Sg BENEQETTO i:ROCE
■O
■i RANI^EEMERKUNQEN
E1NE3 PHILOSOPHEN
ZUM WELTKRIEGE
Qemalt von Giacomo Qrosso
/\ C4/VÄ.
BEN
TTO CROCE
RANDBEMERKUNGEN
EINES PHILOSOPHEN
ZUM WELTKRIEGE
I914 — 1920
*
MIT
GENEHMIGUNG DES VERFASSERS
ÜBERSETZT VON
JULIUS SCHLOSSER
AMALTHEA-VERLAG
ZÜRICH / LEIPZIG / WIEN
Alle Rechte vorbehalten
C o p y r i g h t I 9 2 2 by A m al t hea - V er 1 a g,
Zürich / Leipzig / Wien
Spamersche B u ch dr u ck er ei in Leipzig
„Wahrheit ist Licht, und Licht ist
der Welt Leben." Croce
VORWORT DES ÜBERSETZERS
Was ein Mann wie Benedetto Croce von der
höchsten Warte des Gedankens aus während des Welt-
krieges gedacht, gefühlt, geäußert hat, das zu erfahren
scheint mir namentlich für uns Deutsche im höchsten
Grade notwendig und nützlich zu sein. Denn ich habe
die feste Überzeugung (und ich meine, eine nicht mehr
ferne Zukunft wird mir Recht geben), daß hier nicht
nur der größte Philosoph unserer Zeit (was nicht all-
zuviel besagen würde, auch den Modegötzen gegen-
über) zu uns spricht, sondern überhaupt der stärkste
Denker seit der ersten Hälfte des vergangenen Jahr-
hunderts, dort anknüpfend, wo die letzten wirklich
großen Denker, die der deutschen romantischen Philo-
sophie, den Faden haben fallen lassen, und diesen wieder
aufnehmend, über tote Kathederphilosophie hinweg:
in seiner vierbändigen ^^Philosophie des Geistes^^ . Croce,
der zeitlebens nie etwas anderes als ein einfacher Privat-
gelehrter sein wollte, der jede akademische Laufbahn
bewußt verschmäht und trotzdem „Schule" gemacht
hat, der im Kriege seines innigen Verhältnisses zum
echten deutschen Geist und Wesen halber verfemt
und geschmäht worden war, der sein Land vor dem
furchtbaren Wagnis, in das es geschichtliches Schick-
sal trieb, solange als möglich zurückhalten wollte, dann
aber stark und männlich seine Pflicht als Bürger erfüllt
hat, — wie, sagt das nachfolgende Buch auf jeder Seite,
vorbildlich auch für uns Deutsche — dieser Mann war bis
vor kurzem Unterrichtsminister des Königreichs, und
daß er diese schvvrere Bürde übernehmen konnte und
übernahm, ist ebenso ein schönes Zeugnis für den w^ohl-
bekannten, auch von ihm selbst mit Recht betonten
„buon senso" seines Volkes — im stärksten Gegensatz zu
gallischem Nervenkoller —, wie für sein eigenes, aufrech-
tes, aber nie beirrbares nationales Fühlen. Niemals hat
Croce gegen seine Überzeugung gesprochen, stets frei
und offen seine Meinung gesagt, vor allem den eigenen
Volksgenossen, wie dessen Verbündeten, und uns, den
„Feinden" von damals, ja für diese, mitten im Kriege,
mehr als einmal seine Stimme erhoben. Das ehrt ihn,
wie uns, ehrt auch sein so oft gerade von den lateini-
schen „Brüdern" so gründlich verkanntes und von oben
herab behandeltes Land. Es ist starke, nährende, frei-
lich oft auch heilsam bittere Kost, die uns hier gereicht
wird, wieder im höchsten Gegensatz zu der viel ein-
gänglicheren, begehrten und gerühmten des zweifellos
edlen, aber auch viel weichlicheren und voreinge-
nommeneren Romain Rolland. Und das brauchen ge-
rade wir in diesen schwersten Tagen deutschen Ge-
schehens !
Croces Aufsätze sind in verschiedenen Zeitschriften
und Tageszeitungen, vor allem in der von ihm heraus-
gegebenen „Critica" erschienen; gesammelt w^urden sie
als ein Band der von seinem treuen Anhänger G. Ca-
stellano besorgten „Pagine sparse^^ (4 Bde., Neapel,
R.Ricciardi 191 9); eine Auswahl daraus bietet, mit Ge-
nehmigung von Autor, Herausgeber und Verleger, der
vorliegende Band. Was nun dem Übersetzer vor allem
am Herzen lag, war aber, ein Mittleramt zwischen den
beiden großen, in Glück und Leid stets schicksalhaft und
8
einzig in Europa verbundenen Völkern, die sich eben
so männlich gemessen haben, auszuüben; und darin
glaubte ich, als ihnen beiden und nur ihnen, durch
Blut und Sinnesart angehörig, dazu ein Bürger der
zwischen ihnen liegenden Ostmark, eine gewisse Sen-
dung erfüllen zu können, an dem Brückenbau mittun
zu dürfen, der sie schon heute wieder einander nähert.
Ich habe es auch hier versucht, Croces unerhört
kraftvollen Stil, den langen Atem seiner Perioden, in
welche die sich drängenden Gedanken oft fast gewalt-
sam gepref3t werden , nachzubilden , auf die Gefahr
hin, ungelenk zu werden ; es schien mir für das Wesen
des Denkers wichtig zu sein.
Es mag aber das nachdenkliche Wort in Erinnerung
gebracht werden, das der weise Cid Hamet ben Engeli
durch den Mund seines Junkers von der Mancha voll
orientalischer Gelassenheit ausspricht: „Bei alledem
scheint es mir, daß Übersetzen aus einer Sprache in die
andere — handelt es sich nicht um die Königinnen der
Sprachen, Griechisch und Latein — gerade so viel
heißt, als wenn jemand niederländische Tapeten von
der Rückseite betrachtet, wo man wohl die Figuren
sieht, aber durchkreuzt von Fäden, die sie undeutlich
machen, und nichts von der Glätte und dem Aussehen
der Vorderseite erkennen lassen . . . Doch will ich da-
mit nicht sagen, daß dieses Geschäft des Übersetzens
keine löbliche Sache sei, denn es gibt schlimmere
Dinge, mit denen der Mensch sich beschäftigen kann
und die weit weniger Nutzen stiften."
Abbazia, im Sommer 1921.
J. S.
ALS EINLEITUNG
EIN INTERVIEW MIT B. CROCE {Corriere
d'ltalia., Rom^ 13. Okt. 191 4). — Ich richtete an ihn die
Fragen des Tages : Gibt es zwei verschiedene und ein-
ander entgegengesetzte Gesittungen? Glauben Sie an
den Unterschied von Rassen und Stämmen? Glauben
Sie, daß der deutsche Militarismus sich im Wider-
spruch zu der modernen, industriellen Gesittung be-
findet?
Croce ließ sie lächelnd über sich ergehen; auf jede
Frage folgte ein Stillschweigen. Da ich mir dachte,
daß dieses Stillschweigen eine Ermutigung bedeutete,
fuhr ich fort: Sind Sie den Federkriegen der italieni-
schen und ausländischen Zeitungen über dies Verhältnis
der italienischen Kultur zum französischen und deut-
schen Geiste gefolgt, über die größere Verwandtschaft,
die . . .
Ja, — unterbrach mich Croce — ich habe diese und
andere Erörterungen ähnlicher Art gelesen, nicht allein
in den italienischen Zeitungen und aus ihnen, wie man
sich leicht vorstellen kann, in den französischen und
englischen ins gehörige Licht gestellt, sondern auch
Schriftchen, Rundschreiben, Kundgebungen, offene
Briefe, wie ich sie Tag für Tag von deutschen Gelehrten,
Philologen und Philosophen erhalte, die auch ihrer-
seits in den erwähnten Streitigkeiten Partei ergreifen
und ihre Meinung oder vielmehr ihr heiß verfoch-
II
tenes Glaubensbekenntnis mit vieler geschichtlicher
Gelehrsamkeit und mit Darlegungen zu stützen suchen.
Wollen Sie wissen, was ich davon halte?
— Gerade darauf kommt es mir an.
— Es ist sehr einfach. Ich betrachte das alles als
Ausstrahlungen des Kriegszustandes. Es handelt sich
nicht so sehr um vernünftige Erwägungen, als um den
Zusammenprall von Leidenschaften ; nicht um logische
Lösungen, sondern um die Bekundung nationaler An-
sprüche, so edel sie auch sein mögen, nicht um wirk-
liche Vernunftgründe, sondern um vorgespiegelte, von
der Einbildung erzeugte ...
— Demnach glauben Sie, daß diese Fragen nicht
wahrheitsgemäße Lösung finden können .f'
— Ich glaube, nach beendetem Krieg wird man zur
Einsicht kommen , daß der Boden Europas durch
einige Monate oder Jahre nicht nur unter der Last der
Waffen, sondern auch unter der des Aberwitzes ge-
zittert hat. Franzosen, Engländer, Deutsche und Ita-
liener werden sich schämen oder werden lächeln, und
für die Urteile, die sie von sich gegeben haben, um
Nachsicht bitten ; sie werden sagen, daß es nicht Urteile,
sondern Gefühlsausdrücke gewesen sind. Noch mehr
werden wir Neutrale zu erröten haben, die wir oft,
als von einer offenkundigen Sache, von deutscher Bar-
barei gesprochen haben; unter allen Torheiten, als
Früchten der Jahreszeiten, wird diese den Vorrang be-
haupten, weil sie sicherlich die gewaltigste ist.
— Sie bedauern also diesen Wettkampf gegenseitiger
Verleumdung.?
— Hören Sie — schloß Croce -, die Philosophie
der Geschichte werden wir später zu verwirklichen
haben. Für jetzt wollen wir bloß auf unsere Ange-
12
legenheiten achten, wie es unsere Pflicht ist, und uns
auf die Ereignisse ohne Taumel und ohne Hast vor-
bereiten. Sollte es uns späterhin gelingen, allen recht und
allen unrecht zu geben, wie es zweifellos der künftige
Geschichtschreiber tun wird, so wird das ein schöner Be-
weis unserer Stärke sein. Und, glauben Sie mir, es würde
uns nicht zum Nachteil ausschlagen, weil Wahrheit
und Klarheit niemals schaden können. Empfiehlt man
den Leuten doch, auch im Augenblick höchster Gefahr
nicht den „Kopf" zu verlieren !
13
ANLÄSSLICH EINER UNTERSCHRIFT De-
zember igi4 {La Critica XIII). — Ein geistreicher
junger Mann, der Philosophie beflissen und mein
guter Freund, richtet in den Spähen einer pohtischen
Zeitung [Idea nazionale vom 5. Dez. 19 14) eine Art
Vorladung an mich: ich solle erklären, wieso ich vor
einigen Monaten meine Zustimmung zu einem Briefe
erklärt hätte, gerichtet von einigen italienischen For-
schern an den Leiter des Deutschen archäologischen
Instituts in Rom, der einen Aufschub des Urteils über
die dem deutschen Heere aufgebürdete Zerstörung
des Doms von Reims verlangt hatte. Nun bin ich in
Wahrheit über alles das, v^as ich, als freier Bürger,
im politischen Wesen der gegenwärtigen Stunde, zu
tun für gut befinde, niemand anderem als meinem
Gewissen Rechenschaft schuldig, und darum habe ich
bis jetzt allen Anwürfen oder vielmehr Beleidigungen
gegenüber geschwiegen, die ein paar junge politische
Literaten mir entgegenzuschleudern beliebten; sie
scheinen zu verlangen, daß ich mit ihrem Hirn denken
solle, statt mit dem meinen, wie das mein alter Brauch
ist. Aber da es sich jetzt nicht darum handelt, der
Mitarbeiter der Idea nazionale vielmehr ein Tages-
ereignis zu einer großen philosophischen Frage auf-
bauscht und eine weitläufige Untersuchung über den
Wert der „Geschichte von heute" anstellt, die nicht
weniger Geschichte ist als die, die „Geschichte von
morgen" sein wird; da wir mithin damit das Gebiet
15
der Philosophie betreten, so kann ich recht wohl und
zwar in dieser Rundschau antworten. Vor allem habe
ich es nicht nötig, zu erklären, daß ich die „Geschichte
von heute" für eine vollkommen echte Geschichte halte,
da gerade dies ein seit langer Zeit in mir ausgereifter
und in meinen Büchern über die Theorie und Ge-
schichte der Historiographie dargelegter Begriff ist.
