Fälle.  Allein 

27 


die  Einbildungskraft  ist  die  Mutter  der  Furcht,  und 
Gefahren  drohen  bei  jeglichem  Schritt  im  Leben;  und 
gerade  deshalb  weil  es  Gefahren  gibt,  darf  man  nicht 
den  Kopf  verlieren  und  sich  in  den  Abgrund  stürzen. 
Gegen  Deutschland  werden  jetzt  und  fortwährend  nur 
schwache  Vernunftgründe  ins  Treffen  geführt:  die  der 
Republikaner  oder  der  Sozialisten  von  der  Richtung 
Mussolinis,  von  den  Nationalen  in  das  treffende  Leit- 
wort zusammengefaßt:  „Für  die  Demokratie,  aber  nicht 
für  Italien",  sowie  jene  der  Nationalen,  die  sich  ihrer- 
seits in  dem  andern  Leitwort  zusammenfassen  ließen: 
„Für  den  Krieg  und  nicht  für  Italien".  Beides  ist  allzu- 
wenig. 

Du  wirst  sagen :  Aber  es  ist  doch  immerhin  gut,  den 
Fall  eines  notwendigen  Zwiespalts  mit  Deutschland 
vorauszusehen  und  sich  darauf  vorzubereiten.  —  Ein- 
verstanden, vorausgesetzt,  daß  du  hinzufügst:  auch  der 
andere  Fall  müsse  vorausgesehen  werden,  der  eines 
Zwiespalts  mit  den  Gegnern  Deutschlands,  und  dafür 
Vorbereitungen  getroffen  werden.  Schalten  wir  also 
die  beiden  Sätze,  die  sich  gegenseitig  ergänzen  und  auf- 
heben, aus,  so  ergibt  sich,  daß  wir  über  die  Notwendig- 
keit einig  sind,  uns  für  jeden  Fall  gerüstet  zu  halten: 
und  darin  ist  die  übergroße  Mehrheit  der  Italiener 
mit  sich  und  mit  ihrer  Regierung  einig. 

Ich  habe  für  meine  Person  gesprochen,  da  ich  weder 
die  Pflicht  noch  das  Recht  habe,  im  Namen  der  übrigen 
Mitglieder  der  Gruppe  Pro  Italia  nostra  zu  sprechen; 
vielleicht  sind  aber  die  andern,  oder  viele  von  ihnen, 
von  denselben  Gedanken  aus  zum  selben  Endergebnis 
gelangt. 


28 


UNVERDIENTES  GLÜCK  {Italia  nostra  31.  Jan-- 
ner  1915).  —  Bekanntermaßen  ist  es  nützlich,  denen  ein 
aufmerksames  Gehör  zu  schenken,  die  eine  von  der 
unseren  abweichende  Ansicht  vertreten,  w^eil  in  jeder 
Ansicht  stets  irgendeine  Forderung  steckt,  die  w^enigstens 
in  diesem  ursprünglichen  Leitgedanken  berechtigt  ist. 
Den  Ausbruch  unserer  persönlichen  und  festbegründeten 
Überzeugungen,  die  uns  oft  gegen  die  der  andern  un- 
duldsam machen,  zurückzuhalten,  uns  genaue  Rechen- 
schaft von  jenen  Wahrheiten  und  jenen  Forderungen 
geben,  das  heißt  unsere  Kräfte  selbst  erhöhen  und  sie 
dem  Gegner  nehmen. 

Hier  handelt  es  sich  nun  um  einen  Gedanken,  der 
oft  in  den  Gesprächen  und  den  Schriften  mancher  auf- 
taucht, die  Italien  anstacheln,  sich  ohne  v^eiteres  in  den 
europäischen  Krieg  zu  stürzen. 

Italien  (sagen  sie)  hat  sich  seine  Einheit  nicht  durch 
die  Kraft  seiner  Söhne  allein  erworben,  sondern  durch 
die  politische  und  militärische  Unterstützung  anderer 
Staaten,  als  ein  für  das  europäische  Gleichgewicht  nütz- 
liches Gebilde.  Auch  während  der  ersten  fünfzig  Jahre 
seiner  Einheit  hat  es  keinen  genügenden  Beweis  dafür 
erbracht,  daß  es  allein  vorteilhaft  zu  handeln  verstehe. 
Hält  es  sich  im  gegenwärtigen  Kriege  abseits,  so  wird 
es,  als  Nichtkämpfer,  moralisch  noch  mehr  geschwächt 
unter  den  übrigen  Völkern,  seien  sie  nun  Sieger  oder 
Besiegte,  dastehen.  Jetzt  ist  der  Augenblick  da,  um 
uns  nicht  bloß  von  den  Beschuldigungen,  die  die 
Fremden  gegen  uns  richten,  zu  reinigen,  sondern  (was 
mehr  heißt)  auch  von  denen,  die  wir  selbst  gegen  uns 
richten,  von  den  Anwürfen,  die  uns  unser  Gewissen 
macht,  und  die  eine  Art  Mißtrauen  und  Niederge- 
schlagenheit  in    unser  ganzes  gesellschaftliches  und 

29 


politisches  Leben  bringen,  gerade  so  wie  dies  im  Einzel- 
leben eines  Menschen  der  Fall  ist,  der  sich  gering  ge- 
achtet fühlt  und  sich  selber  gering  achtet. 

Wie  ich  schon  sagte,  liegt  in  dem  allem  etwas 
Wahres;  denn  was  sollten  sonst  die  Sätze  vom  „Stern 
Italiens,"  von  dem  „geschaffenen  Italien"  und  den  „zu 
schaffenden  Italienern"  und  ähnliche  besagen,  die  gleich 
nach  1 860  von  den  Lippen  der  Männer  der  Wieder- 
erhebung kamen?  Man  könnte  jedoch  vielmehr  die 
Frage  aufwerfen,  wieso  diejenigen,  die  jetzt  mit  so  harten 
Worten  die  Wunden  Italiens  aufdecken,  sich  nicht  schon 
vorher  der  Schäden  unseres  nationalen  Bestandes  be- 
wußt geworden  sind,  nicht  den  Warnungsruf  aus- 
gestoßen und  ihre  Tätigkeit  auf  deren  Heilung  ge- 
richtet haben?  Was  haben  alle  diese  Italiener  bis  zum 
Vorabend  des  Krieges  getan,  die  sich  jetzt  in  eifernde 
Hüter  der  nationalen  Ehre  und  in  Schmähpropheten 
des  Krieges  verwandelt  sehen  ?  In  welcher  Weise  haben 
sie  zu  der  bürgerlichen  Erziehung,  zum  geistigen  Fort- 
schritt, zur  wissenschaftlichen  Geltung,  zu  der  politischen 
und  sozialen  Festigung  des  italienischen  Volkes  bei- 
getragen? Es  sind  das  Fragen,  die  zu  Beschwerden 
und  Anklagen  führen  würden,  und  auf  denen  ich  dar- 
um nicht  weiter  bestehen  will,  sowohl,  weil  ich  der- 
gleichen für  wenig  nützlich  halte,  als  auch  deshalb, 
weil  sie  in  diesem  Fall  nicht  einmal  dem,  der  sie  er- 
hebt, den  bittern  Trost  gewähren,  sich  von  der  Schuld, 
die  er  an  andern  tadelt,  rein  zu  wissen.  Die  Sünden 
eines  Volkes  verbreiten  sich  über  alle  seine  Glieder 
und  lasten  auf  jedem  wie  persönliche  Sünden.  Es  be- 
reitet keine  Freude,  wenn  man  sagt:  Ich  für  mein 
Teil  habe  das  getan,  was  ich  schuldig  war;  oder: 
Ich  für  meinen  Teil  habe  mich  bestrebt,  den  Ver- 

30 


blendeten  die  Augen  zu  öftnen.  —  Was  nützt  es?  Diese 
Verblendeten,  diese  Andern,  diese  Plebs,  diese  Menge 
sind  wir  dennoch  selber,  weil  wir  alle  zusammen  Italien 
sind. 

Mithin  wollen  wir  alles  Unnötige  und  Aufreizende 
beiseite  lassen  und  von  dem  sprechen,  was  gegen- 
wärtig nottut.  Welches  Übel  bemerkt  man  denn  in 
unserer  nationalen  Entwicklung.?  Daß  wir  von  185g 
bis  1 870  ein  Ergebnis  erreicht  habeii,  das  größer  war 
als  unsere  Anstrengungen,  als  unsere  bürgerliche  und 
militärische  Vorbereitung;  wir  haben  in  der  Folge  an 
unserem  nicht  ganz  verdienten  Glück  gelitten  und 
leiden  noch  daran.  Sei  es  denn.  Welches  Heilmittel 
schlägt  man  uns  aber  jetzt  vor?  Daß  wir,  nach  lange 
vernachlässigter  Vorbereitung,  nachdem  wir  bis  gestern 
andere  Dinge  im  Sinn  gehabt  haben,  jetzt  auf  einmal 
tun  sollen,  was  wir  in  Jahrzehnten  nicht  getan  haben, 
daß  wir  mit  einem  Streich  von  Genialität  und  Helden- 
tum die  verlorne  Zeit  einbringen,  und  uns  begierig 
in  den  Krieg  stürzen,  um  aus  ihm  geläutert  hervor- 
zugehen, und  befähigt  zu  den  Sternen  des  Ruhms  auf- 
zusteigen. 

Nehmen  wir  nun  an,  die  Sache  gelingt  uns,  so  ist 
es  im  übrigen  sicher,  daß  sie  uns  nur  mit  der  reich- 
lichen und  großmütigen  Mithilfe  jenes  Glücks  gelingen 
kann,  das  uns  andere  Male  so  sehr  genützt  und  ge- 
schadet hat.  Und  dann?  Was  wird  die  Folge  des  vom 
Glück  gekrönten  Unternehmens  sein  ?  Daß  wir  Italiener 
immer  mehr  in  unsere  gewohnte  Untätigkeit  und 
Zwecklosigkeit  versinken  werden,  voll  geringen  Ver- 
trauens in  uns  selbst  im  alltäglichen,  gewöhnlichen 
Leben,  immer  auf  außerordentliche  Augenblicke 
rechnend,  auf  Wunder  der  Begeisterung,  der  Genialität, 

31 


der  beschwingten  Worte,  alles  in  allem,  auf  das  Glück. 
Es  scheint  mir  klar.  Der  unwissende  Schüler,  der  in 
den  der  Prüfung  unmittelbar  vorausgehenden  Tagen, 
ohne  sich  über  das  weise  Sprichwort:  „Es  kommt  dar- 
auf an,  sich  bestrebt  zu  haben,  nicht  bestrebt  zu  sein," 
Gedanken  zu  machen,  eine  Stegreifvorbereitung  an- 
stellt und  es  mit  Hilfe  des  Glücks  erreicht,  den  Prüfer 
zu  hintergehen  und  ein  günstiges  Zeugnis  zu  ergattern, 
bleibt  nachher  derselbe  Esel  wie  vorher  und  ist  sittlich 
noch  schlechter  geworden.  Ich  lasse  dabei  die  Mög- 
lichkeit des  Durchfallens  unberührt,  das  heißt,  (um 
wieder  auf  Italien  zu  kommen),  daß  uns  diesmal  das 
Glück  nicht  hilft,  weil  dies  unserem  Geiste  ein  so 
schauerliches  Schauspiel  bietet,  daß  man  sich  auf  der 
Stelle,  von  Schrecken  erfaßt,  zurückzieht. 

Alles  in  allem:  hat  Italien  Schulden  zu  sühnen? 
Setzen  wir  den  Fall.  Allein  kommt  es  vernünftigen 
Menschen  zu,  als  Weg  der  Sühne  gerade  den  zu 
wählen,  der,  wenn  überhaupt  etwas  erreicht  wird,  da- 
zu führt,  die  Zahl  der  „zu  sühnenden  Schulden"  noch 
zu  vermehren  und  der  selber  eine  dieser  „Schulden"  ist? 

Mir  scheint,  daß  Nachdenken  über  die  jüngste  Ver- 
gangenheit Italiens  (mit  dem  üblen  Ausgang  aller 
genialen  und  großtuerischen  Streiche,  den  sie  uns  vor 
Augen  führt)  uns  zu  einem  ganz  andern  Verhalten 
auffordert.  Haben  wir  Schulden  abzubüßen  (und  wir 
haben  dies  sicherlich),  so  beginnen  wir,  möchte  ich 
sagen,  sie  von  jetzt  an  zu  sühnen,  in  der  gesunden  un- 
mittelbaren Form  der  Sühne,  die  sie  erfordern.  Um 
uns  ist  der  europäische  Krieg?  Nun  gut,  trachten  wir 
ernsthaft  zu  sein :  Fördern  wir  alle  Anstrengungen,  die 
auf  die  möglichst  beste  Bewaffnung  und  Ausbildung 
unseres  Heeres  zu  Land  und  zu  Wasser  abzielen,  folgen 

32 


wir  den  Ereignissen,  bereit  mit  umsichtiger  Kraft  zu 
handeln,  im  alleinigen  Namen  des  Vaterlandes,  denn 
nichts  als  das  Vaterland  steht  jetzt  in  Frage. 

Wir  werden  in  den  Krieg  eintreten  oder  nicht:  dies 
hängt  nicht  von  uns  ab,  sondern  von  der  Notwendig- 
keit, die  uns  die  eine  oder  die  andere  Entscheidung 
auferlegen  wird;  und  sollte  es  uns  infolge  des  Krieges 
beschieden  sein,  noch  eine  weitere  Sühne  auf  uns  nehmen 
zu  müssen,  so  wird,  uns  dies  leichter  fallen,  weil  wir 
uns  seitdem  freiwillig  auf  den  rechten  Weg  der  Sühne 
begeben  haben,  der  die  Arbeit  ist. 

Aber  es  handelt  sich  für  jetzt  nicht  blof3  um  den 
Krieg,  sondern  um  die  ganze  Lebensführung.  Nun 
wohl,  wenn  jetzt  der  mit  irgendeinem  Dienst  Betraute 
(und  wäre  es  ein  Straßenkehrer!)  mit  größerem  Eifer 
seine  Pflicht  erfüllte;  wenn  der  Lehrende  sich  mit 
mehr  Hingabe  den  Aufgaben  seines  Lehrberufs  widmen 
wollte,  und  wäre  dieser  auch  so  wenig  kriegerisch  als 
die  semitische  Sprachkunde  oder  die  höhere  Geometrie; 
wenn  der  Schriftsteller  mit  größerer  Aufmerksamkeit 
als  gewöhnlich  auf  die  Wahrheit  der  Tatsachen  und 
die  Logik  der  Gedanken  in  seiner  Prosa  achtete;  wenn 
jeder,  dem  ein  Amt  anvertraut  ist,  es  mit  Liebe  um- 
faßte, und  sich  nicht  mehr  bemühen  wollte,  wie  in  ver- 
gangenen Tagen  die  Bande,  die  ihn  an  dieses  fesseln, 
zu  lockern,  um  der  eigenen  Bequemlichkeit  zu  frönen; 
wenn  alle  diese  und  andere,  mit  deren  Aufzählung  man 
noch  ein  gutes  Stück  weiter  fortfahren  könnte,  sich 
derart  verhielten,  würden  sie  der  tragischen  Göttin  des 
Krieges  das  einzige  würdige  Opfer  darbringen  und  eine 
geistliche  Übung  betätigen,  die  uns  in  den  Stand  setzen 
würde,  im  besten  Leibes-  und  Geisteszustand  zu  sein, 
falls  der  Krieg  über  uns  hereinbricht. 


3    Ctoce,  Randbsmerlnmgen  eines  Philosophen 


33 


Ich  bin  mir  bewußt,  von  nüchternen  und  langweiligen 
Dingen  zu  reden.  Es  ist  poetischer  und  unterhaltender, 
die  Sünden  Italiens  damit  zu  sühnen,  daß  man,  wie 
es  an  der  Universität  Neapel  geschah,  einen  bescheidenen 
deutschen  Lehrer  der  deutschen  Sprache  auspfeift,  und 
unter  großen  Geschrei  Triest  und  Trient  von  einem 
verlangt,  der  den  neapolitanischen  Studenten  nichts 
anderes  bieten  kann  als  die  Anfangsgründe  eines  ihnen 
unbekannten  Alphabets^)  oder,  wie  es  in  Rom  ge- 
schah, einen  polnischen  Lehrer  der  Pandekten  auszu- 


^)  Anmerkung  C.s:  Der  deutsche  Lehrer,  den  ich  in  dieser  Art,  aus  einem 
Gefühl  der  Gastfreundschaft  heraus,  gegen  die  studentischen  Angriffe  in 
Schutz  nahm,  war  Dr.  Klemperer,  ein  Forscher  von  vielem  Verdienst,  und 
unter  anderem  Verfasser  eines  scharfsinnigen  Buches  über  Montesquieu. 
Aber  er  war  Deutscher  im  verwegensten  Sinn  des  Wortes.  Das  heißt  un- 
fähig, die  Psychologie  und  die  geistige  Verfassung  anderer  Völker  zu  ver- 
stehen. Nachdem  Italien  den  Krieg  erklärt  hatte,  verließ  er  Neapel,  ohne 
sich  von  mir,  nicht  einmal  mit  einer  Visitenkarte,  zu  verabschieden,  und 
steuerte,  nach  Deutschland  zurückgekehrt,  zu  dem  vielberufenen,  gegen  Italien 
gerichteten  Heft,  das  die  Süddeutschen  Monatshefte  in  München  veröffent- 
lichten, einen  Aufsatz  mit  italienischen  Erinnerungen  bei,  in  dem  er  alle 
Äußerungen  abdruckte,  die  aus  meinem  Munde  wie  aus  dem  anderer  Ita- 
liener, mit  denen  er  verkehrt  hatte,  gekommen  waren.  Das  war  sicherlich 
nicht  höflich,  dafür  scheint  er  jedoch  in  diesem  unerlaubten  Reportertum 
sehr  peinlich  gewesen  zu  sein,  soweit  ich,  was  mich  betrifft,  urteilen  kann, 
das  heißt,  soviel  ich  darüber  im  Marzocco  (XX.  Jahrg.  Nr.  30  vom  25.  Juli 
1915)  gelesen  habe,  da  mir  jenes  deutsche  Heft  niemals  vor  Augen  ge- 
kommen ist.  In  der  Tat  schreibt  der  Marzocco,  den  Aufsatz  Klemperers 
ausziehend  und  ironisch  erläuternd:  „Teufel!  Ein  gebildeter  Mensch,  der 
glaubt,  Italien  sei  erlaubt  das  zu  tun,  was  Deutschland  getan  hat,  und 
der  nicht  weiß,  daß  es  seine  Pflicht  gewesen  wäre,  lediglich  das  zu  tun, 
wat  Deutschland  ihm  aufgetragen  hätte!  Gipfelpunkt  des  Vermessensl  — 
Das  Gemüt  des  ehrenwerten  Vertreters  deutscher  Universitätskultur  in  Italien 
begreift  nicht  diesen  seltsamen  psychologischen  Vorgang.  Und  seine  Ver- 
wunderung nimmt  zu,  wenn  er  im  gastlichen  Hause  Benedetto  Croces  — 
wo  er,  nach  eigenem  Geständnis,  den  größten  Anteil  und  das  tiefste  Ver- 
ständnis für  Deutschland  gefunden  hatte  —  vom  Hausherrn  die  Erklärungen, 
die  der  deutsche  Kanzler  im  Reichstage  über  die  scheinbare  Neutralität 
Belgiens  abgegeben  hatte,  eine  „abstoßende  Roheit"  nennen  hört;  Henedetto 
Croce,  dieser  große  Bewunderer  des  deutschen  Charakters,  erlaubte  sich 
also  an  der  Aufrichtigkeit  Herrn  Bethmann  Holiwegs  zu  zweifeln.  Unglaub- 
lich 1"    (G.  S.  Gargäno,  im  Marzocco  a.  a.  O.) 

34 


pfeifen,  weil  er  sich  nicht,  wie  es  die  Studenten  for- 
derten, für  einen  deutschfeindlichen  Polen  erklärte. . . 
Dann  wird  ja  der  Krieg  kommen,  und  uns,  ohne  daß 
wir  weitere  Anstrengungen  zu  machen  brauchen, 
Wissenschaft,  Kunst,  Philosophie,  Reichtum,  Sittlich- 
keit, Glück  und  so  weiter  und  weiter  schenken.  In- 
zwischen wollen  wir  die  Bücher  schließen,  die  Arbeits- 
räume fliehen  und  uns  in  den  Tempel  des  Krieges  be- 
geben, will  sagen  ins  Kaffeehaus! 

GEGEN  DIE  NEBELHAFTIGKEIT  UND 
DEN  MATERIALISMUS  IN  DER  POLITIK i) 

{Italia  nostra,  Jänner  191 5).  —  Wer  die  politischen 
Gruppenbildungen,  die  jetzt  in  Italien  besonders  unter 
der  Jugend  erstehen,  verfolgt,  die  Aufsätze  in  ihren 
Zeitschriften  liest  und  den  umlaufenden  Äußerungen 
sein  Ohr  leiht,  hat  Gelegenheit,  den  Gegensatz  oder 
das  Durchkreuzen  zweier  sich  entgegenstehender 
Grundanschauungen  zu  beobachten:  die  eine  könnte 
man  die  der  bedingungslosen  Gerechtigkeit, 
die  andere  die  des  Kampfes  ohne  Gerechtigkeit 
nennen.  Die  erste  hat  ihre  nächsten  Vorläufer  im 
Humanitäts  wesen  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  das  sich 
teilweise  im  Mazzinianismus  fortsetzte;  die  zweite 
namentlich  in  der  sozialistischen  Ideologie,  die  von  den 
Beziehungen  zwischen  den  Klassen  der  Gesellschaft 
auf  die  zwischen  den  Völkern  und  Staaten  übertragen 
wurde.  Die  erste  ist  seraphisch,  und  darum  wenig 
menschlich;  allzu  menschlich  die  zweite,  und  deshalb 
unmenschlich;  die  eine  neigt  zur  Abstraktion  und  zur 

^)  Es  muß  bemerkt  werden,  daß  dies  ein  älterer,  bereits  aus  dem  Jahre 
1912  stammender  und  in  dem  Buche:  Cultura  e  vita  morale  (Bari  1914) 
abgedruckter  Aufsatz  Croces  ist,  den  die  obengenannte  Zeitschrift  1915  von 
neuem  wiederzugeben  für  angemessen  hielt. 


3» 


35 


Gleisnerei,  die  zweite  zum  Materialismus  und  Zynis- 
mus; beide  gewähren  keine  Befriedigung  und  sind 
trotzdem  beide  auf  Gründe  gestützt,  die,  obgleich  ein- 
seitiger Art,  dennoch  niqht  aufhören,  anscheinend 
höchst  wirksam  zu  sein. 

Wie  kann  man  in  der  Tat  leugnen,  daß  die  Gerech- 
tigkeit, die  Achtung  des  Menschen  vor  dem  Menschen, 
der  Verein  der  Geister  zu  gemeinsamer  Pflege  des 
Wahren  und  des  Guten,  die  Unterordnung  unter  ein 
allgemeines  Maß  grundlegende  und  unerläßliche  For- 
derungen seien,  ohne  die  das  Leben  allen  Sinn,  alle 
Führung,  alle  Wärme  verlieren  würde  und  in  seinem 
tiefsten  Innern  nicht  mehr  seine  liebsten  Stimmen  ver- 
nehmen könnte?  Wie  kann  man  anderseits  verkennen, 
daß  Leben  Kampf  ist,  mitleidsloser  Kampf,  daß  der 
Krieg  sein  Gesetz  hat,  daß  die  Geschichte  eine  Ge- 
schichte der  Kriege,  nicht  der  Friedensschlüsse  ist,  von 
Taten  der  Kraft,  nicht  von  Zugeständnissen,  daß  dieser 
Kampf  jeden  Tag  ausgefochten  wird;  wehe  denen, 
die  nicht  daran  teil  und  in  ihm  Partei  nehmen,  den 
Neutralen  und  den  Menschen  der  „reinen  Hände", 
die  schließlich  solche  sind,  die  im  Schöße  ruhen !  Wie 
könnte  man  dem  nicht  beistimmen,  der  uns  erinnert, 
Italien  habe  seine  Wiedererhebung  ins  Werk  gesetzt, 
um  Taten  der  Liebe,  nicht  solche  des  Hasses  zu  voll- 
bringen, Werte  der  Zivilisation,  nicht  der  Gewalt; 
und  wie  könnte  man  dem  unrecht  geben,  der  bitter 
über  diese  schönen  Worte  lächelt,  die  von  den  Tat- 
sachen in  jedem  Augenblick  widerlegt  werden,  und 
die  den  unumstößlichen  Beweis  erbringen,  daß  Italien, 
auch  wenn  es  wollte,  sich  der  Notwendigkeit  nicht  zu 
entziehen  vermag,  ungerecht  mit  den  Ungerechten 
und  gewalttätig  unter  den  Gewaltmenschen  zu  sein? 

36 


Das  Endergebnis  der  einen  wie  der  andern  Auf- 
fassung ist  Pessimismus:  ein  leidender  Pessimismus 
im  ersten  Fall,  gezwungen  zur  Untätigkeit  oder  zu 
vergeblichen  Predigten  (was  gerade  Untätigkeit  be- 
deutet), zu  endlosen  Verwahrungen,  Klagen,  Verzweif- 
lungsseufzern ;  ein  tätiger  Pessimismus  im  andern  Fall, 
aber  der  einer  falschen  Tätigkeit,  die  nur  handeln  will, 
um  zu  handeln,  um  sich  zu  rühren  und  zu  betäuben, 
wohlbewußt  etwas  zu  tun,  das  der  Gerechtigkeit,  das 
heißt  mithin  des  Wertes  entbehrt. 

Wie  man  sieht,  befinden  wir  uns  einem  alten  Problem 
gegenüber,  das  man  fast  verzweifelt  nennen  könnte: 
dem  des  Widerspruchs  zwischen  Moral  und  Politik 
und  zwischen  privater,  bürgerlicher  Sittlichkeit,  dem 
Problem  des  Machiavellismus,  das  lange  Jahre  hindurch 
für  unsern  Villari  einen  Gegenstand  des  Nachdenkens 
und  der  Kümmernis  gebildet  hat,  weil  er  in  Wahrheit 
niemals  den  Mittelbegriff  zu  finden  vermochte,  der  ihm 
den  Ausgang  aus  jener  Gegensätzlichkeit  verstattet 
hätte.  Auf  dem  Felde  der  Antithesen  ist  das  Problem 
auch  unlösbar;  man  hat  sich  von  einer  Seite  zur  anderen 
gewandt,  oder  ist  erschöpft  in  der  Mitte  verblieben, 
kummervollen  Blickes  das  Los  des  Menschen  betrach- 
tend, der  zur  Unreinheit  und  zur  Unsittlichkeit  ver- 
dammt ist.  Es  ist  unnötig  zu  sagen,  daß  die  wahre  Un- 
reinheit gerade  in  diesem  Bewußtsein  der  Ohnmacht, 
in  diesem  trostlosen  Hinnehmen  dessen,  was  als  schlecht 
erkannt  wird,  liegt.  Weit  besser  ist  es,  sich  von  einem  zum 
andern  entgegengesetzten  Grundsatz  zu  schlagen,  was, 
wenn  schon  nichts  anderes,  doch  etwas  Tragisches  hat! 

Um  den  MittelbegrifF  zu  finden,  ist  es  vor  allem 
flötig,  zwischen  zwei  ganz  verschiedenen  Reihen  voii 
Werten  zu  unterscheiden,  den  allgemein  menschlichen 

37 


Werten,  die  man  die  der  Kultur  nennt  und  den  Er- 
fahrungswerten oder  wie  sie  auch  genannt  werden,  den 
geschichtlichen.  Die  Wissenschaft,  die  Kunst,  die  Sitt- 
lichkeit bieten  Beispiele  für  die  ersten;  Rom  oder 
Griechenland,  Italien  oder  Frankreich,  Monarchie  oder 
Republik,  Staat  oder  Kirche,  Beispiele  der  zweiten: 
geschichtliche  Bildungen  oder  Einrichtungen,  die  aus 
den  Anstrengungen  vieler  Geschlechterfolgen  und  un- 
zähliger Einzelwesen  hervorgehen,  besondere  Tat- 
sachen, in  denen  die  allgemeinen  oder  menschlichen 
Werte  Körper  und  unterscheidende  Merkmale  an- 
nehmen und  Bedingung  und  Grundlage  für  weitere 
Tätigkeit  bilden.  Das  unterscheidende  Merkmal  beider 
Reihen  ist  durchaus  klar:  die  ersten  sind  höchste  In- 
stanzen, die  zweiten  nicht,  die  ersten  sind  nicht  erzeugt 
und  unvergänglich,  die  zweiten  entstehen  und  vergehen. 
Nichts  steht  über  dem  Wahren  oder  dem  Guten;  jedoch 
über  Rom  und  Griechenland,  Italien  und  Frankreich, 
Staat  und  Kirche  hinaus  gibt  es  etwas  Höheres;  Rom 
ist  tot,  das  alte  monarchische  Frankreich  lebt  nur  noch 
mehr  im  Hirn  einiger  Literaten,  Kirche  und  Kaiser- 
tum sind  traurige  Ruinen;  das  italienische  und  das 
deutsche  Volk  kann  sich  erschöpfen  und  verschwinden, 
wie  die  Hethiter  und  die  Karthager  verschwunden  sind: 
die  Kategorien  des  Wahren  und  des  Guten  aber  leben 
und  werden  so  jung  und  wirksam  fortleben  wie  am 
ersten  Tag  der  Welt,  und  fortdauernd  die  alte  Welt 
verjüngen.  Hat  man  diesen  Unterschied  erfaßt,  so  ist 
damit  der  Wert  jener  zweiten  Reihe  von  Werten  nicht 
geleugnet,  gerade  so,  wie  es  abgeschmackt  wäre,  den 
Wert  eines  Erbgutes  deshalb  zu  leugnen,  weil  es  ein- 
mal aufgezehrt  und  zerstreut  sein  wird;  in  der  Zwischen- 
zeit ist  es  eben  weder  aufgezehrt  noch  zerstreut,  sondern 

38 


stellt  eine  Kraft  und  ein  mächtiges  Werkzeug  für  das 
menschliche  Handeln  dar.  Ist  es  angemessen,  die  Kultur- 
werte  zu  verteidigen,  so  ist  es  nicht  minder  angemessen, 
die  geschichtlichen  Werte  zu  verteidigen,  wie  im  übrigen 
alle  empfinden  und  tun,  weil  alle,  ohne  daß  es  vieler 
Gründe  bedürfte,  sich  getrieben  fühlen,  ihr  Familien- 
gut zu  verteidigen,  ihre  Heimat,  ihre  Kinder,  alle  Ein- 
richtungen, denen  sie  zugehören. 

Nur  daß  die  Kulturwcrtc,  kraft  ihres  Charakters  der 
Allgemeinheit,  sich  entwickeln  und  miteinander  ringen, 
ohne  daß  jemals  einer  von  ihnen  den  aadcrn  unter- 
drückt, sondern  im  Gegenteil  jeder  den  andern  fördert: 
die  Wissenschaft,  die  nicht  Sittlichkeit  ist,  indem  sie  eben 
diese  neu  kräftigt;  die  Sittlichkeit,  die  nicht  Wissen- 
schaft ist,  indem  sie  diese  fördert.  Die  Erfahrungswerte 
hingegen,  gegründet  (könnte  man  in  der  Ausdrucks- 
weise der  Logik  sagen)  nicht  auf  reine,  sondern  auf 
Vorstellungsbegriffe,  das  heißt  ihrem  Wesen  nach  Tat- 
sachen, nicht  Begriffe,  kämpfen  miteinander,  indem 
einer  den  andern  zerstört  und  sich  an  seine  Stelle  setzt: 
Rom  zerstört  Karthago,  das  Germanentum  Rom,  das 
Kaisertum  die  Kirche  und  die  Kirche  das  Kaisertum, 
endlich  der  moderne  Staat  alle  beide.  Hier  erhebt  sich 
aber  die  angstvolle  Frage  von  Seiten  derer,  die  sich  un- 
rettbar in  einen  Vernichtungskampf  dieser  Art  hinein- 
gerissen fühlen,  und  die,  als  Menschen,  sich  beugen, 
zweifeln,  Gott  das  heißt  das  eigene  Gewissen  fürchten : 
für  wen  und  für  was  sollen  wir  Partei  nehmen?  Stellen 
die  menschlichen  Werte  die  einzigen  beharrenden  und 
höchsten  Werte  dar,  welche  der  geschichtlichen  Ein- 
richtungen verkörpert  sie  mit  Ausschluß  der  andern 
oder  vor  ihnen.?  Welcher  von  ihnen  hat  den  Anspruch 
auf  unsere  völlige  Hingabe? 

39 


Auf  diese  Frage  kann  es  keine  andere  Antwort  geben, 
als  daß  alle  jene  gegensätzlichen  und  miteinander- 
kämpfenden  Einrichtungen  gleicherweise  die  mensch- 
lichen Werte  verkörpern  und  zugleich  nicht  verkörpern: 
alle  tragen  Recht  und  Unrecht  in  sich,  alle  sind  wert 
verteidigt  zu  werden  und  ebenso  wert,  zugrunde  zu 
gehen,  und  wer  von  der  Philosophie  einen  Fingerzeig 
erwartet,  um  für  die  eine  oder  die  andere  Partei  zu  er- 
greifen, wird  niemals  auf  seine  Rechnung  kommen, 
da  die  Philosophie,  gleich  unersättlich  wie  die  Ge- 
schichte, sie  sämtlich  anerkennt  und  sämtlich  verwirft; 
allein  da  alle  diese  Einrichtungen  eben  einen  wahren 
Leitgedanken  und  eine  der  Verteidigung  werte  Seite 
aufweisen,  wenngleich  jede  zum  Tode  verurteilt  ist, 
So  muß  jede  vorerst  verteidigt  werden:  und  von  wem 
andern  wird  sie  denn  anders  verteidigt  werden  als  von 
ihren  Söhnen?  Italien  vom  Italiener,  Frankreich  vom 
Franzosen,  die  Monarchie  von  dem,  der  von  der 
Monarchie,  die  Republik  von  dem,  der  von  dieser  lebt. 
Sie  anzugreifen,  oder  ihren  Tod  herbeizuführen,  dafür 
ist  der  da,  der  es  im  Schilde  führt;  es  ist  nötig,  daß  auch 
einer  vorhanden  ist,  der  seine  Gedanken  darauf  ge- 
richtet hält,  ihr  Leben  zu  schützen  und  zu  verlängern. 
Keiner  darf  sich,  wenn  er  dieses  Amt  der  „Pietät"  er- 
füllt (ausgenommen  in  dem  Falle,  daß  er  den  Beruf 
des  Geschichtsschreibers  ausübt,  und  nur  in  dem 
Augenblicke,  als  er  dies  tut)  auf  die  gegensätzliche 
Einrichtung  blicken,  um  sich  im  Namen  einer  ab- 
strakten Gerechtigkeit  über  ihr  Gutes  Gedanken  zu 
machen,  sondern  jeder  muß  einzig  und  allein,  und  allen 
gegenüber,  das  Gute  der  Einrichtung,  der  er  angehört, 
behüten ;  so  wie  ein  Rechtsanwalt  nicht  auf  den  Vor- 
teil des  Gegners  seines  Klienten  bedacht  ist,  oder  ein 

40 


Soldat  nicht  Sorge  tragen  wird,  seinen  Feind,  der  sich 
eine  Blöße  gibt,  zu  warnen;  der  unpassende  Edelmut 
würde  in  diesem  Fall  „Verrat"  genannt  werden.  Die  Ver- 
teidigung der  Einrichtungen,  denen  wir  uns  zugehörig 
fühlen,  ist  die  nächste  Pflicht;  und  es  gibt,  soviel  man 
weiß,  keine  andern  tatsächlichen  Pflichten  als  diese 
nächsten.  Die  Gesamtheit  der  Kulturwerte,  die  unter 
dem  Namen  von  Gerechtigkeit  oder  Menschlichkeit 
versinnbildet  werden,  läßt  sich  werktätig  nicht  anders 
als  mittelst  dieser  wagemutigen  Verteidigungs-  und 
Ausfallsstellung  vollführen,  weil  die  allgemeinen 
Pflichten  sich  nur  betätigen  lassen,  wenn  man  aus  jener 
Abstraktheit,  die  den  Namen  des  Himmels  führt,  auf 
die  Erde  hinabsteigt,  in  Raum  und  Zeit,  und  sie  in 
unsere  nächste  Nähe  rückt.  Im  Leben  sind  wir  gleich 
Besatzungen  und  Schildwachen,  die  da  und  dort  vom 
Weltgeist  verteilt  sind;  wir  würden  diesem  übel  dienen, 
wenn  wir  die  Posten,  die  er  uns  anvertraut  hat,  ver- 
lassen wollten,  um  ihm  eine  abstrakte,  kraftlose  und 
unerwünschte  Huldigung  dazubringen. 

Gewiß  kann  der  Fall  eintreten,  der  Augenblick  kom- 
men, wo  wir  weichen  und  die  Sache  verloren  geben, 
zulassen  müssen,  daß  der  Gegner  unsere  Verteidigungs- 
stellung besetzt,  uns  ihm  unterwerfen,  mit  ihm  aus- 
gleichen; es  kommt  der  Augenblick,  in  dem  der  Welt- 
geist seine  Besatzungen  und  Schildwachen  verschiebt, 
einige  Gruppen  verschmilzt  und  andere  teilt,  um  neue 
Kämpfe  vorzubereiten.  Wer  sich  dann  darauf  versteift, 
den  nicht  mehr  zu  haltenden  Posten  zu  verteidigen, 
kann  wohl  eine  im  dichterischen  Sinn  anziehende  Fi- 
gur sein,  in  der  Geschichte  Cato  oder  in  der  Literatur 
der  ehrenfeste  Ritter  Don  Quijote  heißen.  Aber  Dort 
Quijote  ist  eben  Don  Quijote,  das  heißt,  Sinnbild  eines 

41 


verrückten  Heldentums,  nicht  politischer  Tüchtigkeit ; 
und  Cato  verdiente  wirklich  zwischen  Hölle  und  Him- 
mel gesetzt  zu  werden,  in  die  zweideutige  Stellung 
eines  Hüters  des  Fegefeuers,  die  ihm  Dante  gegeben 
hat;  noch  vor  den  Sarkasmen  eines  Mommsen  traf  ihn 
Hegels  Urteil,  seine  Seele  sei  wohl  groß,  aber  nicht 
genug  groß  gewesen,  da  er  Rom  nicht  zu  überleben 
verstand,  das  heißt  einen  Wert,  der,  so  groß  er  auch 
gewesen  sein  mag,  doch  immer  zufällig  und  dem  Un- 
endlichen, als  welches  der  Geist  des  Menschen  ist,  unter- 
geordnet bleibt.  Freilich  verdeutlicht  uns  das  sittliche 
Mitgefühl,  das  uns  die  Don  Quijote  im  Schrifttum 
und  die  Catonen  in  der  Geschichte  einflößen,  die  große 
Achtung,  die  der  menschliche  Geist  dem  zollt,  der, 
auch  über  das  Notwendige  hinaus,  den  ihm  vom  Schick- 
sal oder  von  Gott  angewiesenen  Platz  verteidigt.  Diese 
Haltung  ist  verdienstlich,  weil  sie  dem  Gotterwählten, 
dem  Sieger  selbst  nützt,  das  heißt  dem,  der  der  neue 
Vertreter  des  Weltgeistes  in  einem  bestimmten  Augen- 
blicke ist,  da  sie  seinen  Sieg  schwieriger  und  erhabener 
macht,  und  der  auf  diese  Weise  das  Beste  des  Gegners  in 
sich  aufnimmt.  Nicht  die  Bekehrung  oder  der  Gesin- 
nungswechsel an  sich  ist  es,  der  mißfällt,  weil  dies 
dem  Leben  selbst  widerstreben  hieße,  das  sich  fort- 
während umkehrt  und  ändert,  sondern  Bekehrung, 
die  geistige  Leichtfertigkeit,  Wechsel,  der  sittliche 
Schwäche  ist,  hervorgerufen  durch  Gedankenlosigkeit 
oder  privaten  Vorteil.  Die  Hartnäckigkeit  dagegen, 
falls  sie  nicht  Heuchelei  oder  Eitelkeit,  sondern 
überströmende  und  fanatische  Leidenschaft  der  Pflicht 
ist,  mag  wohl  ein  Fehler  sein,  aber  ein  aristokrati- 
scher Fehler,  der  sozusagen  vor  gemeineren  Fehlern 
behütet. 

4» 


Die  Parteigänger  der  abstrakten  Gerechtigkeit,  die 
die  Erfahrungswerte  mit  den  absoluten  verwechseln 
und  diese  nach  Art  jener  behandeln  wollen,  stürzen  sich 
damit  nicht  nur  in  ein  eitles  Beginnen,  sondern  sie 
werden,  aus  übelverstandener  Liebe  zur  Gerechtigkeit, 
ungerecht;  in  allzugroßem  Vertrauen  auf  die  abstrakte 
Gerechtigkeit  machen  sie  sich  eines  allzu  geringen  Ver- 
trauens auf  die  konkrete  Gerechtigkeit  schuldig,  die 
sich  in  der  Welt  darstellt  und  die  die  einzige  ist,  die 
mit  Nutzen  angerufen  und  gefördert  werden  kann. 
Gleicherweise,  wenn  nicht  schlimmer,  irren  die  Partei- 
gänger des  Kampfes  ohne  Gerechtigkeit,  wenn  sie,  aus 
der  entgegengesetzten  Einseitigkeit  heraus,  die  abso- 
luten Werte  in  solche  der  Erfahrung  verkehren,  nichts 
anderes  als  das  Vaterland  oder  die  Partei,  den  Gau  oder 
die  Familie,  die  Klasse  oder  die  Rasse  in  ihrer  Unmittel- 
barkeit und  Roheit  vor  sich  sehen,  den  edlen  Krieg  des 
menschlichen  Geschlechts  in  jenen  unedlen,  von  dem 
Polybius  spricht,  verkehren,  in  den  aufständischer 
Söldner,  einen  Vernichtungskrieg  ohne  Waffenstillstand, 
ohne  Treu  und  Glauben.  Die  Erfahrungswerte,  das 
heißt  die  vom  bloßen  Kampf  begrenzten,  haben  ihre 
Schranke  in  den  Kulturwerten;  und  deshalb  wird  der 
ebenso  bewundert,  der  sein  leibliches  Glück  und  sein 
Leben  dem  Vaterland  oder  der  eigenen  Partei  zum 
Opfer  bringt,  wie  derjenige  Tadel  und  Abscheu  erregt, 
der  dem  einen  oder  der  andern  die  Wahrheit  oder  die 
Sittlichkeit  opfern  will :  Dinge,  die  ihm  nicht  zugehörig 
sind,  „ungeschriebene  Göttergesetze",  die  kein  mensch- 
liches Gesetz  verletzen  kann.  Es  gibt  ein  uns  räumlich 
ziemlich  nahegerücktes  Volk,  das  die  Beleidigung  und 
den  Hohn  gegen  die  feindlichen  Völker  für  eine  gute 
Waffe  hält;  allein  es  ist  es  eine  wenig  sichere  und  schließ- 

43 


lieh  den,  der  sich  ihrer  bedient,  selbst  schädigende  Waffe ; 
daher  der  Rat,  sie  von  Zeit  zu  Zeit  mit  der  anderen,  der 
Schmeichelei,  zu  vertauschen,  die  nicht  weniger  unge- 
eignet ist,  dort,  wo  die  Völker  unter  sich  nicht  durch 
ihre  Laune,  sondern  ihre  geschichtliche  Sendung  ent- 
zw^eit  sind,  und  sich  untereinander  nur  soweit  und  für 
solange  ausgleichen  können,  als  es  ihnen  die  Geschichte 
zubilligt  oder  auferlegt,  durchaus  nicht  so  oft  und  so  viel, 
wie  die  Launen  des  Gefühls  oder  abstrakte  Gedanken- 
verbindungen es  heischen.  Es  gibt  ferner  ein  anderes, 
in  der  europäischen  Gesittung  hervorragendes  Volk,  das, 
wenn  es  die  harten  Notwendigkeiten  der  Politik  und 
des  Krieges  zu  erfüllen  hat,  dies  gerne  mit  einem  Grinsen 
der  Wildheit  tut,  die  an  den  Hunnen  Attila  oder  den 
Langobarden  Alboin  erinnert,  als  er,  nicht  befriedigt 
davon,  Kunimund  besiegt  und  dessen  Schädel  zum 
Trinkbecher  gemacht  zu  haben,  die  Tochter  des  Ge- 
töteten zwang,  aus  der  schauerlichen  Schale  zu  trinken. 
Aber  weder  Falschheit  noch  Verleumdung,  weder  Be- 
leidigung noch  Lust  an  Verrat  und  Gemetzel  gehören 
zu  den  Pflichten  des  guten  Bürgers  und  des  aufrichtigen 
Vaterlandsfreundes.  Auch  wo  der  Kampf  zu  Listen 
zwingt,  die  Verstellung,  und  zu  Taten,  die  Gewalt  sind, 
muß  das  Bewußtsein,  höhern  Absichten  zu  dienen  und 
einer  Notwendigkeit  zu  gehorchen,  vor  der  die  eigenen 
Stimmungen  und  Neigungen  zurücktreten  müssen,  den 
Gemütern  etwas  Strenges  und  selbst  Schwermütiges 
verleihen.  Ich  weiß  nicht,  ob  Fürst  Bismarck  wirklich 
die  Emser  Depesche  gefälscht  hat,  und  gebe  sogar  zu, 
wenn  man  will,  daß  er  nicht  anders  handeln  konnte 
und  seine  Pflicht  als  guter  Preuße  erfüllt  hat;  allein  die 
Genugtuung,  mit  der  er  wiederholt  den  begangenen 
Betrug  erzählte  (um  so  schlimmer,  wenn  er  ihn  tatsäch- 


lieh  nicht  begangen  und  sich  seiner  nur  ins  Leere  hin- 
ein gerühmt  hat!)  ist  zu  verurteilen,  wirft  einen  Schatten 
auf  sein  Andenken,  und  lastet  wie  eine  zu  sühnende 
Schuld  auf  dem  großen  Volke,  das  sein  Tun  bewundert 
hat,  wenn  anders  der  Mangel  an  Bedenken  und  ein  ge- 
wisses Etwas  von  Rohem  und  Zynischem,  das  man 
häufig  am  heutigen  Deutschland  bemerkt,  eine  Schuld 
ist.  Vielleicht  erklärt  es  diese  Lust  an  der  Schadenfreude, 
wenn  der  in  Ungnade  gefallene  Bismarck  unter  sich 
herabzusteigen  scheint,  da  wirklich  an  diesem  ganz 
Großen  irgend  etwas  Kleinliches  war.  Als  eine  viel 
feinere  Natur  enthüllt  sich  uns  Cavour,  der,  zu  Ver- 
stellungskünsten ganz  ähnlicher  Art  wie  denenBismarcks 
gezwungen,  den  Zwiespalt  zwischen  dem,  was  er  nie- 
mals für  sich  selbst  zu  tun  gewagt  hätte,  und  dem,  was 
er  für  Italien  getan,  empfand;  er  starb  wie  ein  Held, 
auf  seinem  Sterbelager  nicht  von  sich,  sondern  von 
Italien  sprechend. 

Wollen  die  modernen  Italiener,  mit  so  erhabenen 
Beispielen  aus  ihrer  jüngsten  Geschichte,  um  den  halt- 
losen Liberalismus  und  Humanitarismus,  die  politische 
Naivetät,  in  der  sie  sich  allzulange  gewiegt  haben,  gut- 
zumachen, sich  deshalb  den  trüben  Gelüsten  überlassen, 
die  die  Fürsprecher  des  nationalen  Kampfes  ohne  Ge- 
rechtigkeit und  ohne  Treue  hegen .?  Wollen  sie  das  frei- 
beuterische Italien  der  Borgia  eines  neuesten  Dichters 
und  Rhetors  zum  Höchsten  ihrer  Seele  machen,  und 
nicht  lieber  jenes,  von  dem  Niccolo  Tommaseo  geträumt 
hat,  „streng  und  demütig,  gewappnet  und  liebend"? 
Das  Gleichgewicht  des  Gemütes  und  geistige  Feinheit 
sind  italienische  Errungenschaften,  die,  wie  ich  glaube, 
etlichen  Landgewinn  aufwiegen,  und  die  mit  aller  Ent- 
schiedenheit gegen  die  Übertreibungen  und  Entartungen 

45 


sowohl  der  Nebelhaften  wie  der  Materialisten  der 
Politik  aufrecht  erhalten  werden  sollten. 

KAMPFMETHODEN  DES  ITALIENISCHEN 
NATIONALISMUS  [Italia  nostra,  3.  Jänner  1915).  - 
Es  ist  ein  Jahr  oder  wenig  mehr,  da  suchte  mich  ein 
Nationalist,  der  ein  alter  Freund  von  mir  ist,  auf;  er  gab 
mir  seinen  Wunsch  kund,  mit  mir,  dessen  Redlich- 
keit und  Klarheit  des  Urteils  (wie  er  sich  höflicherweise 
ausdrückte)  er  sehr  schätze,  eine  Unterredung  über  den 
Nationalismus  zu  pflegen.  In  dieser  freundschaftlichen 
Unterhaltung  suchte  ich  meinem  national  gesinnten 
Freunde  klar  zu  machen,  daß  das  Unrecht  des  Natio- 
nalismus darin  bestehe,  sich  selbst  auf  das  Feld  der 
Demokratie  und  der  nationalen  Undiszipliniertheit,  die 
er  ja  doch  bekämpfen  wolle,  zu  begeben;  damit  werde 
eben  die  Möglichkeit  genommen,  die  gegnerische  Partei 
zu  überholen  und  in  sich  selbst  aufgehen  zu  lassen,  wie 
dies  jede  Partei,  die  der  anderen  in  Wahrheit  überlegen 
sein  wolle,  tun  müsse.  —  Die  spätem  Ereignisse  haben 
mir  vollständig  recht  gegeben.  Nicht  daß  ich  ein  Pro- 
phet wäre!  Immerhin  fehlt  mir  aber  nicht  eine  durch 
lange  Übung  gefestigte  Fähigkeit,  die  logischen  Folgen 
gewisser  geistiger  Einstellungen  zu  erkennen,  auch  be- 
vor sie  noch  in  Tatsachen  oder  Worten  Gestalt  an- 
nehmen. 

Freilich  hat  sich  der  Ausgleich  des  Nationalismus 
mit  dem  Demokratentum  und  der  freimaurerischen 
Französelei,  den  wir  eben  mitmachen,  auch  dorthin 
erstreckt,  wo  ich  wegen  der  verschiedenen  Gemüts- 
anlage und  Herkunft  der  Einzelnen  eine  gewisse  Schei- 
dung erhofft  hätte.  Denn  leider  haben  sich  die 
Nationalen  jetzt  die  übelsten  Kampfmittel  der  äußer- 

46 


sten  Parteien  zu  eigen  gemacht:  Verdächtigung  und 
persönliche  Beleidigung. 

Es  ist  eine  Richtschnur  für  anständige  Kamptesweise 
(ganz  verschieden  von  der,  vvrelche  die  politischen  De- 
magogen und  Marktschreier  aller  Zeiten  anwenden), 
den  Gegner  nur  in  dem  zu  treffen,  vvras  er  gegen  die 
Sache,  die  w^ir  für  gerecht  ansehen,*vorbringt  und  tut, 
wie  allein  in  dem,  was  mit  ihr  zusammenhängt.  Alles, 
was  über  diesen  Umkreis  hinausgeht,  ist  ein  unerlaubter 
Versuch  von  Vergewaltigung,  die  —  so  urteilt  der  ge- 
sunde Menschenverstand  — unsern  Behauptungen  nicht 
zugute  kommt,  sondern  lediglich  deren  Schwäche  ent- 
hüllt. 

Sehen  wir  doch  ein  wenig  zu !  Die  Nationalen  haben 
beispielsweise  (darin  die  Sozialisten  der  Mussolinischen 
Richtung  nachahmend)  die  „deutschen  Gattinnen"  des 
einen  oder  andern  Gegners  deutschfeindlicher  Verleum- 
dungen und  des  überstürzten  Krieges  aufs  Tapet  ge- 
bracht. Wer  verleiht  ihnen  das  Recht,  in  das  innerste 
Heiligtum  des  Gewissens  einzudringen  und  für  sicher 
anzunehmen,  ein  Mann  schöpfe  seine  Gesinnung  aus 
dem  ehelichen  Gemach?  Vermögen  sie  nicht  einzu- 
sehen, daß  eine  Anklage  dieser  Art  zu  denen  gehört, 
die  sich  nicht  abwehren  lassen,  und  daß  sie  darum  das 
Wesen  einer  abscheulichen  Vergewaltigung  annimmt? 
Gewiß  wären  wir  Gegner  imstande,  ein  Verzeichnis 
der  französischen,  englischen,  russischen  oder  serbischen 
Frauen,  Freundinnen  oder  Geliebten  der  Nationalen 
aufzustellen;  aber  wir  unterlassen  es  nicht  nur  aus 
Achtung  gegen  die  Damen,  sondern  auch  gegen  uns 
selbst.  Ist  es  schön,  den  Gegner  mit  einer  Waffe  anzu- 
greifen, die  dieser  für  sein  Teil  verschmäht,  weil  sie 
unredlich  ist? 

47 


Weniger  schlimm  ist  es,  wenn  man  mir  gegenüber 
(dem  man  keine  ausländischen  Frauen  vorwerfen  kann) 
dazu  greift,  über  die  Fragen  der  Ästhetik,  der  Logik 
oder  der  literarischen  Kritik,  von  denen  ich  in  meinen 
Schriften  gehandelt  habe,  abfällig  zu  sprechen !  Allein 
auch  das  ist,  überlegt  man's  recht,  unerlaubt;  denn  im 
vorliegenden  Falle  bin  ich  nichts  anderes  als  ein  unab- 
hängiger Bürger,  der  seine  Gefühle  oder  seine  Ansichten 
über  das  öffentliche  Wohl  kundgibt.  Ich  könnte  ein 
ganz  schlechter  Kritiker  und  Philosoph  und  ein  vor- 
trefflicher Politiker  sein  oder  umgekehrt,  je  nach  Be- 
lieben. Oder  will  vielleicht  einer  oder  der  andere  dieser 
Artikelschreiber  aus  dem  Unmut,  den  gewisse  poli- 
tische Darlegungen  von  mir  erregt  haben,  Vorteil  ziehen, 
um  sich  für  irgendein  vorausliegendes,  nicht  gerade 
schmeichelhaftes  Urteil  meinerseits  über  seine  Verse  und 
seine  Prosa  zu  rächen?  Auch  das  wäre  unerlaubt. 

Lassen  wir  demnach  die  Ehefrauen,  die  Ästhetik  und 
die  Philosophie  beiseite  und  sprechen  wir,  wenn  es  ge- 
fällig ist,  von  Italien,  das  den  Gegenstand  unseres  Zwie- 
spalts bildet.  Ich  achte  im  gegebenen  Fall  alle,  auch 
die,  die  ich  nicht  achte,  und  vermesse  mich,  die  gleiche 
Behandlung  zu  fordern.  Will  man  sie  mir  nicht  zuteil 
werden  lassen,  so  mag  man  einer  Sache  gewiß  sein :  daß 
ich  für  mein  Teil  nicht  das  Recht  der  Wiedervergeltung, 
oder  wie  man  heute  nach  der  Ausdrucksweise  der  Zei- 
tungsschreiber zu  sagen  pflegt,  „Repressalien",  in  An- 
wendung bringen  werde,  die  mir  widerstreben. 

DIE  POLITIK  EINES  PHILOSOPHIEREN- 
DEN CHEMIKERS  [Critica  XIIl,  1915).- Wir  sind 
in  dieser  unsorer  Rundschau  immer  bestrebt  gewesen, 
die  Beobachtung  der  eigenen  Grenzen  zu. empfehlen; 

+8 


darum  muf3ten  wir  Physikern,  Ärzten,  Mathematikern, 
wenn  sie  aus  dem  Stegreif  Philosophie  betrieben,  ent- 
gegentreten, darunter  auch  dem  Chemiker  Ostwald,  als 
Verfasser  eines  philosophischen  Systems  unter  dem  Titel 
einer  „Naturphilosophie".  Denn  die  Grenzüberschrei- 
tung ist  gefährlich  und  sie  schädigt  nicht  nur  das  Feld 
der  Philosophie,  sondern  noch  viel  schlimmer  das  der 
politischen  und  praktischen  Fragen;  hier  gibt  es  immer 
einige  oder  viele,  die  die  Dilettantismen  und  Kindlich- 
keiten der  Sonderforscher  als  „Offenbarungen  der  hohen 
Gedanken  des  ausgezeichneten  Gelehrten  usw."  gläubig 
aufnehmen.  Und  nun  zeichnet  eben  Ostwald,  der  vom 
Chemiker  sich  zum  Philosophen,  und  vom  Philosophen 
zum  Politiker  erhebt  (oder  herabsteigt),  mit  sicherer 
Hand  das  künftige  Europa  unter  deutscher  Vorherr- 
schaft, die  den  übrigen  Völkern  die  politische,  gesell- 
schaftliche und  wirtschaftliche  Richtschnur  geben,  und 
falls  diese  sich  nicht  dazu  bequemen  wollen,  bereit  sein 
wird,  „sie  mit  Gewalt  dazu  zu  zwingen".  Allerdings 
macht  Ostwald  ein  kleines  Zugeständnis:  „Wir  denken 
nicht  daran  (sagt  er),  nach  dem  Siege  der  übrigen  Welt 
die  deutsche  Sprache,  den  deutschen  Gedanken,  nicht 
einmal  die  deutsche  Ästhetik  und  Kunst  aufzuzwin- 
gen . . ." ;  denn  dem  stehen  einige  „praktische  Schwierig- 
keiten" entgegen,  auch  „der  Geist,  in  dem  sich  unsere 
Kultur  entwickelt  hat!"  Einstweilen  stellt  er  aber  die 
vollkommene  Vereinheitlichung  des  Maß-  und  Ge- 
wichtswesens in  Aussicht,  dann  die  Vollendung  ver- 
schiedener Unternehmungen  wissenschaftlicher  Art, 
wenn  die  Vereinigten  Staaten  von  Europa  unter  deut-. 
scher  Leitung  und  mit  dem  deutschen  Kaiser  als  Vor- 
sitzenden, das  Amt  der  Zivilisation  der  Menschheit  auf 
sich  genomrnen  haben  werden.  Der  gelehrte  Chemiker 

4    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  AQ 


hat  sich  wohl  nie  die  Frage  gestellt,  was  für  eine  Wissen- 
schaft und  was  für  eine  Kunst  wohl  aus  einer  Massen- 
arthäufung  von  Völkern,  die  gleich  einer  Herde  behan- 
delt werden  sollen  und  der  Empfindung  von  Freiheit 
und  Würde  beraubt  sind,  hervorgehen  soll :  ein  Zweifel 
daran  wäre  das  Anzeichen  einer  geistigen  Feinheit,  über 
die  er  augenscheinlich  nicht  verfügt.  Wäre  dies  der  Fall, 
so  hätte  er  vielleicht  darauf  verzichtet,  jetzt  über  Politik, 
wie  vorher  über  Philosophie  zu  schreiben.  Als  guter 
Patriot,  der  er  zweifellos  ist,  hätte  er  sonst  bemerken 
müssen,  daß  er  seinem  eigenen  Lande  großen  Schaden 
tut,  wenn  er  der  Welt  das  als  deutsches  Ideal  ver- 
kündet, was  gerade  der  deutsche  Nationalfehler  ist:  die 
Pedanterie. 

HEGELFEINDLICHE  VERSTIMMUNGEN 
(Critica  XIII^  1915)-  —  Im  eigensten  Bereich  dieser 
Randbemerkungen  verbleibend,  die  wundersame  Aus- 
sprüche, so  wie  wir  sie  aus  Zeitschriften,  Rundschauen 
und  Büchern  sammeln,  kurz  erläutern  sollen,  können 
wir  unmöglich  an  einem  der  verschiedenen  Aufsätze 
vorübergehen,  die  Guglielmo  Ferrero  verfaßt  hat,  um 
mit  der  Leuchte  seines  Gedankens  den  europäischen 
Krieg  zu  erhellen ;  es  ist  der  über  Internationale  Gerech- 
tigkeit, erschienen  im  Secolo  vom  21.  April.  Diesmal 
können  die  Erläuterungen  fast  wegbleiben,  da  die  Aus- 
züge genügen  werden.  Ferrero  hat  es  mit  Hegel  zu 
tun,  der,  wie  es  scheint,  sein  hohes  sittliches  Gefühl  be- 
leidigt und  dessen  Gedankengang  er  folgendermaßen 
wiedergibt:  „Die  Tyrannei  ist  ebenso  heilig  wie  die 
Freiheit,  weil,  wäre  sie  nicht,  der  Mensch  nicht  einmal 
den  Gedanken  der  Freiheit  fassen  könnte.  Gesegnet 
auch  der  Krieg,  weil  er  die  Antithese  und  mithin  die 

50 


Bedingung  des  Friedens  ist  .  .  .  Es  gibt  keinen  gelun- 
genen Schurkenstreich,  der  sich  nicht  auf  diese  Weise 
rechtfertigen  Ueße."  Wie  unsere  Leser  gleich  bemerken 
werden,  ist  dieses  „ebenso  heilig"  etwas,  das  nicht  aus 
dem  Gehirn  Hegels,  sondern  aus  dem  Ferreros  stammt, 
und  es  steht  hier,  um  den  demokratischen  Lesern  des 
„Secolo"  den  gebührenden  Schauder  einzujagen. 

Was  das  Weitere  anbelangt,  daß  die  Freiheit  die  Ge- 
waltherrschaft voraussetze  und  der  Frieden  den  Krieg, 
so  wäre  es  höchst  seltsam,  wenn  Hegel  oder  irgendein 
anderer  vernünftiger  Mensch  das  Gegenteil  behauptet 
hätte;  nämlich,  daß  der  Begriff  des  Friedens  ohne  den 
des  Krieges  entstehen  könne,  der  Begriff  der  Freiheit 
ohne  den  der  Gewaltherrschaft  oder  der  der  Mehrheit 
ohne  den  der  Minderheit,  das  Ja  ohne  das  Nein!  Es 
folgt  dann  ein  geschichtliches  Bruchstück,  in  der  Art 
jener  Geschichte,  wie  sie  Ferrero  vorzutragen  pflegt, 
ohne  jede  Hemmung  verlaufend,  weil  vollkommen  er- 
funden. „Als  der  Hegelianismus  aus  den  nördlichen 
Ländern,  in  denen  er  geboren  worden  war,  in  die  Welt 
hinaus  drang  und  die  Grenzen  des  alten  Römerreichs 
zu  überschreiten  versuchte,  erweckte  er  bei  seinem  Er- 
scheinen eine  Art  vonSchauder.  Diese  unselige  Sophistik, 
die  alle  Merkmale  des  Guten  und  Bösen  zu  Nutz  und 
Frommen  aller  Streber  —  mochten  sie  Völker,  Staaten, 
Klassen,  Parteien  und  einzelne  Menschen  sein  —  ver- 
wischte, flößte  den  höher  stehenden,  tieferen  und  edleren 
Geistern  der  lateinischen  Lande  Entsetzen  ein."  Das 
soll  der  erste  geschichtliche  Abschnitt  der  Schicksale 
des  Hegelianismus  sein,  von  dem  man  nicht  weiß,  wo 
und  wann  er  sich  entwickelt  haben  soll ;  gewiß  nicht  in 
Italien ;  denn  die  Einführung  des  Hegelianismus  fiel  mit 
dem  nationalen  Erwachen  zusammen,  mit  den  liberalen 


4» 


51 


Bewegungen  und  mit  der  Revolution  von  1848:  in 
Neapel  v\rar  „Hegelianer"  gleichbedeutend  mit  „Ver- 
schwörer gegen  die  Bourbonen" ;  und  Hegelianer  waren 
gerade  damals  bei  uns  alle  die  „zuhöchst  stehenden, 
tiefsten  und  edelsten"  Geister,  die  ihr  ganzes  Leben  für 
das  Vaterland  dahingaben.  Gehen  wir  zur  zweiten 
Periode  über:  „Hieraufkamen  aber  die  politischen  und 
wirtschaftlichen  Umwälzungen  der  zweiten  Hälfte  des 
neunzehnten  Jahrhunderts,  die  Befleckung  der  Klassen 
und  ihrer  Bestrebungen,  das  Zeitalter  des  Eisens  und 
Feuers,  der  Sieg  der  Quantität,  das  Aufkommen  des 
geschäftstüchtigen  Bürgertums.  In  dieser  ungeheueren 
Umwälzung  und  Verkehrung  machten  vor  den  Augen 
der  unwissenden  rohen  Kaufmannsregierungen  alle 
Philosophien,  die  dazu  beitrugen,  die  Grundsätze  von 
Gut  und  Böse  zu  vermengen,  irgendwie  Glück  oder  er- 
weckten zum  mindesten  nicht  den  Abscheu  wie  früher. 
Das  Jahrhundert  wurde  unduldsam  und  zugleich  Zu- 
geständnissen hold.  Wenn  auch  nicht  gerade  die  Philo- 
sophie Hegels  (den  niemand  mehr  las),  so  verbreitete 
sich  doch  sein  Geist  über  die  Welt,  bis ..."  Alles  das  soll 
sich  in  der  zweiten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
zugetragen  haben,  bekannt  dadurch,  daß  sie  den  Philo- 
sophien jeder  Art  abgeneigt  war,  sowie  durch  den 
Triumph  der  Naturwissenschaften  und  des  mit  ihnen 
verbundenen  Positivismus,  durch  ihr  Ideal  eines  all- 
gemeinen Friedens  und  den  demokratischen  Traum  von 
einem  tausendjährigen  Reich!  Freilich  hat  uns  Ferrero 
längst  an  dergleichen  Auf-den-Kopfstellen  hergebrach- 
ter Meinungen  gewöhnt,  er,  der  ein  andermal  entdeckt 
hat,  daß  Italien  nach  1860  den  Protestantismus,  die 
Mystik,  die  Metaphysik  sich  zu  eigen  gemacht  und  die 
schönen  Künste  vernachlässigt  habe!  (Vgl.  Critica  IX, 

52 


52.)  Alles  Gift  der  Sache  liegt  jedoch  in  der  dritten 
„Periode"  der  Geschichte  des  Hegeltums,  wie  sie  Ferrero 
uns  mit  Meisterhand  umreißt:  „.  .  .  bis  zu  Beginn  des 
zwanzigsten  Jahrhunderts  in  diesem  unserem  Lande,  das 
immer  der  bevorzugte  Boden  von  Abenteurern 
aller  Art  gewesen  ist,  der  Versuch  gemacht  wurde, 
jene  Philosophie  (den  Hegelianismus)  unter  seinem 
wahren  Namen  wieder  zur  Geltung  zu  bringen:  eine 
der  traurigsten  Erscheinungen  in  diesen  fünf- 
zehn Jahren  sittlicher  und  geistiger  Auflösung, 
von  der  man  hoffen  darf,  daß  der  europäische  Krieg  ihr 
irgendwie  ein  Ende  bereiten  werde." 

Daß  hier  von  uns  die  Rede  ist,  liegt  auf  der  Hand; 
noch  klarer  ist  es,  daß  Ferrero  —  der,  kühn  gemacht 
durch  den  Wirbel  und  die  geistige  Verworrenheit  des 
Tages  —  so  gut  wie  er  es  vermag,  sein  Mütchen  zu 
kühlen  sucht  für  das  Hemmnis,  das  sein  Ehrgeiz  (der 
wohl  nicht  der  eines  „Strebers"  war?),  eine  gewisse  Lehr- 
kanzel für  Geschichtsphilosophie  in  Rom  zu  ergattern, 
in  dem  offenen  Wort  eines  dieser  „Abenteurer"  ge- 
funden hat.  Wir  fragen  aber,  ist  es  möglich,  daß  er  jetzt 
noch,  in  der  Kriegszeit,  an  Armseligkeiten  von  dieser 
Art  denkt.? 

ITALIENS  EINTRITT  IN  DEN  KRIEG  UND 
DIE  PFLICHTEN  DES  GELEHRTEN  {Critica 
XII,  Mai  1915).  —  Als  im  Juli  des  vorigen  Jahres  der 
europäische  Krieg  ausbrach,  war  es  sofort  klar,  daß 
Italien  früher  oder  später  in  der  einen  oder  anderen 
Weise  in  ihn  hineingezogen  werden  würde,  und  daß  wir 
am  Beginn  eines  langen  Zeitraums  von  Kriegen  und 
gründlicher  Umstürze  stünden,  eines  jener  Sprünge  nach 
vorwärts,  die  das  menschliche  Geschlecht  unter  unge- 

53 


heueren  Erschütterungen  vollzieht;  —  für  unser  Teil 
entschlossen  wir  uns,  unsere  Kräfte  wohl  zu  sammeln, 
um,  klaren  Geistes  bei  bedrängter  Seele,  unsere  For- 
schungen und  Arbeiten  fortführen  zu  können. 

Keine  würdige  Sache  erschien  uns  jedoch  jenes 
Sichverlieren  in  hohle  Einbildungen  und  noch  hohlere 
Worte,  das  wir  sogleich  an  sehr  Vielen  unter  dem 
Anschein  einer  edelmütigen  Besorgnis  um  die  Ge- 
schicke der  Menschlichkeit  und  des  Vaterlandes  wahr- 
nahmen, das  aber  in  den  meisten  Fällen  tatsächlich 
nichts  anderes  war,  als  die  einfache  Hingabe  an  den  stets 
verlockenden  Trieb  zur  Denkfaulheit,  verhüllt  unter 
dem  Vorwand  des  Krieges  und  des  zu  gewärtigenden 
Eintritts  Italiens  in  den  Krieg.  Es  sind  das  Einbildungen 
und  Schwätzereien,  die,  lassen  sie  sich  auch  nicht  gänz- 
lich verhindern  (weil  auch  sie  im  Verlauf  der  Wirklich- 
keit ihr  Amt  ausfüllen),  doch  Dinge  sind,  die  nicht 
gefördert  werden  dürfen,  weil  sie  sich  ohnehin  von 
selbst  bewegen,  vielmehr  in  Schranken  gehalten  wer- 
den müssen. 

Ebensowenig  vermochten  wir  uns,  nach  der  Art 
solcher  Wirrköpfe,  in  der  Erwartung  zu  beruhigen, 
nach  dem  Kriege  würde  eine  neue  Kunst,  ein  neuer 
Stil,  eine  neue  Wissenschaft,  eine  neue  Philosophie, 
eine  neue  Geschichtschreibung  erstehen;  wir  vermoch- 
ten es  nicht,  weil  wir  allzugut  wußten,  daß  dies  alles 
nicht  Gaben  sind,  die  vom  Himmel  fallen,  oder  mecha- 
nische Ergebnisse  militärischer  Siege  und  politischer 
Umwälzungen,  sondern  Werke  des  Gedankens,  der 
seine  Arbeit  unberirrt  fortsetzt,  die  neuen  Ereignisse 
bewältigend,  daß  mithin,  wer  vor  dem  Kriege  nicht 
die  Fähigkeit  und  die  Methode  zu  arbeiten  und  zu 
denken  besessen  hatte,  sie  auch  nach  dem  Kriege  nicht 

54 


zu  erwerben  imstande  sein  werde,  gleichsam  als  wäre 
das  eine  einfache  Folge  des  Krieges. 

Auch  hielten  wir  es  keineswegs  für  löblich,  was  wir 
fast  überall  (und  in  Frankreich  nicht  weniger  als  in 
Deutschland)  an  unterschiedlichen  in  der  Wissenschaft 
hervorragenden  Männern  gesehen  haben  und  sehen: 
nämlich,  wissenschaftliche  Begriffe  als  Stütze  dieser 
oder  jener  zufälligen  politischen  Ansicht  zur  Ver- 
teidigung oder  zum  Angriff  auf  dieses  oder  jenes  Volk 
zu  gebrauchen;  obwohl  sie  damit  sicher  vermeinen, 
als  gute  Bürger,  gute  Patrioten  oder  treue  Staatsdiener 
zu  handeln.  Allein  über  der  Pflicht  gegen  das  Vater- 
land steht  die  Pflicht  gegen  die  Wahrheit,  die  alles 
andere  in  sich  begreift  und  rechtfertigt;  die  Wahrheit 
verdrehen,  Lehren  zu  zimmern,  wie  zum  Beispiel  die, 
die  wir  jetzt,  zu  unserer  nicht  geringen  Verwunderung, 
von  hervorragenden  deutschen  Geschichtsforschern 
und  Theoretikern  darlegen  hören,  —  daß  der  wahre 
Zukunftsstaat  nicht  der  auf  völkischer  Grundlage 
ruhende,  sondern  jener  sei,  der  den  „natürhchen  Be- 
standteil" des  Volkstums  überwunden  habe  und  in 
rein  juridischer  Form,  nach  Art  Österreich-Ungarns, 
aufgebaut  sei!  —  oder  die  Anwendung,  die  Bergson 
von  seiner  Lehre  des  „Mechanismus"  auf  den  deut- 
schen Generalstab  und  der  des  „lebendigen  Schwunges" 
auf  den  französischen  macht!  —  fürwahr,  das  alles 
ist  nicht  ein  dem  Vaterland  erwiesener  Dienst,  sondern 
ein  Schandfleck,  der  ihm  angehängt  wird,  ihm,  das 
auf  den  Ernst  seiner  Forscher  ebenso  zählen  können 
muß  wie  auf  die  Züchtigkeit  seiner  Frauen.  Der 
Mann  der  Wissenschaft  darf  nicht  mit  den  Leiden- 
schaften wetteifern,  wenn  diese  am  Werk  sind,  Trug- 
bilder von  Liebe  und  Haß  zu  schaffen,  wenn  er  auch 

55 


nicht  erwarten  kann,  mit  seiner  Wissenschaft  jene 
außerhalb  der  Wissenschaft  entstandenen  Bilder  aus- 
zulöschen, wirksam  im  Leben,  wo  sie  ihre  selbsttätige 
Richtigstellung  in  andern  aus  abweichenden  oder  ent- 
gegengesetzten Gefühlen  stammenden  Bildern  finden. 

Während  nun  einige  literarische  Zeitschriften  Italiens 
schon  seit  Monaten  ihr  Erscheinen  „des  Krieges  wegen" 
eingestellt,  andere  dagegen  es  aufgegeben  haben,  von 
Literatur  und  Kunst  zu  handeln,  um  ihre  Spalten  mit 
mehr  oder  weniger  törichten  Aufsätzen  über  den  Krieg  zu 
füllen,  hat  sich  in  dieser  unserer  Rundschau  keine  Rück- 
wirkung des  Krieges  bemerkbar  gemacht;  sie  setzte  ihre 
geschichtlichen  Untersuchungen,  ihre  philosophischen 
Erörterungen,  ihre  kritischen  Urteile  fort,  als  gäbe  es  kei- 
nen Krieg.  Wohl  haben  wir  anderwärts,  so  gut  wir  es  ver- 
mochten, unsere  Bürgerpflicht  erfüllt,  indem  wir  poli- 
tische Erklärungen  abgaben  und  jene  Dienste  leisteten, 
die  wir  leisten  zu  können  glaubten;  vielleicht  haben 
auch  wir  uns  bei  diesen  Gelegenheiten  zu  Einbildungen, 
ja  selbst  zu  müßigem  Gerede  verführen  lassen;  allein 
wir  haben  uns  wohl  gehütet,  aus  dieser  der  Wissen- 
schaft gewidmeten  Rundschau  die  Tribüne  unseres 
Patriotismus,  das  Tagebuch  unserer  Besorgnisse  und 
Ängste,  unserer  persönlichen  Hoffnungen  zu  machen. 

Wir  wissen  nicht,  ob  dieses  Verhalten,  das  uns  der 
Billigung  wert  erscheint,  auch  allgemein  gebilligt  wird; 
wir  haben  vielmehr  in  mancher  Rundschau  oder  Tages- 
zeitung gelesen,  oder  es  ist  uns  zu  Ohren  gekommen, 
daß  wir  die  gegenwärtige  Gelegenheit  unterlassen  hät- 
ten, „unser  Wort  in  die  Wagschale  zu  werfen,  um  in 
'der  Schicksalsstunde  Italiens  den  Geistern  den  Weg  zu 
weisen,  sie  zu  berichtigen  und  anzufeuern".  Auf  Grund 
welchen  Ansehens  hätten  wir  dies  tun  sollen.?  Wo  es 

56 


sich  um  den  Vorteil  und  die  Ehre  des  Vaterlandes  han- 
delt, fühlen  wir  uns  keinem  andern  Italiener  nachstehend, 
aber  ebensowenig  über  ihm  stehend;  und  uns  irgendeines 
auf  dem  Gebiet  der  Forschung  erworbenen  Ansehens 
zu  bedienen,  um  unserem  einfachen  Bürgerwort  mehr 
Gewicht  zu  geben,  das  scheint  uns  unerlaubt.  Eine 
Dichtung  entsteht,  wenn  die  Eingebung  vorhanden 
ist,  und  die  Eingebung  läßt  sich  nicht  befehlen,  auch 
nicht  im  Namen  des  Vaterlandes;  ebensowenig  die 
Wissenschaft,  falls  ein  Gedankenproblem  vorhanden 
ist,  ein  Problem,  das  nicht  zu  jenen  gehört,  die  von 
der  Vaterlandsliebe  gestellt  und  gelöst  werden.  Aber 
Dichtung  wie  Wissenschaft  dürfen  sich  nicht  dazu  her- 
geben, das  schweigsame,  verborgene,  geheimnisvolle 
Schöpferwerk  von  Gefühl  und  Willen  mit  falscher 
Poesie  und  falscher  Wissenschaft  aufzuputzen. 

Mit  solchen  Vorsätzen,  oder  besser  mit  der  Dar- 
legung, die  wir  von  solchen  schon  seit  langem  gefaßten 
und  ins  Werk  gesetzten  Vorsätzen  gegeben  haben,  wol- 
len wir  die  vorliegende  Rundschau  auch  weiter  fort- 
führen; in  der  Hoffnung,  etwas  Nützliches  und  darum 
nicht  Unerwünschtes  denen  zu  tun,  die  auch  während 
des  europäischen  und  nationalen  Krieges  das  Bedürfnis 
haben,  täglich  einige  Stunden  ihrem  gewohnten  Tage- 
werk des  Studiums  zu  widmen;  jedenfalls  wollen  wir 
von  jetzt  an  auf  uns  selber  wohl  acht  haben,  das  heißt 
uns  selber  nach  der  Wiederkehr  des  Friedens  den  Vor- 
wurf zu  ersparen  suchen,  wir  hätten  die  uns  zur  Ver- 
fügung stehende  Zeit  schlecht  angewendet  oder  gerade- 
zu vergeudet.  Auf  der  andern  Seite  wollen  wir  uns 
klare  Rechenschaft  von  der  Entwicklung  des  geschicht- 
lichen Gedankens  Italiens,  der  durch  so  viele  Fäden 
mit  seinem  politischen  Gedanken  verknüpft  ist,  zu 


verschaffen  suchen,  von  der  Morgenröte  seiner  Wieder- 
erhebung an  bis  zum  gegenwärtigen  Tage ;  desgleichen 
eine  genaue  Kenntnis  der  Kulturbestrebungen  in  den 
verschiedenen  Landschaften  Italiens  während  der  letz- 
ten fünfzig  Jahre  ^) ;  denn  sind  das  nicht  ebenfalls  vater- 
ländische „Erfordernisse"  ?  Wer  dazu  imstande  ist,  hat 
unterdessen  die  Verpflichtung,  diese  und  andere  ähn- 
liche Erfordernisse  nicht  außer  acht  zu  lassen,  will  er 
nicht  (und  damit  greifen  wir  auf  das  zu  Beginn  Gesagte 
zurück)  mit  dem  Glorienschein  des  Außergewöhnlichen 
eine  ganz  gewöhnliche  Faulheit  und  Unschlüssigkeit 
umkleiden. 

D'ANNUNZIOUNDCARDUCCI(Cr/V/r^X7//, 

Mai  191 5).  —  In  dem  beklemmenden  Augenblick 
knapp  vor  der  Kriegserklärung  ist  Gabriele  d'Annunzio 
nach  Italien  zurückgekehrt,  den  wir  nicht  zum  Hohn, 
sondern  ihm  zum  Lobe  „Ex-Dichter"  nennen  wollen; 
nämlich  um  zu  erinnern,  daß  er  trotz  allem  dem  ita- 
lienischen Schrifttum  Blätter  von  wundervollster  Poesie 
geschenkt  hat;  es  wäre  ungerecht,  sie  in  dem  Sturm 
des  Tadels  zu  vergessen,  den  jener  schlechtere  Teil 
seines  Wesens  vollauf  verdient,  welcher  sich  von  den 
„Schiffsoden"  über  die  Dramen,  das  Buch  der  „Elektra" 
und  die  „Gesänge  von  Übersee"  zum  „Kirchfest  von 
Quarto"  erstreckt,  einem  des  ersten  großen  Kriegs  des 
vollständig  geeinten  Italiens  wenig  würdigen  Tageruf. 
Hingegen  sind,  nachdem  der  flüchtige  Lärm  der  Kund- 

^)  Croce  spielt  damit  auf  seine  „Geschichte  der  italienischen  Geschicht- 
schreibung seit  Beginn  des  19.  Jahrhunders  bis  auf  unsere  Tage"  an,  die  erst 
Ende  1920  zum  Abschluß  kam,  sowie  auf  die  von  verschiedenen  Mit- 
arbeitern herrührenden  „Beiträge  zur  Geschichte  der  italienischen  Kultur  in 
der  zweiten  Hälfte  des  19.  Jahrhunderts"  (nach  Landschaften,  Toskana,  Pie- 
mont,  Venetien  usw.),  die  noch  fortlaufen.    D.  Ü. 

58       ■ 


gebungen  und  der  hochtrabenden  Reden  verhallt  ist, 
die  Litaneien  des  „Kirchfestes",  die  „Fromme  Jung- 
fräulichkeit der  Dardanellen",  das  „Wappne  den  Bug 
und  lichte  die  Anker,  der  Welt  entgegen",  und  ähn- 
licher abgeschmackter  Schwulst  gänzlich  zur  Seite  ge- 
treten ;  dafür  drängen  sich  die  Bilder,  Strophen,  Rhyth- 
men Giosue  Carduccis  von  selbst  allen  auf  die  Lippen. 
Ein  Wunder  der  Wahrheit,  das  w^ieder  ersteht,  gerade 
als  man  es  erstickt  und  der  Vergessenheit  anheim- 
gegeben dachte;  aufrechte  Worte,  deren  Wert,  deren 
Wirksamkeit  ew^ige  Dauer  hat!  Denn  dies  ist  wirklich 
der  Krieg,  den  Giosue  Carducci  sein  ganzes  Leben  hin- 
durch im  Herzen  getragen  hat :  der  Krieg,  den  er  immer 
unter  den  Sinnbildern  nächster  und  ferner  Vergangen- 
heit besungen  hat,  und  der  seine  ganze  erhabene, 
schwermutvolle  Dichtung  gestaltet.  So  huldigen  wir 
dem  Andenken  unseres  letzten  nationalen  Sehers,  der 
vor  der  stolzen  Statue  von  Donatellos  heiligem  Georg 
vergeblich  geseufzt  hat: 

Sankt  Georg!  —  könnten 's  diese  müden  Augen  sehen, 
Daß  vor  dir  zog'  im  vollen  WafFenschmuck 
Vorbei  ein  Volk  von  Helden! 

und  der  durch  lange  Jahre  ein  von  seinen  Träumen  so 
sehr  verschiedenes  Italien  um  sich  erblickte,  in  dem 
sich  gleichwohl  mühsam  das  neue  vorbereitete,  jenes, 
das  jetzt  duldet,  denkt  und  schafft. 

An  diese  unsere  Rundschau  heftet  sich  irgendwie 
eine  unbestimmte  Nachrede  oder  ein  Verdacht  der  Ab- 
neigung gegen  Carducci,  der  Anschwärzung  seines 
Werkes,  nicht  etwa,  weil  wir  jemals  Grund  zu  diesem 
Urteil  gegeben  hätten,  sondern  weil  ein  paar  junge 
Leute,  die  nichts  Besseres  zu  tun  hatten,  vor  mehreren 
Jahren  darüber  ein  Geschrei  erhoben,  wir  beleidigten 

59 


Carducci,  und  sich  als  seine  großherzigen  Verteidiger 
aufspielten.  Allein  in  den  Aufsätzen  über  Carducci, 
1910  in  dieser  Rundschau  veröffentlicht,  die  eben  den 
Anlaß  zu  diesem  echten  und  rechten,  wenn  auch  ganz 
unterhaltenden  Verleumdungsfeldzug  gaben,  war  gerade 
der  Versuch  gemacht,  den  kraftvollen  und  originalen 
Kern  der  Dichtung  Carduccis,  ihren  geschichtlich- 
sittlich-bürgerlichen Kern,  herauszuschälen  gegen  jene 
Kritiker,  die  sie  als  „Professorenpoesie"  bezeichnet  hat- 
ten, wie  gegen  jene  anderen,  die  von  Carducci  lediglich 
einige  wenige  „landschaftliche"  Bruchstücke  gelten  las- 
sen wollten,  Vorläufer,  wie  sie  behaupteten,  der  „Laudi" 
d'Annunzios.  So  möge  es  einmal  gestattet  sein,  uns 
selbst  abzuschreiben  und  in  dieser  Rundschau  einen 
schon  vordem  in  ihr  abgedruckten  Abschnitt  zu 
wiederholen;  einen  unter  jenen  Aufsätzen,  die  sehr  gut 
auf  den  vorliegenden  Fall  passen. 

„Was  Carducci's  Herz  entflammte  (schrieben  wir 
damals),  was  er  unablässig  anstrebte,  war  Italiens  Größe. 
Alles,  was  dessen  Geister  durch  ein  Jahrhundert  ersehnt 
und  gesucht  hatten,  von  den  Republikanern  von  1799 
bis  zu  den  Carbonari  von  1820  und  dem  Jungen  Italien 
von  1831;  von  Murats  Soldaten  bis  zu  denen,  die 
Venedig  und  Rom  verteidigten  und  die  Österreicher 
aus  den  lombardischen  Ebenen  vertrieben;  was  Ros- 
settis,  Berchets,  Leopardis,  Manzonis  Gesänge  und 
die  Prosa  Giobertis  und  Guerrazzis  befeuert  hatte;  die 
Verschwörung,  die  Revolution,  Schrifttum  und  Ge- 
danke Italiens  während  eines  ganzen  Jahrhunderts,  alles 
dies  klang  noch  in  ihm  nach  und  verbreitete  sich  in 
weiten  Wellenringen  in  seinem  Geiste,  auch  nachdem 
ein  so  ansehnlicher  Teil  jener  Bestrebungen  Wirklich- 
keit geworden  war.  „Italien  über  alles" :  das  war  sein 

60 


Leitsatz,  und  da  die  Männer  der  Wiedererhebung  das 
Ideal  eines  kampftüchtigen  ItaUen  aufgestellt  und  zu 
verwirklichen  gesucht  hatten,  in  vollem  Bewußtsein 
davon,  daß  die  Vernachlässigung  der  WafFentüchtig- 
keit  und  die  Einbuße  an  Manneszucht  und  militä- 
rischen Tugenden  den  Verfall  Italiens  verursacht  und 
begleitet  hatten,  sowie  daß  das  künftige  Italien  die  erste 
Regung  seines  neuen  Lebens  auf  den  napoleonischen 
Schlachtfeldern  geoffenbart  hatte  —  so  träumte  Car- 
ducci  vor  allem  von  einem  kriegerischen  Italien:  Die 
Italiener  (die  sich  nach  jenem  Ausspruch  eines  franzö- 
sischen Generals,  der  übrigens  der  Widerhall  eines  über- 
kommenen und  jahrhundertalten  Urteils  war,  „nicht 
schlagen"),  sollten  sich  schlagen,  und  Carducci  froh- 
lockte ;  er  sah  nicht  auf  die  Uniformen  der  Kämpfenden : 
Freiwillige  der  Republik  oder  Soldaten  der  Monarchie, 
Demokraten  nach  französischem  Muster  auf  Barri- 
kaden fechtend,  oder  Verteidiger  des  alten  Piemont 
gegen  die  Franzosen,  in  geordneten  Schlachtreihen  für 
die  Ehre  und  für  ihr  kleines  Vaterland  fallend: 

„Und  wohl  ersteht  und  siegt, 

Wer  für  die  Heimat  fällt 

Im  heil'gen  Glanz  der  Waffen!" 

Was  verschlug  es  ihm,  ob  es  junge  Studenten  waren, 
die  einem  unbestimmten  Humanitätsgefühl  folgend, 
die  Waffen  gegen  die  Türken  trugen,  oder  Truppen- 
offiziere, die  Bataillone  von  Askaris  gegen  die  Abes- 
synier  führten?  Sie  schlugen  sich,  und  Carducci  um- 
faßte sie  alle  mit  der  gleichen  Bewunderung  und  dem 
gleichen  Anteil. 

Aber  da  jene  Bewegung  der  italienischen  Wieder- 
erhebung in  einer  seltenen  geistigen  Höhe  begründet 
und  ausgedrückt  war  und  dem  Lande  nicht  nur  durch 

6i 


das  vollbrachte  Werk  zur  Ehre  geneicht,  sondern  auch 
weil  sie  die  Feinheit,  den  Adel,  den  maßvollen  Geist 
dieses  alten  Stammes  bekundet,  so  verkehrte  sich  das 
von  den  Männern  der  Wiedererhebung  und  von  Carducci 
gepflegte  kriegerische  Ideal  niemals  in  jenen  Aben- 
teurermut und  in  jene  barbarische  Roheit,  die  später 
Imperialismus  und  Militarismus  genannt  wurden.  Der 
Vertreter  des  wiedererstandenen  kriegerischen  Italiens, 
und  Carduccis  größter  Held  war  Garibaldi,  der  (wie 
treffend  gesagt  worden  ist)  „ruhmgekrönt  durch  glück- 
liche WafFentaten  zu  Land  und  zur  See,  in  der  Hei- 
mat und  an  fernen  Gestaden,  dennoch  niemals  das 
Schwert  des  Kriegers  oder  des  Eroberers  zu  führen 
schien,  sondern  es  als  Werkzeug  der  Gerechtigkeit  und 
als  Sinnbild  künftigen  dauernden  Friedens  schwang". 
Die  Triebfeder  jenes  Ideals  war  nicht  der  Trieb  des 
wilden  Tiers  oder  des  Plünderers,  sondern  das  Be- 
dürfnis nach  Manneszucht  und  der  Wunsch,  den  Stamm 
des  italienischen  Bürgertums  wieder  zur  Blüte  zu 
bringen.  Vor  zwei  gleicherweise  für  das  Vaterland  ge- 
storbenen Dichtern,  Petöfi  und  Mameli,  verbarg  Car- 
ducci nicht  seine  Vorliebe  für  den  zweiten,  den  Kreuz- 
fahrer der  Idee,  fein,  milde,  heldenhaft,  der  soldatischen 
Wildheit  des  andern  bar.  Darum  verbindet  sich  sein 
kriegerisches  Ideal  ohne  Zwang  mit  dem  Abscheu  vor 
dem  Geist  der  Eroberung  und  Unterdrückung.  Die 
Soldaten  Italiens  wollen  nicht  schöne  fremde 
Küsten  plündern  und  den  Adler  Roms,  weiter  Flüge 
gewohnt,  ziellos  ins  Weite  tragen ;  wohl  aber  ihre  Her- 
zen, ihre  Fahnen  und  Erinnerungen  aufrecht  halten, 
die  Alpen  und  die  beiden  Meere  schützen.  Die  Bogen 
des  Forums  erwarten  neue  Triumphe,  aber  nicht  von 
Königen  oder  Cäsaren,  nicht  solche  über  kettenbeladene 

bz 


Menschen;  sie  erwarten  Italiens  Triumph  über  das 
schwarze  Zeitalter  und  über  die  Ungeheuer,  von  denen 
es  die  Völker  befreien  wird.  Auch  dort,  wo  es  den 
Anschein  hat,  daß  Carducci  den  Krieg  verherrlichte, 
betrachtet  er  gedankenvoll  das  Schicksal  des  Krieges, 
lastend  auf  dem  Menschengeschlecht,  für  das  „Friede" 
ein  zweifelhaftes  Wort  bedeutet.  Allein  er  möchte 
dieses  harte  Schicksal  brechen;  wann  wird  der  Friede 
seine  reinen  Schwingen  aus  dem  Blute  erheben.?  Wann 
wird  die  Sonne  nicht  Müßiggang  und  Kriege  für  Ge- 
walthaber bestrahlen,  sondern  die  fromme  Gerechtig- 
keit der  Arbeit?" 

So  ruft  unser  Erinnern  an  Carducci  in  diesen 
Tagen  unsere  alten  Gedanken  an  ihn  wach,  gegen- 
wärtig und  lebendig  gemacht  durch  die  Ereignisse  des 
Heute ;  sie  brauchen  nicht  ihren  Dichter  zu  erwarten, 
und  erfordern  keine  andere  Dichtung,  da  diese  schon 
in  den  Worten  gegeben  ist,  die  Giosue  Carducci  mit 
seinem  besten  Herzblut  genährt  hat. 