Allein um ihn gänzlich zu verstehen,bedarf es vieler Auf-
merksamkeit und feinen Unterscheidungs Vermögens; es
mißversteht ihn, wer den historischen (oder gefühls-
mäßig-historiographischen) Augenblick einer Schrift
oder einer Erzählung, die sich geschichtlich nennt, mit
dem gefühlsmäßigen (oder rein gefühlsmäßigen)
Augenblick verwechselt, der sich kraft der Einheit des
Geistes ebenfalls in jener Schrift oder jener Erzählung
vorfindet. Beispielsweise: Die gemäßigte Schule der
italienischen Wiedererhebung unternahm es, unter dem
Antrieb der nationalen Bestrebungen, das Wirken des
Papsttums im Mittelalter von neuem zu überprüfen:
da nun die Romantik und der liberale Katholizismus
die Einsicht in jenes Wirken förderten, so verstanden
jene Geschichtschreiber sehr gut, was die voltairisieren-
den Geschichtschreiber nicht getan hatten , daß das
Papsttum das Erbe der lateinischen Kultur an sich ge-
nommen und gegen die Barbaren geltend gemacht
hatte, in einer den neuen Zeiten entsprechenden
Form, das heißt als christliches Römertum. „Ge-
schichte von heute" und „historiographischer Augen-
blick" also — dadurch förderten die Schriften jener
Historiker die wissenschaftliche Geschichtschreibung
und brachten ihr Begriffe, die einen festen Bestandteil
unserer modernen Anschauungen ausmachen. Allein
jene Historiker hatten außer der Leidenschaft, die sich
i6
zur Geschichtschreibung erhöhte, noch eine andere:
die sogenannte neuguelfische Utopie, das Papsttum als
einzigen Hort des Guten, damals, jetzt und immer; und
diese Utopie (die der Geschichte der liberalen katho-
lischen Politik angehört) von jenem historischen Be-
griff zu unterscheiden, (der, wie erwähnt, der Ge-
schichte des Denkens angehört), das ist Pflicht des
Kritikers ; würde er sie miteinander vermengen, so wäre
er nicht imstande, jenen Schriftstellern Gerechtigkeit
widerfahren zu lassen, vermöchte nicht einmal den
Unterschied, der zwischen dem einen und dem andern
im Hinblick auf ihr Verdienst als Geschichtschreiber
obwaltet, erkennen, und die Troya und Capponi ver-
mengten sich ihm mit den Balbo und Gioberti. Ist
dies klar? — Mein Freund wird freilich sagen, daß er
nicht unterscheiden wolle, und ich muß wiederholen,
was ich ihm in dieser Rundschau im Hinblick auf
andere festumrissene Aufgaben gesagt habe : daß er da-
mit irregeht und darauf verzichten muß , die Lehre
von der Historiographie zu entwickeln und ihre Ge-
schichte darzustellen, da diese durchaus auf dieser
Grundunterscheidung ruht.
Wünscht er noch einen weiteren Beweis? Da er
nicht unterscheiden will, zwischen Darlegung der
Wahrheit und Gefühlsäußerung, und eine reine Ge-
fühlsäußerung für ihn ebenso viel gilt als die Er-
forschung der Wahrheit, weil diese, seiner Ansicht
nach, nichts anderes als eine „Wahrheit der Tat nach"
ist, so wäre auch seine an mich gerichtete Vorladung
ungerechtfertigt; und ich könnte mich, wollte ich seine
eigentümliche Ansicht mir zu eigen machen, darauf
beschränken, ihm zu antworten, daß meine „Aktua-
lität" mindestens ebenso viel wert sei als die seine,
2 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen I ^7
meine Ungereimtheiten ebenso viel, als die von seiner
Seite, und damit Gott befohlen! Überhaupt möchte
ich meinem Freunde (v^ie andern jungen italienischen
Philosophiebeflissenen) raten, sich in jenem Nach-
denken zu üben, das die Unterschiede aufspürt und
das ebenso nötig ist als das Bewußtsein der Einheit-
lichkeit des Wirklichen, das sich, ohne jenes Nach-
denken, in abstrakte Einheitlichkeit verliert. Ich möchte
ihm noch einen v^eitern Rat geben : sich in jenem andern
Unterscheidungsvermögen zu üben, das zwischen Phi-
losophie und praktischem Tun liegt, gemeiniglich der
gesunde Menschenverstand genannt wird, und ver-
bietet, auf Aussprüche Piatos oder Kants zurückzu-
greifen, wenn man seine Magd oder den Kutscher aus-
schelten will. Der Brief, zu dem ich meine Zustimmung
erklärt habe, war kein philosophischer Text, noch hatte
ich ihn verfaßt; auch wäre er, hätte ich ihn geschrieben,
von vielen Unterzeichneten nicht unterfertigt worden,
da sie ihn möglicherweise abgeschmackt oder schul-
füchsig gefunden hätten : es war ein gemeinsames Un-
ternehmen, und wer in einer Versammlung für eine
Tagesordnung stimmt, geht über manches Wort, das
ihm überflüssig erscheint, hinweg und bescheidet sich
bei manchem andern, das er im Hinblick auf seine
eigenen Wünsche vermißt. Handelte man nicht also,
so würden keine Tagesordnungen mehr zustande kom-
men, noch wäre es möglich, sich zu irgend einem ge-
meinsamen Schritt zusammenzutun. Man müßte da-
heim bleiben und wissenschaftliche oder dichterische
Schriften verfassen. Das, worauf es bei einem solchen
gemeinsamen Schritt ankommt, ist, daß man sich sei-
nen Grundgedanken aneignet; ich kann meine Ver-
wunderung darüber nicht verhehlen, daß mancher über
i8
eine Sache so viel redet und tüftelt, deren leitender
Gedanke ganz klar zutage liegt. In Italien hatte in-
folge von offenkundig zurechtgemachten Telegram-
men, die von einer Gruppe der Kämpfenden kamen,
eine Reihe von heftigen Kundgebungen gegen die
„deutsche Barbarei" eingesetzt, die die HeimatWinckel-
manns so behandelten, als w'äre sie die eines Attila oder
Omar; und nun wendet sich ein deutscher, seit vielen
Jahren in Italien lebender Forscher, Freund und Kollege
italienischer Forscher, Leiter eines wissenschaftlichen
Instituts, in höflicher Form an seine italienischen Be-
rufsgenossen, im Namen jener wissenschaftlichen
Brüderschaft, die über den nationalen Kämpfen steht,
und ersucht, man möge das Endurteil über das Vor-
gehen der Deutschen vor Rheims aufschieben, bis sichere
Belege darüber vorliegen. War es also nicht vollkom-
men natürlich, daß einige italienische Forscher es für
großherzig und pflichtgemäß ansahen, ein Wort der
Zustimmung auf jene Aufforderung hin zu äußern?
Die Sache mag andern ja nicht zu Gesichte ge-
standen haben: aber was hat damit die Lehre vom
„zeitgenössischen Wesen" aller Geschichte,* und der
„Geschichte von heute", die ebenso Geschichte ist wie
die „von morgen" zu schaffen? Würde der in Rede
stehende Artikelschreiber einer schlechten Handlung
geziehen werden, und wendete er sich an mein Billig-
keitsgefühl, das Urteil so lange aufzuschieben, bis er
die Belege, die jene Anklage als verleumderisch er-
härten, vorlegen könne, müßte ich dann, im Namen
des „zeitgenössischen Wesens" der Geschichte seine
Bitte abweisen, und dem blinden Trieb des Augen-
blicks gehorchend, ihn einstweilen verdammen ? Unser
Brief an Prof. Delbrück mag — es steht das auf einem
»• _ . 19
andern Blatt — aus politischen Gründen Mißfallen er-
regt haben bei denen, die es für förderlich halten, ge-
genwärtig Deutschland in düstern Farben zu malen
und aus ihm ein Ungeheuer oder Schreckgespenst zu
machen ; aber es erscheint mir keineswegs notwendig,
dabei die Philosophie zu bemühen. Ich halte es im
Gegenteil für klug, sie nicht zu bemühen; denn es
könnte ihr einfallen, die Mahnung auszusprechen, daß
die Therapeutik der Lügen weder für ein Einzel-
wesen noch für ein Volk etwas sonderlich erquickliches
hat; und die Geschichte möchte ihrerseits in Erinne-
rung bringen, daß im Zeitraum der nationalen Wieder-
erhebung, nach der mißlungenen Revolution von
1848/49, Nicolo Tommaseo die Italiener anspornte,
aller Weichlichkeit zu entsagen und sich „ein wenig
zu Kroaten machen"; desgleichen haben die besten
Männer der vaterländischen und freiheitlichen Bewe-
gung stets gemahnt, die Schmähungen gegen Radetzky
zu unterlassen und sich wohl vor Augen zu halten,
daß ebenso wie die Italiener das Recht hatten, gute
italienische Patrioten zu sein, ebenso Papa Radetzky
für sein Teil „ein ausgezeichneter Heerführer und ein
guter österreichischer Patriot" gewesen ist.
ENTSCHEIDUNGSGRÜNDE {Italia nostra
6. Dezember 1914^). — Aufrichtig gesagt, würde ich
es vorziehen, wenn die Rede nochmals auf den Krieg
und die Haltung Italiens kommt, meine Stimme ab-
*) C. bemerkt hierzu: Es war das eine Zeitschrift, die in jenen Tagen
eine überstürzte Entscheidung der öffentlichen Meinung Italiens zugunsten
einer der beiden kämpfenden Gruppen zu verhindern suchte; für mein Teil
war ich überzeugt, daß Italien in einer oder der andern We se am Kriege
wetde teilnehmen müssen und daß es sich lediglich um die Art und den
Zeitpunkt handelte.
20
zugeben, einfach abzugeben, so wie es der Brauch
ist, wenn man den Schluß einer Diskussion verlangt
und erhält. Ich meine sogar schon in gewissem Sinne
abgestimmt zu haben, als ich meine Billigung der
Ziele aussprach, die die Zeitschrift Pro Italia nostra
verfolgt. Und da die Gründe dieser meiner Abstimmung
nichts sonderlich Auffälliges haben, so genügt es, daß
ich sie mir selbst hinreichend klar gemacht habe ; wo-
zu die andern zum Überdruß wiederholen, die sie
schon einige Male von gewichtigeren Stimmen als der
meinen gehört haben.?
Ich will daher bloß sagen, daß ich seit dem Aus-
bruch des Krieges Gelegenheit hatte, mit vielen Ita-
lienern der verschiedensten Art zu reden, in Neapel
und auf Reisen in andere Teile Italiens ; die Empfin-
dung, die ich bei diesen Gesprächen feststellen konnte,
entsprach in ihren Hauptumrissen durchaus der mei-
nen : — Schaudern vor diesem Krieg, der sich in einer
der Geschichte ganz neuen Gestalt darstellt ; — Be-
wunderung und Mitgefühl für die Kraft und den
Opfermut, der von allen im Kampf stehenden Völkern
so reichlich bezeugt wird; — die Unmöglichkeit für
einen Italiener, die eine oder die andere der miteinan-
der kämpfenden Gruppen anzufeinden oder (was das-
selbe ist) ausschließlich und grundsätzlich mit einer
von ihnen zu fühlen, und unsere eigenen Ziele selbst von
ihr vertreten zu sehen; — Genugtuung darüber, daß
Italien nicht seinerseits dazu beigetragen habe, das
fürchterliche Wirrsal noch zu vermehren; — fester
Entschluß, alle Anstrengungen zu machen, um uns
vorbereitet zu halten, aber zugleich auch die Über-
zeugung, daß unser Eingreifen nur dann und in der
Art stattfinden könne, wenn uns die Notwendigkeit
21
dazu zwinge; — eine leise Hoffnung bei einigen zu
Träumen (aber edlen Träumen) Geneigten, daß Italien,
außer seine eigenen völkischen Interessen zu vertreten,
zur gegebenen Zeit mit andern Völkern w^etteifern
könne, dieser grauenhaften Zerstörung jeglicher Art
von menschlichen Kräften ein Ende zu machen.
So habe ich zu mir gesagt: — Das ist unser echtes,
tiefes Volksgefühl ; es entspricht den schönen Eigen-
schaften des Ebenmaßes und der Unparteilichkeit,
die dem italienischen Geiste zu eigen sind, wit den
besten Überlieferungen unserer Entw^icklung zu einem
modernen Volk im achzehnten und neunzehnten Jahr-
hundert.