PHILOSOPHIE  UND  KRIEG  {Critica  XIII, 
August  1915).  —  Was  ich  im  vorigen  Hefte  über  die 
Pflichten  der  Männer  der  Wissenschaft  in  der  Kriegs- 
zeit schrieb,  hat  die  Verwunderung  Garganos  (Mar- 
zocco,  I.  August)  erregt,  der  sogar  davon  Anlaß  nimmt, 
den  Nutzen  der  Philosophie  in  Zweifel  zu  ziehen.  Ich 
meine  jedoch,  daß  die  Verwunderung  meines  geschätz- 
ten Gegners  sich  sogleich  bei  der  Erwägung  legen  wird, 
daß  die  Philosophie  nicht  bloß  die  Wirklichkeit,  son- 
dern auch  sich  selbst,  das  heißt  ihre  eigenen  Grenzen, 
kennt,  und  wohl  weiß,  daß,  sowie  die  großen  Staats- 
lenker niemals  Philosophen,  sondern  Menschen  der 
Leidenschaft  und  des  Willens  gewesen,  so  auch  die 

63 


Kriege  durch  den  tiefen  Trieb  und  die  Leidenschaften 
der  Völker,  die  mit  ihrer  dunklen  Arbeit  die  Wege  der 
Zukunft  erschließen,  bestimmt  und  getragen  worden 
sind.  Dem  Philosophen,  insofern  er  Patriot  ist,  liegt 
zu  Kriegszeiten  keine  andere  Pflicht  ob,  als  die  Philo- 
sophie beiseite  zu  lassen  und  sich  mit  seinem  Volk 
völlig  eins  zu  fühlen :  Volk  zu  werden.  Was  ferner  den 
„Nutzen"  der  Philosophie  anbelangt,  so  braucht  er 
weder  hervorgehoben  noch  verteidigt  zu  werden,  da 
eine  ewige  Grundwirksamkeit  des  menschlichen  Geistes 
dessen  nicht  bedarf;  hier  handelt  es  sich  nur  darum, 
klarzustellen,  daß  ihr  Nutzen  in  ihr  selbst  beschlossen 
ist  und  darin  liegt,  daß  sie  für  das  Hervorbrechen  der 
Leidenschaften  und  des  werktätigen  Handelns  immer 
höhere  Bedingungen  schafft;  mildert  und  verfeinert 
die  Kunst  die  Gemüter,  so  erhellt  sie  der  Gedanke. 
Befindet  sich  aber  das  Tun  im  vollen  Strom  seiner  Ent- 
wicklung, so  ist  es  vergebens,  philosophische  Hilfen 
dafür  bieten  oder  fordern  zu  wollen :  oportet  studuisse, 
non  studere,  es  ist  dann  die  Zeit  des  Bewährens,  nicht  die 
kritischer  Forschung  und  Darlegung.  Macht  die  deut- 
sche Philosophie  Deutschland  zu  dem,  was  es  jetzt  ist? 
Man  behauptet  es,  und  trotzdem  verhält  es  sich  nicht 
also.  Sicherlich  hat  die  philosophische  Erziehung  dazu 
beigetragen,  Deutschland  geistig  kraftvoller  zu  machen 
(ebenso  wie  sie  es  mit  dem  italienischen  Volke  im  Zeitalter 
der  Renaissance  getan  hat) ;  aber  an  sich  hat  sie  kein  Ver- 
dienst und  keine  Verantwortlichkeit  an  der  unbezähm- 
baren Sucht  nach  Wachstum  und  Ausbreitung,  die  das 
deutsche  Volk  ergriffen  und  es  zu  einem  wütenden 
Ringen  mit  den  übrigen  Völkern  Europas  geführt  hat; 
und  noch  viel  weniger  an  diesem  oder  jenem  werk- 
tätigen Entschluß  der  Deutschen,  an  der  Verletzung  der 

64 


belgischen  Neutralität,  an  der  Beschießung  offener 
Städte,  am  Flug  lenkbarer  Luftschiffe  über  Paris  und 
ähnlichem.  Selbst  die  Lehre  vom  Recht  als  Macht 
(alles  eher  denn  deutsch  in  ihrem  Ursprung,  vielmehr 
italienisch,  von  Macchiavelli  an  bis  auf  Vico  und  den 
Abbe  Galiani)  ist  gänzlich  unschädlich ;  und  bis  gestern 
haben  wir  uns  ihrer  bedient,  Philosophen  wie  Histo- 
riker, werden  dies  auch  morgen  tun,  wie  ich  für  mein 
Teil  mich  ihrer  auch  heute  bediene,  um  den  Gang  der 
Geschichte  zu  verstehen:  da  ich  nicht  im  mindesten 
gewillt  bin,  sie  mit  der  hohlen  Fortschritts-,  Auf- 
klärungs-  und  Wohlfahrtslehre  des  achtzehnten  Jahr- 
hunderts zu  vertauschen.  Allein  jene  Lehre  ist  weit- 
räumig genug,  um  ebensowohl  die  Macht  der  Aristo- 
kratie, wie  jene  der  Demokratie,  die  der  Nationalität, 
wie  jene  der  Menschenrechte  in  sich  aufzunehmen; 
gerade  so,  wie  in  der  Umwälzung  von  1 848  Konser- 
vative, Liberale  wie  Sozialisten  an  der  Hegeischen 
Philosophie  eine  Stütze  fanden,  als  einer  geistigen  Grund- 
lage, die  den  allerverschiedensten  werktätigen  Ent- 
schließungen gemein  war.  Lese  ich  die  Schriften  und 
Aufsätze,  die  mir  aus  den  Ländern  unserer  Verbündeten, 
namentlich  aus  Frankreich,  zukommen,  und  in  denen 
der  wirksamen  Betätigung  der  kriegerischen  Tüchtig- 
keit Deutschlands  theoretische  Hohlheiten  über  die 
demokratischen  Ideale,  über  das  Reich  des  Friedens 
und  der  Gerechtigkeit  gegenübergestellt  werden ;  höre 
ich  gar  den  Russen  Herrn  Sasonoff  auf  die  Einnahme 
von  Warschau  mit  dem  Vorwurf  der  „abscheulichen 
Lehre  von  der  Macht"  antworten,  so  überkommt  mich 
tiefe  Schwermut,  denn  mir  scheinen  dies  alles  Merk- 
male der  Schwäche,  oder  mindestens  Anzeichen,  daß 
in  den  lateinischen  und  slawischen  Ländern  die  Geister 

5    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  6c 


keineswegs  auf  der  Höhe  der  Ereignisse,  die  sich  ent- 
wickeln, stehen.  Statt  dessen  müßte  man  einfach  sagen: 
Wie  ItaUener  (oder  Franzosen,  Engländer,  Russen  usw.) 
sind  Italiener  (oder  Franzosen,  Engländer,  Russen  usw.), 
und  da  der  Verlauf  der  Ereignisse  nun  einmal  Europa  in 
Kriegszustand  versetzt  hat,  so  wollen  wir  uns  bis  zum 
äußersten  schlagen  und  für  unser  Vaterland  jedes  Opfer 
bringen,  was  immer  sich  auch  ereignen  möge.  Anderes 
kümmert  uns  jetzt  nicht,  noch  wollen  wir  von  anderem 
wissen.  —  Gibt  es  eine  schönere  und  richtigere  Philo- 
sophie als  diese.?  Und  ist  es  nötig,  sie  mit  theoretischen 
und  geschichtlichen  Ungereimtheiten  zu  verbrämen? 
„Jawohl  (meine  ich  Gargano  zu  vernehmen),  weil  der- 
artige Ungereimtheiten  ein  Bedürfnis  der  kämpfenden 
Völker  bilden."  Das  ist  nun  wohl  offensichtlich,  da 
alles,  was  sich  ereignet,  irgendeinem  Bedürfnis  ent- 
spricht: auch  die  Lüge,  auch  das  Gestammel  und  die 
Verschmitztheit  des  Schülerleins,  das  seine  Aufgabe 
nicht  gelernt  hat.  Aber  daraus  folgt  keineswegs,  daß 
es  rätlich  sei,  die  Zahl  der  Ungereimtheiten  zu  ver- 
mehren; ich  für  meinen  Teil  eigne  mich  sicher  nicht 
zu  diesem  Geschäft,  und  ich  beklage  es,  daß  es  meine 
Philosophiekollegen  in  andern  Ländern  ausüben,  denen 
Schweigen  besser  angestanden  hätte.  „Aber  du  mußt 
doch  mindestens  das  Bedürfnis  fühlen,  zum  allgemeinen 
Besten  das,  was  du  Ungereimtheiten  nennst,  zu  be- 
kämpfen!" Nun,  das  ist  es,  was  ich,  wenn  auch  mit 
Zurückhaltung,  tue,  denn,  wie  gesagt,  jetzt  ist  es  nicht 
an  der  Zeit,  zu  schulmeistern ;  es  gilt  etwas  anderes  für 
Italien:  zu  siegen.  Und  wer  nicht  unmittelbar  zum 
Siege  beitragen  kann,  wird  besser  tun,  sich  den  Auf- 
gaben des  gewöhnlichen  Alltagslebens  zu  widmen,  so 
wie  man  es  in  Deutschland  getan  hat  und  tut,  sowohl 

66 


in  Voraussicht  dessen,  was  nach  dem  Kriege  geschehen 
wird,  als  aus  nationalem  Stolz,  um  nicht  zu  zeigen,  daß 
der  Krieg  allen  die  Köpfe  verdreht  hat. 

Wenn  übrigens  Gargano  Lust  hat,  mich  in  der  Rolle 
des  Schulmeisters  zu  sehen,  so  bietet  sich  mir  dazu 
Gelegenheit,  dank  Guglielmo  Ferrero. 

FERRERO  UND  DIE  PHILOSOPHIE  {Critica 
XIII,  August  191 5).  —  Dieser  fährt  nämlich  fort,  von 
Dingen  zu  reden,  die  er  nicht  wohl  versteht,  von  den 
Problemen  des  Gedankens  und  der  Kultur;  von  der 
deutschen  Philosophie,  wie  er  sie  im 6'd'f 0/0  beleuchtet 
hat,  geht  er  nun  auf  die  Philologie  über  {J'ribuna, 
23.  Juli)  und  zieht  zum  Beweise,  daß  es  den  Deutschen 
an  gesundem  Menschenverstände  mangle,  die  „Homer- 
frage" heran,  in  der  ihm  zufolge  die  europäische  Bil- 
dung sich  nicht  vermessen  habe,  die  Schranken  der 
Überlieferung  zu  durchbrechen,  „bevor  die  deutsche 
Wissenschaft  auf  den  Plan  getreten  ist."  Leider  lassen 
ihn  auch  diesmal  seine  geschichtlichen  Kenntnisse  im 
Stich;  denn  die  großen  Vertreter  der  „Homerfrage" 
waren  (wie  jetzt  allgemein  bekannt  ist)  ein  Italiener, 
Vico,  und  ein  Franzose,  der  Abbe  d'Aubignac,  denen 
ein  paar  englische  Kritiker  sich  zugesellten ;  und  schon 
allzu  oft  ist  Wolf,  der  sie  in  Deutschland  wieder  in 
Aufnahme  brachte,  des  Gedankenraubs  bezichtigt 
worden.  Das  will  besagen,  daß  diese  „Frage"  ein  not- 
wendiges Ergebnis  des  Fortschritts  der  Geister  in  Europa 
gewesen  ist:  die  Ausdehnung  der  Kritik,  die  Spinoza 
am  Pentateuch  und  an  Moses  geübt  hatte,  auf  Homer 
(wie  ich  anderwärts  darzutun  versucht  habe);  in  der 
Tat  wurde  dadurch  der  Begriff  der  Dichtung,  des 
Mythus  und  der  Urgeschichte  erneuert,  so  daß  auch 

5*  67 


diejenigen  unter  den  Deutschen,  die  in  bezug  auf 
Homer  die  grundstürzende  Verwerfung  des  ersten  Be- 
ginnens verständigerweise  aufgegeben  haben,  jetzt 
nicht  umhin  können,  zuzugeben,  die  „Homerfrage" 
sei  das  grof3e  Übungsfeld  für  die  moderne  Philologie 
gewesen.  Ferrero  verweist  des  weiteren  auf  die  Zer- 
setzung, die  die  Deutschen  in  die  Geschichte  Roms 
und  des  alten  Italien  gebracht  und  damit  auch  die 
Italiener  „bis  zu  dem  unglaublichen  kritischen  Wahn- 
witz eines  Pais"  verleitet  hätten  —  Pais  war  ein  anderer 
Gegner  Ferreros  bei  seinen  Bestrebungen,  eine  Lehr- 
kanzel zu  ergattern,  und  so  sucht  er  nun  auch  ihm, 
wie  vorher  mir,  anläßlich  des  Krieges  einen  Hieb  zu 
versetzen!  Er  muß  aber  in  vollständiger  Unkenntnis 
dessen  sein,  was  die  Forschungen  über  die  Urgeschichte 
Italiens  in  der  italienischen  Wissenschaft  der  ersten 
Hälfte  des  neunzehnten  Jahrhunderts  vorstellen,  der 
„unglaubliche  Wahnwitz"  eines  Micali,  Mazzoldi, 
Jannelli;  sonst  müßte  ihm  klar  sein,  daß  die  Herüber- 
nahme der  deutschen  Forschungsweise  und  der  „un- 
glaubliche Wahnwitz"  von  Pais  selbst  einen  großen 
Fortschritt  bedeuten,  der  Italien  zu  Ehre  gereicht,  und 
den  wir,  wills  Gott,  auch  in  und  nach  dem  Kriege 
festhalten  werden.  Ganz  zu  geschweigen,  daß  er  gegen 
die  deutschen  Historiker  und  Philologen  schnöden 
Undank  an  den  Tag  legt,  deren  mühsame  Arbeiten  er 
in  seiner  Geschichte  Roms  weidlich  genützt  hat.  Die 
beigebrachten  Beispiele  verallgemeinernd,  klagt  Ferrero 
die  deutsche  Bildung  an,  sie  halte  die  Überlieferung, 
die  Autorität,  die  festen  Grundsätze  nicht  in  Ehren; 
das  alles  ist  Literaturgeschichte  vom  Schlage  Ferreros, 
denn  es  ist  allgemein  bekannt,  daß  im  Gegenteil  Deutsch- 
land mächtig  dazu  beigetragen  hat,  den  geschichtlichen 

68 


Sinn  und  die  Ehrfurcht  vor  der  Vergangenheit  wieder- 
herzustellen, obwohl  es,  gerade  infolge  davon,  mit  vielen 
falschen  Überlieferungen  und  Autoritäten  sowie  mit 
den  ihnen  entsprechenden  falschen  Grundsätzen  hat 
aufräumen  müssen.  Politische  Geschichte  vom  Schlage 
Ferreros  ist  weiter  die  krönende  Behauptung,  „der 
europäische  Krieg  wäre  nicht  ausgebrochen,  wenn  das 
deutsche  Volk  klüger  oder  seine  Regierung  schwächer 
gewesen  wäre:  der  politische  Gehorsam  und  die  geistige 
Unordnung  haben  diese  Katastrophe  herbeigeführt". 
Diesen  vereinfachenden  Behauptungen  muß  entgegen- 
getreten werden;  denn  sie  leiden,  um  nur  eines  zu 
sagen,  an  demselben  Fehler,  der  den  Deutschen  zur 
Last  gelegt  wird,  und  stellen  dem  Begriff  des  „aus- 
erwählten Volkes"  den  nicht  weniger  törichten  des 
„schuldigen,  sündigen  Volkes"  gegenüber.  In  diesen 
wechselseitigen  Beschimpfungen  der  Völker  erhalten 
sich  die  Italiener,  obwohl  auch  sie  im  Kriege  stehen, 
mehr  als  die  übrigen  Völker  y,sceleris  puri^\  als  große 
Herren,  dank  einer  langen  Geschichte,  die  sie  mit  be- 
sonderer Einsicht  und  Geistesschärfe  ausgestattet  hat; 
darum  geben  sie  sich  nicht  dazu  her,  Beleidigungen 
mit  Beleidigungen  zu  vergelten,  nicht  einmal  solchen 
wie  in  den  Kundgebungen  österreichischer  Kaiser,  Erz- 
herzoge und  Feldmarschälle,  die  ihnen  ganz  natürlich 
erscheinen  müssen,  weil  die  Geschichte  nun  einmal 
Österreich  das  widerwärtige  und  harte  Amt  eines  Erb- 
und  Polizeistaates  zugewiesen  hat,  uns  Italienern  da- 
gegen das  entgegengesetzte  Amt.  Allein  die  „Intellek- 
tuellen", das  heißt  die  Leser  ausländischer  Broschüren 
und  Zeitungen,  bemühen  sich  auch  bei  uns,  das,  was 
die  Stärke  Italiens  in  Gegenwart  und  Zukunft  ausmacht, 
zu  schwächen  und  das  Gift  in  unser  gesundes  Blut  zu 

69 


träufeln.  Diese  Bemerkung  und  dieser  Einspruch  gegen 
das  Vergiftungswerk,  das  die  „Intellektuellen"  in  diesem 
furchtbaren  und  erhabenen  Trauerspiel  des  europäischen 
Krieges  vollführen,  stammt  übrigens  nicht  von  mir, 
sondern  von  einem  englischen  Schriftsteller,  der  seine 
Bücher  in  italienischer  Sprache  veröffentlicht,  von 
Herrn  Mackenzie  {Über  den  bio-philosophischen  Sinn 
des  Krieges,  Genua  191 5),  dem  ich,  zugleich  mit  der 
gebührenden  Berufung  auf  ihn,  meine  aufrichtige  Freude 
auszusprechen  mir  erlaube. 

KULTUR  UND  ZIVILISATION  {Critica  XIII, 
Oktober  1915).  —  Diese  Unterscheidung  ist  jetzt  wieder 
aufgetaucht,  die  ungefähr  vor  einem  Jahrhundert  in 
Italien  eine  so  große  Rolle  gespielt  hat,  damals,  als 
sich,  ein  Vorzeichen  der  Wiedererhebung,  das  Nach- 
denken über  die  Tugenden  und  Fehler  des  italienischen 
Volkes  vertiefte.  Das,  was  man  jetzt  von  den  übrigen 
Völkern  sagt,  haben  damals  die  Italiener  von  sich  selbst 
behauptet:  daß  sie  nämlich  in  den  neuern  Zeiten,  in 
und  nach  der  Renaissance,  Kultur  und  nicht  Zivili- 
sation besessen  hätten;  daher  ihr  politischer  und  so- 
zialer Verfall  und  die  Fremdherrschaft.  Man  schlage 
nur  —  ich  beschränke  mich  auf  eine  einzige  Anführung 
—  die  Geschichtswerke  eines  Cesare  Balbo  nach.  Nun 
verstand  Balbo,  gleich  den  andern  Italienern  jener  Zeit, 
zwar,  wie  wir  es  auch  heute  tun,  unter  „Kultur"  die 
theoretischen  Seiten  des  Geistes,  Kunst,  Philosophie, 
Wissenschaft;  dagegen  unter  „Zivilisation"  fast  das 
Gegenteil  von  dem,  was  man  heute  so  nennt,  und,  um 
die  Wahrheit  zu  sagen,  auch  das  Gegenteil  der  ge- 
schichtlichen Bedeutung  dieses  Wortes:  die  Zivilisation, 
die  sie  anstrebten,  war  viel  eher  das,  was  der  italienische 

70 


Philosoph  (Vico)  das  „edelgeartete  Barbarentum"  ge- 
nannt hatte,  der  Glaube  an  das,  was  das  Einzelwesen  über- 
mannt, die  Aufopferung  des  Einzelwesens  zugunsten 
von  Staat  und  Vaterland,  die  religiöse  oder  sittliche  Auf- 
fassung des  Lebens,  das  republikanische  Rom  oder  das 
begeisterte  und  gläubige  Mittelalter,  aber  nicht  die 
Renaissance,  und  noch  viel  weniger  die  demokratische 
y^civilisation^'- \  und  das  Ende  dieser  Zivilisation,  das 
heißt  dieses  „edelgearteten  Barbarentums"  in  Italien 
beklagten  sie,  an  dessen  Stelle  am  Schlüsse  des  Mittel- 
alters die  Neigung  zu  Annehmlichkeiten  und  Vor- 
teilen sowie  die  Sorge  um  die  Wohlfahrt  des  Einzel- 
wesens trat.  Wie  werden  wir  sie  aber  heute  auffassen 
nach  den  neuen  Erfahrungen,  die  die  Geschichte  uns 
auferlegt  hat?  Wollen  wir  den  demokratischen,  nach 
Geschichte  und  Herkunft  englisch-französischen  Sinn 
des  Wortes:  „Zivilisation"  beibehalten  oder  wollen  wir 
ihn  nach  Art  der  Männer  unserer  Wiedererhebung 
abändern  ?  Ich  lese  im  Mercure  de  France  (wohlgemerkt 
im  Mercure  de  France,  und  man  achte  wohl  darauf,  daß 
ich  nicht  eine  deutsche  oder  deutschfreundliche  Rund- 
schau anziehe,  Heft  vom  i.  September,  S.  98)  den  Er- 
guß eines  seiner  Schriftleiter,  der  mit  Ungestüm  her- 
vorbricht, so  wie  es  bei  Gefühlen  und  Gedanken,  die 
von  der  unerbittlichen  Notwendigkeit  eingegeben 
werden,  zu  gehen  pflegt:  „Die  demokratischen  Formeln 
haben  sich  als  ebenso  hohl  und  nichtig  herausgestellt 
wie  dereinst  die  monarchischen  Formeln,  nur  mit  dem 
ihnen  wenig  zur  Ehre  gereichenden  Unterschied,  daß 
die  Zeit  sie  etwas  weniger  aushöhlen  konnte!  Wahr- 
haftig, die  Demokratie  ist  das  reine  Nichts!  Sie  ist  die 
Herde,  die  den  Schäfer  führt,  die  verkehrte  Welt, 
sie  ist  die  organisierte  Unordnung,  Leerheit,  Dumm- 

71 


heit!  Das  Recht  gegen  die  Macht:  dieses  Wort  ist 
nichts  anderes  als  eine  armseHge  Erschleichung,  wenn 
das  Recht  sich  nicht  seine  eigene  Macht  zu 
schaffen  imstande  war!  .  .  ."  Ich  freue  mich,  daß 
diese  Anschauung  sich  nun  auch  in  Frankreich  Bahn 
bricht,  so  wie  ich  mich  ein  andermal  darüber  betrübt 
habe,  wenn  ich  die  Formel  vom  Recht  gegen  die 
Macht  wiederholen  hörte,  ohne  die  unumgängliche 
Erläuterung,  deren  sie  bedarf:  daß  ein  ohnmächtiges 
Recht  kein  Recht,  sondern  elendes  Geschwätz  ist. 

NÜTZLICHE  UND  UNNÜTZE  DINGE  {Cri- 
tica  XIII^  Oktober  1915).  —  Wenn  ich  ein  Thema, 
das  in  den  früheren  Heften  schon  berührt  wurde,  hier 
wieder  aufnehme,  von  der  Unzulässigkeit,  namens  der 
Wissenschaft  in  dem  Augenblick  Partei  zu  nehmen, 
wo  (um  den  Ausdruck  des  gemeinen  Verstandes  zu  ge- 
brauchen) die  Kanonen  das  Wort  haben,  so  setze  ich  hin- 
zu, daß  man  auch,  falls  man  nicht  Partei  nehmen  will, 
ja  sogar  edle  Anstrengungen  gemacht  werden,  um  über 
zu  enge  Gesichtspunkte  hinauszugelangen,  selbst  wenn 
man  das  Unzulässige  vermeidet,  dennoch  immer  in 
Hohlheit  verfällt.  Man  wird  den  Brief  Romain  RoUands 
beachtet  haben,  der  in  einer  eigens  gegründeten  Züricher 
Rundschau  in  englischer  und  deutscher  Sprache  (Inter- 
nationa/ Review,  Internationale  Kund  schau)  während 
der  verflossenen  Monate  eine  „Annäherung  der  freien 
und  gebildeten  Geister  aller  Völker  über  den  Krieg 
hinweg"  versucht  hatte.  „Dieser  Versuch"  (hat  Romain 
Rolland  in  jenem  verzweiflungsvollen  Briefe  gestanden) 
„ist  elend  gescheitert.  Ich  ziehe  mich  müde  aus  einem 
blinden  Kampf  zurück,  in  dem  jeder  der  Kämpfenden 
keine  andere  Stimme  als  die  der  eigenen  Leidenschaft 

72 


vernimmt  und  keine  andern  als  die  eigenen  Gründe 
anerkennen  will,  ohne  sich  irgendwie  die  Mühe  zu 
geben,  nach  einem  Mittel  zu  suchen,  das  einen  Grund 
dem  andern,  ein  Herz  dem  andern  nähern  könnte." 
Aber  dieser  Fehlschlag  war  vorauszusehen,  weil  er  durch 
den  Versuch  selbst  gegeben  ist;  und  ebenso  nichtig 
erscheinen  mir  auch  alle  übrigen  Auseinandersetzungen, 
die  ich  in  jener  Rundschau  gelesen  habe,  mögen  sie 
auch  die  Empfindungen  und  Willensrichtungen,  die  sich 
in  ihnen  ausdrücken,  beleuchten,  so  zum  Beispiel  jene 
zwischen  dem  Engländer  Ramsay  Macdonald  und  dem 
deutschen  Wirtschaftslehrer  und  Historiker  Jastrow  über 
den  Begriff  der  belgischen  Neutralität;  man  kann  daraus 
höchstens  nur  entnehmen,  daß  die  beiden  Mächte  eine 
und  dieselbe  Sache,  die  Neutralität  Belgiens,  wollen, 
allein  in  derselben  Weise,  wie  (nach  einem  Beispiel 
Kants)  Franz  I.  und  Karl  V.  vollkommen  überein- 
stimmten, da  sie  alle  beide  dasselbe  wollten,  nämlich 
Mailand !  Das  was  die  Männer  von  redlichem  Gewissen 
(ich  meine  nicht  lediglich  die  „Gelehrten")  tun  können, 
und  was  die  genannte  englisch  -  deutsche  Rundschau 
recht  gut  leistet,  besteht  darin,  „die  Lügen  und  die 
Aufhetzung  eines  Volkes  gegen  das '  andere  zu  be- 
kämpfen", und  die  gegenseitige  Achtung  zwischen  den 
kämpfenden  Völkern,  die  sämtlich  die  ihnen  von  der 
Geschichte  anvertraute  Sache  verteidigen,  zu  fördern. 
Das  ist  aber  auch  der  einzige  im  Kriege  mögliche 
„Einklang  der  Menschheit". 

WAS  JETZT  DIE  PHILOSOPHEN  SAGEN 
{Critica  XIII,  Oktober  1915).  —  Auch  Emil  Boutroux 
hat,  wie  mir  scheint,  über  den  Leidenschaften  des 
Tages  einigermaßen  seine  philosophische  Klarheit  und 

73 


Strenge  verloren.  In  seiner  Antwort  auf  die  Umfrage 
der  Opinion  (4.  Sept.  19 15)  über  den  Begriff  der  „Or- 
ganisation" und  das  Grundwesen  der  deutschen  Organi- 
sation im  besondern  sagt  er,  der  hier  dennoch  als  der- 
jenige vorgeführt  wird,  der  das  Joch  der  mecha- 
nischen Auffassung  abgeschüttelt  habe  (obgleich  es 
falsch  ist,  wenn  hinzugesetzt  wird:  er  habe  es  durch 
Verwerfen  der  deutschen  Philosophie  —  der  er  im 
Gegenteil  gefolgt  ist  —  getan) :  „das  tatsächliche  mensch- 
liche Problem"  liege  nicht  sowohl  in  der  Unter- 
werfung der  Einzelnen  unter  die  Allgemeinheit,  als 
darin,  „das  Höchstmaß  an  Manneszucht  mit  dem 
Höchstmaß  an  Freiheit  zu  verbinden".  Sollte  gerade 
das  nicht  eine  untadelig  mechanistische  Auffassung 
sein,  wie  im  übrigen  auch  die  gewählten  Ausdrücke 
selbst  in  ihrer  mathematischen  Färbung  dartun  ?  Eine 
abstrakte  Zweiheit,  die  durch  eine  Addition  und  Sub- 
traktion beseitigt  werden  soll?  Und  hat  sich  nicht  gegen 
die  so  geartete  mechanische  Auffassung  siegreich  und 
endgültig  die  spekulative  Synthese  von  Zucht  und  Frei- 
heit, von  Allgemeinem  und  Einzelhaftem  erhoben,  die 
nicht  allein  der  deutschen  Philosophie,  sondern  dem 
ganzen  modernen  Denken  angehört,  seit  das  Göttliche 
und  Allgemeine  vom  Himmel  auf  die  Erde  herab- 
gestiegen ist,  das  Einzelwesen  sich  wahrhaft  Mensch 
und  Person  in  der  Einheit  mit  dem  All  fühlt,  das  seiner- 
seits sich  bloß  in  den  Einzelwesen  verkörpert?  So  hatte 
bis  jetzt  die  Philosophie  gelehrt,  das  war  längst  eine 
ihrer  Grundwahrheiten:  ist  es  erlaubt,  sie  zu  leugnen, 
um  den  Deutschen  einen  Tort  anzutun? 

DEUTSCHFREUNDLICHKEIT.  EIN  INTER- 
VIEW {Roma,  Neapel,  i.  Oktober  1915)-  —  Haben  Sie 

74 


die  Aufsätze  Guglielmo  Ferreros  und  anderer  gelesen, 
in  denen  von  Ihrer  „Deutschfreundlichkeit"  die  Rede 
ist?  —  fragte  ich  den  Senator  Croce. 

—  Jawohl,  ich  habe  sie  gelesen  und  lasse  die  Leute 
reden.  Man  mag  mich  ruhig  weiter  als  Deutschen- 
freund ausrufen,  während  ich  für  mein  Teil  fortfahre, 
immer,  wenn  es  mir  passend  erscheint,  die  geschicht- 
lichen und  wissenschaftlichen  Ungereimtheiten  klar- 
zustellen, die  Herr  Ferrero  und  andere  Schriftsteller 
seines  Schlages  über  die  deutsche  Wissenschaft,  Philo- 
sophie und  Philologie  von  sich  geben.  Was  wollen 
Sie?  Ich  meine  nicht,  daß  die  Aufsätze  Ferreros  einen 
Bestandteil  der  militärischen  Unternehmungen  Italiens 
ausmachen,  und  daß  das  Schweigen  über  sie  eine 
patriotische  Pflicht  ist!  Mir  scheint  das  Gegenteil  ge- 
boten zu  sein :  trügerische  Behauptungen  richtig  zu  stel- 
len, die  zu  nichts  nütze  sind  und  die  verhindern,  daß 
man  uns  ernst  nimmt. 

—  Immerhin  glauben  manche,  daß  die  Wirkung  der 
deutschen  Kultur  auf  Italien  nachteilig  und  daß  der 
Augenblick  gekommen  sei,  sich  ihrer  für  immer  zu 
entledigen. 

—  Ich  verstehe  ganz  gut,  daß  manche  dieser  Meinung 
sind.  Es  ist  natürlich,  daß  für  verschiedene  Leute  lange 
und  mühsame  Wege  beschwerlich  sind  und  daß  sie 
darum  die  bequemern  vorziehen :  allein  ich  bin  ein  be- 
scheidener Abkömmling  und  Fortsetzer  jener  neapo- 
litanischen Schule,  die  sie  sich  vor  1 848  herausbildete, 
zu  ihren  Häuptern  Francesco  de  Sanctis  und  Bertrando 
Spaventa  hatte  und  darauf  ausging,  das  Denken  und 
Forschen  Italiens  durch  deutsche  Wissenschaft  zu  be- 
leben. Diese  Schule  hat  sehr  gute  Früchte  getragen, 
und  ich  für  mein  Teil  denke  nicht  daran  sie  aufzugeben. 

IS 


—  Besteht  nicht  die  Gefahr,  daß  auf  diese  Weise,  wie 
man  behauptet,  die  Eigenwüchsigkeit  itaUenischen 
Geistes  verloren  geht? 

—  Eigenwüchsigkeit  besteht  darin,  fremde  Arbeit 
gründlich  kennen  und  achten  zu  lernen,  sich  ihrer  zu 
bedienen,  um  weiter  fortzuschreiten,  besseres  und  eigenes 
zu  machen.  Es  wäre  seltsam,  wenn  man,  um  eigen- 
wüchsig  zu  bleiben,  in  jungfräulicher  Unwissenheit  ver- 
harren sollte. 

—  Hatte  aber  nicht  gerade  die  deutsche  Kultur  diesen 
fürchterlichen  Krieg  zur  Folge,  den  Deutschland  her- 
vorgerufen hat  und  mit  solcher  Verbissenheit  führt.? 

—  Keinerlei  wissenschaftliche  Theorie  (wenn  sie 
anders  wirklich  Theorie  und  Wissenschaft  ist)  vermag 
unmittelbar,  in  logischer  Folge,  diese  oder  jene  sinn- 
fällige Handlung  zu  bestimmen.  Die  Verantwortung 
für  die  gegenwärtige  deutsche  Politik  liegt  bei  den 
Staatsmännern  Deutschlands,  bei  seinem  Volk,  auch 
seinen  Männern  der  Wissenschaft,  aber  allein  insoweit 
sie  nicht  Wissenschaft  sondern  Politik  treiben ;  keines- 
wegs aber  bei  der  deutschen  Wissenschaft,  die,  wie 
jede  wahre  Wissenschaft,  stets  über  den  politischen 
Parteien  und  den  nationalen  Streitigkeiten  steht. 

—  Lassen  wir  also  die  deutsche  Wissenschaft  aus  dem 
Spiel  und  erlauben  Sie  eine  andere  Frage.  Sie  waren 
kein  Anhänger  des  Krieges  Italiens  gegen  die  Mittel- 
mächte ? 

—  Das  ist  Geschichte,  die  sich  in  vollem  Tageslicht 
vor  aller  Augen  abgespielt  hat.  Ich  gehörte  zu  jenen 
zahlreichen  Italienern  (ich  sage  zahlreich,  obwohl  nicht 
alle  die  Gelegenheit  oder  den  Mut  gehabt  haben,  da- 
von öffentlich  Zeugnis  abzulegen),  welche  die  von  vielen 
Seiten   an  Italien  ergehende  Aufforderung,   sich  aus 

76 


nicht  klar  erkennbaren  nationalen  Gründen  heraus  in 
einen  überaus  schweren  Krieg  zu  stürzen,  ungerne 
sahen,  und  die  deshalb  das  undankbare  Amt  eines  ad- 
vocatus  diaboli  auf  sich  genommen  hatten,  damit,  mußte 
der  Krieg  schon  eintreten,  dies  ausschließlich  aus  wirk- 
licher und  bewiesener  nationaler  Notwendigkeit  heraus 
geschähe.  Allein  in  der  Zeitschrift,  betitelt  Ita/ia  nostra, 
die  ich  und  meine  Freunde  herausgaben,  ermangelten 
wir  nicht  des  öftern  zu  betonen,  daß  die  letzte  Ent- 
scheidung dem  zufiele,  der  den  Staat  in  sich  darstellte, 
und  daß  wir  alle,  werde  die  Entscheidung  wie  immer 
gefallen  sein,  dem  nationalen  Unternehmen  Folge  leisten 
und  an  ihm  mitarbeiten  würden.  Und  das  haben  wir 
auch  getan,  jeder  in  der  Art,  wie  es  ihm  gegeben  war. 
Mein  Freund  Cesare  de  Lollis^),  der  jenes  Blatt  leitete, 
hat  sich  sogar  (obgleich  er  sich  den  Fünfzigern  näherte) 
als  Infanterieleutnant  einreihen  lassen.  Nun  haben  wir 
den  Krieg, "  und  ich  will  nicht  einmal  mehr  die  vor- 
ausgegangenen Streitigkeiten  zurückrufen.  Nichts  er- 
weckt mir  mehr  Ekel  als  die  Klagemänner,  die  Kopf- 
schüttler und  Unheilpropheten,  denn  ich  hege,  für 
mein  Teil,  das  feste  Vertrauen,  daß  wir  aus  dem  Unter- 
nehmen, zu  dem  wir  uns  angeschickt  haben  und  um 
das  schon  so  viel  edles  Blut  geflossen  ist,  ehrenvoll 
hervorgehen  werden. 

—  Und  was  denken  Sie  über  die  Grausamkeiten,  deren 
die  Deutschen  bezichtigt  werden? 

—  Was  weiß  ich  darüber.?  Ich  weiß  nur,  daß  in  den 
letzten  Kriegen  Anschuldigungen  wegen  Grausamkeit, 
begleitet  von  einschlägigen,  Gott  weiß  ob  verbürgten 

*)  Er  war  vorher,  in  der  Zeit  der  Neutralität,  wegen  der  Haltung  des 
Blattes,  als  Universitätslehrer  ebenso  kindischen  als  unwürdigen  Angriffen 
von  Seiten  der  Studentenschaft  ausgesetzt  gewesen.  A.  d.  Ü. 

77 


Photographien,  nach  und  nach  gegen  alle  Völker  er- 
hoben worden  sind:  gegen  die  Italiener  zur  Zeit  des 
Krieges  in  Libyen,  gegen  die  Bulgaren  im  Balkankrieg 
und  jetzt  gegen  die  Deutschen  bei  ihrem  ersten  Er- 
scheinen in  Belgien.  Ich  erinnerte  mich  auch  eines  klugen 
alten  italienischen  Sprichworts:  „Bei  Krieges  Währen 
wachsen  Lügen  wie  Beeren."  Auch  habe  ich  einige 
der  schlimmsten  Grausamkeiten,  die  man  den  Deutschen 
zuschrieb,  nachdrücklichst  widerlegen  gehört:  hier 
ist  zum  Beispiel  ein  vor  kurzem  erschienener  Aufsatz 
des  englischen  Mathematikers  und  Philosophen  Rüssel, 
betitelt:  Gerechtigkeit  in  der  Kriegszeit ^  der,  auf  Zeug- 
nisse belgischer  Behörden  gestützt,  das  Vorhandensein 
des  belgischen  Mädchens  widerlegt,  dem  die  deutschen 
Soldaten  die  Nase  abgeschnitten  haben  sollen,  und  dessen 
schreckliche  Geschichte  die  Engländer  schon  hatte  er- 
schauern lassen.  Ein  Prediger,  der  darüber  von  der 
Kanzel  herab  gesprochen  hatte,  erklärte  von  derselben 
Kanzel  herab,  für  die  irrtümlich  von  ihm  verbreitete 
und  unterstützte  Verleumdung  Abbitte  tun  zu  wollen. 
Ich  selbst  habe  die  Lese-  und  Übersetzungsfehler  fest- 
stellen können,  in  die  Professor  Bedier  in  seinem  Werk- 
chen über  die  Taschenbücher  der  deutschen  Soldaten 
(auch  in  Italien  in  Tausenden  von  Abzügen  verbreitet) 
verfallen  ist,  als  ich  die  Übersetzungen  mit  den  der 
Schrift  beigegebenen  Nachbildungen  in  Lichtdruck 
verglich.  Aber  damit  spreche  ich  keinen  kritischen  Vor- 
behalt oder  einen  methodischen  Zweifel  aus  und  er- 
kenne nicht  Tatsachen  an,  denen  die  nötige  Beurkun- 
dung fehlt,  ich  urteile  nicht  in  einem  Gerichtsverfahren, 
bei  dem  der  Angeklagte  nicht  gehört  worden  ist.  Ich 
frage  vielmehr:  weshalb  gibt  man  sich  so  viel  Mühe 
mit  diesen  Nachforschungen  und  Erörterungen  gerade 

78 


jetzt,  da  die  Zeugnisse  fehlen  und  die  Leidenschaften 
entfesselt  sind?  Hat  Deutschland  sich  solcher  Ver- 
brechen gegen  die  Menschlichkeit  schuldig  gemacht, 
o,  zweifeln  Sie  dann  nicht,  daß  es  dafür  wird  Sühne 
leisten  müssen,  denn  die  Geschichte  ist  eine  strenge 
Richterin !  Aber  wäre  es  auch  das  Vorbild  aller  mensch- 
lichen Tugenden,  jetzt  ist  es  unser  Gegner,  weil  es 
Österreich  in  seinen  Schutz  nahm,  das  unseren  natio- 
nalen Interessen  nachgestellt  und  sie  mit  Füßen  ge- 
treten hat;  uns  ziemt  es  jetzt,  es  auf  dem  Schlachtfeld 
zu  bekriegen,  nicht  in  unregelmäßigem  Gerichtsver- 
fahren zu  verurteilen. 

—  Jedenfalls  scheint  die  barbarische  Kampfesweise  der 
Deutschen  nicht  im  Einklang  mit  ihrer  vielbelobten 
Kultur  und  Gesittung. 

—  Vor  dem  Kriege  ist  niemand  der  Ansicht  gewesen, 
daß  die  Deutschen  barbarisch  und  grausam  wären.  Ich 
bin  geneigt,  das  Gefühl  der  Abneigung  und  des  Wider- 
strebens, das  viele  ihrer  Handlungen  hervorriefen,  auf 
etwas  andere  Weise  zu  erklären.  Ein  jedes  Volk  hat 
seine  besonderen  völkischen  Fehler,  die  seinen  Vor- 
zügen entsprechen;  und  die  der  Deutschen  sind  be- 
kanntlich die  Schulmeisterei  und  eine  gewisse  grob- 
schlächtige Einfalt.  Alle  Völker  besaßen  einmal,  und 
viele  auch  jetzt  noch,  Galgen  und  Henker;  aber  allein 
die  Deutschen  wären  fähig  gewesen,  die  „Theorie" 
und  das  „Handbuch"  dieses  Gewerbes  zu  schreiben! 
Nun  haben  sie  die  Theorie  des  Krieges  ausgearbeitet, 
indem  sie  Dinge,  die  ohne  Zweifel  dem  Krieg  anhängen 
und  unvermeidlich  sind,  aber,  in  dieser  Gestalt  ausein- 
andergesetzt, Abscheu  erregen,  auf  Formeln  und  Vor- 
schriften gebracht  haben.  Aus  Schulmeisterei  über- 
treiben sie  und  überschreiten  das  Maß;  und  haben  sie  tat- 

79 


sächlich  einige  der  Grausamkeiten,  die  man  ihnen  in  die 
Schuhe  schiebt,  begangen,  so  wird  das  gerade  aus  schul- 
meisterhcher  Beobachtung  der  aus  dem  Begriff  des 
Krieges  abgeleiteten  Regeln  sowie  aus  der  abstrakt  rich- 
tigen Lehre  heraus  geschehen  sein,  daß  die  einzig  wirk- 
same Menschlichkeit  des  Krieges  in  seiner  Unmensch- 
lichkeit liege,  darin,  daß  er  schreckenerregend  und 
beschleunigend  wirke.  Mir  kommt  dabei  in  den  Sinn, 
was  Silvio  Spaventa  zu  sagen  pflegte:  daß  die  Bestim- 
mungen des  bourbonischen  Zuchthauses  für  die  poli- 
tischen Gefangenen  ebenso  hart  und  vielleicht  noch 
härter  waren  als  die  österreichischen;  daß  aber  der 
große  Unterschied  darin  bestanden  habe,  daß  die  öster- 
reichischen Kerkermeister  sie  genau  beobachteten,  wenn 
sie  zuweilen  auch  das  Los  der  Sträflinge  beklag- 
ten (siehe  „Meine  Gefängnisse^'-  von  Silvio  Pellico!), 
während  die  neapolitanischen,  sei  es  aus  Gutmütigkeit, 
sei  es  aus  Bestechlichkeit,  sie  in  vielen  Punkten  milderten 
und  erträglich  machten.  Gleicherweise  vermag  der 
Deutsche,  wenn  er  sich  zu  einer  vom  sittlichen  oder 
gesetzmäßigen  Standpunkte  nicht  zu  rechtfertigenden 
Handlung  anschickt,  sie  nicht  zu  idealisieren  oder  in 
geschickte  Phrasen  zu  kleiden,  wie  es  andere  elegantere 
und  wohlerzogenere  Völker  tun,  sondern  sagt  unver- 
blümt heraus,  wie  Herr  Bethmann  Hollweg,  daß  es 
sich  um  eine  verwerfliche  Sache-  handle,  aber  „Not 
kein  Gebot"  kenne. 

—  Ich  möchte  Sie  noch  fragen,  was  Sie  von  dem  po- 
litischen Ideal  der  Deutschen  halten,  seinem  aristokra- 
tischen, staatsmännischen,  militaristischen  Gepräge? 
Erscheint  es  Ihnen  nicht  als  niedriger  stehend  und  zu- 
rückgebliebener gegenüber  dem  demokratischen  la- 
teinischen Ideal? 

80 


—  Aristokraten-  und  Demokratentum  haben  wie 
Jugend  und  Alter,  wie  die  verschiedenen  Abschnitte 
und  Zustände  des  Lebens,  jedes  seine  Stärken  und 
Schwächen,  seine  Tugenden  und  Laster.  Es  ist  unmög- 
lich, in  wenigen  Worten  den  Werdegang  zu  erläutern, 
in  den  die  Völker  des  westlichen  Europas,  Franzosen, 
Engländer,.  Italiener,  eingetreten  sind :  es  ist  das  eine 
zentrifugale  Entwicklung,  die  in  einer  nicht  fernen 
Zukunft  die  Staatsidee  und  die  gesellschaftliche  Ein- 
heit zu  vorübergehendem  Vorteil  der  einzelnen  Indi- 
viduen und  der  einzelnen  Gesellschaftsgruppen  aufzu- 
lösen droht.  Einer  unserer  neapolitanischen  Schrift- 
steller über  Politik,  der  Senator  Herzog  von  Gualtieri, 
hat  im  vergangenen  Jahre,  ein  paar  Monate  vor  Kriegs- 
ausbruch, eine  bedeutende  Arbeit  über  diesen  Gegen- 
stand veröffentlicht.  Ebensowenig  läßt  sich  in  knappen 
Worten  der  umgekehrte,  zentripetale  Werdegang,  der 
sich  in  Deutschland  vollzogen  hat,  umschreiben,  das, 
obwohl  es  in  hervorragender  Weise  an  der  modernen 
Gesittung  mitgearbeitet  hat,  dennoch  das  Gefühl  für 
das  Vaterland,  den  Staat,  die  geschichtliche  Sendung 
des  deutschen  Volkes  äußerst  lebendig  bewahrt  und 
das  Einzelwesen  dem  Staate  untergeordnet  hat.  Ich 
gehöre  nicht  zu  denen,  die  an  den  schicksalhaften 
Kreislauf  der  aristokratischen  Gesittung^  glauben,  die 
sich  allmählich  zu  Demokratien  wandeln,  oder  von 
Demokratien,  die  sich  allmählich  in  Zerrüttung  auf- 
lösen und  neuen  aristokratischen  und  militärischen 
Bildungen  zum  Opfer  fallen.  Aber  ich  halte  daran 
fest,  daß,  wenn  die  Deutschen  wohl  etwas  von  den 
Demokratien  Westeuropas  werden  aufnehmen  müssen, 
wir  unsererseits  ebenso  etwas  aus  dem  strengen  Begriff 
lernen  müssen,  den  die  Deutschen  von  Staat  und  Vater- 

6    C  r  o  c  e ,  Randbemeikuagen  eines  Philosophen  O  I 


land  haben.  Es  scheint  mir,  daß  dies  bereits  im  Zuge 
ist,  eben  infolge  des  Krieges,  um  uns  der  deutschen 
Übermacht  zu  erwehren  und  das  höchste  Gut,  die  na- 
tionale Freiheit,  zu  erhalten.  Ist  dem  so,  so  wird  nicht 
alles  Übel  zu  unserm  Schaden  über  uns  gekommen  sein. 
Wir  werden  aus  dem  Kriege  mit  einer  höheren,  ern- 
steren, tragischeren  Empfindung  für  das  Leben  und 
seine  Pflichten  hervorgehen,  wir  werden  viele  Erbärm- 
lichkeiten unseres  politischen  Lebens  der  letzten  Jahr- 
zehnte in  seinen  Flammen  zerstören. 

EIN  VERRUFENES  WORT  {Critica  XIV,  De- 
zember 1915).  —  Außer  dem  der  Kultur^)  (bei  dem  ich 
bisher  noch  nicht  einzusehen  vermag,  weshalb  es  von 
diesem  Schicksal  erreicht  worden  ist)  gibt  es  noch  ein 
anderes,  das  ich  mit  einem  Tone,  halb  Abscheu,  halb 
Verachtung  aussprechen  höre :  Realpolitik.  Weiß  Gott, 
was  harmlose  Leute  sich  unter  dieser  fürchterlichen 
Realpolitik  vorstellen  mögen!  Trotzdem  handelt  es 
sich  um  eine  alltägliche  Sache.  Nehmen  wir  den  Fall, 
es  käme  uns  jemand,  der  ganz  abenteuerliche  Ideen 
über  Ausdehnung  und  Lage  der  verschiedenen  Länder 
hätte,  über  die  Bergketten,  die  Flußläufe,  über  Meere 
und  Häfen;  so  werden  wir  ihm  empfehlen,  sich  ein 
gutes  Handbuch  der  Erdkunde  zu  beschaffen,  sich 
über  die  Geographie  der  Geographen,  die  Geographie 
der  Dinge,  die  wirkliche,  nicht  eingebildete,  die 
Realgeographie,  zu  unterrichten.  Oder  wir  haben  eine 
Erörterung  mit  einem  andern,  der  höchst  verworrene 
und  ungereimte  Kenntnisse  von  dem  oder  jenem  ge- 
schichtlichen Ereignis  besitzt :  wir  werden  ihm  den  Rat 

*)  Die  Kursiv  gedruckten  Ausdrücke  sind  im  italienischen  Urtext  deutsch 
angeführt.    D.  Ü. 

82 


geben ,  kritisch  verfaßte,  auf  beglaubigten  Urkunden 
ruhende  Geschichtsdarstellungen  zu  lesen  und  den 
Anekdotenkram  gegenüber  der  wirklichen  Ge- 
schichte, AtvReaihistoriographte,  beiseite  zu  lassen.  Oder 
endlich,  wenn  uns  jemand  mit  der  herkömmlichen 
Salbaderei,  wie  sie  in  Unterhaltungen  gang  und  gäbe 
ist,  langweilt,  über  Philosophie  und  Nichtphilosophie, 
Idealismus  und  Positivismus,  Kant,  Hegel,  Spencer, 
Schopenhauer;  so  werden  wir  dem  Geschwätz  ein 
Ende  machen  und  den  lästigen  Unterredner  darauf 
verweisen,  wenn  er's  vermag,  die  Bücher  der  Denker, 
von  denen  er  faselt,  zu  lesen,  den  Versuch  zu  machen, 
sich  in  den  Problemen  zurechtzufinden,  die  die  Phi- 
losophen gestellt  und  gelöst  haben,  die  Philosophie 
der  Kaffeehäuser  zugunsten  der  wirklichen,  der 
Reaiphilosophie,  aufzugeben.  Ganz  ebenso  ergibt  sich, 
wenn  man  über  Politik  mit  völliger  Unkenntnis  der 
Interessen  und  der  Kräfte  der  Staaten,  ihrer  Zwecke 
und  Mittel,  der  Möglichkeiten  und  Unmöglichkeiten, 
des  Unterschiedes  zwischen  Dingen  und  Worten,  zwi- 
schen Wollen  und  Vorgeben  reden  hört,  von  selbst  die 
Mahnung,  die  Politik  des  Haufens,  der  Müßiggänger, 
der  Naiven,  ja  sogar  der  Literaten  und  Professoren  bei- 
seite zu  lassen  und  die  politische  Wirklichkeit  oder 
die  wirkliche  Politik,  die  Realpolitik,  zu  studieren. 
Diese  Formel  ist  in  Deutschland  aufgekommen,  und 
zwar  nicht  zu  dem  Zwecke,  um  die  politische  Weisheit 
der  Deutschen  ans  Licht  zu  stellen,  sondern  im  Gegenteil 
als  Bekenntnis  und  Tadel  des  geringen  politischen  Sinnes 
bei  den  Gebildeten  Deutschlands,  so  wie  er  sich  nament- 
lich in  den  Bewegungen  der  Jahre  1848—49  und  in  je- 
nem vielberufenen  Frankfurter  Parlament  geoffenbart 
hatte,  das  die  Blüte  deutscher  Geisteskraft  und  Wissen- 

b*  83 


Schaft  in  sich  schloß,  von  den  staunenswertesten  Reden 
widerhallte  und  trotzdem  jämmerlich  genug  wirkte 
und  endete.  Man  kann  nicht  leugnen,  daß  die  Kennt- 
nis der  Bedingungen  und  Interessen  der  Staaten  von 
da  ab  in  Deutschland  außerordentlich  zugenommen 
und  daß  sie  selbst  die  einstens  berühmte  politische 
Einsicht  Englands  erreicht,  vielleicht  sogar  überholt 
habe.  Auf  jeden  Fall  liegt  es  auf  der  Hand,  daß 
die  Deutschen ,  verfolgen  sie  eine  Realpolitik ,  damit 
nicht  bloß  für  sich  selber  sorgen,  sondern  auch  allen 
übrigen  Völkern  eine  gute  Lehre  geben:  oder  wollte 
man  vielleicht  lieber  eine  irreale,  eine  Phantasiepolitik 
verfolgen  ?  Und  sollten  wir  Italiener  uns  nicht  um  die 
politische  Erziehung,  ich  sage  nicht  unseres  Volkes, 
sondern  unserer  führenden  Klassen  bemühen  ?  Die  po- 
litische Unwissenheit  (und  in  Wahrheit,  nicht  allein 
die  politische)  der  italienischen  Demokratie  ist  überaus 
grof3 ;  vielleicht  wird  sie  nicht  einmal  die  sachliche  und 
augenscheinliche  Lehre  der  Ereignisse,  die  sich  jetzt 
vollziehen,  davon  abbringen,  Bündnisse  und  Kriege  auf 
Grund  von  Theorien  und  Schlüssen  zu  fordern,  denen 
ähnlich,  die  Glück  gemacht  haben  (ein  Glück,  das  uns 
gegenwärtig  teuer  zu  stehen  kommt),  und  die  den  „la- 
teinischen Geist"  oder  die  „griechisch-lateinische"  Ver- 
wandtschaft betreffen.  Italienische  Professoren  sind  seit 
einem  Jahre  umhergefahren,  um  Vorlesungen  über  die 
logische  Notwendigkeit  eines  rumänischen  Bündnisses 
mit  den  lateinischen  Völkern  zu  halten,  auf  Grund  der 
Erinnerungen  an  Trajan  oder  an  das  „torna^  torna 
fratre  (Kehr  um,  Bruder),  das  579  in  Mösien  im  Munde 
eines  Soldaten  erklang  und  bekanntlich  das  älteste  Bruch- 
stück der  rumänischen  Sprache  und  eines  der  ältesten 
unter  allen  neulateinischen  ist.  Nun,  diese  Geschichte 

84 


von  Trajan  und  dem  neulateinischen  Bruchstück  ist 
beispielsweise  keine  gute  Politik,  keine  Realpolitik! 
Allein  man  wird  behaupten,  die  Deutschen  hätten 
die  Realpolitik  verhaßt  gemacht,  weil  sie  von  ihnen 
bedenkenlos,  grobschlächtig,  in  vordringlicher  und 
rüpelhafter  Art  zur  Anwendung  gebracht  wird,  ohne 
daß  sie  gewisse  Dinge  beachten,  die  gleichwohl  nötig 
sind,  um  eine  wirkliche  Realpolitik  zu  treiben,  die  nie- 
mals wahrhaft  real  sein  wird,  wenn  sie  nicht  gleich- 
zeitigideal ist,  da  tatsächliche  Idealität  und  tatsächliche 
Realität  zusammenfallen.  In  diesem  Vorwurf  mag  etwas 
Richtiges  liegen.  Ein  Deutscher  ist  Deutscher  und  hat 
seine  Fehler;  jetzt  übertreibt  er  um  so  mehr  seinen  Rea- 
lismus, als  er  sich  seiner  einstigen  Unerfahrenheit  entledi- 
gen zu  müssen  glaubt.  Ich  erinnere  mich,  daß  ich  vor 
manchem  Jahr  einmal  im  Gespräch  mit  einem  italieni- 
schen Sprachforscher  eine  gewisse  Theorie,  verfehlt  in 
Italien,  aber  maßlos  übertrieben  in  Deutschland,  er- 
wähnte ;  mein  Zwischenredner  bemerkte  mir  witzig,  der 
Unterschied  zwischen  dem  Italiener  und  dem  Deutschen 
sei,  was  diese  Dinge  betreffe,  derselbe  wie  zwischen 
dem  Menschen  und  dem  Hunde :  der  Mensch  verspeise 
das  Rippenstück  und  lasse  den  Knochen  liegen,  der 
Hund  verschlinge  beides.  Die  Folge  davon  wird  also 
sein,  daß  man  Realpolitik  wird  treiben  müssen,  so  gut 
als  es  nur  angeht,  wenn  möglich  besser  als  die  Deut- 
schen :  auf  der  geistigen  Höhe,  mit  der  Großherzigkeit 
und  dem  gesunden  Verstand,  die  italienischem  Wesen 
eignen,  aber  auch  mit  vollkommenster  Vorurteilslosig- 
keit und  dem  schärfsten  kritischen  Mißtrauen  gegen  ge- 
schwätzige Einbildungen  und  gleichmacherische  Be- 
strebungen, niit  der  genauesten,  sorgsamsten  und  man- 
nigfaltigsten Kenntnis  der  gegebenen  Tatsachen ;  derart, 

85 


daß  wir  die  Psychologie  von  Belgrad  nicht  mit  der 
von  Mailand  verwechseln,  die  türkischen  Parlamen- 
tarier nicht  mit  den  englischen,  Beduinen  nicht  mit 
den  Männern  der  „Fünf  Tage"  (selbst  bis  zu  diesem  Tief- 
stand sind  unsere  heimischen  Demokraten  und  Sozia- 
listen gelangt,  als  sie  die  Erhebung  der  Araber  von 
Tripolis  gegen  die  Italiener  der  dieser  letztern  selbst 
gegen  die  Österreicher  im  Jahre  1 848  gleichsetzten !) : 
mithin  stets  Realpolitik,  nicht  Phantasiepolittk.  Dieses 
letztere  Wort  müßte  bei  uns  den  Abscheu  erregen,  den 
man,  zu  Unrecht,  jetzt  gegen  das  andere  an  den  Tag 
legt. 

EIN  VERHASSTER  NAME  {Dezember  igis). 
—  Treitschke:  Dieser  Name  ist  ebenfalls  unsern  De- 
mokraten und  Nationalisten  in  die  Feder  geraten,  die 
an  ihm  ihr  Mütchen  kühlen,  als  an  einem  über  alle 
Maßen  barbarischen  Menschen  und  Schriftsteller.  Und 
in  der  Tat,  lassen  sich  Silben  in  ohrenzerreißenderer 
Art  zusammensetzen!  Obgleich,  um  genau  zu  sein, 
Heinrich  von  Treitschke  nicht  deutscher,  sondern  sla- 
wischer Herkunft  war,  seiner  Heimat  nach  kein  Preuße, 
vielmehr  einem  preußenfeindlichen  Staat  und  einer 
preußenfeindlichen  Familie  entstammend,  als  Sohn  und 
Bruder  sächsischer  Militärs.  ArmerTreitschke,  du  hättest 
wohl  etwas  mehr  Rücksicht  verdient,  wenigstens  von 
uns  Italienern,  wäre  es  auch  nur  darum,  weil  du  für 
kein  fremdes  Land  so  viel  Zuneigung  hattest  als  für 
Italien :  du  betrachtetest  ja  Italien  und  Deutschland  als 
die  zwei  Völker,  ^die  am  längsten  leiden  und  kämpfen 
mußten,  um  die  Nachwirkungen  des  Mittelalters  ab- 
zuschütteln, das  eine,  mit  dem  fressenden  Krebsge- 
schwür des  Papsttums  im  Leibe,  das  andere  mit  dem 

86 


des  Heiligen  Römischen  Reiches  und  des  Hauses 
Österreich,  seines  letzten  Vertreters;  du  hast  den  Sieg 
beider  über  die  gemeinsamen  Feinde  begrüßt!  Wohl 
war  Treitschke  ein  Anhänger  Bismarcks,  aber  noch 
viel  glühender  bewunderte  er  Cavour,  dem  er  1869 
einen  prächtigen  Versuch  widmete,  der  noch  immer 
zu  den  gehaltvollsten  Schriften  zu  Ehren  des  italieni- 
schen Staatsmannes  zählt!  Er  kannte  nicht  bloß  die 
Dichter  Italiens  (deren  Worte  er  gern  in  seinen  Schrif- 
ten anzieht,  Manzoni,  Leopardi,  Giusti),  sondern 
auch  die  politischen  Schriftsteller  —  er  führt  ihre 
Gedanken  an,  von  Machiavelli  bis  auf  Gaetano  Mos- 
ca  — ,  und  war  überhaupt  für  uns  wie  ein  guter  Bruder, 
der  seine  eigene  Familie  hat,  aber  mit  frohem  Behagen 
auf  die  des  Bruders  sieht.  Er  verdiente  Achtung  von 
allen  in  allen  Ländern,  da  er  ein  edles  Herz,  eine  feurige 
Seele,  eher  Dichter  denn  Geschichtsschreiber  war,  ein 
klarer,  anschaulicher,  höchst  lebendiger  Schriftsteller 
mit  Leidenschaft  und  Liebe,  sittlich  unabhängig,  auch  in 
seiner  Verehrung  für  die  Hohenzollern,  so  sehr,  daß 
er  das  Kaisertum  Wilhelms  des  Zweiten  in  düsteren 
Farben  schilderte  und  der  romantisch-feudal-kauf- 
männischen Persönlichkeit  des  neuen  Kaisers  nicht 
traute,  was  ihm  dessen  Ungnade  zugezogen  hat.  Aber 
auch  in  dieser  seiner  preußisch-deutschen  Begeisterung 
erweckt  er  keine  Abneigung,  so  sehr  ist  er  offen,  red- 
lich, arglos,  zuweilen  kindlich.  Seine  Deutsche  Ge- 
schichte im  neunzehnten  Jahrhundert  ist  ohne  Zweifel 
keine  wirkliche  und  wahrhaftige  Geschichte  (obgleich 
sie  viele  ausgezeichnete  geschichtliche  Bestandteile  ent- 
hält, besonders  in  den  Beschreibungen  von  Gefühlen  und 
Bräuchen,  wie  der  ganzen  Umwelt),  sondern  ein  Er- 
bauungsbuch,  eine  Verteidigungsschrift  zum  Ruhm 

87 


von  Preußens  Werk  bei  der  Bildung  des  deutschen 
Staates;  in  derselben  Weise  wie  die  Übersicht  unseres 
Balbo,  die  ihr  in  mancher  Hinsicht  ähnelt.  Allein  er  ent- 
waffnet uns  mit  seiner  Erklärung :  „Bei  ausländischen 
Kritikern,  freundlichen  wie  feindseligen,  hat  der  ganze 
Ton  meines  Buches  Befremden  erregt,  und  ich  konnte 
nichts  anderes  erwarten.  Ich  schreibe  für  Deutsche. 
Es  mag  noch  viel  Wasser  unsern  Rhein  hinabfließen, 
bis  die  Fremden  uns  erlauben,  von  unserm  Vaterlande 
mit  demselben  Stolze  zu  reden,  der  die  nationalen  Ge- 
schichtswerke der  Engländer  und  Franzosen  von  jeher 
ausgezeichnet  hat.  Einmal  doch  wird  man  sich  im 
Auslande  an  die  Gesinnungen  des  neuen  Deutschlands 
gewöhnen  müssen." 

Diese  Worte  sind  als  anstößig  angeführt  worden :  aber 
sind  sie  nicht  vielmehr  naiv.?  Merkt  man  darin  nicht 
das  mit  Verspätung  ans  Ziel  gelangte  Volk,  das  im 
heißen  Bemühen,  sich  in  allem  mit  den  früher  ange- 
langten Völkern  auf  gleiche  Linie  zu  stellen,  auch 
deren  minder  löbliche  Seiten  nachahmt,  so  wie  der 
Provinzler  mit  den  städtischen  Moden  auch  das  Über- 
triebene und  Geschmacklose  annimmt.?  Der  Schrift- 
steller sagt  mit  andern  Worten :  —  „Wohl,  ich  weiß  ganz 
gut,  daß  die  Geschichte,  die  wahre  Geschichte  nicht 
vom  deutschen,  französischen,  englischen  Standpunkt 
aus  geschrieben  werden  kann,  sondern  von  dem  der 
Menschheit,  der  weiter  ist  als  sie  alle ;  aber  da  Fran- 
zosen und  Engländer  parteiische  Geschichten  verfassen 
und  sich  an  ihnen  begeistern,  so  schreibe  auch  ich  eine 
parteiische,  für  das  Volk,  dem  ich  zugehöre."  — 
Treitschke  macht  uns,  während  er  sich  seiner  vater- 
ländischen Leidenschaft  hingibt,  auf  seine  Zielsetzung 
aufmerksam  und  gibt  uns  die  Möglichkeit,  sie  richtig- 

88 


stellen  und  unschädlich  zu  machen.  Kann  man  einen 
Menschen  dieser  Art  hassen?  Man  vermag  es  sicher- 
lich nur  dann,  wenn  man  niemals  seine  Werke  gelesen 
hat,  und  mit  der  Wut  der  Unwissenheit  die  Silben 
seines  „gotischen"  Namens  wiederkäut. 

DER  STAAT  ALS  MACHT  {Dezember  1915).  - 
Treitschke  (in  den  beiden  Bänden  seiner  Vorlesungen 
über  Politik^  aus  dem  Nachlaß  1 897  von  Cornicelius 
herausgegeben)  muß  die  Kosten  eines  Schriftchens 
von  Durckheim  bestreiten,  das  mir  eben  zukommt: 
Der  deutsche  Gedanke  und  der  Krieg  (Paris,  Colin  1 9 1 5). 
Durckheim  leitet  aus  jenem  Werk  die  Lehre  vom 
Staat  als  Macht  ab,  der  kein  anderes  Gesetz  als  die 
eigene  Macht  kennt,  und,  nachdem  er  sie  als  unchrist- 
lich und  heidnisch  verdammt,  nachdem  er  sie  mit  der 
sittlichen  Lehre,  die  die  Demokratie  über  den  Staat 
ausspricht,  in  Gegensatz  gestellt  hat,  steht  er  nicht  an, 
die  geistige  Verfassung,  von  der  sie  Zeugnis  ablegt, 
für  einen  „unzweifelhaften  Fall  sozialer  Pathologie" 
zu  erklären,  „dessen  Ursachen  die  Historiker  und  So- 
ziologen einmal  aufzuhellen  trachten  werden,  dessen 
Vorhandensein  festzustellen  aber  für  jetzt  genügt". 
Im  selben  Geiste  ist  ein  anderes  Schriftchen  gehalten, 
das  mir  zugleich  mit  dem  Durckheims  zukommt: 
Seignobos,  Vom  Wiener  Kongreß  bis  zum  Kriege  1914. 
Nun  sind  sicherlich  weder  Durckheim  noch  Seignobos 
mit  den  französischen  und  italienischen  Demokraten 
üblichen  Schlages  und  höchst  oberflächlicher  Bildung 
zusammenzuwerfen ;  beide  sind  Gelehrte  und  wissen- 
schaftlich geschulte  Männer.  Allein  gerade  deshalb 
kann  man  an  ihnen  der  geistigen  (philosophischen,  hi- 
storischen, ethischen,  soziologischen  etc.)  Minderwer- 

89 


tigkeit  besser  inne  werden  oder,  wenn  man  lieber  will, 
der  zurückgebliebenen  geistigen  Form,  die  vielen  Krei- 
sen der  sogenannten  lateinischen  Länder  eignet  und 
leider  auch  ihre  Demokratien  beherrscht.  Durckheim 
hat  sich  gar  keine  Rechenschaft  über  die  Entwicklung 
des  europäischen  Gedankens  gegeben,  so  wenig  (man 
sehe  sein  Schriftchen  S.  20—23),  daß  er  als  „heidnisch" 
und  „unchristlich"  das  ansieht,  was  ein  Erzeugnis  des 
„Protestantismus",  das  heißt  einer  Erhebung  des  christ- 
lichen Geistes  ist,  und  daß  er  „Jesuitenmoral"  in  meiner 
Auffassung  findet,  die  die  schärfste  Verneinung  des  jesui- 
tischen Legalismus  ist :  fast  in  derselben  Weise,  wie 
vor  Jahren  ein  anderer  Weiser  der  Demokratie,  Gugli- 
elmo  Ferrero,  ein  Band  zwischen  jesuitischer  und  Kanti- 
scher Sittenlehre  entdeckt  hat,  weil  (hört!  hört!) 
beide  auf  dem  „Zweck"  fußen  —  natürlich  hat  er  die 
Kleinigkeit  außer  acht  gelassen,  daß  die  eine  auf  die 
Doppelzüngigkeit,  die  andere  auf  die  Reinheit  der 
Zwecke  gegründet  ist.  Ebensowenig  hat  er  sich  Rechen- 
schaft davon  gegeben,  daß  die  politische  Lehre,  die 
jetzt  in  Deutschland  im  Umlauf  ist  —  und  ich  kann 
nicht  müde  werden  zu  wiederholen,  daß  diese  nicht  in 
Deutschland  zur  Welt  gekommen  und  nicht  deutsch, 
sondern  allgemeines  Eigentum  der  Wissenschaft  ist  — 
sich  über  die  früher  dargelegte  Unfaßlichkeit  und  den 
innern  Widerspruch  der  demokratischen,  vertrags- 
freundlichen, humanitären  Lehre,  die  Durckheim  als 
etwas  Überlegenes  erscheint,  hinaus  entwickelte  und 
festigte.  „Man  muß  den  Geist  Machiavellis  und  Bis- 
marcks  verscheuchen"  (wiederholt  seinerseits  Seignobos 
S.  34).  Meint  man  demnach  —  wir  lassen  Bismarck 
beiseite  —  der  StaatsbegrifF  eines  Machiavelli  sei  etwas, 
das  zu  verwerfen  sei?  daß  dieser  streng  sittliche,  weil 

90 


tragisch  menschliche  Begriff  unsittUch  sei?  daß  die 
ItaUener  sich  des  Grabmals  in  Santa  Croce,  das  Machia- 
vellis  Andenken  verherrlicht,  schämen  müßten  ?  „Die 
Völker  müssen  durch  Volksabstimmungen  um  ihre 
Meinung  befragt  werden"  (Seignobos  S.  5).  Sind  die 
überaus  schweren  Bedenken  nicht  wohlbekannt  oder 
sind  sie  etwa  schon  widerlegt,  die  man  gegen  das 
System  (viel  eher  eine  Vorspiegelung)  der  Volksab- 
stimmungen erhoben  hat,  kraft  dessen  der  Lauf  der 
Weltgeschichte  dem  Belieben  einzelner  Gruppen  oder 
geradezu  kleinster  Minderheiten  unterworfen  sein 
müßte  ?  Selbst  angenommen,  die  Lehre  vom  Staat  als 
Macht  wäre  kritisierbar  und  zu  überwinden  durch  die 
vom  Staat  als  Recht  —  diese  ist  vielmehr  schon  im 
achtzehnten  Jahrhundert  auf  den  Widerspruch  der  Po- 
litiker der  guten  italienischen  Schule  gestoßen  —  ange- 
nommen, das  achtzehnte  Jahrhundert  vermöchte  über 
das  neunzehnte  zu  triumphieren,  so  bliebe  das  doch 
eine  höchst  schwerwiegende  Frage,  die  nicht  mit  Rede- 
künsten und  Gefühlsgründen,  sondern  durch  wissen- 
schaftliche Zergliederungen  und  Begründungen,  im 
Bereich  der  Wissenschaft  selbst,  zu  lösen  ist ;  und  man 
sieht  nirgends,  daß  die  „demokratische  Wissenschaft" 
dies  in  der  Vergangenheit  geleistet  hätte  oder  jetzt  lei- 
stete. Die  gegnerische  Lehre  als  „pathologisch"  hin- 
zustellen, will  wenig  besagen;  und  die  Berufung  auf 
das  Christentum,  die  jetzt  bei  den  Freimaurer-Demo- 
kraten im  Schwange  ist,  läßt  den  Zweifel  erstehen,  ob 
diese  Berufung  sich  nicht  eher  als  an  das  tiefe  welt- 
schmerzlich durchwühlte  Christentum,  an  das  katho- 
lisch-scholastische wendet  —  daher  die  Zärtlichkeit  von 
heute  zwischen  den  Freimaurern  der  Göttin  Gerechtig- 
keit und  den  Scholastikern  vom  Schlage  des  Kardinals 

91 


Mercier,  die  beide  an  der  gleichen  geistigen  Greisen- 
haftigkeit leiden !  In  Italien,  in  England,  in  Frankreich 
selbst  haben  in  den  letzten  Jahren  nicht  wenige  Den- 
ker daran  gearbeitet,  diese  Überreste  des  Intellektua- 
lismus, des  abstrakten,  scholastischen  und  Enzyklopä- 
diewesens beiseite  zu  räumen ;  selbst  das  Glück,  das  die 
marxistischen  Lehren  gemacht  haben,  rührt  zum  be- 
trächtlichen Teile  von  der  kraftvollen  Auffassung  des 
Lebens  als  eines  Kampfes  her,  der  ihnen  innewohnt, 
nicht  sowohl  eines  Kampfes  zwischen  dem  Geist  des 
Guten  und  des  Bösen,  als  gerade  eines  Kampfes, 
den  das  Gute  mit  dem  Guten  führt,  um  zu  einem 
höheren  Guten  aufzusteigen.  Aber  dieser  kritischen 
Gedankenströmung  war  es  noch  nicht  gelungen,  die 
politische  Bildung  6^es  westlichen  Europa  zu  durch- 
dringen und  umzugestalten ;  der  Krieg  hat  sie  in  ihrem 
Beginn  überrascht,  und  ihre  Arbeit  wird  erst  später 
zum  Abschluß  gelangen.  Wäre  sie  wirklich  von  den 
einsamen  Forschern  oder  aus  dem  Kreise  der  Philo- 
sophie in  die  Werktätigkeit  des  Lebens  getreten,  so 
hätte  Deutschland  nicht  gewagt,  dem  demokratischen 
Europa  den  Krieg  zu  erklären,  oder  es  wäre  gleich  zu 
Anfang  auf  ernste  Hindernisse  gestoßen.  Es  hat  ihn 
aber  gewagt,  weil  allzuviele,  in  Frankreich  und  ander- 
wärts, nach  Art  der  Professoren  Durckheim  und  Sei- 
gnobos  faselten ;  deren  Namen  ich,  nebenbei  gesagt,  in 
einem  Buche  angestrichen  finde,  das  mir  sein  Verfasser 
einige  Monate  vor  dem  Krieg,  im  März  1914,  zu- 
gesandt hat  (A.  SECHE,  Le  desarroi  de  la  coscience 
frangaise^  Paris,  Ollendorff,  S.  284),  und  zv^ar  unter 
denen  der  französischen  Hochschullehrer,  die  ein  ver- 
derbliches Beginnen  ins  Werk  gesetzt  hätten,  indem 
sie  den  Pazifismus,  Internationalismus  und  Antimili- 

92 


tarismus  predigten  und  das  Vaterlandsgcfühl  in  den 
Herzen  der  Jugend  vernichteten  oder  schwächten! 
Deutschland  hat  es  gewagt,  weil  es  sich  bewußt  war, 
mit  weniger  unterrichteten  und  weniger  einsichtigen 
Männern  aus  politischen  Kreisen  als  den  seinen  zu  tun 
zu  haben;  und  hätte  dies  nicht  unternommen,  wenn 
seine  Gegner  nicht  bloß  militärisch,  sondern  auch  sitt- 
lich und  geistig  wachsam  gewesen  wären.  Denn  (wie 
ich  oben  von  der  Realpolitik  gesagt  habe)  es  scheint 
mir  seltsam,  —  wenn  es  sich  nicht  um  einfache  Heu- 
chelei oder  eine  rhetorische  Übung  handeln  sollte  — 
einen  Staatsbegriff  zu  verwerfen,  der  nicht  sowohl  ein 
„Fabriksgeheimnis"  für  das  Gedeihen  Deutschlands,  als 
ein  allgemeiner  Leitsatz,  gleichermaßen  für  alle  Staaten 
nützlich,  ist  und  der  allen  Staaten  die  „Macht"  und 
nicht  die  „Unmacht"  empfiehlt:  die  Anspannung  aller 
ihrer  Kräfte,  um  die  andern  zu  der  gleichen  Kraftäuße- 
rung an  Leben  zu  zwingen,  zum  «Vorteil  der  Mensch- 
heit, die  allein  durch  Arbeit  und  Mühen  vor  Tod  und 
Fäulnis  gerettet  wird.  Was  anderes  haben  wir  Italiener 
gewollt,  als  wir  in  den  Krieg  eintraten,  denn  Vorsorge 
zu  treffen,  daß  die  „Macht"  unseres  Staates  nicht  ge- 
mindert, vielmehr  vergrößert  werde.?  Ich  weiß  recht 
wohl,  daß  die  salbungsvollen  Demokraten  anstatt  dessen 
verlangten,  was  sie  jetzt  ausschreien,  daß  wir  den  Krieg 
führen  müßten,  um  die  Gerechtigkeit  im  Streit  der 
Völker  zum  Siege  zu  bringen.  Allein,  ich  erlaube  mir 
zu  denken,  daß  niemals  ein  Volk  über  das  andere  Ge- 
rechtigkeit übt,  sondern  Gott  oder  jener  Gott,  der  die 
Geschichte  ist,  über  sämtliche  Völker;  und  ich  meine, 
daß  die  Italiener  hinlänglich  Geistesschärfe  besitzen, 
um  nicht  Pflichten  auf  sich  zu  nehmen,  die  die 
menschliche  Kraft  übersteigen  und  darum  der  Lächer- 

93 


lichkeit  verfallen :  ganz  so  wie  die  Deutschen  lächer- 
lich werden,  wenn  sie  davon  reden,  die  Sittlichkeit  in 
der  Welt  wieder  herstellen  und  „züchtigen"  zu  wollen. 
Und  sind  wir  etwa  nicht  in  den  Krieg  getreten,  indem 
wir  uns  aus  einem  alten  Bündnis  lösten,  das  wegen 
der  Mängel,  die  es  an  sich  trug  und  wegen  der  ge- 
änderten Voraussetzungen  unsere  „Macht"  bedrohte? 
Gerade  weil  die  Lehre,  die  jetzt  mit  dem  Namen  ihrer 
neuen  Verkünder  und  Förderer  „deutsch"  genannt 
wird,  in  Wirklichkeit  aber  von  dem  ersten  großen, 
gegen  das  Mittelalter  gewendeten  Politiker,  von  dem 
Italiener  Machiavelli  herrührt,  die  wahre  Lehre  ist, 
dürfen  wir  über  das  Wort  „Verrat"  lächeln,  das  uns 
jetzt  da  und  dort  —  so  weit  es  die  dürftige  Kenntnis, 
die  uns  die  Zensur  von  den  deutschen  Zeitungen  zu 
nehmen  erlaubt,  zuläßt  —  aus  Deutschland  entgegen- 
tönt ;  lächeln,  und  die  Deutschen  ersuchen,  ein  anderes 
Register  zu  ziehen,  da  dieses  kreischend  und  falsch 
klingt. 

ZUM  BESSERN  VERSTÄNDNIS  {Dezember 
1915).  —  „Also",  wird  man  sagen,  wenn  man  dies  liest, 
„Ihr  seid  für  Deutschland  und  die  deutsche  Kultur?" 
Ich  könnte  darauf  wie  der  Abbe  Galiani  antworten,  den 
man  in  der  Hitze  des  Gefechts  fragte,  ob  er  im  Grunde 
für  oder  gegen  die  freie  Ausfuhr  des  Getreides  sei:  „Ich 
bin  für  keines  von  beiden.  Ich  bin  nur  dafür,  daß 
man  nicht  Dummheiten  redet.  Die  Ausfuhr  des  ge- 
sunden Menschenverstandes  ist  das  einzige,  was  mich 
ärgert!"  {Dia/ogues,  S.  12.)  Was  soll  es  heißen,  für  oder 
gegen  die  deutsche  Kultur  zu  sein?  Die  deutsche  Kultur, 
so  gut  wie  die  französische,  die  englische,  die  italienische 
ist  das,  was  sie  ist,  und  keine  von  ihnen  verkörpert  voll- 

94 


ständig  das  menschliche  Ideal,  wäre  es  auch  nur  aus 
dem  einfachen  Grunde,  daß  das  Ideal  stets  das  ist,  was 
nicht  vorhanden  ist,  nicht  das,  was  da  ist,  die  Zukunft, 
nicht  die  Vergangenheit,  das  zu  Schaffende,  nicht  das 
Geschaffene.  Nichts  von  dem,  was  da  ist,  kann  genügen, 
und  in  jeder  geschichtlichen  Formel  des  sozialen  und 
Kulturlebens  empfinden  wir  Mängel  und  Widersprüche. 
Ich  habe  auch  nicht  auf  den  Krieg  gewartet,  um  dar- 
auf hinzuweisen  oder  zu  behaupten,  daß  Deutschlands 
Philosophie  der  letzten  achtzig  Jahre  nur  mittelmäßig 
ist;  daß  seine  Wissenschaft  sich  gern  die  Industrie  zum 
Vorbild  nimmt,  in  der  mechanischen  Arbeitsteilung  und 
dem  mechanischen  Aufreihen  der  Ergebnisse;  daß  sie 
allzu  oft  von  nationalen  Grillen  gestört  wird;  daß  in  der 
politischen  Psychologie  der  Deutschen  die  zynische  Art, 
wie  sie  Bismarck  zur  Schau  trug,  üble  Wirkungen  her- 
vorgebracht hat;  und  so  fort.  Es  sind  das  Dinge,  die  ich 
des  öftern  in  dieser  Rundschau  und  anderwärts  habe 
drucken  lassen,  in  ruhigen  Zeiten,  als  noch  kein  Verdacht 
leidenschaftlicher  Parteinahme  aufkommen  konnte, 
und  wenn  jemand  dessen  nicht  mehr  eingedenk  wäre, 
so  bin  ich  bereit  (mit  Verletzung  meiner  Bescheiden- 
heit), in  einem  der  nächsten  Hefte  eine  Blumenlese 
meiner  einschlägigen  Aussprüche  zu  bieten,  die  mich 
in  den  Stand  setzen  würde,  im  Stil  des  Danteschen 
Teufels  auszurufen:  „Du  hast  wohl  nicht  gedacht,  daß 
ich  ein  Deutschenfeind  sei?"  Aber  was  sollen  mir  diese 
Verwahrungen,  unnütz  für  die,  die  mich  kennen,  und 
in  anderer  Art,  aber  ebenso  unnütz  für  die,  die  mich 
nicht  kennen  ?  Es  ist  freilich  wahr  —  um  bei  unserem 
eigentlichen  Gegenstand  zu  bleiben  —  daß  ich  auch  dort, 
wo  die  Genialität  fehlte  und  das  Schulfuchsentum  über- 
wog, immer  die  Gewissenhaftigkeit  und  redliche  Arbeit 

95 


der  deutschen  Bücher  bewundern  mußte,  die  gewöhn- 
lich —  und  das  ist  ein  großer  Vorzug!  —  so  mittelmäßig 
sie  auch  sein  mögen,  dennoch  die  Schwere  der  Probleme 
besser  empfinden  lassen  als  die  leichtbeschwingteren 
anderen  Schrifttums.  Ich  will  es  jetzt  auch  nicht 
einmal  unternehmen,  dem  von  den  Leidenschaften  und 
mannigfachen  Interessen  verzerrten  Bild  Deutschlands 
dessen  wahres  Bild  entgegenzustellen ;  denn,  würde  ich 
mich  auf  dieses  Gebiet  begeben,  so  würde  ich  mit  Not- 
wendigkeit in  das  Amt  des  Verteidigers,  sei  es  auch  mit 
redlicher  Absicht,  gedrängt  werden,  und  seit  einiger 
Zeit  findet  mein  Gemüt  und  mein  Geist  nur  mehr  daran 
Freude,  die  Dinge  sachlich  zu  betrachten,  nach  ihrem 
systematischen  Orte,  im  Zusammenhang  ihrer  Ent- 
wicklung, fern  von  jedem  Geiste  der  Für-  oder  Wider- 
spräche. Was  ich  allein  verteidige,  das  sind  einige  Be- 
griffe, die  ich  mißverstanden,  nicht  verstanden  oder 
mit  unterlegenen  Begriffen  bekämpft  sehe;  es  sind  einige 
Verhaltungsarten  in  Arbeit  und  Forschung,  die  ich 
für  wertvolle.  Errungenschaften,  von  Italien  und  für 
Italien  gemacht,  halte,  Errungenschaften,  die  eifersüch- 
tig gewahrt  werden  sollten.  Lange  Zeit  haben  deutsche 
„Wissenschaft", deutsche  „Methode", deutscher„Ernst" 
und  deutsche  „Genauigkeit  der  Darstellung"  den  ita- 
lienischen Forschern  als  Panier  gegolten,  zugleich  als 
Waffe,  deren  sie  sich  untereinander  im  Kampfe  bedient 
haben  und  mit  der  sie  die  Dilettanten,  die  Faulen,  die 
Stegreifdichter,  die  Pfuscher  aus  ihren  Kreisen  fern- 
hielten; Deutsch  zu  können  und  durch  das  Lesen  und 
das  Beispiel  der  deutschen-  Bücher  sich  auf  der  Höhe 
der  wissenschaftlichen  Bewegung  zu  halten,  war  das 
Mittel,  um  die  italienische  Wissenschaft  zu  „entprovin- 
zialisieren",  sie  zu  erneuern  und  mit  europäischer  Kultur 

96 


zu  durchdringen.  Unter  denen,  die  jetzt  gegen  das  „ger- 
manische" Pedantentum  losziehen  und  die  „lateinische" 
Genialität  preisen,  sehe  ich  allzuviel  wohlbekannte  Ge- 
sichter des  wissenschaftlichen  und  literarischen  Pöbels 
und  „Halbweltwesens";  allzuviele,  die  sehr  froh  wären, 
könnten  sie  nunmehr  nach  Bequemlichkeit  handeln  und 
obendrein  auf  billige  Weise  die  Lorbeeren  des  besorg- 
ten Vaterlandsfreundes  verdienen;  vor  diesen  und  gegen 
sie  pflanze  ich  das  Banner  der  „deutschen  Methode" 
auf  und  ergreife  deren  Waffe.  Es  mag  das  ein  „Symbol" 
sein,   aber  ich  glaube,  daß  es  gefährlich,   unpatrio- 
tisch, das  heißt  schädlich  für  Italien  wäre,  sich  seiner 
jetzt  zu  entledigen.  Und  ich  werde  es  bloß  dann  bei- 
seite legen,  wenn  es  möglich  sein  wird,  es  mit  einem 
andern  Sinnbild  von  gleicher  Wirksamkeit  zu  vertau- 
schen:  jenem  der  „italienischen",  „französischen",  „eng- 
lischen", meinethalben  auch  „japanischen"  Methode. 
Nur  sind  Symbole  ein  Ergebnis  der  Geschichte,  sprießen 
aus  freien  Stücken  wie  die  Wörter  und  Spruchweis- 
heiten, und  es  ist  nicht  möglich,  sie  nach  Gutdünken 
zu  vertauschen;  so  wäre  auch  „italienische"  oder  „fran- 
zösische Methode"  eine  farblose,  willkürliche  Phrase, 
die  niemanden  überzeugen  würde.  Nicht  ich,  sondern 
die  „Lateiner",  insbesondere  die  Italiener  sind  es,  die 
fortwährend  sich  selbst  angeklagt  haben,  es  fehle  ihnen 
an  „Disziplin",  und  die  den  Ruf  oder  wenn  man  lieber 
will,  die  Legende  des  deutschen  „Fleißes"  und  „metho- 
dischen Wesens"  geschaffen  haben.  Wie  sollen  ich  oder 
andere  nunmehr  mit  einem  Schlage  zunichte  machen, 
was  unsere  Ahnen  in  der  niemals  unterbrochenen  Folge 
ihrer  Urteile,  im  Laufe  mehrerer  Jahrhunderte  auf- 
erbaut haben.?  Nehmen  wir  immerhin  an,  diese  Urteile 
seien  jetzt  zu  Vorurteilen  geworden;  aber  selbst  diese 


7    C  r  o  c  e  ,  Randbemerkungen  eines  Philosophen 


97 


verleihen  den  „Symbolen"  Glanz  und  Kraft,  mindestens 
durch  eine  lange  Zeitspanne,  nachdem  die  Dinge  sich 
mehr  oder  weniger  verändert  haben.  Wenn  wir  Italiener 
durch  ein  ganzes  langes  Jahrhundert  ein  „methodisches 
Wesen",  das  besser  als  das  deutsche  ist  —  dergleichen 
liegt  ja  im  Bereich  der  Möglichkeit  —  aufgestellt  und 
geübt  haben  werden,  wird  es  uns  gar  keine  Anstrengung 
kosten,  um  in  dieser  Hinsicht  in  den  Ruf  von  Vorbildern 
zu  kommen  und  sprichwörtlich  zu  werden,  sowie  wir  es 
für  eine  Reihe  anderer  Dinge  gewesen  sind  oder  noch 
sind.  Gegenwärtig  aber  zeigt  das  Bemühen,  auf  einmal 
Symbol  und  Fahne  zu  wechseln,  lediglich  die  Nichtig- 
keit dieses  Vorhabens. 

NUTZEN  DER  POLEMIK  {Critica  XIV,  Fe- 
bruar igi6).  —  Wie  auch  andere  urteilen  mögen,  die 
Polemik,  die  ich  mit  diesen  Randbemerkungen  gegen 
das  Hirngespinst  der  abstrakten  Gerechtigkeit  verfolge, 
scheint  mir  nützlich  und  der  Fortsetzung  wert.  Jenes 
alte  Hirngespinst,  im  Juli  19 14  neu  herausgeputzt, 
könnte  man  als  einen  Götzen  der  Einbildung  hingehen 
lassen,  als  durch  die  Wirkung  des  Kampfes  selbst  er- 
zeugt und  mit  ihm  vergehend :  wenn  man  nicht  im  Eifer 
der  Beteuerung,  unsere  Sache  sei  die  der  Gerechtigkeit, 
der  Freiheit,  der  Zivilisation,  Gefahr  liefe,  sich  an  den 
Gedanken  zu  gewöhnen:  unsere  Sache  sei  jedenfalls  in 
gute  Hände  (in  die  Hände  Gottes)  gelegt,  und  die  Vor- 
teile, die  die  Gegner  erringen  können,  seien  nichts  anderes 
als  Teufelswerk.  Eine  höchst  bedenkliche  Gemütsver- 
fassung, die  man  um  des  großen  aus  ihr  erwachsenden 
Schadens  halber  mit  allem  Nachdruck  bekämpfen  muß. 
Zuerst  glaubte  ich,  daß  im  Verlauf  des  gegenwärtigen 
Krieges  weder  Gelegenheit  noch  Zeit  zu  einer  solchen 

98 


Richtigstellung  gegeben  wäre;  dann  aber,  als  dieser 
immer  verwickelter  und  zäher  wurde,  und  die  Tech- 
niker Muße  hatten,  neue  Arten  von  Geschützen  und 
Luftschiffen  zu  erfinden,  die  Chemiker  „Stickgase"  zu 
brauen,  sehe  ich  nicht  ein,  weshalb  der  bescheidene 
Historiker  und  Philosoph  nicht  auch  seinerseits  mit- 
arbeiten sollte,  so  gut  er's  vermag,  und  Unterstützung 
durch  „aufklärende  Begriffe"  zu  bringen,  das  heißt, 
durch  Erwägungen,  Richtigstellungen  und  Theorien, 
die  er  für  praktisch  wirksam  erachtet,  um  Täuschungen 
zu  beseitigen,  leere  Redensarten  und  Geberden  unnötig 
zu  machen  und  den  gebotenen  Weg  zu  weisen. 