Gewiß, außer daß ich solchen Unterredungen bei-
wohnte, habe ich auch eine lange Reihe von Artikeln
gelesen, die seit drei Monaten Italien anspornen, sich
in den Krieg zu stürzen, mit den drohenden Worten
(die sich ebenfalls schon seit drei Monaten wieder-
holen): „Jetzt oder niemals!"; die mit fein ausgeklü-
gelten Gründen beweisen, wie die Bestrebungen Italiens
sich vollkommen mit denen einer der kämpfenden
Gruppen decken und die ebendeshalb den Krieg an
der Seite dieser Gruppe empfehlen. Wenn ich auch
die aufrichtigste Hochschätzung für den patriotischen
Eifer, den man zuweilen in diesen Mahnungen und
hinter der Darlegung jener Gründe empfindet, aner-
kenne, so kann ich mich doch nicht zu diesem krie-
gerischen Kredo bekehren und habe zu seinen Apo-
steln nicht allzuviel Vertrauen. Denn ich bemerke
unter ihnen sehr viele, die ich in den letzten Jahren
schon kennen gelernt und am Werk gesehen habe, als
Improvisatoren neuer Philosophien, neuer Sozialismen,
neuer Formeln in Dichtung, Malerei, Musik: ohne
22
daß uns jemals neue Religionen oder Philosophien
oder andere als höchst mittelmäßige Dichtungen, Ge-
mälde und Tonwerke beschert worden wären. Und
ich fürchte, daß sie sich jetzt mit der nämlichen un-
klugen Leichtfertigkeit darauf geworfen haben, Politik
und Krieg zu improvisieren, und über das Los unseres
gemeinsamen Vaterlandes zu entscheiden. Mit der
nämlichen unklugen Leichtfertigkeit, aber unter viel
größeren Gefahren, da in jenem andern Fall die Ge-
fahr bloß im unnützen Verbrauch von Papier und
Druckerschwärze lag, hier aber das Schicksal Italiens
auf dem Spiele steht.
Worüber ich mich aber vor allem wundere, ist der
Versuch, ein Volk mit Hilfe von Vernunftgründen und
Mahnungen zum Kriege zu bewegen. Der Krieg ist
gleich der Liebe und dem Hasse etwas, das tausend
Vernunftgründe und Mahnungen nicht zu erzeugen
verstehen, aber das plötzlich, man weiß nicht wie, von
selber entsteht, Seele und Körper ergreift, ihre Kräfte
verhundertfacht, ihnen die Richtung gibt, und seine
Rechtfertigung in sich selbst hat, durch die bloße Tat-
sache, daß es da ist und wirksam wird.
Ich wünsche meinem Lande, daß es den Krieg nur
dann beginnen möchte, wenn es selbstwillig auf diesen
Wendepunkt von Liebe und Haß gelangt ist, der das
Unterpfand des Sieges oder wenigstens e'ines ruhmvollen
Ringens bedeutet. Und ich denke mit Schauder an
das, was sich bei einigen Völkern ereignet hat (und
die Geschichte Italiens selber bietet dafür Beispiele!),
als der Krieg durch die Vernünfteleien Ungeduldiger
hervorgerufen worden war.
23
DEUTSCHE KULTUR UND ITALIENISCHE
POLITIK {Italianostra 2y,Dex. 1914). Lieber Freund!
Auch Du stimmst also in den Chor ein, den wir aus
Zeitungen vernommen haben, kaum daß ich und an-
dere Gelehrte den Brief des Prof. Delbrück unter-
zeichnet haben ? Auch Du wiederholst, daß „wir das
Unrecht begehen, unsern Forscheranteil an deutscher
Philosophie und Wissenschaft, an Kant und Hegel,
auf das Gebiet der Politik zu übertragen ?" Mir schien
es ganz natürlich, wenn irgend ein Tagesschreiber, in
gutem oder schlechtem Glauben, aus Torheit oder
Böswilligkeit dergleichen in Umlauf gebracht hat; aber
von Dir, der Du mich kennst, von Dir, der die Ge-
wohnheit des Überlegens besitzt, hätte ich mir nicht
erwartet, was ich in der Sprache Lombrosos: „Echo-
gerede" oder in der Leibnitzens : „Psittazismus" nennen
möchte, um zu vermeiden, es auf gut deutsch : Papa-
geiengeschwätz zu nennen!
Wie doch? Wenn ich seit vielen Jahren sage und
drucken lasse, daß die große Zeit des deutschen Ge-
dankens, wie sie sich zwischen 1780 und 1830 abge-
spielt hat, nicht mehr im besonderen Deutschland an-
gehört, in derselben Art, wie die große Zeit des helle-
nischen Gedankens nicht mehr dem heutigen Griechen-
land, sondern der Menschheit zugehört? Und daß die
Deutschen von Tieute, längst von ihr geschieden, zu
ihr im nämlichen Verhältnis wie jedes andere Volk
"stehen, vielleicht sogar mit einer gewissen Minder-
wertigkeit anderen Völkern gegenüber, da diese Ge-
danken in Italien und in England besser verstanden
und fruchtbarer gewesen sind, als in Deutschland?
Mein ganzes bescheidenes Tagwerk war immer darauf
gerichtet, italienische Überlieferungen wieder aufzu-
24
nehmen, sie mit Bestandteilen anderer Kulturen zu be-
reichern und zu verschmelzen, und so die Arbeit fort-
zusetzen, die auf dem Gebiet der Forschung von den
Männern unserer Wiedererhebung begonnen v^^orden
ist. Derart, daß die deutschen Kritiker meiner Bücher
und die Professoren der deutschen Hochschulen, die
von ihren Lehrstühlen herab ihre Schüler auf sie auf-
merksam machen, zu bemerken pflegen, es seien „aus-
gesprochen nationalistische" Bücher, und darum „mit
einiger Vorsicht" zu lesen ! Selbst eine deutsche Uni-
versität, die mir vor Jahren durch Zuerkennung ihrer
Doktorv^ürde ihr Wohlv^ollen bezeugt hat, hob in der
Begründung des Diploms hervor, daß ich propugnntor
apud Italos acernmus (der schärfste Vorkämpfer auf ita-
lienischem Boden), nicht der deutschen Philosophie
der Gegenv^art, vielmehr derjenigen Kants und Hegels
sei, sublimioris illius phHosophiae (jener höheren Phi-
losophie), und setzte hinzu sui tarnen juris, das
heißt „auf meine Weise". Auch habe ich italienischen
Philosophiestudenten, die sich mit Stipendien nach
Deutschland begaben, und mich um Rat fragten, Viel-
ehe Kollegien sie belegen sollten, stets geraten, ihre
Stipendien dazu zu benützen, um Deutschland kreuz
und quer zu bereisen, dieses prächtige Land und seine
große Zivilisation kennen zu lernen, v^as aber die
Philosophie betreffe, überzeugt zu sein, daß sich in
jeder italienischen Bücherei die Hilfsmittel finden, um
sie zu studieren, so daß „die philosophischen Reisen
sich in der Zeit und nicht im Raum abspielen."
Ich soll also in der Tat so töricht gew^orden sein,
kindischerweise die Bewunderung für die großen
Männer mit der politischen Parteinahme für die Län-
der, in denen sie geboren sind, zu vermengen? Da
25
müßte ich ja in politischer Hinsicht allen Völkern, die
jetzt im Kriege stehen, zuneigen: England wegen
Shakespeare, Frankreich wegen Cartesius, Rußland
wegen Tolstoi, mithin sämtlichen, etwa mit Ausnahme
des armen Serbiens, dessen dichterischen oder philo-
sophischen Genius — meine Unkenntnis mag daran
schuld sein — ich bisher nicht kennen gelernt habe.
Du würdest viel mehr ins Ziel treffen, wenn Du,
was das heutige Deutschland anbetrifft, von meiner
tiefen Bewunderung für seine politische und sittliche
Kraft sprächest. Aber auch damit könntest Du mir
keine Schuld nachweisen ; denn wer bewundert nicht
dieses Deutschland? Es tun dies ja sogar jene, die es
verabscheuen oder zu verabscheuen vorgeben; denn
in diesem Abscheu liegt Neid, Eifersucht, Wider-
streben — alles in allem genommen Ehrfurcht und
Bewunderung; in der Abneigung liegt der Versuch
gewaltsamer Gegenwirkung gegen eine selbstwillige
Neigung, die allzuviel Tadel gegen uns selbst in sich
schlösse. Sieh, ich war einmal leidenschaftlich für den
parlamentarischen Sozialismus nach Art von Marx,
später für den syndikalistischen nach Art Sorels ein-
genommen, ich erwartete von dem einen wie dem
andern eine Umgestaltung des gegenwärtigen Lebens.
Und beide Male sah ich dieses Ideal von Arbeit und
Gerechtigkeit sich auflösen und verflüchtigen. Jetzt
aber ist in mir die Hoffnung auf eine in der geschicht-
lichen Überlieferung beschlossene und durch sie ge-
löste proletarische Bewegung erwacht, auf einen staat-
lichen und nationalen Sozialismus, und ich denke, daß
dieser, den die Demagogen Frankreichs, Englands und
Italiens — (die nicht dem Proletariat und den Arbeitern,
sondern, wie mein verehrter Freund Sorel sagt, den
26
„Schädlingen" [noceurs] den Weg bahnen) — nicht oder
nur recht übel und mit schließlichem Mißerfolg ins
Werk setzen werden, vielleicht eben durch Deutsch-
land hervorgebracht werden dürfte, das den übrigen
Völkern ein Beispiel und Vorbild geben wird. Daher
beurteile ich das Verhalten der Sozialisten in Deutsch-
land wesentlich anders als ihre Genossen in Italien,
und glaube, daß diese deutschen Sozialisten, die sich
mit dem Staat und seiner eisernen Manneszucht völlig
eins fühlen, die wahren Bahnbrecher der Zukunft ihrer
Klasse sein werden.
Aber nicht einmal dies mein Urteil über das heutige
Deutschland ist der Leitgedanke, der mein gegenwärtiges
politisches Verhalten und meinen Beitritt zu der Gruppe
Pro Italia nostra bestimmt. Denn so hoch, so erhaben
auch die Kraft Deutschlands sein mag, die Verwick-
lung der Ereignisse könnte uns, so wie sie uns zuerst
zur Neutralität geführt hat, zwingen, zum Besten Italiens
uns gegen Deutschland zu stellen. Wenn uns dieses
zum Beispiel herausfordern würde, wenn es irgendwie
unsere Bestrebungen bedrohte oder unsere nationale
Würde antastete, so würde augenblicklich aus meiner
Brust alle Bewunderung ihm gegenüber, alle unzeit-
gemäße Bewunderung verschwinden, und es bliebe
nichts als mein Gefühl als Italiener übrig, erregt und
verschärft durch die Herausforderung. Hier ist aber
der springende Punkt. Jetzt und dauernd treibt uns
nicht das mindeste gegen Deutschland, so wie uns gar
nichts in die Arme der übrigen kämpfenden Völker
treibt. Freilich, die Einbildungskraft schafft Schreck-
bilder von Gefahren im Falle eines deutschen Sieges;
aber sie schafft deren ebenso für den Fall des Sieges
der andern, und für alle möglichen andern Fälle. Allein
27
die Einbildungskraft ist die Mutter der Furcht, und
Gefahren drohen bei jeglichem Schritt im Leben; und
gerade deshalb weil es Gefahren gibt, darf man nicht
den Kopf verlieren und sich in den Abgrund stürzen.
Gegen Deutschland werden jetzt und fortwährend nur
schwache Vernunftgründe ins Treffen geführt: die der
Republikaner oder der Sozialisten von der Richtung
Mussolinis, von den Nationalen in das treffende Leit-
wort zusammengefaßt: „Für die Demokratie, aber nicht
für Italien", sowie jene der Nationalen, die sich ihrer-
seits in dem andern Leitwort zusammenfassen ließen:
„Für den Krieg und nicht für Italien". Beides ist allzu-
wenig.
Du wirst sagen : Aber es ist doch immerhin gut, den
Fall eines notwendigen Zwiespalts mit Deutschland
vorauszusehen und sich darauf vorzubereiten. — Ein-
verstanden, vorausgesetzt, daß du hinzufügst: auch der
andere Fall müsse vorausgesehen werden, der eines
Zwiespalts mit den Gegnern Deutschlands, und dafür
Vorbereitungen getroffen werden. Schalten wir also
die beiden Sätze, die sich gegenseitig ergänzen und auf-
heben, aus, so ergibt sich, daß wir über die Notwendig-
keit einig sind, uns für jeden Fall gerüstet zu halten:
und darin ist die übergroße Mehrheit der Italiener
mit sich und mit ihrer Regierung einig.
Ich habe für meine Person gesprochen, da ich weder
die Pflicht noch das Recht habe, im Namen der übrigen
Mitglieder der Gruppe Pro Italia nostra zu sprechen;
vielleicht sind aber die andern, oder viele von ihnen,
von denselben Gedanken aus zum selben Endergebnis
gelangt.
28
UNVERDIENTES GLÜCK {Italia nostra 31. Jan--
ner 1915). — Bekanntermaßen ist es nützlich, denen ein
aufmerksames Gehör zu schenken, die eine von der
unseren abweichende Ansicht vertreten, w^eil in jeder
Ansicht stets irgendeine Forderung steckt, die w^enigstens
in diesem ursprünglichen Leitgedanken berechtigt ist.
Den Ausbruch unserer persönlichen und festbegründeten
Überzeugungen, die uns oft gegen die der andern un-
duldsam machen, zurückzuhalten, uns genaue Rechen-
schaft von jenen Wahrheiten und jenen Forderungen
geben, das heißt unsere Kräfte selbst erhöhen und sie
dem Gegner nehmen.
Hier handelt es sich nun um einen Gedanken, der
oft in den Gesprächen und den Schriften mancher auf-
taucht, die Italien anstacheln, sich ohne v^eiteres in den
europäischen Krieg zu stürzen.
Italien (sagen sie) hat sich seine Einheit nicht durch
die Kraft seiner Söhne allein erworben, sondern durch
die politische und militärische Unterstützung anderer
Staaten, als ein für das europäische Gleichgewicht nütz-
liches Gebilde. Auch während der ersten fünfzig Jahre
seiner Einheit hat es keinen genügenden Beweis dafür
erbracht, daß es allein vorteilhaft zu handeln verstehe.
Hält es sich im gegenwärtigen Kriege abseits, so wird
es, als Nichtkämpfer, moralisch noch mehr geschwächt
unter den übrigen Völkern, seien sie nun Sieger oder
Besiegte, dastehen. Jetzt ist der Augenblick da, um
uns nicht bloß von den Beschuldigungen, die die
Fremden gegen uns richten, zu reinigen, sondern (was
mehr heißt) auch von denen, die wir selbst gegen uns
richten, von den Anwürfen, die uns unser Gewissen
macht, und die eine Art Mißtrauen und Niederge-
schlagenheit in unser ganzes gesellschaftliches und
29
politisches Leben bringen, gerade so wie dies im Einzel-
leben eines Menschen der Fall ist, der sich gering ge-
achtet fühlt und sich selber gering achtet.
Wie ich schon sagte, liegt in dem allem etwas
Wahres; denn was sollten sonst die Sätze vom „Stern
Italiens," von dem „geschaffenen Italien" und den „zu
schaffenden Italienern" und ähnliche besagen, die gleich
nach 1 860 von den Lippen der Männer der Wieder-
erhebung kamen? Man könnte jedoch vielmehr die
Frage aufwerfen, wieso diejenigen, die jetzt mit so harten
Worten die Wunden Italiens aufdecken, sich nicht schon
vorher der Schäden unseres nationalen Bestandes be-
wußt geworden sind, nicht den Warnungsruf aus-
gestoßen und ihre Tätigkeit auf deren Heilung ge-
richtet haben? Was haben alle diese Italiener bis zum
Vorabend des Krieges getan, die sich jetzt in eifernde
Hüter der nationalen Ehre und in Schmähpropheten
des Krieges verwandelt sehen ? In welcher Weise haben
sie zu der bürgerlichen Erziehung, zum geistigen Fort-
schritt, zur wissenschaftlichen Geltung, zu der politischen
und sozialen Festigung des italienischen Volkes bei-
getragen? Es sind das Fragen, die zu Beschwerden
und Anklagen führen würden, und auf denen ich dar-
um nicht weiter bestehen will, sowohl, weil ich der-
gleichen für wenig nützlich halte, als auch deshalb,
weil sie in diesem Fall nicht einmal dem, der sie er-
hebt, den bittern Trost gewähren, sich von der Schuld,
die er an andern tadelt, rein zu wissen. Die Sünden
eines Volkes verbreiten sich über alle seine Glieder
und lasten auf jedem wie persönliche Sünden. Es be-
reitet keine Freude, wenn man sagt: Ich für mein
Teil habe das getan, was ich schuldig war; oder:
Ich für meinen Teil habe mich bestrebt, den Ver-
30
blendeten die Augen zu öftnen. — Was nützt es? Diese
Verblendeten, diese Andern, diese Plebs, diese Menge
sind wir dennoch selber, weil wir alle zusammen Italien
sind.
Mithin wollen wir alles Unnötige und Aufreizende
beiseite lassen und von dem sprechen, was gegen-
wärtig nottut. Welches Übel bemerkt man denn in
unserer nationalen Entwicklung.? Daß wir von 185g
bis 1 870 ein Ergebnis erreicht habeii, das größer war
als unsere Anstrengungen, als unsere bürgerliche und
militärische Vorbereitung; wir haben in der Folge an
unserem nicht ganz verdienten Glück gelitten und
leiden noch daran. Sei es denn. Welches Heilmittel
schlägt man uns aber jetzt vor? Daß wir, nach lange
vernachlässigter Vorbereitung, nachdem wir bis gestern
andere Dinge im Sinn gehabt haben, jetzt auf einmal
tun sollen, was wir in Jahrzehnten nicht getan haben,
daß wir mit einem Streich von Genialität und Helden-
tum die verlorne Zeit einbringen, und uns begierig
in den Krieg stürzen, um aus ihm geläutert hervor-
zugehen, und befähigt zu den Sternen des Ruhms auf-
zusteigen.
Nehmen wir nun an, die Sache gelingt uns, so ist
es im übrigen sicher, daß sie uns nur mit der reich-
lichen und großmütigen Mithilfe jenes Glücks gelingen
kann, das uns andere Male so sehr genützt und ge-
schadet hat. Und dann? Was wird die Folge des vom
Glück gekrönten Unternehmens sein ? Daß wir Italiener
immer mehr in unsere gewohnte Untätigkeit und
Zwecklosigkeit versinken werden, voll geringen Ver-
trauens in uns selbst im alltäglichen, gewöhnlichen
Leben, immer auf außerordentliche Augenblicke
rechnend, auf Wunder der Begeisterung, der Genialität,
31
der beschwingten Worte, alles in allem, auf das Glück.
Es scheint mir klar. Der unwissende Schüler, der in
den der Prüfung unmittelbar vorausgehenden Tagen,
ohne sich über das weise Sprichwort: „Es kommt dar-
auf an, sich bestrebt zu haben, nicht bestrebt zu sein,"
Gedanken zu machen, eine Stegreifvorbereitung an-
stellt und es mit Hilfe des Glücks erreicht, den Prüfer
zu hintergehen und ein günstiges Zeugnis zu ergattern,
bleibt nachher derselbe Esel wie vorher und ist sittlich
noch schlechter geworden. Ich lasse dabei die Mög-
lichkeit des Durchfallens unberührt, das heißt, (um
wieder auf Italien zu kommen), daß uns diesmal das
Glück nicht hilft, weil dies unserem Geiste ein so
schauerliches Schauspiel bietet, daß man sich auf der
Stelle, von Schrecken erfaßt, zurückzieht.
Alles in allem: hat Italien Schulden zu sühnen?
Setzen wir den Fall. Allein kommt es vernünftigen
Menschen zu, als Weg der Sühne gerade den zu
wählen, der, wenn überhaupt etwas erreicht wird, da-
zu führt, die Zahl der „zu sühnenden Schulden" noch
zu vermehren und der selber eine dieser „Schulden" ist?
Mir scheint, daß Nachdenken über die jüngste Ver-
gangenheit Italiens (mit dem üblen Ausgang aller
genialen und großtuerischen Streiche, den sie uns vor
Augen führt) uns zu einem ganz andern Verhalten
auffordert. Haben wir Schulden abzubüßen (und wir
haben dies sicherlich), so beginnen wir, möchte ich
sagen, sie von jetzt an zu sühnen, in der gesunden un-
mittelbaren Form der Sühne, die sie erfordern. Um
uns ist der europäische Krieg? Nun gut, trachten wir
ernsthaft zu sein : Fördern wir alle Anstrengungen, die
auf die möglichst beste Bewaffnung und Ausbildung
unseres Heeres zu Land und zu Wasser abzielen, folgen
32
wir den Ereignissen, bereit mit umsichtiger Kraft zu
handeln, im alleinigen Namen des Vaterlandes, denn
nichts als das Vaterland steht jetzt in Frage.
Wir werden in den Krieg eintreten oder nicht: dies
hängt nicht von uns ab, sondern von der Notwendig-
keit, die uns die eine oder die andere Entscheidung
auferlegen wird; und sollte es uns infolge des Krieges
beschieden sein, noch eine weitere Sühne auf uns nehmen
zu müssen, so wird, uns dies leichter fallen, weil wir
uns seitdem freiwillig auf den rechten Weg der Sühne
begeben haben, der die Arbeit ist.
Aber es handelt sich für jetzt nicht blof3 um den
Krieg, sondern um die ganze Lebensführung. Nun
wohl, wenn jetzt der mit irgendeinem Dienst Betraute
(und wäre es ein Straßenkehrer!) mit größerem Eifer
seine Pflicht erfüllte; wenn der Lehrende sich mit
mehr Hingabe den Aufgaben seines Lehrberufs widmen
wollte, und wäre dieser auch so wenig kriegerisch als
die semitische Sprachkunde oder die höhere Geometrie;
wenn der Schriftsteller mit größerer Aufmerksamkeit
als gewöhnlich auf die Wahrheit der Tatsachen und
die Logik der Gedanken in seiner Prosa achtete; wenn
jeder, dem ein Amt anvertraut ist, es mit Liebe um-
faßte, und sich nicht mehr bemühen wollte, wie in ver-
gangenen Tagen die Bande, die ihn an dieses fesseln,
zu lockern, um der eigenen Bequemlichkeit zu frönen;
wenn alle diese und andere, mit deren Aufzählung man
noch ein gutes Stück weiter fortfahren könnte, sich
derart verhielten, würden sie der tragischen Göttin des
Krieges das einzige würdige Opfer darbringen und eine
geistliche Übung betätigen, die uns in den Stand setzen
würde, im besten Leibes- und Geisteszustand zu sein,
falls der Krieg über uns hereinbricht.
3 Ctoce, Randbsmerlnmgen eines Philosophen
33
Ich bin mir bewußt, von nüchternen und langweiligen
Dingen zu reden. Es ist poetischer und unterhaltender,
die Sünden Italiens damit zu sühnen, daß man, wie
es an der Universität Neapel geschah, einen bescheidenen
deutschen Lehrer der deutschen Sprache auspfeift, und
unter großen Geschrei Triest und Trient von einem
verlangt, der den neapolitanischen Studenten nichts
anderes bieten kann als die Anfangsgründe eines ihnen
unbekannten Alphabets^) oder, wie es in Rom ge-
schah, einen polnischen Lehrer der Pandekten auszu-
^) Anmerkung C.s: Der deutsche Lehrer, den ich in dieser Art, aus einem
Gefühl der Gastfreundschaft heraus, gegen die studentischen Angriffe in
Schutz nahm, war Dr. Klemperer, ein Forscher von vielem Verdienst, und
unter anderem Verfasser eines scharfsinnigen Buches über Montesquieu.
Aber er war Deutscher im verwegensten Sinn des Wortes. Das heißt un-
fähig, die Psychologie und die geistige Verfassung anderer Völker zu ver-
stehen. Nachdem Italien den Krieg erklärt hatte, verließ er Neapel, ohne
sich von mir, nicht einmal mit einer Visitenkarte, zu verabschieden, und
steuerte, nach Deutschland zurückgekehrt, zu dem vielberufenen, gegen Italien
gerichteten Heft, das die Süddeutschen Monatshefte in München veröffent-
lichten, einen Aufsatz mit italienischen Erinnerungen bei, in dem er alle
Äußerungen abdruckte, die aus meinem Munde wie aus dem anderer Ita-
liener, mit denen er verkehrt hatte, gekommen waren. Das war sicherlich
nicht höflich, dafür scheint er jedoch in diesem unerlaubten Reportertum
sehr peinlich gewesen zu sein, soweit ich, was mich betrifft, urteilen kann,
das heißt, soviel ich darüber im Marzocco (XX. Jahrg. Nr. 30 vom 25. Juli
1915) gelesen habe, da mir jenes deutsche Heft niemals vor Augen ge-
kommen ist. In der Tat schreibt der Marzocco, den Aufsatz Klemperers
ausziehend und ironisch erläuternd: „Teufel! Ein gebildeter Mensch, der
glaubt, Italien sei erlaubt das zu tun, was Deutschland getan hat, und
der nicht weiß, daß es seine Pflicht gewesen wäre, lediglich das zu tun,
wat Deutschland ihm aufgetragen hätte! Gipfelpunkt des Vermessensl —
Das Gemüt des ehrenwerten Vertreters deutscher Universitätskultur in Italien
begreift nicht diesen seltsamen psychologischen Vorgang. Und seine Ver-
wunderung nimmt zu, wenn er im gastlichen Hause Benedetto Croces —
wo er, nach eigenem Geständnis, den größten Anteil und das tiefste Ver-
ständnis für Deutschland gefunden hatte — vom Hausherrn die Erklärungen,
die der deutsche Kanzler im Reichstage über die scheinbare Neutralität
Belgiens abgegeben hatte, eine „abstoßende Roheit" nennen hört; Henedetto
Croce, dieser große Bewunderer des deutschen Charakters, erlaubte sich
also an der Aufrichtigkeit Herrn Bethmann Holiwegs zu zweifeln. Unglaub-
lich 1" (G. S. Gargäno, im Marzocco a. a. O.)