SITTLICHKEIT  DER  LEHRE  VOM  STAAT 
ALS  MACHT  {Februar  igi6).  -  Es  ist  gut,  noch  ein- 
mal kurz  auf  diesen  Punkt  zurückzukommen:  Die 
Lehre  vom  Staat  als  Macht  und  vom  Leben  des  Staates 
als  eines  Kampfes  ums  Dasein  rechtfertigt  in  nichts  den 
Abscheu,  den  furchtsame  Seelen  vor  ihr  empfinden,  es 
sei  denn,  man  würde  auch  einen  unerbittlichen  Lehr- 
satz der  Arithmetik  oder  einen  der  politischen  Wirt- 
schaftslehre, das  heißt,  eine  wissenschaftliche  Aufstel- 
lung als  abscheuerregend  ansehen.  Um  die  Sache  kurz 
und  in  volkstümlicher  Ausdrucksweise  zu  sagen,  die 
Geschichte  (und  ebenso  die  Logik  des  Lebens  selbst) 
zeigt,  daß  die  Staaten  wie  sonstige  gesellschaftliche  Ver- 
bände fortwährend  um  die  Erhaltung  und  das  Gedeihen 
der  besten  Form  in  einem  Kampf  auf  Tod  und  Leben 
stehen;  und  einer  der  akuten  Fälle  dieses  Kampfes  ist 
eben  der,  den  man  Krieg  nennt.  Bricht  dieser  aus  — 
und  ob  dies  geschieht  oder  nicht,  ist  ebensowenig  sitt- 
lich oder  unsittlich  als  ein  Erdbeben  oder  irgendeine 
andere  Erscheinung  des  Erdsystems  —  so  haben  die  Be- 

99 


standteile  der  verschiedenen  Gruppen  keine  andere  sitt- 
liche Pflicht  als  die,  sich  zur  Verteidigung  ihrer  eigenen 
Gruppe  zusammenzuschließen,  zum  Schutz  des  Vater- 
landes, um  den  Gegner  zu  unterwerfen,  seine  Macht 
zu  beschränken  oder  um  ruhmvoll  zu  unterliegen,  indem 
sie  den  Keim  für  künftige  Gegenschläge  legen.  Nur  in 
dieser  Weise  ist  das  Einzelwesen  im  Recht,  obgleich 
auch  sein  Gegner  ebenso  im  Recht  ist;  und  ebenso  wird 
für  eine  mehr  oder  weniger  lange  Zeit  die  Ordnung,  die 
sich  nach  dem  Kriege  bildet,  im  Recht  sein.  Ich  glaube 
nicht,  daß  der  gesunde  Sinn  des  Volkes  jemals  die  Kriege 
in  anderer  Weise  aufgefaßt  hat  —  der  Volksglaube  be- 
trachtet sie  als  „Züchtigungen  Gottes",  um  die  Men- 
schen zu  „bessern"  — ;  und  nur  eine  falsche  Ideologie, 
ein  Trugschluß,  schlechter  Literaten  würdig,  kann  sich 
herausnehmen,  diese  einfachen,  strengen  Begriffe  durch 
die  Ideologie  von  Recht  und  Unrecht,  von  gerechtem 
und  ungerechtem  Krieg  ersetzen  zu  wollen.  Es  ist  das 
ein  Trugschluß,  ganz  ähnlich  dem  vielverspotteten  der 
scholastischen  Wirtschaftslehrer,  die  sich  vermaßen  von 
vornherein,  außerhalb  des  Wettbewerbes  und  des  Mark- 
tes das  iustum  pretium,  den  angemessenen  Kaufwert 
festzusetzen,  den  bloß  Wettbewerb  und  Handel  be- 
stimmen. Wäre  es  möglich,  von  vornherein  Recht  und 
Unrecht  festzustellen,  von  vornherein  die  Ordnung  zu 
finden,  der  die  Völker  von  Fall  zu  Fall  sich  fügen 
müßten,  um  das  Werk  der  Zivilisation  zu  erfüllen,  so 
verhandelten  noch  heute  Rom  und  Karthago  um  ihre 
wechselseitigen  Rechte:  ja  die  Römer  müßten  noch 
immer  um  ihre  Grenzen  und  ihr  gegenseitiges  Vor- 
gehen mit  den  Sabinern,  den  Fidenaten  und  Vejentern 
im  Streite  liegen ! 


lOO 


DEUTSCHER  FREIMUT  {Februar  igi6).  -  Die 
deutschen  Theoretiker  haben,  die  ÜberUeferung  der 
itaHenischen  PoHtiker  aufnehmend  (kaum  unterbrochen 
im  achtzehnten  Jahrhundert  von  der  „exotischen"  fran- 
zösischen Schule  der  Enzyklopädisten),  die  Lehre  vom 
Staat  als  Macht  in  ihren  logischen  Folgerungen  zur 
Geltung  gebracht,  und  man  kann  sie  sicherlich  jedes 
andern  zeihen,  nur  nicht  der  Gleisnerei.  Ich  v^^ill  da- 
von eine  neue  Probe  geben,  anläßlich  eines  geschicht- 
lichen Ereignisses,  an  das  in  diesem  Kriege  des  öftern 
erinnert  v^orden  ist,  der  Verletzung  der  dänischen  Neu- 
tralität durch  England  im  Jahre  1807,  v^ährend  des 
Kampfes  mit  Napoleon.  In  englischen  Zeitschriften 
konnte  man  unlängst  lesen,  daß  die  Engländer  noch 
jetzt  das  damals  von  ihnen  gegen  das  Völkerrecht  be- 
gangene Verbrechen  beklagten :  es  sind  das  Tränen,  die 
vor  allen  andern  mit  dem  Namen  des  heiligen  Nilbew^oh- 
ners  bedacht  zu  w^erden  verdienen,  denn  die  Engländer 
haben  von  jenem  Verbrechen  Vorteil  gezogen  und  ge- 
nießen ihn  noch  heute.  Wohl  aber  haben  ihnen  die 
deutschen  Historiker  schon  die  Taschentücher  geliefert, 
um  ihre  strömenden  Zähren  zu  trocknen,  und  jenen 
Zw^ischenfall  der  englischen  Geschichte  dargelegt,  ohne 
ihn  zu  verurteilen,  ja  sogar  seine  Rechtfertigung  ge- 
geben. „England  hatte  auf  die  Tilsiter  Friedensanträge 
(wird  in  einem  in  den  Schulen  Deutschlands  w^eitver- 
breiteten  Handbuch,  der  Geschichte  der  Neuzeit  von 
Schäfer,  gesagt)  eine  Antw^ort  gegeben,  die  an  Deutlich- 
keit nichts  zu  v\rünschen  übrig  ließ.  In  den  Tagen  vom 
2.  bis  5. September  1 807  hatten,  da  Dänemark  ein  Bündnis 
verv^eigerte,  seine  vereinigten  Land-  und  Seestreitkräfte 
Kopenhagen  bezw^ungen,  die  ansehnliche  dänische  Flotte 
mit  allem  Zubehör  genommen  und  hinw^eggeführt.  Es 


lOI 


\ 


war  eine  Tat,  die  oft  genug  als  brutaler  Bruch  des  Völker- 
rechts gebrandmarkt  worden  ist  und  das  auch  verdient. 
Aber  sie  war  doch  eine  richtige  Antwort  auf  die  Tilsiter 
Friedensheuchelei.  Dänemark  hatte  sich  nicht  unähn- 
lich den  preußischen  Hoffnungen  in  Neutralitätsträumen 
gewiegt,  es  war,  wenn  es  Partei  nahm,  je  nachdem,  zu 
Land  oder  zur  See,  Gefahren  ausgesetzt,  und  in  der  Neu- 
tralitätsstellung blühte  die  dänisch-norwegische  Schiff- 
fahrt erfreulich  empor.  Es  hatte  nicht  erkannt,  daf3 
diese  Stellung  unhaltbar  geworden,  seitdem  Napoleon 
Danzig,  Stettin  und  Stralsund  beherrschte  und  den  Zaren 
seinen  Freund  nannte.  Konnte  England  ruhig  zusehen, 
daß  auch  der  Sund  mit  Dänemarks  wertvoller  Flotte  in 
Frankreichs  Hände  falle  und  ihm  die  Ostsee,  der  Weg 
zu  den  V^orratskammern  seines  Schiffbau-  und  Getreide- 
bedarfs geschlossen  werde.?  Das  eingeschlagene  Ver- 
fahren lag  in  den  Grenzen  der  Gepflogenheiten,  zu  denen 
England  mehr  als  einmal  seine  Zuflucht  genommen 
hat,  wenn  es  glaubte,  Lebensinteressen  verteidigen  zu 
müssen;  am  wenigsten  hatte  aber  ein  Napoleon,  der 
geniale  Meister  der  Gewalttätigkeit,  recht,  Klage  zu 
erheben.  Seine  Scharen  standen  bereit,  das  auszuführen, 
worin  England  ihm  zuvorkam."  Es  bestätigt  dies,  was 
ich  ein  andermal  ausgesprochen  habe:  daß  die  in 
Deutschland  vertretene  politische  Lehre  ausgesprochen 
wissenschaftlicher  Natur  ist;  nicht  zugunsten  Deutsch- 
lands allein  ersonnen,  sondern  zu  jedes  beliebigen  andern 
Staates  in  Vergangenheit,  Gegenwart  und  Zukunft. 
Alles  dreht  sich  darum,  daß  man  die  Fähigkeit  besitze, 
daraus  Vorteil  zu  ziehen,  das  heißt,  aus  der  Wahrheit 
Vorteil  zu  ziehen. 


I02 


SITTLICHER  TIEFSTAND  DER  LEHRE 
VOM  STAAT  ALS  RECHT  {Fe^ruari9i6).-Nicht 
das  gleiche  könnte  ich  von  der  seraphischen  Lehre  vom 
Staat  als  Recht  sagen,  mag  sie  auch  in  einem  verführe- 
rischen Licht  erscheinen,  gerade  darum  aber  'auch  als 
ein  tückischer  Spiegel  von  Vogelstellern ;  sie  dient  (und 
hat  immer  gedient),  um  die  besondern  Ziele  der  Einzel- 
wesen und  der  Staaten  zu  verdecken,  v^ährend  man  sich 
über  die  andern  hinwegsetzt,  die  man,  bevor  man  sie 
mit  der  Tat  vergewaltigt,  mit  einer  trugvollen  und  un- 
billigen Anrufung  der  Gerechtigkeit  zu  verwirren,  in 
Verruf  zu  bringen  und  zu  schwächen  sucht.  Auch  da- 
für will  ich  ein  Beispiel  anführen,  aus  jener  französischen 
Rundschau,  dem  Mercure  de  France^  geschöpft,  aus  dem 
ich  in  den  letzten  Nummern  einige  Worte  des  Beifalls 
und  der  Unterstützung  meiner  Äußerung  in  der  Cri- 
tica  angeführt  habe.  Allein  wie  steht  die  Sache  nun? 
Seit  einigen  Heften  hat  der  Mercure  einen  andern  Ton 
angeschlagen,  die  italienischen  Zeitberichte  unterdrückt, 
aufgehört  an  der  Lehre  von  der  Macht  etwas  Gutes  zu 
finden  und  die  Ungereimtheiten,  die  über  die  deutsche 
Wissenschaft  umlaufen,  zu  tadeln;  er  läßt  vielmehr  jetzt 
die  Lehre  vom  Staat  als  Recht  in  stolzer  Einsamkeit 
aufleuchten,  und  siehe,  da  stellt  sich  auch  sofort  die  An- 
wendung dieser  geheiligten  Lehre  ein,  natürlich  nicht 
auf  Kosten  Frankreichs,  sondern  Italiens:  „Wenden  wir 
den  Grundsatz  der  Völkerbefragung  an,  wie  wir  es  tun 
müssen,  denn  er  ist  der  Untergrund  unseres  sitt- 
lichen Seins,  so  müßte  Italien  sich  jeder  Einverlei- 
bung enthalten:  selbst  in  Triest  und  Fiume  hat  der 
italienische  Bestandteil  kaum  die  Mehrheit  .  .  .  Aber 
unsere  lateinische  Schwester  hat  auch  ihrerseits  ihre  ge- 
schichtlichen Erinnerungen,  deren  Gewicht  sie  vorwärts 

103 


treibt,  und  sie  möchte  das  alte  Gebiet  der  Republik 
Venedig  erwerben :  sie  möchte  sogar  endgültig  Valona, 
am  Eingang  des  Kanals  von  Otranto,  besetzen,  obwohl 
es  ihr  niemals  gehört  hat  .  .  .  Lassen  wir  nicht  alle 
Hoffnung  fallen,  daß  sie  sich  mäßigen  und  die 
Rechte  der  andern  berücksichtigen  werde  .  .  ." 
{Mer eure  de  France^  i.  Jänner  191 6,  S.  164/5.)  Das  sind 
also  die  Folgen,  wenn  man  die  Politik  nach  Art  der 
Lehrbücher  für  die  Unterklassen  auffaßt  und  die  Staaten 
wie  ebenso  viele  Häuschen  oder  Fritzchen  behandelt, 
denen  man  ihr  Abendsüpplein  gibt  und  sie  zu  Bett 
schickt! 

Ist  nun  diese  ölige  Lehre  vom  Staat  als  Recht  kein 
hinterlistiges  Werkzeug  für  die  eigenen  Ziele,  was  ist 
sie  dann?  Nichts  anderes  als  ein  geschwätziger  Trost 
für  den  Schwachen  und  Besiegten.  „Es  liegt  etwas 
Erniedrigendes,  Sklavenmäßiges  darin,  hartnäckig  zu 
wiederholen,  eine  Sache  müsse  vorhanden  sein,  weil  sie 
gerecht  sei",  schrieb  Maurice  Barres  vor  Jahren  (ich  weiß 
nicht,  was  er  jetzt  schreibt)  in  ^ointn  Amities  fratifaises. 
Ist  sie  aber  nicht  einmal  dies,  —  weder  Klageruf  von 
Besiegten,  noch  Hinterlist  von  Politikern  — ,  ist  sie  reine 
Theorie  ohne  versteckte  Absichten,  läßt  sie  sich  wenig- 
stens dann  für  etwas  Achtungswertes  halten?  Nicht  ein- 
mal dann,  da  sie  vom  wissenschaftlichen  Standpunkt 
aus  immer  eine  Torheit  bleibt. 

WOMIT  SICH  ITALIENISCHE  PROFESSO- 
REN MÜHEN  {Februar  1916).  -  Die  italienischen 
Universitätsprofessoren  haben  sich  in  vielen  Bemühun- 
gen, die  den  Zwecken  des  Krieges  dienen  sollten,  ver- 
sucht; nach  meinem  bescheidenen  Dafürhalten  hätten 
sie  sich  diese  ersparen  können.  Hier  einiges  davon. 

104 


Eine  Gruppe  von  Professoren  hat  ihren  Kollegen 
vorgeschlagen,  eine  Vereinigung  zu  bilden  „zum  geist- 
lichen Beistand  der  Nation" ;  und  ich  glaube,  daß  dieser 
Vorschlag  irgendwie  in  die  Tat  umgesetzt  v^orden  ist, 
das  heißt,  daß  ein  Verein  (mit  Vorsitzendem,  Stellver- 
treter und  Schriftführer)  ins  Leben  trat,  von  dessen 
Wirksamkeit  freilich  noch  niemand  etwas  gehört  hat. 
In  der  Tat  ist  der  Gedanke  „den  Seelen  beizustehen" 
ein  Priestergedanke;  er  stößt  nur  auf  die  nicht  geringe 
Schwierigkeit,  daß,  wer  das  Bedürfnis  nach  einem  sol- 
chen Beistand  fühlt,  sich  lieber  gleich  an  den  Priester 
selbst  wendet,  dessen  Gestalt  ihm  von  Kindheit  auf  in 
solchem  Amte  vertraut  ist.  Mit  einem  Professor  am 
Kopfkissen  zu  sterben,  der  einem  seine  Gedanken  ins 
Ohr  flüstert  —  nein,  das  lieber  doch  nicht! 

Andere  haben  sich  darauf  geeinigt,  in  ihren  Antritts- 
reden zum  akademischen  Jahr  oder  zu  ihrem  Sonder- 
kurs die  dauernde  Zivilisation  der  Romanen  gegenüber 
der  dauernden  Barbarei  der  Germanen  zu  verherrlichen. 
Da  aber  dieses  Unternehmen  unsinnig  ist,  so  ist's  kein 
Wunder,  daß  die  für  diesen  Zweck  aufgesetzten  Reden 
mit  verkehrten  Darlegungen,  entstellten  Angaben,  häufig 
auch  mit  sehr  ergötzlichen  Schnitzern  gespickt  sind. 
Man  stelle  sich  vor,  daß  ich  selbst  in  einer  der  besten 
solcher  Art,  herrührend  von  einem  gelehrten  Mann  mit 
vornehmem  Empfinden,  dieses  wundersame  Gesetzlein 
gefunden  habe:  „Lange  bevor  die  Deutschen  von  Kant 
gelernt  hatten,  die  Lehren  der  reinen  Vernunft  mit 
der  praktischen  Vernunft  zurechtzumachen,  hatte 
die  Natur  allen  Gewalttätern  Lügen,  Trugschlüsse 
und  Vorwände  gelehrt,  um  wenigstens  in  ihren  Augen 
alle  Arten  von  Schurkenstreichen  zu  entschuldigen." 
(Eröffriungsrede  des  Prof.  Patetta  zum  akademischen 

105 


Jahr   an   der   Univ.   Turin,   in   der  Riforma  Sociale, 
XXXI,  845.) 

Andere  richten  wieder  ihre  Polemik  im  besondern 
gegen  Hegel,  eine  um  so  gefahrlosere  und  heftigere 
Polemik,  da  sie  durch  die  Kenntnis  dessen,  was  kriti- 
siert werden  soll,  keine  Hemmung  erfährt;  gerade  so 
wie  der  ältere  Dumas  behauptete,  die  erste  Bedingung, 
um  ein  Land  gut  zu  beschreiben,  sei  die,  es  niemals  ge- 
,sehen  zu  haben.  —  So  werden  in  einer  andern  Antritts- 
rede Dialektik  und  Idealismus  vernichtet  als  „lügen- 
hafte", „hinterlistige",  „erschreckende",  „abscheuer- 
regende", „unmenschliche"  und  „zynische"  Philo- 
sophie; und  aus  der  Gegenüberstellung  dieser  falschen 
Philosophie  mit  der  wahren  und  dauernden,  derjenigen, 
die  aus  den  erhabenen  Grundsätzen  von  1789  leuchtet, 
ist  „philosophisch  unser  Endsieg  hergeleitet".  In  der 
Nuova  Antologm  (Heft  vom  1 6.  Sept.  1 9 1 5,  S.  224)  habe 
ich  gelesen:  „Nicht  wenige  freie  Geister  des  freien 
Deutschland  erheben  mächtig  ihre  Stimme  gegen  den 
Philosophen  (Hegel),  der  die  Gewaltherrschaft  (!)  durch 
einen  Weisheitsgedanken  wappnete;  allein  diese  hat 
durch  die  hundertjährigen  Auskunftsmittel  der  Be- 
stechung (!)  und  der  Verfolgung  Deutschland  das  Hegel- 
tum  aufgedrängt,  und  hierauf  in  bewußter  Tätigkeit  (!) 
dessen  Ausfuhr  (!),  begleitet  von  Schutzzöllen  (!)  in  alle 
jene  Länder  eingeleitet,  dazu  ausersehen,  das  organisato- 
rische Genie  des  im  Frieden  triumphierenden  Deutsch- 
lands zu  bewundern."  Eine  Gedanken  verfilzung,  von 
der  ich  die  Hände  lassen  will,  nur  daß  ich  aussprechen 
möchte,  daß  die  Hegeische  Philosophie  in  Österreich 
(wo  vielmehr  die  gegensätzliche  Philosophie  Herbarts 
Glück  gemacht  hat)  niemals  Anhänger  hatte  und  daß 
sie  seit  mehr  als  einem  halben  Jahrhundert  einer  ge- 

106 


wissen  Mißachtung  und  Vergessenheit  anheimgefallen 
ist—  der  Alldeutsche  Houston  Chamberlain  ist  ein  großer 
Verächter  Hegels—  so  daß  erst  in  den  allerletzten  Jahren 
dort  wieder  ihr  Studium  in  Aufnahme  gekommen  ist, 
ganz  besonders  als  Widerhall  der  Arbeiten  eini- 
ger italienischer  und  englischer  Forscher! 

Wieder  andere  erheben  den  Kampfruf  für  die  Be- 
freiung des  italienischen  Denkens  vom  deutschen  Joch. 
Nur  schade,  daß  sie  fast  alle  bis  zum  Tag  des  Kriegs- 
ausbruches zu  den  sklavischesten  Anhängern  der  deut- 
schen Forschung  gezählt  haben:  so  sehr,  daß  ich  von 
einem  unter  ihnen,  der  jetzt  am  meisten  um  sich  schlägt, 
in  meiner  Bücherei  ein  vor  Jahren  in  Neapel  gedrucktes 
Werkchen  besitze,  über  den  Einfluß  Dantes  (wohl- 
gemerkt Dantes!)  in  Spanien  (wohlgemerkt  in  Spanien !) 
auf  deutsch  geschrieben,  und  in  dem  sogar  die  höchst 
neapolitanische  Offizin  des  Universitätsdruckers  —  sie 
stellt  meine  Geduld  gewöhnlich  durch  ihre  elenden  Ab- 
züge auf  die  härteste  Probe  —  deutsch  vermummt  ist: 
Neapel.  A.  Tessitore  und  Sohn.  Druckerei  der  K.  Uni- 
versität! Knechtsinn  gegenüber  der  Mode  von  damals, 
Knechtsinn  gegenüber  der  Mode  von  heute;  die  Rech- 
nung stimmt  genau.  Wer  aber,  gleich  mir,  damals  nicht 
knechtisch  gesinnt  war,  wird,  dank  einer  geistigen  Un- 
abhängigkeit, jetzt  dazu  veranlaßt,  die  deutsche  For- 
schung in  Schutz  zu  nehmen.  Und  auch  da  geht  die 
Rechnung  glatt  auf. 

Noch  andere  wollen  dazu  beitragen,  einen  „intellek- 
tuellen" Bund  zwischen  Italien  und  Frankreich,  wohl 
auch  mit  England  zu  stiften,  als  wenn  die  Männer, 
die  auf  dem  Felde  des  Gedankens  und  der  Wissen- 
schaft tätig  sind,  sich  jemals  durch  geschicktes  Reden 
von  Handlungsreisenden  für  diesen  oder  jenen  Erzeuger 

107 


gewinnen  ließen  (etwas,  das  dank  dem  Wettbewerb 
zwischen  den  Erzeugern  und  dem  Eifer  der  feindlichen 
Handelsangestellten  nicht  einmal  auf  wirtschaftlichem 
Felde  gelingt)  und  nicht  vielmehr  ihre  geistigen  Hilfen 
frei  dort  suchten,  wo  sie  wissen,  daß  sie  zu  finden  sind, 
in  Deutschland  ebenso  gut  wie  in  Frankreich,  im 
Morgenland  wie  im  Abendland;  für  die  Alltance  de  la 
culture  latine  hat  sogar  Herr  Charles  Benoist  in  der 
Nuova  Antologia  (V.  Heft,  i6.  Dez.  191 5)  das  Wort 
ergriffen,  der  vor  etwa  zwanzig  Jahren  bei  uns  als  Be- 
leidiger Italiens  einen  Sturm  entfachte.  Jetzt  aber 
macht  er  es  noch  schlimmer;  wenn  er,  zum  Beispiel, 
von  einem  italienischen  Buche  spricht,  das  er  vor  kur- 
zem gelesen  hat,  sagt  er,  der  Verfasser  desselben  zeige 
sich,  nachdem  er  im  analytischen  Teil  (!)  ganz  sich 
prächtig  erwiesen  habe,  plötzlich,  von  der  deutschen  Me- 
thode verführt,  ,,ergriffen  von  der  verderblichen  Sucht, 
ein  riesenhaftes  E)enkmal  zu  errichten ;  er  breche  sich  das 
Genick  an  diesem  Gerüste,  aus  dem  Objektivismus  in 
den  Subjektivismus  taumelnd.  Das  Ergebnis  war,  nach 
Voltaires  Wort,  Metaphysik,  denn  die  Hörer  verstanden 
ebensowenig  mehr  wie  der  Redner  sich  selber".  Herr 
Benoist  hat  keine  Ahnung  davon,  daß  die  italienischen 
Forscher  gerade,  um  dieser  platten  Art  des  Urteilens, 
die  einmal  in  den  französischen  Büchern  herkömmlich 
war,  auszuweichen,  sich  —  der  deutschen  Wissenschaft 
in  die  Arme  geworfen  haben. 

Andere  endlich  haben  einen  kürzern  und  praktischem 
Weg  eingeschlagen,  indem  sie  an  ihren  Fakultäten 
Tagesordnungen  für  die  Entfernung  dieses  oder  jenes 
deutschen  oder  österreichischen  Kollegen  von  seinem 
Lehrstuhl  veranlaßten,  der  seit  vielen  Jahren  ehrenvoll 
zum  Nutzen  der  italienischen  Studierenden  gewirkt 

108 


hatte !  Darüber  will  ich  nun  kein  Wort  verlieren,  denn  so 
sehr  es  mir  vernünftig  erschienen  vv^äre,  vor  dem  Kriege 
die  Abschaffung  der  gesetzlichen  Bestimmungen  zu 
fordern,  die  in  den  ersten  Zeiten  des  geeinigten  Italiens 
die  Berufung  ausländischer  Lehrer  zuließen,  so  w^enig 
großherzig  dünkt  es  mich,  jetzt  diese  Forderung  zu 
erheben,  so  wenig  würdig,  sie  mit  persönlichen  Spitzen 
zu  versehen. 

Ich  will  diese  Aufzählung  nicht  fortsetzen,  und 
werde  dies  vielleicht  ein  andermal  tun,  möchte  jetzt  aber 
nur  im  Vorbeigehen  auf  die  Verzückungen  hinweisen,  in 
die  Professoren  und  Zeitungsschmierer  über  den  „  Stil "  der 
Kriegsberichte  des  Generals  Cadorna  geraten  sind :  einen 
„starken  neuen  Stil"  [forte  stilnuovd),  wie  gesagt  worden 
ist,  (man  sehe  daraufhin  einen  Aufsatz  imFanfulia  dellado- 
menica  von  dem  früher  erwähnten  Verfasser  von  „  Tessi- 
/'or^i^W*S'(9>^/?"),  bestimmt,  dem  neuen  Zeitalter  des  italie- 
nischen Schrifttums  sein  Gepräge  zu  geben.  Ich  lasse  die 
Nachforschung  nach  dem  Urheber  oder  den  Urhebern 
der  Prosa  jener  Kriegsberichte  —  sie  würde  vielleicht  für 
Italien  die  Enthüllung  nicht  eines,  sondern  mehrerer 
„Stilkünstler"  bringen  —  bei  Seite ;  ebenso  die  Bemer- 
kung, daß  die  einfache  und  gedrängte  Schreibart  allen 
Geschäfts-  und  Tatmenschen  eigen  ist,  und  man  mit 
demselben  Recht  die  neue  Literatur  von  den  Tele- 
grammen, die  die  Großunternehmer  untereinander  aus- 
tauschen, erwarten  könnte:  Was  zeugt  aber  mehr  von 
schwächlichem  Literatentum,  von  literarischer  Ange- 
faultheit,  als  den  „Stil"  von  Urkunden  zu  bewundern, 
die  jedes  italienische  Herz,  angstvoll  „Tatsachen" 
suchend,  liest,  ohne  auch  nur  zu  bemerken,  ob  sie  „Stil" 
haben? 


109 


WOMIT  SICH  DEUTSCHE  PROFESSOREN 
MÜHEN  {Februar  igi6).  —  Sündigen  die  italienischen 
Professoren  in  solcher  und  anderer  Weise,  tun  dies  nicht 
ebenso  sehr  auch  die  deutschen?  und  hat  man  nicht 
manchen  Hinweis  darauf  in  den  Zeitungen  gefunden, 
die  beispielsweise  die  Urteile  und  die  Lehren  der  Pro- 
fessoren Kohler  und  Sombart  und  Herrn  Houston 
Chamberlains  brachten  ?  Warum  also  (wird  man  sagen) 
richtest  du  nicht  gegen  sie  etwas  von  dem  Tadel,  mit 
dem  du  den  unsern  gegenüber  so  freigebig  bist  ?  —  Vor 
allem,  weil  nach  Italien  jetzt  keine  deutschen  Bücher, 
Zeitschriften  und  Tagesblätter  gelangen;  und  man  kann 
nicht  wohl  etwas  bemängeln,  dessen  genauen  Wortlaut 
man  nicht  vor  Augen  hat ;  sodaß  ein  derartiges  Unter- 
nehmen notwendig  auf  die  Zeit  nach  dem  Kriege  verscho- 
ben werden  muß,  wo  dann  jeder  von  uns,  dem  die  Sorge 
um  die  Wissenschaft  und  Wahrheit  obliegt,  berufen 
sein  wird,  über  den  Gebrauch,  den  er  von  dieser  Sen- 
dung gemacht  hat,  Rechenschaft  abzulegen ;  und  viele, 
Deutsche  wie  Italiener,  werden  dann  über  das  von  ihnen 
Geschriebene  erröten  müssen,  als  auf  offenkundigem 
bösem  Willen,  Lüge  oder  Verdrehung  ertappt;  die 
Deutschen  noch  mehr  als  die  Italiener,  denn  wer  kennt- 
nisreicher ist,  hat  auch  mehr  Verantwortung  zu  tragen. 
Freilich  werden  wir  dann,  für  die  Deutschen  nicht 
weniger  als  für  die  Italiener,  mildernde  Umstände  gel- 
tend machen ;  wir  werden  gegen  den  früher  erwähnten 
Herrn  Houston  Chamberlain  nicht  allzu  streng  ver- 
fahren, der  trotz  des  Rufes,  den  er  sich  auch  in  Italien 
mit  seinem  dickleibigen  Werk:  Eiinleitung  in  die  Ge- 
schichte des  neunzehnten  Jahrhunderts  erworben  hat, 
trotzdem  nur  ein  schwacher  Kopf,  ein  Dilettant 
schlimmster  Gattung,  bar  allen  Sinnes  für  Wahrheit 


ist;  wir  werden  Leute  verstehen  wie  Sombart,  einen 
Wirtschaftslehrer,  der  nicht  ohne  Verdienst  ist,  der  aber 
schon  in  seinen  Werken  über  die  Entwicklung  des 
Kapitalismus  und  über  das  Judentum  die  Neigung  ge- 
zeigt hat,  mit  abstrakten  Bestandteilen  zu  theoretisieren, 
in  einem  einzigen  Ton  zu  malen,  und  fortgefahren 
ist,  England  und  seine  Geschichte  in  gleicher  Weise 
darzustellen ;  was  Kohler  anbelangt,  so  werden  wir  uns 
erinnern,  daß  dieser  vielseitige  Philosoph,  Rechtslehrer, 
Historiker,  Dichter,  Übersetzer,  stets  auch  in  Deutsch- 
land selbst  trotz  einer  gewissen  ihm  eignenden  Leb- 
haftigkeit und  geistigen  Behendigkeit  für  einen  großen 
Wortmacher  und  Leichtfuß  angesehen  worden  ist,  und 
daß  auch  dort  viele  über  seine  Verteidigung  der  welt- 
lichen Macht  und  der  Autorität  des  Papsttums  als 
etwas,  das  ausschließlich  den  lateinischen  Völkern  zu- 
komme und  was  Deutschland  zum  Nutzen  dieser  ewig 
Minderjährigen  unterstützen  müßte,  gelächelt  haben 
werden.  Alles  in  allem :  Was  gehen  mich  gegenwärtig 
die  Ungereimtheiten  an,  die  die  Herren  Professoren 
in  Deutschland  drucken  lassen  ?  Ich  wollte,  sie  sagten 
zu  ihrer  Schande  und  zu  ihrem  Schaden  deren  noch 
viel  mehr;  wollte  aber  auch,  daß  viel  weniger  von 
solchen  Sachen  in  meinem  Vaterlande  laut  würde,  das 
mich  im  Gegensatz  dazu  sehr  viel  angeht. 

EINE  FALSCHE  ANEKDOTE  {CriticaXIKMai 
igi6).  Ich  kann  der  Versuchung  nicht  widerstehen, 
noch  ein  Blümlein  aus  einer  akademischen  Eröffnungs- 
rede zu  pflücken,  in  der  Art  derjenigen,  von  denen  öfters 
die  Rede  war.  Dort  lese  ich:  „Als  Georg  Hegel  voll 
tiefen  Nachdenkens  in  seinem  Hause  saß,  und  um  ihn 
die  Kanonen  von  Jena  erdröhnten,  zerschlug  ein  Granat- 

ili 


Splitter  die  Fenster  seines  Zimmers.  Da  rief  der  Philo- 
soph, unbekannt  mit  dem,  was  sich  außerhalb  des 
Kreises  seiner  Mauern  und  seiner  Gedanken  zutrug, 
seine  Haushälterin  und  befrug  sie  über  jene  lästigen 
Geräusche  der  Außenwelt.  Als  er  aber  von  Napoleon, 
von  der  Schlacht,  von  den  besiegten  Preußen,  vom 
Wüten  des  Todes  sprechen  hörte,  versetzte  er:  —  Das 
alles  geht  mich  nichts  an.  Mache  Ordnung,  damit  ich 
in  Ruhe  weiter  arbeiten  kann."  (P.  Savj  Lopez, 
Neulateiner  und  Germanen^  EröfFnungsvorlesungen  der 
Universität  Pavia,  in  der  Nuova  Anto/ogia,  i6.  Jänner, 
S.  257).  Ist  das  nicht  geistreich.?  Freilich  von  etwas 
seichtem  Geist,  obwohl  der  herkömmlichen  Feinheit 
akademischer  Hörsäle  nicht  unangemessen.  Nur  ist 
diese  Anekdote  nicht,  wie  der  Vortragende  sagt :  mehr 
oder  weniger  geschichthch;  sie  ist  geradezu  falsch;  falsch 
als  Tatsache,  falsch  als  Sinnbild.  Als  Tatsache,  weil  Hegel 
die  letzten  Seiten  seiner  Phänomenologie  in  der  „der 
Schlacht  bei  Jena  vorangehenden  Nacht"  vollendet  hat, 
wie  er  selbst  in  einem  Briefe  des  folgenden  Jahres  sagt,  in 
dem  er  sich  wegen  der  „  Vnform^'-  dieser  letzten  Seiten  ent- 
schuldigt: es  ist  das  eine  Einzelheit,  die  zu  dem  ab- 
gebrauchten Bilde  über  die  „beim  Donner  der  Kanonen 
von  Jena"  geschriebene  Phänomenologie  Anlaß  gegeben 
hat  und  die  auf  Umwegen,  die  nicht  erforscht  zu  wer- 
den brauchen,  jetzt  seltsam  verunstaltet  in  der  von  dem 
italienischen  Redner  erzählten  Anekdote  wieder- 
erscheint ;  Gott  weiß  aus  welcher  Quelle  er  sie  geschöpft 
hat.  Den  folgenden  Tag,  während  der  Schlacht,  steckte 
Hegel  seine  Niederschrift  aus  Furcht  vor'  Plünderung 
oder  Brand  seines  Hauses  in  die  Rocktasche,  irrte  in  Jena 
umher,  und  suchte  eine  Woche  hindurch  zu  erfahren, 
was  aus  seinen  Freunden  in   Stadt  und  Umgebung, 

112 


darunter  auch  Goethe,  geworden  wäre.  Der  Redner 
wird  sagen,  daß  er,  was  ihn  anbelange,  mit  seinem 
pochenden  Herzen  nicht  imstande  gewesen  wäre,  unter 
solchen  Bedingungen  die  Phänomenologie  zu  vollenden ; 
ich  bin  bereit,  ihm  einzuräumen,  daß  er  weder  damals 
noch  jetzt  imstande  gewesen  wäre,  nicht  nur  sie  nicht 
zu  vollenden,  sondern  überhaupt  anzufangen.  Wie  dem 
auch  sei,  es  ist  bekannt  genug,  daß  es  ein  Glück  ist, 
hat  man  in  den  größten  Aufregungen,  in  den  stärksten 
Schmerzen  eine  begonnene  Arbeit  in  Händen,  die  uns 
dadurch,  daß  sie  uns  in  ihre  Gedankenbahnen  einspinnt 
und  mit  sich  fortreißt,  Zeit  und  Sorgen  überwinden 
hilft.  Falsch  ist  ferner  jene  Anekdote,  wie  ich  schon 
sagte,  auch  als  Sinnbild,  denn  Hegel  war  niemals  ein 
von  der  Welt  abgeschiedener  Denker,  gleichgültig 
gegen  ihre  Angelegenheiten,  nie  ein  Mystiker  oder  ein 
Buddhist,  vielmehr  ausgeprägt  „politisch",  nicht  bloß 
in  der  Grundrichtung  seiner  Philosophie  (die  damit  den 
geraden  Gegensatz  zu  Schopenhauer  bildet),  sondern 
auch  in  seiner  besonderen  Tätigkeit  als  Schriftsteller  und 
Publizist;  schon  1 798  —  um  von  anderem  zu  schweigen— 
hatte  er  über  die  Reform  der  Verfassung  Württem- 
bergs (seiner  •  Heimat)  sich  vernehmen  lassen,  und 
zwischen  1801  und  1803  eine  bewundernswerte  Zer- 
gliederung der  Umstände,  die  Deutschlands  politische 
Ohnmacht  herbeiführten,  gegeben;  er  war  endlich 
Tagesschriftsteller,  hat  bis  in  seine  letzten  Lebens- 
tage über  die  politischen  Aufgaben  seiner  Zeit  nach- 
gedacht und  kräftig  an  der  preußischen  Politik  der 
Restaurationszeit  mitgewirkt.  Allein  unser  Redner 
bedient  sich  des  albernen  von  ihmerzählten  Märchens, 
um  bis  zu  mir  herabzusteigen:  zu  „einem  unserer  Philo- 
sophen . . .  der  etwas  ähnliches  wiederholt  hat,  als  er 

8    Croce,  Raiidb<!ii>erkuagea  eines  Philosophen  11^ 


die  italienischen  Forscher  ermahnte,  während  des  Krie- 
ges, als  gäbe  es  keinen  Krieg,  die  gewohnte  methodische 
Arbeit  fortzusetzen,  und  sich  vor  dem  bürgerlichen 
Fieber  zu  hüten,  das  deren  Klarheit  trüben  könnte. 
Allein  wie  viele  unter  uns  werden  sich  bereit  finden, 
dieser  Stimme  zu  folgen,  die  aus  dem  eisigen  Himmel 
geistiger  Abstraktion  zu  tönen  scheint,  fremd  jeder 
Lebenswärme?"  Hieraus  erhellt,  daß  der  Redner  mehr 
„Lebenswärme"  als  ich  zu  haben  glaubt  —  darüber 
mag  er  denken  wie  er  will  — ,  aber  auch  daß  er  von  den 
Dünsten  seiner  sprühenden  Glut  umnebelt,  meine 
Worte  nicht  verstanden  hat;  denn  diese  waren  keines- 
wegs eine  Aufforderung  an  die  Forscher,  sich  den  Bürger- 
pflichten zu  entziehen,  vielmehr  ein  Ansporn,  nicht 
müßig  zu  gehen,  die  Zeit  nicht  mit  leeren  und  wenig 
würdigen  Dingen  zu  vertun,  wie  es  gerade  der  Miß- 
brauch der  Wissenschaft  zu  Kampfzwecken  ist.  Man 
lasse  sich  als  Soldat  einreihen,  als  Krankenwärter  ver- 
wenden, trage  zum  Hilfswerk  für  die  Familien  der 
Kämpfer  bei,  oder  zu  ähnlichem,  je  nach  Anlage  und 
Möglichkeiten:  das  sind  alles  sehr  löbliche  Dinge; 
allein  man  rechne  nicht  zu  seinen  bürgerlichen  Pflich- 
ten, alltäglich  den  Schülern  und  Lesern  Abgeschmackt- 
heiten vorzusetzen  und  dem  Volk  zu  verkünden,  daß 
man  seine  gewohnte  Beschäftigung  aufgegeben  habe 
und  j  etzt  fromm  gesammelt  dastehe,  um  für  das  Vaterland 
zu  bangen,  darauf  bedacht,  seine  lebhaften  Kümmernisse 
den  trägen  Gemütern  der  andern  einzuflößen.  Das  nützt 
nichts  und  niemandem ;  unser  Volk  ist  ruhig  und  ent- 
schlossen und  hat  kein  Bedürfnis  nach  Reizmitteln; 
im  Gegenteil,  dieses  beflissene  Darreichen  nicht  ver- 
langter Reizmittel  ist  vielmehr  geeignet,  Mißtrauen 
und  Verdacht  zu  erwecken. 

114 


GRENZEN  DER  LEHRE  VOM  STAAT  ALS 
MACHT  [Mai  igi6).  —  Bevor  ich  zu  andern  Erwä- 
gungen übergehe,  möchte  ich  noch  die  Lehre  vom 
Staat  als  Macht  mit  ein  paar  guten  Hammerschlägen 
befestigen.  „Lasse  ich  eine  so  schöne  Gelegenheit  vor- 
beigehen (sagt  Renzo  von  der  Pest  in  Mailand),  so 
bietet  sich  mir  nicht  mehr  eine  zv^eite  der  Art!"  Nüt- 
zen wir  diesen  harten  Krieg  nicht,  um  uns  von  den 
abstrakt-humanitären  Vorurteilen  zu  befreien  und  die 
wahre  Lehre  vom  Staat  uns  zu  eigen  zu  machen,  wann 
wollen  wir  klug  werden?  Es  scheint  mir  aus  den  vor- 
ausgegangenen Darlegungen  klar  hervorzugehen,  daß 
die  Politik  gleich  der  Wirtschaftslehre  ihre  eigenen, 
von  der  Sittlichkeit  unabhängigen  Gesetze  hat:  und 
daß  nicht  sowohl  der  sittlich  handelt,  der  sich  vergebens 
gegen  sie  auflehnt,  als  derjenige,  der  sie  der  sittlichen 
Pflicht  unfcirordnend  annimmt,  beispielsweise  für  sein 
Vaterland  kämpft :  rig/it  or  wrong,  it  is  my  country.  Dies 
—  im  Vorbeigehen  gesagt  —  bringt  eine  tiefgehende 
Richtigstellung  von  Hegels  Lehre  mit  sich,  der  noch  den 
Staat  und  den  Kampf  um  den  Staat  als  der  Sittlichkeit 
„übergeordnet"  auffaßte,  während  die  von  mir  ver- 
teidigte Lehre  ihn  sogar  als  „untergeordnet"  auffaßt 
(wenn  auch  mit  seiner  eigenen  Beschaffenheit  begabt, 
die  die  Sittlichkeit  anwenden,  aber  niemals  verzerren 
darf):  eine  Richtigstellung,  die  ich  nicht  erst  heute 
vorschlage  (man  sehe  z.  B.  meinen  Versuch  über  He  gel ^ 
N.  A.  von  191 3,  Anhang  S.  159—162).  Forscht  man 
nun  nach  den  Ursachen,  aus  denen  die  Lehre  vom  Staat 
als  Macht  oder  von  der  Selbstherrlichkeit  der  Politik 
solches  Widerstreben  auszulösen  pflegt,  so  wird  man 
bemerken,  daß  eine  der  stärksten  unter  ihnen  die  Furcht 
ist,  es  möchte,  sobald  die  Politik  von  der  Sittlichkeit 

8*  115 


unabhängig  gemacht  wird,  alles  erlaubt  erscheinen, 
jede  noch  so  scheußliche  Grausamkeit,  jeder  noch  so 
schmähliche  Betrug,  jegliche  Vergewaltigung,  jeglicher 
Verrat.  Aber  wer  hat  jemals  behauptet,  daß  damit 
alles  erlaubt  sei  ?  Gewiß  ist  alles  erlaubt,  was  zum  Siege 
führt,  aber  Sieg  ist  nicht  der  einfache  Augenblicks- 
erfolg, der  wieder  verloren  geht  und  bald,  wenn  er  auf 
üble  Weise  errungen  ist,  sich  rächt,  sondern  schlecht- 
hin der  Sieg:  das  heißt  nicht  ein  einfach  äußerlicher 
und  vergänglicher  Triumph  über  den  Gegner,  sondern 
ein  geistiger  und  dauernder,  ein  Triumph  der  Fähig- 
keit, Klugheit,  Voraussicht,  etwas,  das  dem  eigenen 
Volk  und  ^  der  gesamten  Menschheit  die  Frucht  des 
Kampfes  sichert.  Darum  muß  man  vermeiden,  den 
besiegten  Feind  in  seiner  Ehre  zu  treffen  oder  ihn  all- 
zusehr in  seiner  Selbstachtung  zu  erniedrigen;  daher 
muß  man  trachten,  ihn  in  einer  Lage  zu  belassen,  die 
nicht  unerträglich  ist,  oder  seiner  Tätigkeit  andere 
Wege  weisen;  dafür  sorgen,  internationale  Rechte 
und  Gepflogenheiten  zu  beobachten,  die  Erzeugnisse 
der  Geschichte  sind  und  die,  obwohl  sie  nicht  als  fest- 
stehend und  unbedingt,  ohne  Ausnahme  gültig,  be- 
trachtet werden  können,  dennoch  ihren  großen  Wert 
in  sich  tragen:  wer  gezwungen  ist,  ihn  irgendwie  zu 
verletzen,  spielt  ein  gefährlich  Spiel,  ähnlich  dem 
Arzte,  der  einen  kühnen  Eingriff  wagt  oder  ein  ge- 
waltsames Heilmittel  anwendet,  das  den  Kranken  wohl 
retten,  ihm  aber  auch  später  ein  neues  Übel  zuziehen 
kann ;  das  beweist  der  Eifer,  den  die  Deutschen  an  den 
Tag  legen,  um  die  von  ihnen  vollführten  Gewalttaten  zu 
rechtfertigen,  indem  sie  sie  der  Notwendigkeit  oder  der 
vorbeugenden  Abwehr  gegen  die  Feinde,  die  die  näm- 
lichen Gewalttaten  planten,  zuschr.eiben.  Das,  was  sich 

ii6 


später  ereignet,  die  folgende  Geschichte,  ist  die  wahre 
Richterin  über  die  Einsicht,  mit  der  ein  Staat  um  seine 
Macht  gekämpft  hat,  ohne  die  Grenzen  des  Kampfes 
zu  überschreiten  und  allein  das  erfüllend,  was  wirklich 
und  innerlich  notwendig,  fruchtbar  für  den  Sieg  war: 
jeder  erinnert  sich,  wie  einem  Napoleon  die  Ermor- 
dung des  Herzogs  von  Enghien  niemals  vergeben 
wurde,  oder  den  Bourbonen  von  Neapel  der  Bruch  der 
Kapitulationen  und  die  Meineide,  mit  denen  sie  sich 
zwar  den  Sieg  für  den  gegenwärtigen  Augenblick 
sicherten,  zugleich  aber  auch  ihre  eigene  Niederlage 
für  die  nächste  Zukunft  vorbereiteten ;  auch  den  Deut- 
schen werden  die  Gewalttaten  und  Grausamkeiten,  deren 
sie  sich  schuldig  gemacht  haben,  nicht  vergessen  wer- 
den, und  sie  werden  sie  irgendwie  sühnen  müssen  (so- 
weit sie  Bestätigung  finden  werden). 

Nur  sind  diese  Hemmungen  und  Grenzen,  die  der 
Staat  als  Macht  empfinden  und  innehalten  muß,  durch- 
aus nicht  etwas,  das  von  außen  kommt  oder  die  Sitt- 
lichkeit ihm  wie  einen  Aufschriftzettel  anheftet ;  es  sind 
Hemmungen  und  Grenzen,  die  er  in  sich  selbst  findet 
und  aus  seiner  eigenen  Beschaffenheit,  aus  seinen  Zie- 
len, seinem  Nutzen  und  sozusagen  aus  seinem  Erhal- 
tungstrieb ableitet.  Der  Mangel  an  Hemmungen  und 
das  Überschreiten  der  Grenzen  wird  in  der  Politik  nicht 
Sünde  oderVerbrechen  genannt,  sondern  „Irrtum"  (nach 
Talleyrands  glücklichem  Ausdruck) :  Irrtümer,  die  in 
diesem  Umkreis  noch  schwerer  wiegen  als  Verbrechen 
und  Sünden.  Deshalb  wird  die  Lehre  von  der  Selbst- 
herrlichkeit der  Staaten,  von  der  Unabhängigkeit  der 
Politik  und  der  Sittenlehre  durch  die  Anerkennung 
ihrer  notwendigen  Grenzen  und  Hemmungen  nicht 
erschüttert,  sondern  bestätigt  und  gefestet.  Genau  so 

117 


wie  es  bei  einer  andern  Unabhängigkeitslehre  zutrifft, 
die  nicht  weniger  als  die  von  der  Politik  angegriffen, 
auch  ihrerseits  immer  noch  von  dem  großen  Haufen 
abgelehnt  wird,  da  auch  sie  den  Furchtsamen  zu  allen 
möglichen  Ängsten  Anlaß  gibt:  die  der  Unabhängig- 
keit der  Kunst  von  der  Sittlichkeit.  Mithin  (sagen 
die  Gottesfürchtigen)  soll  aller  Schmutz,  soll  jede 
Zote  in  der  Kunst  erlaubt  sein?  Gewiß  nicht,  weil 
Schmutz  und  Zoten  eben  keine  Kunst  sind,  und  diese 
nicht  nötig  hat,  sich  bei  der  Sittlichkeit  Rats  zu  erholen, 
um  dergleichen  zurückzuweisen;  es  genügt  ihr,  sich 
von  sich  selbst,  aus  ihrer  eigenen  Natur  heraus  beraten 
zu  lassen,  die  als  reiner  Gefühlsausdruck  und  reine 
Anschauung  nicht  zugleich  Sinnlichkeit  und  Wollust 
sein  kann.  Darum  ist  die  wahre  Kunst,  die  eben 
Kunst,  nicht  Sittlichkeit  ist,  nicht  im  Zwiespalt  mit 
dieser,  ebenso  wie  die  wahre  Politik,  eben  Politik  und 
nicht  Sittlichkeit,  dieser  nicht  widerspricht  und  sehr 
wohl  mit  ihr  verbunden  sein  kann. 

GEGEN  DAS  ACHTZEHNTE  JAHRHUN- 
DERT {Mai  igi6).  Wenn  ich  in  meinem  gewohnten 
Verfahren,  in  den  Geist  der  Gegner  einzudringen  und 
die  Beweggründe  ihrer  Einwürfe  zu  erfassen,  diesmal 
den  dunklen  Punkt,  den  ich  oben  aufhellen  wollte,  ge- 
funden habe,  so  scheint  es  mir  doch  unmöglich,  zu 
leugnen,  daß  der  Grundantrieb,  dem  der  Widerwille 
gegen  die  Lehre  von  der  Selbständigkeit  der  Politik 
(sowie  die  von  der  Selbstherrlichkeit  der  Kunst)  ent- 
springt, immer  noch  aus  der  Geistesverfassung  des  acht- 
zehnten Jahrhunderts  herkommt,  die  noch  zum  großen 
Teile  in  der  Gesellschaft  des  zwanzigsten  Jahrhunderts 
fortlebt  und  künstlich  aufrecht  erhalten  wird,  geradeso 

ii8 


wie  die  katholische  Kirche  die  Geistesverfassung  des 
Mittelalters  oder  vielmehr  der  Zeit  der  Gegenrefor- 
mation festhält.  Es  ist  schvs^ierig,  diese  veraltete  Gei- 
stesverfassung durch  Aufhellung  einzelner  Begriffe  zu 
beseitigen,  eben  weil  sie  nicht  in  einzelnen  Irrtümern, 
sondern  in  der  Gesamtheit  einer  geistigen  Erziehung 
und  Richtung  wurzelt.  Der  Anhänger  des  achtzehnten 
Jahrhunderts  in  unserer  Gegenwart  verhält  sich  zu  der 
neuen  historischen  Philosophie  fast  ganz  so,  wie  der 
Anhänger  des  achtzehnten  Jahrhunderts  Abbe  Morellet 
gegenüber  der  neuen  Dichtung  eines  Chateaubriand. 
Man  erinnert  sich  seiner  vielberufenen  Kritik.  Chateau- 
briand hatte  im  Atala  vom  Mond  gesagt:  „.  .  .  Er  hüllt 
die  Wälder  in  jenes  große  schwermütige  Geheimnis, 
das  er  den  alten  Eichen  und  den  ehrwürdigen  Meeres- 
gestaden zu  erzählen  liebt."  Morellet  bemerkte  dazu: 
„Ich  frage,  worin  das  große  schwermütige  Geheimnis 
liegt,  das  der  Mond  den  Eichen  erzählt?  Bekommt 
ein  vernünftiger  Mensch,  wenn  er  diese  gesuchte  und 
gewundene  Redensart  liest,  davon  irgendwelche  klare 
Gedanken?"  Der  Abbe  Morellet  war  nicht  zu  wider- 
legen: um  das  zu  tun,  hätte  man  ihm  den  Kopf  zu- 
rechtsetzen müssen,  den  ihm  der  Konvent  auf  den 
Schultern  belassen  hatte. 

Da  mir  nichts  anderes  zur  Hand  ist,  wende  ich  mich 
für  jetzt  gegen  die  Freimaurerei,  nicht  sowohl,  wie  es 
gewöhnlich  geschieht,  weil  ich  sie  für  eine  gefährliche 
Verbindung  von  Ränkeschmieden  und  Strebern  halte 
(davon  weiß  ich  nichts,  ja  ich  wäre  sogar  bereit,  sie 
mit  Francesco  de  Sanctis,  der  selbst  Freimaurer  war, 
für  eine  einfache  Wohltätigkeitseinrichtung  der  ganzen 
Welt  anzusehen!),  als  weil  gerade  diese  Einrichtung, 
entstanden  am  Schlüsse  des  siebzehnten  Jahrhunderts, 

119 


beim  ersten  Auftauchen  der  verstandesmäßigen  Rich- 
tung, ausgebildet  im  achtzehnten  Jahrhundert,  jetzt  der 
radikalen  Demokratie  dienstbar  gemacht,  vom  kleinen 
Bürgertum  erfüllt,  von  der  Bildung  von  Elementar- 
schullehrern erleuchtet  und  gestärkt  durch  den  ratio- 
nalistischen Vereinfachungsgeist  des  Judentums,  das 
größte  Sammelbecken  der  „Geistigkeit  nach  Art  des 
achtzehnten  Jahrhunderts"  ist,  eines  der  größten  Hin- 
dernisse, das  den  lateinischen  Ländern  im  Wege  steht, 
wenn  sie  sich  zu  wahrem  philosophischem  und  ge- 
schichtlichem Verständnis  der  Wirklichkeit  und  einem 
der  neuen  Zeit  angemessenen  politischen  Leben  auf- 
schwingen wollen.  Vielleicht  ist  es  in  naher  Zukunft 
nicht  mehr  nötig,  sich  darüber  Gedanken  zu  machen : 
der  gegenwärtige  Krieg,  gleichgültig  zu  welchen  inter- 
nationalen Einrichtungen  er  führen  wird,  hat  schon 
den  Sozialismus  gestürzt,  dessen  Tod,  den  Tod  von 
innen  heraus,  der  der  eigentliche  Tod  ist,  schon  vor 
fünf  und  mehr  Jahren  vorausgesagt  wurde  (Croce, 
Kultur  und  sittliches  Leben,  S.  167—179)  und  der  jetzt 
auch  von  außen  her  gestorben  ist  oder  höchstens  noch 
wie  eine  in  ihrem  Schlupfwinkel  verkrochene  Hyäne 
heult,  gierig  danach,  an  Leichen  ihren  Fraß  zu  halten : 
ein  wenig  würdiges  Ende  für  eine  Scliule,  die  einst  da- 
von geträumt  hatte,  die  Proletarier  der  ganzen  Welt 
in  ein  Bündnis  zusammenzuschließen,  sich  der  inter- 
nationalen Politik  als  eines  Überrestes  des  bürgerlichen 
Zeitalters  zu  entledigen  und  das  friedliche  Zusammen- 
leben der  Proletarierklassen  aller  Länder  zu  begründen. 
Hingegen  hat  der  Krieg  gezeigt,  daß  die  zwischen- 
staatlichen Kämpfe  noch  immer  den  Vorrang  über  die 
sozialen  behaupten  und  daß  die  handelnden  Personen 
in  der  Weltgeschichte  die  Völker,  nicht  die  Klassen 

120 


sind.  Er  hat  ferner  die  humanitäre  oder  freimaurerische 
Ideologie  erschüttert,  umgestürzt  und  zu  fast  vollstän- 
digem Verfall  geführt,  da  der  Krieg  (wie  ihre  Anhänger 
seufzen)  bewiesen  hat,  daß  im  Menschen  nicht  der 
seraphische  Logenbruder,  so  wie  sie  ihn  erträumten, 
steckt,  sondern  das  „blutdürstige  Tier" ;  wie  er  ander- 
seits mit  der  Tat  gezeigt  hat,  daß  im  Menschen  noch 
immer  der  Held  steckt,  bereit,  sein  Leben  und  alle 
Wohlfahrt  zu  opfern,  um  eine  Fahne  zu  verteidigen, 
heiße  sie  nun  die  Italiens  oder  Frankreichs,  Deutsch- 
lands oder  Österreichs,  Englands  oder  Rußlands,  bereit, 
sich  aufzuopfern  für  etwas,  das  über  ihm  steht,  und 
zufrieden  mit  dem  Opfer  seiner  selbst,  einen  Gesang, 
einen  Vers,  ein  Wort,  der  größten  aller  Dichtungen 
einzuverleiben,  jener,  die  die  Geschichte  aus  den 
Handlungen  der  Menschen  webt,  bald  harmonisch  zu- 
sammenklingend, bald  sich  infolge  höherer  Harmonien 
entzweiend  und  einander  entgegentretend.  Dies  alles, 
den  Krieg,  diese  religiöse  Hekatombe,  zu  der  das  alte 
Europa  im  Glauben  an  seine  Zukunft  und  auf  seine 
Kindeskinder  blickend,  sich  dargeboten  hat,  dies  —  wie 
es  die  Humanitarier  und  die  Freimaurer  tun  —  einen 
„Überrest  von  Barbarei  und  ein  Überlebsel  blutdür- 
stiger Triebe"  zu  nennen,  ist  ein  Urteil,  das  allein  hin- 
reichen würde,  um  die  unheilbare  Minderwertigkeit, 
Enge  und  Stumpfheit  der  geistigen  Form  des  Frei- 
maurertums  an  den  Tag  zu  bringen. 

GEISTIGE    KRAFT     UND     VOLKSKRAFT 

{Mai  igi6).  —  Diese  Dinge  führen  abermals  zu  der 
Schlußfolgerung,  daß  die  Völker,  die  sich  auf  den 
Schlachtfeldern  besiegen  lassen,  die  nämlichen  sind,  die 
bereits  auf  denen  des  Gedankens  und  der  Kultur  unter- 

121 


legen  sind,  und  daß  darum  die  in  argem  Leichtsinn 
handeln,  die  frohgemut  fortfahren,  veraltete  Begriffe 
und  oberflächliche  Urteile  zu  verbreiten,  unter  dem 
Vorv^and,  den  Krieg  zu  fördern  und  die  Gemüter  für 
ihn  zu  erwärmen,  während  sie  mit  ihrem  verderblichen 
Werk  in  Wahrheit  zur  Niederlage  beitragen  würden, 
wenn  nicht  zum  Glück  die  selbstwilligen  Kräfte  des 
Volkes,  der  nicht  zu  beseitigende  klare  Menschenver- 
stand und  die  Logik  der  Dinge  jener  abgeschmackten 
Zungendrescherei  Widerstand  leisteten  und  sie  eben  als 
hohles  Geschwätz  erscheinen  ließen.  Die  besten  Män- 
ner Frankreichs  haben  nach  1870  alle  geurteilt,  daß 
Frankreich  die  unglücklichen  Ereignisse  jenes  Jahres 
durch  die  Minderwertigkeit  seiner  geistigen  Arbeit 
vorbereitet  habe.  Nun  befinden  wir,  Italiener,  Fran- 
zosen, Engländer,  uns  sicherlich  nicht  in  der  Lage  des 
damaligen  Frankreich;  anderseits  besitzen  wir  so  viel 
an  entwickelter  und  erworbener  geistiger  Lebhaftigkeit, 
daß  wir,  gerade  so  wie  wir  in  aller  Eile  unsere  unge- 
nügende Vorbereitung  für  den  modernen  Krieg  ausgegli- 
chen haben,  mit  derselben  Raschheit  wenigstens  in  dem, 
was  das  Wesentlichste  und  Dringendste  ist,  der  Schwäche 
unserer  Leitgedanken  werden  abhelfen  können.  Denn 
was  man  in  vielen  Jahren  nicht  zu  erlernen  ver- 
mocht hat,  läßt  sich  bisweilen  an  einem  Tage,  durch 
eine  Gemütserschütterung  lernen  (und  wo  gibt  es  eine 
größere  Erschütterung,  als  die  wir  jetzt  an  uns  erleben  ?), 
die  uns  in  die  Lage  setzt,  eine  vorher  verkannte  oder 
dunkle  Wahrheit  in  uns  aufzunehmen. 

LEIDENSCHAFT  UND  WAHRHEIT.  UN- 
ZULÄNGLICHE GRÜNDE  {Mai  1916).  -  Man 
kann  nicht  sagen,  daß  meine  Randbemerkungen  philo- 

122 


sophisch-politischen  Inhalts  unbemerkt  geblieben  sind. 
Sie  haben  vielmehr  eine  stattliche  Anzahl  privater  und 
öffentlicher  Erwiderungen  hervorgerufen,  zum  Teil 
beleidigender  Art  —  wie  billig,  berücksichtige  ich 
diese  nicht  —  zum  Teil  mit  Phantasiegründen  ge- 
stützt und  in  Gemütsbewegungen  gipfelnd.  Nein, 
darum  handelt  es  sich  jetzt  wahrlich  nicht!  Redne- 
rische Hilfen  müssen  jetzt  beiseite  gelassen  werden, 
denn  wir  befinden  uns  in  den  Hallen  der  Wissenschaft, 
so  gut  oder  schlecht  sie  sein  mögen,  ich  habe  logische 
Gründe  zur  Unterstützung  der  dargelegten  Begriffe 
beigebracht ;  und  nur  Gegengründe  logischer  Art  dür- 
fen mithin  herangezogen  werden.  Mit  Phantasiegrün- 
den ist  bekanntlich  jede  Lehre  bekämpft  worden,  die 
gegen  überkommene  geistige  Einstellungen  verstieß; 
von  der  astronomischen  der  Bewegung  der  Erde  um 
die  Sonne  an  (die  der  Augenerfahrung  widersprach) 
bis  zu  der  spekulativen  der  Idealität  der  Außenwelt 
(die  der  Tasterfahrung  entgegentrat). 

Ebensowenig  gelten  die  Zweckmäßigkeits- 
gründe, wie  etwa  die  Gefährlichkeit  gewisser  Lehren 
in  der  Kriegszeit  darzulegen,  weil  sie  die  Leidenschaf- 
ten herabmindern,  die  Kraft  der  Kämpfer  und  des 
ganzen  Volkes,  das  in  seiner  Gesamtheit  kämpft,  läh- 
men könnten.  Ist  eine  Lehre  wahr,  so  kann  sie  keine 
andern  als  gute  Wirkungen  haben,  kann  sie  nur  jeg- 
liches gute  Ding  achten  und  fördern;  es  ist  ein  eitles 
Beginnen,  über  die  Mißverständnisse,  die  sie  bei  an- 
dern herbeiführen  könnte,  zu  faseln,  wie  über  die  üblen 
Wirkungen,  die  sie  zur  Folge  haben  würde,  und  die 
Dummheit  unserer  Nebenmenschen  zur  Voraus- 
setzung zu  nehmen,  weil  man  unter  dieser  Vorausset- 
zung niemals  wüßte,  wie  man  sich  benehmen  sollte: 

123 


jedes  Wort,  ja  das  Schweigen  selbst  kann  „mißver- 
standen" werden. 

Darum  gibt  es  keinen  andern  Weg,  sich  von  einer 
Lehre  freizumachen,  als  den,  sie  als  logisch  verfehlt 
und  deshalb  schädlich  nachzuweisen.  Im  vorliegenden 
Fall  hat  dies  ein  der  Philosophie  Beflissener  versucht, 
indem  er  mir  einwandte,  daß  geradeso  wie  im  wissen- 
schaftlichen Streit  das,  was  den  Streitenden  anfeuert, 
der  Glaube  ist,  er  halte  die  Wahrheit  in  Händen  gegen- 
über dem  vom  Irrtum  verblendeten  Gegner,  dies  auch 
im  politischen  und  nationalen  Kampfe  zutreffe,  in  dem 
der  Kämpfer  sich  für  den  Verteidiger  der  gerechten 
gegen  die  ungerechte  Sache  hält.  Dieser  Einwand 
könnte  —  wie  er  sicherlich  formell  richtig  ist  —  gelten, 
wenn  politische  und  nationale  Kämpfe  wissenschaft- 
lichen Streitigkeiten  vergleichbar  wären ,  oder  aber 
sittlichen  Kämpfen,  zu  denen  uns  lediglich  der  Glaube 
an  die  Wahrheit  und  das  Bewußtsein  des  Rechten 
drängen,  und  in  denen  uns  die  Pflicht  zufällt,  haben 
wir  uns  im  Irrtum  befangen  erkannt,  uns  der  Wahr- 
heit, die  dargelegt  ward,  zu  beugen  und  der  nunmehr 
erwiesenen  Redlichkeit  des  frühern  Gegners  unsere 
Achtung  auszudrücken.  Aber  ich  lasse  nicht  davon 
ab,  auf  folgendem  Punkt  zu  bestehen :  daß  es  notwen- 
dig sei,  auf  der  Hut  zu  sein,  damit  der  Umstand  der 
Verschiedenheit  zwischen  den  einzelnen  geistigen 
Formen  nicht  außer  acht  gelassen  werde:  das  heißt,  in 
unserem  Fall,  sich  klare  Rechenschaft  davon  zu  geben 
und  niemals  aus  den  Augen  zu  verlieren,  daß  die  po- 
litischen Kämpfe,  von  denen  die  Rede  ist,  nicht  wissen- 
schaftliche oder  sittliche,  sondern  eben  politische, 
oder  wie  ich  sie  verallgemeinernd  nenne,  wirtschaft- 
liche Kämpfe  sind. 

1 24 


Nun  liegt  der  Fall  in  der  Tat  so :  in  den  politischen 
und  wirtschaftlichen  Kämpfen  ist  zum  Unterschied 
von  den  sittlichen  und  wissenschaftlichen  kein  anderer 
Glaube  denkbar  als  der  an  die  eigene  Kraft  und  Fähig- 
keit: ein  Glaube,  der  anders  als  bei  diesen  letzten  die 
Achtung,  nicht  die  Mißachtung  von  Seiten  des  Geg- 
ners zuläßt  und  mit  sich  bringt,  namentlich  wenn 
dieser  nicht  ein  schmählicher  Feind  ist  und  unserer 
Kraft  seine  eigene  starke  Kraft  entgegensetzt.  Einem 
jungen  Manne,  der  jetzt  im  Heere  dient  und  mir 
schrieb,  könnte  er  jemals  meiner  Auffassung  gemäß 
denken,  daß  unsere  Gegner  ebenso  im  Recht  wären 
wie  wir,  so  müßte  er  sich  vom  Kampfe  abgehalten 
fühlen,  habe  ich  erwidert,  daß  er  sich  sicherlich  über 
seine  Empfindung  täusche  und  es  ganz  unmöglich  sei, 
daß  er  als  Soldat  es  für  schöner  und  tröstlicher  halte, 
Räubern  und  Verbrechern,  einem  Gesindel,  oder  Hel- 
fern von  Gesindel  gegenüberzustehen,  als  Soldaten 
gleich  ihm  selbst.  Verbrecher  sind,  wie  mir  scheint, 
nicht  der  Ehre  wert,  von  Soldaten  bekämpft  zu  wer- 
den, dafür  sind  Häscher  und  andere  Wächter  der 
öffentlichen  Sicherheit  da.  Man  schreit  so  viel  über 
„Barbarei" ;  wie  kommt  es,  daß  man  nicht  bemerkt, 
wie  Haß,  Verleumdung,  Beleidigung,  Hohn  und  Spott 

fegen  den  Gegner  im  modernen  Krieg  echte  und  rechte 
Jberbleibsel  der  Barbarei  sind,  die  häufig  genug  künst- 
lich hervorgerufen  und  zwischen  Völkern,  die  dieselben 
Götter  verehren,  lebendig  erhalten  werden? 

Den  Phantasie-  und  Zweckmäßigkeitsgründen  haben 
sich  zuweilen  solche  gesellt,  die  ich  die  Ehrfurchts- 
gründe nennen  möchte;  denn  man  hat  mich  ermahnt, 
Männern  gegenüber,  die,  wenn  sie  auch  fälschlich  ur- 
teilen, doch   immerhin  von  Leidenschaften   edelsten 

125 


Ursprunges  beseelt  sind ,  mit  meinen  Ausstellungen  zu- 
rückzuhalten oder  sie  wenigstens  zu  mäßigen.  Gewif3, 
begegnet  es  mir,  daß  ich  Ergüsse  solcher  Art  von  den 
Lippen  Ungebildeter  höre,  so  hüte  ich  mich  wohl, 
meine  Ansichten  hervorzuholen  und  einen  kalten 
Strahl  auf  den  Feuerbrand  von  Liebe  und  Haß  zu 
richten ;  das  wäre  unnütze  Mühe,  ja  in  diesem  Fall 
vielleicht  schädlich,  weil  vorschnell  auf  noch  unreife 
und  unvorbereitete  Gemüter  wirkend.  Maxima  puero 
dehetur  reverentia  —  dem  Kinde  soll  man  Ehrfurcht 
zollen !  Allein,  die  Männer  der  Forschung,  die  Profes- 
soren, an  die  ich  mich  in  dieser  Rundschau  wende, 
sind  nicht  Knaben;  und  mag  sie  auch  die  Leiden- 
schaft verwirren,  so  besitzen  sie  doch  in  sich  selbst  die 
Mittel,  ihren  Geist  zu  klären.  Es  geht  aber  noch  um 
etwas  anderes.  Es  sind  solche  darunter,  denen  ich  nicht 
glaube,  daß  sie  so  verstört  sind,  wie  man  behauptet, 
und  daß  sie,  aus  Liebe  zur  Heimat,  den  Kopf  verloren 
haben :  ich  glaube  vielmehr  (und  dessen  klage  ich  sie 
an),  daß  sie  ihn  vielmehr  recht  sehr  auf  ihren  Schul- 
tern behalten  haben:  den  alten  Kopf,  das  alte  Gehirn 
aus  Friedenszeiten,  mit  der  Neigung,  die  Wahrheit  als 
etwas  zu  behandeln,  das  den  zufälligen  Erfordernissen 
anzupassen  erlaubt  sei.  Es  sind  nun  schon  ein  paar 
Jahrzehnte  her,  daß  ich  in  der  akademischen  Welt 
lebe,  ohne  ihr  anzugehören,  als  eine  Art  „Regiments- 
freund" nach  Scribe;  ich  kenne  hinlänglich  die  Ge- 
wohnheiten dieser  meiner  guten  Freunde,  die  allzu  leicht 
geneigt  sind,  die  Wissenschaft  praktischen  Rücksichten 
unterzuordnen,  Methoden  und  Lehren  zu  rühmen 
oder  zu  verdammen,  je  nach  den  Einflüssen  von 
Machthabern,  der  Kund-  und  Freundschaft,  der  ge- 
werbsmäßigen Zu-  und  Abneigungen  der  Volksgunst. 

126 


Diesen  Neigungen  entsprechend,  meine  ich,  haben  sie 
nicht  allzuviel  Mühe  gehabt,  den  Aufbau  ihrer  Be- 
griffe und  Urteile  mit  einem  Schlage  zu  ändern,  kaum 
daß  die  internationale  Lage  sich  geändert  hatte  und 
der  Krieg  ausgebrochen  war.  Man  kann  also  von  mir 
erv^arten,  daß  ich  gegen  die  Schw^achheiten  von  heute 
Nachsicht  übe  —  und  in  diesen  Randbemerkungen 
suche  ich  es  auch  zu  tun,  indem  ich,  sov^eit  als  mög- 
lich, keine  Namen  nenne  und  persönliche  Angriffe 
vermeide  —  aber  verlangen,  daß  ich  das  aus  Gründen 
der  Achtung  tue,  das  ist  wahrhaftig  zu  viel  verlangt ! 

VOM  VÖLKERRECHT  {Critica  XIV,  Mail 
Sept.  igi6).  —  In  diesen  Kriegsjahren  hat  man  öfter 
vom  „Tod"  oder  „Niederbruch"  des  Völkerrechts  ge- 
hört, zusammen  mit  der  Verteidigung  durch  die  An- 
hänger dieses  Rechts,  die  darzutun  suchten,  daß  die 
vorgefallenen  Verletzungen  keineswegs  seine  Geltung 
aufheben,  höchstens  für  einige  Zeit  sein  weises  und  wohl- 
tätiges Wirken  unterbrechen,  daraufgerichtet,  in  einer 
mehr  oder  weniger  nahen  Zukunft  die  Abschaffung 
der  Kriege  und  die  Einführung  des  ewigen  Friedens 
durchzusetzen.  Beim  Anhören  dieser  Anklagen  und 
Verteidigungen  dachte  ich  bei  mir,  daß  eines  stets 
lebendig  und  ein  anderes  diesmal  wirklich  gestorben 
ist.  Tot  ist  der  trügerische  Gedanke  des  Völkerrechts 
als  einer  sittlichen  Gesetzgebung  der  Menschheit; 
lebendig  ist  aber  das  Völkerrecht  in  seiner  tatsächlichen 
Wirklichkeit  von  Richtlinien,  die  im  gegenseitigen 
Einvernehmen  der  Staaten  sich  herausgebildet  haben, 
und  von  denen  einige,  jetzt  von  allen  oder  von  eini- 
gen Staaten  abgelehnt,  nach  dem  Kriege  entweder 
wiederherzustellen  oder  abzuschaffen  oder  zu  berich- 

127 


tigen  sein  werden.  Was  ist  denn  überhaupt  das  tat- 
sächliche Leben  jedes  Rechtes?  Was  anderes  liegt  in 
jedem  Recht,  als  Aufstellung  und  Annahme  von 
Richtlinien,  Auflehnung,  Abschaffung,  Wiederher- 
stellung und  Reformen,  da  alles,  was  den  Kampf  der 
Interessen  widerspiegelt,  der  praktischen  Angemessen- 
heit der  einzelnen  geschichtlichen  Augenblicke  ent- 
spricht ? 

Indessen  bietet  das  Völkerrecht,  das  die  Rechtsge- 
lehrten mit  Unrecht  von  dem  übrigen  Recht  als  „der 
Bestätigung  entbehrend"  oder  mit  „unzureichender 
Bestätigung  versehen"  scheiden,  gerade  dieses  Grund- 
wesen dar:  die  eigentliche  Beschaffenheit  jeglichen 
Rechts  und  seine  tiefste,  einzige  Grundlage,  welche 
die  Stärke,  das  heißt  die  wirtschaftliche  Angemessen- 
heit ist,  besser  durchblicken  zu  lassen.  „Das  Natur- 
recht der  Völker  (hat  Vico  gegen  die  Gelehrten  seiner 
Zeit  eingewendet)  ist  ein  Recht  der  öffentlichen  Ge- 
walt, die  Staats  vertrage  werden  durch  die  Kraft,  die  die 
Staaten  entfalten,  gestützt;  andere  Mächte  halten  sich 
darüber  nicht  auf,  besonders  wenn  auch  sie  ihnen  bei- 
treten, vor  allem  jedoch,  wenn  sie  dafür  bürgen." 

Allein  auch  Vico  schied  von  diesem  Völkerrecht, 
„das  zwischen  den  staatsbürgerlichen  Gewalten  gilt, 
die  kein  gemeinsames  bürgerliches  Recht  besitzen", 
jenes  bürgerliche  Recht,  das  „unter  den  Bürgern  im 
Ansehen  steht,  die,  als  unterworfen  einer  gemeinsamen 
höchsten  Waffengewalt,  nur  mit  den  Waffen  der 
Vernunft  kämpfen  können".  Nur  ist  diese  Unter- 
scheidung höchst  gebrechlich,  da  das  Leben  des  bür- 
gerlichen und  nationalen  Rechtes  denselben  Ursprung 
und  denselben  Verlauf  hat  und  den  nämlichen  Wechsel- 
fällen wie  das  Völkerrecht  unterworfen  ist ...  Es  scheint 

128 


bloß,  daß  um  jenes  mit  der  Vernunft  gekämpft  wird, 
der  Kampf  ist  aber  immer  einer  der  Macht  oder  des 
Ansehens ;  nur  die  Vernunft,  oder  genauer  gesagt,  die 
Auslegung  und  Anwendung  der  Gesetze  ist  in  der  Tat 
ebenso  veränderlich  wie  in  den  Beziehungen  zwischen 
den  Staaten,  und  der  Umsturz  der  Gesetze  vollzieht 
sich  hier  mit  derselben  Notwendigkeit  wie  der  in  den 
zwischenstaatlichen  Verhältnissen ;  die  Bürger  der  herr- 
schenden Klasse  sind  wohl  geneigt,  die  bestehenden 
Gesetze  als  eine  unverletzliche,  vernunftgemäße  und 
sittliche  Gesetzgebung  anzusehen,  allein  die  Unzufriede- 
nen und  die  Empörer  betrachten  sie  nicht  in  derselben 
Weise,  da  sie  sich  gegen  den  Zwang  des  bürgerlichen 
und  Strafrechtes  zur  Wehr  setzen,  genau  so  wie  ein 
Volk,  das  sich  von  einem  andern  in  seiner  Ehre  ver- 
letzt, vergewaltigt  oder  ausgebeutet  erachtet,  an  den 
Zügeln  des  Völkerrechts  und  seiner  feierlichen  Ver- 
träge reißt.  Die  Bestätigung  des  Völkerrechts  liegt 
in  der  Macht,  die  gerade  so  wirksam  andauernd  wie 
das  nationale  Recht  oder  ebenso  unwirksam  und  vor- 
übergehend ist,  je  nach  dem  einzelnen  Falle;  die  Macht, 
die,  wohlgemerkt,  nur  dann  Macht  ist,  falls  sie  die 
andern  als  für  sich  nützlich  erachten  oder  sich  ihr  als 
dem  kleineren  Übel  anfügen  und  anpassen. 

Ist  aber  das  Leben  des  Völkerrechts  und  jeden  an- 
deren Rechtes  so  beschaffen,  wie  wir  es  hier  zu  um- 
schreiben gesucht  haben,  so  sollte  auch  klar  werden, 
daß  es  nichts  Törichteres  gibt,  als  vom  Recht  die  Ab- 
schaffung der  Kriege  zu  erwarten.  Denn  das  Recht 
ist  in  sich  selbst  Kampf  oder  Krieg,  oder  ein  Zwischen- 
spiel von  Kampf  und  Krieg,  und  es  vermag  den  Krieg 
nicht  abzuschaffen,  ohne  sich  selbst  abzuschaffen.  Die 
Richtlinien,  die  es  aufstellt  und  die  der  allgemeinen 

9    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  I  20 


praktischen  Einstellung  des  wirtschaftlichen  Lebens 
dienen,  sind  ein  Erzeugnis  von  Kriegen  oder  Voraus- 
setzungen für  neue  Kriege,  sie  werden  durch  Kriegs- 
drohung oder  durch  den  ausgekämpften  Krieg  aufrecht 
erhalten  und  formen  sich  in  ähnlicher  Weise  um. 
Würde  auch  einmal  das  ersehnte  Schiedsgericht  der 
Staaten  verwirklicht,  so  liegt  es  wohl  auf  der  Hand, 
daß  der  Krieg  trotzdem  durch  gewisse  rechtliche  Fik- 
tionen weiterbestehen  würde,  vermöge  der  Anstren- 
gungen, dieses  oder  jenes  beschlossene  oder  auf  Ab- 
stimmung ruhende  Vorgehen,  eine  bestimmte  Zahl 
von  Beauftragten,  durchzusetzen  oder  vermöge  der 
periodischen  Reformen  dieser  Einrichtung  unter  dem 
Druck  drohender  Kriege  oder  als  Folge  von  durch- 
gekämpften Kriegen.  Auch  wenn  man  aus  Gründen 
technischer  Art  dazu  gelangte,  den  unmittelbar  mör- 
derischen Krieg  aufzugeben,  wie  er  mit  Geschützen 
und  Torpedos  geführt  wird,  so  würde  darum  nicht  jede 
andere  Form  des  Krieges  citra  effusionem  sanguis  auf- 
hören: als  der  Krieg  des  Hungers,  der  Einkreisung,  des 
wirtschaftlichen  Zwanges,  ja  selbst  des  Bannes! 

Es  gibt  viele,  die,  obgleich  sie  nicht  unmittelbar  diese 
Wahrheiten  des  gesunden  Menschenverstandes  zu  leug- 
nen vermögen,  sich  dennoch  von  der  Wirklichkeit, 
die  diese  vor  Augen  stellen,  unbefriedigt  zeigen,  als 
(wie  sie  sagen)  ihrem  Gefühl  widerstrebend,  abscheu- 
lich, schlecht.  Allein,  sie  müßten  uns  doch  erklären, 
worauf  sich  denn  ihre  Unzufriedenheit  gründet.  Auf 
die  anerkannte  Übermacht  der  Sittlichkeit,  Kriege  und 
Kämpfe«  aus  der  Welt  zu  schaffen  und  das  Recht  zu 
formen  ?  Ist  aber  die  Sittlichkeit  unvermögend,  zu  be- 
wirken, daß  Recht  nicht  Recht  sei  (sowie  sie  nicht  be- 
wirken kann,  daß  Kunst  nicht  Kunst  sei),  so  vermag 

130 


sie  hingegen  im  höchsten  Grade  das  Gewissen  und  den 
Willen  zu  formen  und  sittliche  Erfordernisse  aufzu- 
stellen, die  fortwährend  in  der  Geschichte  des  Rechts 
wirksam  sind,  obwohl  sie  notwendigerweise  stets  die 
Form  des  Rechtes,  der  Macht,  des  Nutzens  an- 
nehmen mußten:  darin  liegt  ja  gerade  der  sittliche 
Fortschritt  der  Menschheit.  Oder  auf  die  tragische  Be- 
stimmung des  Menschen,  dazu  verurteilt,  zu  leiden 
und  leiden  zu  machen,  den  Tod  zu  geben  und  ihm 
selbst  zu  erliegen?  Aber  da  ein  Leben  ohne  Schmerz, 
ein  Leben,  das  nicht  Tod  ist  und  nicht  den  Tod  in  sich 
trägt,  unfaßbar  ist,  so  fehlt  hier  der  Maßstab  des 
Glückes,  an  dem  jenes  pessimistische  Urteil  über  das 
wirkliche  Leben  zu  messen  wäre:  es  sei  denn,  daß  jene 
Pessimisten  in  ihrem  Gehirn  den  Plan  einer  bessern 
Welt,  als  die  Gott  zu  schaffen  verstanden  hat,  trügen, 
einen  Plan,  den  kennen  zu  lernen  gar  wunderbar  wäre, 
wäre  es  auch  nuif  um  ihn  als  ein  unerreichbares  Schö- 
nes anstaunen  zu  können.  Zieht  sich  übrigens  eine 
logische  Gegnerschaft  auf  das  Gefühl  zurück,  so  ist  sie 
reif,  sich  zum  Roman  zu  wandeln:  zu  dem  Roman 
der  Freifrau  von  Suttner,  als  welcher  die  einzige  Stufe 
der  Kunst  ist,  die  die  Begeisterung  der  Humanitarier 
zu  erreichen  vermag.  Alle  sonstige  Kunst  ist  leider, 
wie  das  Leben  selbst,  dialektisch  und  antipazifistisch, 

NOCH  ETWAS  ÜBER  DIE  PHILOSOPHIE 
DES  KRIEGES  {Mai I Sept.  jpiö).  -  Gewisse  merk- 
würdige Empfehlungen  locken  mir  ein  Lächeln  ab, 
die  einige  wenig  glückliche  Schriftsteller  über  philo- 
sophische Dinge  aus  der  „Vorkriegszeit"  jetzt  der 
Öffentlichkeit  mit  ihren  neuen  Geisteserzeugnissen  vor- 
zusetzen pflegen,  indem  sie  auf  diese  Art  zugleich  die 


9* 


131 


Aufmerksamkeit  auf  ihre  übrigen  altern,  noch  in  den 
Schränken  der  Buchhändler  schlummernden  Schriften 
zu  lenken  suchen.  Sie  bemühen  sich  zu  verkünden, 
daß  ihre  Philosophie  stets  eine  „Gegnerin  jener  un- 
sinnigen Geschichtsphilosophie  und  der  Lehre  von  der 
Immanenz  vs^ar,  die  in  den  letzten  Zeiten  vorherrschte 
und  endlich  in  den  gegenwärtigen  Krieg  ausgemündet 
ist".  Es  ist  mir  nicht  klar,  w^elches  Verdienst  sie  sich 
damit  zuschreiben  vv^ollen,  oder  w^orin  die  Begründung 
für  die  Belohnung  liegen  soll,  die  sie  anstreben  und  die 
in  der  heiß  ersehnten  Ehre,  gelesen  zu  werden,  besteht. 
Die  Philosophie,  die  sie  angefeindet  haben,  ist,  so  wie 
sie  vorher  die  ewige  Idee  des  Krieges  nicht  geleugnet 
hat,  nicht  über  den  Krieg,  der  sich  vor  uns  entwickelt, 
betroffen,  noch  schreit  sie  über  den  Verrat,  den  die  Tat- 
sachen an  den  Idealen  verübt  hätten.  Ich  behaup- 
tete, daß  die  Geschichte  ein  Wettbewerb  um  Macht, 
aber  kein  Tribunal  eines  Friedensrichters,  und  daß  die 
Berufung  an  eine  abstrakte  Sittlichkeit  hohles  Ge- 
schwätz sei ;  man  hat  es  erfahren,  daß  alle  Völker,  auch 
die  am  wenigsten  kriegerischen  oder  die  am  stärksten 
in  gedanklichen  Täuschungen  befangenen,  sich  ent- 
schließen mußten,  in  den  Kampf  um  die  Macht  ein- 
zutreten, mit  den  Waffen,  jedes  sein  eigenes  Haus  be- 
stellend, die  eigene  Kraft  zur  Geltung  bringend,  im 
vollen  Bewußtsein,  daß  sie  von  andersher  keine  Hilfe 
zu  erwarten  hätten.  Demgemäß  ist  unsere  Philosophie 
nach  wie  vor  im  Einklang  mit  den  Tatsachen,  die  ihre 
hingegen,  damals  wie  jetzt,  im  Widerstreit.  Eine  Philo- 
sophie aber,  die  mit  den  Tatsachen  in  Widerspruch  steht, 
ist  mehr  oder  weniger  eineschwache  Philosophie  und  um 
so  schwächer,  je  größer  dieser  Widerspruch  ist.  Es  scheint 
mir  also  das  Verlangen  nach  Anerkennung  und  Be- 

132 


lohnung  von  Seiten  der  Vertreter  dieser  schwächlichen 
Philosophie  in  keiner  Weise  erfüllbar. 

Wie  billig,  habe  ich  das  Wort  „Philosophie"  in 
seinem  eigentlichen  und  strengen  Sinn  genommen,  als 
Gedankensystem,  als  Erklärung  der  Wirklichkeit.  Ich 
weiß  aber  recht  wohl  (und  habe  öfters  davon  gehan- 
delt), daß  andere  alles  das  „Philosophie"  nennen,  was 
per  accidens  sich  den  eigentlich  philosophischen  Fragen 
zugesellen  oder  doch  mit  ihnen  vermengen  kann :  etwa 
diese  oder  jene  individuelle  oder  kollektive  Gefühlsäuße- 
rung, diese  oder  jene  Handlungeines  Menschen  oder  eines 
Volkes,  die  mitunter  dieses  Einzelwesen  selbst,  oder 
jenes  Volk,  wohl  auch  ein  anderer,  der  über  sie  urteilt,  als 
logische  Ableitung  der  vorgeblichen  Philosophie  zu 
verkünden  pflegt.  Aber  sollte  es  noch  nötig  sein,  die 
Widerlegung  dieses  überaus  verbreiteten  Irrtums  zu 
wiederholen,  der  das  werktätige  Handeln  als  eine 
logische  Schlußfolgerung  ansieht,  und  ihm  damit  Selbst- 
willigkeit, Freiheit,  Verantwortlichkeit  und  Eigenart 
nimmt?  Muß  eine  Philosophie  vom  Wirklichen  in 
seiner  Gesamtheit  Rechenschaft  ablegen,  von  Gut 
und  Böse,  von  Wildheit  und  Sanftmut,  von  dem  so- 
genannten Krieg  wie  vom  sogenannten  Frieden,  wie 
kann  man  nur  glauben,  daß  sie  den  Willen  zu  dem 
oder  jenem  besondern  Tun  bestimmt,  zu  der  oder  jener 
Form  von  Handlungen,  zu  Wildheit  oder  Sanftmut, 
zu  Frieden  oder  Krieg,  zum  Guten  oder  Bösen.?  Und 
scheint  sie  in  einigen  Fällen  dergleichen  Bestimmungen 
oder  Antriebe  zu  enthalten,  sollte  es  nicht  augenschein- 
lich sein,  daß  man  dann  in  diesen  eine  ungeläuterte, 
nicht  genügend  verfeinerte  und  strenge  Philosophie 
vor  sich  hat,  nicht  wirklich  und  vollständig  philo- 
sophisch, sondern  von  praktischen  Bestandteilen  durch- 

133 


setzt,  denen,  nicht  ihr  selbst,  Tadel  und  Lob  der  gewähl- 
ten besonderen  Bestimmung  zugehört? 

Daraus  folgt,  daß  die  praktischen  Einflüsse  dar- 
legen, wie  sie  dieser  oder  jener  Philosoph  bietet, 
nicht  den  Philosophen  beurteilen  heißt,  sondern  den 
Menschen,  der  hinter  dem  Philosophen  steckt;  es 
heißt  das  die  Empfindung  des  Menschen  beurteilen, 
nicht  aber  seine  Philosophie,  die  vielmehr  durch  diese 
Kritik  selbst  geläutert  wird  und  größere  logische  Stärke 
gewinnt. 

Trotzdem  pflegen  die  Philosophen  sehr  häufig  (auch 
von  eleganten  Geistern,  wie  Heinrich  Heine)  als 
Schöpfer,  Förderer  oder  Rechtfertiger  der  Taten  eines 
Volkes  aufgeführt  zu  werden;  es  geschieht  das  aus 
naheliegenden  Gründen,  von  denen  einer  schon  erwähnt 
wurde  und  der  in  dem  persönlichen  werktätigen  Ver- 
halten liegt,  das  ein  Philosoph  dem  Leben  seiner  Zeit 
gegenüber  einnimmt.  Ein  anderer  liegt  in  der  Tatsache, 
daß  die  Philosophen  die  praktischen  und  politischen 
Aufgaben  ihrer  Zeit  zum  Stoff,  das  heißt  zur  Triebfeder 
ihres  Denkens  machen ;  so  daß  es  darum  scheint  (und  der 
vorbildliche  Fall  dafür  ist  Machiavelli),  daß  sie  die  Wirk- 
lichkeit inTat  umgesetzt  haben,  die  sie  freilich  geschaffen 
oder  neugeschaffen  haben,  allein  in  der  Form  des  Ge- 
dankens, als  Theorie.  Ein  dritter  Grund  ergibt  sich  end- 
lich aus  der  Verbindung  der  Größe  der  Philosophen  mit 
der  eines  bestimmten  Volkes  oder  eines  bestimmten  ge- 
schichtlichen Augenblicks,  derart  daß  sie  als  Sinnbilder 
dieses  Volkes  oder  dieses  Augenblicks  dienen :  so  kann 
Cartesius  als  der  Philosoph  Frankreichs  unter  Ludwig 
XIV.  erscheinen,  Kant  (oder  Hegel)  als  jener  der  begin- 
nenden Machtstellung  Deutschlands  im  modernen  Le- 
ben;  die  gleiche  Rolle  hätten  Bruno  und  Vico  gespielt, 

^34 


wären  sie  nicht  gerade  in  den  Zeiten  politischen  Verfalls 
und  Stillstandes  des  italienischen  Volkes  aufgetreten. 
Weshalb  gebe  ich  mir  die  Mühe,  noch  einmal  auf 
diese  alltäglichen  Unterscheidungen  zurückzukommen? 
Vor  allem,  um  die  Freiheit  der  Philosophie  in  Schutz 
zu  nehmen,  die  schwer  bloßgestellt  wäre,  wollte  man 
sie  mit  der  Politik  der  Philosophen  und  der  verschie- 
denen Völker,  denen  sie  angehören,  vermengen,  sie  mit 
dieser  zusammen  richten  und  bekämpfen :  ebenso  aber 
auch,  um  die  Freiheit  zu  verteidigen,  die  jedem  Men- 
schen, sei  er  nun  Philosoph  oder  nicht,  zukommt,  von 
Fall  zu  Fall  sein  praktisches  Verhalten ,  wie  es  ihm  gut 
scheint,  zu  bestimmen,  ohne  Furcht,  seine  Philosophie 
durch  seine  möglichen  politischen  Torheiten  bloßzu- 
stellen und  ohne  die  Hoffnung,  sie  aus  seinen  allfälligen 
Voraussagen  Nutzen  ziehen  zu  lassen. 

KLASSIK  UND  ROMANTIK  (Mai I Sept.  1916).- 
Sogar  in  der  literarischen  Kritik  beginnen  sich  die 
„Torheiten  der  Kriegszeit"  geltend  zu  machen,  da 
von  neuem  der  Gegensatz  zwischen  Klassischem  und 
Romantischem,  zwischen  lateinischer  und  germanischer 
Kunst  hervorgeholt  wird,  den  wir  bereits  für  immer 
los  zu  sein  glaubten.  Das  Seltsame  daran  ist,  daß  dieser 
Gegensatz  durch  Leute  wieder  hergestellt  wird,  die  das 
Schlagen  ihres  Herzens  für  die  „Internationalität"  und 
„Humanität"  nicht  stark  genug  hervorzukehren  wissen ; 
von  einem  im  politischen  Felde  unmöglichen  Inter- 
nationalismus und  Humanitarismus  träumend,  erheben 
sie  gleichzeitig  die  frevelnde  und  entweihende  Hand 
gegen  die  wirklich  bestehende  Internationalität  und 
Menschlichkeit:  jene  von  Wissenschaft  undKunst.Aber 
das  geht  sie  allein  an:  sie  haben  Papier  vergeudet  und  be- 

135 


schmiert,  und  die  Sache  wird  ihnen  nicht  zur  Ehre  aus- 
schlagen. Für  unseren  Teil  halten  wir  an  dem  von  der 
ästhetischen  Wissenschaft,  nach  langen  Versuchen,  be- 
stätigten Grundsatz  fest:  daß  die  wahre  Kunst  weder 
romantisch  noch  klassisch  ist,  das  heißt  romantisch 
und  klassisch  zugleich,  das  erste,  weil  aus  Gefühlsleben 
quellend,  das  zweite,  weil  sie  dieses  Leben  zur  Kunst- 
form verklärt;  daß  Romantik  und  Klassik  mithin 
zwei  einander  entgegengesetzte  Fehler  darstellen,  die 
abwechselnd  als  Heilmittel  der  einen  für  die  andere 
angestrebt  werden :  so  daß,  wenn  das  Klassische  zum 
Klassizismus  erstarrt,  es  vom  Romantischen  be- 
richtigt wird,  das  als  ein  revolutionäres  und  fortschritt- 
liches Wesen  emporkommt;  verliert  sich  das  Roman- 
tische im  Wirrwarr  entfesselter  Leidenschaft,  so  wird 
es  vom  Klassischen  gebändigt,  das  ihm  in  Erinnerung 
bringt,  daß  Kunst  Klarheit  oder  Vollkommenheit  des 
Ausdrucks  ist.  Klassische  und  romantische  Augen- 
blicke gibt  es  demnach  nicht  nur  bei  jedem  Volk  und 
zu  jeder  Zeit,  sondern  in  jedem  Künstler,  der  nur  dann 
wahrer  Künstler  ist,  wenn  er  den  Gegensatz  überwindet, 
derart,  daß  er  weder  als  Klassizist  noch  als  Romantiker 
mehr  aufgefaßt  werden  kann.  Das  Klassische  in  den 
lateinischen,  das  Romantische  in  den  germanischen 
Völkern  verkörpern  zu  wollen,  kann  mitunter  zu  ge- 
wissen erfahrungsmäßigen  Scheidungen  nützen,  zeigt 
sich  aber  sofort  als  grobschlächtig  und  ungeeignet, 
wenn  man  sich  auf  die  Einzelheiten  einläßt.  Ich  habe 
das  schon  vor  zehn  Jahren  klargestellt,  als  ich  von 
der  Gegenüberstellung  ^^Germanischer  und  lateinischer 
Dichtung^'-  handelte  (vgl.  Probleme  der  Ästhetik^ 
S.  158—64);  dort  habe  ich  auch  auf  die  Trugschlüsse 
und  Wortspielereien  hingewiesen,  zu  denen  man  griff, 

136 


um  diese  wenig  begründete  Unterscheidung  in  den 
Einzelfällen  festzuhalten.  Die  neuesten  Untersuchungen 
könnten  reichlich  die  bereits  angeführten  Beispiele 
ergänzen ;  hat  man  doch  in  diesen  Tagen  gesehen,  wie 
dem  deutschen  Volk  seine  größten  Künstler,  so  Goethe 
und  Beethoven  abgesprochen  wurden,  als  angeblich 
„universelle,  nicht  deutsche  Genies"  und  ihm  dafür  alle 
unsere  Künstler  anfechtbarster  Art  zugeteilt  wurden, 
als  „deutsch  dem  Geiste,  wenn  nicht  der  Geburt  nach" ! 
Allein  die  neuen  Anhänger  des  Klassizismus  und 
Feinde  der  Romantik  gehen  weit  über  die  künstlerische 
Gegnerschaft  hinaus,  die  bloß  eine  Seite  ihrer  Polemik 
darstellt  und  haben  nicht  mehr  und  nicht  weniger  im 
Sinne,  als  das  sittliche,  gesellschaftliche  und  politische 
Leben  von  der  romantischen  Seuche  zu  heilen,  die  von 
den  Deutschen  aus  über  Europa  gekommen  sein  soll. 
Darin  äffen  diese  Italienschwärmer  allerdings  gewöhn- 
lich französische  Muster  nach  und  bilden  sich  vermut- 
lich ein,  daß  sie  allein  gelesen  hätten,  was  wir  alle 
kennen :  die  Bücher  von  Maurras,  Lasserre,  Valois,  die 
Revue  critique  des  ide'es  und  andere  durchaus  nicht  sel- 
tene Werke.  Hätten  sie  aber  auch  die  italienischen 
Bücher  aus  der  ersten  Hälfte  des  neunzehnten  Jahr- 
hundertsgelesen, die  von  Rosmini  undGioberti,  auch  die 
von  Botta  und  Niccolini,  so  hätten  sie  erfahren,  wie  alt 
die  Antriebe  zu  dergleichen  Polemiken  sind,  und  sie 
hätten  lange  vor  Lasserre,  Maurras  und  andern  Fran- 
zosen von  diesen  alten  Italienern  die  Anklagen  gegen 
die  Romantik,  gegen  den  Sensualismus,  Panthe- 
ismus und  ähnliches  hören  können;  ja  sie  können  sie 
sogar  in  der  ^^Zuwage^^  (Giunta  alla  derratd)  gesammelt 
finden,  die  Carducci  und  seine  der  Romantik  abgeneig- 
ten Freunde  1856  herausgaben,  und  die  jetzt,  zur  guten 


Stunde,  wiederabgedruckt  worden  ist.  Diese  Zusammen- 
stellung soll  nicht  bloß  einen  zeitlichen  Vorrang  fest- 
legen, sondern  vor  allem  die  wahre  Beschaffenheit  jener 
Anklagen  erkennen  lassen;  denn  so  wie  sie  vorlängst 
in  Italien  von  katholischen  oder  sonstwie  rückschritt- 
lich gesinnten  Schriftstellern  herrührten,  so  jetzt  in 
Frankreich  von  reaktionären  Schriftstellern,  die  sich 
zwar  nicht  als  Katholiken  zu  geben  wagen,  aber  es 
doch  gerne  täten,  und  vorderhand  einem  politischen 
Katholizismus  das  Wort  reden.  Nehmen  wir  das  Buch 
von  Lasserre,  gewiß  eine  scharfsinnige  und  wirksame 
Schrift,  reich  an  verständigen  Beobachtungen,  die  aber 
jedem,  der  durch  die  Oberfläche  zu  sehen  versteht,  so- 
fort zwei  Irrtümer  aufdeckt,  die  letzten  Endes  auf 
einen  einzigen  hinauslaufen:  die  Voraussetzung  der 
Jenseitigkeit,  demgemäß  das  wahre  menschliche  Leben 
im  Himmel  der  Ideen  sein  ewiges  Vorbild  besäße; 
dann  den  Mangel  an  geschichtlichem  Sinn,  demgemäß 
das  sittliche  Romantikertum  als  eine  Verirrung  oder 
Entartung  angesehen  wird,  aus  der  heraus  die  Rettung 
möglich  sei  durch  die  Rückkehr  zu  irgend  einer  un- 
bestimmten Ethik  „Altfrankreichs".  Alles  eher  denn 
geneigt  oder  wohlwollend  dem  sittlichen  Romantiker- 
tum gegenüber  (derart,  daß  mir  seit  Jahren  fortwährend 
der  Vorwurf  des  Intellektualismus,  der  Gefühlskälte, 
des  Autoritätswesens  und  so  fort  gemacht  wird),  ver- 
mag ich  mich  doch  nicht  der  Tatsache  zu  verschließen, 
daß  die  Romantik,  die  das  ganze  neunzehnte  Jahr- 
hundert im  Banne  gehalten  hat  und  noch  immer  die 
Gemüter  bewegt,  eine  große  Zeit  des  menschlichen 
Geistes  gewesen  ist,  die  ihren  entfernten  Usprung  im 
Christentum,  wenn  nicht  noch  weiter  zurück  hat  und 
vielleicht  erst  jetzt   an   ihren    endgültigen  Abschluß 

'38 


gelangt  ist,  da  sich  da  und  dort  die  Umrisse  neuer 
geistiger  Bildungen  zeigen,  die  dem  sittlichen  Leben 
neue  Gestalt  geben  werden,  jedoch  über  die  Romantik 
hinaus  und  sich  ihrer  bedienend,  niemals  aber  in  ihrem 
Bannkreis  und  im  vergeblichen  Streben  Geschehenes 
ungeschehen  zu  machen.  Daß  diese  Gestalt  in  allzu 
vereinfachender  Weise  durch  die  Rückkehr  zur  Sittlich- 
keit „Altfrankreichs"  erw^eckt  werden  könnte,  zum 
Königtum,  dem  Blutsadel,  der  Geistlichkeit  als  politi- 
scher Macht,  zur  Akademie  und  zu  Boileau,  das  ist 
Literateneinbildung ;  daß  sie  nach  dem  Kriege  mit  einem 
Es  werde  in  die  Erscheinung  treten  könne,  dank  dem 
festen  Entschluß,  jeder  Berührung  mit  dem  krankhaften 
Deutschtum  auszuweichen,  ist  Geschwätz  von  Feder- 
helden, die  ihren  Aufsatz  zusammenflicken  müssen 
und  die  Umgestaltung  der  Welt  für  ebenso  leicht  und 
jeder  gedanklichen  Anstrengung  ledig  halten  als  den 
Artikel,  den  sie  gerade  hinsudeln.  Die  Arbeit  ist  hart 
genug,  tatsächlich  über  die  zerrissene  romantische 
Gemütsverfassung,  über  Fausts  zwei  Seelen  hinaus- 
zukommen, sie  ist  hart,  langdauernd  und  vielfältig,  und 
alle  Menschen  aller  Teile  Europas  sind  an  ihr  seit  einem 
Jahrhundert  beteiligt,  durch  Leiden  und  Irrtümer  hin- 
durch, mit  den  Bekenntnissen  in  Dichtung  und  Roman, 
mit  den  Forschungen  der  Philosophie,  mit  der  sittlichen 
Erziehung,  der  wirtschaftlichen  Zucht,  den  gesellschaft- 
lichen Reformen ;  wer  den  wohltätigen  Trieb  zu  diesem 
Ziele  hin  empfindet,  darf  nicht  anders  als  irgendwie 
an  dieser  Arbeit  teilnehmen,  um  sich  als  „ernstzu- 
nehmender" Mensch  zu  bewähren.  Aber  es  ist  nicht 
Sache  ernsthafter  Leute,  vorzugeben,  das  Übel  des  sitt- 
lichen Romantikertums  sei  ausschließlich  in  dem  Volke, 
gegen  das  man  gegenwärtig  Krieg  führt,  zu  finden,  — 

139 


bei  jenem  Volke,  das  länger  in  ihm  gelebt  hat,  aber  kraft- 
voller und  glücklicher  als  jedes  andere  sich  seiner  zu 
entledigen  gesucht  hat,  —  und  sich  die  Befreiung  von 
der  Romantik  etwa  wie  einen  kleinen  Artikel,  der  in  den 
künftigen  Friedens-  oder  Siegesvertrag  aufgenommen 
würde,  vorzustellen.  Dazu  bedarf  es  wahrlich  ganz  an- 
derer Dinge! 

DIE    NEUE    AUFFASSUNG    VOM    LEBEN 

{Mail Sept.  igi6).  —  Wäre  es  mir  jemals  möglich  zu 
denken,  das,  was  man  die  „lateinische"  Auffassung  von 
politischem  und  geschichtlichem  Leben  nennt,  das  heißt 
das  Ideal  von  internationaler  Gerechtigkeit,  Brüder- 
lichkeit und  Frieden,  sei,  ich  sage  nicht  überlegen, 
so  doch  mindestens  ebenbürtig  dem,  was  man  „ger- 
manisch" nennt,  das  ist  dem  Ideal  des  Lebens  als  eines 
fortwährenden  Kampfes,  das  in  diesem  meist  mit  seiner 
Begründung  auch  seine  Beruhigung  findet;  gelänge  es 
jemandem,  mir  dies  zu  beweisen,  so  hörte  ich  auf  zu 
schreiben,  wie  ich  es  tue  und  hielte  es  von  da  ab  für  meine 
Pflicht,  mich  den  vielen  andern  zur  Verteidigung  des 
lateinischen  Ideals  zuzugesellen,  das  theoretisch  dem 
germanischen  gleichwertig  wäre,  dennoch  aber  für  uns 
praktisch  höher  stehend,  gerade  weil  es  unser  ist.  Leider 
verhält  es  sich  aber  nicht  also;  denn  diese  beiden  sind 
durchaus  nicht  der  Ausdruck  zweier  verschiedener 
Rassen,  wie  die  Nichtswisser  sich  einbilden,  die  so  von 
Nationaldünkel  oder  von  metaphorischen,  aus  beson- 
deren Fällen  abgeleiteten  Stammesbezeichnungen  sich 
täuschen  lassen,  sondern  sie  sind  zwei  Formen,  Stufen 
oder  Abschnitte  des  Gemüts-  undGeisteslebens,  wie  wir 
alle  wissen,  die  wir  nach  langen  Arbeitsjahren  dazu  ge- 
langt sind,  uns  in  Probleme  der  Geschichte  zu  vertiefen. 

140 


Zwei  Abschnitte:  der  erste  davon  (das  sogenannte 
lateinische  Ideal)  ist  noch  der  theologische  Zeitraum 
mit  dem  Ziel  des  himmlischen  Paradieses,  wie  bei  den 
Katholiken,  oder  des  Paradieses  auf  Erden,  wie  bei  den 
Jakobinern  und  Demokraten  jeder  Färbung,  er  wird  in 
der  Zeitrechnung  dort  als  Mittelalter,  hier  als  acht- 
zehntes Jahrhundert  bezeichnet.  Der  andere  hingegen 
(das  sog.  germanische  Ideal)  ist  der  wahrhaft  mensch- 
liche Zeitraum,  in  dem  das  Paradies  sowohl  im  Him- 
mel als  auf  Erden  geleugnet  wird,  und  die  wahre 
Gottes-  oder  Vernunftstadt  sich  als  die  Geschichte  selber 
darstellt.  Dem  ersten  dient  noch  die  Scholastik,  die 
Vorstellung  vom  Naturrecht  und  der  Intellektualismus, 
überhaupt  die  Philosophie,  die  sich  im  extremen  Karte- 
sianismus  und  in  der  Ency klopädie  erschöpft,dem  zweiten 
die  Dialektik,  die  historische  Richtung,  der  Idealismus, 
die  Philosophie,  die  in  Deutschland  durch  Kant,  in 
Italien  durch  Rosmini  und  Gioberti  eingeleitet  wurde; 
beherrscht  nun  der  Gedanke  die  Welt  (wie  alle  sagen, 
aber  nicht  immer  mit  der  Tat  bekräftigen),  ist  es  dann 
nicht  klar,  daß  die  Form  geistigen  Lebens,  die  von 
einem  überlegenen  Gedanken  geleitet  wird,  auch  in 
ihrer  Gesamtheit  der  überlegen  ist,  die  sich  nach  einem 
tieferstehenden  Gedanken  richtet?  Diese  Überlegenheit 
wird  durch  die  Auflehnung  bezeugt,  die  sich  schon  seit 
Jahren  in  den  lateinischen  Ländern  gegen  die  demo- 
kratische Ideologie  bemerkbar  machte,  und  ihren  Na- 
men bald  von  den  verschiedenen  Nationalismen,  bald 
sogar  vom  Sozialismus  und  Syndikalismus  entlehnte; 
wenn  aber  diese  Versuche  auch  in  ihrer  Eigenschaft 
als  Anzeichen  sehr  bemerkenswert  sind,  wohl  auch 
noch  als  etwas  mehr,  nämlich  als  satirisch-leidenschaft- 
liche Verneinungen  jener  Ideologie,  so  zeigen  sie  doch 

141 


deren  Schwäche,  die  einen  mit  ihrer  Hinneigung  zu 
mehr  oder  weniger  literarischen  Sehnsüchten  nach 
unmögHchen  Rückschritten  und  Restaurationen,  die 
andern  mit  ihrem  Anschluß  an  den  Klassenkampf,  das 
heißt  an  eine  einseitige  und  enge  Auffassung  der  Ge- 
schichte, als  welche  die  verschiedenartigsten  und  gröb- 
sten Angelegenheiten  ausschließlich  des  Proletariertums 
behandelt.  Aber  es  ist  nicht  nötig,  sich  in  die  Über- 
treibungen der  Nationalisten  wie  Syndikalisten  zu  ver- 
lieren, um  zu  erkennen,  daß  die  Linie  der  Geschichte 
zur  Idee  des  Lebens  als  Selbstzweck  und  ewiger  Tat, 
durch  die  der  Mensch  und  die  menschliche  Gesell- 
schaft sich  ewig  erneuen,  hinleitet.  Ist  das  richtig,  und 
bisher  hat  noch  niemand  beweisen  können,  daß  es  nicht 
richtig  sei  (die  Gefühlsgründe,  die  Schimpfreden  und 
ähnliche  Albernheiten  zählen  dabei  nicht  mit),  so 
würden  wir,  die  wir  diese  Wahrheit  gehegt  haben  und 
denen  in  unmittelbarerer  Weise  das  Amt,  diese  zu  be- 
hüten, zukommt,  unseren  Überzeugungen  untreu  wer- 
den und  eine  schmähliche  Handlung  begehen,  wenn 
wir  das  sogenannte  —  übel  sogenannte  —  lateinische 
Ideal  gegen  das  ebenso  übel  benannte  germanische  ins 
Treffen  führen  wollten.  Freilich  meinen  etliche,  daß 
zum  Nutzen  des  Krieges  und  des  Vaterlandes  aujch 
das  Opfer  unserer  wissenschaftlichen  Überzeugungen 
erforderlich  sei;  allein,  die  so  sprechen,  denken  nicht 
über  diese  ihre  Worte  nach.  Täten  sie  es,  so  müßten 
sie  sogleich  einsehen,  daß  sie,  setzen  sie  ihr  Vaterland 
in  Widerspruch  mit  der  Wahrheit,  damit  die  Verur- 
teilung ihres  Vaterlandes  aussprechen,  das  im  un- 
gleichen Kampf  mit  der  Wahrheit  notwendig  unter- 
liegen muß.  Dem  eigenen  Volk,  das  in  größerem  oder 
geringerem  Maße  in  trügerische  oder  wirre  Gedanken 

142 


verstrickt  ist,  leistet  man  nur  dann  einen  Dienst,  wenn 
man  die  falschen  Meinungen  richtig  stellt  und  die  ver- 
worrenen aufhellt,  in  dem  ruhigen  Bewußtsein,  daß 
nichts  von  dem,  was  wohltätigen  Einfluß  gehabt  hat, 
verloren  geht,  vielmehr  seine  Wirksamkeit  wächst  und 
an  Kraft  gewinnt.  Denn  wer  vermöchte  im  Ernst  zu 
glauben,  daß  unser  Land  jetzt  für  etwas  anderes  kämpft 
als  für  sein  Heil  und  seine  Volkskraft,  bewußt,  damit 
sein  würdig  Teil  an  der  Geschichte  zu  nehmen,  ent- 
schlossen, sich  um  keinen  Preis  in  die  Reihe  der  un- 
tätigen und  der  Völker  zweiten  Ranges  verweisen  zu 
lassen  ?  Die  Reden  in  den  Versammlungen,  Umzügen, 
Festmählern  mögen  verschiedenen  Klang  haben ;  allein 
jeder  hört  aus  ihren  Klängen  die  tatsächlichen  Emp- 
findungen heraus,  empfindet  hinter  den  Bildern  die  Tat- 
sachen, die  sich  unter  ihnen  verbergen  oder  in  sie 
hineingelegt  werden  müssen.  Wehe,  wenn  er  nicht 
also  täte!  und  wehe,  wenn  er  die  herkömmlichen 
Redensarten  als  etwas  Wirkliches  nimmt,  und  die  Hand- 
lungsweise, die  er  seinem  Lande  empfiehlt,  logisch 
daraus  ableitet,  das  heißt  in  Albernheit  und  Verderben 
zu  stürzen  sucht.  Gerade  weil  unter  den  Intellektuellen 
und  Politisierenden  diejenigen  allzu  zahlreich  sind,  die 
sich  dieser  üblen  Ratschläge  schuldig  machen,  ist  es 
notwendig,  daß  sich  gegen  sie  andere  erheben,  die 
diesen  Verrat  an  der  Wahrheit,  der  zugleich  auch  Ver- 
rat am  Vaterlande  ist,  verhindern.  Mein  Glaube  an 
die  Vorzüglichkeit  des  historischen  Ideals  (man 
lasse  es  mich  mit  seinem  wahren  Narrien  und  nicht 
unter  seinem  ethnischen  Gleichniswort  nennen),  an  das 
geschichtliche  und  kämpfende  Ideal  des  Lebens  ist  so 
groß,  daß  ich  überzeugt  bin,  daß  in  diesem  Kriege  die 
lateinischen  Völker  und  das  verbündete   und   demo- 

H3 


kratisierte  England,  statt  ihr  demokratisches  oder  para- 
diesisches Ideal  zu  stärken,  es  vielmehr  allmählich  zu 
zerstören  im  Begriffe  sind,  um  sich  selbst  zu  stärken, 
und  daß  sie  sich,  nach  Schluß  des  Krieges,  in  einer  gar 
sehr  veränderten  Geistesverfassung  befinden  w^erden, 
viel  w^eniger  demokratisch  und  phantastisch,  als  sie  v^aren 
und  zu  verbleiben  glauben,  viel  „militaristischer",  das 
heißt  kriegerischer,  als  sie  es  seit  langer  Zeit  v^aren. 
Ich  habe  außerdem  noch  einen  andern  Grund,  der  mir 
verbietet,  das  geschichtliche  Lebensideal  mit  Deutsch- 
land gleichzusetzen,  das  es  in  den  letzten  Zeiten  ohne 
Zw^eifel  besser  als  andere  Völker  verkörpert  hat ;  denn, 
vsräre  diese  Gleichsetzung  richtig,  müßte  ich  schließen, 
daß  Deutschland,  w^ie  immer  der  Krieg  auch  ausgehe, 
sein  Ideal  zur  Anerkennung  gebracht  und  seine  geistige 
Führerschaft  geltend  gemacht  habe.  Allein  mein 
Glaube  und  meine  Hoffnung  gehen  dahin,  daß  v^ir 
alle,  Italiener,  Franzosen  und  Engländer,  aus  unserm 
eigenen  Innern,  aus  dem  Grunde  unserer  Menschlich- 
keit, jene  Kräfte  hervorbringen  v^erden,  die  w^ir  haben 
unterdrücken,  herabsetzen  und  schv^ächen  lassen,  und 
daß  wir  eine  gesündere  europäische  Gesellschaft  w^er- 
den  aufrichten  helfen,  in  der  kein  Vorv^and  und  keine 
Versuchung  mehr  gegeben  sein  wird,  das  geschicht- 
liche und  kämpfende  Lebensideal  „deutsch"  zu  nen- 
nen, weil  es,  europäisch  geworden,  zu  gleicher  Zeit  von 
dem  geläutert  sein  wird,  was  es  zufällig  an  besonderem, 
stofflichem  und  grobschlächtigem  Deutschtum  enthal- 
ten hat.  Was  haben  wir  (so  viele  oder  wenige  wir  gewesen 
sind  oder  noch  sind)  auf  dem  Felde  der  Forschung 
getan?  Haben  wir  vielleicht  denen  Gehör  geschenkt, 
die  uns  schon  im  Verlaufe  unserer  völkischen  Wieder- 
erhebung aufgefordert  haben,  uns  an  die  ehrwürdige 

144 


„italische"  Weisheit,  an  Pythagoras,  an  Zenon  von  Elea, 
an  Thomas  von  Aquino  oder  Marsilio  Ficino  zu  halten, 
und  die  Ohren  vor  den  Lockungen  der  teutonischen 
Sphinx  zu  verschließen?  Nein,  wir  haben  vielmehr  die 
Ohren  recht  weit  aufgetan  vor  jenen  neuen,  seltsamen 
Stimmen;  und  ohne  sie  nachzuäffen,  haben  wir  uns 
ihrer  Unterweisung  bedient,  um  eine  neue  Philosophie 
hervorzubringen,  die  nicht  die  des  vergangenen  alten  und 
ältesten  Italiens  ist,  aber  auch  nicht  die  Deutschlands 
im  neunzehnten  Jahrhundert.  So  wird  es,  so  muß  es 
auch  im  politischen  Leben  in  England,  Frankreich, 
Italien  geschehen;  unsere  nationale  Eigenliebe  würde 
vortrefflich  für  sich  selbst  sorgen,  wenn  sie  uns  den 
Vorrang  oder  vielmehr  den  Vortritt  in  der  selbstän- 
digen Tätigkeit  zu  sichern  suchte,  und  wenn  sie  uns 
Italiener,  schlecht  und  recht  ausgedrückt,  dazu  führte, 
daß  wir  ein  gutes  Beispiel  einer  modernen  Einstel- 
lung und  Haltung  des  Denkens  und  WoUens  gäben. 

NOCH  EIN  WEITERES  {September  1916).^)  - 
Ich  will  eine  Artikelfolge  Crispoltis  erwähnen,  damit 
man  nicht  sagen  kann,  ich  schweige  über  die  gegen  mich 
gerichteten  Kritiken,  während  ich  in  Wahrheit  von  jenen 
(und  es  ist  die  Mehrzahl)  schweige,  die  nicht  Kritiken, 
sondern  Torheiten  und  Beleidigungen  sind  und  mich  zu 
Entgegnungen  verleiten  müßten,  die  im  gegenwärtigen 
Zeitpunkt  mehr  als  jemals  erbärmlich  und  zu  vermeiden 
sind.  Crispolti  freilich  begründet  seine  Kritik  sehr  gut: 
nur  hängt  der  Faden  seiner  Darlegungen  an  der  christ- 
lichen und  katholischen  Auffassung,  die  sicherlich,  wenn 
man  sie  sich  zu  eigen  macht,  die  von  mir  vertretene 

^)  Anläßlich  einer  Folge  von  Artikeln,  die  Crispolti  im  Momento  dt  Torino 
(9.  August  fF.)  veröffentlicht  hatte. 

10    Croce,  Randbemerkiingen  eines  Philosophen  14.^ 


Lehre  nicht  verträgt;  lehnt  man  sie  jedoch  ab,  so  bleibt 
der  von  Crispolti  angesponnene  Faden  in  der  Luft.  Es 
ist  unbestreitbar,  daß  die  einzige  Auffassung,  von  der 
aus  man  das  Leben  als  einen  Kampf  um  die  Macht 
leugnen  kann,  die  jenseitige  christliche  ist,  die  die 
Menschen  auffordert,  in  Frieden  und  Brüderlichkeit 
miteinander  zu  leben  und  mit  so  wenig  Sünden  als 
möglich  diesen  Weg  der  Pilgerschaft  zurückzulegen, 
der  die  Welt  heißt;  ich  bin  sogar  gerade  w^eil  ich  die 
Erhabenheit  einer  solchen  Auffassung  verstehe  und 
fühle,  so  unerbittlich  gegen  die  andere  humanitär- 
freimaurerische,  die  nicht  ihre  Gegnerin,  v^ie  sie  sich 
einbildet,  sondern  ihr  Zerrbild  ist,  da  sie  Frieden,  Ge- 
rechtigkeit und  allgemeine  Verbrüderung  der  Welt 
predigt,  —  aber  der  Predigt  ihre  Stütze  nimmt,  die  eben 
in  der  Voraussetzung  eines  Jenseits  liegt.  Die  wahre 
und  eigentliche  Gegnerin  der  christlichen  Auffassung 
ist  aber  die  von  der  Wirklichkeit  als  einer  Entwicklung 
und  eines  Kampfes,  der  nicht,  wie  manche  glauben, 
eine  Ausnahme  von  der  Moral  zugunsten  der  Politik 
fordert,  sondern  im  Gegenteil  dem  Einzelwesen  die 
strengste  sittliche  Pflicht  auferlegt,  die  Politik  un- 
abhängig von  der  Sittenlehre  zu  behandeln  (so  wie 
es  strengste  sittlicheP  flicht  des  Künstlers  oder  Forschers 
ist,  auf  die  ästhetische  oder  logische  Vollkommenheit 
seines  Werks  bedacht  zu  sein,  ohne  sich  von  nicht  zur 
Sache  gehörigen  sittlichen  Wallungen  abziehen  zu 
lassen).  Mit  andern  Worten,  das  Einzelwesen  ist  berufen, 
an  dem  leidensvollen  Geheimnis  des  Werdens  der 
Wirklichkeit  teilzunehmen,  darum  auch  an  dem  ewigen 
Kampf,  der  von  der  alltäglichen  Reibung  bis  zum  be- 
waffneten Widerstand  oder  dem  Krieg  reicht;  es  kann 
sich  nicht  anmaßen,  die  Gesetze  —  die  göttlichen  Ge- 

146 


setze  -  der  Welt  zu  ändern,  sondern  muß  allein  die 
Sache  des  Volkes,  von  dem  es  einen  Teil  ausmacht, 
verfechten  und  den  Posten,  der  ihm  von  seinen  be- 
sonderen Bedingungen  her  angevvriesen  vvrorden  ist,  bis 
zum  Äußersten  behaupten:  im  Vertrauen  darauf,  daß 
aus  seinem  ehrlich  und  streng  erfüllten  Wirken  das 
größtmögliche  Gute  sprießen  wird.  —  Aber  diese  Auf- 
fassung ist  religiöser  Art!  w^ird  man  sagen.  —  Wies  euch 
gefällt^  —  aber  sie  gehört  dann  zu  jener  Religion,  die 
zugleich  Philosophie  ist. 

VON  ITALIENS  GESCHICHTE  {Critica  XIV, 
Juli  igi6).  —  Ich  stehe  nicht  an  zu  sagen,  entgegen  den 
herkömmlichen  Vorurteilen  und  Redensarten  der  land- 
läufigen Geschichtsschreibung,  und  v^eiche  damit  gleich- 
wohl nicht  von  dem  tiefen  Allgemeinbewußtsein  ab, 
daß  die  italienische  Geschichte  keine  alte  und  jahr- 
hundertlange, sondern  eine  neue,  keine  geräuschvolle, 
sondern  eine  bescheidene,  keine  glänzende,  sondern 
eine  von  Mühsal  erfüllte  ist. 

Neu:  das  heißt  es  muß  aus  ihr  nicht  nur  —  wie  es 
die  Geschichtsschreiber  des  romantischen  Zeitraums 
versuchten  —  die  Geschichte  Altroms  ausgeschieden 
werden,  sondern  auch  die  mittelalterliche  der  Stadt- 
gemeinden —  die  jene  Geschichtsschreiber  hingegen 
in  enge  Verbindung  mit  ihr  brachten,  —  ferner  selbst  die 
Renaissance,  deren  wir  uns  erst  später  zu  rühmen  be- 
gonnen haben.  Diese  drei  oder  zwei  (wenn  man  die 
Geschichte  der  Stadtwesen  und  der  Renaissance  als 
eine  einzige  betrachtet)  großen  Geschichten  sind  längst 
vollkommen  überwunden  und,  ist  der  Ausdruck  erlaubt, 
verdaut,  und  obwohl  sie  für  immer  der  allgemeinen 
Geschichte  der  Menschheit  angehören,  so  gehören  sie 

io»  1 47 


doch  nicht  mehr  unserer  eigenen  wirklichen  und  be- 
sondern Gegenwart.  Ist  das  ein  Paradoxon?  Nicht  im 
geringsten ;  das  ergibt  sich  aus  den  Worten  der  Erzähler 
und  Verherrlicher  jener  Geschichten  selbst,  in  denen 
Italien  nach  ihrem  Ausspruch  Europa  die  antike  Ge- 
sittung und  antikes  Recht,  die  neue  bürgerliche  Ge- 
sittung im  Handel  und  Gewerbe,  die  moderne  im  Sinne 
des  Laientums  gehaltene  Auffassung  von  Mensch  und 
Staat  „geschenkt"  hat.  Nun,  was  man  „geschenkt" 
hat,  kann  man  nicht  wieder  zurücknehmen,  und  es  ist 
nicht  mehr  unser,  sondern  höchstens  ebenso  unser  wie 
derer,  die  wir  zu  Teilhabern  eines  längst  allgemein  ge- 
wordenen Gutes  berufen  haben.  Will  man  noch  einen 
andern  Beleg?  Was  hat  Italien  getan,  nachdem  es  seine 
Renaissancegesittung  über  ganz  Europa  verbreitet  hatte  ? 
Es  verfiel,  sagen  die  Geschichtsschreiber,  das  heißt,  es 
bewahrte  nicht  allein  nicht  jenen  Vorrang,  sondern  es 
erwies  sich  andern  Völkern  als  unterlegen  und  geriet 
nacheinander  unter  die  Vorherrschaft  der  übrigen 
Nationen.  Und  was  tat  es  nach  dem  Verfall?  Es  er- 
hob sich  von  neuem,  antwortet  die  landläufige  Ge- 
schichtsschreibung. Was  heißt  aber  dieses  Wiederer- 
heben, wenn  nicht  ein  Aufstreben  zu  neuen  Zielen, 
der  Beginn  einer  neuen  Geschichte?  Diese  hat  ihre  Vor- 
boten im  achtzehnten  Jahrhundert,  verstärkt  sich  durch 
den  Wendepunkt  der  französischen  Revolution,  ge- 
winnt im  Laufe  des  neunzehnten  Jahrhunderts  Gestalt 
und  bewegt  sich  immer  in  aufsteigender  Linie.  Es 
handelt  sich  also  längstens  um  die  Geschichte  von 
anderthalb  Jahrhunderten:  eine  neue  Geschichte,  und 
wie  ist  es  möglich,  in  dem  italienischen  Angesicht  von 
heute  die  vorherrschenden  Züge  des  Römertums,  des 
mittelalterlichen  Bürgertums   oder   des  Renaissance- 

148 


menschen  zu  erkennen?  Dafür  sind  höchst  ausgeprägt 
die  der  Gesittung  des  achtzehnten  Jahrhunderts  und 
der  französischen  Revolution,  obwohl  gemildert  durch 
die  geschichtlichen  Erfahrungen  der  Folgezeit  und  die 
Einwirkung  des  heutigen  Weltlebens :  daher  des  weitern 
die  in  unserm  Lande  merkbaren  Gegensätze  zwischen 
humanitären  und  patriotischen  Zielen,  zwischen  gleich- 
machenden und  gliedernden,  individualistischen  und 
staatlichen,  unter  Überwiegen  der  erstem. 

Ich  habe  die  italienische  Geschichte  nicht  bloß  neu, 
sondern  auch  bescheiden  genannt.  In  der  Tat,  was 
ist  bis  jetzt  ihr  Inhalt  gewesen.?  Sich  auf  die  Stufe  der 
vorgeschritteneren  Länder  Europas  zu  erheben,  am 
europäischen  Leben  nicht  nur  im  leidenden  Sinn  (in  dem 
Italien,  wie  es  unausweichlich  war,  auch  in  den  Zeiten 
seines  Verfalls  teilgenommen  hat)  zu  beteiligen,  sondern 
auch  im  tätigen  und  handelnden.  Einst  Lehrmeister  der 
Gesittung  in  der  Renaissance,  fand  sich  Italien  seinen 
Schülern  gegenüber  im  Zustand  der  Unterordnung,  und 
dieses  Bewußtsein  der  Unterlegenheit,  das  sein  acht- 
zehntes Jahrhundert  hatte,  war  ein  Ansporn  zu  den  Be- 
mühungen, sich  wieder  zu  erheben  und  auf  gleichen 
Fuß  mit  den  andern  zu  stellen.  Daher  die  Reformen, 
die  Unabhängigkeit  von  der  Fremdherrschaft,  die  Auf- 
lösung des  politischen  Bandes  mit  der  katholischen 
Kirche,  das  heißt  die  bürgerliche  Unabhängigkeit,  die 
Einigung,  das  heißt  die  Entwicklung  zu  einer  ansehn- 
lichen und  gefestigten  staatlichen  Individualität,  die  ge- 
sellschaftliche und  wirtschaftliche  Umbildung,  die 
Förderung  von  Gewerbfleiß  und  Handel,  die  Erneuerung 
der  Kultur  und  so  fort.  Ein  sehr  ansehnlicher  Inhalt, 
aber  trotzdem  bescheiden;  und  an  Bedeutung  der  Ge- 
schichte jener  Völker,  die  unterdessen  der  Welt  neuen 

149 


Anstoß  gaben,  nicht  vergleichbar;  unvergleichbar  auch 
der  Geschichte  Italiens  in  den  drei  großen,  früher  er- 
wähnten Zeiträumen.  Wer  sich  davon  überzeugen  will, 
braucht  sich  nur  die  Geschichte  Europas  im  acht- 
zehnten und  neunzehnten  Jahrhundert  zu  vergegenwär- 
tigen; er  wird  finden,  daß  Italien  an  ihr  nur  insoweit 
Anteil  hat,  als,  bin  ich  versucht  zu  sagen,  „es  Anteil 
haben  wollte."  Gewiß,  es  hat  in  diesem  Zeitraum  den 
Wissenschaften  und  Künsten  hervorragende  Männer 
geschenkt,  ansehnliche  Beiträge  zur  Weltarbeit  geleistet; 
allein  die  wirklich  neuen  Strömungen  sind  nicht  von 
ihm  ausgegangen,  es  hat  vielmehr  nur  an  jenen  Bewe- 
gungen Anteil  genommen,  die  schon  vorher  anderwärts 
zutage  getreten  waren. 

Endlich  eine  mühselige  Geschichte,  gerade  deshalb, 
weil  sie  nicht  aus  der  reifen  Kraft  eines  Volkes  hervor- 
bricht, sondern  einem  Heilungsvorgang  vergleichbar 
ist,  in  dem  sich  die  Kräfte  langsam  wiederherstellen, 
unter  Rückfällen,  Schwächezuständen  und  vielfachen 
Spuren  der  überstandenen  Übel,  desgleichen  unter 
neuen  Schäden,  die  aus  der  Anstrengung,  die  eigenen 
Kräfte  anzuspannen,  hervorgehen.  Die  sicherlich  über- 
mäßige Neigung  der  Italiener  zur  Literatur  ist  nicht 
ohne  Grund;  denn  es  ist  Tatsache,  daß  sie  dieser  den 
Beginn  ihrer  Wiedererhebung  verdanken :  eine  Wieder- 
erhebung, die  vom  Gehirn  ausgegangen,  sich  den 
Gliedern  mitgeteilt  hat,  nicht  wie  in  andern  Fällen,  auf 
dem  umgekehrten  Wege.  Aber  dieser  Ursprung  aus 
dem  Gehirn  hat  notwendigerweise  auch  Ungleich- 
heiten mit  sich  gebracht,  zwischen  Träumen  und 
Wirklichkeiten,  zwischen  Vorsätzen  und  Taten,  und 
angesichts  der  Größe  der  Erwartungen,  geringfügige 
Ergebnisse.  Es  ist  nicht  nötig,  glaube  ich,  dieses  Urteil 


durch  das  schwermütige  Verzeichnis  der  Unter- 
nehmungen zu  bekräftigen,  zu  denen  Italien  sich  an- 
geschickt und  an  denen  es  gescheitert  ist  oder  kärgUche 
Früchte  geerntet  hat;  oder  mit  der  Aufzählung  des 
ungeheuerlichen  Aufwandes,  den  uns  jeder  unserer 
Fortschritte  gekostet  hat.  Spricht  man,  wie  alle  tun, 
von  dem  Glück,  das  uns  zur  Seite  stand,  so  ist  das  ohne 
Zweifel  oberflächlich,  wenn  man  dabei  vergißt,  daß 
man,  um  der  Hilfe  des  Glücks  teilhaft  zu  werden,  auch 
in  Bereitschaft  gewesen  sein  muß,  sich  seiner  zu  be- 
mächtigen. Allein  man  spricht  die  Wahrheit,  wenn  man 
mit  diesem  Bilde  einfach  die  Mühseligkeit  der  italie- 
nischen Geschichte  herausstellen  will,  die  sich  ihr 
Strombett  nicht  durch  kraftvollen  Ansturm  der  Ge- 
wässer geschaffen,  sondern  da  und  dort  den  Pfad  ge- 
sucht hat,  Hindernisse  umgehend  und  die  Wege 
nutzend,  die  sich  vor  ihr  auftaten. 

OPTIMISMUS  (Juliic)i6).  -  Ich  weiß  recht  gut, 
daß  diese  meine  Betrachtungen  über  die  Geschichte 
Italiens  pessimistisch  angehaucht  erscheinen  werden  und 
daß  man  (wie  es  wirklich  in  ziervoller  Weise  geschehen 
ist)  sagen  wird,  sie  seien  eine  neue  Niederträchtigkeit 
von  mir,  um  „unsern  Krieg  zu  sabotieren"  oder  (mit 
einem  andern,  den  Zeiten  mehr  angemessenen  Bilde, 
das  ebenfalls  auf  mich  angewendet  worden  ist)  daß 
sie  „indirekte  Schüsse"  bedeuten,  um  „Italien  zu  treffen 
und  seine  Feinde  in  Schutz  zu  nehmen."  Es  sind  das 
Albernheiten,  die  mich  nicht  aufregen,  da  sie  von  der 
Art  sind,  wie  sie  stets  über  den  ausgeschüttet  werden, 
der  es  verschmäht,  falsche  und  ungesunde  Urteile  sich 
zu  eigen  zu  machen,  die  man  ihm  gewaltsam  auf- 
drängen will,  und  der  versucht,  so  zu  urteilen  und  zu 


reden,  wie  es  die  Wahrheit  erfordert.  Das  Sonderbarste 
ist  aber,  daß  die  von  mir  vorgebrachten  Darlegungen, 
w^eit  entfernt  davon,  mich  zu  pessimistischen  Schluß- 
folgerungen zu  führen,  vielmehr  optimistische  haben. 

Ich  gehöre  und  habe  niemals  zu  den. Vielen  gehört, 
die  so  oft  an  Italien  und  an  seiner  Zukunft  verzv^eifel- 
ten,  obgleich  ich  niemals  v^eder  im  Frieden  noch 
im  Kriege,  weder  für  Italiener  noch  vielleicht  für  irgend 
etwas  anderes  in  der  Welt,  das  Amt  des  Lobredners 
ausgeübt  habe,  so  schön  dies  Amt  auch  sein  mag,  zu 
dem  mir  aber  sicherlich  etwas  nicht  zu  Entbehrendes 
fehlen  muß:  Temperament,  Stil,  Wärme,  Eifer  oder 
weiß  Gott  noch  was.  Ich  begreife  nicht,  weshalb  bei 
der  Fülle  dieser  Ware  auf  dem  literarischen  Markt  die 
Leute  sich  so  arg  darüber  beschweren,  sie  bei  mir  nicht  zu 
finden,  das  heißt  gerade  an  der  Stelle,  wo  man  sie  am 
wenigstens  zu  suchen  hat  und  wo  man  dafür  Waren 
von  geringerem  Glanz,  aber  deshalb  doch  vielleicht 
nicht  ganz  ohne  Wert,  finden  kann. 

Ist  mithin  Italien  gehalten  auf  seine  ruhmreiche 
Vorgeschichte,  auf  die  Geschichte  der  zwei  oder  drei 
vorausgehenden  Italien,  zu  verzichten,  und  muß  es 
sich  auf  seine  eigene,  kurze,  moderne  beschränken,  so 
ist  das,  nach  meiner  Ansicht,  eine  Wohltat  für  Italien, 
und  sehe  ich  diese  Erkenntnis  zutage  treten,  wie  in 
dem  Ausspruch,  daß  hier  ein  „junges  Volk"  sei  oder 
in  der  Mahnung  „die  alten  Ruhmestaten  beiseite  zu 
lassen",  so  freue  ich  mich  dessen,  weil  ich  darin  die 
Italien  von  Natur  gegebene  Tugend  des  gesunden 
Menschenverstandes  aufleuchten  sehe,  der  sich  mit 
einer  schlichten  Gebärde  der  widergeschichtlichen  An- 
sicht von  den  Völkern  als  festumschlossenen  Indivi- 
dualitäten, metaphysischen  Seinsarten,  bevorzugten  oder 


verworfenen  Geschöpfen  freimacht.  War  das  etwa  ein 
großes  Italien,  das  sich  mit  den  Erinnerungen  an  das 
alte  Rom  belud  und  in  Verschen  von  der  Art  Meta- 
stasios  über  sie  deklamierte?  Oder  war  das  ein  kluges 
Italien,  das  sich  am  „Primat"  Giobertis  berauschte? 
Hat  dem  heutigen  Deutschland  die  phantastische 
AnStückelung  seiner  ganz  modernen  und  preußischen 
Geschichte  durch  die  Erinnerungen  an  Hermann,  an 
die  Nibelungen,  die  Ottonen,  an  Friedrich  Barbarossa 
großen  Nutzen  gebracht,  die  ihm  die  Versuchung  nahe 
legten  oder  sie  in  gefälligen  Farben  zeigten,  die  Ge- 
schichte der  Völkerwanderung  und  des  Weltkaisertums 
nachzuahmen?  Und  wo  steht  es  geschrieben,  daß  man, 
um  würdige  Taten  zu  vollbringen,  sich  einbilden 
müßte.  Ahnen  zu  besitzen,  die  man  nicht  hat  oder  die 
uns  nicht  mehr  zugehören,  und  sich  auf  das  trübe  Be- 
wußtsein von  einer  göttlichen  Auserwähltheit  zu  ver- 
lassen, bekräftigt  durch  eine  sagenhafte  Geschichte, 
die  in  unsern  aufgeklärten  Zeiten  einigermaßen  nach 
Betrug  schmeckt? 

Ebensowenig  hat  die  zweite  Behauptung  von  dem 
bescheidenen  Charakter  der  italienischen  Geschichte 
irgendwie  pessimistischen  Sinn,  da  kein  Volk  die  Welt- 
lage, in  der  es  sich  zum  Handeln  berufen  sieht,  er- 
schaffen kann,  genau  so,  wie  kein  Mensch  beanspruchen 
kann,  erhabene  Unternehmungen  auszuführen,  wenn 
der  Lauf  der  Ereignisse  ihm  nicht  den  Stoff  dazu  bietet ; 
wohl  aber  erweisen  Einzelwesen  und  Volk  ihren  Wert, 
wenn  sie  die  Aufgabe,  die  ihnen  von  Fall  zu  Fall  gestellt 
wird,  gut  erfüllen.  Anderseits  ist  es  für  ein  Volk  etwas 
so  Seltenes,  einer  Epoche  den  Namen  zu  geben,  daß 
dies  keinem  jemals  zuzweien  Malen  geglückt  ist—  (außer 
Italien,  wo  aber  auch  eine  scharfe  Unterscheidung  not 


tut) ;  darum  kam  vorlängst  durch  üble  Verallgemeinerung 
der  Gedanke  auf,  jegliches  Volk  sei  in  seinem  Augen- 
blick berufen,  seine  Rolle  auf  dem  Geschichtstheater 
zu  spielen,  um  dann  abzutreten  und  für  immerdar  zu 
schweigen;  daher  die  „Folge  der  Monarchien",  die 
„Dialektik  der  Völker",  die  Weissagung  von  der  Voll- 
endung oder  vom  Ende  der  Menschheit  um  des  Mangels 
willen,  der  sich  eines  Tages  an  neuen,  zu  den  ersten 
Rollen  berufenen  Völkern  herausstellen  würde!  Und 
obgleich  man,  die  sogenannte  Weltgeschichte  aus  dem 
Groben  betrachtend,  die  Behauptung  aufstellen  könnte, 
sie  habe  sich  bis  jetzt  in  Vorherrschaften  dargestellt, 
so  ist  es  doch  wahrscheinlich,  daß  dieser  Rhythmus 
jetzt  erschöpft  oder  doch  gründlich  abgeändert  ist, 
wenigstens  bei  den  Völkern,  die  die  europäische  Ge- 
sittung ausmachen ;  und  obwohl  eine  solche  Folgerung 
denen  sehr  unerfreulich  klingen  mag,  die  das  Amt  von 
Schulmeistern  des  Menschengeschlechts  für  etwas  über- 
aus Schönes  halten,  so  wird  doch  andern  die  Schau  der 
Völker  Europas  als  etwas  viel  Schöneres  erscheinen, 
die  als  eine  Gesellschaft  von  Gleichen  leben,  zusammen 
arbeiten,  wetteifern,  voneinander  lernen,  wohl  auch 
miteinander  kämpfen,  bald  dies,  bald  jenes  Sieger  in 
diesem  oder  jenem  Bereich  des  Lebens,  allein  jedes  frei 
unter  Freien,  ohne  den  höchsten  magister  oder  imperator^ 
und  ohne  die  pax  germanica  oder  einen  andern  Vor- 
mund, einen  Frieden^  der  ein  Sumpf  für  Beherrschte 
und  Herrscher  wäre.  Demnach  sehe  ich  für  das  neue 
Italien  keinen  Grund  zur  Klage,  wenn  aus  seiner  Ge- 
schichte nicht  erhellt,  daß  es  „zum  drittenmal  als 
Herrscherin"  erschiene  oder  zu  erscheinen  bestimmt  sei. 
Was  ich  ferner  als  das  Mühselige  seiner  Geschichte 
bezeichnet  habe,  so  ist  das  ohne  Zweifel  etwas,  das  uns 

154. 


die  Schranken  unserer  Kräfte,  die  Mängel  unserer  Sitten 
und  Einrichtungen  immer  mehr  zum  Bewußtsein  zu 
bringen  geeignet  ist,  uns  ferner  überlegter  in  unsern 
Entschlüssen,  behender  in  den  anzuwendenden  Heil- 
mitteln, immer  mißtrauischer  gegen  die  Fürsprecher 
gewagter  Unternehmen  und  ungeduldiger  gegen  Fest- 
redner und  sonstige  Schwätzer  zu  machen.  Allein  die 
unablässige  Kritik,  die  hochzuehrende,  falls  tätige 
Unzufriedenheit,  die  sich  aus  der  geschichtlichen  Be- 
trachtung ergibt,  ist  gerade  das  Gegenteil  jenes  Ge- 
fühls der  Verzagtheit,  das  sich  Pessimismus  nennt. 
Denn  jene  geschichtliche  Einsicht  in  den  langsamen  und 
mühseligen  Fortschritt  im  Leben  Italiens  ist  gleich- 
wohl die  Einsicht  in  einen  Vor-,  nicht  Rückschritt, 
einen  um  so  wertvollem  Fortschritt,  je  mehr  er  be- 
hindert ist,  uns  um  so  teurer  und  heiliger,  je  mehr  er 
uns  gekostet  hat,  um  so  wunderbarer,  je  tiefer  die  Stufe, 
von  der  wir  ausgegangen  sind.  Wie  ich  schon  erklärt  habe, 
tauge  ich  nicht  zum  Lobredner  und  mag  mich  auch 
jetzt  nicht  in  dieser  Weise  vernehmen  lassen;  will  aber 
ein  anderer  sich  daran  machen,  dem  jenes  Tempera- 
ment, jener  Stil,  jener  Eifer  und  jene  Wärme,  die  mir 
offenbar  fehlen,  zur  Verfügung  stehen,  so  rate  ich  ihm 
(was  er  ja  wohl  tun  wird),  den  Gegensatz  zwischen  dem 
Italien  vor  anderthalb  Jahrhunderten  oder  selbst  mit  dem 
vor  sechzig  Jahren  und  dem  von  heute  wohl  ins  Licht 
zu  stellen:  das  verlumpte  Volk  und  die  erbarmungs- 
würdige Bauernschaft  von  damals  mit  dem  Stadtvolk 
und  den  kräftigen  und  blühenden  Landbewohnern  von 
heute;  die  Schwärme  von  Bedienten,  Lakaien  und 
sonstigem  Gesindel  mit  den  heutigen  Arbeitern,  mögen 
sie  auch  in  sozialistische  Verbände  gepreßt  sein;  die 
wenigen  überaus  gelehrten  Männer  und  die  unüber- 

155 


sehbare  Menge  der  Unwissenden  damals  mit  der  weit 
und  gleichmäßig  verbreiteten  Bildung  von  heute;  die 
Wenigen  von  heldenhafter  Anlage,  die  stolzen  Seelen, 
„die  in  verderbter  Zeit  gelebt",  mitten  in  einer  niedrig 
gesinnten,  feigen  und  verängsteten  Gesellschaft,  mit  den 
Vielen  von  heute,  denen  die  Gelegenheit  fehlt,  sich  zu 
Helden  und  stolzen  Seelen  zu  entwickeln,  in  denen 
aber  eine  allgemeine  Redlichkeit  und  Würde  lebt,  die 
früher  selten  war;  oder  noch  besser,  das  politische  und 
militärische  Italien,  das  sich  der  französischen  Revolution 
und  der  napoleonischen  Macht  gegenübergestellt  sah, 
das  Italien  von  1815,  1820/21,  von  1848/49,  ja  selbst 
das  von  1859/60  mit  dem  heutigen,  das  nach  langem 
leidenschaftlichen  Streit  seinen  Platz  in  dem  Völker- 
kampf gewählt  hat,  seinem  Ideal  und  seiner  Auffassung 
folgend,  seinen  leitenden  Männern  gehorchend,  und 
das  zum  erstenmal  seit  Jahrhunderten,  vollkommen 
geeint  einen  großen  und  harten  Kampf  besteht,  dessen 
schwere  Lasten  mit  klarem  Geiste  auf  sich  nehmend 
und  gefaßten  Mutes  seine  Leiden  tragend:  das  Italien 
von  heute,  in  dem  alle  Stämme,  einst  fast  unbekannt 
miteinander,  von  den  entferntesten  Gegenden  her  sich 
wirklich  einig  und  als  Italiener  fühlen,  in  dem  selbst 
die  Weiblein  und  Buben  mit  lebendiger  Teilnahme 
das  Werk  des  nationalen  Heeres  verfolgen,  das  die 
Alpen  verteidigt,  bessere  Grenzen  für  den  Staat  zu  er- 
ringen, ihm  die  Straßen  nach  Afrika  und  dem  Orient 
zu  sichern  trachtet.  Sicherlich  bleibt  uns  noch  viel  zu 
lernen  und  zu  arbeiten  übrig,  um  den  Platz,  den  wir 
uns  unter  den  großen  Völkern  erworben  haben,  wür- 
dig festzuhalten  und  zu  erweitern ;  allein,  was  geleistet 
worden  ist,  erscheint  wie  ein  Traum,  wenn  man  die 
äußersten  Enden,  den  Ausgangspunkt  und  den,  zu  dem 

156 


man  gelangt  ist,  vergleicht;  vor  allem  erhebt  uns  die 
Wahrnehmung,  daß  jeder  Schritt  ein  Schritt  nach  vor- 
wärts gewesen  ist,  jeder  Fehler  eine  Warnung,  das  Jahr 
1848  dem  Jahr  1821  ebenso  überlegen  wie  1859  jenem 
und  191 5  dem  Jahr  1866.  Daß  mithin  dieser  Krieg 
selbst  nicht  allein  einen  Fortschritt  über  die  Vergangen- 
heit hinaus  bedeuten  wird,  sondern  zugleich  eine  Er- 
fahrung, die  uns  ein  klareres  Bewußtsein  unser  selbst 
und  der  modernen  Welt,  in  der  wir  leben,  verleihen 
und  uns  anspornen  wird,  in  Zukunft  allen  Teilen  unseres 
nationalen  Lebens  eine  bessere  Richtung  zu  geben. 

„ITALIENISCH-FRANZÖSISCHE  GE- 
SELLSCHAFT". EIN  WORT  FÜR  DEN 
ERNST  DER  WISSENSCHAFT  {Dezember  1916). 
—  Ich  setze  voraus,  daß  der  Plan  einer  Vereinigung, 
die  die  italienischen  Studien  in  Frankreich  bekannt 
machen  soll,  sich  in  nichts  von  andern  Plänen  unter- 
scheidet, die  man  ausgedacht  hat  oder  ausdenken  könnte, 
um  diese  Studien  in  welchem  Teil  der  Welt  immer 
zu  verbreiten.  Sollte  aber  in  diesem  Plan  (und  wahr- 
scheinlich verhält  es  sich  also)  der  Hintergedanke  an 
irgendein  Bündnis  zwischen  italienischem  und  fran- 
zösischem Denken  stecken,  im  Namen  einer  angeb- 
lichen Rasseneinheit,  nach  Abkunft  oder  Geschichte, 
einer  bestehenden  oder  zu  entwickelnden  Verwandt- 
schaft zwischen  italienischem  und  französischem  Geist 
und  eines  gemeinsamen  Anderssein  dem  anderer 
Völker  gegenüber,  so  müßte  ich  zum  Schutze  der 
höchsten  Daseinsgründe  aller  Wissenschaft  dagegen 
Einsprache  erheben.  Denn  wollte  man  selbst  die  selt- 
samen Auffassungen  von  der  Gleichartigkeit  oder  Rasse 
sowie  der  Brüder-  oder  Vetterschaften  zwischen  Völkern 


zugeben,  so  wäre  die  Schlußfolgerung,  die  man  ziehen 
müßte,  der  gerade  entgegengesetzt,  die  man  gewöhn- 
lich macht ;  das  heißt,  es  wären  vielmehr  die  Beziehungen 
zwischen  den  ethnisch  und  historisch  sich  ferner- 
stehenden Völkern  herzustellen,  ist  der  Satz  richtig, 
daß  Ehen  zwischen  Nächstverwandten,  so  verführerisch 
und  so  herzlich  eingeleitet  sie  auch  sein  mögen,  gefähr- 
lich sind,  während  die  Ehen  zwischen  Fernstehenden 
eine  kräftige  und  lebenstüchtige  Nachkommenschaft 
erzielen.  Es  ist  in  der  Tat  allgemein  bekannt,  welchen 
Nutzen  Deutschland  daraus  gezogen  hat,  das  es  zuerst 
bei  Italien,  dann  bei  Frankreich  in  die  Schule  gegangen 
ist  und  wieviel  anderseits  uns  Italienern  die  englische  und 
deutsche  Dichtung  und  Literatur  genützt  hat,  um 
unseren  Geist  zu  bereichern  und  unsere  Bildung  auf 
demselben  Wege  wie  unsere  neue  Dichtung  zu  nähren. 
Allein  die  Wissenschaft  den  Stammes-  und  Kultur- 
verwandtschaften unterordnen,  heißt  nicht  allein  in 
schädlicher  Weise  den  Kreis  der  geistigen  Ehen  ein- 
engen, sondern  auch  die  Wahrheit  zu  einer  praktischen 
Angelegenheit  machen,  zu  einem  physiologischen, 
kulturhaften  und  politischen  Erzeugnis,  und  sie  damit 
in  ihrer  göttlichen  Freiheit  verneinen,  in  ihrem  Grund- 
wesen als  Wahrheit  selbst,  die  fortwährend  aus  dem 
menschlichen  Streben  quillt,  aber  auch  fortwährend 
über  dieses  hinwegschreitet.  Als  Pfleger  der  Wissen- 
schaft sind  wir  zuerst  solche  und  erst  in  zweiter  Linie 
Italiener,  und  kein  Nationalismus,  kein  politischer  An- 
teil wird  uns  jemals  verleiten  können,  eine  minder- 
wertige Philosophie,  nur  weil  sie  italienischer  oder 
französischer  Herkunft  ist,  anzunehmen  und  eine  höher 
geartete,  weil  deutscher  Herkunft,  zurückzuweisen;  so- 
wie niemals  die  Anhänglichkeit  an  das  Vaterland  oder 

•5.8 


an  eine  politische  Partei  einen  Astronomen  dazu  be- 
wegen wird,  die  irrigen  Berechnungen  eines  lateinischen 
Bruders  anzunehmen  —  ich  spreche  von  Astronomie, 
weil  ich  unter  den  Namen  der  Förderer  des  neuen 
Instituts  den  Astronomen  Professor  Celoria  finde;  ich 
möchte  ihn  hier  fragen,  ob  es  wirklich  eines  eigenen 
Instituts  oder  einer  internationalen  Ruhmesagentur  be- 
darf, um  die  Entdeckungen  und  die  astronomischen 
Verdienste  eines  Piazzi  und  Schiaparelli  in  Frankreich, 
Deutschland  oder  England  bekannt  zu  machen?  Was 
das  anbelangt,  werden  wir,  während  des  Krieges  wie 
späterhin,  trotz  der  Forderungen  der  politischen  Kanne- 
gießer und  Ränkeschmiede,  die  uns  nahelegen  wollen, 
in  der  Wissenschaft  die  sogenannten,  ganz  mytho- 
logischen „italienischen  Überlieferungen"  aufrecht  er-, 
halten,  in  der  Wissenschaft,  die  das  Eigene  hat,  daß 
vor  jedem  ihrer  Schritte  jede  Überlieferung  zu- 
nichte wird  — ;  trotz  diesen  Forderungen  also,  die 
einen  gröblichen  Angriff  auf  dife  Unabhängigkeit  der 
Wissenschaft  bedeuten,  durch  Leute,  die  glauben,  alles 
könne  und  müsse  sich  ihren  Bequemlichkeiten  und 
Launen  fügen,  wollen  wir  damit  fortfahr«n,  die  Wahr- 
heiten zu  hören  und  entgegenzunehmen,  woher  sie 
auch  kommen  mögen,  ohne  uns  darum  zu  küm- 
mern, ob  in  den  Adern  ihrer  Urheber  lateinisches 
oder  germanisches,  keltisches  oder  jüdisches  Blut  fließe, 
weil  alles  dies  nicht  das  mindeste  mit  der  Wahrheit 
zu  tun  hat.  Darum,  liebe  Freunde,  um  es  auf  fran- 
zösisch zu  S2igtn,  fichez  nous  la  paix  mit  der  lateinisch 
oder  anglo- lateinischen  oder  slavo-anglo- lateinischen 
Wissenschaft!  Weshalb  ewig  auf  diese  langweilige 
Sache  zurückkommen  ?  Weder  Ihr  noch  andere  werdet 
jemals  etwas  mit  ihr  erreichen,  aus  dem  einfachen 

159 


Grunde,  weil  man  schlechterdings  nichts  mit  ihr  er- 
reichen kann. 

FÜR  DEN  ERNST  DES  POLITISCHEN  EMP- 
FINDENS [Dezember  igi6).  —  Hier  glaube  ich  zu 
fühlen,  wie  mich  jemand  am  Ellbogen  zupft  und  mir 
sagt:  — Schon  recht,  aber  man  muß  wirklich  recht  dick- 
schädelig sein,  um  nicht  einzusehen,  daß  alle  diese  „Ge- 
sellschaften", „Institute",  diese  „A/Z/ances'^  und  „Ami- 
tUs^^  einen  wesentlichen  und  praktischen  Zweck  haben, 
ganz  verschieden  von  dem  anscheinenden  und  wissen- 
schaftlichen, den  du  zu  kritisieren  unternimmst;  einen 
politischen  Zweck,  der  darin  liegt,  gewisse  Gruppen 
von  Menschen  auszuwählen  und  bereitzuhalten,  damit 
sie  fortwährend  oder  wenigstens  in  gewissen  ernsten 
Augenblicken  auf  die  öffentliche  Meinung  einwirken 
und  den  politischen  Beziehungen  der  beiden  Länder 
Nachdruck  verleihen.  —  Nun  gut,  das  habe  ich  wohl 
auch  verstanden,  allein  gerade  das  hätte  ich  nicht  zu 
verstehen  gewünscht,  oder  besser,  ich  hätte  gern  davon 
zu  sprechen  vermieden ;  nun  sehe  ich  freilich,  daß  dies 
nicht  angeht.  So  frage  ich  mich  denn,  mit  welchem 
Rechte  ein  Bürger  über  Fragen  politischer  Art  zu  einem 
Einverständnis,  einer  Vereinbarung,  einer  Kundgebung 
des  Anteils,  oder  wie  man's  nennen  will,  mit  Bürgern 
fremder  Staaten  kommen  kann.  Ich  glaubte  zu  wissen, 
daß  die  Beziehungen  der  Staaten,  ihre  Gegensätze,  Er- 
örterungen und  Verhandlungen  bloß  die  betreffenden 
Regierungen  angingen  und  eine  dem  Vorgehen  der  ein- 
zelnen, die  den  Staat  bilden,  gänzlich  entzogene  Sache 
ausmachten ;  daß  mit  Auswärtigen  wohl  der  Austausch 
von  Waren,  die  Zusammenarbeit  in  der  Wissenschaft, 
Bande  der  Freundschaft  möglich  seien,  jedoch  gerade 

i6o 


dies  eine  verwehrt  sei:  über  Angelegenheiten  zu  ver- 
handeln, die  die  politischen  Beziehungen  der  betreffen- 
den Länder  angehen ;  —  alles  das  v^urde  mir  durch  einen 
Grundsatz  der  Anstandslehre  bestätigt,  daß  man  mit 
Fremden  niemals  über  Politik  sprechen  dürfe,  v^rill  man 
nicht  Gefahr  laufen,  je  nachdem  entw^eder  gegen  die 
(eigene)  Würde  oder  gegen  das  Zartgefühl  (der  andern) 
zu  verstoßen.  Es  kann  sich  unter  anderem  ergeben,  daß 
der  Lauf  der  Dinge  die  Staaten,  denen  die  Bürger  in 
solchen  Verbänden  angehören,  in  Gegnerschaften  ver- 
v^ickelt;  dann  werden  die  in  diesen  angeknüpften  Bande 
zu  Hemmungen,  Verlegenheiten  oder  Ärgernissen  für 
die  Erwägungen  oder  Entschließungen  der  leitenden 
Männer,  die  allein  verantwortlich  und  allein  zuständig 
sind,  weil  sie  die  allein  tatsächliche  Lage  in  ihrer  Gesamt- 
heit überblicken,  aber  die  Unverantwortlichen  und  Un- 
zuständigen sich  entgegenarbeiten  sehen,  mit  ihren 
törichten  oder  aus  trüben  Quellen  stammenden  Vor- 
schlägen, mit  ihrer  nicht  weniger  törichten  Berufung 
auf  die  „Sympathie"  oder  die  „Freundschaft".  Das  ist 
nicht  so  gemeint,  als  ob  in  freien  Staaten,  auch  was  die 
äußere  Politik  anbelangt,  der  Beitrag  freier  Erörterung 
und  Meinung  durch  die  Bürger  verwehrt  sein  solle; 
aber  eben  bloß  als  Erwägungen,  die  man  im  Familien- 
kreise anstellt  und  die  von  jedem  Schatten  praktischer 
und  gefühlsmäßiger  Verbindlichkeit  frei  bleiben  sollen, 
von  jenem  „Einvernehmen"  zwischen  Gruppen  von 
Privaten,  die  fast  schon  den  Beginn  politischen  Handelns 
und  Antriebe  zu  Bündnissen  darstellen,  die  dem  Wohl 
des  Vaterlandes  entgegen  sein  können.  Es  ist  demnach 
Pflicht  eines  jeden,  der  das  politische  Empfinden  in 
Italien  gesund  erhalten  und  immer  ernsthafter  machen 
will,  die  Bildung  internationaler  Verbände  zwischen 

II    C  r  o  c  e ,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  I  O  I 


Privatleuten  nicht  zu  begünstigen,  oder  aber  sie  im  Auge 
zu  behalten  und  darüber  zu  wachen,  daß  ihnen  die  Mög- 
lichkeit zu  schaden  benommen  werde,  sie  sich  vielmehr 
einfach  auf  Empfänge  von  Akademikern  und  Feier- 
lustigen beschränken,  die  sich  beeifern,  von  den  be- 
treffenden Regierungen  wenn  möglich  Ordensauszeich- 
nungen zu  ergattern  und  untereinander  auszutauschen. 
Wer  dem  geschichtlichen  Ursprung  der  „internationalen 
Freundschaften"  nachgeht,  wird  finden,  daß  diese  haupt- 
sächlich französischer  Herkunft  sind  und  mit  der  Politik 
der  französischen  Revolution  zusammenhängen,  aus 
jener  Zeit,  als  franzosenfreundliche  Gesellschaften  sich 
in  Italien,  wie  in  manchen  andern  Ländern  Europas, 
aufgepfropft  auf  den  Stamm  der  freimaurerischen  Ge- 
setze, zu  bilden  begannen ;  er  mag  darüber  nachdenken, 
was  dank  diesen  Gesellschaften  sich  ereignet  hat,  und 
sich  der  Verrätereien  gegen  die  nationalen  Regierungen, 
zu  denen  sie  auch  auf  den  Schlachtfeldern  Anstoß  gaben, 
und  der  daraus  folgenden  Unterdrückung  durch  die 
Fremdherrschaft  erinnern.  Seit  jener  Zeit  haben  die 
Franzosen,  stets  dessen  eingedenk,  daß  es  ihnen  schon 
einmal  gelungen  war,  das  Gefüge  der  Staaten  zu  brechen, 
dadurch,  daß  sie  eine  Art  von  neuem  ideologischen  Staat 
in  deren  Schoß  pflanzten  —  und  mit  den  Franzosen  zu- 
sammen ihre  Nachahmer  in  der  Demokratie  —  immer 
wieder  von  neuem  versucht,  die  Politik  der  Völker  von 
der  Politik  der  „Staaten"  zu  sondern  und  dieser  ent- 
gegenzustellen, das  großherzige  „Gefühl"  der  Völker 
den  trüben  „Interessen"  ihrer  Monarchien,  und  einen 
Dualismus  gehätschelt,  der  seinen  Förderern  zuweilen 
schlimme  Streiche  gespielt  und  bittere  Enttäuschungen 
gebracht  hat.  Mit  andern  Worten,  die  Verbände  der 
„Völker",  die  „Freundschaften",  die  internationalen 

162 


„Sympathien"  bilden  einen  Teil  jener  Gesamtheit  von 
Methoden  und  Mitteln,  die  das  demokratische  und 
freimaurerische  Dogma  ausmachen ;  und  hat  der  gegen- 
wärtige Krieg  gezeigt  —  wie  es  sicher  der  Fall  ist  —  wie 
kurzsichtig  dieses  politische  Dogma  ist,  wie  viel  Blut 
und  Unheil  es  kostet,  die  Übel,  die  es  hervorbringt,  gut- 
zumachen, und  wie  dringend  es  mithin  ist,  die  Gemüter 
Italiens  im  Verlauf  des  Krieges  und  später  von  ihm  zu 
reinigen,  so  wird  klar,  weshalb  man  von  jetzt  an  jed- 
weder Vereinigung  solcher  Art  entgegenarbeiten  muß, 
der  italienisch-französischen,  italienisch-englischen,  ita- 
lienisch-russischen, italienisch-japanischen  oder  in  der 
Zukunft  einer  italienisch-deutschen,  italienisch-bulga- 
rischen, italienisch-griechischen  oder  welcher  immer. 
Wünschen  wir  uns  mit  allen  Völkern  lebhafteste  Han- 
delsverbindungen wie  lebhafteste  geistige  Verbindungen; 
erweitern  wir  den  Umkreis  unserer  privaten  Freund- 
schaften durch  solche  mit  den  Menschen  der  verschie- 
densten Völker,  nicht  allein,  weil  dies  in  uns  das  Gefühl 
der  Humanität  vertieft,  sondern  auch,  weil  es  dem  Geiste 
Nutzen  bringt,  ihn  von  Vorurteilen  läutert  und  mit 
neuen  Kenntnissen,  neuen  Antrieben  bereichert;  lehnen 
wir  es  ab,  Mitschuldige  zu  werden  an  den  Überheblich- 
keiten, Verleumdungen,  Plattheiten,  an  dem  Schmutz, 
den  jedes  Volk  gegen  das  andere  schleudert,  nament- 
lich die  „Nachbarvölker",  die  ausersehen  scheinen, 
sich  nach  Art  der  Bauern  benachbarter  Gemeinden  zu 
hassen :  —  aber  von  italienischer  Politik  wollen  wir  nur 
unter  uns  Italienern  reden  und  uns  stets  in  Bereitschaft 
halten,  jedes  Volk,  auch  das,  welches  am  meisten  zu 
unseren  Herzen  oder  zu  unserer  Phantasie  spricht,  als 
Gegner  zu  betrachten,  falls  die  Leiter  des  Staates  es  uns 
eines  Tages  als  solchen  bezeichnen  sollten.  Die  poli- 

"•  163 


tischen  Angelegenheiten  —  das  ist's,  was  man,  ich  weiß 
nicht  warum,  nicht  hören  will,  was  aber  den  Wert  eines 
Axioms  hat  —  sind  nicht  unsere  privaten  Angelegen- 
heiten, auch  nicht  durch  unser  zärtliches  Herz  umzu- 
formen, sondern  sie  gehören  jenen  Leviathanen  an,  die 
man  die  Staaten  nennt,  jenen  ungeheueren  Lebewesen 
mit  ehernen  Eingeweiden,  denen  zu  dienen  und  zu  ge- 
horchen wir  verpflichtet  sind;  und  diese  haben  ihrerseits 
gute  und  gewichtige  Gründe,  einander  scheel  anzusehen, 
sich  die  Zähne  ins  Fleisch  zu  schlagen,  sich  zu  zer- 
reißen und  zu  verschlingen,  in  Anbetracht  dessen,  daß 
die  Weltgeschichte  sich  bisher  allein  in  dieser  Weise 
abgespielt  hat  und  im  Wesen  auch  immer  so  abspielen 
wird. 

ORGANISATION  UND  GESCHICHTLICHES 

WESEN  {Critica  XV,  März  1917).  -  Ein  vor  kurzem 
erschienenes  Buch  (E.  Giovannetti,  Der  Unter- 
gang des  Liberalismus,  Bari  19 17),  weit  ausgreifend  in 
seinen  Überblicken  und  sehr  lebendig  in  der  künst- 
lerischen Darstellung,  bricht  eine  Lanze  gegen  die  „libe- 
rale Idee"  der  lateinischen  Länder  und  Englands  und 
für  die  „Organisation"  —  ein  häßliches  Wort,  das  ein- 
stens die  Anhänger  der  französischen  Revolution  im 
Munde  geführt  haben  und  das  heute  wieder  bei  den 
Bewunderern  der  deutschen  Macht  in  Schwang  ge- 
kommen ist.  Und  in  der  Tat,  solange  der  Verfasser  die 
beiden  verschiedenen  Auffassungen  in  ihrem  Gegensatz 
zeichnet  und  die  Überlegenheit  der  zweiten  über  die 
erste  dartut,  verficht  er  eine  unumstößliche  These,  denn, 
wie  ich  schon  ein  andermal  darzulegen  gesucht  habe, 
heißt  dies  die  Überlegenheit  des  Reifern  über  das 
weniger  Reife  anerkennen,  des  Denkens  des  neun- 

164 


zehnten  über  das  des  achtzehnten  Jahrhunderts,  der 
sozialen  Wirklichkeit  über  einen  abstrakten  Idealismus. 
Allein,  sobald  der  Verfasser  zur  Beurteilung  von  poli- 
tischen Bildungen  und  Einrichtungen  fortschreitet,  er- 
heben sich  in  mir  nicht  geringe  Zweifel ;  um  diese  alle 
in  einem  einzigen  zusammenzufassen,  möchte  ich  nur 
meiner  Befürchtung  Ausdruck  verleihen,  es  könnte  die 
„Organisation",  das  greifbare  Ideal  sozialen  und  poli- 
tischen Lebens  selber  in  abstrakter,  jakobinermäßiger 
Weise  aufgefaßt  werden.  Ich  sage  absichtlich  „Befürch- 
tung", weil  wir  nach  dem  Kriege  vielleicht  allenthalben 
in  unsern  Ländern  die  Mahnung,  den  Antrieb,  den  Be- 
fehl zu  „organisieren"  erleben  werden ;  sehr  häufig  wird 
aber  eine  Maske  ohne  lebendiges  Antlitz  dahinter  „or- 
ganisiert" werden,  eine  neue  gesellschaftliche  Lüge,  ein 
schön  ausgestattetes  Titelblatt,  hinter  dem  sich  Gewalt, 
Trug  und  ähnliche  Dinge  verbergen  werden.  Um  schon 
jetzt  allem  Hinterhalt  und  der  Gefahr  vorzubeugen, 
muß  man  sich  eine  Seite  des  Organisationsgedankens 
recht  deutlich  machen,  die  einfach  „Seite"  genannt 
werden  kann,  wenn  man  das  Wort  an  den  richtet,  der 
sie  übersieht,  die  aber  in  Wirklichkeit  das  Wesen  und 
den  lebendigen  Hauch  dieser  Idee  darstellt  und  ihr 
wirksame  Kraft  verleiht:  die  feste  Überzeugung  von 
der  Ehrfurcht,  die  man  der  Geschichte  schuldig  ist. 
Denn  wahrhaftig,  „organisieren"  ist  bald  gesagt,  wer 
aber  hat  denn  die  Kraft,  die  virius^  zu  organisieren?  Es 
erfordert  das  Autorität,  und  wo  findet  sich  diese,  das 
heißt,  die  mit  Ehrfurcht  betrachtete  Macht,  von  Ver- 
trauen umgeben,  und  darum  sich  selbst  vertrauend.? 
„Wohl  sind  Gesetze,  doch  wer  führt  sie  aus?"  Und  will 
nicht  „Organisation"  eine  besondere  gesellschaftliche 
Ordnung  besagen,  oder  nicht  vielmehr  jede  Ordnung, 

.65 


die  organisch,  nicht  mechanisch,  lebendig,  nicht  tot  ist? 
War  die  „organisierte"  JesuitenrepubHk  in  Paraguay  „or- 
ganisch" oder  nicht  vielmehr  die  anscheinende  Anarchie 
des  italienischen  Städtelebens  im  dreizehnten  und  vier- 
zehnten Jahrhundert?  Und  v^äre  —  nehmen  w^ir  es  als 
Beispiel  oder  als  Bild  —  ein  Neapel  auf  deutsche  Art 
„organisiert"  etwas  Organisches,  mit  seinen  Schaum- 
schlägern, die  bei  diesem  Anlaß  den  Mund  vollnähmen 
mit  Redensarten  deutscher  Prägung,  mit  seinen  Ver- 
waltungen, die  auf  deutsche  Art  die  ortsüblichen  schlech- 
ten Gewohnheiten  in  ein  System  brächten,  wie  sie  es 
bereits  nach  französischer,  freimaurerischer  oder  Block- 
manier, wie  man  es  nennen  will,  tun,  und  mit  den 
klugen  Zuschauern  (bei  uns  sind  die  Klugen  immer 
Zuschauer),  bereit  zur  Ironie  und  zum  Spott?  Wäre 
diese  wenig  anziehende  Vorstellung  einem  Neapel  nach 
deutscher  Art  gegenüber  nicht  das  alte  Neapel  weitaus 
organischer  zu  nennen,  von  Hof-  und  Kirchenleuten 
verwaltet,  die  eine  lange  geschichtliche  Überlieferung 
hinter  sich  hatten  und  viel  Gutes  wirkten,  wie  es  die 
Einrichtungen,  die  sie  hinterlassen,  und  die  Denkmäler, 
die  sie  errichtet  haben,  bezeugen?  Der  Begriff  der  Or- 
ganisation —  nicht  der  vernünftelnden,  jakobinischen, 
sondern  der  von  innen  heraus  wirkenden,  dialektischen  — 
erfordert  an  erster  Stelle  das  Nachforschen  darüber,  wie- 
viel an  Lebendigem,  noch  Wirkungs-  und  Entwick- 
lungsfähigem in  den  sozialen  Einrichtungen  und  Klassen 
vorhanden  ist,  und  die  daraus  sich  ergebende  Klugheits- 
forderung, dieses  Lebendige  (mag  es  auch  hie  und  da 
fehlerhaft,  übersteigert  und  zwiespältig  erscheinen)  nicht 
zu  opfern,  nicht  dem  Wahnbild  einer  vermeintlichen 
Regelmäßigkeit  und  Einfachheit  nachzulaufen,  das  sich 
bei  der  Umsetzung  in  die  Wirklichkeit  als  unfruchtbar 

i66 


und  ohnmächtig  herausstellen  oder  zu  den  Mißbräuchen 
des  Alten  die  Fehler  des  Neuen  hinzufügen  würde.  Wer 
jemals  an  Verwaltungsgeschäften  teilgenommen  hat, 
wird  bei  seinen  ersten  Schritten  eines  jugendlichen  Ra- 
dikalismus an  sich  selbst  die  Erfahrung  gemacht  haben, 
daß  ihip,  wenn  er  zuweilen  an  Stelle  des  Ungeregelten 
das  Geregelte  setzen  wollte,  das  Ungeregelte  unter  den 
Händen  starb  und  das  Regelrechte  nicht  geboren  wurde, 
und  wird  sich,  nicht  ohne  innere  Gewissensbisse  des 
landläufigen  Sprichworts  vom  lebendigen  Esel,  der  mehr 
wert  ist  als  der  tote  Doktor,  erinnert  haben.  Es  ist  dies 
sogar  der  natürliche  Weg,  auf  dem  man  vom  Radikalen 
mehr  oder  weniger  zum  Konservativen  wird,  nicht  etwa, 
wie  die  Spötter  sagen,  weil  auf  die  warme  jugendliche 
Hochherzigkeit  die  kalte  und  berechnende  Nützlich- 
keitsgesinnung des  reifen  und  bejahrten  Menschen  folgt. 

TOTE  UND  LEBENDIGE  GESCHICHTLICH- 
KEIT [März  1917).  —  Die  Gewissenserforschung  der 
nationalen  Politik,  die  wir  anstellen  müssen,  die  Er- 
weckung der  Reue  und  der  Vorsatz,  der  daraus  folgen 
muß,  bestehen  also  in  erster  Linie  in  der  Erkenntnis, 
daß  in  den  Ländern  des  Abendlandes  während  der  letz- 
ten hundertfünfzig  Jahre  allzuviel  und  allzuhastig  zer- 
stört worden  ist.  Man  müßte  die  Stimmen  jener  Min- 
derheiten sammeln  und  wieder  auf  sie  achten,  die  im 
Verlauf  der  Zerstörungen  Einspruch  erhoben  und  warn- 
ten, besonders  in  den  gefährlichsten  Augenblicken,  so 
bei  der  Ausbreitung  der  französischen  Revolution  oder 
bei  der  des  auf  Einheit  zielenden  Italiens;  es  sind  das 
Stimmen,  die  selbst  in  unserer  Dichtung  Widerhall 
fanden,  so  in  den  Sonetten  Alfieris,  wo  man  unter  ande- 
rem lesen  kann: 

167 


Alt  ist  die  Welt  und  stets  war  dies  ihr  Lauf; 
Doch  ohne  aufz,ubauen  zu  zerstören, 
•  Das  trifft  allein  der  starre  Gallierschädel. 

Freilich,  vorbei  ist  vorbei,  und  mir  fällt  es  sicherlich 
nicht  ein,  zu  Klagen  über  nahe  und  ferne  Vergangen- 
heit aufzufordern,  und  noch  viel  weniger  zu  empfind- 
samen, phantastischen  und  theatermäßigen  Wieder- 
belebungsversuchen, und  obv^ohl  ich  gerade  die  Terzine 
Alfieris  angeführt  habe,  w^ill  ich  doch  auch  noch  die 
Anrufung  des  guten  Kaisers  Barbarossa  durch  Heinrich 
Heine  hierhersetzen: 

Das  Mittelalter,  immerhin 

Das  wahre,  wie  es  gewesen, 

Ich  will  es  ertragen  —  erlöse  uns  nur 

Von  jenem  Zwitterwesen. 

Von  jenem  Kamaschenrittertum, 

Das  ekelhaft  ein  Gemisch  ist 

Von  gothischem  Wahn  und  modernem  Lug, 

Das  weder  Fleisch  noch  Fisch  ist. 

Jag  fort  das  Komödiantenpack 
Und  schließe  die  Schauspielhäuserj 
Wo  man  die  Vorzeit  parodiert  — 
Komme  du  bald,  o  Kaiser! 

Nein,  nichts  von  Mittelalter  aus  Pappendeckel,  von 
ancien  regime  französischer  Nationalisten,  von  Teutonen- 
tum  nach  Art  italienischer  Jungen,  auch  nicht  einmal 
von  Monarchie  vom  Schlage  Marie-Antoinettes,  w^ie 
sie  einst  unser  Bonghi  ersehnt  hat;  nichts  von  Erzeug- 
nissen in  Retorten  und  Destillierkolben,  nicht  Helme 
Don  Quijotes!  Aber  auch  in  unserem  Italien,  hervor- 
gegangen aus  einer  Folge  von  Umwälzungen,  „ge- 
wachsen" (wie  Carducci  gesagt  hat)  „im  freien  Sonnen- 
licht"  Frankreichs,  gibt  es  viel  Vergangenheit,   viel 

i68 


Geschichtliches,  das  noch  Dienste  zu  leisten  fähig  ist; 
sogar  in  unserer  Staatsverfassung,  wo  wir  eine  Herrscher- 
gewalt haben,  die  einst  eine  vortreffliche  und  strenge 
Dienerin  ihrer  Völker  war,  als  sie  noch  auf  ihr  altes 
Piemont  beschränkt  war,  und  die  eine  treue  Dienerin, 
eine  .nachsichtige  Mutter,  voll  mäßigender  Klug- 
heit gewesen  ist,  als  sie  sich  über  Gesamtitalien  er- 
streckte: eine  Monarchie,  die  wir  nicht  stückweise  zu- 
sammenzuklauben brauchen,  wie  es  die  französischen 
Nationalisten  tun  müssen,  aus  dem  Sumpf,  in  den  ihre 
Königs-  und  Kaiserfamilien  hinabgesunken  sind,  son- 
dern die  ihren  geschichtlichen  Zusammenhang  und 
ihre  sittliche  Würde  gewahrt  hat.  Und  eine  Kraft  der 
Überlieferung  liegt  in  dem  nicht  mit  Unrecht  gerühm- 
ten gesunden  Sinn  der  Italiener,  gebildet  aus  Bescheiden- 
heit, Ergebung  und  Mut.  Eine  Kraft  der  Überlieferung 
ist  ebenso  unser  künstlerischer  Geist,  der  das  Körper- 
und  Formhafte  liebt  und  gleicherweise  die  zügel- 
lose Einbildung  wie  die  tüftelnde  Überlegung  verab- 
scheut. Kraft  der  Überlieferung  ist  die  Abneigung  gegen 
Mystik,  Theologentum,  der  wissenschaftliche  und  philo- 
sophische Realismus,  der  sich  in  verschiedenen  Arten 
und  Abstufungen  in  allen  Landschaften  Italiens  und  in 
allen  ihren  Schulen  bemerkbar  macht.  Und  Kraft  der 
Überlieferung  ist  ebenso  das  „zu  lachen  wissen"  über 
Schwulst  und  Taumel  aller  Art,  lehrhafter  oder  prak- 
tischer Natur,  ist  das  sofortige  Zurückführen  falscher 
Traumgröße  auf  ihr  kleines  Maß.  O  hegen  und  pflegen 
wir  doch  das  alles,  das  vorhanden  ist,  und  entwurzeln 
wir  es  nicht,  um  an  seine  Stelle  Gewächse  zu  setzen, 
die  schwerlich  Wurzeln  schlagen  werden !  Der  scharf- 
sinnige Verfasser  des  früher  angeführten  Buches  ver- 
spottet den  Begriff  der  Nation,  und  ist  durchaus  im 

169 


Recht,  sagt  dreimalheilige  Dinge,  wenn  er  ihn  darauf- 
hin betrachtet,  was  er  an  Naturwissenschaftlichem  und 
Materialistischem  enthält,und  für  jeden  modernen  Geist, 
der  sich  zuerst  und  wesentlich  als  Mensch  fühlt  oder 
wenigstens  als  europäischer,  sicherlich  nicht  nationaler 
Mensch  fühlt,  etwas  Erniedrigendes  hat.  Aber  es  gibt 
ein  anderes  Nationalgefühl,  gar  sehr  dem  Familiengefühl 
verwandt,  ein  Gefühl,  das  mit  dem  zusammenfällt,  was 
in  der  Sittenlehre  die  „Pflicht  gegen  den  Nächsten" 
heißt  und  das  nicht  bloß  die  Nation,  sondern  selbst  den 
Gau  und  den  Kirchturm  umfaßt;  und  hier  heißt  es  mit 
Kritik  und  Satire  vorsichtig  sein,  um  nicht  durch  ihre 
ätzenden  Säuren,  zusammen  mit  der  naturwissenschaft- 
lichen Kruste  auch  das  ideale  Mark  zu  verletzen;  nament- 
lich in  Italien,  insofern  das  Nationalgefühl  bei  uns  eine 
ziemlich  neueErrungenschaft  oderÜberlieferung  ist,  sehr 
viele  Überwinder  des  nationalen  Bewußtseins  überhaupt 
niemals  ein  solches  wirklich  besessen  haben,  aus  einer 
Überwindung  (wie  es  aus  der  Philosophie  her  bekannt 
ist),  die  heilsamerweise  nur  dem  gegenüber  eintreten 
kann,  was  man  besessen  hat,  niemals  aber  dem  gegen- 
über, was  man  niemals  sein  genannt  hat.  Es  scheint 
mir,  daß  der  Verfasser  diese  Vorsicht  außer  acht  läßt, 
wenn  er,  habe  ich  recht  verstanden,  von  einer  Art  freier 
Wahl  zwischen  den  Vaterländern  spricht:  etwas,  das 
mir,  offen  gesagt,  widerstrebt,  weil  ich  in  dieser  Hinsicht 
der  Meinung  Dantons  bin,  daß  man  das  Vaterland 
nicht  an  den  Schuhsohlen  trage;  und  so  schmeckt  mir 
auch  nach  Egoismus  der  Gedanke,  das  Vaterland  auf- 
zugeben —  es  sei  denn,  man  wäre  dazu  durch  unaus- 
weichlichen Zwang  genötigt  —  weil  man  es,  obwohl  es 
das  von  Natur  gegebene,  als  uns  nicht  entsprechend 
ansieht,  um  eines  bessern,  aber  künstlichen  willen;  denn 

170 


ich  habe  das  Gefühl  —  oder  sollte  dies  religiöser  Aber- 
glaube sein?  —  daß  die  Vorsehung  uns  dort,  wo  sie  uns 
zur  Welt  kommen  läßt,  auch  die  Ausübung  unserer 
Pflichten  auferlegt. 

DIE  NEUE  ORGANISATION  (März  1917).  - 
Dennoch  scheint  alles,  was  ist,  dazu  bestimmt,  sich 
umzubilden,  das  heißt  zu  sterben,  und  ich  leugne  nicht, 
daß  gesellschaftliche  Einrichtungen  und  Formen,  die 
ich  in  Italien  noch  für  lebensfähig  halte,  eines  mehr 
oder  weniger  nahen  oder  fernen  Tages  unter  ruhigen 
oder  stürmischen  Abendröten  vergehen  werden.  Ich 
leugne  nicht  einmal,  in  theoretischer  Hinsicht,  daß  es 
eines  Tages  ebenso  zeitwidrig  und  töricht  sein  wird,  sich 
als  Italiener,  Franzosen,  Spanier  zu  bekennen,  wie  heute 
als  Herzog,  Fürst  oder  sonstwie  als  Feudalherrn.  Wenn 
ich  auch  die  deutsche  Klugheit  verstehe  und  schätze, 
die  im  modernen  Leben  sogar  gewisse  mittelalterliche 
Einrichtungen,  gewisse  feudale  Klassen,  gewisse  barba- 
rische Verhaltungsweisen  zu  bewahren  und  auszunützen 
verstanden  hat,  als  einzigartiges  Beispiel  der  von  den 
Soziologen  gemeinsam  als  widersinnig  verurteilten  Ver- 
bindung einer  militärischen  mit  einer  industriellen  Ge- 
sellschaft, so  bin  ich  doch  weit  davon  entfernt,  diese 
vorübergehenden  geschichtlichen  Bildungen  in  Götzen- 
bilder und  Fetische  zu  verwandeln,  ihnen  Ewigkeit  und 
ewig  wirksame  wohltätige  Kraft  zuzuschreiben.  Wenn 
alle  diese  einst  kraftvollen  und  heilsamen  gesellschaft- 
lichen Gebilde  allmählich  gealtert  sein  und  absterben 
werden,  will  ich  es  gerne  den  Dichtern  überlassen,  sie 
zu  verklären  und  zurückzusehnen,  sowie  sie  es  schon 
mit  den  Burgfrauen  des  Mittelalters,  den  Zinnentürmen 
und  den  fahrenden  Minnesängern  getan  haben.  Auch 

171 


vermag  ich  nicht,  um  dergleichen  auf  der  Hand  liegen- 
der Voraussichten  willen,  düster  und  trübe  in  die  Zu- 
kunft zu  blicken,  noch  mich  durch  die  Bilder  eines 
„Verfalls  des  menschlichen  Geschlechts",  wie  es  die 
positivistischen  Soziologen  zu  tun  pflegen,  abschrecken 
zu  lassen,  oder  durch  solche  vom  Untergang  der  Welt, 
wie  ihn  die  Anokalyptiker  aller  Zeiten  ausmalen;  der- 
gleichen Todesbetrachtungen,  nicht  allein  auf  die  Einzel- 
wesen gerichtet,  sondern  auf  alle  menschlichen  Ein- 
richtungen, ja  selbst  die  Völker  —  auch  diese  sterben, 
obwohl  ein  schönrednerisches  Schlagwort  besagt,  daß 
„ein  Volk  nicht  stirbt"  —  sind,  wie  leicht  einzusehen, 
eine  Quelle  des  sozialen  Pessimismus,  der  in  den  all- 
gemeinen Weltschmerz  ausmündet.  Jegliches  stirbt,  nur 
der  Geist  nicht,  der  alle  sterblichen  Dinge  geschaffen 
hat  und  stets  in  der  Lage  und  am  Werk  ist,  neue  zu 
schaffen,  ja  gar  nichts  anderes  zu  tun  vermag.  Und 
hieran  liegt  es,  daß  die  Pflicht,  die  sich  zu  der  gesellt, 
nicht  leichtsinnig  das  Bestehende  und  das  noch  zu  nütz- 
lichen Diensten  fähige  Alte  zu  vernichten,  auch  die 
Pflicht  ist,  das  Neue  zu  schaffen,  die  neuen  Überliefe- 
rungen, da  auch  das  Alte,  Tote  oder  Sterbende  einstens 
neu  gewesen  und  nicht  vom  Himmel  gefallen,  son- 
dern durch  Geistes-  und  Willensanstrengung  der  Men- 
schen geschaffen  worden  ist.  Diese  Pflicht  ist  um  so 
stärker  und  dringlicher  in  den  Ländern  unseres  west- 
lichen Europa,  weil,  wie  gesagt,  allzuviel  zerstört  worden 
ist;  darum  wäre  es  aber  doch  kein  ernstzunehmender 
Gedanke,  Gerippe  und  Knochen  zu  sammeln,  um  aus 
ihnen  lebendige  Menschen  zu  bilden,  die  in  der  idealen 
Welt  ebenso  wie  in  der  physiologischen  nicht  durch 
Verfahren  von  Einbalsamierern,  Totengräbern  und 
anderen  Friedhofsangestellten  hervorgebracht  werden. 