34
pfeifen, weil er sich nicht, wie es die Studenten for-
derten, für einen deutschfeindlichen Polen erklärte. . .
Dann wird ja der Krieg kommen, und uns, ohne daß
wir weitere Anstrengungen zu machen brauchen,
Wissenschaft, Kunst, Philosophie, Reichtum, Sittlich-
keit, Glück und so weiter und weiter schenken. In-
zwischen wollen wir die Bücher schließen, die Arbeits-
räume fliehen und uns in den Tempel des Krieges be-
geben, will sagen ins Kaffeehaus!
GEGEN DIE NEBELHAFTIGKEIT UND
DEN MATERIALISMUS IN DER POLITIK i)
{Italia nostra, Jänner 191 5). — Wer die politischen
Gruppenbildungen, die jetzt in Italien besonders unter
der Jugend erstehen, verfolgt, die Aufsätze in ihren
Zeitschriften liest und den umlaufenden Äußerungen
sein Ohr leiht, hat Gelegenheit, den Gegensatz oder
das Durchkreuzen zweier sich entgegenstehender
Grundanschauungen zu beobachten: die eine könnte
man die der bedingungslosen Gerechtigkeit,
die andere die des Kampfes ohne Gerechtigkeit
nennen. Die erste hat ihre nächsten Vorläufer im
Humanitäts wesen des achtzehnten Jahrhunderts, das sich
teilweise im Mazzinianismus fortsetzte; die zweite
namentlich in der sozialistischen Ideologie, die von den
Beziehungen zwischen den Klassen der Gesellschaft
auf die zwischen den Völkern und Staaten übertragen
wurde. Die erste ist seraphisch, und darum wenig
menschlich; allzu menschlich die zweite, und deshalb
unmenschlich; die eine neigt zur Abstraktion und zur
^) Es muß bemerkt werden, daß dies ein älterer, bereits aus dem Jahre
1912 stammender und in dem Buche: Cultura e vita morale (Bari 1914)
abgedruckter Aufsatz Croces ist, den die obengenannte Zeitschrift 1915 von
neuem wiederzugeben für angemessen hielt.
3»
35
Gleisnerei, die zweite zum Materialismus und Zynis-
mus; beide gewähren keine Befriedigung und sind
trotzdem beide auf Gründe gestützt, die, obgleich ein-
seitiger Art, dennoch niqht aufhören, anscheinend
höchst wirksam zu sein.
Wie kann man in der Tat leugnen, daß die Gerech-
tigkeit, die Achtung des Menschen vor dem Menschen,
der Verein der Geister zu gemeinsamer Pflege des
Wahren und des Guten, die Unterordnung unter ein
allgemeines Maß grundlegende und unerläßliche For-
derungen seien, ohne die das Leben allen Sinn, alle
Führung, alle Wärme verlieren würde und in seinem
tiefsten Innern nicht mehr seine liebsten Stimmen ver-
nehmen könnte? Wie kann man anderseits verkennen,
daß Leben Kampf ist, mitleidsloser Kampf, daß der
Krieg sein Gesetz hat, daß die Geschichte eine Ge-
schichte der Kriege, nicht der Friedensschlüsse ist, von
Taten der Kraft, nicht von Zugeständnissen, daß dieser
Kampf jeden Tag ausgefochten wird; wehe denen,
die nicht daran teil und in ihm Partei nehmen, den
Neutralen und den Menschen der „reinen Hände",
die schließlich solche sind, die im Schöße ruhen ! Wie
könnte man dem nicht beistimmen, der uns erinnert,
Italien habe seine Wiedererhebung ins Werk gesetzt,
um Taten der Liebe, nicht solche des Hasses zu voll-
bringen, Werte der Zivilisation, nicht der Gewalt;
und wie könnte man dem unrecht geben, der bitter
über diese schönen Worte lächelt, die von den Tat-
sachen in jedem Augenblick widerlegt werden, und
die den unumstößlichen Beweis erbringen, daß Italien,
auch wenn es wollte, sich der Notwendigkeit nicht zu
entziehen vermag, ungerecht mit den Ungerechten
und gewalttätig unter den Gewaltmenschen zu sein?
36
Das Endergebnis der einen wie der andern Auf-
fassung ist Pessimismus: ein leidender Pessimismus
im ersten Fall, gezwungen zur Untätigkeit oder zu
vergeblichen Predigten (was gerade Untätigkeit be-
deutet), zu endlosen Verwahrungen, Klagen, Verzweif-
lungsseufzern ; ein tätiger Pessimismus im andern Fall,
aber der einer falschen Tätigkeit, die nur handeln will,
um zu handeln, um sich zu rühren und zu betäuben,
wohlbewußt etwas zu tun, das der Gerechtigkeit, das
heißt mithin des Wertes entbehrt.
Wie man sieht, befinden wir uns einem alten Problem
gegenüber, das man fast verzweifelt nennen könnte:
dem des Widerspruchs zwischen Moral und Politik
und zwischen privater, bürgerlicher Sittlichkeit, dem
Problem des Machiavellismus, das lange Jahre hindurch
für unsern Villari einen Gegenstand des Nachdenkens
und der Kümmernis gebildet hat, weil er in Wahrheit
niemals den Mittelbegriff zu finden vermochte, der ihm
den Ausgang aus jener Gegensätzlichkeit verstattet
hätte. Auf dem Felde der Antithesen ist das Problem
auch unlösbar; man hat sich von einer Seite zur anderen
gewandt, oder ist erschöpft in der Mitte verblieben,
kummervollen Blickes das Los des Menschen betrach-
tend, der zur Unreinheit und zur Unsittlichkeit ver-
dammt ist. Es ist unnötig zu sagen, daß die wahre Un-
reinheit gerade in diesem Bewußtsein der Ohnmacht,
in diesem trostlosen Hinnehmen dessen, was als schlecht
erkannt wird, liegt. Weit besser ist es, sich von einem zum
andern entgegengesetzten Grundsatz zu schlagen, was,
wenn schon nichts anderes, doch etwas Tragisches hat!
Um den MittelbegrifF zu finden, ist es vor allem
flötig, zwischen zwei ganz verschiedenen Reihen voii
Werten zu unterscheiden, den allgemein menschlichen
37
Werten, die man die der Kultur nennt und den Er-
fahrungswerten oder wie sie auch genannt werden, den
geschichtlichen. Die Wissenschaft, die Kunst, die Sitt-
lichkeit bieten Beispiele für die ersten; Rom oder
Griechenland, Italien oder Frankreich, Monarchie oder
Republik, Staat oder Kirche, Beispiele der zweiten:
geschichtliche Bildungen oder Einrichtungen, die aus
den Anstrengungen vieler Geschlechterfolgen und un-
zähliger Einzelwesen hervorgehen, besondere Tat-
sachen, in denen die allgemeinen oder menschlichen
Werte Körper und unterscheidende Merkmale an-
nehmen und Bedingung und Grundlage für weitere
Tätigkeit bilden. Das unterscheidende Merkmal beider
Reihen ist durchaus klar: die ersten sind höchste In-
stanzen, die zweiten nicht, die ersten sind nicht erzeugt
und unvergänglich, die zweiten entstehen und vergehen.
Nichts steht über dem Wahren oder dem Guten; jedoch
über Rom und Griechenland, Italien und Frankreich,
Staat und Kirche hinaus gibt es etwas Höheres; Rom
ist tot, das alte monarchische Frankreich lebt nur noch
mehr im Hirn einiger Literaten, Kirche und Kaiser-
tum sind traurige Ruinen; das italienische und das
deutsche Volk kann sich erschöpfen und verschwinden,
wie die Hethiter und die Karthager verschwunden sind:
die Kategorien des Wahren und des Guten aber leben
und werden so jung und wirksam fortleben wie am
ersten Tag der Welt, und fortdauernd die alte Welt
verjüngen. Hat man diesen Unterschied erfaßt, so ist
damit der Wert jener zweiten Reihe von Werten nicht
geleugnet, gerade so, wie es abgeschmackt wäre, den
Wert eines Erbgutes deshalb zu leugnen, weil es ein-
mal aufgezehrt und zerstreut sein wird; in der Zwischen-
zeit ist es eben weder aufgezehrt noch zerstreut, sondern
38
stellt eine Kraft und ein mächtiges Werkzeug für das
menschliche Handeln dar. Ist es angemessen, die Kultur-
werte zu verteidigen, so ist es nicht minder angemessen,
die geschichtlichen Werte zu verteidigen, wie im übrigen
alle empfinden und tun, weil alle, ohne daß es vieler
Gründe bedürfte, sich getrieben fühlen, ihr Familien-
gut zu verteidigen, ihre Heimat, ihre Kinder, alle Ein-
richtungen, denen sie zugehören.
Nur daß die Kulturwcrtc, kraft ihres Charakters der
Allgemeinheit, sich entwickeln und miteinander ringen,
ohne daß jemals einer von ihnen den aadcrn unter-
drückt, sondern im Gegenteil jeder den andern fördert:
die Wissenschaft, die nicht Sittlichkeit ist, indem sie eben
diese neu kräftigt; die Sittlichkeit, die nicht Wissen-
schaft ist, indem sie diese fördert. Die Erfahrungswerte
hingegen, gegründet (könnte man in der Ausdrucks-
weise der Logik sagen) nicht auf reine, sondern auf
Vorstellungsbegriffe, das heißt ihrem Wesen nach Tat-
sachen, nicht Begriffe, kämpfen miteinander, indem
einer den andern zerstört und sich an seine Stelle setzt:
Rom zerstört Karthago, das Germanentum Rom, das
Kaisertum die Kirche und die Kirche das Kaisertum,
endlich der moderne Staat alle beide. Hier erhebt sich
aber die angstvolle Frage von Seiten derer, die sich un-
rettbar in einen Vernichtungskampf dieser Art hinein-
gerissen fühlen, und die, als Menschen, sich beugen,
zweifeln, Gott das heißt das eigene Gewissen fürchten :
für wen und für was sollen wir Partei nehmen? Stellen
die menschlichen Werte die einzigen beharrenden und
höchsten Werte dar, welche der geschichtlichen Ein-
richtungen verkörpert sie mit Ausschluß der andern
oder vor ihnen.? Welcher von ihnen hat den Anspruch
auf unsere völlige Hingabe?
39
Auf diese Frage kann es keine andere Antwort geben,
als daß alle jene gegensätzlichen und miteinander-
kämpfenden Einrichtungen gleicherweise die mensch-
lichen Werte verkörpern und zugleich nicht verkörpern:
alle tragen Recht und Unrecht in sich, alle sind wert
verteidigt zu werden und ebenso wert, zugrunde zu
gehen, und wer von der Philosophie einen Fingerzeig
erwartet, um für die eine oder die andere Partei zu er-
greifen, wird niemals auf seine Rechnung kommen,
da die Philosophie, gleich unersättlich wie die Ge-
schichte, sie sämtlich anerkennt und sämtlich verwirft;
allein da alle diese Einrichtungen eben einen wahren
Leitgedanken und eine der Verteidigung werte Seite
aufweisen, wenngleich jede zum Tode verurteilt ist,
So muß jede vorerst verteidigt werden: und von wem
andern wird sie denn anders verteidigt werden als von
ihren Söhnen? Italien vom Italiener, Frankreich vom
Franzosen, die Monarchie von dem, der von der
Monarchie, die Republik von dem, der von dieser lebt.
Sie anzugreifen, oder ihren Tod herbeizuführen, dafür
ist der da, der es im Schilde führt; es ist nötig, daß auch
einer vorhanden ist, der seine Gedanken darauf ge-
richtet hält, ihr Leben zu schützen und zu verlängern.