172 


So  schließt  also  die  Betrachtung,  die  mit  der  Geschichte 
und  Kritik  des  Schlagwortes  der  „Organisation"  ein- 
geleitet wurde,  mit  der  durchaus  nicht  verwunderlichen 
und  immer  richtigen  Folgerung,  die  erste  und  grund- 
legende „Organisation"  sei  die,  die  wir  fortwährend  mit 
unserem  Geist  und  Gemüt  vorzunehmen  gehalten  sind, 
und  von  der  die  äußerlichen  „Organisationen"  nur  Sinn- 
bilder darstellen,  die  gerade  so  viel  wert  sind  als  die  ver- 
sinnbildlichte Sache. 


m 


LITERARISCHES  ZWISCHENSPIEL 

SCHRIFTSTELLER  AUS  DER  ZEIT  VOR 
DEM  KRIEGE  (Crü.XFlAug.igiyY-M.BARRES. 
—  Ist  es  möglich,  große  Gefühle  oder  gar  große  Ge- 
danken vorzutäuschen,  wenn  man  bloß  elementare 
und  krankhafte  Empfindungen  hat?  Sicherlich,  falls 
sich  zu  dieser  natürlichen  Beschränktheit  ein  nicht 
weniger  natürlicher  Scharfsinn  zugesellt  und  der  „Be- 
weisgrund des  Geistes"  zum  „üblen  Wollen",  das  heißt 
in  diesem  Fall  zum  „üblen  Empfinden"  hinzukommt. 
Nun,  gerade  Moritz  Barres  scheint  mir  —  ich  spreche, 
wohlgemerkt,  vom  Künstler,  nicht  vom  Menschen  — 
eine  Seele,  die,  streng  genommen,  in  ihrem  Grunde 
nichts  anderes  als  ein  Gewimmel  ungesunder  Neigungen 
aufweist,  zum  Teil  aber  vorgeführt  als  das  Verhalten 
eines  überlegenen  Geistes,  zum  andern  erweitert  zu 
einem  politischen  und  nationalistischen  Gefühl,  so- 
wie zu  einem  sittlichen  und  geschichtlichen  Dogma. 
Von  seinen  ersten  Büchern  an  erscheint  er  als  Nach- 
ahmer Stendhals,  der  diese  Quelle  seiner  Eingebung 
mit  andern  von  Baudelaire  und  Flaubert  (dem  Flau- 
bert der  Salammbo  und  der  Tentattons)  gespeisten  ver- 
mischt .und  beide  trübt,  indem  er  Stendhal  seiner 
naiven  Vorliebe  für  das  Kraftvolle  und  Leidenschaft- 
liche, auf  dem  seine  Dichtung  ruht,  entkleidet,  Baude- 
laire des  Abscheus  vor  sich  selber  und  seines  Sinnes 
für   menschliches   Mitleid,   und    von    Flaubert    das 

174 


Schlechteste  annimmt,  nämlich  das,  was  gerade  in  sei- 
nen minderwertigen  Werken  zum  Ausdruck  kommt. 
Barres'  culte  du  moi  ist  nichts  anderes  als  Stendhals 
egotisme  (ein  Wort,  das  er  übrigens  selbst  gelegentlich 
als  gleichbedeutend  verwendet):  Napoleon  tritt  auch 
bei  ihm  als  „Lehrer  der  Spannkraft"  auf  und  erteilt 
ihm  Lehren  einer  „Methode  im  Dienst  der  Leiden- 
schaft" ;  dem  Andenken  Napoleons  oder  seiner  Gruft 
leisten  seine  Gestalten  den  Treueid,  wie  vorher  Julian 
Sorel  oder  Fabrice  del  Dongo,  und  sie  bemühen  sich, 
gleich  Stendhals  Helden,  „soviel  als  möglich  zu  fühlen, 
indem  sie  soviel  als  möglich  zergliedern";. ebenso  ent- 
nehmen sie  ihr  Rüstzeug  der  religiösen  und  kirchlichen 
Welt,  und  streben  sie  auch  nicht  wie  ihre  Ahnen  die 
Prälatur  an,  so  ziehen  sie  sich  doch  zeitweise  in  ein 
fast  klösterliches  Leben  zurück,  nehmen  die  geistlichen 
Übungen  des   heiligen  Ignatius  zum  Leitstern    und 
wollen  für  die  Anbetung  des  Ich  die  gleiche  „Hygiene" 
anwenden,  die  vordem  die  geistlichen  Orden  für  jene 
Gottes  gebraucht  haben.   Aber  wenn  die  Helden  Sten- 
dhals auf  irgendwelche  geräuschvolle  Taten,  außer- 
ordentliche Leidenschaften  oder  politische  Herrschaft 
zielten,  so  schätzen  die  Barres'  keine  andern  Werte  als 
„gewisse  Nervenkitzel,  die  die  Welt  weder  kennt  noch 
empfinden  kann,   und  die  wir  in  uns  vervielfältigen 
müssen".  Der  Sozialismus,  als  eine  „Magenfrage",  er- 
weckt ihnen  keinen  Anteil,  da  sie  bereits  seine  gute 
Seite  ausgeschöpft  und  für  ihren  Magen  gesorgt  haben, 
und  da  damit  die  leiblichen  Bedürfnisse  erledigt  sind, 
so  trachten  sie,   „ihrem  Feingefühl  die  seelische  Be- 
friedigung zu  geben,  die  es  fordert" ;  ihr  Problem  ist 
nicht  das  quid  agendum^  sondern  das  quo  modo  gauden- 
dum:  „das  Ergebnis  ist  nichts,  alles  liegt  in  der  Erkun- 


düng",  wie  Barres  zu  wiederholen  liebt,  in  einem  ganz 
andern  Sinn,  als  dieser  Formel  bei  ihrem  Ursprung 
innewohnte,  denn  „Erkundung  ist  alles",  bedeutet  für 
ihn  „Lust  ist  alles".  Derart  daß,  während  Stendhals 
egotisme  die  verdrehte  Form  des  Egoismus  ist,  der 
culte  du  moi  nur  die  Form  ist,  die  wir,  um  es  nicht  in 
unserer  Sprache  sagen  zu  müssen,  auf  französisch  co- 
chonne  nennen  wollen.  Und  die  cochonneries,  die  Barres 
fast  in  allen  seinen  Büchern,  besonders  in  Du  sang, 
de  la  volupt^  et  de  la  mort  vorbringt,  sind  unsagbar ; 
wollte  man  sie  sammeln  und  zusammenstellen,  so 
würde  man  glauben,  die  Paragraphen  einer  Abhand- 
lung über  geschlechtliche  Pathologie  niederzuschreiben : 
Vorliebe  für  Blutschande,  für  verschieden  betonte  und 
gleichzeitige  Liebeshändel,  für  Wollust  und  Blut,  für 
frevelnde,  verbrecherische  und  schändliche  Lüste,  vor 
allem  für  die  Verbindung  des  Bildes  der  Liebe  mit 
denen  von  Zerstörung  und  Auflösung,  Tod  und  Lei- 
chen. Lassen  wir  den  Vorhang  darüber  fallen,  umso- 
mehr  als  es  für  uns  Kritiker  höchst  überflüssig  ist, 
Dinge  zu  zergliedern,  die  im  Schrifttum  des  neun- 
zehnten Jahrhunderts  recht  alt  sind  und  die  wir  längst 
bei  ganz  andern  Künstlern  und  mit  ganz  anderer  Be- 
tonung getroffen  haben.  Was  aber  hervorzuheben  not 
tut,  ist  eine  und  die  andere  Stelle,  in  der  Barres  deut- 
licher enthüllt,  was  er  vom  Menschen  denkt;  so  wenn 
er,  die  Aufregungen  einer  corrida  schildernd,  sagt: 
„Feine  Geister  erheben  sich  aus  dem  vergossenen  Blut, 
ein  Duft  durchdringt  uns  und  weckt  das  reißende  Tier 
in  uns.  Für  die  Menschheit  ist  das  ein  Jungbrunnen; 
jüngster  Jugend,  noch  derTierheit  nahe",  oder  wenn  er 
seinen  Helden  Sturel,  den  er  in  die  tiefsten  Niederun- 
gen  des   Pariser  Lebens  führt,   den   Gedanken   aus- 

176 


sprechen  läßt:  „Ich  kann  wohl  meine  individuellen 
Eigenheiten  haben,  denn  keine  Blüte  der  Welt  ist  an- 
dern Blüten  gleich,  aber  ich  tauche  hinab  in  das, 
was  allen  Menschen  gemein  ist  und  was  nur  den 
schärfsten  Blicken  sich  enthüllt.  Ich  nehme  an  der 
Tier h ei t  teil.  Wir  sind  ursprünglich  geboren,  um  zu 
beißen,  zu  erbeuten,  zu  zerfleischen."  Weiter- 
sinnend darüber,  endigt  er  damit,  sogar  auf  die  Goethe- 
schen  „Mütter"  zurückzugreifen.  Nun  beweisen  Ge- 
danken, wie  die  eben  angeführten— da,  was  ursprünglich, 
auch  wesentlich  ist  —  ausdrücklich,  was  man  im  übri- 
gen dem  ganzen  Schaffen  Barres'  entnehmen  kann: 
daß  er  keine  Ahnung  von  der  Geistigkeit  des  Men- 
schen hat,  derart,  daß  er  die  „jüngste  Jugend"  nicht  in 
das  Auge  des  Kindes  verlegt,  das  vor  dem  Schauspiel 
der  Welt  erstaunt,  sondern  in  die  Begierde  des  Tieres, 
jenes  Tieres,  das  letzten  Endes  der  verwandelte  Mensch 
selbst  ist,  nicht  das  wirkliche  Tier,  das  man  nicht  ver- 
leumden sollte,  wie  es  üblerweise  getan  wird. 

Gar  manche  Leser  werden  zuweilen  vor  Barres' 
Blättern  in  Verwirrung  geraten  sein  und  sich  die  Frage 
vorgelegt  haben,  ob  der  Verfasser  im  Ernst  spreche, 
oder  scherze  und  sie  zum  besten  halte;  der  wackere 
Bourget  nennt  in  der  Einleitung  zu  jenem  andern  ver- 
kehrten Meisterwerk,  dem  Disciple  (auch  dies  ein 
Gemengsei  aus  Stendhal,  läppisch  geworden  durch  das 
Hineintragen  einer  albernen  philosophisch-moralischen 
Tragik),  den  Homme  libre  des  „ausgezeichneten  Zer- 
gliederers Hrn.  Barres"  ein  „Meisterwerk  der  Ironie, 
dem  bloß  eine  Bekehrung  fehlt".  Nun,  fehlt  diese 
„Bekehrung"  —  die  innerliche  Bekehrung,  nicht  etwa 
*  ein  angekleisterter  Schluß,  der  wohl  leicht  hinzuzufügen 
gewesen  wäre  —  so  fehlt  alles  und  die  Ironie  ist  un- 


12    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen 


177 


möglich ;  denn  diese  erfordert  gerade,  daß  der  beschrie- 
bene Seelenzustand  überwunden  und  ersetzt  werde. 
Barres  ist  kein  Ironiker,  obwohl,  wie  oben  erwähnt, 
ein  scharfsinniger  Geist,  der  sich  wohlbewußt  ist,  daß 
gewisse  Dinge  nur  erträglich  sind,  wenn  sie  einfach 
und  derb  herausgesagt  werden ;  so  sagt  er  sie  also  bald 
im  Ton  lehrhaften  Ernstes,  bald  aus  zerrissenem  und 
angewidertem  Gemüt  heraus,  bald  mit  fast  scherzhafter 
Übertreibung,  nicht  etwa  weil  er  sie  wirklich  unter 
sich  gebracht  hat,  sondern  vielmehr,  weil  er  sie  in  sich 
trägt  und  zur  Schau  stellen  will,  indem  er  auf  diese 
Art  vermeidet,  allzuviel  Ärgernis  zu  erregen,  sich  offen 
sittlichen  Tadel  zuzuziehen ;  so  verschafft  er  sich  dank 
diesem  Ton  ein  Alibi.  Er  ähnelt  einem  Lasterhaften, 
der  nicht  umhin  kann,  von  seinem  Laster  zu  sprechen, 
es  aber  mit  einem  gewissen  Geist  uiid  vor  allem  mit 
der  Geschicklichkeit  des  Mannes  von  Welt  tut. 

Was  für  eine  Kunst  aus  einer  solchen  Geistesanlage 
entspringen  kann,  ist  leicht  vorauszusehen.  DerBarres- 
schen  Prosa  kann  malender  und  klanglicher  Reiz, 
Kraft  des  Ausdrucks,  Darstellungsvermögen  keines- 
wegs abgesprochen  werden;  allein  das  alles  sind  be- 
sondere und  äußerliche  Vorzüge,  und  im  Lebensatem 
dieser  Prosa  fühlt  man  nicht  die  Kunst  —  die  Kunst, 
die  uns  so  häufig  in  den  Strophen  der  Fleurs  du  mal  ent- 
gegenklingt und  die  auch  das  Schamlose  keusch  macht 
— ,  sondern  die  Rhetorik  des  Unreinen  und  Schänd- 
lichen, eine  Rhetorik,  die  nur  verwirren,  niemals  läu- 
tern kann.  Man  denke  an  seine  wichtigsten  Frauen- 
gestalten, die  Berenice  des  Jardin  de  Berenice  oder  die 
Asiatin  Astine  der  Deracines  und  frage  sich  selbst,  ob 
man  sie  Geschöpfe  der  Kunst  zu  nennen  sich  getraue,  * 
wie  man  es  doch  vor  der  Lady  Macbeth  oder  Madame 

178 


Bovary  tut.   Es  sind  mehr  Geschöpfe  zügelloser  Ein- 
bildung als  künstlerischer  Phantasie. 

DER  SINNLICH  GERICHTETE  NATIONA- 
LISMUS. —  Wie  alle  trübgestimmten  Sinnesmenschen, 
können  auch  Barres'  Helden  nicht  anders  denn  Wider- 
willen gegen  werktätiges  Handeln,  insbesondere  die 
Politik  zu  empfinden,  namentlich  gegen  die  klügelnde^ 
demokratische,  die  gleichsam  eine  der  ihren  entgegen- 
gesetzte Einseitigkeit  darstellt  —  Intellektualismus  ge- 
gen Sensualismus  —  und  derer^  Mängel  und  Irrtümer 
sie  sofort  durchblicken.  Auch  darin  liegt  nichts  Neues, 
auch  dies  ist  in  Barres'  „Quellen"  vorhanden;  sein  Eigen- 
tum ist  bloß  der  neue  StofFzur  Beobachtung,  die  französi- 
sche Politik,  an  der  der  Verfasser  mit  beteiligt  war,  na- 
mentlich zur  Zeit  des  Generals  Boulanger  und  des  Pana- 
mahandels. Sein  Scharfsinn  leistet  ihm  auch  hier  gute 
Dienste ;  mit  Spannung  und  nicht  ohne  Nutzen  liest  man 
den  Zeitbericht,  den  er  in  den  Deracines,  im  Appel  au 
Soldat^  in  Leursßgures  von  jenen  Jahren  gibt,  und  bewun- 
dert oft  seine  Kunst  soziologischer  Typengestaltung,  die 
in  vielen  der  von  ihm  gezeichneten  Figuren  bemerkens- 
wert ist  und  in  der  des  Professors  Boutellier  gipfelt,  des 
Erziehers  mit  den  Grundsätzen  der  Vernunftmoral, 
des  guten  Republikaners,  des  starren  Freimaurers,  des 
vortrefflichen  Regierungsagenten  für  die  Wahlvorbe- 
reitung, in  der  Art,  wie  er  sich  zum  Abgeordneten 
wählen  läßt,  verwickelt  in  die  wenig  säubern  Ange- 
legenheiten des  Panamahandels:  es  ist  eine  Gestalt, 
wie  sie  leider  in  der  Politik  des  westlichen  Europa 
nicht  selten  vorkommt,  eifernd  und  heuchlerisch,  ärger 
als  ein  Pfaffe  und  wie  ein  solcher  zugleich  unduldsam 
und   geschmeidig.    Allein   Barres  will  sich  nicht  auf 

12«  IJC^ 


diese  verneinende  Kritik  beschränken  und  stellt  darum 
eine  gegensätzliche  Politik,  eine  gegensätzliche  Lehre 
auf:  die  von  der  stammhaften  und  völkischen  Seele, 
im  Widerspruch  zur  abstrakten  Seele  der  Nationalisten 
und  Demokraten.  Auch  das  ist  eine  ziemlich  alte 
Lehre,  die  nur  die  sprunghafte  Entwicklung  der  fran- 
zösischen Kultur  im  neunzehnten  Jahrhundert  hat 
original  erscheinen  lassen  können;  genau  so  wie  aus 
demselben  Grunde  viele  Leute  in  Frankreich  verführt 
worden  sind  und  es  noch  werden,  in  Hippolyt  Taine 
einen  selbständigen  und  tiefen  Denker  zu  sehen,  der, 
um  es  geradeheraus  zu  sagen,  trotz  der  Verehrung,  die 
der  Mensch  und  der  Forscher  verdienen,  viel  mehr  in 
die  Geschichte  der  Kultur  als  in  die  der  Wissenschaft 
gehört,  in  welch  letzterer  man  kaum  angeben  kann, 
was  er  Neues  gefunden  hätte,  außer  einigen  Paradoxen, 
gut  genug  für  das  Anekdotenwesen.  Auch  Barres 
bringt  ihn  als  eine  geheimnisvolle,  verwirrende  Geistes- 
kraft auf  seine  Bühne,  erklärt  ihn  für  „einen  ver- 
ehrungswürdigen Schriftsteller  durch  die  Fülle  seiner 
Gaben,  die  Kraft,  mit  der  er  sie  ordnet,  durch  seine 
Erfassung  des  modernen  Göttlichen"  und  urteilt,  daß 
er  namentlich  als  Lehrer  für  kraftvolle  Geister,  fähig, 
die  unvermeidliche  Bürde  wahrhafter  Intelligenz  zu 
tragen,  gelten  müsse;  gleichsam,  als  wäre  er  ein  Vico 
oder  ein  Hegel  gewesen.  Die  Lehre  von  den  natio- 
nalen, ja  selbst  den  regionalen  Werten  gehört  (wie 
jeder  weiß,  der  irgendwie  Einblick  in  die  Geschichte 
der  modernen  Philosophie  und  Historiographie  ge- 
wonnen hat)  dem  Rückschlag  gegen  Aufklärertum 
und  Jakobinismus  vom  Beginn  des  neunzehnten  Jahr- 
hunderts an ;  sie  gründet  sich  auf  den  Begriff  des  Allge- 
meinen als  Sinnfälligkeit  und  Individuation  und  wendet 

i8o 


sich  daher  nicht  in  Vereinfachungssucht  etwa  gegen  die 
„Humanität  des  erleuchteten  Jahrhunderts",  sondern 
gegen  deren  abstrakte  Form,  und  nimmt  diese  in  sich 
auf,  indem  sie  sie  berichtigt  und  vervollständigt.  In 
der  Tat  v/ürden  Nation  und  Landschaft,  abgetrennt 
vom  Begriff  der  Menschheit,  gar  keinen  Sinn  mehr 
haben,  nichts  Menschliches  und  darum  auch  nichts 
Wertvolles;  ihr  Wert  liegt  darin,  dem  politischen 
Menschen  den  Stoff  darzubieten^  der  verarbeitet  wer- 
den muß,  nicht  mehr  und  nicht  weniger,  verarbeitet 
und  nicht  etwa  beiseite  geworfen  um  eines  eingebil- 
deten, aus  den  Wolken  zu  holenden  Inhalts  willen ;  so 
wird  dem  Erzieher  oder  dem,  der  sich  selbst  erzieht, 
nicht  eine  Aufgabe  gestellt,  die  für  alle  gleich  ist,  son- 
dern eine  Aufgabe,  die  aus  bestimmten  Anlagen  und 
'  Verhaltungsweisen,  aus  einer  bestimmten  Blutmischung 
sich  ergibt.  Daher  vermochte  Barres,  der  so  gänzlich 
jeden  Gefühles  für  wahre  Menschlichkeit  und  Geistig- 
keit bar  ist,  auf  keinerlei  Weise  zum  Begriff  der  Nation 
und  der  Region  zu  gelangen,  weil  dieser  im  höchsten 
Sinne  geistig  ist,  das  heißt  viel  tiefer  als  jener  armselig 
geistige,  weil  bloß  verstandesmäßige  des  Professors 
Bouteiller.  Wie  mag  es  nun  gekommen  sein,  wäre  es 
auch  nur  dem  Scheine  nach,  daß  er  für  den  Apostel 
des  französischen  Volks  und  der  lothringischen  Land- 
schaft gilt,  und  über  diesen  Gegenstand  in  seinem  reifen 
Alter  ebenso  viele  Bände  geschrieben  hat  als  in  der 
Jugend  über  Liebeleien,  umwittert  von  Weihrauch 
und  Blut;  trunken  von  der  Sucht  für  das  Unreine  und 
die  Vorboten  der  Verwesung?  Gerade  auf  diesem 
Wege,  dem  der  Sinnlichkeit,  ist  er  dahin  gelangt;  den 
Übergang  hat  ihm  die  Landschaft  vermittelt,  jene 
traurige,  wollüstige,  sinnliche  Landschaft,  an  der  er  in 

i8i 


seinen  ersten  Büchern  so  viel  Gefallen  fand  und  die 
allmählich,  ohne  ihr  innerstes  Wesen  zu  ändern,  zur 
Landschaft  wurde,  durch  die  die  Seelen  der  toten 
Ahnen  schwanken,  und  die  die  Aufgabe  bestimmt, 
derer  harrend,  die  in  ihr  zur  Welt  kommen:  ihre 
Pflicht  gegen  Frankreich ;  so  werden  diese,  falls  sie  im 
Rationalismus  erzogen  werden,  falls  versucht  wird,  sie 
zu  Menschen,  nicht  zu  Geschöpfen  der  Scholle  zu 
machen,  „Entwurzelte",  d&acines.  Denn  auch  der 
Regionalismus  hat,  wie  überhaupt  der  Mensch  bei 
ihm,  seine  Wurzeln,  ja  seine  ewige  Jugend  im  Tier, 
und  der  Götzendienst  des  landschaftlichen  Ich  ist  nur 
ein  neuer  Abschnitt  im  Götzendienst  des  persönlichen 
Ich ;  daher  ist  Barres'  Nationalismus  (wie  der  vieler  an- 
derer französischer  Nationalisten  literarischer  Her- 
kunft) ein  sinnlicher  Nationalismus  und  vermag 
als  solcher  nur  mit  einer  gewissen  absichtlichen  Über- 
steigerung, die  auch  blague  heißt,  aufrechterhalten 
und  verkündet  werden. 

SINNLICHER  UND  GEISTIGER  NATIONA- 
LISMUS. —  Von  einem  derartigen  Nationalismus  aus 
gaben  sich  vor  dem  Weltkriege  manche  in  Frankreich 
den  Anschein,  der  deutschen  nationalen  Lehre  Wider- 
part halten  zu  können;  diese  letztere  hat  aber  ihre 
geistigen  Voraussetzungen  im  Protestantismus  wie  in 
der  idealistischen  Philosophie,  und  ihre  Übertreibung, 
das  Alldeutschtum,  schöpft  seine  Kraft  aus  primitiven 
theologischen  Anschauungen  von  einem  auserwählten 
Volk,  wie  sie  zuweilen  auch  in  den  Aussprüchen  einer 
naturwissenschaftlichen  Völkerkunde  zutage  tritt:  es 
sind  das  alles  Dinge,  die,  wenn  auch  trügerisch,  so 
doch  viel  edler  und  sicherlich  viel  reinlicher  als  tierische 

\%2 


und  triebmäßige  Unterstellungen  sind.  Ebenso  ist 
edler  und  reinlicher,  im  Gegensatz  zu  ihnen,  auch  die 
rationalistische  und  demokratische  Ideologie  nach  Art 
Bouteillers  —  nebenbei  gesagt,  versteht  man  nicht, 
warum  Barres  ihn  gerade  zu  einem  Nachfolger 
Kants  macht,  der  in  dieser  Hinsicht  ein  Philosoph 
des  Übergangs  ist  und  den  Rationalismus  in  seiner 
Reinheit,  dessen  wahre  Klassiker  in  Frankreich  zu 
finden  sind,  nur  unvollkommen  vertritt.  Die  demo- 
kratische Ideologie  ist  wohl  eine  zurückgebliebene,  aber 
sie  gestattet  den  Übergang  zu  einer  höhern  Form,  ist  sogar 
in  gewissem  Sinne  ein  notwendiger  Bestandteil  in  der 
Entwicklung  jedes  Menschen,  zusammen  mit  dem 
Republikanertum,  das  in  einem  Lustspiel  von  Pailleron 
die  „politische  Blatternkrankheit"  {rougeole  politique) 
genannt  wird.  Allein  der  sinnliche  Nationalismus  ist 
eine  richtige  Verfallslehre  und  bietet  jener  Kritik,  die 
Fortschritt  ist,  gar  keine  Stütze.  So  kann  es  nicht  wun- 
dernehnien,  wenn  die  zahlreichen  Schriften,  die  Barres 
bei  Kriegsausbruch  veröffentlichte,  getrieben  von  dem 
Verlangen  auch  seinerseits  nach  Möglichkeit  zum 
Kampfe  und  zum  Widerstand  seines  Volkes  beizu- 
tragen, allgemein  als  frostig  und  abgeschmackt  emp- 
funden worden  sind;  denn  er  hätte  sich,  um  ein  so 
ernsthaftes,  schweres  und  prosaisches,  oder  auch  dich- 
terisches aber  prosaisch-dichterisches  Ereignis  wie  den 
Krieg  würdig  zu  erfassen,  geistig  erneuern  und  von 
vorne  beginnen  müssen ;  solche  Vorgänge  von  Erneue- 
rung und  Wiederherstellung  brauchen  aber  Zeit.  Hätte 
er  wenigstens  die  Notwendigkeit  einer  solchen  Erneue- 
rung in  sich  verspürt,  so  würde  er  sich  in  sich  selbst 
zurückgezogen  und  geschwiegen  haben.  Allein  er 
wollte  sprechen;   da   aber  klang  seine  Rede   falsch, 

.83 


so  vortrefFlich  auch   seine  Absichten   gewesen    sein 
mögen. 

P.  CLAUDEL.  —  Ich  möchte  sagen,  daß  die  näm- 
liche krampfartige  Erregung,  wie  bei  Barres  der  Na- 
tionahsmus,  bei  Claudel  die  Religion  ist;  und  ich 
brauche  dazu  keinen  andern  Zeugen  als  ihn  selbst, 
nämlich  die  ans  Obszöne  streifenden  Worte,  in  denen 
er  seine  Lust,  sich  dem  Katholizismus  zu  verbünden, 
schildert:  „Sättigung,  wie  durch  die  Nahrung,  eine  Be- 
friedigung gleich  der,  die  in  der  Vereinigung  der  Ge- 
schlechter liegt."  Beim  Lesen  seiner  Bühnenstücke  ver- 
mag ich  niemals,  leihe  ich  auch  dem  musikalisch-philo- 
sophisch-lyrischen Singsang  seiner  Figuren  mein  Ohr, 
den  Geruch  des  Tieres,  der  Bestie,  des  Geschlechtlichen 
loszuwerden,  und  es  erhebt  sich  in  mir  immer  wieder 
die  fast  ärgerliche  Frage :  Bei  welchem  Dichter,  bei 
welchem  großen  und  bei  welchem  wahren,  wenn  auch 
noch  so  bescheidenen  Dichter  war  jemals  dieSe  Form 
der  Erregung  zu  finden,  die  im  neuesten  Schrifttum 
immer  mehr  an  Ausdehnung  gewinnt.?  Gewiß  nicht 
bei  dir,  gewaltsam-leidenschaftlicher  Dante,  der  du 
den  Schauer  des  Fleisches  so  wohl  kanntest  und  in 
deiner  Terzine  ausgedrückt  hast,  ihn  mit  sittlicher 
Schamhaftigkeit  umhüllend  und  verklärend;  nicht  bei 
dif,  liebevoller  Meister  Ludwig,  der  du  zugleich  zart 
und  klug  zu  sein  verstandest,  und  sogar  aus  deinem 
Exemplar  des  Furioso  ein  paar  Oktaven  ausmerztest, 
in  denen  deine  komische  Einbildungskraft  und  deine 
Meisterschaft  in  der  Beschreibung  sich  allzusehr  gehen 
ließen;  nicht  bei  dir,  empfindungsreicher  und  wol- 
lüstiger Tasso,  der  du  auch  die  Gefallsucht  der  Ar- 
miden  zur  Demut  der  Liebe  gezwungen  hast;  nicht 

184 


bei  euch,  Foscolo  und  Leopardi,  euch  modern-roman- 
tischen Geistern,  erfahren  in  Süßigkeit  und  Wut  der 
Liebe,  stets  verhebt  und  stets  von  Schönheit  träumend; 
ihr,  die  ihr  so  keusch  in  euren  Versen  gewiesen  seid. 
Und  ebensow^enig  bei  allen  andern  Dichtern  jeglicher 
Zeit  und  jeglichen  Volkes,  die  ich  mir  durch  den 
Sinn  gehen  lasse,  die,  sicherlich  nicht  kühl  oder  düster 
und  asketisch,  dennoch  sämtlich  um  die  Verhältnisse 
der  Dinge  Bescheid  w^ußten  und  in  der  „göttlichen 
Proportion"  der  Kunst  die  Trunkenheit,  die  Raserei, 
die  Krankheit  an  ihren  Platz  zu  stellen  v^ußten,  sie 
aber  nicht  zu  Königinnen  krönten.  Befindet  man  sich 
hingegen  unglücklicherw^eise  unter  den  seelischen  Be- 
dingungen eines  Claudel,  so  muß  man  nicht  zur  Lite- 
ratur greifen,  sondern  viel  eher  —  w^ie  soll  ich  nur 
sagen  ?  —  zum  Reisen,  um  seine  armseligen  und  lächer- 
lichen Tragödien  der  Sinne  durch  die  Schau  der  Werk- 
tätigkeit, der  Bewegtheit,  der  Tragödie  der  w^eiten 
Welt  zu  beschämen  und  zu  bändigen;  oder  zur  kör- 
perlichen Arbeit,  unter  Arbeitern  der  Hand,  wo  denn 
die  Gewöhnung  das  richtige  Verhältnis  herstellen 
und  den  Sinn  des  Lebens,  der  in  Arbeit  liegt,  wieder 
zurückgeben  wird.  Claudels  Bühnenstücke  sind  mit 
allen  ihren  Ansprüchen  auf  philosophische  Tiefe  und 
erhabene  Dichtung  doch  nur  ein  nervenkrankes  Irre- 
reden; und  wann  sind  Irrereden  und  Pathologie  jemals 
Dichtung  gewesen .? 

Da  aber  Poesie  auf  solche  Weise  nicht  erreicht  wer- 
den kann,  so  ist  die  Gestalt  der  Glaudelschen  Dramen 
auch  formlos:  ein  Blinken  von  Bildern,  ein  rhythmi- 
scher Kitzel,  die  einen  überströmenden  Reichtum  vor- 
täuschen —  etwas,  das  D'Annunzio  verführt  hat,  mit 
vollen  Händen  daraus  zu  schöpfen  — ,  das  aber  tatsäch- 

■85 


lieh  arm  und  eintönig  ist.  Vor  allem  ist  die  Tongebung 
falsch,  denn  richtige  Tongebung  bedeutet  geistige  Herr- 
schaft des  Dichters,  und  hier  ist  weder  Herrschaft  noch 
Dichtung,  und  die  NachäfFung  eines  nicht  geringern 
als  des  äschyleischen  Tuns  vermag  dafür  keinen  Ersatz 
zu  geben.  So  spricht  etwa  einer  von  seinen  Helden, 
ein  Schuft  und  Taugenichts,  mit  seinem  süßen  jungen 
Weibchen,  das  er  aus  Liebe  geheiratet  hat  und  das  ihn 
über  alles  liebt  (das  aber  freilich  bald  einen  andern  lie- 
ben wird,  wenn  es  sich  in  ihn  vergaffen  konnte !) ;  er, 
der  sich  jetzt  zu  einer  andern  Frau  hingezogen  fühlt, 
sagt  in  deren  Gegenwart  zu  ihr: 

O  Marthe,  ma  femme!  o  Marthe,  ma  femme!  —  O  douleur, 
hdas !  —  o  douce  -  am^re !  certes  je  t'appellerai  am^re,  car  il 
est  amer  de  se  sdparer  de  toi!  —  O  demeure  de  paix,  toute  ma- 
turitd  est  en  toi !  —  Je  ne  puis  vivre  avec  toi,  et  ici  il  faut  que 
je  te  quitte,  car  c'est  la  dure  raison  qui  le  veut,  et  je  ne  suis  pas 
digne  que  tu  me  touches.  —  Et  voici,  que  mon  sdcret  et  ma 
honte  se  sont  ddcouverts!  —  C'est  le  corps  qui  l'a  voulu,  car  il 
est  puissant  chez  les  jeunes  gens  et  il  est  dur  quand  il  tire.  —  Et 
il  est  vrai  que  j'y  ai  consenti  et  je  voulais  mentir  et  cacher,  mais 
voilä  que  cette  action  s'est  ddcouverte  —  Et  je  me  suis  pris  a 
cette  femme  et  je  lui  suis  attachd  fortement,  et  je  sais  qu'elle  ne 
te  vaut  pas,  et  eile  n'est  pas  honnSte.  —  Elle  m'aime,  et  moi  je 
ne  puis  me  d^prendre  d'elle!  O  ma  femme!  O  ma  femme  qui 
es  ici!    Tu  es  ici  et  il  faur  que  je  te  dise  adieu! 

Diese  Sprache  ist  falsch,  nicht  nach  dem  Spruch 
der  rhetorischen  oder  realistischen  Kritik,  die  leugnet, 
daß  ein  Mensch  dieses  Charakters  in  dieser  Lage  so 
sprechen  dürfe  (denn  man  wird  sagen,  die  Personen 
Claudels  wollen  nackte  Seelen,  nicht  Menschen  sein), 
sondern  weil  sie  in  sich  selbst  falsch  ist,  als  Lyrik,  die 
sie  zu  sein  vorgibt.  Und  ebenso  sind  es  alle  seine  an- 
dern Sachen:  Tete  d'or^  Jeune ßlle  Vtolaine^  La  Ville^ 
Partage  du  Midi  und  Otage,  mit  ihren  in  Hingabe  und 

i86 


Opfer  heroisch-stupiden  Geschöpfen,  mit  ihren  heroisch- 
verbrecherischen Liebenden :  sämtHch  übergeschnappt, 
besungen  von  einem  Übergeschnappten. 

DER  STIL  GL  AUDELS.  -  Aber  selbst  wenn  Glau- 
del  sich  nicht  diesem  Aberw^itz  überläßt  und  den  ge- 
hobenen Ton  des  Sittenlehrers,  des  Philosophen,  des 
Vaterlandsfreundes  und  des  Katholiken  anzuschlagen 
sucht,  ist  sein  Stil  falsch.  Da  es  meine  Gewrohnheit  ist, 
Schriftstellern  gegenüber,  die  ich  bew^undert  sehe,  die  ich 
meinerseits  aber  nicht  bev^undern  kann,  nicht  auf  die 
Gegner,  sondern  die  Anhänger  und  Lobredner  zu  hören, 
um  bei  ihnen  jenes  Licht  zu  suchen,  das  mir  vielleicht 
mangeln  kann,  um  mir  von  ihnen  die  Schönheiten 
darlegen  zu  lassen,  die  mir  möglicherw^eise  verborgen 
bleiben,  so  habe  ich  vor  kurzem  aufmerksam  eine 
Studie  über  Claudel  gelesen,  die  in  einer  angesehenen 
englischen  Rundschau  {Quarter ly  Review  N.  456,  Jän- 
ner 19 17,  SS.  18—94)  erschienen  ist;  hier  v^ird  er  nicht 
allein  bedingt  als  the  greatest  living  french  poet  —  was 
nicht  viel  heißen  würde  —  gefeiert,  sondern  unbedingt 
als  a  great  poet\  und  so  habe  ich  die  Perlen  zu  bewun- 
dern getrachtet,  die  der  Kritiker  hervorzieht  und  zur 
Schau  stellt.  Nach  seiner  Meinung  hätte  Claudel  die 
Vervollkommnung  der  französischen  Prosa  gefördert 
durch  Weiterführen  der  Arbeit,  die  von  Chateaubriand 
zu  Maurice  de  Guerin,  und  von  diesem  zu  Rimbaud 
leitet:  wieder  etwas,  das  in  der  Dichtung  recht  wenig 
besagt,  da  die  Techniker  die  Werkzeuge  verbessern, 
von  Montgolfiers  Ballon  allmählich  zum  lenkbaren 
Luftschiff  gekommen  sind  und  sicherlich  noch  weiter 
gelangen  werden ;  aber  dergleichen  ist  nicht '  Sache 
der  Dichter.   Wie  dem  auch  sei,  genießen  wir  eine 

187 


Probe  raffinierter  Prosa,  einen  Denkspruch  aus  Uart 
poHique'. 

Tournons  donc  comme  la  rdligieuse  Chaldde  nos  yeux  vers  le 
ciel  absolu  oü  les  astres  en  un  inextricable  chiffre  ont  dressd  notre 
acte  de  naissance  et  tiennent  grefFe  de  nos  pactes  et  de  nos  serments. 

Hier  mag  und  wird  auch  wohl  die  „feine  Musik" 
vorhanden  sein,  die  den  Kritiker  entzückt;  aber 
gleicherweise  auch  Verschrobenheit  des  Gefühls  und 
Ausdrucks,  in  der  Art  des  schlimmsten  Schwulstes  aus 
dem  siebzehnten  Jahrhundert!  Und  das  folgende  Bruch- 
stück aus  der  Connaissance  de  P Est  mag  wohl  eine  „wun- 
derbare Harmonie  von  Klang  und  Bedeutung"  auf- 
weisen, allein  es  sagt  in  marktschreierischem  Über- 
schwang nur  etwas,  das  man  heutzutage  in  jedem 
mittelmäßigen  Buch  über  Philosophie  findet: 

Aux  heures  vulgaires  nous  nous  servons  des  choses  pour  un 
usage,  oubliant  ceci  de  pur,  qu'elles  soient:  mais  quand,  apr^s 
un  long  travail,  au  travers  des  branches  et  des  ronces,  ä  midi, 
pdn^trant  historiquement  au  sein  de  la  clairi^re,  je  pose  ma  main 
sour  la  Croupe  brülante  du  lourd  rocher,  l'entrde  d'Alexandre  ä 
Jerusalem  est  comparable  ä  l'dnormitd  de  ma  constatation. 

Ebenso  stößt  mich  die  Geziertheit  in  der  Anrufung 
der  Muse  (in  der  Citiq  grandes  ödes)  ab,  wo  in  der  näm- 
lichen Art  ein  recht  gewöhnlicher  Gedanke  wieder- 
holt wird: 

Mais  ton  chant,  6  Muse  du  po^te, 

Ce  n'est  point  le  bourdon  de  l'avette,  la  source  qui  jase, 

L'oiseau  du  paradis  dans  les  girofFliers! 

Mais  comme  Dieu  saint  a  inventd  chaque  chose 

Ta  joie  est  dans  la  possession  de  son  nom, 

Et  comme  il  a  dit  dans  le  silence:  „Qu'elle  soit!"  c'est 

Ainsi  que,  pleine  d'amour,  selon  qu'il  l'appelle 

Comme  au  petit  enfant  qui  dpelle:  „Qu'elle  est!" 

Ich  Staune  wie  man  einem  solchen  Kniff  von  Naive- 
tät  gegenüber ■  noch  behaupten  kann:   „Dies  ist  die 

i88 


Geburt  des  Wunders  in  einer  von  vieler  Erkenntnis 
gesättigten  Welt  und  in  einer  Dichtung,  verarmt  in 
ihren  Worten,  vsreil  sie  jede  unmittelbare  Kraft  einge- 
büßt haben.  Die  Lust  des  Erkennens,  die  Freude  des 
Kindes,  dem  sich  das  Sein  enthüllt,  strömt  in  diesen 
Zeilen  w^ie  ein  befruchtender  Strom  durch  die  aus- 
gedörrten Felder  der  modernen  französischen  Dich- 
tung." Diese  Felder  sind  aber  in  Frankreich,  und  nicht 
nur  hier,  schon  seit  einem  guten  Stück  mit  diesem 
alles  eher  denn  befruchtenden  Schlamm  über  und  über 
bedeckt.  In  einem  Bruchstück  der  Trois  po^mes  de  guerre 

(1915)- 

De  nouveau  apr^s  tant  de  sombres  jours  de  soleil  ddlicieux 

Brille  dans  le  ciel  bleu. 

L'hiver  bientot  va  finir,  bientot,  le  printemps  commence,  et  le  matin 

S'avance  dans  sa  robe  de  lin. 

Apr^s   le  corbeau  afFreux   et   le  sifFlement  de  la  bise  gdmissante 

S'entends  le  merle  qui  chante' 

Sur  le  platane  tout  ä  l'heure  j'ai  vu  sortir  de  son  trou 

Un  insecte  lent  et  mou. 

Tout  s'illumine,*  tout  s'dchaufFe,  tout  s'ouvre,  tout  se  ddgage, 

Peu  ä  peu  croh  et  se  propage. 

Une  eap^ce  de  joie  pure  et  simple,  une  esp^ce  de  sdrdnitd 

La  foi  dans  ia  future  dtd! 

Ce  Souffle  encore  incertain  dont  je  sens  ma  joue  caress^e 

C'est  la  France,  je  le  sais ! 

Ah,   qu'elle  est  douce,   car    c'est   eile!    naive   mais   pdremptoire, 

L'haleine  de  la  Victoire!  — 

finde  ich  alles,  v^as  der  Kritiker  daran  lobt :  „die  Kühn- 
heit der  Bev^egung,  die  unnachahmlich  zarte  Beschleu- 
nigung des  Rhythmus";  aber  durchaus  nicht :  „die 
Einigung  der  musikalischen  Empfindung  mit  der  gei- 
stigen Zuversicht  zu  einer  triumphierenden  Gewißheit". 
Vielmehr  finde  ich  darin  die  Rhetorik  von  Anlauf  und 
Beschleunigung,  lauter  mechanische  Dinge,  aber  gar 

189 


keine  Innerlichkeit.  Wäre  sie  überhaupt  vorhanden, 
so  genügte  es,  um  sie  zu  verscheuchen,  jenes  insecte 
lent  et  mou^  und  jenes  nüchtern-komische  naive  mais 
peremptoire  ! 

CLAUDELS  RELIGIÖSE  DICHTUNG.  -  Noch 
seltsamer  ist  die  katholische  Poesie  Claudels,  von  der 
ihr  englischer  Bewunderer  ein  Bruchstück  aus  dem 
Lobgesang  auf  Gott  beibringt : 

Et  puis  il  n'est  rhomme  si  vulgaire  qui  ne  vous  ait  gard^  quelque 

chose  de  nouveau, 
Et   qui    n'ait   fabriqud   pour    vous,   en  dehors   de    ses   heures   de 

bureau 
Esperant  que  l'idde  un  jour  vous  viendra  de  le  lui  demander, 
Et  que   peut-6tre  9a  vous  plaira,  quelque  chose   d'afFreux   et   de 

compliqud, 
Oü  il  a  mis  tout  son  coeur  et  qui  ne  sert  a  quel  que  ce  soit. 
Ainsi  une  petite  fille,   le  jour  de  ma  f^te,  qui  s'avance  avec  em- 

barras, 
Et  qui  m'ofFre,  le  cceur  gonfld  d'orgueil  et  de  timiditd, 
Un  magnifique  petit  coussin   ceuvre   de   ses  mains  pour  y  mettre 

des  dpingles  en  laine  rouge  et  en  fil  dore. 

Darin  entdeckt  er  eine  „köstliche  Gutmütigkeit". 
Das  ist  aber  ganz  etvv^as  anderes  als  Gutmütigkeit,  das 
ist  echter  und  rechter  Voltairianismus,  der  die  katho- 
lischen Ideen  und  Vorstellungen,  die  Bräuche  des  Kul- 
tus kindisch  und  lächerlich  findet ;  die  Grille,  die  sich 
Claudel  in  den  Kopf  gesetzt  hat,  sich  als  Katholiken 
zu  geberden,  und  die  ihn  über  diese  Komik  eine  ko- 
mödiantenhafte Salbung  und  Bußfertigkeit  ausbreiten 
läßt,  macht  sie  noch  komischer,  und  noch  mehr  vol- 
tairisch  unehrerbietig.  Die  hier  angewendete  Versart 
scheint  eigens  dazu  gemacht,  zum  Lachen  zu  bringen, 
die  Verszeile  auf  diese  Wirkung  hin  berechnet.  In  dem 
Lobgesang  auf  Gott  (mit  vielen  andern  Stücken  der 

190 


gleichen  Art  veröffentlicht  in  dem  Bande  Corona  benig- 
nitatis  anni  Domini  191 5)  stehen  ferner  diese  beiden 
Verse,  in  denen  die  komische  Absicht  ganz  klar  wird, 
in  den  ä  dimension  ausgestreckten  Armen,  die  sich  auf 
Ascension  reimen. 

Mais  je  vais  avoir  le  soleil  m6me,  j'ouvre  les  bras  ä  votre  dimen- 
sion. 

Je  regarde  au  plus  haut  du  ciel  un  point  d'or  comme  un  jour  de 
votre  Ascension. 

Gibt  es  eine  wirksamere  Art,  einen  Tartuffe  darzu- 
stellen, als  indem  man  ihn  die  Arme  ä  dimension  Gottes 
öffnen  läßt .? 

Wollte  man  mir  diese  katholische  Lyrik  Claudels 
als  scherzhafte  Dichtung  zugestehen,  so  würde  ich  hie 
und  da  an  ihr  Geschmack  finden  können.  Im  Chant 
de  N'phiphanie  erscheint  es  ganz  natürlich,  daß  die 
Armen  um  die  Krippe  stehen: 

Mais  avec  les  savants  et  les  Rois  c'est  une  bien  autre  afFaire! 
II  faut,  pour  en  trouver  jusqu'ä  trois,  remuer  toute  la  terre. 
Encore  est-il    que  ce   ne  sont   pas  les   plus  illustres   ni   les   plus 

hauts, 
Mais  des  esp^ces  de  magiciens  pittoresques  et  de  petits  souverains 

coloniaux. 
Et  ce  qu'il   leur  a  fallu  pour  se  mettre  en  mouvement   ce  n'est 

pas  une  simple  citation, 
C'est  une  dtoile  du  ciel  meme  qui  dirige  l'expddition  . . . 

Die  drei  Magier  an  der  Krippe,  die  malerischen  Drei- 
königlein, die  mit  „kleinen  Kolonialherrschern"  ver- 
glichen werden,  sind  wirklich  niedlich!  Sainte-Odiie: 
Et  pourtant  eile  ^tait  ma  grande  fiUe  chdrie  et  je  ne  pouvais  m'en 

passer, 
Ma  grande  Odile  au  visage  si  doux,  avec  de  petits  points  de  rouille, 
Ma  fille  d'Alsace  en  or,  chargde  de  soie  comme  une  quenouille. 

Auch  dieses  große  sommersprossige  Mädchen,  mit 
ihrem  sanften  Gesicht,  mit  ihrem  Goldhaar  auf  dem 

191 


Kopf,  so  reich,  daß  sie  aussieht  wie  ein  voller  Spinn- 
rocken, ist  gelungen ! 

Würde  Claudel  auch  mit  den  Figuren  seiner  Bühnen- 
stücke eine  ähnliche  Parodie  vornehmen,  sow^äre  meine 
Aussöhnung  mit  ihm  vollkommen,  da  ich  wirklich 
nichts  anderes  zu  wünschen  hätte.  Allein  die  parodi- 
stische  Umformung  stellt  sich  bei  ihm  selbstwillig  nur 
in  Religionsdingen  ein,  weil  er  sie  nicht  ernst  nimmt; 
niemals  würde  ihm  das  bei  den  andern  in  den  Sinn 
kommen,  die  für  ihn  eine  höchst  ernsthafte  Angelegen- 
heit bedeuten. 

BERÜHMTHEITEN  AUS  DER  ZEIT  VOR 
DEM  KRIEGE:  A.  RIMBAUD.  -  In  Wirklichkeit 
ist  Rimbauds  Name  in  Italien  schon  um  1890  bekannt 
gewesen;  Pica  hatte  den  Freund  Verlaines  in  Vor- 
trägen und  Aufsätzen  behandelt.  Aber  „wiederentdeckt" 
worden  ist  er  erst  an  zwanzig  Jahre  später,  damals  als  von 
neuem  durch  Frankreich  eine  Welle  der  Anteilnahme 
und  Bewunderung  für  das  „Wunderkind",  für  den  Ver- 
fasser der  lUuminations  ging;  so  daß  um  das  Jahr  19 10 
auch  bei  uns  Bewunderer,  Ausleger,  Übersetzer  und 
Nachahmer  Rimbauds,  der  als  ein  außerordentlicher 
und  tief  geheimnisvoller  Geist  gefeiert  wurde,  auf- 
standen. In  dieses  Geheimnis  vermag  ich  freilich  nicht 
einzudringen,  da  der  Band  mit  Rimbauds  Werken  sowie 
die  Schriften  seiner  Biographen  und  Kritiker  mir  in  die 
kurze  Geschichte  dieses  Menschen  und  dieses  Geistes  für 
jedermann  klaren  Einblick  zu  gewähren  scheinen.  Rim- 
baud war  ein  frühreifer  Knabe,  der  sehr  frühe  einiger- 
maßen von  Baudelaire  beeinflußte  Gedichte  geschrieben 
hat,  Offenbarungen  eines  überströmenden,  aufrühre- 
rischen, launenhaften  Gemütes,   das  sich  gegen   das 

192 


gesellschaftliche  Herkommen  empörte,  von  der  Sucht 
nach  dem  Schändlichen  und  Häßlichen  besessen,  dem 
Sarkasmus  ergeben  war.  Eingebungen  solcher  Art 
stellten  dar  Ma  boh^me,  Poete  ä  sept  ans,  Les  assis,  Le 
bateau  ivre,  und  noch  ein  paar  andere  Sachen,  in  denen  der 
Ungestüm  des  Gassenjungen,  ja  des  Taugenichts,  seiner 
selbst  froh,  sicher  und  stolz,  mitunter  an  die  Dichtung 
heranreicht,  obwohl  sie  sonst  meist  nur  eine  nicht 
gewöhnliche  Geschicklichkeit  erkennen  lassen.  Allein 
bei  dieser  dem  Anschein  nach  glücklichen  Jugend- 
begabung war  Rimbaud  dennoch  im  Grunde  recht 
unglücklich,  da  ihm  jede  Spur  von  Feinheit  und  wahrer 
menschlicher,  spekulativer,  religiöser,  politischer,  sitt- 
licher Leidenschaft,  ja  selbst  Liebesleidenschaft  fehlte ; 
dieser  unglückliche  Mangel  führte  ihn  dazu,  zwei  Pläne 
zu  fassen,  die  beide  seine  Unfähigkeit  zu  einer  ernst- 
haften und  fruchtbaren  Entwicklung  darlegten.  Der 
eine  davon  war,  sich  ein  Leben  außerhalb  des  gesell- 
schaftlichen Herkommens  zu  zimmern,  ein  Leben  der 
Freiheit,  das  außer  Stoff  zur  Poesie,  an  sich  selbst  Poesie 
sein  sollte ;  der  andere,  eine  neue  Kunst  und  Sprache  zu 
erfinden.  Der  Widersinn  dieser  Doppelabsicht  ist  leicht 
zu  durchschauen ;  denn  niemandem  ist  es  gegeben,  außer- 
halb der  tatsächlichen  Verhältnisse  zu  leben,  da  Leben 
nichts  anderes  ist,  als  diese  zu  verarbeiten  und  damit  neue 
zu  schaffen ;  noch  viel  weniger  ist  es  möglich,  zu  dem 
Ende  zu  leben,  um  sich  Stoff  zum  Dichten  zu  ver- 
schaffen, denn  in  solchem  Streben  zerrinnt  gleicher- 
weise Leben  wie  Dichtung,  jenes  seinem  innersten 
Zweck  entfremdet,  diese  künstlich  gesucht,  während 
sie  überhaupt  nicht  gesucht  werden  kann,  sondern  ent- 
springt, wann  es  eben  dazu  an  der  Zeit  ist;  endlich  ist 
jede  neue  Dichtung,  die  erscheint,  neue  Kunst  und 


13    C  r  o  c  e ,  Randbemerkungen  eines  Philosophen 


193 


Sprache,  und  sich  die  Neuheit  als  Ziel  vorzusetzen,  heißt 
lediglich  eine  leere  Abstraktion  verfolgen  und  das  Stück 
Fleisch  um  seines  Spiegelbildes  w^illen  ins  Wasser  fallen 
zu  lassen.  Wer  demnach  nicht  nach  vvrirklichem  Leben, 
sondern  nach  einer  Lebensdichtung  und  Stoff  zur  Poesie 
trachtet,  gelangt  unausvs^eichlich  zu  einer  Art  Ze.rrbild 
von  Leben  und  Dichtung  und  sieht  als  solche  die  Un- 
ordnung, den  M  üßiggang,  die  Z  ügellosigkeit,  das  Sprung- 
hafte und  Zusammenhanglose  an.  „Was  er  w^ollte  — 
schreibt  der  Hauptbiograph  Rimbauds  —  v^ar,  ein  Seher 
zu  vsrerden.  Zu  diesem  Zweck  beschließt  er  sein  Sinnen- 
leben durch  alle  Mittel,  durch  Wein,  durch  Gift,  durch 
Abenteuer  zu  bereichern."  Später  fügt  er  noch  hinzu: 
„Er  v^ill  die  Schmach,  er  w^ill  die  Schande  kennen  ler- 
nen: darin  liegt  Schönheit!  Alles  w^as  den  Menschen 
Leiden  schafft,  alles  w^as  sie  für  gewöhnlich  verabscheuen, 
das  wünscht  er  an  sich  zu  erleben!"  Es  ist  nicht  nötig, 
sich  das  sooft  Erzählte  und  in  Wahrheit  des  Erzählens 
recht  wenig  Werte  noch  einmal  aufzuwärmen,  Rim- 
bauds Kameradschaft  mit  Verlaine,  ihre  gemeinsame 
Landstreicherei,  die  gemeinsamen  wüsten  Gelage,  die 
Pistolenschüsse,  die  sie  erhalten,  die  Fußtritte  und  Faust- 
schläge, die  sie  ausgeteilt  haben;  es  genügt  zu  bemerken, 
daß  sich  darauf  das  von  Rimbaud  erträumte  reiche  und 
freie  Leben  beschränkte  und  wohl  auch  beschränken 
mußte,  „der  so  bezeichnende  Trieb  Rimbauds  (wie  der 
Biograph  sagt),  stets  seine  Empfindungen  zu  erneuern, 
sein  unersättlicher  und  unerhörter  Wunsch,  das  All  zu 
umfassen . . .  zum  Zwecke  einer  unvergleichlichen  Auf- 
stapelung von  Poesie,  eines  vollständigen  Vorrats  an 
Gedanken  und  einer  Erneuerung  der  rhythmischen 
Sprache".  Hätte  er  irgendein  bescheidenes  Handwerk, 
ja  selbst  häusliche  Pflichten  ausgeübt,   oder  hätte  er 

194 


sich  etwa  in  eine  Bibliothek  eingeschlossen,  so  würde 
er  wahrscheinlich  reichere  und  tiefere,  sicher  edlere 
„Lebenserfahrungen"  gesammelt  haben,  als  in  den 
Schnapsläden  und  Schenken  von  London  und  Brüssel. 
Aus  einem  solchen  Leben  hat  sein  Dichtwerk  weder 
Stoff  noch  Wachstum  erhalten;  und  das  Ideal  dieses 
Werkes  selbst  stellte  sich  ihm  in  etwas  Willkürlichem 
und  Launenhaften  dar,  denn  —  wie  abermals  sein  Bio- 
graph sagt  —  nicht  zufrieden  mit  sämtlicher  Dichtung 
„von  Homer  bis  zu  den  Parnassiens",  gestaltete  Rim- 
baud den  Gedanken,  die  neue  Dichtung  müsse  reine 
Wiederholung  eines  Traums  sein,  frei  von  überlegenden 
und  verstandesmäßigen  Bestandteilen.  Da  aber  die  Dich- 
tung nie  etwas  anderes  gewesen  und  niemals  etwas 
anderes  sein  kann  als  dieses,  frei  von  allem  andern, 
was  sie  nicht  selbst  ist,  so  läßt  sich  gerade  deshalb  ihr 
Grundwesen  oder  ihre  allgemeine  Aufgabe  nicht  in 
einen  besondern  Zweck  verlegen :  genau  so  wie  man  nach 
einem  berühmten  Beispiel  nicht  eine  Frucht  im  all- 
gemeinen essen  kann,  sondern  immer  nur  Kirschen, 
Pfirsiche  oder  Pflaumen.  In  dieser  Hinsicht  widerfuhr 
Rimbaud  dasselbe  wie  im  gewöhnlichen  Leben,  in  dem 
er,  um  eine  abstrakte  Freiheit  zu  suchen,  sich  in  die 
törichteste  Knechtschaft  begab,  genau  so,  wie  er  um 
reine  Dichtung  zu  erlangen,  in  Wirklichkeit  nichts 
erlangte;  seine  llluminations  haben  keinen  andern  Wert 
als  den  eines  unfruchtbaren  Versuches.  Wenig  über 
zwanzig  Jahre  alt,  überkam  ihn  schließlich  das  klare 
Bewußtsein,  gänzlich,  in  Leben  wie  in  Dichtung,  irre 
gegangen  zu  sein ;  eines  Tages  schrieb  er  unter  bittern 
Tränen  über  sich  selbst  sein  Bekenntnis  und  erkannte 
das  Problem,  die  ihm  noch  ungelöst  in  Saison  en  enfer 
vorgeschwebt  hatte:  „Ich,  der  ich  mich  Magier  oder 


13» 


19s 


Engel  genannt  hatte,  ledig  aller  Moral,  ich  habe  mich 
der  Erde  wiedergegeben,  mit  einer  Pflicht,  die  zu  suchen, 
mit  der  runzelvollen  Wirklichkeit,  die  zu  erfassen  ist. 
Bauer  werden!"  So  schob  er  das  Dichten  beiseite  und 
versuchte  vielerlei  Arten  verschiedener  Werktätigkeit, 
bis  er  sich  endlich  entschloß,  in  Afrika  zu  reisen  und 
Handel  zu  treiben;  erst  nach  etwa  zwanzig  Jahren  ist 
er  wieder  krank  in  die  Heimat  zurückgekommen,  um 
dort  mit  siebenunddreißig  Jahren  zu  sterben.  Über 
seine  Dichtung  von  einstens  vermied  er  zu  reden,  und 
schätzte  sie,  falls  man  ihn  daran  erinnerte,  als  etwas 
„Lächerliches  und  Abgeschmacktes"  ein;  daß  er  seine 
zweite  Entwicklungsstufe  als  Vorbereitung  für  eine 
andere  vielgestaltigere  Dichtung  betrachtet  hätte,  das 
ist  ein  frommer  Glaube  seines  schon  wiederholt  ange- 
zogenen, höchst  naiven  Biographen,  der  sich  Herr 
Paterne  Berrichon  nennt. 

DIE  URSACHE  VON  RIMBAUDS  LITE- 
RARISCHEM RUF.  -  Daß  diese  biographisch- 
kritische Auslegung  nicht  etwa  ein  Hirngespinst  oder 
eine  Verleumdung  ist,  wird,  wie  schon  gesagt,  jeder 
einsehen,  der  sich  die  Mühe  nimmt,  die  wenigen 
Werke  Rimbauds  und  die  Nachrichten  von  seinem 
Leben  zu  lesen.  Wollte  man  —  was  mir  in  diesem 
Falle  nicht  angebracht  schiene  —  der  Bestätigung  kein 
Gewicht  beilegen,  die  sie  durch  Wort  und  Tat  Rim- 
bauds selber  erhält,  besonders  in  jener  Saison  en  enfer, 
die  übrigens  ebensowenig  eine  glückliche  Dichtung  ist 
(obwohl  die  Bewunderer  hier  von  niemand  Geringerem 
als  Dante  gesprochen  haben !),  sondern  wesentlich  eine 
lebensgeschichtliche  Urkunde,  so  könnte  doch  die  Ver- 
gleichung  meines  Urteils  mit  dem  zweier  französischer 

196 


Schriftsteller,  die  aus  verschiedenen  Gründen  geneigt 
sein  mußten,  Rimbauds  Kunst  zu  schätzen  und  zu 
überschätzen,  einiges  Gewicht  haben.  In  seinen  Diva- 
gations  schreibt  Mallarme :  „Es  ist  das  Aufflammen  eines 
Meteors,  ohne  anderen  Trieb  als  seine  Gegenwart  selbst 
entzündet,  einsam  entstehend  und  vergehend.  Sicher 
wäre  alles  seitdem,  ohne  diese  bemerkenswerte  vorüber- 
gehende Erscheinung,  ebenso  ins  Leben  getreten,  gerade 
so  wie  ihn  tatsächlich  kein  literarischer  Umstand  vor- 
bereitet hat:  der  ganz  persönliche  Fall  bleibt  mit  Not- 
wendigkeit bestehen  . . .  Ich  glaube,  daß  die  Hoffnung 
auf  ein  Werk  der  Reife  hier  der  exakten  Auslegung 
einer  in  der  Geschichte  der  Kunst  einzig  dastehenden 
seltsamen  Erscheinung  schadet."  Desgleichen  schreibt 
Laforgue  in  den  Melange s  posthumes:  „Rimbaud,  eine 
jäh  aufgesprossene  und  ganz  für  sich  stehende  Blume, 
ohne  ein  Vorher  und  Nachher.  Hier  gibt  es  weder 
Strophe,  noch  Mache,  noch  Reim.  Alles  beruht  auf 
dem  unerhörten  Reichtum  der  .  Bekenntniskraft  und 
der  niemals  vorauszusehenden  Unerschöpflichkeit  an 
stets  angemessenen  Bildern.  In  diesem  Sinne  ist  er  das 
einzige  Gegeribild  Baudelaires". 

Trotz  alledem  verstehe  ich  die  Gründe ,  die  nicht 
wenige  bewogen  haben,  ihn  als  einen  Vorläufer  und 
Lehrer  zu  begrüßen.  So  viel  man  auch  auf  Rechnling 
einer  gewohnheitsmäßigen  Bewunderung  sogenannter 
„seltener"  oder  „Ausnahmekunst"  wird  setzen  dürfen,  es 
steht  dennoch  fest,  daß  Rimbaud  durch  sein  Wunschbild 
eines  von  jedem  sittlichen  Zwang  gelösten  Lebens  und 
einer  Kunst,  die  das  Chaos  der  Empfindungen  bildhaft 
macht,  mit  einer  zwiefachen  Krankheit  dem  Doppel- 
leiden entgegenkommt,  das  viele  Seelen  unserer  Zeit  ge- 
drückt hat  und  noch  drückt,  einem  Leiden,  dessen  ge- 

197 


schichtliches  Werden  und  dessen  tiefer  Sinn  hier  nicht 
abermals  dargelegt  werden  soll.  Wenn  dieses  Doppel- 
leiden einmal  geheilt  oder  vermindert  sein  wird,  wird 
auch  Rimbaud  mit  andern  Augen  angesehen  werden:  als 
ein  negatives  Beispiel  für  die  Bestätigung  der  Wahrheit, 
daß  die  Kunst  wie  Blüte  des  Lebens  auch  Ernst  sei; 
und  daß  ein  Künstler,  bevor  er  Künstler  ist,  eine  „  Persön- 
lichkeit", das  heißt  ein  Mensch  von  Herz  und  Geist  sein 
muß  und  —  das  ist  der  wesentliche  Punkt  —  daß  eine 
Persönlichkeit  solcher  Art  nicht  irgendwie  künstlich 
beschafft  werden  kann,  am  allerwenigsten  durch  ein 
Müßiggänger-  oder  Zigeunerleben,  zu  dem  Zwecke, 
Stoff  zu  sammeln  oder  auf  künstlichem  Wege  eine 
unmögliche  Dichtung  hervorzutreiben. 

RIMBAUD  ALS  SEELENWERBER  FÜR  DIE 
KATHOLISCHE  KIRCHE.  -  Solange  aber  jene 
Doppelkrankheit  anhält,  bleibt  Rimbaud  und  muß  es 
bleiben,  ein  Vorbild,  gleichsam  ein  Heiliger  für  die 
bohemiens^  die  sich  Künstler  wähnen;  sowie  für  die- 
jenigen, die  sich  absichtlich  als  bohemiens  geben,  weil 
sie  hoffen,  daß  sich  irgendeine  der  neun  Musen  in  sie 
vergaffe.  Es  scheint  viel  schwieriger  verständlich,  wie 
so  Arthur  Rimbaud  jetzt  als  sittlicher  Held  und  als  eine 
von  Gottes  Hand  berührte  Seele  der  Ehre  eines  Altars 
teilhaftig  werden  kann.  In  seinem  Leben  wie  in  seinen 
Werken  begegnen  uns  so  viel  unschöne  Dinge,  und 
sicherlich  niemals  eine  Tat,  ein  Ausspruch,  ein  Gedanke, 
die  eine  wie  immer  geartete  Höhe  des  Gefühls  oder  eine 
Spur  religiösen  Bewußtseins  verrieten ;  ohne  irgendwie 
geneigt  zu  sein,  ihn  mit  Strenge  zu  behandeln  (was 
sollte  das  nützen  ?),  vielmehr  mit  dem  Zugeständnis,  daß 
er  nicht  gewesen  ist,  was  man  niedrig  oder  bösartig 

198 


nennt,  und  daß  er  in  seinem  ferneren  Leben  Mut  und 
eine  Art  Stoizismus  bewiesen  habe,  kann  man  doch  nicht 
umhin,  sich  gegen  gewisse  freisprechende  und  verherr- 
lichende Urteile  seines  Biographen  aufzulehnen,  min- 
destens über  sie  zu  lächeln;  so  wenn  er,  beispielsweise 
bei  der  Erzählung,  wie  Rimbaud  sich  als  Kolonial- 
soldat in  holländischen  Diensten  anwerben  ließ,  und 
nachdem  er  den  Sold  eingesteckt,  desertierte,  bemerkt: 
„er  hatte  einen  viel  zu  lebendigen  Sinn  für  Ehre  und 
Würde  (!) ;  eine  zu  starke  sittliche  Auffassung  (!),  um  auch 
nur  einen  Schatten  von  Verpflichtung  (!)  Leuten  gegen- 
über zu  fühlen,  deren  Gewerbe  es  ist,  diejenigen  aus- 
zurotten, die  sich  nicht  ohne  Widerstand  ausplündern 
lassen" :  Was  so  viel  heißt,  daß  es  erlaubt,  ja  vielmehr 
Pflicht  sei,  die  Holländer  oder  allgemein  gesprochen, 
Diebe  zu  bestehlen  (denn  nach  alledem  sind  ja  die  Hol- 
länder Diebe!).  Nichts  demnach  von  Sittlichkeit,  nichts 
von  Religion,  aber  auch  nicht  einmal  —  und  dies  spricht 
zu  seinen  Gunsten  —  der  komödiantenhafte  Versuch,  sie 
vorzutäuschen,  wie  es  sein  unglücklicher  Freund  Ver- 
laine getan  hat.  Das  muß  auch  der  Biograph  zugeben, 
der  rühmt:  „Keine  vereinzelte  religiöse  Formel,  und 
wäre  es  auch  der  Katholizismus,  war  imstande,  seine 
ungeheuren,  unerhörten  Geheimnistiefen  in  sich  zu 
fassen;  er  fühlte  sich  jeglichem  Glauben  jeglichen 
Landes  zugehörig;  eine  kosmographische  Synthese 
thronte  in  seinem  Innersten",  derart,  daß  „sein  end- 
gültiges Wort,  in  meisterlicher  Verschmelzung  aller 
Sprachen,  harmonisch  und  von  einer  alles  bezwingen- 
den und  überall  zugänglichen  Beredsamkeit,  vielleicht 
die  menschliche  Seele  wiedererneut  hätte." 

Auch  heute  gibt  es  noch  jemanden,  der  behauptet : 
„Arthur  Rimbaud  war  ein  Mystiker  im  Naturzustand, 

199 


eine  verlorene  Quelle,  die  aus  einem  gesättigten  Boden 
dringt ;  sein  Leben  ein  Mißverständnis,  ein  mißlungener 
Versuch,  durch  die  Flucht  sich  dieser  Stimme  zu  ent- 
ziehen, die  ihn  ruft  und  zu  sich  fordert  und  die  er  nicht 
anerkennen  v^ill  ..."  Noch  gibt  es  jemanden,  der  ihn 
als  einen  Fürbitter  bei  Gott  ansieht  und  als  gläubiger 
Katholik  in  Rimbaud  die  „Enthüllung  des  Über- 
natürlichen" erkennt! 

Wer  mag,  lieber  Leser,  dieser  feine  und  zartempfin- 
dende, sittlich-religiöse  Geist  sein?  Du  hast  es  bereits 
erraten:  Monsieur  Claudel.  Niemand  anderer  als  er  . . . 


DER  KRIEG  UND  DIE  STUDIEN  {CriticaXV, 
September  1917).  —  Diese  Rundschau  hat  ihre  zweite 
Folge  begonnen,  als  der  Krieg  sich  bereits  in  Europa 
entzündet  hatte;  sie  tritt  nun  in  das  vierte  Jahr  ihrer 
zweiten  Reihe,  während  er  noch  fortdauert.  Man  ge- 
statte uns  demnach,  auf  der  Schwelle  dieses  vierten 
Jahres,  uns  ein  wenig  mit  unsern  Lesern  über  die  Lage, 
in  die  der  Krieg  die  Studien  teils  schon  versetzt  hat, 
teils  für  die  Zukunft  vorbereitet,  zu  unterhalten. 

Man  wird  sich  erinnern,  daß  wir,  als  unser  Land  be- 
schloß, an  dem  großen  Kampf  teilzunehmen,  in  einer 
Randbemerkung  unsern  Entschluß  kundgaben,  das 
Werk  der  Forschung  fortzusetzen,  „als  ob  es  keinen 
Krieg  gäbe".  Es  war  das  ein  Wort,  das  vielen  Ohren 
wie  eine  Überspanntheit  oder  eine  Lästerung  klang; 
während  es  vielmehr  ein  wohlerwogener  Gedanke,  von 
guter  Voraussicht  eingegeben,  war.  Der  diese  Absicht 
äußerte,  nimmt  keinen  Anstand,  zu  beteuern,  daß  er  da- 
mit einem  Bedürfnis  nach  persönlicher  Rechtfertigung 
Genüge  tat;  denn  er  erwog  in  Gedanken  die  Länge  und 
Langsamkeit  des  Krieges  und  erblickte  sich  keineswegs 

200  ' 


als  Minister  und  noch  viel  weniger  als  Gehilfen  des 
Ministers  für  Äußeres,  für  Krieg  und  Volksernährung, 
sondern  sah  sich  der  Qual  dessen  ausgesetzt,  der  als  Zu- 
schauer den  Ereignissen  beiwohnen  muß,  sie  nach  seinen 
Wünschen  lenken  und  ihren  Abschluß  beschleunigen 
möchte,  es  aber  doch  nicht  vermag,  sich  darum  in  mehr 
oder  weniger  unnützer  Tätigkeit  versucht,  die  jedenfalls 
nicht  der  eigenen  Fähigkeit  und  Vorbereitung  entspricht 
und  sich  in  Beteuerungen,  Beschwörungen,  Voraussagen 
und  anderm  unfruchtbarem  Gerede  verliert,  als  fünftes 
Rad  am  Wagen,  seine  Verstandes-  und  Willenskräfte 
derart  erschöpfend,  daß  er  davon  ganz  zerrüttet  wird. 
Aus  diesen  Gründen  hat  er  den  Freunden,  die  einen 
andern  Weg  einschlugen  und  vermutlich  auch  von 
Natur  die  körperliche  Eignung  und  Widerstandskraft 
besaßen,  die  ihm  mangelte,  die  ihn  aber  unter  vier 
Augen  und  öffentlich  aufforderten,  „seine  Pflicht"  zu 
erfüllen,  das  heißt  sich  als  Redner  und  Agitator  gleich 
ihnen  zu  betätigen,  stets  ablehnend  geantwortet,  aus 
derselben  „Furcht  vor  dem  Leeren"  heraus,  aus  der  er 
einem  geantwortet  hätte,  der  ihn  etwa  aufforderte,  sich 
kopfüber  aus  einem  Fenster  des  vierten  Stockwerks  zu 
stürzen.  Allein  er  muß  mit  der  gleichen  Wahrhaftig- 
keit bekennen,  daß  seine  individuelle  Besorgnis  und  Vor- 
sicht sich  mit  einer  ebensolchen  allgemeiner  Art  ver- 
band, da  er  schweren  Herzens  sah  und  sieht,  was  sich 
in  Italien  und  vielleicht  noch  mehr  in  einigen  andern 
Teilen  Europas  ereignet  hat  und  noch  ereignet:  die  fast 
vollständige  Unterbrechung  alles  geistigen,  kritischen 
und  wissenschaftlichen  Lebens.  Gedenkt  man  der  viel- 
fachen Anstrengungen,  des  sorgsamen  Eifers,  der  harten 
Mühen  und  der  geduldigen  Erwartung,  die  notwendig 
sind,  um  in  einem  Volk  oder  einem  Zeitraum  ein  paar 

20I 


Mittelpunkte  und  Straßen  der  Kultur  zu  schaffen,  so 
kann  man  nicht  anders  als  sorgenvoll  vorder  Verwüstung 
stehen,  die  auch  in  dieser  Hinsicht  auf  vv^eite  Strecken 
hinaus  angerichtet  worden  ist;  erst  vor  kurzem  hat  einer 
der  erlesensten  Geister  Frankreichs,  mit  dem  ich  mich 
seit  mehr  als  zwanzig  Jahren  in  Gedankenaustausch 
und  Übereinstimmung  befinde,  die  gleiche  Besorgnis 
geäußert,  indem  er  mir  schrieb :  „Je  länger  sich  der  Krieg 
hinzieht,  um  so  mehr  scheint  mir  die  Zukunft  Europas 
bedroht.  Ich  glaube  nicht,  daß  bis  jetzt  viele  Leute  diese 
Gefahr  eines  langdauernden  wissenschaftlichen  Nieder- 
gangs erkannt  haben."  Die  literarischen  und  wissen- 
schaftlichen Zeitschriften  der  verschiedenen  europä- 
ischen Länder  bringen  fast  in  jedem  Hefte  Namen  ihrer 
im  Kriege  gefallenen  Mitarbeiter,  und  zahllose  andere 
Jünglinge,  die  ihre  Studien  begonnen  hatten  oder  schon 
in  ihnen  weit  vorgeschritten  waren,  sind  seit  geraumer 
Zeit  gewaltsam  aus  ihnen  gerissen  worden,  gerade  in 
der  heikelsten  Zeit  ihrer  geistigen  Entwicklung,  und  zu 
einer  ganz  anders  gearteten  hingeführt  worden;  und 
wenn  auch  die  geistig  frischesten  unter  ihnen,  die  eines 
Tages  doch  in  das  bürgerliche  Leben  zurückkehren 
werden,  sich  von  dieser  langen  Unterbrechung  nicht 
allein  hinreichend  rasch  erholen,  sondern  auch  daraus 
den  Antrieb  zu  neuer  und  selbständiger  Kraft  werden 
schöpfen  können,  so  ist  doch  zu  fürchten,  daß  die  Vielen, 
die  weniger  Starken,  aber  dennoch  für  die  allgemeine 
Kultur  Unentbehrlichen  unwiderruflich  abgelenkt  oder 
sich  auf  andere  niedrigere  oder  praktischere  Lebens- 
weisen einstellen  werden.  Auch  legen  wir  auf  die  Vor- 
hersagen kein  Gewicht  —  wir  hoffen,  sie  werden  bloß 
solche  bleiben  —  die  manche  Beobachter  und  Forscher 
über  die  Entwöhnung  von  der  sittlichen  und  geistigen 

202 


Entschluf3kraft  vorgebracht  haben,  wie  sie  das  bürger- 
liche Leben  sogar  täghch  fordert  und  anregt,  die  aber  der 
gegenwärtige  Krieg  unterbinde,  sowie  über  die  Schwierig- 
keit, ja  zuweilen  Unmöglichkeit  des  Wiederanpassens. 
Inzwischen  ist  jedoch  die  Lage  derer  fast  noch  schlim- 
mer, die  daheim  geblieben  sind,  um  das  Geschick  ihrer 
Heimatländer  bangend,  gemartert  von  der  Sorge  um  das 
Geschick  ihrer  Lieben  oder  verzweifelt  über  die  Ver- 
luste, die  sie  erlitten,  gestört  oder  gehindert  in  ihrer  ge- 
wohnten Tätigkeit,  jeden  Augenblick  in  Gedanken  auf 
den  Krieg  zurückgleitend,  und  Jahre  hindurch  von 
nichts  anderem  hörend  und  redend.  Wohin  sind  die 
von  Verständnis  leuchtenden  Augen  um  uns,  die  war- 
men Worte,  die  kühnen  Pläne  gekommen,  das  geist- 
reiche Lachen,  das  wir  in  den  Jahren  hörten,  von  denen 
uns  ein  Abgrund  trennt?  An  ihrer  Stelle  sind  ermüdete 
Mienen,  erloschene  Augen,  stumpfgewordener  Verstand 
getreten,  die  Bereitwilligkeit,  jeden  Klatsch,  der  erzählt 
wird,  jede  noch  so  rohe  und  verdrehte  Doktrin,  die 
fanatische  oder  unwissende  Menschen  vorbringen,  für 
bare  Münze  zu  nehmen. 

Diese  Erwägungen  —  um  vom  Großen  wieder  aufs 
Kleine  zu  kommen  —  rechtfertigen  den  von  uns  ge- 
faßten Vorsatz,  dafür  zu  sorgen,  daß  in  unserem  kleinen 
Kreise  der  in  der  letzten  Friedenszeit  mühsam  ange- 
sponnene Faden  nicht  abreiße  und  verloren  gehe,  sowie 
fortzufahren,  für  unser  Teil  zu  arbeiten,  sogar  noch 
angespannter  als  vorher,  nämlich  auf  Rechnung  auch 
derjenigen  unserer  geistigen  Genossen,  die  berufen  wur- 
den, ihre  Soldatenpflicht  dem  Vaterlande  gegenüber  zu 
erfüllen.  In  Zeitschriften  und  Büchern,  nicht  bloß  ita- 
lienischen, auch  ausländischen,  wurde  gesagt,  wir  hätten 
den  italienischen  Jünglingen  geraten,  sich  keine  Ge- 

203 


danken  über  den  Krieg  zu  machen  und  während  des- 
selben „archäologische  Bücher"  zu  schreiben;  in  Wahr- 
heit haben  wir  aber  vielmehr  den  Archäologen  geraten, 
Archäologie  zu  treiben  und  die  archäologisch-politisch- 
patriotischen Sendschreiben  beiseite  zu  lassen,  mit  denen 
man  ein  gar  zu  leichtfertiges  Spiel  zu  treiben  begonnen 
hatte;  desgleichen  haben  wir  jedem  geraten,  seinen 
Beruf  weiter  zu  betreiben,  so  lange  es  ihm  gestattet  sei; 
und  diesen  Rat  haben  wir  ebenso  uns  selber  gegeben 
und  ihn  zur  Tat  zu  machen  gesucht.  In  alledem  liegt 
unserer  Meinung  nach  nichts  Anstößiges,  noch  weniger 
Lächerliches.  Wenn  wir  nach  dem  Kriege  mit  dem 
übrigen  auch  das  geistige  Soll  und  Haben  aufstellen 
werden  und  in  diesem  etwas  als  unser  Guthaben  ge- 
bucht werden  wird,  dürften  wir  uns  ein  Stück  davon 
zuschreiben  und  daraus  berechtigte  Genugtuung  schöp- 
fen können. 

Wir  haben  aber  von  Anfang  an  auf  einem  anderen 
Punkt  bestanden;  auf  der  entschiedenen,  fortdauernden 
Abwehr  gegen  etwas,  das  schlimmer  als  Erschlaffung 
und  geistiger  Müßiggang  ist,  weil  es  nicht  bloß  alles, 
was  an  Gutem  und  Nützlichem  hervorgebracht  wird, 
vernachlässigt  und  verkommen  läßt,  sondern  es  un- 
mittelbar angreift  und  zersetzt,  ja  selbst  die  schlum- 
mernden Keime  künftiger  Ernten  tötet.  Wir  spielen 
damit  auf  einen  Zustand  an,  der  sich  sogleich  allent- 
halben in  Europa  herausgebildet  hat  und  auch  in  Italien 
(hier  freilich  nicht  mehr,  denn  anderswo)  in  Schwang 
kam :  die  Wissenschaft  selber  in  Trugschlüsse  aufzulösen, 
unter  dem  Vorwand,  der  Sache  des  Vaterlandes  zu  dienen. 
Dem  haben  wir  sogleich  den  goldenen  Grundsatz  ent- 
gegengehalten :  es  sei  pflichtgemäß  alles  dem  Vaterland 
zu  geben,  außer  Sittlichkeit  und  Wahrheit,  denn  das 

204 


sind  nicht  Dinge,  die  den  Einzelwesen  gehören  und  über 
die  diese  mithin  nach  Gutdünken  verfügen  dürfen.  Um 
dieses  von  uns  durchaus  nicht  entdeckten,  sondern  bloß 
in  Erinnerung  gebrachten  unantastbaren  Grundsatzes 
halber  wurden  wir  (auch  diesmal  nicht  nur  in  ita- 
lienischen, sondern  auch  in  ausländischen  Zeitungen  und 
Schriften)  mit  dem  Verfasser  des  Jean- Christophe^  der 
zum  Verfasser  des  Au-dessus  de  la  meUe  geworden  war, 
in  denselben  Topf  geworfen  und  dergleichen  Rüge  teil- 
haftig. Allein  niemals  ist  es  uns  in  den  Sinn  gekommen, 
uns  „über  das  Handgemenge"  im  Sinne  des  trefflichen 
Romain  Rolland  stellen  zu  wollen,  der  allen  kämpfen- 
den Völkern  gegenüber  als  Bannstrahlschleuderer  und 
als  Pädagoge  der  Gerechtigkeit  auftritt,  sie  alle  gleicher- 
weise tadelt  und  liebt;  vielmehr  haben  wir  versucht,  uns 
„jenseits  des  Handgemenges"  lediglich  auf  theoretisches 
und  wissenschaftliches  Gebiet  zu  stellen  oder  vielmehr 
dort  zu  verbleiben,  denn  Kunst  und  Wissenschaft  sind, 
soviel  uns  bisher  bekannt  geworden  ist,  gerade  die  beiden 
Formen,  in  denen  sich  der  menschliche  Geist  fortwäh- 
rend der  melee  oder  dem  Gewirr  des  praktischen  Seins 
entwindet  und  sich  ewig  über  sie  erhebt. 

Diese  Abwehrstellung  war  um  so  dringender,  als  die 
Wahrheiten,  die  in  Italien  und  in  den  mit  ihm  verbün- 
deten Ländern  am  schwersten  verletzt  wurden,  gerade 
diejenigen  waren,  die  innerhalb  der  modernen  Gesittung 
von  dem  Volke,  gegen  das  zu  kämpfen  uns  obliegt,  zur 
Geltung  gebracht  worden  waren;  zur  Geltung  gebracht, 
nicht  etwa  geschaffen,  denn  wenn  irgendein  Volk  das 
getan  hat,  so  sind  gerade  wir  Italiener  in  unserer  großen 
Zeit  es  gewesen.  Wir  brauchen  hier  nicht  mehr  im  Aus- 
zug zu  wiederholen,  was  wir  des  öftern  mit  vielen  Einzel- 
heiten zur  Unterstützung  der  „historischen"  gegenüber 

205 


der  „abstrakten"  Politik  und  der  geregelten  gegen  eine 
abenteuernde  Wissenschaft  vorgebracht  haben.  Diese 
doppelte  Abwehr  muß  einen  Rückschlag  von  Belei- 
digungen und  Verdächtigungen  von  Seite  der  Vielen 
hervorrufen,  die  —  eine  alte  Geschichte !  —  aus  der  Ver- 
wirrung Vorteil  ziehen,  um  sich  aufzuspielen  „trag an t 
des  faux  devoirs  et  frappant  des  vrais  droits^\  wie  der 
Dichter  sagt;  allein  es  ist  unnütz,  von  ihnen  allzuviel 
Aufhebens  zu  machen  oder  ihre  so  rasch  verfliegenden 
Worte  zu  behalten.  Worum  es  sich  einzig  handelt,  ist 
zu  untersuchen,  ob  unsere  Behauptung  richtig  und, 
weil  richtig,  auch  wohltätig  und  heilsam  sei;  oder  ob 
wir  in  unserer  Darlegung  gefehlt  und  mit  unserm  Irr- 
tum Schaden  gestiftet  haben,  für  den  wir,  gemäß  der 
von  uns  vertretenen  Lehre,  nicht  in  unserm  guten  Glau- 
ben Entschuldigung  suchen,  sondern  uns  für  sittlich 
verantwortlich  erklären  werden.  Wir  beruhigen  uns 
in  der  Zuversicht,  daß  in  näherer  oder  fernerer  Zeit  an- 
erkannt werden  wird,  daß  wir  der  Wahrheit  gemäß 
gesprochen  und  derart  die  vaterländische  Pflicht  erfüllt 
haben,  die  uns  aus  Gründen  unserer  Zuständigkeit  oblag. 
Vielleicht  brauchen  wir  nicht  einmal  den  kommen- 
den Tag  zu  erwarten,  da,  als  erst  vor  wenig  Wochen 
ein  Schrei  der  Entrüstung  durch  Italien  ging,  über  die 
Probe  internationalen  Rechtes,  das  heißt  abstrakter 
Politik,  die  ein  paar  einer  gewissen  Gemeinschaft  an- 
gehörige  Italiener  auf  einer  internationalen  Zusammen- 
kunft zum  Schaden  ihres  Vaterlandes  geliefert  haben, 
uns  aus  den  Ereignissen  selbst  eine  freiwillige  und  voll- 
kommene Bestätigung  wurde,  gleicherweise  auch  von 
denen  uns  zugebilligt,  die  in  ihrem  Nachdenken  von 
den  Tatsachen  zu  den  Theorien  aufzusteigen  pflegen. 
Ein  Hagel  von  Anklagen,  Entgegnungen,  Spottreden 

206 


ergoß  sich  über  jene  unseligen  Sendboten  der  Humani- 
tät und  der  internationalen  Gerechtigkeit;  derart,  daß 
unsere  erste  Regung  sogar  die  war,  für  sie  in  die  Schran- 
ken zu  treten,  da  es  uns  unbillig  erschien,  daß,  wer  von 
falschen  Voraussetzungen  ausgeht,  über  diejenigen  den 
Stab  breche,  die  von  den  nämlichen  Voraussetzungen 
her  ihre  logischen  Folgerungen  ziehen.  Der  Irrtum 
jener  Sektierer  liegt  nicht  sowohl  darin,  daß  sie  ihre 
phantastische  Humanität  über  das  Vaterland  gesetzt 
haben,  denn  darin  handelten  sie  folgerichtig  und  das 
verdient  Lob,  als  darin,  daß  sie  sich  in  einer  Ideologie 
wiegten,  die  im  achtzehnten  Jahrhundert,  vor  Napoleon, 
ja  sogar  vor  der  französischen  Revolution  erlaubt  war, 
jetzt  aber  so  veraltet  und  ungeeignet  ist,  als  das  ptole- 
mäische  System  oder  die  Lehre  von  den  vier  Welt- 
monarchien. 

Lassen  wir  nun  die  Politik  beiseite  (von  der  wir  immer 
nur  ungern  und  allein  um  jenes  wenigen  willen,  das 
philosophische  Lehren  und  geschichtliche  Auslegungen 
zuläßt,  sprechen)  und  bleiben  wir  vielmehr  bei  dem 
Problem  der  Wissenschaft  und  der  Bildung,  so  haben 
alle  in  den  letzten  Zeiten  dem  Schauspiel  der  Auflösung 
beigewohnt,  von  der  Italien  durch  die  Schulverord- 
nungen bedroht  wird,  sowie  den  Angriffen,  mit  denen 
man  jenes  Maß  von  wissenschaftlicher  Zucht  zu  er- 
schüttern begann,  das  nach  den  sechziger  Jahren  durch 
die  unablässigen  Mühen  von  Forschern  und  Lehrern 
aus  allen  Gegenden  Italiens  begründet  worden  war.  Man 
ist  dazu  gelangt,  für  die  Lehrkanzeln  der  italienischen 
Literatur  an  den  Universitäten  abermals  der  Dichtung 
Beflissene  vorzuschlagen  und  schon  wagen  sich  die  Lob- 
redner ihrer  leichtfertigen  Geschichtsdarstellungen  und 
ihrer  platten  Philosophien  hervor,  die,  in  Italien  unbe- 

207 


kannt,  aber,  wie  sie  sagen,  „von  der  geistigen  elite  der 
lateinischen  Lande  und  Amerikas  bewundert  werden." 
Gegen  den  Warnungsruf,  den  wir  vor  nunmehr  zwei 
Jahren  erhoben,  hat  sich  ein  alterund  überaus  achtungs- 
werter Philolog  und  Lehrer,  auch  seinerseits  von  un- 
angebrachtem politischen  Eifer  ergriffen,  gewendet, 
indem  er  uns  öffentlich  vorwarf,  wir  vermöchten  mit 
unsern  Ideen  nicht  einmal  drei  Soldaten  gegen  die  Öster- 
reicher ins  Feuer  zu  führen ;  gerade  als  ob  wir  Korporale 
und  nicht  vielmehr  Forscher  wären,  die  sich  nach  Ver- 
nunftgründen mit  andern  Forschern  auseinandersetzen. 
Allein,  wenn  jener  Wackere  bemerkt  hat,  wie  sich  im 
Namen  des  Italienertums,  der  Deutschfeindlichkeit  und 
der  lateinischen  Geistigkeit  Scharen  von  Angreifern, 
wir  sagen  nicht  gegen  seine  Person,  wohl  aber  gegen 
die  Hochziele  wissenschaftlichen  Lebens,  denen  er  sein 
ganzes  Leben  gewidmet  hat,  erheben,  so  wird  er,  wenn 
auch  verspätet,  unsern  Warnungsruf  ein  wenig  besser 
verstehen  und  sich  überzeugen,  daß  unsere  Voraussicht 
diesmal  größer  als  die  seine  gewesen  ist. 

KRIEG  UND  BÜRGERTUM  (Giornale  d'Italia, 
■  ly.  September  igiy),  —  Lieber  Bergamini,  erlauben  Sie, 
daß  ich  einmal,  statt  die  Leser  Ihrer  Zeitschrift  über 
literarische  Dinge  zu  unterhalten,  von  Politik  spreche  ? 
Von  Politik,  die  nicht  streitbar  und  vielleicht  selbst 
Literatur  ist  .  .  . 

Vor  ein  paar  Wochen  las  ich  ein  Buch  über  die 
moderne  Geschichte  Italiens,  von  einem  österreichischen 
Historiker  [L.  Hartmanri]  herrührend  —  übrigens  sehr 
rücksichtsvoll  gegen  unser  Land  gehalten  —  und  fand 
darin  den  Satz:  Italien  werde  „gegen  die  Minderheit, 
die  die  Wiedererhebung  gemacht  und  seine  neueren 

208 


Geschicke  gelenkt  hat",  von  den  Arbeitern,  der  sozia- 
listischen Partei,  dem  „Volk"  gerettet  werden. 

Nun  habe  ich  gar  nicht  die  Absicht,  etwas  zu  sagen, 
das  wie  eine  Beleidigung  Herrn  Giolitti's  aussehen 
könnte,  da  ich  den  Grundsatz  vertrete,  Politiker  könn- 
ten, und  sei  es  in  schärfster  Form,  meinetwegen  selbst 
mit  Beleidigungen  durch  andere  Politiker  bekämpft 
werden,  daß  aber,  wer  außerhalb  der  werktätigen  Politik 
steht,  nicht,  wie  es  allzuoft  geschieht,  Schmähungen 
gegen  sie  richten  dürfe,  die  unbillig  sind,  weil  sie  von 
Unverantwortlichen  stammen. 

Nichts  demnach  von  Beleidigungen;  aber  es  bleibt 
Tatsache,  daß  ich  beim  Lesen  des  Buches  jenes  Öster- 
reichers daran  denken  mußte,  seine  Auffassung  sei  im 
Grunde  die  nämliche  wie  in  der  unlängst  im  Provinzial- 
landtag  von  Cuneo  gehaltenen  Rede! 

Dieses  Zusammentreffen  erschien  mir  als  die  schärfste 
Kritik  an  jener  Rede;  denn  —  auch  die  besten  Ab- 
sichten des  Redners  zugegeben  —  es  ist  schwer,  ihre 
ungünstige  Wirkung  in  den  Unruhen  von  Turin  und 
der  Gärung,  die  sich  in  andern  Teilen  Italiens  zeigt, 
zu  verkennen. 

Aber  wie  man  von  Gedanken  zu  Gedanken  schweift, 
so  habe  ich  auch  darüber  nachgedacht,  daß  konservative 
und  liberale  Zeitungen,  einem  sicher  wohltuenden  red- 
nerischen Nachdruck  Raum  gebend,  seit  einiger  Zeit 
etwas  schildern,  das  gar  nicht  vorhanden  ist,  und  da- 
durch Gefahr  laufen,  es  in  die  Welt  zu  setzen  (nämlich 
seine  schlimmen  Folgen) :  fast  wie  Balzac,  der  kraft  der 
*  Beschreibungen,  die  er  in  seinen  Romanen  vom  Haus- 
rat bric-ä-brac  entwarf,  die  Mode  des  bric-ä-brac  her- 
vorgebracht und  damit  den  guten  Geschmack  unserer 
Zeit  sicherlich  nicht  gefördert  hat. 

14    Croce,  Raudbemerkungen  eines  Philosophen  20Q 


Dieses  nicht  Vorhandene  läßt  sich  in  einen  Satz  zu- 
sammenfassen, der  voll  tiefen  Sinnes  zu  sein  vorgibt  und 
in  Wirklichkeit  abgeschmackt  ist:  —  Den  Krieg  führen 
die  Landleute.  Ich  habe  dies  von  Landleuten  wieder- 
holen gehört,  nicht  im  Tone  des  Stolzes,  sondern  mit 
Traurigkeit  und  Unmut,  in  dieser  Gestalt:  Nur  wir 
armen  Teufel  sind  gut  genug  dazu,  umgebracht  zu 
werden. 

Will  man  mit  diesem  Satz  aussprechen,  daß  im 
kämpfenden  Heere  die  Bauern  an  Zahl  überwiegen,  so 
behauptet  man  etwas  unzweifelhaft  Richtiges,  das  aber 
gar  nichts  besagt,  weil,  auch  in  Friedenszeiten,  Bauern 
und  Handarbeiter  die  zahlenmäßige  Mehrheit  der  Be- 
völkerung ausmachen. 

Will  man  aber  vielmehr  sagen,  daß  die  Landleute 
in  den  Krieg  ziehen  und  die  Bürgerlichen  zu  Hause 
bleiben,  so  spricht  man  damit  die  Unwahrheit,  denn 
jeder  von  uns,  die  wir  doch  im  großen  und  kleinen 
Bürgertum,  nicht  unter  Landvolk  leben,  sieht,  wenn 
er  um  sich  blickt,  alle  seine  Bekannten,  Verwandten, 
Freunde  unter  den  Waffen,  viele  von  ihnen  gefallen, 
verwundet,  wegen  ihrer  Tapferkeit  ausgezeichnet.  Die 
Tausende  und  aber  Tausende  von  Offizieren,  die  dieser 
Krieg  erfordert,  sind  mit  bewundernswerter  Raschheit 
vom  Bürgertum,  wie  ich  glaube,  nicht  vom  Land- 
volk gestellt  worden  ^). 

Ebensowenig  möge  man  gegen  das  Bürgertum  die 
Anschuldigung  oder  Beleidigung,  es  suche  sich  zu 
„drücken",  richten,  denn  man  müßte  darauf  mit  der 

^)  Hierzu  bemerkt  der  italienische  Herausgeber  G.  Castellano  mit  Recht, 
die  jetzt  erscheinenden  Statistiken  über  die  Kriegsverluste  aller  kriegführenden 
Länder  zeigten,  daß  die  verhältnismäßig  höchsten  Ziffern  dem  Bauern-  und 
Bürgerstand  angehören,  die  geringeren  jedoch  den  Arbeitern,  die  allenthalben 
in  weitem  Ausmaße  enthoben  worden  sind. 

Z'IO 


Aufforderung  an  die  Militärbehörde  antworten,  so  un- 
erbittlich als  möglich  die  „Drückeberger"  auszuheben, 
wo  immer  sie  sich  auch  finden  mögen,  gleichzeitig 
aber  den  Gendarmen  und  Polizisten  empfehlen,  mit 
dem  größten  Eifer  Ausreißer  und  Versteckte  auszu- 
forschen und  dingfest  zu  machen,  die,  soviel  ich  weiß, 
nicht  bürgerlich  zu  sein  pflegen.  Mit  andern  Worten, 
es  genießt  auch  in  dieser  betrüblichen,  vom  Krieg  un- 
zertrennlichen und  allen  Ländern  gemeinsamen  Er- 
scheinung kein  gesellschaftlicher  Stand  das  Vorrecht 
der  Lauterkeit.  Die  Sünder  sind  in  jedem  vertreten. 

In  diesem  Ducken  und  Sichkleinmachen  der  bürger- 
lichen Blätter  vor  Arbeitern  und  Landleuten  ist  eine 
unbewußte  Unterwerfung  unter  die  Anmaßungen  und 
Überheblichkeiten,  nicht  etwa  jener  Volksklassen,  die 
kräftig  und  bescheiden  sind,  wohl  aber  ihrer  Anführer 
oder  Verführer  zu  merken.  Ich  wollte,  daß  das  italie- 
nische Bürgertum  zuweilen  in  sich  die  Kraft  fände, 
sich  selbst  Gerechtigkeit  widerfahren  zu  lassen,  und 
das  mutige  Wort  auszusprechen,  das  der  Historiker 
Drumann,  im  Namen  der  deutschen  Forscher  und 
Bürger  zu  den  Massen,  die  sich  damals  mit  dem  Namen 
der  arbeitenden  Klassen  zu  schmücken  begannen,  ge- 
sagt hat:  —  die  wahre  Arbeiterklasse  sind  wir! 

Erregt  es  auch  diesmal  Anstoß,  daß  ich  damit  fort- 
fahre, Namen  deutscher  Schriftsteller  anzuführen? 
Möglich,  daß  mir  dazu  die  Lust  gewachsen  ist,  seit 
man  mir  zumuten  wollte,  sie  nicht  mehr  in  den  Mund 
zu  nehmen!  Wie  dem  auch  immer  sei,  ich  wieder- 
hole, was  mit  geringerer  Rauheit  des  Ausdrucks,  aber 
größerer  Anmut  ein  hervorragender  französischer 
Dichter,  Alfred  von  Vigny,  in  seinen  1 847  verfaßten 
Versen  gesagt  hat: 

H'  2 1  I 


Noriy  non,  il  n*est  pas  vrat,  que  le  peuple  h  tout  äge 

Lui  seul  ait  travailUy  lui  seul  ait  combattu: 

Que  l^immolation,  la  force  et  la  courage 

N'halfitent  pas  un  coeur  de  velours  revkuy 

Plus  helle  itait  la  vie  et  plus  grande  est  sa  perte 

Plus  pur  est  le  calicey  oü  l^hostie  est  offerte  ...  — 

Je  mehr  man  die  rednerische  Übertreibung,  die  ich 
erwähnt  habe,  aufputzt,  verbreitet  und  festigt,  desto 
mehr  erleichtert  man  den  Wühlern  das  Zurechtmachen 
eines  ihrer  beliebten  gefühlsmäßigen  Trugschlüsse: 
„Den  Krieg  haben  die  Bürgerlichen  gewollt,  aber  sie 
lassen  ihn  von  den  Bauern,  die  ihn  nicht  wollten,  führen" . 
Als  ob  etwas  Absonderliches  oder  Unsittliches  darin 
läge,  daß  die  sorgenvolle  Bekümmernis  und  die  schwere 
Verantwortlichkeit,  über  den  Krieg  schlüssig  zu  werden, 
leider  den  gebildeten  und  leitenden  Klassen  zugefallen 
ist,  die  auf  diese  Art  zweimal  die  Rechnung  bezahlen, 
das  eine  Mal  mit  dem  Gehirn,  das  zweite  Mal  mit 
dem  Einsatz  ihrer  Person.  Den  übrigen  Klassen  fällt 
hingegen  bloß  die  Ausführung  und  die  Pflicht,  aus- 
zuharren, zu:  Dinge  von  höchster  Wichtigkeit  und 
edelster  Art,  aber  etwas  weniger  sturmvoll  und  quälend, 
denn  Gehorchen  ist  pflichtgemäß,  aber  auch  viel  ein- 
facher und  beruhigender  als  Befehlen. 

Entschuldigen  Sie  diese  Plauderei,  lieber  Bergamini; 
bevor  ich  mich  von  Ihnen  verabschiede,  lassen  Sie  mich 
noch  hinzufügen,  daß  ich  durchaus  keine  Furcht  vor 
irgendeiner  grundstürzenden  Reform  habe,  die  die 
wirtschaftliche  Wohlfahrt,  die  geistige  Kultur  und 
das  bürgerliche  und  vaterländische  Bewußtsein  unserer 
wackern  Landleute  vermehrt.  Wohl  aber  empfinde 
ich  große  Furcht  vor  rednerischem  Wortschwall,  der 
geistlos  nachgeplappert,  den  Weg  zu  stumpfer  Ergebung 
ebnet  und  Werte  und  Zuständigkeiten,  die  sich  müh- 

212 


sam  in  der  Geschichte  herausgebildet  haben,  zugunsten 
von  elementaren,  anfängermäßigen  oder  noch  unrei- 
fen Werten  und  Zuständigkeiten  herabdrückt.  Eine 
Furcht,  die  freilich,  wie  ich  gestehe,  sich  etwas  vermindert 
hat  seit  der  großen,  uns  durch  Rußland  geleisteten  Unter- 
stützung —  ich  meine  damit  nicht  die  Waffenhilfe  vom 
Frühjahr  1916,  als  Vergeltung  für  die  unsere  vom 
Frühjahr  1 9 1 5,  und  von  uns  abermals  im  Sommer  1 9 17 
geleistet,  sondern  dadurch,  daß  es  uns  in  einem  furcht- 
baren Beispiel  gezeigt  hat,  wohin  die  Umkehrung  der 
gesellschaftlichen  Werte  führe.  Ich  glaube,  daß  dieses 
Beispiel  selbst  auf  die  italienischen  Sozialisten  seine 
Wirkung  nicht  verfehlen  wird,  die,  was  man  auch  von 
ihnen  sagen  mag,  dennoch  ebenfalls  Italiener  sind,  das 
heißt  einem  durch  jahrhundertelange  Erfahrungen  ge- 
läuterten und  bedächtig  gemachten  Volke  angehören, 
und  die,  wie  ich  glauben  möchte,  es  für  keinen  Ehren- 
titel halten  würden,  „Mitglieder  des  Sowjet"  genannt 
zu  werden. 

DER  KRIEG  ITALIENS,  DAS  HEER  UND 
DER  SOZIALISMUS  (Giornale  d'Italia,  Sept.  1917^) 
—  Ich  muß  damit  beginnen,  den  Lesern  ins  Gedächt- 
nis zurückzurufen,  daß  ich  mich  in  Wahrheit  nicht 
für  würdig  halte,  in  den  Versammlungen  zu  sitzen,  die 
die  sogenannten  „Interventionisten"  noch  im  dritten 
Kriegsjahre  einberufen,  denn  vor  unserer  Kriegs- 
erklärung war  ich  offenkundig  „deutschfreundlich", 
wie  man  damals  sagte,  oder  „Anhänger  des  Dreibunds". 
Ebenso  muß  ich  in  Erinnerung  bringen,  daß  ich  während 
des  Krieges  fortgefahren  habe  und  noch  fortfahre  in 
Schutz  zu  nehmen,  was  an  Wahrem  und  Gesundem 


1)  Ursprünglich  wegen  der  Ereignisse  im  Herbst  1917  unterdrückt. 


in  deutscher  Wissenschaft  und  deutschem  Brauche 
liegt:  ich  habe  deshalb  von  den  meisten  Tadel,  aber 
von  den  w^enigen,  an  die  ich  allein  meine  Worte  richtete, 
Lob  erfahren,  und  verharre  auch  heute  noch  trotz  aller 
Schmähungen  (die  sich  übrigens  seitdem  merklich  ver- 
ringert haben)  bei  dieser  Haltung,  die  ich  für  würdig 
und  kraftsteigernd  halte;  —  und  ich  vermag  das  mit 
ruhigem  Gewissen  zu  tun,  weil  es  mir  niemals  in  den 
Sinn  gekommen  ist,  irgendwer  könnte  im  Ernst  an 
dem  tiefen  undeifersüchtigen  Vaterlandsgefühl  jemandes 
zweifeln,  der  nicht  bloß  die  Ehre  hat,  dem  Senat  des 
Königsreiches  anzugehören,  sondern  vor  allem  auch 
italienischer  Schriftsteller  war  und  ist.  Meine  drei- 
bündlerischen  Neigungen  waren  schon,  wie  es  natür- 
lich ist,  mit  der  Kriegserklärung  im  Mai  19 15  über- 
holt; seit  damals  habe  ich  mich  von  ihnen  verab- 
schiedet, wie  man  es  mit  so  vielen  Dingen  tut,  die  in 
den  Schatten  der  Vergangenheit  zurücktreten  und  die 
man  niemals  mehr  erblicken  wird. 

Man  verzeihe  mir  diese  persönlichen  Bemerkungen, 
da  sie  einerseits  dazu  dienen,  ebenso  niedrige  wie  nicht 
zu  rechtfertigende  Anwürfe  hintanzuhalten,  anderseits 
vielleicht  das  bekräftigen,  was  ich  zu  sagen  habe. 

Wer  die  italienische  Geschichte  durchforscht  hat, 
um  über  die  oberflächlichen  und  herkömmlichen 
Kenntnisse,  die  einem  die  Schule  vermittelt,  hinaus- 
zugelangen,  weiß,  daß  einer  der  ältesten  und  fast  der 
einzige  Vorwurf,  der  den  Italienern  von  den  andern 
Völkern  Europas,  besonders  Franzosen  und  Deutschen, 
gemacht  worden  ist,  der  war,  „unkriegerisch"  zu  sein. 
Dieses  Urteil  bildete  sich  hauptsächlich  zu  Ende  des 
fünfzehnten  Jahrhunderts,  dank  der  schwachen  oder 

214 


gar  nicht  vorhandenen  Abwehr  gegen  die  Fremden 
bei  ihrem  Herabsteigen  in  unser  Land,  das  ihr  Schlacht- 
feld wurde;  aber  vorausdeutende  Zeichen  finden  sich 
bereits  im  Mittelalter,  als  unter  anderem  die  Fabel  vom 
„Lombarden  und  der  Schnecke"  in  Europa  verbreitet 
war  und  die  harten,  eisenklirrenden  Lehnsherren  von 
jenseits  der  Alpen  die  italienischen  Bürger  verachteten, 
„die  erst  seit  gestern  —  den  üblen  Fettwanst  gürteten 
mit  ritterlicher  Wehr".  Dieser  Vorwurf  konnte  auch 
nicht  durch  das  Schauspiel  verwischt  werden,  das  die 
Italiener  in  dem  neuen  französischen  Einbruch,  nicht 
mehr  königlicher,  sondern  republikanischer  Truppen, 
zu  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  und  in  den  Er- 
eignissen der  Restaurationszeit  darboten;  und  er  wurde 
ebenso  nur  wenig  gemildert  durch  die  nicht  immer 
einträchtigen,  widerstandskräftigen  oder  vom  Glück  be- 
günstigten Kämpfe  unserer  Wiedererhebung. 

Wie  peinlich  dieser  Vorwurf  empfunden  wurde,  das 
beweisen  die  überaus  zahlreichen  Schriften,  die  besonders 
zwischen  1830  und  1848  ihn  zu  entkräften  unternahmen, 
indem  sie  die  leuchtenden  Beispiele  italienischen  Kriegs- 
ruhms vorüberziehen  ließen,  im  Zeitraum  der  mittel- 
alterlichen Stadtgemeinden,  in  der  Renaissance  und 
ganz  besonders  in  der  jüngstvergangenen  napoleonischen 
Zeit.  Ich  hatte  Gelegenheit,  mich  mit  diesem  Feder- 
krieg zu  beschäftigen,  als  ich  die  Geschichte  der  ita- 
lienischen Historiographie  im  neunzehnten  Jahrhundert 
verfolgte;  allein  es  wäre  ganz  nützlich,  wenn  jemand 
eine  eigene  Abhandlung  darüber  schriebe,  um  den 
Stoff  von  allen  seinen  verschiedenen  und  belehrenden 
Ansichten  her  zu  beleuchten. 

Trotzdem  wirkten  diese  Streitschriften  nicht  über- 
zeugend und  brachten  die  Frage  nicht  zum  Abschluß. 

21S 


Weshalb?  Weil  sie  sich  allzu  wörtlich  an  die  Aus- 
sprüche der  Angreifer  und  Spötter  hielten  und  jenen 
Vorwurf  als  einen  Vorwurf  natürlicher  Unfähig- 
keit, der  äem  italienischen  Volke  gemacht  wurde, 
auffaßten;  so  verstanden,  war  er  offensichtlich  eine 
Albernheit.  Albern  und  leicht  zu  widerlegen,  so  wie 
denn  ein  alter  napoleonischer  Offizier  und  Verfasser 
geschichtlicher  Darstellungen,  Luigi  Blanch,  geant- 
wortet hat,  kein  Mensch,  und  noch  viel  weniger  ein 
ganzes  Volk  sei  unfähig,  das  Leben  um  irgendeines 
Beweggrundes,  der  zu  seinem  Herzen  spräche,  aufs 
Spiel  zu  setzen.  Und  die  Italiener  waren  in  der  Tat 
dessen  so  wenig  unfähig,  daß  kein  Volk  jemals  so  be- 
reit schien  wie  sie,  das  Leben,  außerhalb  der  eigentlich 
militärischen  Kämpfe,  täglich  wegzuwerfen :  die  italie- 
nischen Chroniken  des  siebzehnten  Jahrhunderts,  also 
der  Zeit,  in  der  die  militärische  Tüchtigkeit  Italiens 
sich  auf  der  tiefsten  Stufe  befand,  bringen  auf  jeder 
Seite  Nachrichten  von  wilden  Streitigkeiten,  von  Zwei- 
kämpfen und  Handgemengen,  zwischen  Einzelnen 
und  Parteien,  und  erwecken  die  Vorstellung  von  einem 
Italien,  in  dem  Tag  für  Tag  das  Blut  durch  Stadt  und 
Land  floß.  Die  Zweikämpfe  der  Adelsherren  wurden 
damals  in  „Compagnien"  ausgefochten,  das  heißt  jeder 
pflegte  seine  Freunde  mit  sich  zu  führen,  damit  man 
sich  aus  den  nichtigsten  Gründen  das  Lebenslicht 
ausblasen  könne.  Noch  gewalttätiger  waren  die 
Volksmassen  und  das  Landvolk.  Das  war  also  alles 
andere  eher  denn  Anhänglichkeit  an  das  Leben!  Es 
scheint  vielmehr,  daß  dieses  damals  recht  niedrig  im 
Werte  stand,  und  man  könnte  auf  jene  Zeugnisse  das 
Gesetz  der  Erfahrung  —  noch  durch  andere  Beobach- 
tungen gestützt    -  gründen,  daß  der  geringern  mili- 

216 


tärischen  Tüchtigkeit  einer  Gesellschaft  eine  größere 
Neigung  zu  Bluttaten  entspreche,  und  umgekehrt. 
Deshalb  hat  auch  Marat  in  einer  seiner  Ansprachen 
dem  Wunsch  Ausdruck  gegeben,  bloß  „dreihundert 
Neapolitaner,  mit  nackten  Armen,  bewaffnet  mit 
Dolchen",  um  sich  zu  haben,  um  die  Revolution  in 
Frankreich  endgültig  zum  Siege  zu  bringen. 


Jedoch  in  seinem  versteckten  und  tiefen  Sinn  ver- 
standen, v^ar  der  Vorwurf  richtig  und  unwiderlegbar. 
Insofern  er  nämlich,  in  anderer  Form,  aussagte,  daß 
den  Italienern  der  Zusammenhang  mit  einem  starken 
Staatsgebilde,  dessen  Ausdruck  die  militärische  Tüch- 
tigkeit ist,  gefehlt  habe.  Die  Beispiele  selbst,  die  gegen 
ihn  ins  Treffen  geführt  worden  waren,  hatten  nur  den 
Wert  von  Ausnahmen,  die  die  Regel  bestätigen:  das 
heißt,  sie  zeigten,  daß  stets,  wenn  es  in  Italien  einen 
starken  Staat  gegeben  hatte  (zum  Beispiel  jenen  des 
Hauses  Savoyen),  ein  Gefühl  nationalen  Stolzes,  oder 
zum  wenigsten  einen  Innungsgeist,  man  sich  vortreff- 
lich geschlagen  hatte.  1798—99  flüchtete  das  neapoli- 
tanische Heer  beim  ersten  Zusammenstoß  mit  den 
Franzosen;  allein  wenige  Wochen  später  bildeten  sich 
überall  bewaffnete  Banden,  die  auf  die  Franzosen  und 
Jakobiner  Jagd  machten  und  nach  einigen  Monaten 
unausgesetzten  Kampfes  die  Oberhand  behielten.  „Wie 
geht  das  zu?"  fragte  verwundert  einer  der  französischen 
Heerführer,  Thiebault  (ich  schreibe  an  einem  Orte, 
wo  mir  keine  Bücher  zur  Hand  sind  und  ich  mich 
auf  mein  Gedächtnis  verlassen  muß),  „diese  Neapoli- 
taner laufen  davon,  wenn  sie  Uniform  tragen,  und 
kämpfen,  wenn  sie  sie  weggeworfen  haben."  Ein 
Rätsel,  dessen  Lösung  leicht  ist:  der  Feldzug  der  Jahre 

217 


1798—99  ^^^  einer  Berechnung  der  Kabinette  ent- 
sprungen, war  geführt  mit  einem  ansehnhchen  Heer 
unerfahrener  Rekruten,  von  einem  österreichischen 
Theoretiker  befehhgt  (demselben,  der  sich  später  von 
Napoleon  in  Ulm  einschließen  ließ)  und  vorausbe- 
stimmt, zu  mißglücken ;  w^ährend  jene  Banden  unter  dem 
Antrieb  des  Hasses  gegen  die  Fremden  und  zur  Ver- 
teidigung von  Religion  und  König  aufstanden:  zwei 
gewaltige  Mächte  im  katholischen  und  monarchisch 
gesinnten  Süden  Italiens.  Ich  könnte  diese  Anekdoten 
und  die  aus  ihnen  sich  ergebenden  Betrachtungen  leicht 
vervielfachen;  allein  ich  überlasse  das  demjenigen,  der 
einmal  jene  Monographie  schreiben  wird,  deren  Stoff 
ich  oben  bezeichnet  habe. 

Nun  wohl:  was  bewirkt  das  italienische  Heer,  das 
jetzt  unter  der  kräftigen  und  klugen  Leitung  des  Gene- 
rals Cadorna  kämpft.?^)  Nichts  Geringeres  als  dies:  es 
ist  im  Begriff,  das  italienische  Volk  endgültig 
von  einem  fünfzehn  Jahrhunderte  alten  Vor- 
wurf zu  reinigen.  Es  beweist  nämlich  mit  der  Tat, 
daß  dieses  italienische  Volk  nunmehr  seine  nationale 
und  politische  Einheit  erreicht  hat,  dessen  Ausdruck 
die  Stärke  des  Heeres  ist. 

Es  genügt,  meine  ich,  diesen  Sinn  des  gegenwärtigen 
Krieges  darzulegen,  um  jedem  vernünftigen  Menschen, 
jedem  gesunden  Gemüte  den  überaus  hohen  Wert  des 
Werkes,  das  sich  vollendet,  klarzumachen,  dem  gegen- 
über kein  Opfer  jemals  groß  genug,  kein  Ausharren 
wenig  lohnend  wird  genannt  werden  können,  und  keine 

1)  Ich  habe  hier  das  Urteil  wiedergegeben,  das  damals  in  aller  Mund 
war;  und  ich  lasse  jetzt  diese  Worte  (obwohl  sie  bis  jetzt  unveröffentlicht 
sind)  unverändert,  weil  es  mir  scheint,  ich  würde  mich,  wollte  ich  sie  jetzt 
ändern,  einer,  ich  weiß  nicht  zu  sagen,  ob  großen  oder  kleinen  Feigheit 
schuldig  machen.    (Anmerkung  Croces.) 

2t8 


im  Bereich  der  Möglichkeit  liegende  Schwäche  jemals 
von  der  Schuld  eines  echten  und  rechten  Verrats  an 
den  höchsten  nationalen  Gütern  wird  reinzuwaschen 
sein.  Angenommen  auch,  daß  der  gegenwärtige  Krieg 
kein  anderes  Ergebnis  für  uns  haben  sollte,  als  daß  wir 
den  andern  Völkern  der  Welt  mit  erhobener  Stirn,  von 
Gleichen  zu  Gleichen,  ins  Auge  werden  blicken  können, 
so  würde  der  Gewinn,  nicht  nur  der  sittliche  allein,  auch 
der  politische  ungeheuer  sein.  Die  künftigen  Ge- 
schlechter werden  immerdar  das  Geschlecht  segnen, 
das  dies  erstrebt  und  erreicht  hat,  so  wie  wir  jene  segnen, 
die  mit  ihren  Anstrengungen,  ihrem  Märtyrertum,  ihrem 
Blute  Italien  die  Freiheit  und  Unabhängigkeit  ge- 
schenkt haben.  So  abgebraucht  diese  Worte  ins  Ohr 
klingen  mögen,  in  ihnen  ist  nichts  von  der  Armut  des 
Gefühls,  die  sich  in  fadenscheinige  Redensarten  hüllt; 
mir,  dem  einfachen  Philosophen  und  Kritiker,  begegnet 
es  im  Verlauf  meiner  Forschungen  sehr  oft,  daß  ich 
mir  sagen  muß :  kann  ich  das  schreiben,  was  ich  denke, 
kann  ich  mich  mit  so  vielen  freien  Geistern  Italiens, 
Europas  und  anderer  Teile  der  Welt  verbunden  und 
verbrüdert  fühlen,  so  schulde  ich  das  denjenigen,  die 
hundertachtzehn  Jahre  früher,  in  meinem  Neapel,  unter 
dem  grinsenden  Hohn  des  Pöbels,  auf  dem  Markt- 
platze den  Tod  am  Galgen  erlitten  haben.  Und  darum 
ehre  und  segne  ich  sie. 

Indessen  gibt  es  heute  eine  politische  Partei  in 
mannigfachen  Abstufungen  —  der  Kürze  wegen  will 
ich  sie  die  sozialistische  nennen  —  die  spöttisch  die 
Achseln  zuckt  und  derartige  Gefühle  und  Be- 
geisterungen als  schlauen  Betrug  oder  als  naive  Täu- 
schung verhöhnt;  sie  hat  den  Vorsatz,  das  Menschen- 

2ig 


geschlecht,  voran  Itahen,  von  den  Einbildungen  über 
militärische  Ehre  und  Ruhm  zu  heilen,  setzt  darum 
das  große  Werk,  das  sich  unter  unsern  Augen  vollzieht, 
herab  oder  befehdet  es.  Ich  möchte  die  gebildeten  und 
vernünftig  urteilenden  Sozialisten  fragen  —  es  sind  deren 
viel  mehr,  als  man  glaubt,  nur  erscheinen  sie  w^enige, 
v^eil  ihr  Mut  nicht  so  groß  ist,  daß  sie  laut  die  Folgen 
ihrer  Ervv^ägungen  bekennen  v^rürden  —  ob  sie  v^irklich 
meinen,  daß  der  Sozialismus  (gesetzt  den  Fall,  sein 
Ideal  gesellschaftlicher  Ordnung  v\rerde  eines  Tages 
verw^irklicht)  der  Macht  des  Staates  v^irklich  entraten 
könnte,  und  w^äre  es  auch  des  Proletarierstaates,  mit 
dem  zugehörigen  Heere,  der  Manneszucht,  Rang- 
stufung,  dem  Ehrgefühle,  militärischen  Überlieferungen 
und  Ruhmestaten,  mit  Belohnungen  und  Strafen  und 
allen  sonstigen  notwrendigen  Dingen.  Welche  Wunder 
man  auch  vom  Sozialismus  zu  erw^arten  geneigt  ist, 
das  eine  vvrird  man  doch  von  ihm  nicht  erwarten  wollen, 
daß  er  die  Gestalt  der  Erden  und  Meere  ändere,  die 
ethischen  und  geschichtlichen  Merkmale  der  ver- 
schiedenen Bevölkerungen,  den  gegensätzlichen  Anteil, 
der  sich  daraus  ergibt  und  dessen  schwanker  Aufbau 
immer  entweder  durch  den  Kampf  oder  die  gegen- 
seitige Furcht  gegeben  sein  wird.  Es  gehört  die  wunder- 
same Kindlichkeit  der  russischen  Sozialisten  dazu,  um 
sich  ein  Heer  zu  denken,  das  durch  den  Odem  demo- 
kratischer Predigten  festen  Zusammenhalt  empfangen 
und  kämpfen  soll;  es  gehört  ihre  in  Wahrheit  unge- 
heuerliche Unkenntnis  dazu,  um  als  Stütze  dafür  das 
Beispiel  der  französischen  Freiwilligen  von  1793  an- 
zuführen, während  jeder  mäßige  Kenner  französischer 
Geschichte  weiß,  daß  diese  Freiwilligen  zuerst  die 
Probe  recht  übel  bestanden  haben  und  daß  es  strengster 

2-20 


Manneszucht  bedurfte,  um  sie  in  das  alte  republi- 
kanische Heer  einzugliedern,  dessen  Siege  größtenteils 
den  militärischen  Einrichtungen  des  abgeschafften 
Königtums  verdankt  wurden. 

Was,  glaubt  man  wohl,  erregt  so  viel  Furcht  und 
so  viel  Widerstand  dem  Sozialismus  gegenüber?  Etwa 
die  Störung  der  sogenannten  privaten  Interessen?  Allein 
jedermann  weiß,  daß  es  geschworene  Antisozialisten 
ohne  einen  Heller  in  der  Tasche  gibt,  wie  Sozialisten  und 
dem  Sozialismus  Zugeneigte,  die  Millionäre  sind.  Der 
Mensch  wird  viel  mehr,  als  man  gemeiniglich  glaubt, 
von  idealen  und  geistigen  Beweggründen  getrieben,  die 
von  seinen  unmittelbaren  und  persönlichen  Interessen 
unabhängig  sind.  Störungen  dieser  Interessen,  und  mehr 
oder  weniger  ausgebreitete  Umstürze  gesellschaftlicher 
Klassen  ereignen  sich  fortwährend,  durch  den  Bruch 
eines  Handelsvertrags,  durch  einen  gewerblichen  Um- 
schwung, ja  selbst  durch  ein  Kerbtier,  die  Reblaus  oder 
die  Ölfliege,  und  trotzdem  zittert  man  deshalb  nicht. 
Was  aber  tatsächlich  Abscheu  und  Schrecken  erregt, 
ist  der  Gedanke  an  politische  Schwächung,  gesell- 
schaftliche Auflösung,  Anarchie,  an  die  Gemeinheit, 
die  blutdürstig  und  grausam  wird,  und  nach  alledem 
an  die  mühselige  Rückkehr  zu  den  früheren  Verhält- 
nissen, unter  allgemeiner  Schädigung  und  Beschämung, 
oder  zuweilen  der  besondern  jener  Klasse,  die  übel- 
beraten versucht  hatte,  sich  auf  Kosten  des  staatlichen 
Lebensgefühls  zu  erhöhen.  Die  antimilitaristischen 
Sozialisten  müssen  die  zwei  einzigen  selbständigen 
Denker,  die  der  Sozialismus  gehabt  hat,  Karl  Marx 
und  Georg  Sorel,  sehr  wenig  und  oberflächlich  kennen, 
beide  erfüllt  von  kriegerischem  und  in  gewissem  Sinne 
konservativem  Geiste:   Beweis   dafür  die  große  Ver- 

221 


wunderung,  die  es  erregt  hat,  als  man  jüngst  erfuhr, 
wie  Marx  zuzeiten  fast  wie  ein  MiUtarist  und  All- 
deutscher gesprochen  hat.  Jene  aber  sind  unüberlegte 
und  leichtsinnige  Sozialisten,  und  es  bleibt  ihnen  nichts 
anderes  übrig  —  ist  ihr  Herz  besser  denn  ihr  Kopf  —  als 
in  aller  Hast  Leid  und  Reue  zu  erwecken,  wie  es 
Herrn  Herve  gegangen  ist. 


Es  sind  nun  sieben  Jahre  her,  also  lange  vor  dem 
Krieg,  da  legte  ich  die  Gründe  dar,  weshalb  die  sozia- 
listische Bewegung,  allenthalben  in  die  nationalen  Be- 
wegungen aufgegangen,  versagt  und  enttäuscht  habe;, 
ich  brachte  unter  anderem  als  Beweis  dafür  die  Ver- 
schmelzung der  deutschen  Sozialisten  mit  dem  deut- 
schen Reich,  die  seither  durch  den  Krieg  ihre  Bestätigung 
gefunden  hat.  Allein,  da  alle  Vorhersagen  nur  mäßigen 
Wert  haben,  will  ich  auch  der  meinen  nur  einen  solchen 
zubilligen  und  will  für  einen  Augenblick  die  entgegen- 
gesetzte Annahme  aufstellen,  das  heißt  die  des  mehr 
oder  weniger  nahen  Sieges  des  Sozialismus,  wohlver- 
standen, seines  dauernden,  nicht  etwa  vorübergehenden. 
Unter  welchen  Umständen  wird  er  in  Italien  tatsäch- 
lich und  dauerhaft  sein?  Bloß  dann,  wenn  jene  mili- 
tärische Kraft,  die  einst  den  lombardischen  Adel,  die 
venezianischen  Patrizier,  die  Bürger  von  Florenz  und 
ich  möchte  selbst  sagen,  die  Neapolitaner  beseelte,  die 
bei  Velletri  die  Österreicher  schlugen,  sich  in  großen 
Mengen  gegen  die  Franzosen  waffneten,  1848  ihren 
Königen  Sizilien  zurückgewannen  und  sie  nicht  ohne 
Ehren  in  Gaeta  verteidigten  —  jene  militärische  und 
politische  Kraft,  die  sich  mit  den  liberalen  und  nationalen 
Ideen  vermählend,  1 859  und  1 860  die  Waffen  des  neuen 
Italien  zur  Geltung  brachte  und  die  heute,  um  so  viel 

Z22 


größer  geworden  durch  die  Teilnahme  der  gesamten 
Nation  unsere  Grenzen  deckt  und  ins  feindliche  Gebiet 
vorrückt  —  wenn  diese  unversehrt,  ja  erhöht  an  die  neuen 
sozialen  Klassen  übergeht.  Dann  werden  diese  sich  in  der 
Tat  als  reif  erweisen,  die  Zügel  des  Staates  zu  übernehmen; 
die  nationale  Ehre,  Kultur,  Gesittung,  die  Intelligenz, 
die  von  einer  langen  Geschichte  hervorgebrachten 
Werte  werden  dann  in  neue,  aber  gute  Hände  gelegt 
sein,  und  jedes  großmütige  Herz  wird  dann  nicht  um 
die  erbärmlichen  und  vergänglichen  „Privatinteressen" 
(diese  dann  vielmehr  „herabgesunken"  zu  Privat- 
interessen) klagen,  die  geopfert  werden  können,  genau 
so  wie  sie  alle  Tage,  aus  verschiedenen  Ursachen,  ge- 
opfert werden.  Diese  leitenden  Klassen  der  Zukunft 
werden  mithin  nur  so  weit  Kraft  besitzen,  als  sie  die 
politische  und  militärische  Erbschaft  des  Heeres,  das 
jetzt  um  Italiens  Geschicke  kämpft,  anzutreten  wissen 
werden ;  und  ich  vermag,  mich  mit  der  größten  Sach- 
lichkeit, wie  ich  oben  getan,  auf  die  Seite  des  Sozialis- 
mus stellend,  nicht  zu  verstehen,  wie  die  Sozialisten 
jetzt  nur  wünschen  oder  versuchen  können,  ein  Erb- 
teil an  Kraft  zu  zerstören,  das  anzutreten  sie  trachten 
sollten,  und  das  sie  darum  vielmehr  zu  verteidigen  und 
zu  vermehren  bestrebt  sein  müßten.  Allein,  die  Toren 
glauben  stets,  daß  Gesellschaft  und  Welt  ein  weicher 
Teig  seien,  den  sie  nach  ihrer  Weise  von  ihren  kleinen 
Gehirnen  her  und  mit  ihren  ungeschickten  Fingern 
umkneten  und  herrichten  können ! 

NOCH  ETWAS  ÜBER  DIE  PHILOSOPHIE 
DER  POLITIK  (Critica  XVI,  März  1918).  -  Ich 
will,  wie  schon  gesagt,  nicht  mehr  auf  den  Begriff  des 
Staates  als  Macht  zurückkommen,  weil  man  wissen- 

223 


schaftlichen  Wahrheiten  zuweilen  einen  üblen  Dienst 
leistet,  wenn  man  sie  allzusehr  verteidigt.  Sind  sie  ein- 
mal aufgestellt  und  verteidigt  worden,  so  muß  man  ihren 
Leugnern  gegenüber  die  Achseln  zucken  und  zum 
Maccaronilatein :  Quivult  c apere  capiat  oder  zum  scho- 
lastischen: Scientia  non  habet  inimicum  praeter  igno- 
rantem  greifen.  So  pflegen  wir  es  längst  bei  denen  zu 
tun,  die  aufs  neue  fordern,  die  Poesie  solle  sich  von  der 
Sittenlehre  leiten  lassen ;  und  so  wollen  wir  es  von  nun 
ab  auch  mit  der  Politik  halten,  die,  um  Worte  Vicos 
in  unserer  Weise  anzuwenden,  „eine  in  gewissem 
Sinne  tatsächliche  Poesie"  ist;  glauben  andere  jedoch, 
daß  eine  garstige  Dichtung  durch  den  klugen  sittlichen 
Vorsatz,  der  sie  eingegeben  hat,  gefechtfertigt  werde, 
oder  die  üble  Politik  eines  Staatsmannes  durch  die  edle 
Idealität  der  Gerechtigkeit,  der  sie  entsprang,  ent- 
schuldigt werden  müsse,  und  sehen  sie  nicht  ein,  daß 
dieser  Staatsmann  oder  jener  Dichter  sich  vielmehr 
gegen  ihre  nächsten  und  genau  bestimmten  Pflichten 
schwer  versündigt  haben,  nun  so  ist  das  ihre  Sache, 
und  sie  mögen  in  ihrer  Torheit  verharren.  Ich  habe 
vordem  versucht,  das  Wort:  „Macht",  das  so  viel 
Schrecken  erregt,  weil  es  die  —  bei  geistig  Schwachen 
immer  sehr  lebhafte  —  Einbildungskraft  aufregt,  mit 
„Tüchtigkeit"  zu  übersetzen,  und  zu  zeigen,  daß  die 
Fähigkeiten  nicht  erkannt  und  erwählt  werden  können, 
falls  man  sie  nicht  miteinander  kämpfen  läßt;  aber  es 
ist  verlorene  Mühe!  Um  so  mehr  als  (während  sich  in 
Sachen  der  Poesie  doch  zuweilen  einer  findet,  der  sich 
für  unzuständig  erklärt  und  schweigt)  in  Sachen  der 
Politik  „jeder  seine  Meinung  hat" ,  auch  die  Vielen, 
die  gar  nicht  wert  sind,  eine  zu  haben,  da  sie  nicht  im- 
stande sind,  sich  eine  solche  zu  bilden;  besonders  die 

224 


Freimaurerei  ist  ein  großer  Kramladen  von  „Über- 
zeugungen", die  zu  volkstümlichen  Preisen  erworben 
werden  können  und  nicht  mehr  und  nicht  weniger 
wert  sind  als  sie  kosten.  Nur  von  einem  Gesichtspunkt 
aus  können  derartige  „Ansichten"  ernst  genommen 
werden,  nämlich  insofern  sie  die  Gemüter  der  Vielen, 
der  Überzahl  beherrschen;  sie  bilden  auf  diese  Weise 
einen  Sturzbach,  eine  Masse,  eine  Lawine  von  Un- 
wissenheit, die  aber  eine  Tatsache  gleich  andern  ist, 
ein  Schwergewicht,  das  man  ohne  Zweifel  in  Rech- 
nung ziehen  muß.  Allein  derartige  Rechnungen  auf- 
zustellen, ist  Sache  des  Politikers,  der  sich  dieser  auf 
ihm  lastenden  Masse  oder  diesem  Gewicht,  das  sich 
an  seine  Füße  hängt,  gegenüber  findet;  nicht  des  Kri- 
tikers, der  das  Ungetüm  umkreist,  es  anstaunt,  aber  nicht 
zu  ihm  spricht,  weil  er  sehr  wohl  weiß,  daß  er  selbst 
nur  einen  Mund,  jenes  aber  tausend  Mäuler  hat,  und 
daß  mithin  die  Unterredung  mit  ihm  nicht  zum  Zwie- 
gespräch werden  kann.  Sagt  man  aber,  die  moralisti- 
schen Theorien  der  Politik  seien  immerhin  eine  Reli- 
gion des  Trostes  für  die  besiegten,  unterdrückten, 
schwachen  und  kleinen  Völker,  oder  das  politische 
Auskunftsmittel  für  solche,  die  die  erworbene  Macht 
zu  behaupten  suchen,  indem  sie  dieser  eine  heuchle- 
rische, aber  glänzende  und  darum  nützliche  Recht- 
fertigung geben,  so  möchte  ich  antworten,  daß  die 
ersten,  statt  sich  mit  jener  falschen  Religion  zu  trösten, 
besser  daran  täten,  sich  zu  kräftigen  und  dauerhafte 
Bündnisse  zu  schließen,  die  andern  aber,  statt  sich  auf 
die  über  die  Welt  verbreitete  Unwissenheit  zu  ver- 
lassen, vielmehr  bedenken  sollten,  daß  man  mit  Aus- 
kunftsmitteln wohl  einen  augenblicklichen,  aber  sehr 
gefährlichen  Vorteil  erzielt  und  man  mit  ihnen  über 

15     Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  22  C 


das  Nächste  hinweg  kommt,  aber  keineswegs  zu  leben 
vermag. 

DAS  VORURTEIL  VOM  „BESTEN  STAAT« 
[März  igi8).  —  Der  moralistische  oder  demokratische 
Irrtum  (wie  man  ihn  auch  nach  denen,  die  ihn  be- 
sonders hätscheln,  nennen  könnte)  in  der  Wissenschaft 
der  Politik  ist  sicherlich  einer  der  gewöhnlichsten ;  ver- 
zichte ich  hier  auch  darauf,  ihn  noch  einmal  zu  wider- 
legen, so  möchte  ich  trotzdem  auf  zwei  ebenfalls  recht 
eingewurzelte  Irrtümer  hinweisen,  von  deren  einem 
sich  ein  schwacher  Widerschein  selbst  in  Treitschkes 
Politik  bemerkbar  macht;  in  einem  Buche,  das  kürz- 
lich ins  Italienische  übersetzt  wurde  und  dessen  Le- 
sung und  Ergründung  nicht  nachdrücklich  genug  emp- 
fohlen werden  kann,  so  viel  enthält  es  an  Lebensweis- 
heit, dargelegt  in  einfacher  und  gedrängter  Form.  Es 
handelt  sich  dabei  um  ein  sehr  altes  Vorurteil,  ob  es 
nämlich  möglich  sei,  die  beste  politische  Form,  den 
„besten  Staat"  bestimmen  zu  können,  der  die  größten 
Vorteile  der  übrigen  Formen  sämtlich  mit  den  gering- 
sten Nachteilen  in  sich  vereinige:  diese  Form  ist  für 
zahlreiche  Publizisten  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
die  verfassungsmäßige  und  parlamentarische  Monar- 
chie gewesen,  fürTreitschke  wohl  auch  die  verfassungs- 
mäßige, aber  nicht  parlamentarische  Monarchie  preu- 
ßischen Gepräges.  Dagegen  muß  erinnert  werden,  daß 
politische  Formen  überhaupt  nicht  bestehen,  sondern 
einfach  Gedankenbauten  der  Theoretiker  sind,  und 
daß,  was  in  Wirklichkeit  besteht,  die  geschichtliche 
Tatsache  ist,  das  heißt  Formen,  die  nicht  mehr  ein- 
fache Formen  sind,  sondern  Völker  in  bestimmten 
Augenblicken  ihres  Lebens,   mit  bestimmten   Reli- 

226 


gionen  und  Philosophien,  bestimmten  praktischen  und 
sittlichen  Zielen,  bestimmten  Überlieferungen,  in  be- 
stimmten internationalen  oder  Weltlagen;  daher  sich 
alles,  was  man  zugunsten  oder  zuungunsten  der 
Form  sagt,  in  der  Tat  immer  auf  diese  bestimmte  und 
festumschriebene  geschichtliche  Wirklichkeit  bezieht. 
Die  wissenschaftliche  Folgerung  ist  demnach,  daß, 
wenn  jemand  auf  diesem  Wege  zu  einer  allgemeinen 
Wahrheit  zu  gelangen  vermeint,  er  höchstens  zu  einer 
besondern  gelangt,  nämlich,  daß  ein  gegebenes  Volk 
in  einem  gegebenen  Zeiträume  gedeiht  und  die  andern 
überflügelt;  erhebt  man  aber  diese  besondere  Wahr- 
heit zu  einer  allgemeinen,  so  öffnet  man  den  so  oft 
verworfenen  politischen  Utopien  Tür  und  Tor,  die 
nicht  nur  darin  bestehen,  daß  man  vollkommene  Staats- 
wesen außerhalb  des  geschichtlichen  Verlaufs  und  un- 
abhängig von  ihm  ohne  Änderung  beharrend  oder  be- 
stimmt, ihn  mit  einem  paradiesischen  Dauerzustand 
abzuschließen,  feststellt,  sondern  auch  darin,  daß  man 
aus  der  Geschichte  zufällige  Formen  absondert  und 
sie  für  unbedingt  ausgibt.  Daher  stammen  die  un- 
überlegten Nachahmungen  von  politischen  Formen 
fremder  Völker  oder  solcher,  die  durch  ein  ruhmvolles 
politisches  Leben  ausgezeichnet  sind:  Nachahmungen, 
die  namentlich  im  Zeitalter  der  französischen  Revo- 
lution mitunter  zu  Zerrbildern  entarteten,  und  die, 
gleichviel  ob  in  ansehnlicher  oder  in  verzerrter  Auf- 
machung, immer  auf  der  trügerischen  Annahme  ruhten, 
daß  es,  um  Wirkungen  hervorzubringen,  denen  ähn- 
lich, die  sich  in  einem  gegebenen  Fall  eingestellt  haben, 
genüge,  sich  ein  paar  in  jenem  Fall  an  der  Oberfläche 
beobachtete  Verhaltungsweisen  anzueignen :  gerade  so 
wie  es  die  Petrarchisten  mit  der  Dichtung  Petrarcas 

15»  _  227 


oder  die  Raffaeliten  mit  Raffaels  Malerei  gemacht 
haben,  und  wie  es  die  Professoren  in  allen  möglichen 
Weltteilen  mit  der  deutschen  Philologie  zu  tun  ge- 
wohnt waren.  Wer  sich  die  nötige  geistige  Freiheit  be- 
wahrt, wer  vorurteilslos  zu  sein  versteht,  gibt  sich 
keiner  Täuschung  darüber  hin,  als  ob  heilsame  Formen 
oder  Staaten,  die  dauerndes  Gleichgewicht  erreicht 
hätten,  bestünden,  sondern  schärft  sein  Auge,  um  die 
wirklich  tätigen  Kräfte  zu  entdecken  und  damit  die 
wirklichen  Möglichkeiten  für  ein  bestimmtes  Volk  in 
einem  bestimmten  Zeitpunkt ;  und  wenn  beispielsweise 
für  dieses  Volk  oder  diesen  Zeitpunkt  die  wirksamste 
Lebensform  in  die  Erscheinung  tritt,  mit  der  Repu- 
blik, ja  selbst  mit  dem  Sozialismus,  so  wird  er  in  diesen 
Formen  den  besten  Staat  begrüßen,  den  besten,  weil 
die  besten  Kräfte  ihm  Leben  verleihen  und  ihn  tragen, 
und  weil  die  Geschichte  uns  niemals  andere  „beste" 
Staaten  als  die  derart  entstandenen  und  erhaltenen  vor 
Augen  geführt  hat,  so  mannigfaltig  auch  ihre  äußeren 
Züge  gewesen  sein  mögen.  Mit  andern  Worten :  die 
Aufgabe  des  Politikers  wird  immer  und  einzig  die  sein, 
die  Fülle  des  Lebens  zu  fördern,  gleichviel,  woher  sie 
stammt,  und  stets  und  überall  die  Rückschrittlichen 
und  Fortschrittsfeinde  zu  bekämpfen,  seien  sie  Adels- 
oder Arbeiterklassen,  Monarchisten  oder  Republikaner, 
Sozialisten  oder  Anarchisten,  die  ja  sämtlich,  von  Fall 
zu  Fall,  zu  Rückschrittlichen  oder  Fortschrittsfeinden 
werden  können,  geradeso  wie  ein  Anhänger  der  unbe- 
schränkten Monarchie  mitunter  ein  Fortschrittsmann 
und  Revolutionär  sein  kann.  Zu  dem  Vorurteil  über 
den  Wert  gewisser,  abstrakt  genommener,  politischer 
Formen  gesellt  sich  mithin  jenes  andere  über  den  fort- 
schrittlichen  Charakter    gewisser  Parteien    und    den 

228 


rückschrittlichen  anderer,  während  in  der  wirklichen 
Geschichte  dergleichen  Charaktere  häufig  die  Rollen 
tauschen  und  einander  ablösen ;  ebenso  kann  ein  Staat, 
dem  Anscheine  nach,  im  Vergleich  zu  andern,  die 
den  höchsten  Grad  der  Verfeinerung  erreicht  haben, 
sehr  wohl  fortschrittlich  sein,  beispielsweise  Rom  ge- 
genüber den  griechischen  Städten  Italiens  und  Siziliens, 
oder  die  germanischen  Völker  gegenüber  den  römi- 
schen Bürgern  der  späten  Kaiserzeit. 

DAS  VORURTEIL  VON  DER  GRÖSSE  DER 
VÖLKER  {März  1918).  -  Hat  nun  der  Politiker 
dieses  Amt,  so  kann  sein  Hauptziel  nicht  darin  be- 
stehen, die  Größe  und  den  Ruhm  eines  Volkes  aufzu- 
richten ;  denn  diese  Dinge  entstehen  und  werden  nicht 
künstlich  gemacht.  In  der  Tat  nennt  man  Größe  eines 
Volkes  die  Rolle,  die  es  als  Vorbild  und  Führer  für 
andere  innehat,  als  Vertreter  jener  Form  der  Gesittung, 
die  zu  einer  bestimmten  Zeit  die  höchste  ist.  Nun 
liegt  aber  diese  Rolle  fallweise  in  den  Händen  der  ver- 
schiedensten Völker  und  keines  hat  sie  jemals  so  fest- 
zuhalten vermocht,  daß  sie  ihm  für  immer  verblieben 
wäre ;  vielmehr  ist  die  höchste  erreichte  Stufe  der  Vor- 
herrschaft fast  immer  der  Vorläufer  nahen  Abstiegs 
gewesen.  Welchem  Volke  sie  in  der  nächsten  Zukunft 
zufallen  oder  ob  sie  unter  verschiedene  aufgeteilt  wer- 
den wird,  das  ist  das  religiöse  Mysterium  der  Ge- 
schichte, das  Geheimnis  der  Vorsehung:  jener  Vor- 
sehung, die  in  einem  gegebenen  Augenblick  bei  dem 
Volke  oder  den  Völkern,  die  sie  erkoren  hat,  etwas  wie 
eine  wundersame  Harmonie  zwischen  Gedanken  und 
Tat,  zwischen  Gesellschaft  und  Staat,  zwischen  den 
verschiedenen  Klassen  herstellt,  den  Massen  die  Führer 

229 


gibt,  den  auszuführenden  Werken  die  großen  Einzel- 
wesen, die  sie  in  ihrem  Geiste  zusammenfassen  und 
zur  VerwirkUchung  bringen.  Gehört  aber  diese  Zu- 
teilung der  Vorsehung  an,  so  kann  der  Politiker  nicht 
mit  ihr  in  die  Schranken  treten,  wenn  er  nicht  auch 
hier  schlechte  Nachahmungen  und  törichte  Zerr- 
bilder des  Unnachahmlichen  und  Selbstwirksamen  her- 
vorbringen will.  Wie  ein  rechter  Dichter  sich  nicht 
vornimmt,  das  große  Gedicht  oder  die  große  Tra- 
gödie zu  machen,  sondern  seiner  Innern  Stimme  ge- 
mäß dichtet,  und  vollauf  an  knapper  Lyrik  oder  der 
Novelle  Genüge  findet,  indem  er  es  der  Muse  über- 
läßt, will  sie  es,  ihn  zu  jenen  Werken  zu  leiten,  die 
man  als  „große"  ansieht  und  die  doch  nur  solche 
anderer  Art  sind;  wie  der  kluge  Mensch  nicht  um 
sich  blickt,  die  beneidend,  die  höher  als  er  stehen,  son- 
dern auf  seine  Arbeit  bedacht  ist  und  es  dem  Glück 
anheimstellt,  ihn,  liegt  es  in  dessen  Absicht,  auf  die 
nämlichen  hohen  Stufen,  ja  noch  höher  zu  führen :  so 
muß  auch  ein  Volk  danach  trachten,  das  möglichst 
Beste  aus  den  gegebenen  Umständen  zu  schöpfen, 
nicht  aber  das  Rom  Julius  Cäsars,  das  Makedonien 
Alexanders  des  Großen  oder  das  Frankreich  Napoleons 
nachzuahmen:  es  sind  das  Vorsätze,  die  in  der  Litera- 
tur von  Federfüchsen  und  ähnlichen  Lendenlahmen, 
in  der  Politik  aber  von  den  „Großmannsüchtigen",  wie 
die  genannt  werden, die  solches  anstreben,  gefaßt  werden . 
Wahrlich,  würden  wir  uns  in  Italien  insgesamt  von 
den  Sittenpredigern  der  Politik,  den  Anhängern  ab- 
strakter Form  und  abstrakter  Größe  (Demokraten,  Dok- 
trinären, imperialistischen  Nationalisten)  freimachen, 
so  hätten  wir  mit  einer  stattlichen  Menge  nicht  nur 
leeren,  sondern  auch  gefährlichen  Geschwätzes  auf- 

230 


geräumt,  und  Zeit  und  Raum  gewonnen,  um  die  wirk- 
lich ernsten  Fragen  unseres  nationalen  Lebens  zu  er- 
örtern und  allmählich  deren  Lösung  herbeizuführen. 

DAS  AMT  DER  REDNER  UND  DIE  PFLICH- 
TEN DER  GELEHRTEN.  VOM  SAGEN  UND 
NICHTSAGEN  DER  WAHRHEIT  [JumigiS).- 
Vor  einigen  Jahren  habe  ich  irgendwo  die  recht  ober- 
flächlichen Vorstellungen  über  die  sittliche  Pflicht 
„die  Wahrheit  zu  sagen",  das  heißt,  andern  die  Wahr- 
heit mitzuteilen,  kritisiert,  indem  ich  erstens  zeigte, 
daß  man  die  Wahrheit  nicht  „sagt"  und  nicht  „mit- 
teilt", als  ein  fertiges  Erzeugnis,  da  jeder  sie  von  sich 
selbst  aus  hervorbringen  muß,  und  was  man  „Mit- 
teilung" nennt,  ein  Inbegriff^  praktischer  Mittel  ist, 
durch  die  man  andere  in  eine  bestimmte  geistige  Lage 
zu  bringen  sucht,  geeignet,  den  Gedanken  zu  wecken 
und  ihn  in  einer  bestimmten  Richtung  tätig  werden 
zu  lassen;  zweitens  habe  ich  daraus  abgeleitet,  daß  das 
Wort,  in  diesem  seinem  praktischen  Gebrauch,  als 
Mittel  der  Überredung,  keinen  theoretischen  Wert 
weder  als  wahr  noch  als  falsch  habe,  und  recht  wohl 
zu  praktischen  Zwecken  angewendet  werden  kann, 
auch  angewendet  wird,  die  nicht  unbedingt  den 
Boden  zum  Hervorbringen  der  Wahrheit  vorbereiten, 
vielmehr  gewisse  Lebensformen  fördern  sollen;  ajs 
Beispiel  habe  ich  die  Worte  angeführt,  die  man  zu 
Kranken  zu  sprechen  pflegt,  um  sie  an  Geist  und 
Körper  aufzurichten,  oder  zu  Soldaten,  um  sie  zu  be- 
herztem Angriff  zu  veranlassen.  Wie  es  mir  aber  auch 
in  andern  Fällen  ergangen  ist,  so  erweckte  auch  diese 
meine  Theorie,  deren  Hauptzweck  war,  den  Begriff 
der  „erlaubten"    oder   „edelmütigen  Lügen"   zu   be- 

231 


kämpfen  —  durch  das  einzige  Mittel,  durch  das  man 
einen  falschen  Begriff  aus  der  Welt  schaffen  kann, 
nämlich  seine  Bestandteile  und  die  Wahrheitsforde- 
rungen, die  er  enthält,  aber  übel  zusammenfügt,  auf 
ihren  richtigen  Platz  zu  stellen  —  irgendwie  den  An- 
schein des  Zynismus.  Ich  weiß  nicht,  was  ich  dazu 
sagen  soll:  ich  kann  bloß  hervorheben,  daß  ich  mit 
aller  Schärfe  gedacht  und  meinen  Gedanken  klar  aus- 
gedrückt habe;  ist  er  nicht  oder  übel  verstanden  wor- 
den, so  liegt  die  Schuld  nicht  an  mir,  sondern  an  der 
Unaufmerksamkeit  oder  Oberflächlichkeit  anderer. 
Es  ist  demnach  an  den  andern,  zu  begreifen,  denn 
meine  Aufgabe,  „klar  zu  unterscheiden"  habe  ich 
erfüllt. 

Hingegen  mag  es  nützlich  sein,  hier  die  Erörte- 
rung nochmals  auf  ein  geschichtliches,  uns  naheliegen- 
des, nämlich  politisches  und  zeitgemäßes  Gebiet  zu 
verlegen.  Wer  hier  fortfahren  wollte,  nicht  oder  übel 
zu  verstehen,  könnte  mich  hier  —  und  ich  wundere 
mich,  daß  es  bis  jetzt  nicht  versucht  worden  ist  —  des 
Widerspruchs  mit  mir  selbst  bezichtigen  und  der  An- 
schein spräche  in  diesem  Falle  für  ihn.  Denn  es  ist 
Tatsache,  daß  ich,  der  Theoretiker  der  oben  erwähnten 
Lehre,  in  die  Lage  gekommen  bin,  mit  allem  Nach- 
druck den  „Kriegslügen",  der  „falschen  Wissenschaft 
vom  Kriege"  entgegenzutreten,  und  des  öftern  auf  der 
Notwendigkeit  zu  bestehen  „die  Wahrheit  zu  sagen", 
ohne  sich  über  eingebildete  Gefahren,  die  daraus  für 
das  Leben  erwachsen  sollen,  den  Kopf  zu  zerbrechen. 

DIE  DEMOKRATIE,  DIE  VORGEBLICH 
„GEFÄHRLICHEN  WAHRHEITEN"  UND 
DIE  VORGEBLICH  „HEILSAMEN  LÜGEN".  - 

232 


In  der  Tat  haben  in  unscrn  Demokratien  alle  jene  For- 
meln von  den  „gefährlichen  Wahrheiten"  und  den 
„heilsamen Täuschungen"  Umlauf,  desgleichen  tauchen 
hier  alle  jene  Versuche  wieder  auf,  eine  besonderen 
praktischen  Interessen  dienstbare  Wissenschaft  aufzu- 
stellen, eine  „demokratische  Wissenschaft",  wie  es  einst 
eine  der  Feudalen  und  der  Klerikalen  gegeben  hat  und 
noch  gibt,  ebenso  wie  jeder  andern  Partei,  die  zu  ver- 
zweifelten Mitteln  greifen  muß,  um  sich  zu  verteidigen, 
wenn  sie  sich  des  rechtmäßigen  Mittels  verlustig  sieht: 
der  geschichtlichen  und  tatsächlichen  Rechtfertigung. 
Dennoch  wäre  es  eine  Buße  für  meine  Sünden  —  und 
nur  als  solche  würde  ich  sie  demütig  hinnehmen  — , 
wenn  all  diese  Schmutzereien,  gegenwärtig  demokra- 
tisch, einst  konservativ  oder  vielmehr  rückschrittlich 
undjesuitisch,  mit  meinem  Satze  verwechselt  und  gleich- 
gesetzt würden:  daß  die  Wahrheit  nicht  „mitgeteilt", 
sondern  lediglich,  je  nach  den  Zeiten  und  Umständen, 
erzeugt  werde,  durch  praktische  Vorsorgen  und  Antriebe, 
geeignet,  die  Gemüter  fähig  zu  machen,  sie  hervorzu- 
bringen. Denn  diese  Vorsorgen  und  Antriebe,  von  denen 
ich  sprach,  waren  alle  daraufgerichtet,  nicht  eine  falsche 
Wissenschaft  aufzurichten  (eine  falsche  Wissenschaft, 
die  aber  dann,  Gott  weiß  wie,  für  heilsam  ausgegeben 
wird,  um  sie  an  die  Stelle  der  wahren  zu  setzen,  die,  man 
weiß  nicht  wieso,als  gefährlich  ausgeschrieen  wird),wohl 
aber  der  Wissenschaft  Raum  zu  schaffen,  der  einzigen 
Wissenschaft,  die  die  stets  sich  erneuernde  Wahrheit  ist; 
nur  aus  diesem  Grunde  riet  ich,  die  Wahrheit  dem  zu 
verschweigen,  der  noch  nicht  würdig  ist,  sie  zu  hören  und 
sich  der  leeren  Formel  bedienen  würde,  um  seine  Lei- 
denschaften zu  befriedigen;  desgleichen  dem,  der  sich 
unter  solchen  praktischen  Umständen  befindet,  daß  es 

•   233 


Torheit  wäre  und  wie  Hohn  aussähe,  ihn  zum  Nach- 
denken, Überlegen,  Forschen  und  Urteilen  veranlassen 
zu  wollen,  während  das,  was  ihm  einstweilen  nottut, 
gerade  ist,  ihn  aus  dieser  mißlichen  Lage  zu  befreien. 
Hingegen  greift  die  Theorie  der  „gefährlichen"  Wahr- 
heit und  Wissenschaft  das  Leben  der  Wissenschaft  selbst 
an  und  zerstört  es,  da  sie  nichts  anderes  als  den  Auf- 
bau der  falschen  Wissenschaft  befördert. 

Was  ist  nun  diese  letztere?  Sie  liegt  nicht  in  den  ein- 
fachen, irrationalen  (wie  man  sie  zu  nennen  pflegt)  und 
doch  wirksamen  und  erhabenen  Worten,  die  ich  als 
weder  wahr  noch  falsch  und  dennoch  als  nützlich  (wohl 
rational,  allein  in  praktischer  Hinsicht)  bezeichnet 
habe,  etwa  solchen  wie  der  Ruf:  „Hoch  Italien!"  oder 
jener  Garibaldis  in  Mentana:  „Wollt  ihr  nicht  mit  mir 
sterben?"  oder  der  Friedrichs  des  Großen  an  seine  im 
Kampf  entmutigten  Soldaten:  „Racker,  wollt  ihr  denn 
ewig  leben?"  und  ähnlichen;  wohl  aber  in  der  kalt  be- 
rechneten Lüge  selbst,  die  als  solche  nichts  anderes  denn 
Täuschung  hervorbringt  und  früher  oder  später  Ent- 
täuschung, Niedergeschlagenheit  und  Erniedrigung  im 
Gefolge  hat.  Zum  guten  Glück  erzeugt  sie  viel  öfter 
noch  Langweile  und  Ekel,  weil  die,  denen  sie  aufgetischt 
und  angepriesen  wird,  kein  Bedürfnis  nach  solchen  Ge- 
richten empfinden,  auch  nicht  in  der  Lage  sind,  weder 
die  echte  noch  die  falsche  Wissenschaft  in  sich  aufzu- 
nehmen, sondern  sich  eben  so  verhalten,  wie  es  ihnen 
gemäß  ist,  und  das  Leben  nach  ihrer  Weise  führen, 
nach  ihren  eigenen  Beweggründen,  Überlieferungen 
oder  Trieben,  welcher  Art  sie  auch  sein  mögen. 

Unglücklicherweise  fallen  jedoch  derartige  Erzeug- 
nisse gerade  durch  ihre  Hülle  „falscher  Wissenschaft" 
auf  jenen  Teil  der  Gesellschaft  zurück,  der  die  Welt  oder 

234  . 


der  Kreis  der  Wissenschaft  heißt:  ein  Kreis,  der  unter 
anderem  in  der  Absicht  gebildet  und  umschrieben  wor- 
den ist,  daß  Männer,  Versammlungen,  Unterredungen, 
Bücher,  Zeitschriften  und  andere  geistige  Einrichtungen 
und  Verhältnisse  dieser, Art  aufgestellt  und  erhalten 
werden,  in  denen  die  Notwendigkeit  zu  schweigen  und 
Mittel  rednerischer  Überzeugung  anzuwenden  auf  das 
äußerste  beschränkt,  hingegen  die  reine  Darlegung  kri- 
tischer und  wissenschaftlicher  Begriffe  auf  das  höchste 
gesteigert  ist. 

Gerade  weil  die  Gesellschaft  in  ihren  sonstigen  Schich- 
ten etwas  ganz  anderes  zu  tun  hat,  und  die  Wissenschaft, 
die  reine,  strenge  Wissenschaft  dies  durchkreuzen  würde, 
sei  es,  daß  sie  von  jenem  Tun  ablenkt,  sei  es,  daß  sie 
Übelgesinnten  Vorwände  zu  Mißbräuchen  liefert,  ist  es 
nur  der  Kreis  der  Wissenschaft  selbst,  in  dem  uns  volle 
Freiheit  verliehen  ist,  jene  Freiheit,  die  keine  unbe- 
dingte ist  — denn  Unbedingtheit  hieße  hier  Unwirklich- 
keit  — ,  vielmehr  stets  bedingt,  die  aber  dennoch,  wie 
gesägt,  auf  das  höchste  gesteigert  ist  und  sein  muß.  So 
fälscht  die  falsche  Wissenschaft,  bricht  sie  hier  ein,  die 
Wissenschaft  selber,  stört  deren  Leben,  bewirkt,  daß  der 
ganzen  Gesellschaft  ein  Vorrat  an  Kraft  entzogen  wird 
und  mangelt,  der  ihr  ebensosehr  oder  noch  mehr  nötig 
ist  als  der  an  Korn  und  Eisen :  die  Erzeugung  und  Ver- 
breitung der  Wahrheit.  Ich  gebe  keine  Beispiele,  da 
ich  schon  da  und  dort  deren  genügend  viel  gegeben 
habe  und  meine  Leser  längst  wissen,  daß  dank  einer 
falschen  Werbetätigkeit,  die  sich  in  die  Wissenschaft 
eingeschlichen,  für  Italien  und  einen  großen  Teil  der 
Völker,  mit  denen  es  vereint  ist,  der  gesunde  Begriff  der 
Politik,  der  Geschichte  und  des  Lebens  verloren  ge- 
gangen oder  geschwächt  worden  ist.  Dieses  üble  Werk 

235 


wird  nach  wie  vor  bezeichnet  als  „Anfeuerung  der 
Geister",  als  etwas,  „das  für  den  Kampf  den  Rücken 
stärke" !  Als  ob  es,  in  welchem  Betracht  immer,  für 
ein  Volk  oder  ein  Einzelwesen  von  Vorteil  sein  könnte, 
in  eine  derartige  geistige  Verwirrung  gestürzt  zu  werden, 
daß  es  sich  nicht  mehr  im  Besitz  der  Bestandteile  des 
Wahren  findet:  ähnlich  einem,  der  das  Gedächtnis 
für  die  Zahlenfolge  und  die  pythagoreische  Tafel  ver- 
loren hat,  in  einer  Welt,  in  der  man  nun  einmal  ohne 
Addition  und  Multiplikation  nicht  das  Auslangen  findet! 

DIE  EHRFURCHT  VOR  DER  WAHRHEIT 
UND  DER  SINN  FÜR  DAS  ZWECKMÄSSIGE 
(Juni  igi8).  —  Umkehr  tut  not,  darin,  wie  in  vielen 
anderen  Dingen;  vor  allem  kommt  es  den  Männern  der 
Wissenschaft  zu,  furchtlos  die  Wahrheit  zu  suchen  und 
zu  sagen,  denn  es  gibt  nun  einmal  keine  „gefährlichen 
Wahrheiten",  außer  in  dem  allgemeinen  Sinn,  daß  jede 
Bewegung,  jede  Gebärde  des  Lebens  gefährlich  ist,  und 
o?nnia periculis  sunt  plena^  das  heißt  jegliches  ist  mit  jeg- 
lichem verbunden.  Allein,  Wahrheit  ist  Licht  und  Licht 
ist  der  Welt  Leben. 

So  ist  es  notwendig,  daß  die  werktätigen  Menschen 
sich  sorgfältig  hüten  müssen,  ihren  Nächsten,  das  Volk, 
den  Pöbel  (denn  auch  Volk  oder  Pöbel  sind  Menschen 
und  müssen  als  solche  gewertet  werden)  mit  Hirn- 
gespinsten zu  füttern;  namentlich  aber  auch,  ihnen 
nicht  Speisen  einflößen  zu  wollen,  die  ihre  Mägen  noch, 
nicht  verdauen  können,  das  heißt  Wahrheiten,  für  die 
sie  nicht  vorbereitet  sind;  das  will  aber  nicht  etwa  be- 
sagen, daß  man,  auf  der  andern  Seite,  diese  Unerfahrenen 
und  Unreifen  mit  Unwahrheiten  füttern  soll,  sondern, 
im  Gegenteil,  daß  man  sich  darauf  beschränken  müsse, 

236 


ihnen  lediglich  jene  Wahrheiten  beizubringen,  die  sie 
zu  begreifen  imstande  sind,  und  im  übrigen  ihre  Ge- 
fühle und  Triebe  auf  die  soziale  Wohlfahrt  und  auf 
ihre  stufenweise  individuelle  Erhebung  hinzuleiten,  die 
sie  in  einer  mehr  oder  weniger  nahen  Zukunft  dahin- 
bringen wird  —  vielleicht  auch  nicht  dahin  bringen 
wird  — ,  auch  die  übrigen,  jetzt  noch  für  ihren  Verstand 
zu  schwierigen  Wahrheiten  zu  begreifen. 

Eine  schwere  Aufgabe !  —  Sie  ist  dennoch  sehr  leicht, 
vorausgesetzt,  daß  man  ehrlich  und  vernünftig  zu  Werke 
geht.  Was  mich  betrifft,  so  kann  ich  sagen,  daß  ich  bei 
aufmerksamster  Beobachtung  meines  Selbst  in  den 
mannigfaltigsten  Lebenslagen  und  Beziehungen  zu  den 
verschiedensten  Leuten  niemals  in  die  Notwendigkeit 
versetzt  worden  bin,  eine  falsche  Theorie  zurechtzu- 
zimmern oder  etwas  nicht  Vorhandenes  zu  behaupten, 
um  auf  meinen  Nächsten  oder  mit  ihm  zu  wirken: 
höchstens,  daß  ich  zuweilen  in  gewissen,  sehr  heiklen 
und  fast  verzweifelten  (aber  zum  Glück  außerordent- 
lich seltenen)  Fällen  schweigen  oder  gewissen  Selbst- 
täuschungen ihren  Lauf  lassen  mußte.  Wenn  es  mir 
aber  begegnet  ist,  beispielsweise  mit  einem  Mann  aus 
dem  Volke  oder  einem  Bauern  sprechen  zu  müssen,  der 
mich  über  den  Krieg  befragte  und  mir  seinen  Unmut 
über  die  Opfer,  die  er  fordere,  ausdrückte,  so  habe  ich 
ihm  gewiß  weder  die  Lehre  Machiavellis,  noch  die 
Vicos  und  Hegels  auseinandergesetzt,  aber  ich  hatte 
auch  nicht  das  Bedürfnis,  ihm  die  Theorien  des  Neu- 
thomisten  Kardinal  Mercier  oder  der  Großmeister  der 
westlichen  Freimaurerei  beizubringen  und  gegen  ihn 
und  gegen  mich  selbst  zum  Lügner  zu  werden. '  Ich  habe 
ihm  vielmehr  in  einfachen  Worten  gesagt:  Mein  Sohn, 
der  Krieg  ist  gekommen  wie  Dürre  oder  Hagelschlag, 

237 


was  ist  dagegen  zu  machen!  Bescheide  dich,  und  da 
nichts  anderes  übrig  bleibt,  denk  daran,  das  Gewehr  fest 
in  der  Hand  zu  halten,  das  man  dir  gegeben  hat,  um 
das  Vaterland  zu  verteidigen,  das  Vaterland,  das  du,  ich, 
deine  und  meine  Kinder  sind,  denn  wir  alle  leben  auf 
italienischer  Erde.  —  Mit  andern  Worten,  ich  habe  ihn 
nicht  auf  die  Höhen  der  Wissenschaft,  der  Kritik,  der 
begrifflichen  Aufgaben  geführt,  weil  ich  es  nicht  konnte 
und  weil  kein  Anlaß  dazu  war;  aber  ich  habe  ihm  auch 
keine  Lüge  gesagt. 

IDEOLOGISCHE  ÜBERLEBSEL  {Polhica,  Rom, 
Jahrg.  I,  Nr.  2,  Juni  igi8).  —  Nicht  ohne  eine  gewisse 
geistige  Genugtuung  beobachte  ich  an  den  Fossilien  der 
Demokratie  die  Schlußfolgerungen  der  Ideologen  des 
achtzehnten  Jahrhunderts:  wie  unfähig  sie  nämlich  sind, 
sich  neue  Elemente  anzugleichen  und  wie  sie  unaus- 
weichlich das  alte  geistige  System  in  allen  seinen  Teilen 
wiederkäuen  müssen.  Da  aber  dieser  psychologische 
Vorgang  von  erheblicher  Bedeutung  nicht  nur  für  die 
Studien,  sondern  auch  für  die  werktätige  Politik  ist, 
so  möchte  ich  jetzt  zwei  dieser  Wiederholungen  der 
Vergangenheit  näher  beleuchten,  zwei  Gestalten  oder 
Typen,  die  jedermann  in  der  heutigen  politischen  Tages- 
schriftstellerei  bewundern  kann  oder  konnte:  den  Ver- 
antwortlichkeitsjäger und  den  politischenSitten- 
richter. 

Seit  dem  Beginn  des  Krieges,  und  leider  auch  jetzt 
noch,  haben  sich  allzuviele— und  sie  lassen  nicht  davon 
ab  —  auf  die  Feststellung  des  „Verantwortlichen",  des 
„großen  Schuldigen",  des  „Verbrechers",  der  den  Welt- 
krieg entzündet  habe,  geworfen;  er  ist  leicht  in  einem 
Einzelwesen  zu  finden  gewesen,  das,  obwohl  es  ein 

238 


Kaiser  ist,  nichtsdestoweniger  ein  Mensch,  ein  armer 
Mensch  ist,  unfähig,  eine  so  gewaltige  Last  in  Bewegung 
zu  setzen  und  einen  Umsturz  herbeizuführen,  wie  ihn 
nicht  einmal  Zeus,  die  Brauen  runzelnd,  hervorge- 
bracht hätte;  gar  nicht  davon  zu  reden,  daß  dieser 
Mann  vor  dem  Kriege  von  seinen  Volksgenossen  be- 
schuldigt wurde,  wenig  Mut  und  geringe  Geistesstärke 
zu  besitzen,  zu  ängstlich  zu  sein,  um  sich  jemals  zu 
einer  Kriegserklärung  bewegen  zu  lassen.  Aber  wenn 
auch  —  und  dies  haben  die  Vernünftigeren  getan  —  die 
Ermittlung  des  Schuldigen  vom  Einzelwesen  auf  eine 
Gesellschaftsklasse,  besser  noch  auf  ein  ganzes  Volk 
oder  eine  Gruppe  von  Völkern  ausgedehnt  worden  ist, 
so  wurde  dennoch  der  Verantwortliche  nicht  entdeckt 
und  folgerichtig  nachgewiesen;  denn  ein  Volk  ist  nicht 
für  seine  Vergangenheit  verantwortlich,  die  ihm  diese 
oder  jene  Gegenwart  anweist  und  in  dieser  oder  jener 
Art  sein  Handeln  bestimmt  und  gestaltet.  Daher  stammt 
die  Ergebnislosigkeit  dieser  angestrebten  Ermittlung, 
die  sehr  bald  Überdruß  und  Widerwillen  erregt,  wie 
jeder  unfruchtbare  Versuch,  jeder  Schwall  von  Worten, 
der  dem  Geiste  keinerlei  Erleuchtung  bringt*). 

Was  will  nun  die  Ermittlung  des  für  geschicht- 
liche Ereignisse  Verantwortlichen  besagen?  Es  ist 
ein  alter,  wohlbekannter  Irrtum,  der  längst  genau  um- 


^)  Der  Übersetzer  kann  sich  nicht  versagen,  hierzu  die  sehr  treffende  Fuß- 
bemerkung des  italienischen  Herausgebers  G.  Castellano  anzuführen:  „Croce  hat 
diese  Worte  viele  Monate  früher  geschriet)en,  bevor  Zeitungen  und  Minister 
der  Entente  den  Vorschlag  machten,  Kaiser  Wilhelm  als  den  »Schuldigen*  vor 
einen  Gerichtshof  zu  ziehen  und  zu  verurteilen.  Die  französische  Rejjierung  er- 
langte dafür  ein  zustimmendes  Urteil  von  zwei  Professoren  der  Rechtsgelehr- 
samkeit:  diese  haben  offenbar  den  Ehrgeiz,  in  der  Geschichte  einen  noch  höheren 
Platz  einzunehmen,  als  die  berüchtigten  Rechtsjjelehrten  des  Reichstages  von 
Roncaglia,  die  Friedrich  Barbarossa  zum  Schaden  der  italienischen  Kommunen 
befragt  hat." 

239 


schrieben,  hinreichend  zergliedert,  kritisiert  und  aui 
seine  idealen  Ursprünge  zurückgeführt  worden  ist,  für 
jeden,  der  sich  jemals  um  geschichtliche  Studien  be- 
müht hat;  er  ist  im  Verzeichnis  der  falschen  und  zu 
vermeidenden  Methoden  aufgeführt;  er  ist  das,  was 
man.in  der  historischen  Methodenlehre  die  individua- 
listische oder  pragmatische  Auffassung  der  Ge- 
schichte nennt;  diese  hat  gerade  im  achtzehnten  Jahr- 
hundert ihren  Gipfel  erreicht  und  ist  von  der  Geschicht- 
schreibung des  neunzehnten  Jahrhunderts  mit  wach- 
samer Sorgfalt  bekämpft,  widerlegt  und  ausgemerzt 
worden. 

Desgleichen  hat  in  Italien  wie  anderwärts  die  Zahl 
derjenigen  zugenommen,  die  sich  darauf  verlegt  haben, 
über  die  kämpfenden  Staaten  und  Völker  ein  sittliches 
Urteil  zu  fällen,  indem  sie  dem  Rechte  zusprachen, 
der  sie  nicht  zu  erwerben  oder  nicht  zu  verteidigen 
weiß,  sowie  Schranken  und  Pflichten  für  den,  der,  seinem 
eigenen  Urteil  folgend  und  das  eigene  Blut  vergießend, 
mit  Recht  keine  andere  Schranke  und  Pflicht  außer  der 
anerkennt,  die  ihm  sein  Geist  und  seine  Stärke  raten 
und  setzen.  Die  äußerste  Grenze  dieses  Verhaltens  hat 
man  bei  den  russischen  Revolutionären  beobachten 
können,  die,  sobald  sie  in  den  Vordergrund  gelangt 
waren,  einen  obersten  Gerichtshof  gebildet  haben,  der 
alle  Völker,  im  Namen  der  Moral,  zur  Verantwortung 
über  ihre  Kriegsziele  ur^d  zu  deren  Prüfung  vorlud, 
Schafe  und  Böcke  sonderte;  so  haben  sie  auch,  ebenso 
sittenrichterlich  vorgehend,  die  gegenseitigen,  auf  Treu 
und  Glauben  geschlossenen  diplomatischen  Verträge 
veröffentlicht  (Verträge,  die  ihrem  würdevollen  und 
reinen   Bewußtsein   als  schändliche   Geheimnisse  er- 

240 


schienen);  endlich  haben  sie  das  nämliche  Verhalten 
einer  höchst  empfindlichen  und  genauen  Ehrlichkeit 
auch  gegen  die  feindlichen  Generale  und  Unterhändler 
befolgt  und  dabei,  außer  der  Ehre,  auch  die  sogenannten 
„materiellen"  Interessen  ihres  Vaterlandes  vernichtet, 
indem  sie  dieses  der  Fremdherrschaft  auslieferten.  Es 
ist  sicherlich  zugleich  widerwärtig  und  lächerlich,  wie 
ein  paar  sogenannte  „Intellektuelle",  den  in  den  KafFee- 
und  Bierhäusern  von  Zürich,  London  und  Paris  —  in 
denen  zur  Friedenszeit  die  Ausgewanderten  und  Dema- 
gogen sich  versammelten  und  ihr  Wesen  trieben  —  an- 
geeigneten Formelkram  wiederkäuend,  sich  nun  als 
Sittenrichter  aufspielen  (sie,  die  dieses  Amt  vielleicht 
nicht  einmal  dem  Einzelmenschen  gegenüber  auszu- 
üben berufen  sind),  als  Richter  über  ganze  Völker  und 
Staaten:  etwas,  das  in  dieser  großartigen  Form  nur  in 
Rußland  möglich  ist,  wo  es  durch  die  Mißwirtschaft 
und  die  ungenügende  Entwicklung  der  herrschenden 
Klassen  vorbereitet  wurde;  wobei  aber  nicht  zu  ver- 
gessen ist,  daß  dies  theoretisch  nichts  anderes  als  die 
äußerste  Folge  des  Verhaltens  politischer  Moralisten 
darstellt,  das  sich  allenthalben  in  unsern  reiferen  und 
klügeren  Ländern  spreizt.  Der  wissenschaftliche  Irrtum 
dieses  Verhaltens  stammt,  wie  jetzt  schon  längst  klar 
sein  sollte,  aus  dem  Vorwand,  die  Politik  als  Moral  zu 
behandeln,  während  die  Politik  --  das  ist  die  einfache 
Wahrheit  —  eben  nur  Politik  und  nichts  anderes  als 
diese  ist.  Will  man  mir  noch  einmal  erlauben,  die  Formel 
und  den  Vergleich,  die  ich  liebe,  vorzubringen,  so  wieder- 
hole ich,  deren  Sittlichkeit  beruht  allein  und  ausschließ- 
lich darauf,  gute  Politik  zu  sein,  gerade  so  wie  die  Sittlich- 
keit der  Dichtung  (was  auch  die  Unzuständigen  darüber 
sagen  mögen)  einzig  darauf  beruht,  gute  Dichtung  zu 

i6    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  2,A.l 


sein.  Auch  jener  Irrtum  entstammt  ja  dem  achtzehnten 
Jahrhundert,  der  Aufklärung,  die  in  ihrem  Gegensatz 
zum  Mittelaher  und  der  Kirche  eine  Art  ratipnaUstischer 
Nachahmung  von  Mittelalter  und  Kirche  hervorbrachte ; 
da  die  letztere  die  Politik  als  Moral  auffaßte,  so  behielt 
man  diese  Auffassung  bei,  nur  daß  der  Moral  ein  an- 
derer, der  neuen  Zeit  angepaßter  Inhalt  gegeben  und 
die  Auffassung  verweltlicht  wurde.  Die  Jakobiner  er- 
klärten dem  Königtum  in  der  nämlichen  Weise,  mit 
dem  nämlichen  Ton  und  den  nämlichen  Worten  den 
Krieg,  wie  einst  die  Kirche  in  den  Kreuzzügen  den  Un- 
gläubigen. 

Wenn  nun  auch  diese  zwei  typischen  Vertreter  irriger 
Gedankenformen  bei  den  Völkern  des  westlichen  Europa, 
dank  dem  Widerstand,  den  sie  hier  in  der  Überliefe- 
rung, Erfahrung  und  Verfeinerung  der  Geister  finden, 
nicht  den  Schaden  verursachen,  den  ihre  Genossen  (oder 
sagen  wir  besser  ihre  naiven  Schüler)  anderwärts  ver- 
ursacht haben,  so  schwächen  sie  nichtsdestoweniger,  oder 
versuchen  es  zu  tun,  das  Bewußtsein  von  den  Gefahren, 
denen  zu  begegnen,  von  den  Anstrengungen,  die  zu 
machen,  von  den  Anstalten,  die  zu  treffen  sind.  Denn 
wäre  der  Krieg  ein  Verbrechen  und  gäbe  es  demgemäß 
einen  dieses  Verbrechens  Schuldigen,  nun,  so  ist  es  klar, 
daß  dieser  wie  jeder  andere  Übeltäter  früher  oder  später 
der  Polizei  in  die  Hände  fallen  oder  sich  der  gebühren- 
den Strafe  allein  durch  die  Flucht  und  das  Versteck 
entziehen  und  in  der  einen  oder  anderen  Art  die  Ge- 
meinschaft der  anständigen  Leute  von  seiner  Gegen- 
wart befreien  müßte.  Ebenso  ist  es  klar,  daß,  gäbe  es 
Völker  mit  „unsittlichen  Zielen",  die  sich  gegen  Völker 
mit  „sittlichen  Zielen"  erhöben,  es  nicht  notwendig 

242 


wäre,  sich  darüber  allzuviel  Gedanken  und  Besorgnisse 
zu  machen.  „Die  Pforten  der  Hölle  werden  nicht  trium- 
phieren ..."  Deshalb  muß  jeder  gute  Staatsbürger  sich 
mit  aller  Kraft  den  Schnüfflern  nach  geschichtlichen 
Verantwortlichkeiten  und  den  Sittenrichtern  der  Politik 
entgegenstemmen,  als  den  unbewußten  Verrätern  an 
dem  Volk,  dem  sie  angehören. 

Allein,  Leuten  dieses  Schlages  gegenüber  empfinde 
ich  gewöhnlich  etwas  mehr  und  anderes  als  das  einfache 
Gefühl  von  Mißbilligung,  Mißtrauen  und  Vorsicht,  das 
man  gegen  jemanden  empfindet,  der  einen  Irrtum  hegt 
und  die  Gefahr  bietet,  daß  er  ihn  in  die  Herzen  anderer 
säe.  Ich  werde  vielmehr  von  einem  Gefühl  des  Wider- 
willens und  Absehens  ergriffen,  wie  einer  Person  gegen- 
über, die  mit  einer  ekelhaften  Krankheit  behaftet  ist. 
Denn  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  (die  Naiven  aus- 
genommen, die  auch  hier  nicht  fehlen)  sind  jene  Ver- 
antwortlichkeitsjäger nichts  weiter  als  solche,  die  die 
Verantwortlichkeit  fliehen,  jene  so  überaus  sittlichen 
Politiker  nichts  als  Leute,  die  vor  der  aufrechten  Moral 
ihr  Ohr  verschließen.  Die  ersten  ersparen  es  sich,  über 
der  Ermittlung  einer  eingebildeten  Verantwortlichkeit 
die  eigene,  persönliche  zu  suchen,  die  der  Redliche  vor 
jeder  andern  sucht;  so  umnebeln  sie  sich  selbst  und 
andere.  Wenn  sie  zum  Beispiel  die  Kategorien  des  Straf- 
rechtes auf  die  hohenzoUerische  Majestät  anwenden, 
so  schütteln  sie  die  Verpflichtung  ab,  Urteil  und  Strafe 
auf  sich  selbst  anzuwenden,  sie,  die  seit  Jahren  gegen 
die  Heeresauslagen  Widerspruch  erhoben,  gegen  sie  ge- 
stimmt und  dazu  beigetragen  haben,  ihr  Vaterland  zu 
entwaffnen.  Jene  Sittenrichter  aber  befreien  sich,  indem 
sie  die  heilige  Sittlichkeit  auf  die  politische  Geschichte 
der  Staaten  in  den  verschiedenen  Weltteilen  anwenden, 


i6« 


243 


damit  von  der  lästigen  Sorge,  alle  jene  kleinen  Pflichten 
gegen  die  Wahrheit,  das  eigene  Vaterland,  den  eigenen 
Beruf  und  das  eigene  Handwerk  zu  erfüllen,  die  die 
einzigen  wirklich  vorhan  den  enPflichtenausmachen, 
als  die  einzigen,  die  auf  wirklichen,  nicht  eingebildeten 
Grundlagen  ruhen.  Höre  und  lese  ich  das  von  prahle- 
rischen Gebärden  begleitete  Geschwätz  dieser  Verant- 
wortlichkeitsjäger und  politischen  Sittenrichter,  so 
fühle  ich,  wie  sich  die  Vorschriften  der  Anstandslehre 
in  mir  lockern;  ich  raune  mir  dann  die  Worte  zu,  die 
der  heilige  Franz  von  Assisi  dem  Bruder  Leo  riet,  dem 
Teufel  ins  Gesicht  zu  schleudern,  der  ihm  als  Ver- 
sucher unter  der  Gestalt  der  Gekreuzigten  zu  erscheinen 
pflegte:  „Öffne  den  Mund  usw.",  und  ich  wiederhole 
die  Verse  unseres  Carducci:  „O  Idealismus  der  Mensch- 
heit, versinke ..."  (Carducci  sagt,  wohin,  und  weist  jenen 
Leuten  den  ihnen  gebührenden  Platz  an.) 

GESCHICHTLICHKEIT  UND  BEHAR- 
RUNGSVERMÖGEN DER  FREIMAURER- 
IDEOLOGIE (Politica,  Juni  igi8).  —  Sagt  man,  wie 
auch  ich  es  des  öftern  getan  habe,  die  demokratische, 
intellektualistische  Freimaurerideologie  sei  etwas  Über- 
wundenes, ein  Stück  achtzehnten  Jahrhunderts,  so  soll 
damit  nicht  gesagt  werden,  daß  sie  nicht  in  allen  Zeiten, 
mithin  auch  den  unsrigen,  vorkomme.  In  welchem  Sinne 
ist  es  dann  zu  verstehen,  daß  sie  einer  bestimmten  Zeit 
angehöre.?  In  dem,  daß  sie  sich  in  dieser  mit  besondern 
tatsächlichen  Bedürfnissen  und  mit  Handlungen,  die 
auf  deren  Erfüllung  gerichtet  waren,  verbunden  hat, 
und  daß  sie  gleichsam  das  Stichwort  für  jene  Bedürf- 
nisse gewesen  ist;  darum  war  sie  damals  etwas  ernst  zu 
Nehmendes,  das  heißt,  sie  bezeichnete  etwas  Ernsthaftes, 

«44 


später  jedoch  nicht  mehr,  weil  sie  nichts  mehr  besagte, 
leere  Hülse  geworden  war.  Es  sind  bekannte  Dinge, 
daß  Freiheit,  Brüderlichkeit,  Humanität  und  ähnliches 
im  achtzehnten  Jahrhundert  geschichtlich  und  werk- 
tätig als  Befreiung  aus  den  Fesseln  der  Adels-  und 
Kirchengewalt  und  als  Aufruf  an  das  gebildete  Bürger- 
tum ganz  Europas  zur  Mitarbeit  an  diesen  Zielen  aus- 
gelegt worden  ist;  kein  fruchtloser  Aufruf,  wie  sowohl 
die  sogenannte  Reformperiode,  als  die  der  französi- 
schen Revolution  bezeugen,  mit  der  Ausbreitung  und 
den  Gegenwirkungen,  die  sie  in  allen  Ländern  erfahren 
hat.  Das  verhinderte  aber  freilich  nicht,  daß  diese  Ideo- 
logie selbst  damals,  sofern  sie  sich  als  Theorie  und  Wissen- 
schaft gebärdete,  in  Zweifel  gezogen  und  von  kritischen 
und  tiefen  Geistern  des  Truges  beschuldigt  wurde.  Ich 
will  hier  keine  Namen  nennen,  um  diese  Randbemer- 
kungen nicht  in  Darlegungen  elementarer  Geschichts- 
kenntnisse zu  verwandeln. 