Keiner darf sich, wenn er dieses Amt der „Pietät" er-
füllt (ausgenommen in dem Falle, daß er den Beruf
des Geschichtsschreibers ausübt, und nur in dem
Augenblicke, als er dies tut) auf die gegensätzliche
Einrichtung blicken, um sich im Namen einer ab-
strakten Gerechtigkeit über ihr Gutes Gedanken zu
machen, sondern jeder muß einzig und allein, und allen
gegenüber, das Gute der Einrichtung, der er angehört,
behüten ; so wie ein Rechtsanwalt nicht auf den Vor-
teil des Gegners seines Klienten bedacht ist, oder ein
40
Soldat nicht Sorge tragen wird, seinen Feind, der sich
eine Blöße gibt, zu warnen; der unpassende Edelmut
würde in diesem Fall „Verrat" genannt werden. Die Ver-
teidigung der Einrichtungen, denen wir uns zugehörig
fühlen, ist die nächste Pflicht; und es gibt, soviel man
weiß, keine andern tatsächlichen Pflichten als diese
nächsten. Die Gesamtheit der Kulturwerte, die unter
dem Namen von Gerechtigkeit oder Menschlichkeit
versinnbildet werden, läßt sich werktätig nicht anders
als mittelst dieser wagemutigen Verteidigungs- und
Ausfallsstellung vollführen, weil die allgemeinen
Pflichten sich nur betätigen lassen, wenn man aus jener
Abstraktheit, die den Namen des Himmels führt, auf
die Erde hinabsteigt, in Raum und Zeit, und sie in
unsere nächste Nähe rückt. Im Leben sind wir gleich
Besatzungen und Schildwachen, die da und dort vom
Weltgeist verteilt sind; wir würden diesem übel dienen,
wenn wir die Posten, die er uns anvertraut hat, ver-
lassen wollten, um ihm eine abstrakte, kraftlose und
unerwünschte Huldigung dazubringen.
Gewiß kann der Fall eintreten, der Augenblick kom-
men, wo wir weichen und die Sache verloren geben,
zulassen müssen, daß der Gegner unsere Verteidigungs-
stellung besetzt, uns ihm unterwerfen, mit ihm aus-
gleichen; es kommt der Augenblick, in dem der Welt-
geist seine Besatzungen und Schildwachen verschiebt,
einige Gruppen verschmilzt und andere teilt, um neue
Kämpfe vorzubereiten. Wer sich dann darauf versteift,
den nicht mehr zu haltenden Posten zu verteidigen,
kann wohl eine im dichterischen Sinn anziehende Fi-
gur sein, in der Geschichte Cato oder in der Literatur
der ehrenfeste Ritter Don Quijote heißen. Aber Dort
Quijote ist eben Don Quijote, das heißt, Sinnbild eines
41
verrückten Heldentums, nicht politischer Tüchtigkeit ;
und Cato verdiente wirklich zwischen Hölle und Him-
mel gesetzt zu werden, in die zweideutige Stellung
eines Hüters des Fegefeuers, die ihm Dante gegeben
hat; noch vor den Sarkasmen eines Mommsen traf ihn
Hegels Urteil, seine Seele sei wohl groß, aber nicht
genug groß gewesen, da er Rom nicht zu überleben
verstand, das heißt einen Wert, der, so groß er auch
gewesen sein mag, doch immer zufällig und dem Un-
endlichen, als welches der Geist des Menschen ist, unter-
geordnet bleibt. Freilich verdeutlicht uns das sittliche
Mitgefühl, das uns die Don Quijote im Schrifttum
und die Catonen in der Geschichte einflößen, die große
Achtung, die der menschliche Geist dem zollt, der,
auch über das Notwendige hinaus, den ihm vom Schick-
sal oder von Gott angewiesenen Platz verteidigt. Diese
Haltung ist verdienstlich, weil sie dem Gotterwählten,
dem Sieger selbst nützt, das heißt dem, der der neue
Vertreter des Weltgeistes in einem bestimmten Augen-
blicke ist, da sie seinen Sieg schwieriger und erhabener
macht, und der auf diese Weise das Beste des Gegners in
sich aufnimmt. Nicht die Bekehrung oder der Gesin-
nungswechsel an sich ist es, der mißfällt, weil dies
dem Leben selbst widerstreben hieße, das sich fort-
während umkehrt und ändert, sondern Bekehrung,
die geistige Leichtfertigkeit, Wechsel, der sittliche
Schwäche ist, hervorgerufen durch Gedankenlosigkeit
oder privaten Vorteil. Die Hartnäckigkeit dagegen,
falls sie nicht Heuchelei oder Eitelkeit, sondern
überströmende und fanatische Leidenschaft der Pflicht
ist, mag wohl ein Fehler sein, aber ein aristokrati-
scher Fehler, der sozusagen vor gemeineren Fehlern
behütet.
4»
Die Parteigänger der abstrakten Gerechtigkeit, die
die Erfahrungswerte mit den absoluten verwechseln
und diese nach Art jener behandeln wollen, stürzen sich
damit nicht nur in ein eitles Beginnen, sondern sie
werden, aus übelverstandener Liebe zur Gerechtigkeit,
ungerecht; in allzugroßem Vertrauen auf die abstrakte
Gerechtigkeit machen sie sich eines allzu geringen Ver-
trauens auf die konkrete Gerechtigkeit schuldig, die
sich in der Welt darstellt und die die einzige ist, die
mit Nutzen angerufen und gefördert werden kann.
Gleicherweise, wenn nicht schlimmer, irren die Partei-
gänger des Kampfes ohne Gerechtigkeit, wenn sie, aus
der entgegengesetzten Einseitigkeit heraus, die abso-
luten Werte in solche der Erfahrung verkehren, nichts
anderes als das Vaterland oder die Partei, den Gau oder
die Familie, die Klasse oder die Rasse in ihrer Unmittel-
barkeit und Roheit vor sich sehen, den edlen Krieg des
menschlichen Geschlechts in jenen unedlen, von dem
Polybius spricht, verkehren, in den aufständischer
Söldner, einen Vernichtungskrieg ohne Waffenstillstand,
ohne Treu und Glauben. Die Erfahrungswerte, das
heißt die vom bloßen Kampf begrenzten, haben ihre
Schranke in den Kulturwerten; und deshalb wird der
ebenso bewundert, der sein leibliches Glück und sein
Leben dem Vaterland oder der eigenen Partei zum
Opfer bringt, wie derjenige Tadel und Abscheu erregt,
der dem einen oder der andern die Wahrheit oder die
Sittlichkeit opfern will : Dinge, die ihm nicht zugehörig
sind, „ungeschriebene Göttergesetze", die kein mensch-
liches Gesetz verletzen kann. Es gibt ein uns räumlich
ziemlich nahegerücktes Volk, das die Beleidigung und
den Hohn gegen die feindlichen Völker für eine gute
Waffe hält; allein es ist es eine wenig sichere und schließ-
43
lieh den, der sich ihrer bedient, selbst schädigende Waffe ;
daher der Rat, sie von Zeit zu Zeit mit der anderen, der
Schmeichelei, zu vertauschen, die nicht weniger unge-
eignet ist, dort, wo die Völker unter sich nicht durch
ihre Laune, sondern ihre geschichtliche Sendung ent-
zw^eit sind, und sich untereinander nur soweit und für
solange ausgleichen können, als es ihnen die Geschichte
zubilligt oder auferlegt, durchaus nicht so oft und so viel,
wie die Launen des Gefühls oder abstrakte Gedanken-
verbindungen es heischen. Es gibt ferner ein anderes,
in der europäischen Gesittung hervorragendes Volk, das,
wenn es die harten Notwendigkeiten der Politik und
des Krieges zu erfüllen hat, dies gerne mit einem Grinsen
der Wildheit tut, die an den Hunnen Attila oder den
Langobarden Alboin erinnert, als er, nicht befriedigt
davon, Kunimund besiegt und dessen Schädel zum
Trinkbecher gemacht zu haben, die Tochter des Ge-
töteten zwang, aus der schauerlichen Schale zu trinken.
Aber weder Falschheit noch Verleumdung, weder Be-
leidigung noch Lust an Verrat und Gemetzel gehören
zu den Pflichten des guten Bürgers und des aufrichtigen
Vaterlandsfreundes. Auch wo der Kampf zu Listen
zwingt, die Verstellung, und zu Taten, die Gewalt sind,
muß das Bewußtsein, höhern Absichten zu dienen und
einer Notwendigkeit zu gehorchen, vor der die eigenen
Stimmungen und Neigungen zurücktreten müssen, den
Gemütern etwas Strenges und selbst Schwermütiges
verleihen. Ich weiß nicht, ob Fürst Bismarck wirklich
die Emser Depesche gefälscht hat, und gebe sogar zu,
wenn man will, daß er nicht anders handeln konnte
und seine Pflicht als guter Preuße erfüllt hat; allein die
Genugtuung, mit der er wiederholt den begangenen
Betrug erzählte (um so schlimmer, wenn er ihn tatsäch-
lieh nicht begangen und sich seiner nur ins Leere hin-
ein gerühmt hat!) ist zu verurteilen, wirft einen Schatten
auf sein Andenken, und lastet wie eine zu sühnende
Schuld auf dem großen Volke, das sein Tun bewundert
hat, wenn anders der Mangel an Bedenken und ein ge-
wisses Etwas von Rohem und Zynischem, das man
häufig am heutigen Deutschland bemerkt, eine Schuld
ist. Vielleicht erklärt es diese Lust an der Schadenfreude,
wenn der in Ungnade gefallene Bismarck unter sich
herabzusteigen scheint, da wirklich an diesem ganz
Großen irgend etwas Kleinliches war. Als eine viel
feinere Natur enthüllt sich uns Cavour, der, zu Ver-
stellungskünsten ganz ähnlicher Art wie denenBismarcks
gezwungen, den Zwiespalt zwischen dem, was er nie-
mals für sich selbst zu tun gewagt hätte, und dem, was
er für Italien getan, empfand; er starb wie ein Held,
auf seinem Sterbelager nicht von sich, sondern von
Italien sprechend.
Wollen die modernen Italiener, mit so erhabenen
Beispielen aus ihrer jüngsten Geschichte, um den halt-
losen Liberalismus und Humanitarismus, die politische
Naivetät, in der sie sich allzulange gewiegt haben, gut-
zumachen, sich deshalb den trüben Gelüsten überlassen,
die die Fürsprecher des nationalen Kampfes ohne Ge-
rechtigkeit und ohne Treue hegen .? Wollen sie das frei-
beuterische Italien der Borgia eines neuesten Dichters
und Rhetors zum Höchsten ihrer Seele machen, und
nicht lieber jenes, von dem Niccolo Tommaseo geträumt
hat, „streng und demütig, gewappnet und liebend"?
Das Gleichgewicht des Gemütes und geistige Feinheit
sind italienische Errungenschaften, die, wie ich glaube,
etlichen Landgewinn aufwiegen, und die mit aller Ent-
schiedenheit gegen die Übertreibungen und Entartungen
45
sowohl der Nebelhaften wie der Materialisten der
Politik aufrecht erhalten werden sollten.
KAMPFMETHODEN DES ITALIENISCHEN
NATIONALISMUS [Italia nostra, 3. Jänner 1915). -
Es ist ein Jahr oder wenig mehr, da suchte mich ein
Nationalist, der ein alter Freund von mir ist, auf; er gab
mir seinen Wunsch kund, mit mir, dessen Redlich-
keit und Klarheit des Urteils (wie er sich höflicherweise
ausdrückte) er sehr schätze, eine Unterredung über den
Nationalismus zu pflegen. In dieser freundschaftlichen
Unterhaltung suchte ich meinem national gesinnten
Freunde klar zu machen, daß das Unrecht des Natio-
nalismus darin bestehe, sich selbst auf das Feld der
Demokratie und der nationalen Undiszipliniertheit, die
er ja doch bekämpfen wolle, zu begeben; damit werde
eben die Möglichkeit genommen, die gegnerische Partei
zu überholen und in sich selbst aufgehen zu lassen, wie
dies jede Partei, die der anderen in Wahrheit überlegen
sein wolle, tun müsse. — Die spätem Ereignisse haben
mir vollständig recht gegeben. Nicht daß ich ein Pro-
phet wäre! Immerhin fehlt mir aber nicht eine durch
lange Übung gefestigte Fähigkeit, die logischen Folgen
gewisser geistiger Einstellungen zu erkennen, auch be-
vor sie noch in Tatsachen oder Worten Gestalt an-
nehmen.
Freilich hat sich der Ausgleich des Nationalismus
mit dem Demokratentum und der freimaurerischen
Französelei, den wir eben mitmachen, auch dorthin
erstreckt, wo ich wegen der verschiedenen Gemüts-
anlage und Herkunft der Einzelnen eine gewisse Schei-
dung erhofft hätte. Denn leider haben sich die
Nationalen jetzt die übelsten Kampfmittel der äußer-
46
sten Parteien zu eigen gemacht: Verdächtigung und
persönliche Beleidigung.
Es ist eine Richtschnur für anständige Kamptesweise
(ganz verschieden von der, vvrelche die politischen De-
magogen und Marktschreier aller Zeiten anwenden),
den Gegner nur in dem zu treffen, vvras er gegen die
Sache, die w^ir für gerecht ansehen,*vorbringt und tut,
wie allein in dem, was mit ihr zusammenhängt. Alles,
was über diesen Umkreis hinausgeht, ist ein unerlaubter
Versuch von Vergewaltigung, die — so urteilt der ge-
sunde Menschenverstand — unsern Behauptungen nicht
zugute kommt, sondern lediglich deren Schwäche ent-
hüllt.