Außerhalb  dieses  geschichtlichen  Amtes,  dem  sie 
damals  diente  und  in  dem  sie  ihre  Helden  und  ihre 
Blutzeugen  aufweist  —  Ehre  euch,  ihr  großen  neapoli- 
tanischen Republikaner  und  „Freimaurer",  die  ihr  auf 
den  bourbonischen  Blutgerüsten  des  Jahres  1799  euer 
Leben  aushauchtet  und  das  neue  Italien  schüfet!  — 
ist  die  demokratisch  -  freimauerische  Ideologie  eine 
Geistesform,  die  sich  immerwährend  erneut;  weil  sie 
mit  der  Anfangsform  des  Nachdenkens  über  soziale 
Dinge  zusammenfällt,  mit  deren  abstrakter  Betrach- 
tung, mit  der  zunächst  gezogenen  abstrakten  Folge- 
rung über  die  Art,  wie  jene  zu  lenken  und  zu  voll- 
kommener Ordnung  zu  erheben  seien.  Sobald  man 
einmal  das  stumpfe  Sichgehenlassen  und  die  Ergebung 
in  den  wie  ein  unausweichliches  Geschick  hingenom- 

245 


menen  Weltlauf  überwunden  hat  und  versucht,  ihn 
zu  verstehen,  zu  beurteilen  und  ihm  Richtung  zu 
geben,  erscheinen  Welt  und  Gesellschaft  wie  ein  Inbe- 
griff der  Unregelmäßigkeit  und  des  Widerspruchs,  her- 
vorgebracht und  aufrechterhalten  durch  die  Schlech- 
tigkeit einzelner  und  die  Blindheit  aller  übrigen,  ver- 
besserungsfähig dadurch,  daß  man  den  Betrogenen 
einfach  die  Augen  öffnet,  ihnen  das  Richtige  weist, 
die  Übelgesinnten  und  am  Gewinn  Beteiligten,  die  der 
Verwirklichung  des  Guten  Widerstrebenden  beseitigt 
oder  zur  Ohnmacht  verurteilt.  Es  ist  das  die  Jugendzeit 
des  Aufrührerwesens,  des  Republikanertums,  des  Hu- 
manitarismus,  des  Krieges  gegen  den  Krieg,  des  Fanatis- 
mus für  die  Entdeckungen  der  Naturwissenschaften  und 
für  die  Macht  der  Vernunft  des  freien  Denkens,  der 
Auf  klärung  oder  Erleuchtung.  Es  erscheint  dann  aber- 
witzig und  verabscheuenswert,  daß  die  Menschen  ein- 
ander zerfleischen,  während  sie  in  heiligem,  geruhigem 
Frieden  leben  und  einander  brüderlich  beistehen  könn- 
ten; daß  die  Gesellschaften  von  erblichen  Fürsten 
regiert  werden  und  in  Klassen,  aufgebaut  sind,  gebildet 
und  geschieden  durch  Reichtum,  Überlieferungen, 
Sitten  und  ähnliche  Zufälle;  daß  so  viele  Menschen 
sich  in  die  Kirchen  drängen,  vor  alten  Götzen  beugen 
und  Formeln,  die  sie  nicht  verstehen  oder  nicht  ver- 
stehen können,  herableiern  —  und  so  weiter,  denn  das 
Verzeichnis  all  dieser  jugendlichen  Kritiken  gegen  das 
Bestehende  ist  überaus  weitläufig  und  ebenso  lang  als 
das  der  an  sie  geknüpften  Träume,  die  sich  bis  zur 
Abschaffung  der  Gefängnisse  und  Zuchthäuser  und  zur 
Erlösung  der  törichten  Jungfrauen  versteigen.  Jeder- 
mann durchmißt  diese  Staffel  leichtwiegender  Kritik  und 
noch  leichtwiegenderer  Träume,  und  muß  es  tun,  denn 

246 


es  ist  ein  Gesetz  des  menschlichen  Geistes,  dafB  man 
einen  Irrtum  nur  dadurch  überwinden  kann,  daß  man 
ihn  an  sich  erfährt,  erlebt  und  wenigstens  als  vorläufige 
Annahme  sich  zu  eigen  macht.  Alle  beschreiten  sie, 
allein  die  Ernsthaften,  Verständigen,  Gewissenhaften, 
die  auf  Selbstkritik  Bedachten  bleiben  nicht  auf  ihr 
stehen,  und  gelangen  ein  wenig  früher  oder  später  auf 
die  neue  Stufe  der  Reife,  auf  der  man  weder  in  stump- 
fer Ergebung  in  den  Weltlauf  noch  in  abstrakter  Em- 
pörung und  Widerspruchslust  mehr  verharrt,  sondern 
zum  Verständnis  des  Weltlaufs  in  seinem  lebendigen 
Gefüge,  zu  der  harmonisierenden  Auslegung  einer  an- 
scheinenden Unregelmäßigkeit  fortschreitet,  und  in 
diesem  Ausgleich  die  Einreihung  des  eigenen  indi- 
viduellen Handelns  in  Mitarbeit,  Zurechtweisung  und 
Umänderung  findet,  die  die  organische  Entwicklung 
unterstützt,  nicht  aber  sie  zu  vernichten  sucht,  indem 
sie  an  ihre  Stelle  einen  fein  ausgeklügelten  Mechanis- 
mus setzt. 

Andere  aber  (und  es  ist  die  Mehrzahl)  kommen  aus 
allzugeringer  Kraft  des  Geistes,  aus  ungenügender  Bil- 
dung, endlich  dadurch,  daß  sie  von  andern  Geschäften 
besonderer  Art  abgezogen  werden  und  in  ihnen  auf- 
gehen —  es  sind  das  verschiedene  Ursachen,  die  sich 
im  Grunde  immer  auf  eine  und  dieselbe  zurückführen 
lassen  —  über  diese  Anfangsstufe  nicht  hinaus  und  voll- 
führen nicht  den  Übergang  zur  Selbstkritik  und  zu 
tieferem  Verständnis.  Diese  sind  die  Vertreter  der  ! 
demokratisch-freimauerischen  Ideologie,  der  wir  allent-  \ 
halben  begegnen,  handelnd  aus  eigenem  Trieb,  viel- 
leicht nicht  einmal  dem  Freimaurertum  zugehörig,  ja 
selbst  Katholiken.  Es  sind  mithin  keine  unwissenden 
oder  naiven  Menschen,  sondern  solche  von   mittel- 

247 


mäßiger  Bildung,  noch  nicht  wissenschaftlich  durch- 
gebildet «nd  behutsam :  Volksschullehrer,  Diplomierte 
technischer  Schulen,  gelernte  Apotheker,  desgleichen 
auch  Fachleute  aller  Art,  wenn  auch  in  ihrer  Weise 
hervorragend,  Ärzte,  Rechtsanwälte,  Ingenieure,  Offi- 
ziere, die  wohl  ihr  Sonderfach  von  Grund  auf  kennen, 
aber  ihr  Menschentum,  das  philosophische  und  ge- 
schichtliche Bewußtsein  nicht  genügend  entwickelt 
und  nach  dieser  Seite  hin  sich  an  den  beim  ersten  An- 
lauf errungenen  Ergebnissen,  den  ersten,  notwendiger- 
weise abstrakten  und  vereinfachenden  Kenntnissen 
haben  genügen  lassen;  verfügten  alle  diese  nicht  über 
die  demokratisch-freimaurerische  Ideologie,  so  hätten  sie 
in  ihrem  Gehirn  nichts  und  aber  nichts,  um  über  die 
menschlichen  Dinge  zu  urteilen  und  sich  irgendwie 
in  ihnen  zurechtzufinden  —  und  niemand  vermag  im 
Nichts  zu  leben.  Allein  die  Mittelmäßigkeit  der  Bil- 
dung ist  in  diesem  Falle  eine  Bedingung,  der  man  nicht 
entgeht : 

et  la  garde  qui  veille  aux  barriires  du  Louvre 
rCen  d/fend pas  les  roh! 

Selbst  wenn  Könige  sich  entschließen,  aus  jener 
großartigen,  heroischen  Unwissenheit  herauszugehen, 
die  bei  vielen  von  ihnen,  bei  den  größten,  von  einer 
tiefen  triebmäßigen  Weisheit  des  Regierens  und  Be- 
fehlens  begleitet  wird,  selbst  sie  treten  dann  auf  die 
intellektualistische  oder  demokratisch-freimaurerische 
Stufe  hinüber,  und  werden  dann,  ist  diese  einmal 
erreicht,  auf  ihr  festgehalten,  da  sie  diese,  ihrer  Stel- 
lung wegen,  die  dergleichen  nicht  erlaubt,  durch  Nach- 
denken und  die  tägliche  wissenschaftliche  Zucht  nicht 
zu  überwinden  vermögen.  Daher  die  Erfahrung,  daß 
gebildete  Herrscher  mit  der  Demokratie  liebäugeln, 

248 


wenn  nicht  anders,  so  mit  Worten  und  in  abstrakten 
Ideen :  Sie  sind  Rationalisten,  Materialisten,  Positivisten, 
Anhänger  der  Naturwissenschaften,  Reformer  usw., und 
—  sieht  man  von  ihrem  -geheiligten  Charakter  ab  —  ihre 
Art  aufzufassen  und  zu  denken,  enthüllt  sich  als  ein 
wenig  über  oder  unter  jener  der  früher  beschriebenen 
Menschengruppe  stehend  —  ich  denke  an  die  Könige 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  und  beschränke  mich 
darauf,  zu  erinnern,  daß  der  Größte  unter  ihnen,  der 
Sohn  des  ungeschlachten  und  unwissenden  Friedrich 
Wilhelm,  der  große  Friedrich,  sobald  er  sich  Bildung 
und  eine  Ideologie  zu  eigen  gemacht  hatte,  der  voll- 
endetste Typus  des  aufgeklärten  Schriftstellers  wurde, 
in  der  Theorie  Machiavelli  bekämpfte,  und  in  der  Lite- 
ratur die  mittelalterliche  Epik  wie  Goethes  neue  Dich- 
tung mißachtete,  im  praktischen  Leben  aber  nichts- 
destoweniger fortfuhr  als  König  zu  empfinden  und  zu 
handeln.  „Ce  sont-lä  jeux  de prince^'-  —  sagte  die  Fabel 
Florians  von  ihm:  —  „0;z  respecte  un  moultn,  on  vole  une 
province"-. 

Nun  bedenke  man,  welche  tiefe  und  schwerwiegende 
Gründe  also  dafür  sprechen,  daß  man  sich  der  Frei- 
maurerei und  der  von  ihr  ausgehenden  Werbearbeit 
entgegenstellt.  Diese  Einrichtung  ist  an  sich,  in  ihrem 
lehrhaften  Inhalt,  nichts  weniger  als  originell;  im 
ersten  Viertel  des  achtzehnten  Jahrhunderts  entstanden, 
konnte  sie  damals  nichts  anderes  tun  als  die  Zeit- 
philosophie annehmen  und  verbreiten;  noch  we- 
niger vermag  sie  heute  auf  einen  selbständigen  Inhalt 
Anspruch  zu  machen,  jetzt,  wo  sie  alten  Plunder, 
abgedroschene  und  seichte  Formeln  auskramt.  Original 
ist  sie  indessen  darin,  daß  sie,  statt  die  unreifen  Gemüter 
zur  Reife  und  die  mittelmäßige  Bildung  auf  eine  höhere 

249 


Stufe  zu  bringen,  es  als  ihr  Ziel  ansieht,  die  Mittelmäßigen 
in  ihrer  Mittelmäßigkeit  und  die  abstrakten  Geister  in 
ihrer  Abgezogenheit  zu  bestärken.  Darum  strömen 
der  Freimaurerei  mit  Vorliebe  jene  Menschenklassen 
zu,  die  ich  früher  als  zur  abstrakten  politischen  Ideo- 
logie angelegt  bezeichnet  habe ;  und  da  die  Juden,  durch 
den  jahrhundertlangen  Druck,  der  auf  ihnen  lastete, 
durch  die  Befreiung,  die  ihnen  die  französische  Revo- 
lution brachte,  auch  durch  ihren  angeborenen  Messias- 
glauben, meist  Intellektualisten  sind  und  des  geschicht- 
lichen Sinnes  entbehren,  so  wimmelt  die  Freimaurerei 
von  Juden.  (Nebenbei  bemerkt,  fällt  es  mir  gar  nicht 
ein,  das  törichte  Gev^erbe  des  Judenfeindes  zu  betreiben, 
obvvrohl  ich  das  tatsächliche  Bestehen  einer  „Juden- 
frage" zugebe;  ich  meine  jedoch,  daß  diese  Frage  vor 
allem  die  Juden  selbst  angeht,  die  danach  zu  trachten 
haben,  deren  Lösung  zu  finden,  indem  sie  sich  auf  die 
gleiche  Stufe  mit  der  höchsten  Kultur  und  den  höch- 
sten Gedanken,  die  von  der  klassisch-christlichen  Ge- 
sittung erreicht  v^urde,  zu  stellen  suchen  müssen,  gerade 
so  w^ie  sie,  die  antihistorisch  Gesinnten,  sie,  die  Jahr- 
hunderte außerhalb  unserer  Geschichte  gelebt  haben, 
geschichtlichen  Sinn  erwerben  müssen.)  Mit  anderen 
Worten,  das  Freimaurerwesen  ist  ein  Mittel  der  Ver- 
teidigung, Festigung,  Ausbreitung  für  jene  untergeord- 
nete Sinnesart,  die  ich  vorhin  gekennzeichnet  habe; 
und  als  solches  ist  dieser  angebliche  Feind  der  Dunkel- 
männerei der  schlimmste  aller  Dunkelmänner. 

Freilich  sagte  mir  ein  werter,  der  Freimaurerei 
ergebener  Freund,  als  er  eines  Tages  diese  meine  durch- 
aus nicht  verblüffenden,  aber  trotzdem  wissenschaft- 
lich begründeten  Darlegungen  hörte,  und  fühlte,  daß 
er  sich  ihrer  zwingenden  Kraft  beugen  müßte,  ich  irrte 

ZSO 


mich,  wenn  ich  glaubte,  die  Freimaurerei  verschließe 
sich  hartnäckig  gegen  jeden  Wahrheitsbeweis,  der  ihre 
alten  Gedankengänge  umgestaltete;  sie,  die  den  Fort- 
schritt der  Vernunft  bejahe,  könne  sich  vielmehr  sehr 
wohl  umformen  und  die  festen  sittlichen,  geschicht- 
lichen, politischen,  philosophischen  Begriffe  sich  zu 
eigen  machen,  in  der  Art  wie  sie  die  Kritik  festgelegt 
habe,  namentlich  wenn  Männer,  die  dächten  wie  ich, 
sich  entschlössen,  dem  Freimaurertum  beizutreten.  Ich 
erwiderte  meinem  arglosen  Freimaurerfreunde  (viel- 
leicht gerade  deshalb  Freimaurer,  weil  so  arglos),  daß 
dieser  sein  Traum  nur  ein  Gegenstück  zu  dem  schiene, 
den  einst  Antonio  Labriola  verspottete :  der  Papst,  ent- 
sprechend aufgeklärt,  könnte  sich  wohl  eines  schönen 
Tages  entschließen,  das  Haupt  der  Freidenker- Vereini- 
gung zu  werden.  Würde  der  Papst  aber  zu  einer  sol- 
chen Vollendung  gelangen,  so  müßte  er  innerlich,  in 
diesem  Augenblick  selbst,  seine  Auflösung  als  Papst 
empfinden;  und  würde  die  Freimaurerei  über  das  Bil- 
dungsmaß der  Völksschule  hinaus  gedeihen  und  die 
Frucht  vom  Baume  der  Erkenntnis  des  Guten  und 
Bösen  brechen,  so  müßte  sie  sich  ebenfalls,  als  Frei- 
maurerei, auflösen,  denn  was  bliebe  ihr  weiter  in 
der  Welt  zu  tun  übrig,  wenn  sie  nicht  darauf  sehen 
müßte,  jenes  Bildungsmaß  zu  verteidigen,  und  zu  ver- 
suchen, alle  auf  dieses  herabzuziehen,  die  merken  las- 
sen, daß  sie  sich  darüber  erheben  wollen.? 

NATIONALE  VERBESSERUNGSPLÄNE. 
GEGEN  DIE  SOGENANNTEN  ALLGEMEI- 
NEN REFORMEN  (Juli  1918).  -  Es  ist  zurück- 
haltend, wenn  ich  bekenne,  nur  geringes  Vertrauen  in 
die  Pläne  zu  setzen,  die  die  „allgemeine  Reform"  einer 

251 


Gesellschaft  oder  eines  Volkes  herbeiführen  sollen  — 
um  mich  gleich  mit  einem  Beispiel  verständlich  zu 
machen,  von  der  Art  der  Reforme  intellectuelle  et  morale 
de  la  France^  die  Renan  nach  dem  Kriege  1 870—71  ver- 
öffentlichte: ich  verhalte  mich  nicht  allein  vollstän- 
dig ungläubig  gegen  sie,  sondern  ich  halte  sie  auch  für 
schädlich.  Ihre  Hohlheit  wird  dadurch  bev^iesen,  daß 
ein  Volk,  ließe  es  sich  jenen  abstrakten  Neuerern  gemäß 
ummodeln,  nichts  Lebendiges,  sondern  nur  mehr  gehalt- 
loser Stoff  w^äre ;  der  Schaden,  den  sie  mit  sich  bringt, 
liegt  darin,  daß  sie  die  Geister  in  Abstraktionen  und  leere 
Träume  verlockt  und  derart  die  Faulheit  großzieht, 
die  eben  nichts  anderes  erstrebt  als  das  Nichts- 
tun. Eine  gute  Regel  w^ill,  daß  man  ein  Volk  für  das 
nimmt,  w^as  es  ist,  als  etwas  Wirkliches  und  als  solches 
auch  Vernünftiges,  als  ein  Lebewesen,  das  sein  eigenes 
Gesetz  und  Gleichmaß  hat;  demnach  wende  man  seinen 
Geist  nicht  auf  eine  phantastische  „allgemeine  Reform", 
die  mit  einem  Schlag  weiß  Gott  welchen  Zustand  von 
Glückseligkeit  und  Größe  herbeiführen  soll,  sondern 
auf  die  mannigfachen  besondern  „Reformen",  als  welche 
letzten  Endes  die  einzelnen  Lebensäußerungen  sind,  wie 
sie  jedes  Einzelwesen  betätigen  muß,  und  die  alle  zu- 
sammen ein  Volk  „reformieren",  das  heißt  bewirken, 
daß  es  handelt  und  im  Handeln  sich  entwickelt.  Sollten 
in  Italien  allgemeine  Reformpläne,  mit  Anteil  und  Bei- 
fall aufgenommen  und  zum  Gegenstand  erbaulicher 
Erörterungen  gemacht,  auftauchen,  Anweisungen  zur 
nationalen  Rettung,  Panoramen  einer  neuen  glück- 
lichen Gesellschaft  mit  neuen  vernunftgemäßen  Ein- 
richtungen, so  wäre  das  ein  Anzeichen  dafür,  daß 
man  bei  der  Maul  macherei,  bei  der  ungeordneten  und 
zersplitterten    Lebensführung    verharren    will,    ohne 

252 


sich  zu  einem  gesammelten  und  vertieften  Leben  zu 
entschließen. 

POLITIK    UND   DENKEN  IN  ITALIEN.  - 

Nehmen  wir  demnach  Italien  nicht  als  etwas,  das  zu 
schaffen  ist,  sondern  als  etwas,  das  da  ist  und  selbst 
schafft;  und  beginnen  wir  mit  der  Erinnerung  an  einen 
alten,  fast  veralteten  Grundsatz :  daß  Denken  die  Welt 
regiere.  Wir  erwähnen  ihn,  um  ihn  in  Schutz  zu  neh- 
men, nicht  sowohl  gegen  die  sichern  Männer  und  die 
Bank  der  Spötter,  sondern  gegen  jene  Neunmalklugen, 
die  da  behaupten,  die  Welt  werde  nicht  von  den  Weisen, 
den  Denkern  regiert,  sondern  von  den  Tatmenschen, 
den  Politikern,  den  Leidenschafts-  und  Willensmen- 
schen. Sie  hätten  sicherlich  durchaus  recht,  gelänge  es 
ihnen  nur  zu  beweisen,  woher  die  Tat-  und  Willens- 
menschen, wie  die  Politiker  die  Kenntnisse,  die  Unter- 
scheidungsmerkmale, die  Begriffe  nehmen,  die  die  Vor- 
aussetzung ihrer  Regierungshandlungen  bilden ;  woher 
anders  denn  aus  der  Wissenschaft,  der  Weisheit,  der 
Einsicht,  die  in  der  Gesellschaft  ihrer  Zeit  liegt,  ver- 
erbt durch  Überlieferung,  bewahrt  und  vermehrt  durch 
tägliche  Geistesarbeit?  Gewiß,  die  Männer  des  Geistes, 
die  Forscher,  Beschauer,  die  Gelehrten  und  Literaten 
sind  schlechte  Staatslenker;  allein  gerade  deshalb,  weil 
sie  ihre  Gedanken  wegen  der  Besonderung  ihres  Ver- 
haltens und  Berufes  nicht  in  der  besondern  Form,  die 
dem  Tatmenschen  eigen  ist,  besitzen;  und  dies  bestätigt 
gerade,  anstatt  sie  zu  verneinen,  die  Notwendigkeit  des 
Gedankens  für  das  Handeln.  Jegliche  Regierung  hat 
sich  noch  auf  die  Kultur  bald  dieser,  bald  jener  ihrer 
Gesellschaftsklassen  gestützt:  ihrer  Priester,  ihrer  Patri- 
zier, ihrer  Bürger,  ihrer  Bureaukratie. 

25.3 


Und  da  Italien,  insofern  es  da  ist,  sich  nicht  diesem 
allgemeinen  Gesetz  entziehen  kann,  so  gewinnt  auch  in 
ihm  die  herrschende  Klasse  Nahrung  und  Kraft  aus  der 
Einsicht  und  Bildung  des  Landes.  Und  obwohl  man 
von  unsern  politischen  Vertretern  reichlich  viel  Schlech- 
tes zu  sagen  pflegt,  die  Unwissenheit,  die  sie  an  den  Tag 
legen,  beklagt,  die  Oberflächlichkeit  ihrer  BegriflFe,  die 
Lücken  ihrer  Allgemeinbildung,  die  Übereilung  in  ihren 
Urteilen,  so  müßte  man  sich  doch  gerechterweise  fragen, 
ob  man,  wollte  man  die  Gelehrten  und  Studienbeflissenen 
•  Italiens  in  eine  Tagung  versammeln,  nicht  Anlaß  zur 
gleichen  Klage  hätte.  Würde  man  einwenden,  daß  unter 
diesen  letzteren  sich  sehr  viele  in  ihrem  Sonderfach  aus- 
gezeichnete Leute  befänden,  so  wäre  zu  entgegnen,  daß 
auch  unter  den  Mitgliedern  des  Parlaments  und  der 
Regierung  sich  viele  in  besondern  Zweigen  ausgezeich- 
nete Männer  finden,  und  was  im  allgemeinen  bei  ihnen 
zu  wünschen  übrig  läßt,  die  Festigkeit  und  Gediegen- 
heit der  Anschauungen  ist,  die  Gesamtheit  und  das 
Gleichmaß  der  Bildung,  das  nachdenkliche  und  kritische 
Verhalten,  die  Gewissenhaftigkeit  in  Behauptungen  und 
Feststellungen,  die  Verachtung  von  Wortschwall  und 
leeren  Formeln;  diese  Mängel  finden  sich  bei  den  Parla- 
mentariern und  Regierenden,  wie  sie  sich,  vielmehr 
weil  sie  sich  ganz  ebenso  bei  den  Gelehrten  und  For- 
schern unseres  Landes  finden;  die  besten  unter  ihnen 
sind  enge  Fachleute,  nicht  hinreichend  Menschen,  Ge- 
lehrte, nicht  wahrhaft  Gebildete,  mit  geklärten  An- 
schauungen über  eine  Beugungsform  oder  über  die  Phy- 
siologie des  Herzens  und  der  Nieren,  aber  mit  unklaren, 
platten  und  erborgten  Ideen  von  den  Pflichten  des  Bür- 
gers, von  Staat,  Vaterland,  Religion,  Wahrheit;  es  ist 
das  ein  Mangel,  nicht  etwa  vollständiges  Fehlen,  weil 

ÄS4 


ja  Italien  sich  trotzdem  regiert  und  entwickelt,  was  be- 
weist, daß  seine  Kultur,  mag  sie  auch  unvollkommen 
sein,  dennoch  eine  ist,  und  die  Wirksamkeit,  die  sie 
auf  das  vaterländische  Leben  ausübt,  wenn  auch  un- 
vollkommen, trotz  alledem  eine  Wirksamkeit  ist;  von 
dieser  Kultur,  von  dieser  Wirksamkeit  aus  heißt  es  den 
Ausgang  nehmen,  um  die  erste  zu  heben  und  gleich- 
zeitig damit  die  zweite  zu  vertiefen. 

REFORMEN  DES  DENKENS  UND  DER 
KULTUR.  —  Im  Grunde  ist  auch  dies  nicht  etwas, 
womit  jetzt  begonnen  werden  kann,  denn  es  geschah 
und  geschieht  täglich,  wie  es  eben  geht,  und  durch 
jeden,  so  gut  er  es  vermag:  der  Ruf  nach  der  Reform, 
der  in  gewissen  feierlichen  Augenblicken  stärker  ertönt, 
kann  in  Wirklichkeit  nur  eine  Ermahnung,  ein  Antrieb 
sein,  das  Ziel  fester  ins  Auge  zu  fassen,  den  natürlichen 
Anlagen  und  der  erworbenen  Fähigkeit  eines  jeden  ge- 
mäß, ohne  daß  man  damit  verlangen  will,  der  Gelehrte 
solle  sich  über  Nacht  zum  Politiker  wandeln;  wohl 
aber  ist  die  Forderung  aufzustellen,  er  solle  an  sich 
arbeiten,  um  in  politischer  (das  heißt  nutzenbringender, 
staatsbürgerlicher)  Hinsicht  immer  mehr  Gelehrter  zu 
werden.  Es  ist  allbekannt,  daß  jenes  Studiengebiet,  das 
den  politischen  Dingen  zunächst  steht,  das  der  geschicht- 
lichen Forschung  ist,  verstanden  in  ihrem  weitesten  und 
wahren  Sinn,  das  heißt  als  Inbegriff  der  sogenannten 
moralischen  oder  philosophischen  Fächer,  die  Kenntnis 
von  Vergangenheit  und  Gegenwart  der  menschlichen 
Gesellschaft  umfassend.  Mathematik  und  Naturwissen- 
schaften bleiben,  der  humanistischen  Bildung  gegen- 
über, stets  einfache  Mittel  oder  Werkzeuge,  die  an  sich 
nicht  hinreichen,  jene  Überzeugungen  zu  entwickeln, 

255 


die  dem  werktätigen,  politischen  und  sittlichen  Handeln 
als  unmittelbare  Voraussetzung  dienen.  Blicken  wir  auf 
die  Bedingungen  der  geschichtlichen  Kultur  Italiens, 
so  müssen  wir  trotz  der  Verbesserungen,  die  in  den 
letzten  zwanzig  Jahren  eingesetzt  haben  oder  sich  lang- 
sam und  vorsichtig  vorbereiteten,  einräumen,  daß  die 
mit  historischem  Sinn  Begabten  in  Italien  noch  äußerst 
selten  sind,  und  ebenso  selten  die  Bücher,  die  als  ge- 
eignet angeführt  werden  können,  um  der  Zeit  an- 
gemessene geschichtliche  Kenntnisse  zu  verbreiten;  es 
mangelt  sogar  an  einer  Geschichte  Italiens,  die  mehr 
wäre  als  eine  Wiederholung  veralteter  Gedanken  oder 
eine  ideenlose  Klitterung.  Hier  liegt  mithin  ein  genau 
umschriebenes  Feld,  dem  man  sich  zuwenden  müßte, 
um  jener  oben  angeführten  Ermahnung  Folge  zu  leisten. 
Wir  alle,  seien  wir  nun  viele  oder  wenige,  die  wir  im- 
stande sind,  geschichtlichen  Sinn  und  geschichtliche 
Bildung  in  Italien  zu  vermehren,  müssen  diese  unsere 
Aufgabe  als  eine  hohe  Pflicht  und  eine  schwere  Ver- 
antwortlichkeit betrachten;  wir  müssen  dazu  beitragen, 
Italien  ein  geschichtliches  Schrifttum  zu  geben,  indem 
wir  unser  Denken  immer  mehr  verfeinern  und  die 
Stoffe,  bei  denen  Klärung  am  meisten  not  tut,  mit  ihm 
durchdringen,  ferner,  was  noch  mehr  bedeutet,  die 
Art  und  Weise,  wie  die  Dinge  in  geschichtlicher,  das 
heißt  sachlicher  und  wesenhafter  Form  zu  betrachten 
sind,  kräftigen  und  ausdehnen. 

Zu  diesem  Zweck  wäre  die  Mitarbeit,  wenn  nicht 
geradezu  die  Leitung  von  Seiten  des  Hochschulwesens 
sicher  sehr  förderlich;  allein  —  da  die  Universitätslehrer 
nun  einmal  sind  wie  sie  sind  und  eine  Reform  der  Stu- 
dienpläne  und  -Vorschriften  ihre  Geister  und  Gemüter 
nicht  ändern  würde,  und  eine  gründlichere  und  ernst- 

256 


haftere  Reform  nur  späte  Früchte  zeitigen  könnte,  sich 
anderseits  auch  nur  durch  eine  Bewegung  aus  dem 
Schöße  der  Universitätswelt  selbst  bewirken  ließe,  von 
der  bis  jetzt  keine  Spur  zu  sehen  ist  —  es  handelt  sich, 
was  unsern  Teil  betrifft,  inzwischen  viel  weniger  darum, 
in  erster  Linie  und  unmittelbar  auf  die  Universitäten  zu 
rechnen,  als  sich  an  die  Jugend  zu  wenden,  die  sie  be- 
sucht. Diese  —  wir  reden  von  den  Begabtesten  und 
Willigsten,  den  edelsten  Herzen  —  hängt  bekanntlich 
nur  zum  Teil,  zu  einem  kleinen,  äußerlichen  Teil,  von 
ihren  Lehrern  ab  und  erschließt  sich  im  übrigen  willig 
den  Strömungen  des  zeitgenössischen  Lebens,  empfindet 
sie  überaus  stark  (denn  in  den  Universitätsjahren  liest 
man  sehr  viel),  ist  einer  leidenschaftlichen  Erörterung 
zugeneigt,  leiht  dem  Leben  der  Gegenwart  gespannte 
Aufmerksamkeit  und  späht  in  die  Zukunft  .  .  .  Nun 
wohl:  es  tut.  not,  daß  die  Universitätsjugend,  soweit  es 
an  uns  liegt,  im  Lande  jene  Stimmung  ernster  und 
wirksamer  Bildung,  von  der  oben  bezeichneten  Art,  vor- 
finde, die  es  ihr  ermöglicht,  ihren  Geist  in  organischer 
Weise  zu  bilden  und  sich  zur  künftigen  führenden 
Klasse  unseres  Volkes  auszubilden,  sogar  als  künftige 
Neugestalterin  unserer  Universitäten,  zu  deren  Schülern 
sie  jetzt  gehört.  Man  wird  dies  freilich  nicht  erreichen, 
wenn  man  darin  fortfährt,  ihr  futuristischen  Über- 
schwang, glänzende  Verkehrtheiten,  tägliche  Über- 
raschungen abgebrauchter  Paradoxe,  tägliche  Ver- 
sprechungen von  Wundern  vorzusetzen,  wie  dies  leider 
noch  manche  zu  tun  pflegen,  vielleicht  dessen  nicht 
bewußt,  daß  sie  damit  einen  Verrat  am  Vaterlande  be- 
gehen, indem  sie,  zum  Vorteil  eigener  Bestrebungen 
und  der  eigenen  Eitelkeit,  den  jugendlichen  Trieb  zum 
Neuen  und  die  Unerfahrenheit  der  Jugend  ausnützen. 

17    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  2  C7 


Immerhin  ist  es  notwendig,  das  Schicksal,  wenn 
auch  nicht  gerade  der  akademischen  Einrichtungen,  auf 
welche  die  Außenstehenden  nur  in  geringem  Maße  ein- 
zuwirken vermögen,  so  doch  einer  andern  Gattung  der 
Schule  sicherzustellen,  derjenigen,  die  die  Vorbereitung 
zur  Universität  bildet,  des  klassischen  Gymnasiums,  der 
einzigen  wirklich  humanistischen  und  bildenden  Schule, 
die  die  heutige  Gesittung  besitzt,  und  die  in  Italien  durch 
eine  Reihe  von  Ursachen,  die  bereits  von  anderer  Seite— 
am  besten  durch  Gentile  —  auf  das  klarste  beleuchtet 
worden  sind,  so  schwer  erschüttert  worden  ist,  daß  sie 
Gefahr  läuft,  sich  aufzulösen,  falls  man  nicht  recht- 
zeitig zu  Mitteln  greift,  die  ebenfalls  schon  von  zu- 
ständiger Seite  (und  auch  hier  wieder  am  klarsten  und 
eindruckvollsten  durch  Gentile)  in  zuverlässigster  Weise 
angegeben  worden  sind,  von  denen  jedoch  die  politischen 
Kannegießer  der  Demokratie  nichts  hören  wollen.  Für 
diese  handelt  es  sich  in  der  Tat  nicht  um  die  Schule, 
sondern  um  ihren  Schein ;  nicht  um  die  tiefgehende  Er- 
ziehung des  Geistes,  sondern  um  einen  oberflächlichen, 
verstandesmäßigen  und  antiklerikalen  Rahmen;  nicht 
um  die  Qualität,  die  starke  Quantität  erzeugt,  sondern 
die  tote  Quantität,  die  nichts  hervorbringt  als  Lärm  und 
Unordnung.  Der  Keim  der  echten  klassischen  Schule 
ist  bei  uns  unterdrückt,  aber  nicht  erstickt  worden,  es 
ist  not,  ihn  von  dem  Gewicht,  das  auf  ihm  lastet  und 
seine  wohltätige  Auswirkung  hindert,  zu  befreien. 

DIE  REFORM  DES  DENKENS  ALS  DIE 
WAHRE  „ALLGEMEINE"  REFORM.  -  Es  sind 
das  nur  einige  wenige  Beispiele  von  „Reformen",  wie 
sie  gerade  leicht  erreichbar  zur  Hand  liegen,  und  die 
darum  sehr  viel  mehr  als  die  großartigen  „allgemeinen 

258 


Reformen"  taugen,  die  außerhalb  des  Bereiches  unserer 
Hände  wie  der  aller  andern  liegen.  Wenn  man  genau 
zusieht,  sind  diese  Einzelreformen,  wie  die  sonstigen 
ebenso  beschaffenen,  die  man  von  Fall  zu  Fall  aut- 
stellen könnte,  letzten  Endes  die  wahre  „allgemeine 
Reform"  in  ihrer  qualitativen  Bedeutung,  insofern  sie 
sich  nämlich  auf  ihre  wesentliche  und  Grundbedeutung 
beziehen.  Denn  welcher  Art  auch  die  praktischen 
Entschlüsse  sein  mögen,  die  in  diesem  oder  jenem 
Umkreis  des  gesellschaftlichen  Lebens,  in  diesem  oder 
jenem  Augenblick  gefaßt  werden,  welches  die  poli- 
tischen Formen,  die  die  Gesellschaften  annehmen 
werden,  das  eine  kann  man  für  sicher  halten,  daß  jene 
Formen  die  besten  und  geeignetsten  sein  werden,  die 
von  dem  höchsten  Wissen  und  Gewissen  gezeugt  und 
getragen  sind.  Der  Glaube  an  Monarchie  oder  Repu- 
blik, an  freien  Wettbewerb  oder  an  den  Sozialismus, 
den  Staats-  oder  den  Gewerkschaftssozialismus  und  so 
weiter,  sie  sind  sämtlich  —  was  auch  die  Theologen 
und  Priester  der  verschiedenen  politischen  Parteien 
sagen  mögen — bedingte  und  zufällige  Glaubensbekennt- 
nisse; der  Glaube  an  die  Kraft  der  Vernunft  ist  allein 
unbedingt  und  selbstverständlich.  Ich  sagte  „Vernunft", 
und  meine  Leser  wissen,  welcher  „Vernunft"  ich  da- 
mit meine  Ehrfurcht  bezeugen  will;  nicht  der  dürren 
„Vernunft" ,  deren  sich  die  Freidenker  in  gewissen  Logen, 
den  heutigen  Zufluchtswinkeln  der  Unwissenheit, 
rühmen,  sondern  der  dialektischen,  tätigen  Vernunft; 
nicht  —  ich  bedaure,  wenn  ich  das  Mißfallen  vieler  er- 
wecken muß,  wenn  ich  den  negativen  Ausdruck  der 
französischen,  den  positiven  der  deutschen  Sprache 
entlehne  —  nicht  der  Raison^  sondern  eben  —  der  „Ver- 
nunft^\ 


GEDANKEN  ÜBER  DIE  KUNST  DER 
ZUKUNFT.  ERWARTUNG  SCHLIMMERER 
ZEITEN  FÜR  D!IE  KUNST  {Critica  XFI, 
Juni igi8).  —  Männiglich  fühlt  und  sagt,  daß  wir  harten 
Zeiten  entgegengehen,  die  uns  die  verschiedenartigsten, 
schwersten  Proben  auferlegen  werden.  Was  ist  zu  tun? 
Wollen  wir  uns  unterfangen,  den  Riesen,  der  sich  vor- 
.  wärtsbewegt,  und  die  Welt  heißt,  an  den  Beinen  zu- 
rückzuhalten? Das  wäre  ein  kindisches  Beginnen.  Oder 
wollen  wir  darüber  jammern  und  es  verwünschen,  daß 
er  sich  bewegt,  und  uns  damit  Unbequemlichkeit,  ja 
Schlimmeres  schafft?  Das  wäre  Feigheit.  Die  einzige 
Wirkung,  auf  die  diese  Voraussicht  zielt,  die  Mahnung, 
die  sich  in  ihr  ausdrückt,  kann  nur  die  sein,  daß,  wer 
es  vermag,  von  nun  an  seine  geistigen  und  sittlichen 
Kräfte  stähle,  und  sich  vorbereite,  den  langen,  gefahr- 
vollen Weg  einzuschlagen,  in  allem  auf  sich  selbst  ver- 
trauend, auf  den  Vorrat,  den  er  mit  sich  führt  und  den 
festen  Stab,  den  er  sich  zu  schneiden  gewußt  hat.  Wir 
wünschen,  daß  viele  dieser  Pflicht  zur  Sammlung  ge- 
horchen werden;  zur  religiösen  Sammlung,  denn 
(geht  auch  in  ruhigen  und  gewöhnlichen  Zeiten  das 
Bewußtsein  davon  verloren)  religiös  ist  der  Werdegang 
der  Welt  und  er  muß  mit  Religion  aufgenommen  und 
verfolgt  werden,  so  wie  der  Beitrag  des  eigenen  Tuns 
dazu  mit  religiösem  Sinne  geleistet  werden  muß. 

Allein  ich  wollte  einmal  über  Literatur  sprechen, 
und  ich  wurde  nur  durch  eine  allgemeinere  und  gewich- 
tigere Erwägung  abgelenkt,  aus  einem  Gleichfall  her- 
aus, der  sich  mir  von  selbst  darbot,  daß  wir  nämlich 
auch  in  der  Literatur  schwereren  Zeiten  entgegenzu- 
gehen glauben.  Nicht  sowohl  durch  die  Wirkung  des 
Krieges  —  denn  ist  es  wirklich  der  Krieg  gewesen,  der 

260 


auch  auf  politischem  und  sozialem  Gebiet  die  zu  beob- 
achtenden Übel  und  Schwächen  hervorgebracht  hat, 
oder  haben  diese  nicht  vielmehr  schon  früher  bestanden, 
und  hat  sie  der  Krieg  nicht  aufgedeckt  und  ihre  Offen- 
barung beschleunigt?  —  Nicht  also  durch  die  Wirkung 
des  Krieges,  denn  das  Ziel,  auf  das  Literatur  und  Künste 
in  Italien  wie  in  Europa  überhaupt  (und  in  den  deut- 
schen Ländern  ebensogut  und  vielleicht  mehr  denn 
anderwärts)  lossteuerten,  war  lange  vor  dem  Krieg 
deutlich  gekennzeichnet.  Man  könnte  sich  höchstens 
darüber  wundern,  daß  der  Krieg  hier  keine  Änderung 
herbeigeführt  hat;  aber  in  der  Tat  bleiben  äußerliche 
Tatsachen  —  das  heißt  Tatsachen,  falls  sie  äußerlich 
aufgefaßt  werden  —  wie  der  Krieg,  unwirksam,  weil 
sie  in  dieser  ihrer  Äußerlichkeit  etwas  Abstraktes  haben 
und  ihre  Verinnerlichung  und  ihr  konkretes  Wirken 
schließlich  mit  der  Wirklichkeit  der  Gemüter,  in  denen 
sie  sich  auswirken,  völlig  eins  werden:  ein  dekadenter 
Schriftsteller  (Nachahmer  D'Annunzios,  Pascolis,  Clau- 
dels,  ein  Futurist)  wird  trotz  allem  immer  in  der  Lite- 
ratur ein  Dekadenter  bleiben,  denn  Bombenwerfen, 
in  Flugzeugen  oder  Unterseebooten  fahren,  sich  auf 
den  Feind  stürzen,  das  sind  alles  Dinge,  die  an  sich 
keineswegs  in  einem  bestimmten  und  gewollten  Sinne 
Stil,  Gefühl  und  Einbildungskraft,  allgemein  gespro- 
chen, die  Seele,  verändern.  So  sehe  ich,  gewiß  mit 
Mißvergnügen,  aber  auch  ohne  Verwunderung,  daß 
die  jungen  Leute  in  den  Schützengräben  vor  allem  fu- 
turistisches und  dekadentes  Zeug  lesen  und  daß  sie 
von  dort  wohl  ausgezeichnet  um  ihrer  soldatischen  Tüch- 
tigkeit willen,  gutartig,  ernsthaft  und  bescheiden  zu- 
rückkehren, aber  noch  gänzlich  in  jener  veralteten 
Literatur  befangen,  und  daß  sie  nur  in  jenen  Formen 

261 


zu  sprechen  und  zu  schreiben  verstehen.  Wenn  der 
Krieg  bei  längerer  Fortdauer  der  Phantasie  auch  eine 
andere  Richtung  geben  wird,  so  ist  es  nichtsdesto- 
weniger ausgemacht,  daß  er  sie  für  jetzt  erhält,  wie 
sie  ist  und  sie  hierin  bestärken  wird. 

DER  FUTURISMUS  EINE  DER  KUNST 
FREMDE  SACHE.  -  Was  pflegt  man  denn  unter 
dem  zusammenfassenden  Worte  „Futurismus"  zu  ver- 
stehen? Er  ist  nicht  eine  Form  von  Dichtung  und 
Kunst,  die  erwogen  werden  könnte,  die  durch  ihre 
Neuheit  und  Kühnheit  schwierig  für  das  Verständnis 
wäre  oder  eine  Mischung  von  Schönem  und  Häf3- 
lichem  darstellte,  sondern  schlecht  und  recht  ein  Ding, 
das  weder  Dichtung  noch  Kunst  ist.  Er  wird  so  ge- 
nannt (sagte  mein  verewigter  Freund  Eduard  Dalbono 
in  seinem  letzten  Vortrag,  da  er*  von  der  futuristischen 
Malerei  sprach),  er  wird  so  genannt,  einzig  deshalb, 
weil  ein  anderes  Wort  fehlt,  um  ihn  passend  zu  be- 
zeichnen :  „das  Wörterbuch  ist  ein  Ding  der  Vergangen- 
heit, passatistisch^"- .  Seine  Anhänger  handeln  häufig 
in  gutem  Glauben,  denn  sie  verzeichnen  ihre  Emp- 
findungen, alles,  was  durch  ihre  Augen  und  die  andern 
Sinne  eingeht,  und  geben  sie  zuweilen  mit  vieler  bild- 
hafter Genauigkeit  wieder;  in  der  Meinung,  daß  die 
Poesie  in  dieser  Genauigkeit  liege,  vermeinen  sie  Poesie 
zu  geben.  Wenn  aber  einer  von  ihnen,  beim  Lesen 
wahrer  Dichtung,  sich  von  einem  Schauer  durchrieselt 
fühlen  sollte,  von  jenem  Schauer,  der  wahrhaft  poetisch 
ist,  dann  mag  es  sich  ereignen,  daß  er  wie  benommen 
erwachen  und  bestürzt  ausrufen  wird:  —  fürwahr,  das 
was  ich  bisher  getan  und  bewundert  habe,  war  ja  etwas 
ganz  anderes!  —  Ebenso  glauben  manche,  wenn  sie 

262 


Theater  und  andere  Orte  der  Art  besuchen,  reichUch 
gewitzt  zu  sein,  die  Frauen  und  die  Liebe  zu  kennen; 
wenn  es  aber  einem  davon  begegnen  wird,  daß  er  sich 
einmal  wirklich  verliebt  und  den  Zauber  der  Weib- 
lichkeit wirklich  kennen  lernt,  so  wird  er  wohl  einsehen, 
daß  die  Liebe  ein  anderes  Ding  ist,  als  er  bis  dahin  ge- 
glaubt hätte. 

Darum  gebe  ich  mir  keine  Mühe,  die  futuristischen 
Erzeugnisse,  wie  sie  mir  vor  Augen  kommen,  zu  kriti- 
sieren; mein  Feld  ist  die  Dichtung,  und  jenes  ist  „ein 
ander  Ding",  sogar  ein  höchst  wichtiges,  wenn  auch 
recht  unerfreuliches  Zeugnis  von  der  geistigen  Be- 
schaffenheit unserer  Zeit.  Den  jungen  wackern  Leuten 
aber,  die  mir  diese  ihre  Erzeugnisse  bringen,  und  mich 
trotz  meines  Widerwillens  nötigen,  davon  Kenntnis  zu 
nehmen,  um  ihnen  mein  Urteil  zu  sagen,  pflege  ich 
gewöhnlich  mit  Scherzen,  Fabeln  und  Paradoxen  als 
Gegengabe  aufzuwarten.  Erst  vor  kurzem  brachte  mir 
einer  dieser  jungen  Leute  einen  seiner  Versuche  zum 
Lesen,  durchaus  zerrissen,  verstiegen,  ausgeklügelt  und 
schwatzhaft,  in  dem  er  die  Bewegung  eines  Fächers 
in  den  Händen  einer  Frau  schildern  wollte;  ich  be- 
gnügte mich,  ihm  ein  Verslein  vorzusagen,  das  vor 
Jahrzehnten  einmal  ein  alter  Herr  auf  den  Fächer  eines 
Fräuleins  in  Neapel  geschrieben  hatte.  Dieser  alte  Herr 
hieß  ebenfalls  Dalbono,  Cesare  Dalbono:  er  war  ein 
Schüler  Puotis,  und  liebte  wie  dieser  das  Latein,  Grie- 
chisch und  Französisch,  übersetzte  in  vollendeter  Weise 
Plato  und  Montaigne;  er  wußte  mithin,  wo  die  Kunst 
zu  finden  sei.  Auf  den  Fächer  seiner  jungen  Freundin 
hatte  er  aber  diese  acht  Zeilen  gekritzelt: 

Bella  Martüy  desidero 
che  i  tuoi  pensieri 

263 


Sie7io  sempre  volatilt 
Steno  sempre  leggieri. 
E  se  ti  dan  fasttdio 
e  se  ti  dan  tormento 
sofßali  col  ventaglioy 
che  se  li  porti  il  vento! 

(Schönste  Maria,  ich  wünsche  dir 

Daß  all  deine  Gedanken 

Leicht  und  beschwingt  stets  möchten  sein 

Und  stoßen  nie  an  Schranken. 

Doch  schaffen  sie  dir  Not  und  Pein 

Und  sind  sie  dir  zur  Plage 

So  scheuch'  sie  mit  dem  Fächer  fort, 

Daß  sie  der  Wind  enttrage!) 

Meine  Herren  Futuristen,  nichts  für  ungut,  aber 
hier  lebt  im  Rhythmus  die  ganze  vielgestaltige  Be- 
wegung des  Fächers,  sein  Heben  und  Senken,  sein  Spiel 
regelmäßiger  Wellen  in  der  Ruhe,  und  sein  rasches 
nervöses  Zittern  in  der  Ungeduld;  aber  auch  noch 
etv^as  anderes.  Es  liegt  das  Lächeln,  das  Wohlw^ollen, 
die  Galanterie  eines  Alten  darin,  der  noch  die  Erziehung 
des  achtzehnten  Jahrhunderts  hatte;  ein  Hauch  des  Le- 
bens, und  darum  ist  dieses  Fächersprüchlein  eine  kleine 
Dichtung,  v^as  die  eure  nicht  ist,  wieder  groß  noch 
klein. 

Daß  sie  das  nicht  ist,  läßt  sich  auch  noch  aus  anderen 
untrüglichen  Anzeichen  schließen:  einmal  daraus,  daß 
die  Futuristen  eine  kaum  übersehbare  Schule  ohne 
Haupt  bilden,  eine  Vielheit,  eine  Herde  von  Genies, 
die  nichts  anderes  als  eine  Herde  von  Armen  im  Geiste 
sein  kann,  denn  Genie  ist  das  Gegenteil  von  Herde; 
ferner,  daß  unter  den  vielen  tausenden  von  Seiten,  die 
die  Futuristen  alljährlich  beschmieren  und  die  von 
ihren  Bekennern  überaus  gelobt  und  in  den  Himmel 

264 


erhoben  werden,  auch  nicht  eine  einzige  ist,  die  sich 
durch  eigene  Kraft  dem  Strom,  der  sie  rasch  ver- 
schUngt,  entwunden,  sich  der  Phantasie,  dem  Gedächt- 
nis, dem  Ohr  der  ÖffentUchkeit  eingeprägt  hätte.  Das 
ist  ein  schHmmes  Zeichen!  Denn  echte  Dichtung  ist 
etwas,  das  sich  vor  allem  anderem  am  stärksten  ver- 
breitet, feiner  als  alle  Gase,  und  der  ansteckendste  aller 
Stoffe.  Es  genügte  —  man  erinnert  sich  dessen  noch 
wohl  —  als  ein  junger,  bis  dahin  ganz  unbekannter 
Mensch,  den  die  Kritiker  im  allgemeinen  sehr  übel 
behandelten,  der  arme  Gozzano,  drei  oder  vier  gelungene 
Gedichtchen  verfaßt  hatte,  daß  jene  Verse  von  der 
„Großmutter  Speranza",  vom  „gestrengen  Oheim" 
und  der  „kleinen  Graziella"  auf  aller  Lippen  waren. 
Mithin  wäre  der  Futurismus  in  Italien  eine  Schule 
ohne  Haupt  und  ohne  Hauptwerke,  etwas  Widersinniges, 
das  aber  sehr  gut  bestätigt,  daß  er  Schule  für  alles  mög- 
liche (etwa  Automobilismus  und  Flugwesen),  nur  nicht 
für  die  Kunst  ist. 

NOTWENDIGES  VERHALTEN  IN  KUNST- 
FEINDLICHEN ZEITEN.  -  Gibt  es  ein  Heilmittel 
dagegen?  Mitnichten!  Man  muß  warten,  daß  das 
Übel  vorübergehe:  diese  neue  Seuche,  von  der  Dich- 
tung und  Kunst  befallen  worden  ist.  Die  Geschichte 
weist  uns  Fälle  ähnlicher  Seuchen  nach ;  das  klassische 
Beispiel  darunter  bleibt  in  dieser  Hinsicht  immer  das 
Pretiösentum  oder  der  Secentismus,  der  nach  sechzig 
Fieberjahren  endlich  erlosch,  während  deren  er  immer 
heftigere  Formen  angenommen  hatte.  Allein  das  ist 
nicht  das  einzige  Beispiel;  ein  anderes  bietet  dem,  der 
sie  in  ihren  Einzelheiten  verfolgt,  die  Romantik,  die 
auch  in  Italien  zwischen  1830  und  1860  in  Aberwitz 

265 


und  Lächerlichkeit  verfiel,  besonders  im  Bühnenstück, 
aber  auch  in  der  Lyrik  und  der  Prosa.  Man  denke 
daran,  daß  während  der  vierziger  Jahre  sich  in  Neapel 
ein  gew^isser  Antonio  Valentini  „holdem  Wahnsinn" 
ergab,  als  Verfasser  eines  Versbüchleins:  „Mea  culpa 
und  ander  es'-'-  (Brüssel  1840);  die  Seele  eines  Menschen 
schlug  darin  krampfhaft  um  sich,  der  gezv^ungen  sein 
sollte,  Priester  zu  werden  und  sich  von  der  geliebten 
Frau  zu  trennen;  handgreifliche,  „futuristische"  Bilder 
waren  darin  verkoppelt  wie:  „Mein  Schicksal  steht  vor 
mir,  einem  alten  Leutnant  gleich:  —  Du  wirst  Priester 
oder  ich  durchschneide  dir  die  Gurgel!  .  .  .  oder: 
„Tausend  Würmer  fressen  im  Gehirn  wie  in  einem 
Käse  ..."  Dekadententum  und  Futurismus  sind  die 
letzte  notwendige  Folge  einer  langen  Entwicklung 
und  einer  langvorbereiteten  sittlichen  und  geistigen  Auf- 
lösung; wie  könnte  man  sie  unterdrücken.?  Man  muß 
ihnen  freien  Lauf  lassen,  um  sich  während  ihres  Wütens 
zurückzuziehen,  das  meiner  Ansicht  nach,  wie  gesagt, 
im  gegenwärtigen  Fall  noch  durch  ein  gutes  Stück 
Zeit  hin  anwachsen  wird. 

Sich  zurückziehen :  das  ist  der  Rat,  den  ich  zu  geben 
mir  erlaube,  nachdem  ich  ihn  mir  selbst  gegeben  und 
ausgeführt  habe.  Auch  während  der  secentistischen 
und  romantischen  Krankheit  gab  es  Menschen,  die  sich 
so  verhielten.  Weiters:  in  der  selbstgeschaffenen  Ein- 
samkeit die  großen,  die  wahren  Dichter,  die  Harmo- 
nischen, KlarheitschafFenden,  auch  im  Schmerzvollen 
und  Tragischen  voll  goldener  Schönheit  lächelnden 
Dichter  lesen  und  abermals  lesen!  Wir  werden  viel- 
leicht wenige  sein,  ähnlich  der  Gesellschaft  des  Deca- 
merone,  mitten  in  der  Pest,  die  in  Florenz  und  ganz 
Europa  raste;  aber  an  dies  Leben  mit  sich  selbst  oder 

266 


in  Gesellschaft  weniger  hat  uns  bereits  der  Krieg  ge- 
zwungen und  gewöhnt.  Er  hat  uns  aber  auch  noch 
Besseres  gegeben,  uns  den  Geschmack  und  die  Freude 
daran  gelehrt;  so  daß  es  uns  vielleicht  niemals  mehr 
gelingen  wird,  das  Gesellschaftsleben  von  einstens 
wiederaufzunehmen,  weil  es  uns  im  Vergleich  dazu 
leer  und  stumpf  erscheinen  wird.  Derart  werden  wir 
uns  als  Einzelwesen  in  Sicherheit  bringen,  zugleich 
aber  auch  die  Idee  dessen,  was  Dichtung  und  Kunst 
immer  gewesen  sind  und  sein  werden,  für  eine  bessere 
Zukunft  erhalten. 

DAS  RUSSISCHE  DENKEN  IN  SEINER  BE- 
LEUCHTUNG DURCH  ZWEI  NEUE  BÜCHER 

(Giornale  d'Italia,  4.  September  ig  18).  —  Als  ich  in  einer 
französischen  Zeitung  die  Schilderung  las,  welche  Span- 
nung sich  der  russischen  Revolutionäre  bei  der  Nachricht 
von  der  bevorstehenden  Ankunft  ihres  großen  Denkers; 
des  „Philosophen"  der  Partei,  Lenins,  bemächtigte, 
sowie  den  festlichen  hingebungsvollen  Empfang,  den 
die  Schüler  auf  dem  Bahnhof  von  Petersburg  ihrem 
dem  Zug  entsteigenden  Plato  bereiteten,  der  lächelnd, 
von  seinem  Ruhme  gesättigt  erschien,  da  war  ich  be- 
schämt von  meiner  Unwissenheit  über  diesen  zeit- 
genössischen europäischen  Philosophen,  diesen  be- 
rühmten Berufsgenossen,  und  ich  suchte  mir,  freilich 
vergeblich,  ein  von  ihm  in  Zürich  veröffentlichtes 
Buch  zu  verschaffen,  das  ich  in  einer  schweizerischen 
Zeitschrift  angezeigt  gefunden  hatte.  Indessen  fand 
ich  dann  in  dem  dickleibigen  Werke  von  Masaryk 
über  Rußland  und  Europa  (von  dem  bereits  zwei 
Bände  im  Gesamtumfang  von  etwa  tausend  Seiten  er- 
schienen sind,   gerade  russisches   Denken  betreffend: 

267 


Zur  russischen  Geschichts-  und  'Religionsphilosophie  1913) 
ein  kostbares  Bruchstück  Leninscher  Philosophie,  et- 
was von  der  Klaue,  daran  man  den  Löwen  erkennt: 
Nachricht  von  einer  Abhandlung,  in  der  Lenin  den 
empirischen  Kritizismus  eines  Avenarius  und  Mach 
bekämpft,  wie  er  von  einigen  russischen  Marxisten  nach 
dem  Beispiel  der  deutschen  Sozialisten  angenommen 
wurde,  immer  auf  der  Suche  nach  Philosophie,  um 
den  schon  recht  löcherigen  Mantel  des  Marxismus  zu 
flicken. 

Der  scharfsinnige  Lenin  beurteilt  den  empirischen 
Kritizismus  nicht  allein  als  „eine  verkappte  Erneuerung 
des  „Solipsismus"  (!)  von  Berkeley  (!!)  und  Fichte  (!!!) 
sondern  auch  als  etwas,  das  „dank  dem  Subjektivismus 
den  Glauben  des  gemeinen  Menschenverstandes  an 
eine  objektive,  von  Gesetzen  gelenkte  Welt  zerstört 
und  damit  die  Religion  (!)  fördert,  das  heißt  eine  der 
Stützen  des  Bürgertums  (!)  und  ihrer  Herrschaft;  des- 
halb ist  der  empirische  Kritizismus  eine  reaktionäre 
Philosophie  (!!)"  (II,  331)..—  Aber  das  ist  ja  (dachte  ich 
bei  mir),  außer  einer  Anhäufung  von  Ungereimtheiten, 
nichts  anderes  als  Engels,  allertrivialster  Engels,  noch 
trivialer  gemacht  durch  die  papageienmäßigen  Wieder- 
holungen, die  mechanische  Anwendung,  die  man  seit 
Jahrzehnten  davon  gemacht  hat!  Die  Tageszeitungen 
brachten  mir  dann  noch  andere  Offenbarungen  des 
Leninschen  Denkens,  in  denen  ich  niemals  andere  als 
die  abgebrauchtesten  Begriffe  und  Worte  zu  finden  ver- 
mochte. 

Allein  dies  ist  nicht  ein  besonderes  Merkmal  Lenins, 
sondern  es  kommt  den  sogenannten  Denkern  und  Philo- 
sophen Rußlands  ganz  allgemein  zu,  wie  ich  schon  von 
ungefähr  wußte  und  durch  das  genannte  Werk  Masaryks 

268 


bestätigt  fand.  Obwohl  nun  dieses,  gleich  den  andern 
mir  bekannten  Büchern  des  vielberufenen  tschechischen 
Professors  und  Agitators  (über  den  Marxismus^  ein  zwei- 
tes über  Logik)  nur  eine  Klitterung  ist,  so  ruht  es  doch 
auf  ausgebreiteter  Kenntnis  der  Originalwerke.  Eine 
andere  Bestätigung  der  gleichen  Tatsache  gewinnt  man 
aus  einem  Buche  Miljukows,  das  unlängst  ins  Franzö- 
sische übersetzt  wurde  (Le  mouvement  intellectuel  russe, 
übersetzt  von  Bienstock,  Paris,  Bossard  191 8);  Milju- 
kows, der  ebenfalls  zu  den  führenden  Persönlichkeiten 
des  gegenwärtigen  geschichtlichen  Zeitraums  gehört  hat, 
während  der  ersten  Monate  der  russischen  Revolution 
Minister  des  Äußern  war,  und  sich  nach  den  jetzt  über- 
setzten Proben  als  einen  recht  geordneten  und  klaren 
Geist  zeigt. 

Was  ist  oder  war  denn  der  Slawismus,  das  Slawophilen- 
tum,  von  dem  so  viel  geredet  wurde,  als  von  einer 
Drohung  der  russischen  Seele  gegen  die  Europas,  als  von 
einer  Ankündigung  eines  neuen  Geschichtsabschnittes, 
in  dem  das  heilige  Rußland  seine  besondere  Weltansicht, 
sein  politisch -gesellschaftliches  Ideal,  die  Theokratie, 
Autokratie,  Verachtung  materieller  Wohlfahrt,  Askese, 
Mystizismus  aufstellen  würde.?  War  das  etwa  eine 
selbständige  russische  Bewegung.?  Nicht  im  min- 
desten ;  vielmehr  die  Nachahmung  oder  wörtliche  Über- 
setzung, die  einige  russische  Literaten  der  deutschen 
Geschichtsphilosophie  angedeihen  ließen,  indem  sie 
dem  russischen  Volke  das  Führeramt  der  Zukunft  oder 
nächster  Zukunft  anwiesen.  Was  bedeutete  die  damit  ver- 
bundene Kampfstellung  gegen  Europäer-  oder  Abend- 
ländertum?  Die  natürliche  Abneigung  des  russischen 
Geistes  gegen  die  abendländische  Gesittung.?  Nichts 
weniger  als  das;  vielmehr  einen  Widerhall  der  rück- 

269 


schrittlichen,  restaurationsfreundHcheri ,  kathoHschen, 
romantischen  Polemiken  und  Lehren  in  Frankreich  und 
Deutschland,  von  Bonald,  De  Maistre,  Haller,  Görres, 
Baader,  des  Schelling  der  zweiten  Periode,  alles  Schrift- 
steller, die  in  Rußland  gelesen  wurden.  Auch  die  Revo- 
lutionäre, das  heißt  diejenigen,  die  von  einer  anderen 
Vorherrschaft  Rußlands  träumten,  seiner  Führung  in  der 
gesellschaftlichen  Umwälzung,  haben  nicht  die  Probe 
auf  eine  größere  Unabhängigkeit  bestanden,  da  sie  alle 
von  Hegel,  nach  orthodoxer  Art  verstanden  oder  miß- 
verstanden, ausgingen,  dann  von  der  Hegeischen  Rech- 
ten zur  äußersten  Linken,  zu  Feuerbach  und  dem  dia- 
lektischen Materialismus  abschwenkten,  und  von  da 
noch  weiter  zum  nackten,  rohen  Positivismus  und 
Materialismus.  Dieses  Schema  wiederholt  sich  fast  bei 
allen  von  ihnen,  schon  von  den  ältesten  wie  Belenskij 
und  Herzen  an;  der  erste  übertrug  einfach  auf  den 
Zaren  Nikolaus  die  Sendung,  die  Hegel  dem  König 
von  Preußen  zugewiesen  hatte,  und  konstruierte  ganz 
hegelisch  die  Schlacht  von  Borodin,  während  der  zweite 
sich  so  tief  in  den  deutschen  Idealismus  versenkte  und 
sich  so  trefflich  an  ihm  schulte,  daß  er  damit  endete, 
den  Gedanken  als  eine  „Funktion  des  Gehirns"  zu  be- 
trachten! Bakunin  bringt  Formeln  wie  diese:  „Der 
Staatsgedanke  öder  die  Zentralgewalt  ist  die  These,  die 
Anarchie  oder  die  Gestaltlosigkeit  die  Antithese,  die 
Föderation  die  Synthese"  (II,  1 6) ;  man  kann  nicht  um- 
hin, darin  die  Fülle  des  Inhalts  sowie  die  ganz  absonder- 
liche Wendung  zu  bewundern!  Tschernitschewki,  ein 
Nachfolger  Feuerbachs,  leugnet  in  einer  von  Masaryk 
angeführten  und  seine  philosophische  Beweisführung//? 
nuce  enthaltenden  Stelle  die  Wirklichkeit  des  Geistigen, 
indem  er  sagt,  die  Philosophie  vermöge  im  Menschen 

270 


nichts  anderes  zu  erblicken,  als  es  Medizin,  Physiologie 
und  Chemie  tun,  die  in  ihm  keineswegs  eine  „zweite 
Natur"  finden.  Pisarew  will  nichts  als  die  „Wirklich- 
keit" anerkennen  und  leugnet,  Feuerbach -Stirner  fol- 
gend, „alle  Grundsätze",  den  Begriff  der  Pflicht,  „sämt- 
liche Ideen",  die  „Ideale";  er  verlacht,  die  Realisten 
ausgenommen,  alle  Philosophen  und  nennt  Plato  einen 
„General  der  Philosophie,  in  der  Art  wie  es  Generale 
der  Infanterie  gibt"  (II,  80,  Worte,  deren  Spitze  ich 
übrigens  nicht  verstehe,  weil  ich  nicht  einsehe,  worin 
das  Komische  bei  der  Figur  eines  Generals  der  Infanterie 
liegt).  Er  bescheidet  sich  auch  nicht  dabei,  den  beiden 
früher  erwähnten  Hegelianern  der  äußersten  Linken 
nachzuplappern,  er  hängt  ebenso  an  den  Rockschößen 
Vogts,  Büchners,  Moleschotts,  löst  den  „dialektischen 
Prozeß  der  Geschichte"  in  den  „physiologischen  Pro- 
zeß" auf  (II,  82)  und  fällt  in  seinem  famosen  Versuch 
über  die  Vernichtung  der  Ästhetik  das  erlesene  Urteil: 
„Der  Koch  Dusseaux"  —  ein  sehr  geschätzter  Koch  in 
Petersburg  —  sei  „ebensoviel  wert  wie  Raffael"  (II,  90). 
Als  im  Jahre  1862  das  Programm  des  Jungen  Kußlands 
in  die  Welt  geschleudert  wurde,  bemerkte  sogar  Herzen, 
es  sei  unrussisch,  da  es  ein  ?nixtum  compositum  unver- 
dauten Schillers  (des  Schillers  der  Räuber)  mit  Gracchus 
Baboeuf  und  Feuerbach  darstelle  (II,  105);  auch  vom 
Nihilismus,  der  ein  russischer  Originalgedanke  sein 
sollte,  urteilte  Herzen  später,  daß  er  „nichts  Neues 
hervorgebracht  habe,  und  daß  es  ihm  nicht  einmal  ge- 
lungen sei,  seine  eigenen  Grundsätze  klar  auszudrücken" 
(II,  102).  Peter  Lawrow  fußte  in  seinen  philosophischen 
Arbeiten  auf  Proudhon,  Buckle,  Rüge  und  Bruno  Bauer 
(II,  134).  Michailowski  wiederholt  alle,  namentlich 
Hegel  und  Comte,  und  wärmt  in  einer  neuen  Namen- 

271 


gebung  die  „drei  Perioden"  der  Menschheitsgeschichte 
auf,  die  er  da  nennt:  „das  objektive  Anthropozentrische, 
das  Exzentrische  und  das  subjektive  Anthropozentrische" 
(II,  1 58) ;  er  bekämpft  die  Metaphysik  (die  ausgesprochen 
hellenisch  und  mittelalterlich  ist!)  als  die  „Philosophie 
des  Kapitalismus  und  der  Arbeit  des  Kapitalisten,  die 
vom  erzeugenden  Werkzeug  getrennt  ist!"  (II,  181). 
Und  so  w^eiter  und  w^eiter. 

Überblicke  ich  die  lange  Reihe  der  von  Masaryk  ge- 
botenen Auszüge,  so  muß  ich  bekennen,  daß  ich  in  der 
Tat  nicht  nur  kein  Bedürfnis  empfinde,  die  Werke  dieser 
russischen  Schriftsteller  näher  kennenzulernen,  son- 
dern daß  es  mir  selbst  unnötig  erscheint,  ihre  mitunter 
recht  schw^ierigen  Namen  im  Gedächtnis  zu  behalten, 
die  sich  mir  lediglich  als  Pseudonyme  v^ohlbekannter 
und  uns  allen  vertrauter  europäischer  Schriftsteller  dar- 
stellen. Auf  den  größten  der  russischen  Philosophen, 
der  als  der  erste  v^ahre  Philosoph  dieses  Volkes  gefeiert 
worden  ist,  Solow^iew,  hat  hauptsächlich  der  grob- 
schlächtigste aller  deutschen  Metaphysiker,  Eduard  von 
Hartmann  eingew^irkt,  dessen  System  für  Solov^iew  eine 
Summa  theologica  bedeutete;  von  ihm  hat  er  den  Aus- 
gang genommen  für  seine  slawophile  Utopie,  die  in  eine 
Reihe  schreckhafter  „Apokalypsen"  auszumünden  be- 
stimmt w^ar. 

Demnach  muß  es  in  Verw^underung  versetzen,  wenn 
Masaryk  am  Schluß  seines  Werkes  von  der  „Originalität" 
des  russischen  Denkens  spricht  und  in  dem  Bestreben, 
die  von  ihm  selbst  gebrach  tenTatsachen  abzuschwächen, 
daran  erinnert,  wie  doch  jedes  Volk  aus  der  Kultur  und 
dem  Denken  der  andern  geschöpft  habe.  Das  ist  ebenso 
selbstverständlich,  wie  es  selbstverständlich  wäre,  daran 
zu  erinnern,  daß  jedes  Volk  und  jedes  Einzelwesen, 

272 


durch  die  bloße  Tatsache  seines  Lebens,  immer  eine 
gewisse  Originalität  besitzt.  Selbstverständlich,  aber 
ganz  allgemein,  da  die  einem  Einzelwesen  oder  einem 
Volk  zu-  oder  abgesprochene  Originalität  nicht  diese 
allgemein  menschliche,  sondern  jene  sonderartige  be- 
deutet, die  sich  in  der  Verarbeitung  der  übernommenen 
Ideen  ausspricht,  in  der  Weise,  wie  sie  mit  den  der 
nationalen  Kultur  entspringenden  ausgeglichen  werden, 
ferner  in  den  neuen  Ideen,  die  in  ihr  auftreten.  Auch 
Italien  hat  sich  im  XIX.  Jahrhundert  dem  deutschen 
Gedanken  erschlossen;  aber  Galluppi,  Rosmini,  Gio- 
berti  haben  ihn  weder  einfach  wiederholt,  noch  Hirn- 
gespinste an  ihn  geknüpft;  sie  glichen  ihn  sich  einer- 
seits vielmehr  an,  anderseits  wurde  er  ihnen  der 
Antrieb  zu  neuen  Problemen  und  Gedanken.  Auch 
die  Geschichtsphilosophie  und  Geschichtschreibung 
Deutschlands  drang  auf  weiten  Strecken  in  das  Italien 
jener  Zeit  ein;  hier  stieß  sie  jedoch  auf  die  Überliefe- 
rung von  Muratori  und  Vico  her,  die  sich  selbst  schon 
auf  ähnlichen  Pfaden  bewegt  hatte  und  mit  der  sie 
sich  aneinanderzusetzen  hatte.  Nichts  dergleichen  läßt 
sich  bei  den  russischen  Schriftstellern  verspüren,  nicht 
einmal  das  vorsichtige  und  bescheidene  Verhalten  des 
emsigen  Schülers,  der  dem  Gedanken  des  Meisters 
zu  folgen,  ihn  auszulegen,  sich  zu  eigen  zu  machen 
und  anzuwenden  versucht.  Denn,  wie  man  gesehen 
hat,  nicht  nur  die  russische  Bildung,  sondern  jeder  ein- 
zelne jener  Schriftsteller  ging  Hals  über  Kopf  von 
einem  zum  andern  Gewährsmann  über,  zu  den  aller- 
verschiedensten  und  einander  entgegengesetzten,  so  wie 
sie  ihnen  gerade  beim  Lesen  in  die  Hände  gerieten; 
sie  legten  damit  den  geringen  Ernst  ihres  jeder  Strö- 
mung folgenden  Geistes  offen  dar.  Bei  diesem  Ab- 
is   Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen  ^^Q 


schwenken  von  einem  zum  andern  Autor  des  Aus- 
landes lassen  sie  sich  als  beständig  nur  in  dem  einen 
bezeichnen,  daß  sie  die  kritische  und  wissenschaftliche 
Seite  allenthalben  vernachlässigen. 

Masaryk  weist  darauf  hin,  daß  die  russischen  Philo- 
sophen an  den  Erkenntnisproblemen,  die  die  europäi- 
schen Denker  so  stark  beschäftigen,  geringen  oder 
gar  keinen  Anteil  genommen  haben,  und  daß  sie  die 
„Philosophie  der  Religion"  und  die  „der  Geschichte" 
zu  ihrem  Felde  erkoren;  es  scheint  mir  jedoch,  daß  ihm 
entgeht,  wie  das  gerade  darum  geschah,  weil  diese  beiden 
Gebiete  der  Religions-  und  Geschichtsphilosophie  die 
am  wenigsten  philosophischen  Seiten  der  europäischen 
Philosophie  darstellten,  da  in  ihnen  die  gefühlsmäßige 
Richtung  und  mythologische  Träume  vorherrschten, 
während  die  erkenntnistheoretischen  Forschungen  den 
wahren  kritischen  und  fortschrittlichen  Mittelpunkt 
bilden,  und  den  Prüfstein  für  ernst  zu  nehmende  spe- 
kulative Geister  abgeben.  Masaryk  sagt  auch  in  der 
Tat  (II,  508),  daß  die  philosophische  Kritik  der  Russen 
sich  Hume  und  Kant  zuwenden,  den  Nihilismus,  die 
Verneinung  des  Alten,  das  antikritische  Empörer- 
tum,  das  bequeme  Aneignen  und  die  ebenso  bequeme 
Sucht  des  Nachahmens  überwinden  müßte.  Müsste: 
das  heißt  also,  es  sei  wünschenswert,  daß  sie  es  tue; 
allein  bisher  tat  und  tut  sie  das  Gegenteil.  Es  kommt 
mir  nicht  in  den  Sinn,  Masaryk  nachzuahmen, 
und  den  Russen  die  Aufgabe  ihrer  philosophischen 
Zukunft  vorschreiben  zu  wollen;  nichtsdestoweniger 
muß  es  mir  gestattet  sein,  meine  Meinung  dahin  aus- 
zusprechen, daß  für  sie,  wenn  überhaupt,  ein  rich- 
tiges Schulprogramm  ersprießlich  wäre,  die  Mahnung, 
für  jetzt,  und  noch  für  eine  gute  Weile,  die  große  Phi- 

274 


losophie  beiseite  zu  lassen  und  von  den  Grundlehren 
an  zu  beginnen,  den  Methoden  des  Studiums,  der  for- 
malen Logik :  mit  alledem,  was  uns  Europäern  gleich- 
sam durch  tausendjährige  Erziehung  im  Blute  liegt, 
Rußland  aber  fehlt.  Liest  man  Tolstoi,  so  stößt  man, 
wie  männiglich  bekannt  ist,  auf  verdrehte  Erörterungen 
über  religiöse,  sittliche,  politische,  wirtschaftliche,  selbst 
literarische  Probleme  —  man  erinnere  sich  der  Schrift 
y^Was  ist  Kunst}''''  und  des  Buches,  in  dem  Shakespeare 
vernichtet  wird  —  und  man  verzeiht  derlei  dem  großen 
Dichter:  denn  wem  verzeiht  man  denn  leidenschaftliche 
und  verdrehte  Beweisführung,  wenn  nicht  geliebten 
Frauen  und  Dichtern?  Nur  ist  diese  Art  der  Darlegung, 
in  der  sich  an  höchst  schwankende  Voraussetzungen 
gewöhnlich  widerwärtig  starrsinnige  Schlußfolgerungen 
knüpfen,und  mit  der  verwegenen  Ablehnung  jeder  Auto- 
rität und  der  festesten  allgemeinen  Überzeugungen  die 
Unfähigkeit  zu  scharfem,  behutsamem  und  tiefem  Be- 
obachten verschwistert,  in  Rußland  durchaus  nicht  bloß 
den  Dichtern  gleich  Tolstoi  eigen,  sondern  auch  den 
Schriftstellern ,  die  keine  Dichter  sind,  sondern  kritische 
und  philosophische  Arbeiten  herausgeben.  Man  müßte 
sie  in  der  Tat  nach  ihrer  Besonderheit  zergliedern  und 
ihr  einen  sie  kennzeichnenden  Namen  geben,  etwa  „auf 
russischer  Art  schließen?"  —  eine  Bezeichnung,  von  der 
es  mich  Wunder  nimmt,  daß  sie  nicht  schon  längst  her- 
vorgetreten ist.  Ich  finde  bei  Masaryk  (II,  98)  einen  Aus- 
spruch Solowiews  über  die  nihilistische  Lehre,  die  er  in 
dem  Merkwort  zusammenfaßt:  „Der  Mensch  stammt 
vom  Affen,  liebe  daher  deinen  Nächsten  wie  dich  selbst" ; 
es  scheint  mir  das  ein  Sinnbild  des  „Schließens  auf 
russische  Art"  darzustellen. 

Diese  Schriftsteller  könnten  also  in  zusammenfassen- 

18»  275 


der  Weise  unvorbereitete  und  noch  schwache  Geister  ge- 
nannt werden,  denen  verwickelte  und  mit  einer  langen 
Geschichte  beladene  Lehren  eingeflößt  wurden,  von 
denen  sie,  statt  erzogen  und  gefestigt  zu  werden,  vielmehr 
aufgeregt,  verwirrt  und  unheilbar  zugrunde  gerichtet 
worden  sind.  Namentlich  die  deutsche  Philosophie  ist,  als 
die  einflußreichste,  in  Russland  auch  die  verderblichste 
gewesen :  von  der  Hegeischen  an,  die  eine  Philosophie 
für  Erwachsene  ist,  bis  zu  der  von  Marx,  zugleich  rea- 
listisch und  metaphysich,  vorurteilslos  und  parteiisch, 
nach  einer  Kritik  durch  Erwachsene  verlangend.  Da- 
her hat  auch  die  unendliche  Zahl  der  von  russischen 
Schriftstellern  verfaßten  geschichtlichen,  sozialen,  reli- 
giösen und  sittlichen  Theorien  der  Wissenschaft  gar 
keinen  Ertrag  gegeben,  nichts,  was  in  deren  Geschichte 
irgendeine  Erwähnung  verdiente.  Damit  soll  nicht  ge- 
sagt sein,  daß  dieses  leidenschaftliche  Drängen  von  For- 
meln und  Ideologien  keinerlei  Wert  für  die  soziale 
Geschichte  hätte;  im  Gegenteil  kann  man  daraus  sehr 
gut  abnehmen,  welches  die  eigentlichen  Kräfte  des 
russischen  Volkes  sind,  seine  Empfindungen  und  Be- 
dürfnisse, welcher  sein  geistiger  Höhenstand  ist.  Es 
wird  auch  dadurch  klar,  weshalb  Rußland,  während  die 
übrigen  Völker  eine  Wissenschaft  und  eine  Kultur  — 
mag  sie  groß  oder  klein  sein  —  besitzen,  statt  dessen,  wie 
man  zu  sagen  pflegt,  ein  „Intellektuellentum"  besitzt; 
etwas,  das  recht  eigentlich  weder  Wissenschaft  noch  Kul- 
tur ist,  vielmehr  ein  hitziges  Streiten  über  alles  mög- 
liche und  ein  Hervorstoßen  von  Paradoxien  bedeutet : 
etwas,  das  im  Grunde  gar  sehr  dem  ähnelt,  was  man 
schlecht  und  recht:  Überspanntheit  nennt ^). 

*)  Croce  macht   hiezu   folgende  Anmerkung:     „Es    wird   gut  sein,  hieran 
die  Bemerkung  zu  knüpfen,  daß  ich  in  diesem  Aufsatze  nur  vom  russischen 

276 


DREI  ARTEN  DES  SOZIALISMUS  (Giornale 
d' Itaita,  8.  Oktober  igi8).  —  Es  gibt  oder  gab  etwas,  das 
wir  in  unserer  Jugendzeit,  s'ist  lange  her,  als  Studenten 
unter  Meister  Antonio  Labriola  lernten  und  das  ungefähr 
folgendes  besagen  wollte:  „Das  Bürgertum  schafft  die 
moderne  Welt  der  Industrie,  der  Arbeit,  Wissenschaft, 
Bildung,  begründet  und  stärkt  die  nationalen  Körper, 
macht  die  verschiedenen  Vaterländer  stark  und  ge- 
achtet; in  dieser  Tätigkeit  jedoch  nützt  es  sich  ab,  er- 
schöpft, schwächt  es  sich ;  während  es,  durch  dieses  Tun 
selbst,  eine  neue  Klasse  großzieht  und  herausbildet, 
die  Arbeiter,  die  Klasse  seiner  Söhne,  Gegner  und 
Totengräber,  die  ihm  in  einem  gegebenen  Augenblick 
oder  allmählich,  früher  oder  später,  die  Gewalt  aus 
den  Händen  winden  und  die  Leitung  der  Gesellschaft 
übernehmen  werden.  Sie  werden  sich  ihrer  bemäch- 
tigen, nicht  indem  sie  das  Werk  des  Bürgertums  ver- 
nichten, sondern  bewahren  und  steigern :  seine  Wissen- 
schaft und  seine  Bildung,  seine  Sorge  um  die  nationale 
Ehre,  indem  sie  das  Vaterland,  das  jenes  mit  so  viel 
Scharfsinn,  Mühe  und  Opfern  geschaffen,  verteidigen 
und  dessen  Aufgehen  in  größeren  Körpern  nur  dann 
zulassen  wird,  wenn  diese  neuen  Gebilde  tatsächliche 
Wirklichkeit  besitzen  und  das  Leben  der  einzelnen 
Völker  gegen  Gewalt  und  Ausbeutung  zu  schützen 
imstande  sein  werden."  Derart  war  Antonio  Labriola 
gleichzeitig  Sozialist  und  Patriot,  ja  selbst  Imperialist, 
Anhänger  des  Krieges  und  kolonialer  Eroberungen. 

Denken,  insoweit  es  Gedanke  ist,  das  heißt  die  Philosophie  angeht,  spreche; 
ich  habe  damit  kein  Urteil  über  die  Ereignisse  in  Rußland  abgegeben,  über 
die  wir  noch  sehr  wenig  unterrichtet  sind,  und  die  jedenfalls  unter  einem 
andern,  dem  politischen  Gesichtswinkel  betrachtet  werden  müssen.  Des- 
gleichen heißt  die  Bücher  des  Professors  Wilson  beurteilen,  nicht  die 
politische  Tätigkeit  des  Präsidenten  abwägen." 

277 


Wo  ist  heute,  in  der  Welt  der  Tatsachen,  dieser  von 
ihm  ersehnte  und  gelehrte  Sozialismus  ?  Ich  bin  dessen 
sicher,  daf3  er  ihn,  könnte  er  die  Augen  wieder  öffnen, 
nirgends  als  in  Deutschland  finden  würde,  dessen  So- 
zialisten (ich  weiß,  daß  ich  damit  gegen  die  landläufige 
Meinung  verstoße,  allein  ich  muß  trotzdem  sagen, 
was  mir  wahr  und  nützlich  erscheint)  die  Grund- 
sätze ihrer  politischen  Lehrer  mit  aller  Strenge  aus- 
gelegt haben,  indem  sie  sich  offen  auf  die  Seite  des 
deutschen  Staates  stellten;  und  in  dieser  Hinsicht  ge- 
bührt ihnen  Lob  für  ihre  Folgerichtigkeit  und  ihren 
Ernst.  Daß  diese  deutschen  Sozialisten  dann,  in  Aus- 
nutzung ihrer  Beziehungen,  Freundschaften  und  des 
Vertrauens,  aus  der  Zeit  her,  da  der  Sozialismus 
international  sein  konnte ,  ihre  Genossen  in  anderen 
Ländern  zu  verführen  und  zu  täuschen  gesucht  haben, 
ihre  einfältigeren,  leidenschaftlicheren,  weniger  unter- 
richteten Genossen,  und  sie  anzuleiten,  die  Völker,  von 
denen  sie  einen  Teil  ausmachen,  den  Bestrebungen, 
dem  Ehrgeiz  und  der  Begehrlichkeit  des  deutschen 
Staates  zu  unterwerfen,  das  war  zweifellos  unwürdig 
und  abstoßend,  wie  jeder  Verrat  und  Mißbrauch  guten 
Glaubens.  Aber  was  ist  da  zu  machen  ?  Die  Deutschen 
pflegen  nicht  allzu  zartsinnig  zu  sein,  und  zartsinnig 
sind  nicht  einmal  die  deutschen  Sozialisten. 

Es  gibt  aber  einen  andern  Sozialismus,  der  anders 
urteilt,  und  der  denkt:  Kultur,  Gesittung,  Wissenschaft, 
Moral,  Vaterland,  Unabhängigkeit,  Ehre  — ;  was  geht 
uns  das  alles  an?  Possen !  Ob  wir  den  Fremdherrscher 
im  Hause  haben  oder  nicht,  der  Bauer  bleibt  immer 
über  seinen  Spaten  gebeugt,  der  Arbeiter  an  seine  Ma- 
schine gefesselt,  und  wer  weiß,  vielleicht  mag  die 
Fremdherrschaft,  wenn  sie  die  herrschenden  Klassen, 

278 


die  Industriellen,  die  Grundbesitzer,  die  Kapitalisten 
unterdrückt,  dem  Proletariertum  nützen:  denn  die 
Volksmassen,  ja  sogar  die  Hefe  des  Volkes,  gegen 
Bürgertum  und  Adel  zu  begünstigen,  ist  eine  altüber- 
kommene Notwendigkeit  für  Eroberervölker  wie  für 
Gewaltherrscher  und  Tyrannen.  Zur  Zeit  des  Nieder- 
gangs, im  siebzehnten  und  achtzehnten  Jahrhundert, 
frohlockte  der  italienische  Pöbel,  als  Zuschauer  der 
Kriege,  die  in  Europa  und  auf  Italiens  Boden  selber 
tobten :  „Hoch  Frankreich  und  der  Spanier  Staat,  wenn 
man  nur  voll  den  Ranzen  hat!";  Giovanni  Arriva- 
bene  berichtet  in  seinen  Erinnerungen,  daß  er  dieses 
niedliche  Sprüchlein  oder  eine  Variante  davon  noch  in 
den  ersten  Jahren  des  neunzehnten  Jahrhunderts  in 
der  Lombardei  gehört  habe.  —  Wo  ist  dieser  Sozialis- 
mus heute  zu  finden?  In  vorbildlicher  Form,  soweit 
man  aus  den  uns  bekanntgewordenen  Tatsachen  ur- 
teilen kann,  dermalen  in  Moskau;  als  Sinnesart  jedoch 
ein  wenig  fast  allenthalben :  eine  beschämende  Sinnes- 
art, die  sich  denn  auch  ihrer  selbst  schämt.  Gehen  wir 
darum  über  sie  hinweg. 

Endlich  gibt  es  noch  einen  dritten  Sozialismus,  auf 
seine  Weise  idealistisch,  christlich,  humanitär,  dem 
tausendjährigen  Reich  zugewandt;  er  fühlt  sich  leicht 
und  beweglich  genug,  um  einen  kühnen  Sprung  über 
die  Geschichte  hinweg  zu  machen,  nicht  allein  über 
die  der  Vergangenheit,  sondern  auch  der  Gegenwart 
und  Zukunft,  über  alle  Geschichte,  alle  Wirklichkeit. 
Er  folgert  also  (wir  sagen  „folgert",  um  höflich  zu 
sein) :  Es  ist  an  der  Zeit,  mit  dem  Ringen  der  Völker 
und  den  Kriegen  aufzuhören!  Was  sind  Kriege.?  Die 
Interessen  einer  kleinen  Zahl  von  Menschen  in  den 
verschiedenen  Ländern,  Interessen,   denen  die  große 

27g 


Mehrzahl  mit  bUnder  Willfährigkeit  dient,  Güter  und 
Leben  zum  Opfer  bringt.  Diese  Mehrzahl  möge  sich 
endlich  empören,  Nein  sagen,  sich  weigern ;  dann  werden 
die  Kriege  wie  mit  einem  Zauberschlag  aufhören  und 
der  Weltfriede  wird  gesichert  sein.  Und  da  man  mit 
gutem  Beispiel  vorangehen  soll,  so  beginnen  wir  da- 
mit, unser  Land  zu  entwaffnen.  Die  andern  Völker 
werden,  angezogen  von  dem  himmlischen  Schauspiel, 
sich  beeilen,  diesem  Beispiel  zu  folgen:  es  wird  ein 
Weltfeiertag  werden. 

Diese  sogenannte  Schlußfolgerung  zu  widerlegen, 
wäre  überflüssig;  es  genügt  zu  bemerken,  daß  die 
große  Menge  des  Menschengeschlechtes  keineswegs, 
wie  diese  naiven  Theoretiker  sich  einbilden,  aus 
Toren  besteht,  sondern  aus  Menschen,  wenn  auch 
wenig  unterrichteten  Menschen,  und  daß  diese  Will- 
fährigkeit, diese  Unterwerfung  unter  ein  Losungswort, 
unter  die  Befehlshaberschaft,  die  einer  Minderzahl, 
den  führenden  Klassen  zufällt,  durchaus  nicht  Blind- 
heit, sondern  tiefer  Trieb  zur  Rettung,  zum  allge- 
meinen Besten  und  zur  Pflicht  ist,  Sinn  für  tiefste  Not- 
wendigkeit, Gehorsam  vor  den  Gesetzen  der  Ge- 
schichte. —  Wo  findet  sich  jetzt  diese  dritte  Art  des 
Sozialismus  ?  Die  Antwort  ist  dieselbe  wie  im  früheren 
Fall :  als  Sinnesart,  ein  wenig  fast  allenthalben ;  in  ent- 
wickelter und  wirksamer  Form  jedoch  in  Moskau, 
wo  Materialismus  und  Aszetentum,  Zynismus  und 
Idealismus,  Niedrigkeit  und  Heldenhaftigkeit  Arm  in 
Arm  gehen. 

Ich  war  gerade  im  Begriffe,  diesen  kleinen  Aufsatz 
zu  schließen,  als  mein  kritischer  Sinn,  der  mich  gegen 
Dreiteilungen  mißtrauisch  macht,  wie  sie  in  der  Philo- 
sophie   bisher   überaus  bedeutsam,  allein  auch   sehr 

280 


leicht  übel  anzuwenden  sind,  mir  zuflüsterte:  —  Gibt 
es  denn  nicht  noch  einen  vierten  Sozialismus?  Einen, 
der  richtig  folgert,  gerade  so  wie  der,  den  du  an  erste 
Stelle  gesetzt  hast,  der  jedoch  aus  Politik  sich  den  An- 
schein gibt,  von  Fall  zu  Fall,  wie  der  Sozialismus 
Nummer  zwei,  auch  wie  der  Nummer  drei,  zu  urteilen, 
weil,  wie  sattsam  bekannt,  mundus  vult  decipi}  Ein 
Sozialismus,  dessen  Anhänger,  einzeln  genommen,  vor- 
treffliche Patrioten  sind,  die  sich  der  Siege  ihres  Vater- 
landes freuen  und  über  seine  Niederlagen  betrüben, 
jeden  Augenblick  mit  ihm  leben,  allein  in  den  Zei- 
tungen und  Parteiversammlungen  sich  anders  verhal- 
ten, aus  Furcht,  daß  die  Partei  ihren  Händen  ent- 
gleite ?  Ein  Sozialismus,  der  den  Sack  schlägt  und  den 
Esel  meint,  der  der  Unwissenheit  hofiert,  allein  recht 
gut  weiß,  was  Wissen  bedeutet,  angriffslustig  mehr  in 
Worten  und  Tagesordnungen,  als  mit  Taten,  ein  So- 
zialismus mithin  —  im  guten  und  schlechten  Sinn  des 
Wortes  —  auf  italienische  Art  ? 

Ich  meine,  daß  es  auch  diesen  gibt ... 

DER  SIEG  {Viü  bei  Turin,  5.  November  1918).  - 
Der  Sieg  ist  da,  vollständig,  glänzend,  und  was  das 
Beste  ist,  verdient.  Verdient  durch  die  Zähigkeit  der 
Verteidigung  unter  schwierigen  Umständen,  durch  die 
Standhaftigkeit  des  gesamten  italienischen  Volkes, 
durch  die  Entschiedenheit  des  letzten  Angriffs ;  er  kam 
gleichsam  als  Folgerung  der  großen  Schlacht  im  ver- 
gangenen Juni,  in  der  Italien,  gerade  Italien,  den  Auf- 
takt zum  Gegenschlag  der  Verbündeten  gab,  indem  es 
sich  an  Zahl  überlegenen,  von  Angriffslust  erfüllten, 
aus  langer  Hand  in  vorteilhaften  Stellungen  bereit- 
gehaltenen Kräften  entgegenwarf;  eine  Schlacht,  die 

281 


später  die  Wirkungen,  die  sie  enthielt,  offenbar  machte, 
und  deren  man  sich,  wie  es  zu  gehen  pflegt,  damals 
nur  zum  kleinsten  Teile  bewußt  war. 

Wer  in  Gedanken  die  jahrhundertlange  Geschichte 
Italiens  durchgeht,  glanzvoll  in  jeglicher  Kunst,  jeg- 
lichem Wissen,  jeder  Art  genialer  Tätigkeit,  voll  der 
wunderbarsten  Proben  sonderlichen  Wertes,  und  trotz- 
dem jener  Zeugnisse  gemeinsamer  Kraft  ermangelnd, 
die  weniger  begabten  und  weniger  um  die  Gesittung 
verdienten  Völkern  nicht  fehlen  —  der  großen  natio- 
nalen Kriege  und  Siege  —  der  vermag  allein  und  in 
Wahrheit  den  unschätzbaren  Preis  des  Gutes  zu  er- 
messen, das  die  Italiener  von  heute  erworben  haben 
und  ihren  fernsten  Geschlechtern  vererben  werden. 

Welch  leuchtender  Gegensatz  zu  den  Tagen  der 
Qual  und  Demütigung,  die  wir  gerade  vor  einem 
Jahr  durchlebt  haben!  Wie  herrlich  haben  sich  die 
Wünsche  erfüllt,  die  wir  damals  kaum  in  unserm  tief- 
sten Innern  zu  hegen  gewagt  haben ! 

Dennoch  möchte  ich  nicht  behaupten  (und  ich  bin 
sicher,  daß  viele  darin  wie  ich  fühlen  werden),  daß  die 
gegenwärtige  Freude  den  Schmerz  von  damals  über- 
trifft oder  ihm  die  Wage  hält.  Unser  Geist  erkennt 
die  Größe  der  vollendeten  Tat,  das  Herz  billigt  sie, 
das  Gemüt  ist  davon  befriedigt;  allein  die  Freude 
bricht  nicht  mit  der  Kraft  und  stürmischen  Bewegung 
hervor,  die  dem  furchtbaren  Sturm,  der  damals 
unsere  Brust  durchtobte,  vergleichbar  wäre.  Beruht 
also  die  Lehre  mancher  Psychologen  und  der  welt- 
schmerzlichen Philosophie  auf  Wahrheit,  daß  die 
Freude  weniger  stark  als  der  Schmerz  sei:  eine  Lehre, 
die  ich  vordem  stets  kritisiert  und  zurückgewiesen 
habe .? 

282 


Nein,  diese  Lehre  ist  trügerisch,  gerade  aus  dem 
Grunde,  den  die  Kritiker  anführen,  weil  es  nämlich 
nicht  möglich  ist,  hier  von  Intensität  zu  sprechen  und 
Dinge,  die  ihrer  Beschaffenheit  nach  verschieden  sind, 
aneinander  zu  messen.  Der  Schein  geringerer  Inten- 
sität der  Freude  entsteht  gerade  daraus,  daß  sie  Freude 
ist,  mithin  ihrem  Wesen  nach  selbst  nachdenkliche 
Sorge  über  die  neuen  Schwierigkeiten,  die  neuen  Auf- 
gaben, die  sich  aus  der  neuen  Lage  ergeben,  die  neuen 
Pflichten,  die  in  ihr  heranreifen.  Immer  ist  mir  der 
Schluß  des  Rolandliedes  als  etwas  Bewundernswertes  er- 
schienen :  Karl  der  Große,  der,  nachdem  er  gesiegt  und 
Rache  an  den  Verrätern  genommen,  sich  vom  Boten 
des  Herrn  zu  neuen  Unternehmungen  und  Mühen 
gerufen  sieht: 

„Deus  —  dist  li  reis  —  si  penuse  est  ma  vie! 
Pluret  des  oilxy  sa  barbe  blanche  tiret"  ^). 

In  gewissem  Sinne  ist  es  mir  recht,  daß  die  Nach- 
richt vom  Siege  mich  hier  erreicht,  in  den  Bergen,  die 
sich  schon  mit  Schnee  bedecken,  in  einem  Alpen- 
dörfchen, weit  entfernt  von  dem  Festgepränge  der 
Städte.  Auch  hier  ist  ja  der  Sieg  gefeiert  worden,  aber 
in  aller  Schlichtheit:  die  Bergbevölkerung,  Mütter, 
Gattinnen,  Schwestern,  Greise,  hat  sich  auf  dem  Platze 
versammelt,  die  Kinder  haben  den  Ort  durchstreift, 
dreifarbige  Fahnen  schwingend,  und  alles  hat  sich  in 
die  Kirche  begeben,  wo  der  Priester  vom  Altare  aus 
rührende  hohe  Worte  sprach.  Das  genügt  mir.  Zu 
Festen  anderer  Art  fühle  ich  in  mir  weder  die  nötige 
Frische  noch  Ruhe.    Und  —  muß  ich  es  sagen.?  — 

^)  Großer  Gott  —  sprach  da  der  König  —  so  mühevoll  ist  mein  Leben! 
Die  Augen  tränten  ihm  und  er  griff  in  den  weißen  Bart. 

283 


nicht  allein  stoßen  mich  diejenigen  ab,  die  diese  Tage 
benützen,  um  platte  Beleidigungen  gegen  den  Feind 
zu  schleudern,  und  unsinnige  Urteile  in  widerwärtiger 
Art  wiederholen,  sondern  es  erscheint  mir  selbst  das 
Festgepränge,  jedes  Festgepränge,  das  äußerliche  und 
materielle  Formen  annimmt,  gemein. 

Feste  feiern  —  zu  welchem  Ende?  Unser  Italien 
geht  aus  diesem  Kriege  wie  aus  einer  schweren  Todes- 
krankheit hervor,  mit  offenen  Wunden,  mit  gefähr- 
licher Schwäche  in  seinem  Leibe,  die  bloß  fester  Sinn, 
gehobener  Mut,  sich  erweiternder  Geist  überwinden 
und  durch  harte  Arbeit  in  Antriebe  zur  Größe  wan- 
deln kann.  Hunderttausende  unseres  Volkes  sind  da- 
hingerafft worden,  jeder  von  uns  sieht  in  diesem  Augen- 
blicke die  trüben  Gesichter  der  Freunde  vor  sich,  die 
wir  verloren  haben,  zerrissen  von  Geschossen,  entseelt 
auf  nackten  Felsen  oder  dem  Rasen,  weit  weg  von 
ihren  Hütten  und  ihren  Teueren.  Und  die  gleiche 
Trostlosigkeit  herrscht  in  der  ganzen  Welt,  unter  den 
Völkern  unserer  Verbündeten  wie  unserer  Gegner, 
Menschen  gleich  uns,  trostloser  als  wir,  da  der  Tod 
aller  ihrer  Lieben,  alle  Mühen,  alle  Opfer  nicht  hin- 
gereicht haben,  um  sie  vor  der  Niederlage  zu  be- 
wahren. Große  Reiche,  die  Jahrhunderte  hindurch 
die  Völker  eines  großen  Teils  von  Europa  in  sich  ver- 
einigt, in  Zucht  gehalten,  zur  Arbeit  des  Gedankens 
und  der  Gesittung,  zum  menschlichen  Fortschritt  an- 
geleitet haben,  sind  dahin;  große  Kaiserreiche,  an  Er- 
innerungen und  Ruhmestaten  reich;  jeder  edle  Geist 
muß  vor  der  unerbittlichen  Erfüllung  des  geschicht- 
lichen Schicksals  von  Ehrfurcht  ergriffen  werden,  das 
die  Staaten  vernichtet  und  auflöst  wie  die  Einzelwesen, 
um  neue  Lebensformen  zu   schaffen.    Shakespeares 

284 


Helden  —  Vorbilder  aller  Menschlichkeit  —  feiern 
nicht  Feste,  wenn  sie  den  Sieg  davongetragen  und  die 
furchtbarsten  Feinde  niedergeschmettert  haben;  sie 
fühlen  sich  vielmehr  von  Schwermut  durchdrungen 
und  ihre  Lippen  bewegen  sich  fast  nur,  um  des  Men- 
schen, der  ihr  Gegner  gewesen,  und  dessen  Tod  sie 
selbst  herbeigeführt,  zu  gedenken  und  sein  Lob  zu 
verkünden! 


285 


ANHANG 

DER  „VÖLKERBUND«.  Ein  Interview  {Tempo, 
Rom,  ly.  Jänner  1919). 

Ich  begegnete  gestern  Croce  und  fragte  ihn,  was  er 
von  der  Frage  des  Tages,  dem  Völkerbund,  hahe. 

Er  entgegnete  mir:  Dasselbe  wollte  ich  gerade  Sie 
fragen,  denn  ich  muß  gestehen,  daß  ich  noch  nicht 
begriffen  habe,  um  was  es  sich  handelt. 

—  Sie  gehören,  setzte  ich  fort,  zu  denen,  die  einen 
Völkerbund  für  etwas  Unmögliches  ansehen.? 

—  Durchaus  nicht;  was  ich  nicht  begreife,  ist  nur,  wieso 
man  verkünden  kann,  man  wolle  heute  etwas  schaffen, 
das  bereits  besteht. 

—  Ja,  besteht  denn  der  Völkerbund  bereits? 

—  Ich  denke  wohl,  da  die  Geschichte  besteht  und 
sich  in  jedem  Augenblick  entwickelt,  was  unmöglich 
wäre  ohne  das  Zusammenwirken,  mithin  den  Bund  der 
Völker. 

—  Wie  soll  ich  mir  das  erklären? 

—  Sehr  einfach.  Welches  Ideal  schwebt  dem  Völker- 
bund vor?  Eine  Art  von  Überstaat,  der  die  verschie- 
denen Völker  in  sich  faßt,  in  ähnlicher  Weise,  wie 
beispielsweise  der  Einheitsstaat  Italien  die  verschiede- 
nen Staaten  des  alten  Italien,  die  Königreiche  Neapel 
und  Sardinien,  das  Großherzogtum  Toskana,  den  Kir- 
chenstaat und  so  fort  in  sich  aufgenommen  und  den 
Frieden  zwischen  ihnen  hergestellt  hat. 

a86 


—  Gewiß,  etwas  der  Art:  einen  Schritt  weiter  in  der 
Einigung  des  Menschengeschlechts;  und,  einstweilen, 
das  Aufhören  gewaltsamer  Lösungen  durch  den  Krieg. 

—  Nun  gut:  bedenken  Sie,  daß  die  Bildung  eines 
Einheitsstaates  nicht  das  Aufhören  der  Kämpfe  im 
Innern  eines  Volkes  bedeutet,  vielmehr  eine  Form,  in 
der  diese  Kämpfe  sich  entwickeln.  Kämpfe  zwischen 
Klassen,  Landschaften,  politischen  Ideen  und  Ausgleich 
zwischen  Klassen,  Landschaften,  Parteien:  das  ist  das 
tägliche  Leben  eines  Staates,  so  einheitlich  er  auch  sein 
mag.  Die  Heftigkeit  der  Kämpfe  wechselt,  da  sie  von 
kleinen  bis  zu  großen  Reformen,  von  kleinen  bis  zu 
großen  Umwälzungen,  selbst  solchen,  die  man  Revolu- 
tionen nennt,  reicht.  Etwas  Ähnliches  oder  wenigstens 
Entsprechendes  bietet  nun  das  Leben  der  Völker  in 
ihren  gegenseitigen  Beziehungen,  das  heißt  in  ihrer 
internationalen  Einheit.  Auch  hier  handelt  es  sich  um 
einen  täglichen  Kampf,  und  die  Verständigung  wird 
durch  diplomatische  Verhandlungen,  durch  Handels- 
verträge, durch  Ententen,  Bündnisse,  durch  die  Her- 
stellung eines  mehr  oder  weniger  dauerhaften  Gleich- 
gewichts erreicht;  das  ist  das  Leben  dessen,  was  man 
Frieden  nennt;  Kämpfe  und  Ausgleiche,  die  in  ge- 
wissen Augenblicken  an  Stärke  gewinnen  und  innerhalb 
der  internationalen  Gesellschaft  das  Gegenbild  der  Re- 
volutionen, den  Krieg  herbeiführen.  Nach  diesem  tritt 
eine  neue  Ordnung  der  Dinge  ein,  das  heißt,  es  beginnt 
abermals  ein  Werdegang  von  Kämpfen  in  einem  weniger 
strammen  Rhythmus,  der  den  neuen  Friedensabschnitt 
bedeutet.  Das  ist  der  Bund  der  Völker,  der  ebenso  wirk- 
sam ist  wie  jener  des  in  einem  einzelnen  Staat  vereinigten 
Volkes.  Darum  sagte  ich,  einen  Völkerbund  schaffen 
hieße  etwas  schaffen,  das  bereits  vorhanden  ist. 

287 


—  Es  macht  mir  den  Eindruck,  daß  Sie  ironisch 
sprechen  und  sich  stellten,  als  ob  Sie  nicht  verstünden, 
was  Sie  in  der  Tat  ganz  gut  begreifen :  daß  nämlich  der 
jetzt  vorgeschlagene  Völkerbund  etwas  vollkommen 
Neues  ist,  daß  er  dahin  zielt,  die  Ursachen  jener  Kämpfe 
selbst  zu  beseitigen,  die  für  gewöhnlich  in  Ausgleichen 
und  Gleichgewichtszuständen  ihre  Entspannung  finden, 
aber  von  Ziit  zu  Zeit  sich  in  furchtbaren  Kriegen  ent- 
laden. 

—  In  welcher  Art  beseitigen?  Etwa  dadurch,  daß  man 
auf  das  internationale  Leben  jenes  mechanische  Ideal 
der  Gleichheit  überträgt,  das  im  Leben  der  Einzelstaaten 
selbst  niemals  gedacht,  geschweige  denn  verwirklicht 
werden  konnte?  Allein  im  internationalen  Leben  er- 
weist sich  dieses  Gleichheitsideal  sofort  als  absurd,  ja 
selbst  komisch ;  so  groß  sind  die  natürlichen,  wirtschaft- 
lichen, geistigen,  überhaupt  alle  wie  immer  genannten 
Verschiedenheiten  zwischen  den  Völkern.  Wozu  soll 
ich  Ihnen  elementare  Dinge  wiederholen?  Wäre  es 
möglich,  diese  Verschiedenheiten  zu  beseitigen,  das  fort- 
währende Entstehen  und  Sichvervielfachen  der  Gestal- 
tungen zu  unterdrücken,  die  Ursachen  von  Wettstreit 
und  Kampf  aufzuheben,  so  würde  man  die  Triebfeder 
der  Geschichte  und  der  Wirklichkeit  zerbrechen  und 
die  Welt  endigte  in  einem  großen  Gähnen  der  Lange- 
weile. 

—  Sie  nehmen  die  Begriffe  in  allzu  unbedingter  Weise. 
Kann  man  die  Triebfeder  der  Geschichte,  als  welche 
Kampf  ist,  nicht  zerbrechen,  so  kann  man  doch  eine 
bessere  Art  des  Zusammenlebens  zwischen  den  Staaten, 
als  wir  sie  bis  jetzt  kannten,  herstellen. 

—  Gewiß,  allein  niemals  auf  Kosten  der  Logik;  und 
da  der  Völkerbund  unter  der  Form  von  Begriffen  und 

288 


Theorien  vorgeschlagen  und  erörtert  wird,  so  gehe  ich 
nicht  in  allzu  unbedingter  Form  vor,  wenn  ich  die  Be- 
griffe und  Theorien  untersuche  und  zeige,  daß  sie  wider- 
spruchsvoll und  leer  sind.  Es  bleibt  die  andere  Frage 
übrig:  ob  sich  das  Zusammenleben  der  Völker  auf  eine 
höhere  Stufe  erheben  könne;  aber  gestatten  Sie  mir,  auch 
was  das  anbelangt,  die  Bemerkung,  daß  man  nach  etwas 
sucht,  das  längst  erreicht  ist.  Aus  welchem  andern 
Grunde  ist  denn  jemals  ein  Krieg  unternommen  worden, 
als  um  ein  volleres,  würdigeres,  höheres,  machtvolleres 
Leben  zu  führen  ?  Wir  alle,  Sieger  und  Besiegte,  führen 
sicherlich  ein  geistig  höheres  Leben  als  das  vor  dem 
Kriege. 

—  Wir  verstehen  uns  noch  immer  nicht!  Ich  frage, 
ob  die  gegenwärtigen  Bemühungen,  ganz  abgesehen 
von  den  Theorien,  nicht  dazu  führen  werden,  die  Er- 
neuerung des  Krieges  unter  den  gesitteten  Völkern  zu 
verhindern,  des  Krieges,  der  mit  Waffen  und  unter  Zer- 
störung von  Gütern  aller  Art  geführt  wird. 

—  Vielleicht,  vielleicht  auch  nicht.  Als  Philosoph 
habe  ich  niemals  den  ewigen  Fortbestand  des  Krieges 
in  seiner  zufälligen  Form,  auf  die  Sie  anspielen,  be- 
hauptet. Diese  Form  mag  verschwinden  und  sie  wird 
verschwinden,  wenn  der  Vorteil,  den  sie  bringt,  hinter 
dem  Schaden,  den  sie  verursacht,  zurückbleiben  wird, 
das  heißt,  wenn  der  Krieg  für  die  Menschheit  wenig 
ertragreich,  unwirtschaftlich  geworden  sein  wird.  Ob 
dies  bald  der  Fall  sein  wird,  das  ist  Stoff  für  Voraus- 
sagen; und  diese  liebe  ich  nicht,  wie  Sie  wissen,  viel- 
leicht weil  ich  dazu  unfähig  bin. 

—  Allein  bemerken  Sie  denn  nicht  die  Anzeichen 
einer  versöhnlicheren  Stimmung  der  Geister,  die  in 
allen  Teilen  der  Welt  zum  Vorschein  kommt.'' 

19    Croce.  Randbemerkungen  eines  Philosophen  2oQ 


—  Ich  bemerke  sie  nicht;  es  mag  das  mein  Fehler 
sein,  da  ich  auf  einer  allzuweit  entfernten  Warte  lebe, 
von  der  aus  mir  vielmehr  in  Europa  selbst  die  Unter- 
schiede nicht  allein  in  >  der  Gesittung  (bedenken  Sie : 
Engländer  und  Russen,  Italiener  und  Kroaten,  Christen 
und  Türken),  sondern  auch  in  den  Begriffen  (bedenken 
Sie:  gallische  und  germanische  Ideologie!)  derart  groß 
erscheinen,  daß  ich  nicht  begreife,  wie  sie  durch  einen 
Vorgang  friedlichen  Wettbewerbes  und  Einverständ- 
nisses ausgeglichen  werden  sollen. 

—  Trotzdem  muß  etwas  Neues  und  Bedeutsames, 
wenn  auch  in  unlogischer  und  mythologischer  Weise, 
wie  man  will,  ausgedrückt,  hinter  dieser  Forderung 
eines  Völkerbundes  stecken.  Wie? 

—  Einverstanden;  doch  was?  Das  ist  es,  was  ich  von 
Ihnen  zu  hören  wünschte,  denn  ich  für  meinen  Teil 
weiß  es  nicht.  Vielleicht  deshalb,  weil  es  noch  nie- 
mand bis  jetzt  wissen  kann ;  da  es  sich  um  eine  dunkle 
Schwangerschaft  handelt,  aus  der  ein  Geschöpf,  schön 
und  heiter  wie  ein  Gott,  aber  auch  ein  furchtbares  Uii- 
geheuer,  gegen  das  wir  uns  rüsten  müssen,  hervorgehen 
kann.  Wir  werden  ja  sehen;  inzwischen  wissen  wir, 
zum  Glück,  was  uns  als  Menschen  und  Italienern  für 
den  Augenblick  obliegt;  das  genügt,  oder  genügt  wenig- 
stens mir. 

THOMAS  MANNS  „BETRACHTUNGEN 
EINES  UNPOLITISCHEN«  (Critica  XFIII,  Mai 
ig2o).  ^) 

Es  sind  das  Blätter,  die  der  berühmte  Romanschrift- 
steller, Verfasser  der  Buddenbrooks,  während  des  Krieges 


*)  Dieser,  wie   die  beiden  folgenden  Abschnitte,   sind  in  der  Sammlung 
Castellano's  nicht  enthalten.    D.  Ü. 


geschrieben  hat;  „notgedrungen"  geschrieben,  weil  in 
anderer  Weise  zu  handeln  unmöglich  war,  wie  ^  noch 
manch  einem  in  diesen  Jahren  begegnet  ist:  Blätter,  wie 
der  Verfasser  treffend  sagt,  die  eher  als  eine  „Frucht" 
ein  „Überbleibsel",  ein  „Niederschlag",  eine  „Spur", 
eine  „Leidensspur"  zu  nennen  sind.  Ich  gebe  diesen 
Hinweis  auf  sie  für  die  wenigen,  die  noch  Freude  am 
Nachdenken  haben  und  gut  geschriebene  Bücher  zu 
schätzen  wissen.  Das  Thema  des  Buches  ist  die  Auf- 
lehnung gegen  ^unpolitischen  Geist,  den  demokratischen, 
demagogischen,  phrasenhaften  Literatengeist :  kein  neues 
Thema,  aber  neu  empfunden  und  mit  feinster  Beob- 
achtung ergriffen.  Ich  für  meinen  Teil  habe  es  mit 
durchgehender  Zustimmung  gelesen.  Ich  vermag  nicht 
einmal  den  heftigen  Ausfall  gegen  d'Annunzio  gänz- 
lich zu  mißbilligen  (S.  597):  „Aber  woher  nehme  ich 
das  Wort,  um  ein  Maß  von  Verständnislosigkeit,  Staunen, 
Abscheu,  Verachtung  zu  bezeichnen,  wie  ich  es  an- 
gesichts des  lateinischen  Dichter-Politikers  und  Kriegs- 
rufers vom  Typ  des  Gabriele  d'Annunzio  empfinde.? 
Ist  so  ein  Rhetor-Demagog  denn  niemals  allein.?  Immer 
auf  dem  ,Balkon'.''  Kennt  er  keine  Einsamkeit,  keine 
Selbstbezweiflung,  keine  Sorge  und  Qual  um  seine 
Seele  und  um  sein  Werk,  keine  Ironie  gegen  den  Ruhm, 
keine  Scham  vor  der  , Verehrung'.?"  Auch  nicht  das 
folgende,  das  sich  gegen  Italien  wendet,  jenes  Italien, 
das  d'Annunzio  Beifall  klatschte  und  vorgeführt  wird 
als  ein  „kindlich  gebliebenes  Land",  in  dem  „aller  poli- 
tisch-demokratische Kritizismus  nicht  hindert,  daß  es 
an  Kritik  und  Skepsis  in  jedem  größeren  Stile  dort  fehlt, 
ein  Land  also,  dem  keine  Vernunft-,  keine  Moralkritik, 
am  wenigsten  aber  eine  Kritik  des  Künstlertums  Er- 
lebnis wurde" .?  Allein  der  Verfasser,  der  den  deutschen 


19* 


291 


Geist  als  Gegensatz  zu  dem  der  „Zivilisation"  im  vorer- 
wähnt«n  Sinne  faßt,  vertreten  von  den  damals  im  Kriege 
mit  Deutschland  stehenden  Völkern  (außer  Rußland), 
weiß  sehr  wohl  und  sagt  es  des  öftern,  daß  der  deutsche 
Geist,  der  w^ahre,  von  ihm  gepriesene  deutsche  Geist, 
nicht  mit  dem  tatsächlichen  Deutschland  zusammen- 
fällt, in  dem  die  aus  den  lateinischen  und  angelsäch- 
sischen Ländern  kommenden  Strömungen  sehr  stark 
v^aren  und  es  noch  sind  und  die  bezweckten  und 
es  noch  tun,  „Deutschland  zur  Demokratie  heran- 
wachsen" zu  lassen,  das  heißt  zu  einer  Staats-  und  Ge- 
sellschaftsform, zu  welcher  Paraguay  und  Portugal  schon 
des  längern  „herangewachsen"  waren  (S.  XXXVIII). 
Man  kann  dagegen  einwenden,  daß,  gleichwie  Deutsch- 
land durch  jene  Gegensätze  geteilt  ist,  es  mehr  oder 
weniger  auch  alle  andern  Länder  sind,  auch  Italien,  auch 
England,  auch  Frankreich.  Von  diesem  Gesichtspunkt 
aus  könnte  man  vielleicht  zu  dem  Schlüsse  kommen, 
daß  das  Thema  seines  Buches,  ausgedrückt  als  der  Gegen- 
satz zwischen  dem  wahren  deutschen  Geiste  und  jenem 
der  lateinischen  Länder,  in  symbolischer  oder  mytho- 
logischer Form  (eines  ethnischen  Mythologismus)  den 
menschlichen  und  ewigen  Widerstreit  zwischen  Aristo- 
kratie und  Menge  verkörpert.  Es  ist  sicher  notwendig, 
gegen  die  Menge  Stellung  zu  nehmen,  sie  zu  um- 
schreiben, zu  verhöhnen,  mit  Heftigkeit  abzuwehren: 
man  muß  seinen  Gefühlen  freien  Lauf  lassen ;  die  Ge- 
duld hat  ihre  Grenzen.  Allein,  ist  dies  geschehen  (und 
wenige  haben  es  so  getroffen  wie  Mann),  so  bleibt  den- 
noch die  Menge  bestehen;  sie  bleibt,  weil  sie  werktätig 
handelt  —  auf  ihre  Weise,  wohlverstanden  — ,  und  erfüllt 
ihre  vielfachen  Aufgaben,  unter  denen  auch  die  sich 
befindet,  in  der  Aristokratie  das  Bewußtsein  ihrer  selbst 

292 


aufzustacheln  und  zu  verstärken.  Kein  Krieg,  keine 
Eroberung,  keine  Unterwerfung,  kein  Umsturz,  kein 
Einbruch  fremder  Völkerschaften  hat  sie  jemals  ver- 
nichten können;  und  v^enn  Deutschland  (das  Deutsch- 
land, das  w^ie  Mann  denkt  und  fühlt)  sich  dieses  Ziel 
vorgesetzt  hat,  so  braucht  es  uns  nicht  in  Verw^underung 
zu  setzen,  daß  es  den  Krieg  verloren  hat,  und  daß  ihn 
vielmehr  jene  gewannen,  die  ihre  Rechnung  mit  der 
Menge  besser  zu  machen  verstanden  haben. 

OSWALD  SPENGLER  -  DER  UNTERGANG 
DES  ABENDLANDES.  Umrisse  einer  Morphologie 
der  Weltgeschichte.  Erster  Band:  Gestalt  und  Wirk- 
lichkeit. München  1 9 1 9  —  {Critica  XV III ^  Juli ig2o)  — 
Die  beifällige  Aufnahme,  die  dieses  Buch,  zu  Anfang 
1 9 1 8  und  1 9 1 9  schon  in  vierter  Auflage  erschienen  — 
jetzt  ist  es  bei  der  achten  angelangt  — ,  in  Deutschland 
gefunden  hat,  muß  denjenigen  ernstlich  Sorge  bereiten, 
denen  das  Geschick  wissenschaftlicher  Arbeit  am 
Herzen  liegt.  Denn  da  es  auf  andere  ähnlichen  Schlages, 
wenn  nicht  seiner  These,  so  doch  seiner  Methode  nach 
(gleich  jenem  vielberufenen  von  Chamberlain)  ge- 
folgt ist,  so  scheint  es  den  Verfall  —  einen  dem  Krieg 
weit  vorausliegenden  Verfall!  —  von  Kräften  zu  be- 
zeugen, mit  denen  Deutschland  einst  wohltätig  auf  das 
moderne  Geistesleben  eingewirkt  hat.  Ich  meine  damit 
die  von  diesem  geschaffene,  oder  doch  mindestens  ge- 
förderte und  verstärkte  Gewöhnung,  die  Probleme 
mit  voller  Kenntnis  des  ihnen  Vorausgegangenen,  das 
heißt  ihrer  geschichtlichen  Entwicklung,  zu  behandeln, 
um  derart  so  weit  als  möglich  Rückschritte  oder  un- 
nötige Schritte  zu  verhindern ;  sowie  ferner  das  in  ähn- 
Hcher  Weise  geförderte  Bewußtsein,  daß  die  Wirklich- 

293 


keit  Geistigkeit  und  Schöpfertum  sei,  und  sich  nicht  von 
naturwissenschaftUchen  Auffassungen  unterdrücken 
läßt,  die  immer  in  fatalistische  und  pessimistische  um- 
schlagen. 

Herr  Spengler  befindet  sich  aber  in  vollständiger 
Unvi^issenheit  über  die  Geschichte  der  Fragen,  die  er 
zur  Sprache  bringt;  seine  Gedanken  sind  ebenso  wie 
seine  Gelehrsamkeit  die  eines  Dilettanten;  eines  Di- 
lettanten, auf  daß  ich  recht  verstanden  w^erde,  vom 
Schlage  unseres  Guglielmo  Ferrero,  den  er  übrigens 
an  Bildung  und  Scharfsinn  überragt,  da  sein  Dilettan- 
tismus (und  Marktschreiertum)  in  einem  innerlicheren 
und  mannigfaltigeren  Kulturmittel  entstanden  ist  als 
das  Lombrosianisch-Sozialistische,  in  dem  Ferrero  auf- 
wuchs. Da  er  nun  die  Geschichte  jener  Fragen  nicht 
kennt,  so  stößt  es  auch  ihm  zu,  daß  er  bei  jeder  zu- 
sammenhanglosen Klitterung  von  Begriffen,  die  er  vor- 
nimmt, oder  bei  jeder  Halbwahrheit,  die  ihm  durch 
den  Kopf  schießt,  Wunder  von  Entdeckungen,  die  das 
allgemein  anerkannte  Wissen  umstoßen,  vollbracht  zu 
haben  wähnt:  die  hemmungslosen  Behauptungen  des 
Pseudogelehrten  gehen  so  Hand  in  Hand  mit  der  ver- 
wegensten Sicherheit  und  Selbstgefälligkeit.  Die  Art, 
mit  der  er  das  eigene  Werk  ins  Licht  stellt,  und  jeden 
Zug  unterstreicht,  wäre  von  unsern  alten  Kritikern,  die 
voll  guten  Menschenverstandes  waren,  wohl  „thra- 
sonisch"  genannt  worden  —  nach  der  Figur  des  Maul- 
helden im  Eunuchen  des  Terenz. 

Man  lese  als  Probe  nur  wenige  Sätze: 

„In  diesem  Buche  wird  zum  ersten  Male  der  Versuch  gewagt, 
Geschichte  vorauszubestimmen"  (S.  3).  Er  erweitert  sich  zu 
einer  völlig  neuen  Philosophie,  der  Philosophie  der  Zukunft 
(S.  6).     Die  Geschichtschreibung  steht  bis  heute  auf  einem  Ni* 


veau .  . .  dessen  man  sich  in  andern  Wissenschaften  geschämt 
hätte  (S.  2i).  Die  heutige  Art  geschichtlichen  Denkens  entspricht 
dem  ptolemäischen  Weltsystem,  „und  ich  betrachte  es  als  die 
kopernikanische  Entdeckung  im  Bereich  der  Historie,  daß 
in  diesem  Buch  ein  neues  System  ...  an  seine  Stelle  tritt"  (S.  24). 
Hier  findet  man  „die  bisher  unbekannte  Methode  der  vergleichen- 
den historischen  Morphologie"  (S.  64).  „In  diesem  Buche  liegt 
der  Versuch  vor,  diese  ,unphilosophische*  Philosophie  der  Zukunft 
—  es  würde  die  letzte  Westeuropas  sein  —  zu  skizzieren"  (S.  65). 
Im  Vorwort  (s.  S.  VIII)  wünscht  er  sich  sogar  (es  war  damals 
der  Höhepunkt  des  siegreichen  Vormarsches  von  LudendorfFs 
Heeren),  daß  sein  Buch  „neben  den  militärischen  Leistungen 
Deutschlands  nicht  ganz  unwürdig  dastehen  möge" ! 

Will  man  wissen,  worin  die  von  Herrn  Spengler 
vollbrachte  Entdeckung  besteht,  was  seine  „ver- 
gleichende morphologische  Geschichte"  bedeutet, 
durch  die  man  dazu  gelangen  soll,  die  Geschichte  „vor- 
auszubestimmen" .?  Man  sollte  es  kaum  glauben :  daß 
die  menschliche  Gesellschaft  sich  in  Kreisläufen  ent- 
wickelt, von  Kultur  zur  Zivilisation  übergehend,  durch 
die  Zersetzung  der  Zivilisation  und  die  Rückkehr 
primitiver  Bedingungen  wieder  zu  neuer  Kultur  zu- 
rückleitend, nur  daß  in  diesem  Kreislauf,  zusammen 
mit  den  politischen  und  sozialen  Formen,  auch  Lite- 
ratur, Kunst,  Wissenschaft  und  jegliche  Sache  sich 
änderten.  Das  heißt,  es  handelt  sich  hier  um  einen  der 
ältesten  Gedanken  der  Menschheit,  um  die  Lehre  von 
den  geschichtlichen  Kreisläufen,  die,  nach  langer 
Durcharbeitung  in  Altertum  und  Renaissance,  dann 
in  Italien,  es  sind  nun  schon  zwei  Jahrhunderte  her, 
einen  philosophischen  Genius  fand,  der  sie  sich  zu 
eigen  machte  und  mit  philosophischen  und  historischen 
Begriffen  von  wunderbarer  Frische  und  Mannigfaltig- 
keit bereicherte ;  derart,  daß  nichts  von  alledem,  was 
Spengler  über  sie  vorbringt  und  das  irgendwie  berück- 

295 


sichtigungswert  ist,  etwas  bedeutet,  das  nicht  schon 
in  der  Scienza  nuova  zu  finden  wäre :  dieser  gehört,  in 
gewissem  Sinn,  selbst  die  Voraussicht  der  Periode  der 
Eroberungen  und  Expansionen  sowie  der  neuen  Bar- 
barei an,  der  die  moderne  bürgerUche  Kultur  entgegen- 
gehen soll. 

Nur  ist  in  den  zwei  Jahrhunderten,  die  von  Vico  bis 
auf  uns  verflossen  sind,  diese  Lehre  erörtert,  kritisiert, 
zum  Teil  verworfen,  zum  andern  bewahrt,  aus  ihrer 
Starrheit  gelöst,  von  Übertreibungen  und  phantastischen 
Inkrustationen  gereinigt,  mit  der  Lehre  vom  Fort- 
schritt wieder  verknüpft  worden,  mithin  verfeinert  und 
im  einzelnen  durchgearbeitet,  gerade  durch  jene  Philo- 
sophen und  Historiker,  die  Herr  Spengler  seine  Ver- 
achtung fühlen  läßt  und  für  die  er,  seinem  Ausspruch 
nach ,  sich  schämt  —  ein  Schamgefühl,  das  der  Leser 
seines  Buches  zu  erwidern  sich  bemüßigt  fühlen 
möchte!  Von  all  dieser  kritischen  Arbeit  weiß  Herr 
Spengler  nichts;  und  wegen  dieser  Unwissenheit  und 
Unbewußtheit  ist  sein  Buch  „unter  aller  Kritik" :  mit- 
hin werde  auch  ich  mir  nicht  die  Mühe  geben,  es  zu 
erörtern  und  zu  widerlegen.  Es  gibt  besseres  zu  tun. 

Wie  wäre  es  auch  zu  erörtern,  wenn  darin  allent- 
halben derselbe  Mangel  an  Methode  zu  finden  ist? 
Herr  Spengler  hat  in  gar  vielen  Gebieten  des  Wissens 
Neues  zu  bieten :  von  der  Mathematik  an,  in  bezug  auf 
die  er  uns  verkündet,  etwas  entdeckt  zu  haben,  „was 
den  Mathematikern  selbst  verborgen  geblieben  ist", 
daß  nämlich  die  Zahl  an  sich  nicht  existiert  und  die 
Zahlen  etwas  Relatives  sind,  je  nach  den  Völkern  und 
den  Formen  der  Zivilisation  (S.  85),  sowie  daß  Kant 
unrecht  gehabt  hat,  die  Kategorien  und  geistigen 
Formen  für  etwas  allen  Menschen  Gemeinsames  zu 

296 


halten  (S.  87).  Der  Abschnitt  über  die  Kunst  beginnt 
mit  einer  Polemik  (auch  diese  dilettantisch  und  ohne 
Zusammenhang  mit  den  Vorstufen  des  Problems)  gegen 
die  Wichtigkeit,  die  der  Einteilung  nach  Einzelkünsten 
beigelegt  wird.  Auch  das  heißt  nur  üblerweise  eine 
Tür  einrennen,  die  schon  von  andern  weit  geöffnet 
worden  ist  —  ebenso  mit  der  Behauptung,  daß  zwischen 
der  Musik,  der  Bildnerei,  der  Mathematik  und  der 
Wissenschaft  eines  Zeitabschnitts  eine  weit  größere 
Verwandtschaft  bestehe  als  zwischen  der  Musik,  Bild- 
nerei usw.  zweier  verschiedener  Zeitabschnitte  —  was 
nur  eine  Halbwahrheit  ist,  da  die  Verbindungen  zwi- 
schen den  verschiedenen  Erscheinungen  einer  Epoche 
solche  der  Kultur  sind,  jedes  Kunstwerk  dagegen  ein 
ästhetisches  Einzelwesen  und  darum  unvergleich- 
bar ist. 

Ich  lasse  das  also  beiseite  und  gehe  zu  den  politischen 
Voraussetzungen  des  Herrn  Spengler  über:  trüb  pessi- 
mistischen Vorraussagen,  bei  denen  es  wegen  der  qual- 
vollen Krisis,  in  die  das  große  deutsche  Volk  eingetreten 
ist— und  die  es,  wie  wir  hoffen,  bald  überwinden  wird— 
zu  befürchten  steht,  daß  sie  leicht  und  allgemein  Zustim- 
mung finden,Torheiten,  Schwächezustände,  geistige  und 
sittliche  Schäden  erzeugen  werden,  gleich  jenen,  die  die 
Aufstellungen  des  Herrn  Chamberlain  und  Genossen 
zur  Zeit  des  Alldeutschtums  und  der  Vorbereitung 
zum  Kriege  hervorgebracht  haben. 

Herr  Spengler  behauptet,  gestützt  auf  seine  philo- 
sophischen und  geschichtlichen  Untersuchungen,  daß 
die  Periode  von  1900  bis  2000  derjenigen  der  Hyksos 
in  Ägypten,  dem  Hellenismus  und  der  Herrschaft  der 
Diadochen  sowie  der  römischen  Zeit  von  Scipio  bis 
auf  Marius  entsprechen  und  daß  sie  durch  Imperialis- 

-       297 


mus  und  Sozialismus  zusammen  gekennzeichnet  sein 
werde.  Die  folgende,  von  2000  bis  2200,  soll  der  18. 
ägyptischen  Dynastie,  ferner  der  Zeit  von  Sulla  bis 
auf  Domitian  entsprechen  und  gekennzeichnet  werden 
durch  den  Cäsarismus,  die  immer  mehr  anwachsende 
Naturalisierung  der  politischen  Formen,  den  Verfall 
der  nationalen  Körper,  die  zu  gestaltlosen  internatio- 
nalen Menschenhaufen  herabsinken  werden,  und  deren 
Aufsaugung  in  einem  Imperium  urtümlich  -  despo- 
tischer Art.  Nach  2200  wird  in  Europa  allenthalben 
Ägyptertum,  Mandarinen-  und  Byzantinerwesen 
herrschen.  Der  imperialistische  Mechanismus  wird  er- 
starren und  seinerseits  in  Verfall  geraten,  alles  zur 
Beute  junger  Völker  und  fremder  Eroberer,  werden; 
allmählich  werden  wieder  vorgeschichtliche  Zustände 
eintreten,  man  wird  in  die  Wälder  zurückkehren, 
Wälder,  die,  wie  es  den  Anschein  hat,  nur  sehr  spär- 
liche Bäume  aufweisen  werden. 

Müßte  ich  als  der  Neapolitaner,  der  ich  bin,  auf  diese 
Voraussagen  antworten,  so  würde  ich  mich  darauf  be- 
schränken, die  herkömmlichen  Beschwörungsgebärden 
zu  machen.  Damit  aber  der  aristokratische  Denker 
Herr  Spengler  mich  nicht  als  „Provinzler"  verurteile 
(so  nennt  er  verächtlich  die  übrigen  Historiker),  so 
will  ich  ihm  als  Philosoph,  das  heißt  mit  vieler  Ein- 
fachheit antworten.  Alles  kann  sich  in  der  Welt  er- 
eignen, auch  daß  nach  2200  unsere  Urenkel  in  die 
Wälder  unserer  fernen  Ahnen  zurückkehren  werden. 
Allein  dies  als  eine  gesicherte  Tatsache  auf  Grund  von 
„Analogien"  zu  behaupten  (wären  sie  auch  mit  dem 
Wissen,  dem  Unterscheidungsvermögen,  der  Gewissen- 
haftigkeit vorgebracht,  über  die  sämtlich  Herr  Spengler 
nicht  verfügt),  heißt  törichtes  Zeug  reden,  das  keine 

298 


andere  Wirkung  hervorbringt  als  die  allen  Torheiten 
eigene,  die  Geister  in  Verwirrung  zu  setzen  und  die  Ge- 
müter niederzudrücken.  Von  dem,  was  sich  ereignen 
wird,  wissen  wir  gar  nichts ;  aber  wir  wissen,  unterdessen, 
sehr  wohl,  daß  wir  nicht  in  die  Wälder  zurückkehren 
wollen,  auch  nicht  einmal  zu  ihrem  Vorspiel,  dem 
Mandarinen-  und  Byzantinertum ,  und  ebensowenig 
zu  dessen  Vorläufer,  dem  Despotismus,  der  angeblich 
die  einzige  Herrschaftsform  über  die  gestaltlosen  Massen 
sein  soll.  Der  Mensch  ist  Geistigkeit,  darum  Schöpfer- 
tum und  trägt  in  sich  unendliche  Kräfte,  die  es  ihm 
ermöglichen,  allen  Lagen  die  Stirn  zu  bieten,  sie  zu 
überwinden  und  umzugestalten,  so  schwierig  oder  ver- 
zweifelt sie  auch  zu  sein  scheinen.  Herr  Spengler  rät, 
uns  dem  Imperialismus-Sozialismus,  dann  dem  Despo- 
tismus und  so  weiter  anzubequemen,  da  wir  uns  längst 
im  Greisenalter  Europas  befinden,  und  der  Greis  leben 
muß,  wie  es  dem  Greise  geziemt.  Allein  nicht  einmal 
der  Greis  hört,  in  Sachen  des  Geistes,  auf  diese  feigen 
Ratschläge,  sondern  fährt  fort  zu  denken  und  zu 
schaffen,  bis  zum  letzten  Hauche;  und  so  geschieht  es 
zuweilen,  daß  er,  wie  Kant  die  Kritik  der  Urteilskraft 
mit  fünfundsechzig  Jahren  schreibt,  oder,  wie  Goethe 
den  zweiten  Teil  des  Faust  mit  achtzig,  oder,  wie  Leo- 
pold Ranke,  die  Weltgeschichte  mit  neunzig ;  oder  daß 
er,  wie  Blücher ,  mit  siebzig  Jahren ,  Napoleon  bei 
Waterloo  besiegt.  Und  nun  erwäge  man,  ob  die  mensch- 
lichen Gesellschaften  ihnen  Gehör  schenken  sollen, 
sie,  deren  Jugend  und  Alter  bloß  metaphorisch  sind! 
Wie  man  sieht,  habe  ich  aus  Höflichkeit  bloß  Bei- 
spiele hervorragender  Deutscher  angeführt.  Ich  füge 
noch  hinzu,  daß  die  Vorläufer  des  Herrn  Spengler, 
nicht  in  ihren  Thesen  (etwas,  das  wenig  besagt),  son- 

299 


dem  in  der  Methode  (was  viel  mehr  sagen  will) ,  die 
Chamberlain  und  andere  desselben  Schlages,  ganz  ähn- 
liche Diagnosen  über  uns  Italiener  gestellt  und  uns  ge- 
raten haben,  nach  Greisenart  zu  leben  und  uns  dem 
germanischen  Eroberer-  und  Triumphatorentum  zu 
unterwerfen.  Allein  die  angeblichen  Greise  haben  sich 
in  vier  harten  Kriegsjahren  nicht  mehr  und  nicht 
weniger  jung  als  alle  andern  Völker  erwiesen ;  daher  die 
Verwunderung  über  die  „unerwartete  Widerstands- 
kraft der  Italiener",  die  in  deutschen  Zeitungen  und 
Büchern  ihren  Ausdruck  fand.  Denn  was  hatten  jene 
Schriftsteller  vergessen.?  Daß  der  Mensch  nicht  ein 
Naturwesen,  sondern  ein  Geisteswesen  ist,  und  daß  auch 
die  Italiener  Menschen  sind,  allem  Elend  unterworfen, 
aber  auch  fähig  zu  jeder  menschlichen  Größe.  Und 
Herr  Spengler  vergißt  seinerseits,  daß  die  „Europäer" 
(über  die  er  jetzt  den  Stab  bricht)  ebenso  Menschen 
sind,  und  daß  sie  darum  denjenigen  sehr  viele  „Über- 
raschungen" bereiten,  die  mechanisch  denken  wie  er. 

ÜBER  DIE  ZOOLOGISCHE  STATION  VON 
NEAPEL  (Senatsrede,  gehalten  am  g.  Dezember  ig2o 
vom  JJnterrichtsminister  Croce). 

Meine  Herren  Senatoren!  Die  langen  Erörterungen 
von  gestern  und  heute  haben  Sie  genügend  über  den 
Ursprung  und  die  Schicksale  der  Zoologischen  Station 
in  Neapel  aufgeklärt.  Ich  will  Sie  nicht  damit  ermüden, 
nochmals  diese  Geschichte  vor  Ihnen  zu  entwickeln, 
obwohl  ich  dies  für  einige  ihrer  Teile  mit  größerer  Ge- 
nauigkeit und  mit  passenderen  Farben  zu  tun  vermöchte. 
Ich  wünsche  bloß,  daß  man  sich  über  das  Wesen  der 
Zoologischen  Station  wohl  im  klaren  sei,  die  nicht  eine 
wissenschaftliche  Einrichtung  im  Sinne  einer  Universi- 

300 


tätsfakultät  oder  einer  Akademie  ist.  Sie  ist  vielmehr  — 
um  mich  so  auszudrücken  —  eine  große  Herberge  für 
Fachleute,  die  aus  allen  Teilen  der  Welt  zu  ihr  kom- 
men, hier  Arbeitstische,  eine  reiche  Fachbücherei,  alle 
Arten  von  Hilfsmitteln  zur  Erforschung  der  Tierw^elt 
des  Meeres  vorfinden,  und  vor  sich  die  Bucht  von 
Neapel,  das  Mittelmeer  haben,  das  ihnen  alles  Erforder- 
liche in  reichem  Maße  liefert.  Allein  jeder  arbeitet  hier 
auf  seine  Rechnung,  seinen  eigenen  Zwecken  gemäß, 
mit  der  größten  Freiheit. 

Den  Gedanken  dieses  Instituts  hat  der  Embryologe 
Anton  Dohrn  aus  Stettin  gefaßt,  hierhergeführt  durch 
seine  Forschungen  über  die  Vorgeschichte  der  Wirbel- 
tiere; sie  machten  ihm  den  großen  Nutzen  deutlich, 
der  sich  daraus  ergibt,  wenn  die  Gelehrten  sich  an 
einem  geeigneten  Orte  zusammenfinden  und  ihnen  die 
zur  Erforschung  der  Seetiere  nötigen  Behelfe  geliefert 
werden  können.  Allein  wie  alle,  die  einen  neuen  und 
nützlichen  Gedanken  haben,  mußte  er,  in  Berlin  nicht 
minder  als  in  Neapel,  viele  Kämpfe  bestehen  und  sehr 
viele  Hemmnisse  überwinden;  in  Berlin,  wo  das  preu- 
ßische Kultusministerium  ihm  zunächst  die  bescheidene 
Beihilfe,  die  er  verlangte,  abschlug  und  die  preußische 
Akademie  ein  ungünstiges  Gutachten  über  seinen  Plan 
abgab,  in  Neapel,  wo  er  Mißtrauen  und  Eifersucht  er- 
weckte, die  dann  in  ungeahnter  Weise  aufhörten,  als 
das  Haupt  der  Mehrheit  in  der  damaligen  Gemeinde- 
verwaltung, Baron  Savarese,  nachdem  er  eine  Schrift 
Dohrns  gelesen,  die  Bedeutsamkeit  des  Planes  er- 
faßte, den  Verfasser  kennen  zu  lernen  wünschte,  mit 
ihm  eine  dreistündige  Unterredung  hatte  und  dann  die 
von  Dohrn  verlangte  Konzession  im  Gemeinderat  vor- 
schlug und  siegreich  zur  Annahme  brachte.  Es  ist  Ihnen 

301 


schon  mitgeteilt  worden  und  beruht  auch  durchaus  auf 
Wahrheit,  daß  Dphrn  sein  ganzes  Vermögen,  ja  selbst 
die  Mitgift  seiner  Frau  an  dieses  Werk  gesetzt  hat; 
allein  er  hatte  die  Genugtuung,  seine  Schöpfung  rasch 
gedeihen  und  zu  großem  Ruf,  zu  Weltruf  gelangen  zu 
sehen  und  der  Wissenschaft  unermeßliche  Dienste  zu 
erweisen.  Der  ehrenwerte  Senator  Volterra  hat  in 
Dohrns  Taschen  nachgeforscht,  um  darzutun,  daß  er 
sein  Kapital  zurückerlangt  und  vielleicht  auch  dessen 
Zinsengenuß  erreicht  hat.  Ich  bin  nicht  imstande,  das 
nachzuprüfen  und  möchte  nur  nachdrücklich  der  Hoff- 
nung Ausdruck  geben,  daß  Dohrn  auf  seine  Kosten 
gekommen  ist  und  daraus  Vorteil  ziehen  konnte.  Es 
wäre  das  nur  der  gerechte  Lohn  für  sein  Werk  und  seine 
Mühen  gewesen  {Sehr  gut).  Sicherlich  fand  er  aber 
noch  einen  schöneren  Lohn  in  der  Achtung  und  Liebe, 
die  ihm  stets  in  Neapel  zuteil  geworden  ist,  das  ihn 
auch  anläßlich  der  fünfundzwanzig] ährigen  Jubelfeier 
der  Zoologischen  Station  zum  Ehrenbürger  ernannt  hat. 
Als  er  starb,  faßten  Freunde  und  Bewunderer  den  Plan, 
ihm  einen  marmornen  Denkstein  zu  errichten,  und  ich, 
der  ich  auf  ganz  andern  Forschungsgebieten  tätig  bin, 
wurde  damals  eingeladen,  der  Kunstkommission  bei- 
zutreten, die  über  das  Werk  des  Bildhauers  zu  urteilen 
hatte. 

Es  ist  Ihnen  auch  gesagt  worden,  welcher  Art  der  von 
Dohrn  mit  der  Stadtverwaltung  von  Neapel  geschlossene 
Vertrag  war.  Diese  trat  den  Grund  ab  zur  Errichtung 
und  zum  Betrieb  der  Zoologischen  Station,  und  nach 
einer  zunächst  auf  dreißig,  dann  (wegen  der  großen 
Erweiterung  des  Bauwerks)  auf  neunzig  Jahre  fest- 
gesetzten Frist  sollte  die  Gemeinde  Neapel  vollkommen 
und  ausschließlich  Besitzerin  der  Station  und  aller  ihrer 

302 


zugehörigen  Bestandteile  werden.  Die  Verlängerung 
von  einem  Zeitraum  von  dreißig  auf  einen  von  neunzig 
Jahren  ist  als  etwas  Ungeheuerliches  erschienen;  allein 
ich  glaube,  daß  die  Gemeinde  Neapel  damit  sehr  klug 
für  das  Gedeihen  der  Station  vorgesorgt  hat:  denn  wäre 
sie  Eigentümerin  geworden,  was  hätte  sie  Besseres  tun 
können,  als  einen  andern  Konzessionär  als  Fortsetzer 
und  Erben  der  Dohrnschen  Überlieferung  zu  suchen? 
Sie  auf  eigne  Rechnung  zu  führen,  daran  wird  sie  wohl 
niemals  auch  nur  für  einen  Augenblick  denken. 

Noch  ein  anderes  Mißverständnis  muß  ich  zerstreuen : 
daß  nämlich  die  Station  in  ihrer  Verwaltung  vom  preu- 
ßischen Staate  abhinge  und  daß  sie  ihre  Rechnungen 
nicht  dem  italienischen,  sondern  dem  preußischen  Staate 
ablege. 

Nun  hat  Preußen  und,  wie  man  hört,  der  deutsche 
Kaiser  aus  seiner  Privatschatulle  die  Station  mit  reich- 
lichen Zuwendungen  bedacht;  es  ist  bei  der  Ordnung, 
mit  der  die  Deutschen  alle  ihre  Geschäfte  abwickeln, 
natürlich,  daß  Abrechnungen  verlangt  und  überprüft 
worden  sind.  Allein  Italien,  das,  wie  andere  Staaten, 
einige  Arbeitstische  bezahlte,  hatte,  nachdem  es  diese 
zum  Nutzen  seiner  Studierenden  erhalten  hatte,  keinen 
vernünftigen  Anlaß,  sich  weiter  um  die  Geldgebarung 
der  Station  zu  kümmern,  die  auf  Gefahr  und  Kosten 
des  Konzessionärs  ging. 

Als  Anton  Dohrn  im  Jahre  1909  gestorben  war, 
folgte  ihm  in  der  Konzession  und  der  Leitung  der  Zoo- 
logischen Station  sein  Sohn,  Dr.  Reinhold  Dohrn,  über 
den  ich  von  einigen  Rednern  nicht  sehr  günstige,  oder 
besser  nicht  sehr  sympathische  Urteile  gehört  habe. 
Jedoch  ein  anderer  Redner  hat  Ihnen  schon  in  Erinne- 
rung gebracht,  wie  sehr  anders  der  junge  Dohrn  vor 

303 


dem  Kriege  beurteilt,  wie  hoch  und  überschwenglich 
er  von  dem  nämlichen  italienischen  Professor,  jetzt 
Direktionsleiter  der  Zoologischen  Station,  begrüßt 
worden  ist,  dem  Haupturheber  der  ganzen  Treiberei, 
die  ihren  Widerhall  hier  im  Senat  gefunden  hat.  Ich, 
der  ich,  wie  gesagt,  andere  Studien  betreibe,  bin  nicht 
in  der  Lage,  über  die  größere  oder  geringere  wissen- 
schaftliche Fähigkeit  des  Dr.  Dohrn  zu  urteilen ;  allein 
ich  muß  in  jedem  Fall  Ihre  Aufmerksamkeit  auf  das 
lenken,  was  ich  über  das  Wesen  der  Zoologischen  Station 
vorgebracht  habe,  die  an  ihrer  Spitze  nicht  einen  Meister 
der  Wissenschaft  braucht,  einen  Entdecker  oder  Erfinder, 
ein  Genie,  sondern  einen  praktischen  Organisator.  Und 
Dr.  Reinhold  Dohrn  ist  ein  redlicher  und  fleißiger 
Mann,  der  für  das  von  seinem  Vater  begründete  In- 
stitut volle  Hingabe  zeigt,  dessen  Überlieferungen  kennt 
und  dadurch  Titel  besitzt,  um  es  lebenstüchtig  und  ge- 
deihensvoll zu  machen,  die  man  bei  andern  schwerlich 
in  dieser  Art  beisammenfinden  würde.  Nun  ist  er  auf 
seiner  Rundfahrt  durch  das  Ausland  (um  Unterstützung 
für  die  Station  zu  finden,  von  der  er  hofft,  daß  sie  ihm 
wieder  übertragen  werde)  von  schwerer  Krankheit  be- 
fallen worden;  Sie  werden  mir  erlauben,  daß  ich  ihm, 
wenigstens  für  meine  Person,  in  diesem  Augenblick, 
wo  über  einen  Abwesenden  und  Kranken  gesprochen 
wird,  den  herzlichsten  Wunsch  baldiger  Wiederher- 
stellung ausdrücke. 

Es  ist  auch  behauptet  worden,  daß  die  Zoologische 
Station  in  den  Jahren  vor  dem  Kriege  einen  gewissen, 
ausgesprochen  deutschen  Charakter  angenommen  habe, 
namentlich  weil  nach  dem  Tode  Prof.  Lobiancos,  des 
Mitarbeiters  Dohrns,  dieser  durch  deutsche  Gelehrte 
ersetzt  worden  sei.  Das  mag  richtig  sein  oder  nicht; 

304 


sicherlich  aber  muß  das  Übel  nicht  grofB  gewesen  sein, 
da  damals  nicht  die  leiseste  Klage  oder  Widerrede  er- 
hoben worden  ist.  Die  Klagen  und  Widerreden  sind 
sozusagen  posthum:  posthum  nach  dem  Kriege. 

Denn  durch  den  Krieg  und  allein  durch  den  Weltkrieg, 
der  sicherlich  nicht  durch  Dohrns  oder  anderer  Einzel- 
wesen Schuld  entbrannte,  sondern  durch  ein  historisches 
Verhängnis,  wurde  die  Krisis  der  Zoologischen  Station 
hervorgerufen.  Es  ist  nicht  richtig,  daß  Dr.  Reinhold 
Dohrn,  wie  der  Senator  Arlotta  gesagt  hat,  19 14  aus 
»Italien  geflüchtet  wäre  und  die  Station  ihrem  Schicksal 
überlassen  hätte.  Dr.  Dohrn  verließ  Italien  im  Mai  1 9 1 5, 
als  dieses  in  den  Krieg  eintrat;  er  verließ  es  auf  Anraten 
des  deutschen  Konsuls  und  ließ  gar  nichts  im  Stiche, 
sondern  übergab,  in  vollkommener  Korrektheit,  seine 
Vollmacht  für  die  Weiterführung  der  Zoologischen  Sta- 
tion einem  Italiener,  Prof.  Federigo  RafFaele,  dem  Ver- 
treter der  Zoologie  an  der  Universität  Rom,  der  seiner- 
seits den  italienischen  Unterrichtsminister  davon  sofort 
in  Kenntnis  gesetzt  hat. 

Wie  Ihnen  dargelegt  worden  ist,  beschloß  die  ita- 
lienische Regierung  im  selben  Jahr  1 9 1 5  die  Einsetzung 
einer  Kommission  für  die  zeitweilige,  außerordentliche 
Leitung  der  Station.  Der  Bevollmächtigte  Prof.  Raffaele 
glaubte  sich  in  seiner  Eigenschaft  als  italienischer  Bürger 
und  Hochschullehrer  nicht  befugt,  dem  entgegenzu- 
treten und  beschränkte  sich  darauf,  einen  Einspruch 
zugunsten  der  Wahrung  von  Dohrns  Rechten  nieder- 
zulegen. Ich  gedenke  nicht,  die  Ersprießlichkeit  der 
damals  von  der  italienischen  Regierung  getroffenen  Ver- 
fügung zu  untersuchen;  diese  übernahm  ja  im  Grunde 
ein  nichf  ihr  gehöriges  Institut,  das  während  des  Krieges 
und  des  Auf  hörens  der  internationalen  Beziehungen  ganz 


30    Croce,  Randbemerkungen  eines  Philosophen 


305 


gut  in  einem  zeitweiligen  Stillstand  verharren  konnte, 
und  bestritt  die  Kosten  dafür  aus  dem  eigenen  Säckel. 
Sei  dem  nun  wie  immer,  die  italienische  Kommission 
zur  Führung  der  Geschäfte  gefährdete  in  nichts  das  Ge- 
schick des  Instituts  und  entstellte  nicht  seinen  Charakter. 

Dies  geschah  aber  durch  die  Notverordnung  vom 
26.  Mai  191 8;  es  ist  die  vor  kurzem  durch  die  Regie- 
rung aufgehobene,  die  wir  eben  erörtern :  eine  Verord- 
nung, die  ich  nicht  von  ihrer  formalen  juridischen  Seite 
her  untersuchen  will;  einigen  rechtskundigen  Rednern, 
die  zu  dieser  Interpellation  das  Wort  ergriffen  haben,j^ 
ist  sie  als  eine  juridische  Ungeheuerlichkeit  erschienen. 
Ich  möchte  mir  nur  die  Bemerkung  erlauben,  daß  durch 
diese  Verordnung  nicht  bloß  Dr.  Dohrn  der  Gerecht- 
same, die  ihm  nach  dem  mit  der  Gemeinde  Neapel  ge- 
schlossenen Vertrag  zustanden,  verlustig  ging,  sondern 
auch  diese  Gemeinde  selbst  ihr  Eigentum  nur  mehr 
dem  Namen  nach  und  in  widerspruchsvoller  Weise 
besaß,  da  hierdurch  aus  der  Zoologischen  Station  ein 
autonomes  Gebilde  mit  unbegrenzter  Dauer  gemacht 
wurde,  während  die  Konzession  der  Gemeinde  Neapel 
auf  eine  Dauer  von  90  Jahren  festgelegt  war,  so  daß 
ihr  Übergang  in  das  unbedingte  und  tatsächhche  Eigen- 
tum der  Gemeinde  Neapel  auf  den  Nimmermehrstag 
verschoben  wurde. 

Ich  muß  aber  daran  erinnern,  daß  jene  Notverord- 
nung noch  nicht  Gesetz  geworden  war ;  so  daß  es  mir, 
als  dem  neuen  Unterrichtsminister,  oblag,  sie  zur 
Annahme  vorzulegen  und  die  Erörterung  darüber 
einzuleiten ;  was  so  viel  heißt,  daß  ich  in  gewisser  Hin- 
sicht die  Verantwortlichkeit  dafür  übernahm.  Es  ent- 
sprang also  durchaus  nicht  einer  bloßen  Laune*  von  mir, 
wenn  ich  auf  das,  was  geschehen  war,  zurückkam. 

306 


Noch  eine  andere  Erklärung  bin  ich  bemüßigt  vor- 
auszuschicken;  sie  betrifft  meinen  Ruf  als  „Deutschen- 
freund" (um  das  im  Kriege  geprägte  Wort  zu  ge- 
brauchen) :  Deutschenfreund  durch  meine  literarischen 
und  philosophischen  Forschungen  und  durch  die 
Wertschätzung,  die  ich  stets  für  die  von  Deutschland  der 
Wissenschaft  geleisteten  Dienste  bezeugt  habe.  In  der 
schwebenden  Erörterung  hat  man  auch  auf  das  Archäo- 
logische Institut  angespielt,  dessen  Rückstellung  an 
das  Deutsche  Reich  ich  beantragt  habe.  Jawohl,  das 
habe  ich  beantragt,  weil  ich  glaubte  —  und  ich  habe 
das  lange  vorher  an  den  damaligen  Minister  Nitti 
geschrieben,  ehe  ich  ahnen  konnte,  daß  ich  einmal 
selbst  Minister  würde  — ,  es  mache  durchaus  keinen 
schönen  Eindruck,  wenn  man  sich  einer  Sache  be- 
mächtige, die  der  geistigen  Arbeit  anderer  entsprossen 
war,  und  es  ginge  nicht  an,  zwischen  den  italienischen 
und  den  deutschen  Forschern,  welch  letztere  sehr  viel 
auf  ihre  archäologische  Bibliothek  halten,  und  deren 
Rückstellung  in  Kundgebungen  von  Privatleuten  und 
Vereinigungen  wie  auf  diplomatischem  Wege  ver- 
langten, Haß  und  Zwietracht  zu  säen.  Was  die  Zoolo- 
gische Station  betrifft,  so  machten  sich  jedoch  derlei 
Bemühungen  nicht  geltend,  da  auch  die  Deutschen 
sehr  wohl  wußten,  es  handle  sich  um  eine  private  Ein- 
richtung internationalen  Charakters.  Demnach  kommt 
das  Verdienst  oder  die  Schuld  für  das,  was  ich  vorge- 
schlagen und  durchgesetzt  habe,  mir  allein  zu,  und  ich 
wurde  dazu  einzig  und  allein  durch  das  Interesse  der 
italienischen  Verwaltung  bewogen. 

Als  ich  mich  mithin,  wie  es  meine  Pflicht  war,  daran 
machte,  die  Frage  der  Zoologischen  Station  zu  unter- 
suchen, fand  ich  mich  folgender  Sachlage  gegenüber. 

80*  'JQJ 


Vor  allem  ergab  sich  eine  schwierige  finanzielle 
Lage,  da  ich  sah,  daß  Dohrn  der  Weg  zu  einer  Klage 
auf  Schadloshaltung  offen  stand  und  ich  nicht  voraus- 
sehen konnte,  bis  zu  welcher  Höhe  sich  diese  erstecken 
würde :  gewiß  auf  einen  sehr  hohen  Betrag,  wenn  es 
auf  Richtigkeit  beruht,  was  meine  Gegenredner  an- 
führen, daß  Dohrn  aus  dem  mit  der  Gemeinde  Neapel 
geschlossenen  Vertrag  reichlichen  Nutzen  gezogen  hat. 
Underdessen  hatte  der  italienische  Staat  für  die  Zoolo- 
gische Station  275000  Lire  außerordentlicher  Zu- 
schüsse verausgabt  und  mit  den  andern  Kosten,  nach 
den  Berechnungen  des  Senators  Volterra,  ungefähr 
eine  halbe  Million.  Nicht  genug  daran :  der  Leiter  der 
Station  kam  zu  mir,  um  für  das  laufende  Jahr  einen 
neuen  außerordentlichen  Zuschuß,  ich  glaube  von 
50  000  Lire,  zu  verlangen;  er  deutete  verhüllt  auf  For- 
derungen der  Beamten  um  Gehaltserhöhung  hin.  Auch 
damit  war  es  noch  nicht  getan :  eine  Kommission  (der 
auch  der  Senator  Volterra  angehörte)  verlangte  vom 
Staate  zur  endgültigen  Neuordnung  der  Zoologischen 
Station  einen  festen  Jahresbeitrag  von  400000  Lire. 

Meine  Herren  Senatoren,  ich  habe  die  Mahnung, 
die  aus  dem  Schöße  des  Senats  ergangen  ist,  alle  Er- 
sparnisse, die  möglich,  zu  machen,  ernst  genommen: 
das  hat  mir  etliche  Verstimmungen  eingetragen  und  tut 
es  noch,  was  ich  in  Geduld  trage  (Sehr  gut!).  Allein, 
hier  handelt  es  sich  nicht  um  Ersparnisse,  sondern  um 
eine  viel  einfachere  Frage,  die  ich  als  Verwalter  stellen 
mußte:  Weshalb  sollte  der  itaHenische  Staat,  der  vor 
dem  Kriege  nichts  für  die  Zoologische  Station  (außer 
der  Bezahlung  für  die  Arbeitstische)  ausgegeben  hat, 
sich  in  dieses  Meer  von  finanziellen  Verantwortlich- 
keiten und  Ausgaben  stürzen? 

308 


Noch  schlimmer  war  es  um  die  Disziplinarlage  der 
Station  bestellt.  Die  zwei  italienischen  Professoren,  die 
an  ihrer  Spitze  stehen,  waren  schon  untereinander  in 
Streit  geraten ;  der  eine  setzte  den  andern  herab,  selbst 
im  Auslande,  indem  er  alles  mögliche  Unheil  für  die 
Station  vorhersagte.  Der  also  angegriffene  Leiter  be- 
kämpfte, wie  es  sich  von  selbst  versteht,  den  andern 
und  war  überdies  noch  mißtrauisch  gegen  den  Senator 
Volterra  und  den  Ausschuß  für  Meereskunde,  da  er 
sie  beschuldigte,  die  Zoologische  Station  in  Neapel  auf- 
saugen, sich  ihrer  Bibliothek  bemächtigen  zu  wollen 
und  ähnliches.  Er  selbst  hat  mir  davon  Mitteilung  ge- 
macht; übrigens  besteht  ein  schriftlich  niedergelegtes 
Zeugnis  dieses  Zwistes,  da  Jenaer  Leiter  sich  weigerte, 
mit  den  andern  Beauftragten  den  letzten,  schon  früher 
erwähnten  Bericht  über  die  Neuordnung  der  Station 
zu  unterschreiben.  Was  wäre  mir  nun  zu  tun  übrig 
geblieben?  Alle  wegzuschicken  und  einen  neuen 
Leiter  zu  wählen.  Aber  die  Notwendigkeit  dieser  all- 
gemeinen Entlassung  war  keine  leichte  Sache,  ebenso- 
wenig, eine  geeignete  Persönlichkeit  zu  finden. 

Tatsächlich  rief  auch  diese  Personenfrage  einen  an- 
dern wohlbegründeten  Zweifel  in  mir  wach,  ob  man 
nicht  sehr  übel  daran  täte,  das  Daseinsgesetz  dieses  In- 
stituts, als  auf  privatem  Unternehmungsgeist  ruhend,  zu 
ändern.  Es  ist  bekannt,  daß  es  stets  sehr  gefährlich  ist,  die 
staatliche  Organisation  an  Stelle  dessen  durchzuführen, 
was  von  Einzelwesen  geschaffen  und  verwaltet  worden 
ist,  die  ihre  Begeisterung  und  ihren  Vorteil  an  die 
Sache  setzen  [Sehr  gut!).  Die  drei  auf  dem  Wege  des 
Wettbewerbes  ernannten  Leiter  mit  den  drei  zuge- 
hörigen Kanzleien  und  Instituten,  die  die  Kommission 
für  die  Neuordnung  vorschlug,  machten  mir  Angst. 

309 


Das  einzige  Heil  schien  mir  darin  zu  liegen,  einen 
neuen  Konzessionär  zu  suchen. 

Mußte  man  aber  auf  einen  Unternehmer  oder  Kon- 
zessionär zurückgreifen,  wozu  dann  den  frühern  ver- 
schmähen? Weshalb  nicht  die  Gelegenheit  ergreifen, 
einerseits  die  Streitigkeit  mit  Dohrn  beizulegen  —  sie 
war  schon  durch  eine  Berufung  an  den  Staatsrat  und 
einen  an  den  Minister  des  Äußern  gerichteten  Ein- 
spruch eingeleitet  — ,  anderseits  ein  internationales  Frie- 
denswerk zu  vollbringen,  durch  die  Beseitigung  eines 
aus  der  Psychologie  oder  vielmehr  der  Psychose  des 
Krieges  heraus  entstandenen  Erlasses? 

Ich  erinnerte  mich  damals,  vom  Ministerium  des 
Äußern  ein  paar  Monate  vorher  ein  zu  einem  frühern 
Zeitpunkte  eingebrachtes  Gesuch  Dr.  Reinhold  Dohrns 
erhalten  zu  haben,  in  dem  dieser  den  Wunsch  aus- 
drückte, noch  an  dem  von  seinem  Vater  geschaffenen 
Werke  irgendwie  mitarbeiten  zu  können:  eine  sehr 
bescheidene  Forderung,  die  mich  rührte,  die  ich  aber 
nicht  entgegennehmen  zu  können  glaubte,  da  ja  ein 
autonomer  Körper  gebildet  worden  war.  Ich  ließ  da- 
mals Dohrn  rufen  und  fragte  ihn,  ob  er  gegebenen- 
falls geneigt  wäre,  den  Betrieb  der  Zoologischen  Station 
unter  den  Bedingungen  des  Vertrages,  den  sein  Vater 
mit  der  Gemeinde  Neapel  geschlossen  hatte,  wieder 
zu  übernehmen.  Dohrn  zögerte  etwas,  da  ihm  nach 
allem  dem  Vorgefallenen,  nach  der  Verwirrung,  die 
der  Krieg  in  seinen  privaten  Beziehungen  und  seinen 
Interessen  hervorgebracht  hatte,  die  Bürde  nicht  leicht 
erschien;  endlich  aber  stimmte  er  zu,  bewogen  von 
seiner  Liebe  zur  Sache.  Ich  fügte  damals  hinzu,  daß 
es  eine  notwendige  Vorbedingung  sei,  wenn  ich  diesen 
Plan  in  Erwähnung  ziehen  und  dem  Ministerrat  vor- 

310 


legen  sollte,  daß  Dohrn  dem  Ministerium  des  ÄufBern 
eine  ausführliche  und  vollständige  Verzichtserklärung 
auf  alle  seine  Rechte  und  Forderungen  gegenüber  dem 
italienischen  Staat  für  alles,  was  seit  19 15  vorgefallen 
war,  überreiche.  Nach  einigen  Wochen  übersandte 
mir  das  Ministerium  des  Äußern  Dohrns  Erklärung; 
ich  bereitete  die  Aufhebung  der  Notverordnung  vom 
26.  Mai  191 8  vor  und  brachte  sie  vor  den  Minister- 
rat, der  sie  guthieß. 

In  dieser  meiner  Entschließung  liegt  gar  nichts  Ge- 
heimnisvolles. Bevor  ich  sie  faßte,  benachrichtigte  ich 
zwischen  Juli  und  August  den  Leiter  der  Zoologischen 
Station,  der,  abgesehen  von  den  gegenwärtigen  Un- 
stimmigkeiten, ein  alter  Freund  und  Schulgenosse  von 
mir  ist,  und  besprach  die  Sache  durch  zwei  volle 
Stunden  mit  ihm;  er  kam  meinen  Gründen  gegen- 
über zu  dem  Schlüsse,  daß  „meine  Logik  keinen  Sprung 
aufweise",  daß  er  aber  beauftragt  sei,  den  italienischen 
Charakter  der  Station  zu  wahren ;  worauf  ich  entgeg- 
nete, es  sei  mir  weit  wichtiger,  daß  er  die  zwingende 
Logik  meiner  Gründe  anerkenne  und  daß  ich  ihm 
volle  Freiheit  ließe,  gegen  mich  aufzutreten.  Ich  sehe, 
daß  er  von  dieser  ihm  gegebenen  Erlaubnis  reichlichen 
Gebrauch  gemacht  hat,  da  sie  mir  unzählige  Proteste 
aus  Italien  und  dem  Ausland  zugezogen,  Anfragen 
und  Interpellationen  in  der  Kammer,  sowie  zwei  Tage 
der  Erörterung  im  Senat  eingetragen  hat  (Gelächter). 
Ich  unterrichtete  auch  den  Senator  Volterra  davon,  der 
mich,  ich  glaube  im  August,  aufsuchte,  um  zu  fragen, 
was  an  dem  Gerücht  auf  Wahrheit  beruhe,  ich  beab- 
sichtigte die  Zoologische  Station  wieder  in  ihr  Verhältnis 
vor  dem  Kriege  einzusetzen.  Und  da  man  ein  großes 
Wesen    aus    der  Tagesordnung    einer  Versammlung 


deutscher  Naturforscher  im  vergangenen  September 
gemacht  hat,  so  will  ich  sagen,  daß  mir  diese  Tages- 
ordnung niemals  mitgeteilt  worden  ist,  und  daß  ich 
ebenso  wie  der  Senator  Volterra  von  ihr  bloß  aus  den  ita- 
lienischen Tageszeitungen  weiß.  Ich  nehme  an,  daß 
Dohrn,  der  sich  nach  Deutschland  begab,  um  die 
Fäden  seiner  Arbeit  wieder  aufzunehmen,  etwas  über 
die  geneigten  Absichten  der  italienischen  Regierung 
hat  verlauten  lassen,  und  jene  Naturforscher  auf  die 
Kunde  davon  sich  bewogen  gefühlt  haben,  Italien  für 
seine  Großmut  und  Gerechtigkeitsliebe  zu  danken. 
Es  liegt  also  nichts  darin,  was  uns  Unehre  machen 
könnte. 

Senator  Volterra  hat  an  der  Schlußformel  Anstoß 
genommen,  die  den  Charakter  der  unmittelbaren  Aus- 
führung des  Auf  hebungsdekretes  betrifft.  Allein,  das 
ist  die  ständige  Formel  aller  Notverordnungen,  sowohl 
derjenigen,  die  die  autonome  Körperschaft  einsetzt, 
wie  der  meinigen,  die  sie  aufhebt. 

Senator  Arlotta  wundert  sich,  daß  die  Regierung, 
nachdem  sie  die  Verpflichtung  auf  sich  genommen, 
keine  Notverordnungen  mehr  zu  erlassen,  trotzdem 
eine  solche  erlassen  hat.  Allein  er  vergißt,  daß  der 
Präsident  des  Ministerrates,  als  er  diese  Erklärung  ab- 
gab, einige  Fälle  ausnahm  und  unter  diesen  befindet 
sich  gerade  der  Fall  der  Notverordnungen,  die  den 
Staatshaushalt  belastende  Institute  abschaffen :  und  wie 
dies  bei  der  Zoologischen  Station  zutrifft,  habe  ich  be- 
reits gesagt. 

Bei  der  Aufhebung  dieser  Notverordnung  vom 
26.  Mai  191 8  und  der  Wiederherstellung  des  Vor- 
kriegszustandes hätte  ich  Dohrn  einige  andere  Be- 
dingungen stellen  können,  abgesehen  von  dem  bereits 

312 


erwähnten  Verzicht.  Weshalb  tat  ich  es  nicht?  Wes- 
halb habe  ich  nicht  einen  italienischen  Ausschuß,  der 
die  Geschäftsführung  der  Station  zu  überwachen  hätte, 
eingesetzt?  Gewiß  nicht  darum,  weil  Dohrn  sich  da- 
gegen gesträubt  hätte;  er  hat  sich  allen  Forderungen, 
die  die  italienische  Regierung  an  ihn  stellte,  gefügig 
erwiesen  und  tut  es  noch.  —  Aber  ich  sehe  keinen 
Mittelweg  zwischen  privater  und  staatlicher  Geschäfts- 
führung, und  ich  liebe  die  Zwitterdinge  nicht,  die  stets 
höchst  üble  Wirkungen  haben.  Ich  deutete  Dohrn  an, 
daß  die  Veröffentlichungen  der  Zoologischen  Station 
ein  italienisches  Titelblatt  haben  und  Abhandlungen 
in  allen  auf  den  internationalen  Kongressen  zugelasse- 
nen Sprachen  enthalten  sollten;  er  hat  dem  zuge- 
stimmt. Ich  sagte  ihm,  er  müsse  italienische  Gelehrte 
zu  seinen  Mitarbeitern  machen.  Auch  dem  hat 
er  sofort  zugestimmt.  Allein,  ich  verfolgte  diesen 
Faden  nicht  weiter ;  denn  ich  erwog,  daß  alle  vernünf- 
tigen Einschränkungen  und  Überwachungsmaßregeln, 
die  die  italienische  Regierung  für  gut  erachten  würde, 
sich  bei  andern  Gelegenheiten  festsetzen  ließen :  näm- 
lich wenn  sie  ihren  Beitrag  für  die  Arbeitstische  oder 
bestimmte  andere  Aushilfen  festsetzen  würde. 

Meine  Herren  Senatoren,  diese  schlichte  Darstel- 
lung, die  ich  Ihnen  gegeben  habe,  enthält  die  voll- 
ständige Rechtfertigung  für  die  von  der  Regierung, 
der  anzugehören  ich  die  Ehre  habe,  getroffenen  Ver- 
fügungen. Erlauben  Sie,  daß  ich  mich  nicht  dabei  auf- 
halte, gewisse  Einwürfe,  die  ich  schon  stillschweigend 
widerlegt  habe,  nochmals  zu  entkräften.  Ich  möchte 
nicht  der  Versuchung  zur  Polemik,  der  ich  in  mei- 
nem Leben  allzuoft  nachgegeben  habe,  unterliegen. 
Wollte  ich  polemisieren,  so  müßte  ich  Ihnen  jedoch 


zeigen,  wie  die  mannigfachen  Verwahrungen  von 
Akademien  und  Fakultäten  in  diesem  Falle  wenig 
Wert  besitzen,  da  es  etwas  anderes  ist,  eine  Frage  im 
allgemeinen  als  im  besonderen  zu  betrachten;  etwas 
anderes,  sie  von  außen  als  von  innen  her  zu  erwägen. 
Ich  erinnere  mich,  daß  ich  das  vergangene  Jahr  in 
Neapel,  als  Vorsitzender  einer  Akademie,  auf  den  Be- 
richt eines  Mitgliedes  hin,  der  Ihr  Kollege  in  diesem 
Senate  ist,  eine  Aufforderung  an  die  Regierung  be- 
schließen ließ,  des  Inhalts,  sie  möge  die  Abtragung 
eines  alten  Kirchturmes  nicht  zulassen;  diesem  Be- 
schluß traten  alle  übrigen  Akademien,  die  literarischen 
und  künstlerischen  Gesellschaften  Neapels  bei,  und 
hätten  wir  es  gewollt,  auch  die  von  ganz  Italien ;  der 
Präfekt  unterstützte  ihn,  und  die  Regierung  zog  den 
Auftrag  zur  Niederlegung  des  Turmes  zurück.  Allein 
durch  eine  Ironie  des  Schicksals  kam  dieselbe  Frage 
ein  paar  Monate  später  vor  die  Denkmälerkommision 
des  Landtages,  zu  deren  Vorsitzendem  ich  mittlerweile 
ernannt  worden  war,  wie  der  Berichterstatter  von  da- 
mals zum  Beirat;  und  da  ließ  ich,  gerade  ich,  nach- 
dem ich  die  finanziellen  Kosten  zu  Lasten  der  Ge- 
meinde kennengelernt,  ferner  den  Straßenzug,  das 
Verkehrshindernis,  das  jenes  Überbleibsel  verursachen, 
und  die  häßliche  Figur,  die  es  machen  würde,  erwogen 
hatte,  den  Beschluß  über  seine  Niederlegung  fassen. 
{Gelächter.)  Wer  wollte  einen  Beschluß  gleich  jenem 
der  Akademien  und  Fakultäten,  die  Zoologische  Station 
betreffend,  einen  Beschluß,  in  dem  das  Italienertum 
verherrlicht  und  die  Würde  der  italienischen  Wissen- 
schaft in  Schutz  genommen  wird,  nicht  unterschrei- 
ben? Allein,  hier  hat  weder  das  eine  noch  das  an- 
dere davon  irgend  etwas  zu  tun;  die  Frage  ist  eine 


ganz  andere:  sie  ist  rechtlicher,  verwaltungsmäßiger, 
technischer  Art;  und  ich,  der  ich  sie  aus  meiner  Amts- 
pflicht heraus  studieren  mußte,  bin  für  sie  zuständiger 
als  sämtliche  Akademien  und  Vereinigungen,  die  dies 
nicht  getan  haben. 

Ebenso  könnte  ich  den  Briefen,  aus  denen  Ihnen  der 
Senator  Volterra  einige  Bruchstücke  vorgelesen  hat 
und  die  den  Widerstand  betreffen,  den  englische  und 
französische  Gelehrte  der  Zurückgebe  der  Station  an 
Dohrn  entgegensetzen,  einen  ganzen  Stoß  von  Briefen, 
die  ich  hier  vor  mir  liegen  habe,  gegenüberstellen,  von 
hervorragenden  amerikanischen,  norw^egischen,  däni- 
schen, ja  selbst  englischen  Gelehrten,  und  die  gerade 
das  Gegenteil  besagen.  Unter  anderem  befindet  sich 
darunter  der  Vorschlag,  alles  zu  retten,  indem  man 
Dohrn  die  Stadion  zurückgäbe  und  sie  unter  den 
Schutz  des  Völkerbundes  stellte !  Allein,  wohin  würde 
es  führen,  wenn  man  die  verschiedenen  Meinungen 
einander  gegenüberstellte?  Welche  Lehre  würde  sich 
daraus  ergeben.?  Daß  die  Anschauungen  noch  geteilt 
sind,  daß  viele  noch  die  Nachwirkungen  des  Krieges 
fühlen  und  sehr  viel  andere  sich  schon  in  friedlicher 
Verfassung  befinden.  Es  liegt  auf  der  Hand,  daß  die 
nächste  Zukunft,  und  wir  müssen  es  uns  wünschen, 
der  Friedens-,  nicht  der  Kriegsrichtung  gehöre. 

Und  diese  friedliche  Gesinnung  eignet  vielleicht 
mehr  als  jedem  andern  dem  italienischen  Volke,  sie 
ist  auch  die  meine,  als  Bürger,  und  als  Mitglied  der 
italienischen  Regierung.  Der  Senator  Arlotta  (dem  ich 
für  die  allzu  wohl  wollenden  Worte,  die  er  meiner 
Person  gezollt  hat,  danken  muß),  hat  daran  erinnert, 
daß  Mäßigung  ein  Ruhmestitel  Italiens  sei.  Jawohl, 
das  ist  eine  festgewurzelte  Tugend  und  ein  wohlver- 

315 


dienter  Ruhm  von  uns.  Ich  glaube  jedoch,  daß  im 
vorHegenden  Falle  die  beste  Weise,  unsere  National- 
tugend zu  bekunden,  in  der  von  der  Regierung  ge- 
wählten Richtung,  nicht  aber  in  der  von  den  ehren- 
werten Interpellanten  gewünschten  liegt,  die  sich  von 
der  Leidenschaft  haben  hinreißen  lassen :  ohne  Zweifel 
von  einer  überaus  edlen,  aber  blind  wie  eben  jegliche 
Leidenschaft. 

Ich  überlasse  es  jedenfalls  dem  Senate,  diese  Sache 
zum  Austrag  zu  bringen.  {Lebhafter  Beifall^  der 
Redner  wird  beglückwünscht.) 


INHALT 

Vorwort  des  Übersetzers 7 

1914 

Als  Einleitung  (ein  Interview) Ii 

Anläßlich  einer  Unterschrift .  15 

Entscheidungsgründe 20 

Deutsche  Kultur  und  italienische  Politik 24 

1915 

Unverdientes  Glück 29 

Gegen  die  Nebelhafiigkeit  und  den  Materialismus  in  der 

Politik •     •  35 

Kampfmethoden  des  italienischen  Nationalismus     ...  46 

Die  Politik  eines  philosophierenden  Chemikers  ....  48 

Hegelfeindliche  Verstimmungen 50 

Italiens  Eintritt  in  den  Krieg  und  die  Pflichten  des  Ge- 
lehrten . 53 

D'Annunzio  und  Carducci 58 

Philosophie  und  Krieg 63 

Ferrero  und  die  Philosophie .  67 

Kultur  und  Zivilisation 70 

Nützliche  und  unnütze  Dinge 72 

Was  jetzt  die  Philosophen  sagen      .     .     .     .     .      .     .     .  73 

Deutschfreundlichkeit  (Interview) 74 

Ein  verrufenes  Wort ,     ...  82 

Ein  verhaßter  Name 86 

Der  Staat  als  Macht 89 

Zum  bessern  Verständnis 94 

1916 

Nutzen  der  Polemik 98 

Sittlichkeit  der  Lehre  vom  Staat  als  Macht 99 

Deutscher  Freimut  . loi 


Sittlicher  Tiefstand  der  Lehre  vom  Staat  als  Recht  .      .  103 

Womit  sich  italienische  Professoren  mühen       ....  104 

Womit  sich  deutsche  Professoren  mühen iio 

Eine  falsche  Anekdote iii 

Grenzen  der  Lehre  vom  Staat  als  Macht 115 

Gegen  das  18.  Jahrhundert  . ii8 

Geistige  Kraft  und  Volkskraft 121 

Leidenschaft  und  Wahrheit.    Unzulängliche  Gründe       .  122 

Vom  Völkerrecht 127 

Noch  etwas  über  die  Philosophie  des  Krieges  .     .     .  131 

Klassik  und  Romantik 135 

Die  neue  Auffassung  vom  Leben 140 

Noch  ein  weiteres 145 

Von  Italiens  Geschichte  '. 147 

Optimismus 151 

„Italienisch-französische  Gesellschaft."  Ein  Wort  für  den 

Ernst  der  Wissenschaft 157 

Für  den  Ernst  des  politischen  Empfindens 160 

1917 

Organisation  und  geschichtliches  Wesen 164 

Tote  und  lebendige  Geschichtlichkeit 167 

Die  neue  Organisation .  171 

T     Literarisches  Zwischenspiel 174 

Schriftsteller  aus  der  Zeit  vor  dem  Kriege:  (M.  Barrys).  174 

Der  sinnlich  gerichtete  Nationalismus      .     .     .     .     .     .  179 

Sinnlicher  und  geistiger  Nationalismus 182 

P.  Claudel 184 

Der  Stil  Claudels 187 

Claudels  religiöse  Dichtung 190 

Berühmtheiten  aus  der  Zeit  vor  dem  Kriege:  A.  Rimbaud  192 

Die  Ursache  von  Rimbauds  literarischem  Ruf.     .     .     .  196 

\       Rimbaud  als  Seelen werber  für  die  katholische  Kirche      .  198 

^"*TÖer  Krieg  und  die  Studien 200 

Krieg  und  Bürgertum 208 

Der  Krieg  Italiens,  das  Heer  und  der  Sozialismus      .     .  213 

1918 

Noch  etwas  über  die  Philosophie  der  Politik 223 

Das  Vorurteil  vom  „besten  Staat" 226 

318 


Das  Vorurteil  von  der  Größe  der  Völker     .     .     .     .     .  229 
Das  Amt  der  Redner  und  die  Pflichten  der  Gelehrten.  Vom 

Sagen  und  Nichtsagen  der  Wahrheit 231 

Die   Demokratie,    die    vorgeblich    „gefährlichen   Wahr- 
heiten" und  die  vorgeblich  „heilsamen  Lügen"       .     .  232 
Die  Ehrfurcht  vor  der  Wahrheit  und  der  Sinn  für  das 

Zw^eckmäßige 236 

Ideologische  Überlebsei    .     . .     .  238 

»/  Geschichtlichkeit    und    Beharrungsvermögen    der    Frei- 
maurerideologie    244 

Nationale  Verbesserungspläne.    Gegen   die   sogenannten 

allgemeinen  Reformen 251 

Politik  und  Denken  in  Italien 253 

Reformen  des  Denkens  und  der  Kultur 255 

Die  Reform  des  Denkens  als  die  wahre  „allgemeine"  Re- 
form       258 

Gedanken    über    die   Kunst    der   Zukunft.     Erwartung 

schlimmerer  Zeiten  für  die  Kunst 260 

Der  Futurismus  eine  der  Kunst  fremde  Sache       .     .     .  262 

Notwendiges  Verhalten  in  kunstfeindlichen  Zeiten    .     .  265 
Das  russische  Denken   in   der  Beleuchtung  durch  zwei 

neue  Bücher 267 

Drei  Arten  des  Sozialismus 277 

Der  Sieg 281 

ANHANG 

1919 

Der  „Völkerbund"  (ein  Interview) 286 

1920 

Thomas  Manns  Betrachtungen  eines  Unpolitischen .  .  .  290 
Oswald  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes  .  .  293 
Über  die  zoologische  Station  von  Neapel  (Senatsrede)   .  300 


AMALTHEA-VERLAG 

ZÜRICH/LEIPZIG/WIEN 

BENEDETTO   CROCE 

Goethe 

Obersetzt  von  Julius  v.  Schlosser 

Mit  einem  bisher  unveröffentlichten 
Goethebild  von  LIPS 

Preis  brosch.  M.35. — ,  geb.  M.  45.— 
3.  —  4.  Tausend 

Nürnberger  Zeitung:  „Dies  Buch  gehört  zum  Reifsten,  was  über  Goethe 
gesagt  wurde." 

„Literarisches  Echo" :  „Das  stattliche,  auch  durch  sein  Äußeres  besonders 

erfreuliche  Buch  enthält  eine  Fülle  feiner  und  tiefer  Bemerkungen  .  .  . 

es  ist  einer  der  besten  Führer  in  das  Bereich  Goethes." 

„Vossische  Zeitung",  Berlin:  „Das  Buch  ist  ein  so  ehrliches  und  wert- 
volles Bekenntnis  zu  Goethe,  daß  man  es  als  ein  goldenes  Glied  zu  der 
Kette,  die  den  geistigen  Völkerbund  zusammennält,  bezeichnen  kann." 

• 

Dantes  Dichtung 

Übersetz^von  Julius  v.  Schlosser 
Preis  brosch.  M.  45.—,  geb.  M.  55.— 

„Neue  Zürcher  Zeitung":  „An  der  Hand  dieses  Buches  durch  die  Gött- 
liche Komödie  zu  wandern,  ist  ein  schönster  und  reichster  Genuß.  Dem 
Dichter  Dante  ist  noch  kein  reineres,  edleres  Denkmal  gesetzt  worden." 

* 

Ariost,  Corneille,  Shakespeare 

übersetzt  von  Julius  v.  Schlosser 


Croce,   Benedetto 


JAH191991