Sehen wir doch ein wenig zu ! Die Nationalen haben
beispielsweise (darin die Sozialisten der Mussolinischen
Richtung nachahmend) die „deutschen Gattinnen" des
einen oder andern Gegners deutschfeindlicher Verleum-
dungen und des überstürzten Krieges aufs Tapet ge-
bracht. Wer verleiht ihnen das Recht, in das innerste
Heiligtum des Gewissens einzudringen und für sicher
anzunehmen, ein Mann schöpfe seine Gesinnung aus
dem ehelichen Gemach? Vermögen sie nicht einzu-
sehen, daß eine Anklage dieser Art zu denen gehört,
die sich nicht abwehren lassen, und daß sie darum das
Wesen einer abscheulichen Vergewaltigung annimmt?
Gewiß wären wir Gegner imstande, ein Verzeichnis
der französischen, englischen, russischen oder serbischen
Frauen, Freundinnen oder Geliebten der Nationalen
aufzustellen; aber wir unterlassen es nicht nur aus
Achtung gegen die Damen, sondern auch gegen uns
selbst. Ist es schön, den Gegner mit einer Waffe anzu-
greifen, die dieser für sein Teil verschmäht, weil sie
unredlich ist?
47
Weniger schlimm ist es, wenn man mir gegenüber
(dem man keine ausländischen Frauen vorwerfen kann)
dazu greift, über die Fragen der Ästhetik, der Logik
oder der literarischen Kritik, von denen ich in meinen
Schriften gehandelt habe, abfällig zu sprechen ! Allein
auch das ist, überlegt man's recht, unerlaubt; denn im
vorliegenden Falle bin ich nichts anderes als ein unab-
hängiger Bürger, der seine Gefühle oder seine Ansichten
über das öffentliche Wohl kundgibt. Ich könnte ein
ganz schlechter Kritiker und Philosoph und ein vor-
trefflicher Politiker sein oder umgekehrt, je nach Be-
lieben. Oder will vielleicht einer oder der andere dieser
Artikelschreiber aus dem Unmut, den gewisse poli-
tische Darlegungen von mir erregt haben, Vorteil ziehen,
um sich für irgendein vorausliegendes, nicht gerade
schmeichelhaftes Urteil meinerseits über seine Verse und
seine Prosa zu rächen? Auch das wäre unerlaubt.
Lassen wir demnach die Ehefrauen, die Ästhetik und
die Philosophie beiseite und sprechen wir, wenn es ge-
fällig ist, von Italien, das den Gegenstand unseres Zwie-
spalts bildet. Ich achte im gegebenen Fall alle, auch
die, die ich nicht achte, und vermesse mich, die gleiche
Behandlung zu fordern. Will man sie mir nicht zuteil
werden lassen, so mag man einer Sache gewiß sein : daß
ich für mein Teil nicht das Recht der Wiedervergeltung,
oder wie man heute nach der Ausdrucksweise der Zei-
tungsschreiber zu sagen pflegt, „Repressalien", in An-
wendung bringen werde, die mir widerstreben.
DIE POLITIK EINES PHILOSOPHIEREN-
DEN CHEMIKERS [Critica XIIl, 1915).- Wir sind
in dieser unsorer Rundschau immer bestrebt gewesen,
die Beobachtung der eigenen Grenzen zu. empfehlen;
+8
darum muf3ten wir Physikern, Ärzten, Mathematikern,
wenn sie aus dem Stegreif Philosophie betrieben, ent-
gegentreten, darunter auch dem Chemiker Ostwald, als
Verfasser eines philosophischen Systems unter dem Titel
einer „Naturphilosophie". Denn die Grenzüberschrei-
tung ist gefährlich und sie schädigt nicht nur das Feld
der Philosophie, sondern noch viel schlimmer das der
politischen und praktischen Fragen; hier gibt es immer
einige oder viele, die die Dilettantismen und Kindlich-
keiten der Sonderforscher als „Offenbarungen der hohen
Gedanken des ausgezeichneten Gelehrten usw." gläubig
aufnehmen. Und nun zeichnet eben Ostwald, der vom
Chemiker sich zum Philosophen, und vom Philosophen
zum Politiker erhebt (oder herabsteigt), mit sicherer
Hand das künftige Europa unter deutscher Vorherr-
schaft, die den übrigen Völkern die politische, gesell-
schaftliche und wirtschaftliche Richtschnur geben, und
falls diese sich nicht dazu bequemen wollen, bereit sein
wird, „sie mit Gewalt dazu zu zwingen". Allerdings
macht Ostwald ein kleines Zugeständnis: „Wir denken
nicht daran (sagt er), nach dem Siege der übrigen Welt
die deutsche Sprache, den deutschen Gedanken, nicht
einmal die deutsche Ästhetik und Kunst aufzuzwin-
gen . . ." ; denn dem stehen einige „praktische Schwierig-
keiten" entgegen, auch „der Geist, in dem sich unsere
Kultur entwickelt hat!" Einstweilen stellt er aber die
vollkommene Vereinheitlichung des Maß- und Ge-
wichtswesens in Aussicht, dann die Vollendung ver-
schiedener Unternehmungen wissenschaftlicher Art,
wenn die Vereinigten Staaten von Europa unter deut-.
scher Leitung und mit dem deutschen Kaiser als Vor-
sitzenden, das Amt der Zivilisation der Menschheit auf
sich genomrnen haben werden. Der gelehrte Chemiker
4 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen AQ
hat sich wohl nie die Frage gestellt, was für eine Wissen-
schaft und was für eine Kunst wohl aus einer Massen-
arthäufung von Völkern, die gleich einer Herde behan-
delt werden sollen und der Empfindung von Freiheit
und Würde beraubt sind, hervorgehen soll : ein Zweifel
daran wäre das Anzeichen einer geistigen Feinheit, über
die er augenscheinlich nicht verfügt. Wäre dies der Fall,
so hätte er vielleicht darauf verzichtet, jetzt über Politik,
wie vorher über Philosophie zu schreiben. Als guter
Patriot, der er zweifellos ist, hätte er sonst bemerken
müssen, daß er seinem eigenen Lande großen Schaden
tut, wenn er der Welt das als deutsches Ideal ver-
kündet, was gerade der deutsche Nationalfehler ist: die
Pedanterie.
HEGELFEINDLICHE VERSTIMMUNGEN
(Critica XIII^ 1915)- — Im eigensten Bereich dieser
Randbemerkungen verbleibend, die wundersame Aus-
sprüche, so wie wir sie aus Zeitschriften, Rundschauen
und Büchern sammeln, kurz erläutern sollen, können
wir unmöglich an einem der verschiedenen Aufsätze
vorübergehen, die Guglielmo Ferrero verfaßt hat, um
mit der Leuchte seines Gedankens den europäischen
Krieg zu erhellen ; es ist der über Internationale Gerech-
tigkeit, erschienen im Secolo vom 21. April. Diesmal
können die Erläuterungen fast wegbleiben, da die Aus-
züge genügen werden. Ferrero hat es mit Hegel zu
tun, der, wie es scheint, sein hohes sittliches Gefühl be-
leidigt und dessen Gedankengang er folgendermaßen
wiedergibt: „Die Tyrannei ist ebenso heilig wie die
Freiheit, weil, wäre sie nicht, der Mensch nicht einmal
den Gedanken der Freiheit fassen könnte. Gesegnet
auch der Krieg, weil er die Antithese und mithin die
50
Bedingung des Friedens ist . . . Es gibt keinen gelun-
genen Schurkenstreich, der sich nicht auf diese Weise
rechtfertigen Ueße." Wie unsere Leser gleich bemerken
werden, ist dieses „ebenso heilig" etwas, das nicht aus
dem Gehirn Hegels, sondern aus dem Ferreros stammt,
und es steht hier, um den demokratischen Lesern des
„Secolo" den gebührenden Schauder einzujagen.
Was das Weitere anbelangt, daß die Freiheit die Ge-
waltherrschaft voraussetze und der Frieden den Krieg,
so wäre es höchst seltsam, wenn Hegel oder irgendein
anderer vernünftiger Mensch das Gegenteil behauptet
hätte; nämlich, daß der Begriff des Friedens ohne den
des Krieges entstehen könne, der Begriff der Freiheit
ohne den der Gewaltherrschaft oder der der Mehrheit
ohne den der Minderheit, das Ja ohne das Nein! Es
folgt dann ein geschichtliches Bruchstück, in der Art
jener Geschichte, wie sie Ferrero vorzutragen pflegt,
ohne jede Hemmung verlaufend, weil vollkommen er-
funden. „Als der Hegelianismus aus den nördlichen
Ländern, in denen er geboren worden war, in die Welt
hinaus drang und die Grenzen des alten Römerreichs
zu überschreiten versuchte, erweckte er bei seinem Er-
scheinen eine Art vonSchauder. Diese unselige Sophistik,
die alle Merkmale des Guten und Bösen zu Nutz und
Frommen aller Streber — mochten sie Völker, Staaten,
Klassen, Parteien und einzelne Menschen sein — ver-
wischte, flößte den höher stehenden, tieferen und edleren
Geistern der lateinischen Lande Entsetzen ein." Das
soll der erste geschichtliche Abschnitt der Schicksale
des Hegelianismus sein, von dem man nicht weiß, wo
und wann er sich entwickelt haben soll ; gewiß nicht in
Italien ; denn die Einführung des Hegelianismus fiel mit
dem nationalen Erwachen zusammen, mit den liberalen
4»
51
Bewegungen und mit der Revolution von 1848: in
Neapel v\rar „Hegelianer" gleichbedeutend mit „Ver-
schwörer gegen die Bourbonen" ; und Hegelianer waren
gerade damals bei uns alle die „zuhöchst stehenden,
tiefsten und edelsten" Geister, die ihr ganzes Leben für
das Vaterland dahingaben. Gehen wir zur zweiten
Periode über: „Hieraufkamen aber die politischen und
wirtschaftlichen Umwälzungen der zweiten Hälfte des
neunzehnten Jahrhunderts, die Befleckung der Klassen
und ihrer Bestrebungen, das Zeitalter des Eisens und
Feuers, der Sieg der Quantität, das Aufkommen des
geschäftstüchtigen Bürgertums. In dieser ungeheueren
Umwälzung und Verkehrung machten vor den Augen
der unwissenden rohen Kaufmannsregierungen alle
Philosophien, die dazu beitrugen, die Grundsätze von
Gut und Böse zu vermengen, irgendwie Glück oder er-
weckten zum mindesten nicht den Abscheu wie früher.
Das Jahrhundert wurde unduldsam und zugleich Zu-
geständnissen hold. Wenn auch nicht gerade die Philo-
sophie Hegels (den niemand mehr las), so verbreitete
sich doch sein Geist über die Welt, bis ..." Alles das soll
sich in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts
zugetragen haben, bekannt dadurch, daß sie den Philo-
sophien jeder Art abgeneigt war, sowie durch den
Triumph der Naturwissenschaften und des mit ihnen
verbundenen Positivismus, durch ihr Ideal eines all-
gemeinen Friedens und den demokratischen Traum von
einem tausendjährigen Reich! Freilich hat uns Ferrero
längst an dergleichen Auf-den-Kopfstellen hergebrach-
ter Meinungen gewöhnt, er, der ein andermal entdeckt
hat, daß Italien nach 1860 den Protestantismus, die
Mystik, die Metaphysik sich zu eigen gemacht und die
schönen Künste vernachlässigt habe! (Vgl. Critica IX,
52
52.) Alles Gift der Sache liegt jedoch in der dritten
„Periode" der Geschichte des Hegeltums, wie sie Ferrero
uns mit Meisterhand umreißt: „. . . bis zu Beginn des
zwanzigsten Jahrhunderts in diesem unserem Lande, das
immer der bevorzugte Boden von Abenteurern
aller Art gewesen ist, der Versuch gemacht wurde,
jene Philosophie (den Hegelianismus) unter seinem
wahren Namen wieder zur Geltung zu bringen: eine
der traurigsten Erscheinungen in diesen fünf-
zehn Jahren sittlicher und geistiger Auflösung,
von der man hoffen darf, daß der europäische Krieg ihr
irgendwie ein Ende bereiten werde."
Daß hier von uns die Rede ist, liegt auf der Hand;
noch klarer ist es, daß Ferrero — der, kühn gemacht
durch den Wirbel und die geistige Verworrenheit des
Tages — so gut wie er es vermag, sein Mütchen zu
kühlen sucht für das Hemmnis, das sein Ehrgeiz (der
wohl nicht der eines „Strebers" war?), eine gewisse Lehr-
kanzel für Geschichtsphilosophie in Rom zu ergattern,
in dem offenen Wort eines dieser „Abenteurer" ge-
funden hat. Wir fragen aber, ist es möglich, daß er jetzt
noch, in der Kriegszeit, an Armseligkeiten von dieser
Art denkt.?
ITALIENS EINTRITT IN DEN KRIEG UND
DIE PFLICHTEN DES GELEHRTEN {Critica
XII, Mai 1915). — Als im Juli des vorigen Jahres der
europäische Krieg ausbrach, war es sofort klar, daß
Italien früher oder später in der einen oder anderen
Weise in ihn hineingezogen werden würde, und daß wir
am Beginn eines langen Zeitraums von Kriegen und
gründlicher Umstürze stünden, eines jener Sprünge nach
vorwärts, die das menschliche Geschlecht unter unge-
53
heueren Erschütterungen vollzieht; — für unser Teil
entschlossen wir uns, unsere Kräfte wohl zu sammeln,
um, klaren Geistes bei bedrängter Seele, unsere For-
schungen und Arbeiten fortführen zu können.
Keine würdige Sache erschien uns jedoch jenes
Sichverlieren in hohle Einbildungen und noch hohlere
Worte, das wir sogleich an sehr Vielen unter dem
Anschein einer edelmütigen Besorgnis um die Ge-
schicke der Menschlichkeit und des Vaterlandes wahr-
nahmen, das aber in den meisten Fällen tatsächlich
nichts anderes war, als die einfache Hingabe an den stets
verlockenden Trieb zur Denkfaulheit, verhüllt unter
dem Vorwand des Krieges und des zu gewärtigenden
Eintritts Italiens in den Krieg. Es sind das Einbildungen
und Schwätzereien, die, lassen sie sich auch nicht gänz-
lich verhindern (weil auch sie im Verlauf der Wirklich-
keit ihr Amt ausfüllen), doch Dinge sind, die nicht
gefördert werden dürfen, weil sie sich ohnehin von
selbst bewegen, vielmehr in Schranken gehalten wer-
den müssen.
Ebensowenig vermochten wir uns, nach der Art
solcher Wirrköpfe, in der Erwartung zu beruhigen,
nach dem Kriege würde eine neue Kunst, ein neuer
Stil, eine neue Wissenschaft, eine neue Philosophie,
eine neue Geschichtschreibung erstehen; wir vermoch-
ten es nicht, weil wir allzugut wußten, daß dies alles
nicht Gaben sind, die vom Himmel fallen, oder mecha-
nische Ergebnisse militärischer Siege und politischer
Umwälzungen, sondern Werke des Gedankens, der
seine Arbeit unberirrt fortsetzt, die neuen Ereignisse
bewältigend, daß mithin, wer vor dem Kriege nicht
die Fähigkeit und die Methode zu arbeiten und zu
denken besessen hatte, sie auch nach dem Kriege nicht
54
zu erwerben imstande sein werde, gleichsam als wäre
das eine einfache Folge des Krieges.
Auch hielten wir es keineswegs für löblich, was wir
fast überall (und in Frankreich nicht weniger als in
Deutschland) an unterschiedlichen in der Wissenschaft
hervorragenden Männern gesehen haben und sehen:
nämlich, wissenschaftliche Begriffe als Stütze dieser
oder jener zufälligen politischen Ansicht zur Ver-
teidigung oder zum Angriff auf dieses oder jenes Volk
zu gebrauchen; obwohl sie damit sicher vermeinen,
als gute Bürger, gute Patrioten oder treue Staatsdiener
zu handeln. Allein über der Pflicht gegen das Vater-
land steht die Pflicht gegen die Wahrheit, die alles
andere in sich begreift und rechtfertigt; die Wahrheit
verdrehen, Lehren zu zimmern, wie zum Beispiel die,
die wir jetzt, zu unserer nicht geringen Verwunderung,
von hervorragenden deutschen Geschichtsforschern
und Theoretikern darlegen hören, — daß der wahre
Zukunftsstaat nicht der auf völkischer Grundlage
ruhende, sondern jener sei, der den „natürhchen Be-
standteil" des Volkstums überwunden habe und in
rein juridischer Form, nach Art Österreich-Ungarns,
aufgebaut sei! — oder die Anwendung, die Bergson
von seiner Lehre des „Mechanismus" auf den deut-
schen Generalstab und der des „lebendigen Schwunges"
auf den französischen macht! — fürwahr, das alles
ist nicht ein dem Vaterland erwiesener Dienst, sondern
ein Schandfleck, der ihm angehängt wird, ihm, das
auf den Ernst seiner Forscher ebenso zählen können
muß wie auf die Züchtigkeit seiner Frauen. Der
Mann der Wissenschaft darf nicht mit den Leiden-
schaften wetteifern, wenn diese am Werk sind, Trug-
bilder von Liebe und Haß zu schaffen, wenn er auch
55
nicht erwarten kann, mit seiner Wissenschaft jene
außerhalb der Wissenschaft entstandenen Bilder aus-
zulöschen, wirksam im Leben, wo sie ihre selbsttätige
Richtigstellung in andern aus abweichenden oder ent-
gegengesetzten Gefühlen stammenden Bildern finden.
Während nun einige literarische Zeitschriften Italiens
schon seit Monaten ihr Erscheinen „des Krieges wegen"
eingestellt, andere dagegen es aufgegeben haben, von
Literatur und Kunst zu handeln, um ihre Spalten mit
mehr oder weniger törichten Aufsätzen über den Krieg zu
füllen, hat sich in dieser unserer Rundschau keine Rück-
wirkung des Krieges bemerkbar gemacht; sie setzte ihre
geschichtlichen Untersuchungen, ihre philosophischen
Erörterungen, ihre kritischen Urteile fort, als gäbe es kei-
nen Krieg. Wohl haben wir anderwärts, so gut wir es ver-
mochten, unsere Bürgerpflicht erfüllt, indem wir poli-
tische Erklärungen abgaben und jene Dienste leisteten,
die wir leisten zu können glaubten; vielleicht haben
auch wir uns bei diesen Gelegenheiten zu Einbildungen,
ja selbst zu müßigem Gerede verführen lassen; allein
wir haben uns wohl gehütet, aus dieser der Wissen-
schaft gewidmeten Rundschau die Tribüne unseres
Patriotismus, das Tagebuch unserer Besorgnisse und
Ängste, unserer persönlichen Hoffnungen zu machen.
Wir wissen nicht, ob dieses Verhalten, das uns der
Billigung wert erscheint, auch allgemein gebilligt wird;
wir haben vielmehr in mancher Rundschau oder Tages-
zeitung gelesen, oder es ist uns zu Ohren gekommen,
daß wir die gegenwärtige Gelegenheit unterlassen hät-
ten, „unser Wort in die Wagschale zu werfen, um in
'der Schicksalsstunde Italiens den Geistern den Weg zu
weisen, sie zu berichtigen und anzufeuern". Auf Grund
welchen Ansehens hätten wir dies tun sollen.? Wo es
56
sich um den Vorteil und die Ehre des Vaterlandes han-
delt, fühlen wir uns keinem andern Italiener nachstehend,
aber ebensowenig über ihm stehend; und uns irgendeines
auf dem Gebiet der Forschung erworbenen Ansehens
zu bedienen, um unserem einfachen Bürgerwort mehr
Gewicht zu geben, das scheint uns unerlaubt. Eine
Dichtung entsteht, wenn die Eingebung vorhanden
ist, und die Eingebung läßt sich nicht befehlen, auch
nicht im Namen des Vaterlandes; ebensowenig die
Wissenschaft, falls ein Gedankenproblem vorhanden
ist, ein Problem, das nicht zu jenen gehört, die von
der Vaterlandsliebe gestellt und gelöst werden. Aber
Dichtung wie Wissenschaft dürfen sich nicht dazu her-
geben, das schweigsame, verborgene, geheimnisvolle
Schöpferwerk von Gefühl und Willen mit falscher
Poesie und falscher Wissenschaft aufzuputzen.
Mit solchen Vorsätzen, oder besser mit der Dar-
legung, die wir von solchen schon seit langem gefaßten
und ins Werk gesetzten Vorsätzen gegeben haben, wol-
len wir die vorliegende Rundschau auch weiter fort-
führen; in der Hoffnung, etwas Nützliches und darum
nicht Unerwünschtes denen zu tun, die auch während
des europäischen und nationalen Krieges das Bedürfnis
haben, täglich einige Stunden ihrem gewohnten Tage-
werk des Studiums zu widmen; jedenfalls wollen wir
von jetzt an auf uns selber wohl acht haben, das heißt
uns selber nach der Wiederkehr des Friedens den Vor-
wurf zu ersparen suchen, wir hätten die uns zur Ver-
fügung stehende Zeit schlecht angewendet oder gerade-
zu vergeudet. Auf der andern Seite wollen wir uns
klare Rechenschaft von der Entwicklung des geschicht-
lichen Gedankens Italiens, der durch so viele Fäden
mit seinem politischen Gedanken verknüpft ist, zu
verschaffen suchen, von der Morgenröte seiner Wieder-
erhebung an bis zum gegenwärtigen Tage ; desgleichen
eine genaue Kenntnis der Kulturbestrebungen in den
verschiedenen Landschaften Italiens während der letz-
ten fünfzig Jahre ^) ; denn sind das nicht ebenfalls vater-
ländische „Erfordernisse" ? Wer dazu imstande ist, hat
unterdessen die Verpflichtung, diese und andere ähn-
liche Erfordernisse nicht außer acht zu lassen, will er
nicht (und damit greifen wir auf das zu Beginn Gesagte
zurück) mit dem Glorienschein des Außergewöhnlichen
eine ganz gewöhnliche Faulheit und Unschlüssigkeit
umkleiden.
D'ANNUNZIOUNDCARDUCCI(Cr/V/r^X7//,
Mai 191 5). — In dem beklemmenden Augenblick
knapp vor der Kriegserklärung ist Gabriele d'Annunzio
nach Italien zurückgekehrt, den wir nicht zum Hohn,
sondern ihm zum Lobe „Ex-Dichter" nennen wollen;
nämlich um zu erinnern, daß er trotz allem dem ita-
lienischen Schrifttum Blätter von wundervollster Poesie
geschenkt hat; es wäre ungerecht, sie in dem Sturm
des Tadels zu vergessen, den jener schlechtere Teil
seines Wesens vollauf verdient, welcher sich von den
„Schiffsoden" über die Dramen, das Buch der „Elektra"
und die „Gesänge von Übersee" zum „Kirchfest von
Quarto" erstreckt, einem des ersten großen Kriegs des
vollständig geeinten Italiens wenig würdigen Tageruf.
Hingegen sind, nachdem der flüchtige Lärm der Kund-
^) Croce spielt damit auf seine „Geschichte der italienischen Geschicht-
schreibung seit Beginn des 19. Jahrhunders bis auf unsere Tage" an, die erst
Ende 1920 zum Abschluß kam, sowie auf die von verschiedenen Mit-
arbeitern herrührenden „Beiträge zur Geschichte der italienischen Kultur in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" (nach Landschaften, Toskana, Pie-
mont, Venetien usw.), die noch fortlaufen. D. Ü.
58 ■
gebungen und der hochtrabenden Reden verhallt ist,
die Litaneien des „Kirchfestes", die „Fromme Jung-
fräulichkeit der Dardanellen", das „Wappne den Bug
und lichte die Anker, der Welt entgegen", und ähn-
licher abgeschmackter Schwulst gänzlich zur Seite ge-
treten ; dafür drängen sich die Bilder, Strophen, Rhyth-
men Giosue Carduccis von selbst allen auf die Lippen.
Ein Wunder der Wahrheit, das w^ieder ersteht, gerade
als man es erstickt und der Vergessenheit anheim-
gegeben dachte; aufrechte Worte, deren Wert, deren
Wirksamkeit ew^ige Dauer hat! Denn dies ist wirklich
der Krieg, den Giosue Carducci sein ganzes Leben hin-
durch im Herzen getragen hat : der Krieg, den er immer
unter den Sinnbildern nächster und ferner Vergangen-
heit besungen hat, und der seine ganze erhabene,
schwermutvolle Dichtung gestaltet. So huldigen wir
dem Andenken unseres letzten nationalen Sehers, der
vor der stolzen Statue von Donatellos heiligem Georg
vergeblich geseufzt hat:
Sankt Georg! — könnten 's diese müden Augen sehen,
Daß vor dir zog' im vollen WafFenschmuck
Vorbei ein Volk von Helden!
und der durch lange Jahre ein von seinen Träumen so
sehr verschiedenes Italien um sich erblickte, in dem
sich gleichwohl mühsam das neue vorbereitete, jenes,
das jetzt duldet, denkt und schafft.
An diese unsere Rundschau heftet sich irgendwie
eine unbestimmte Nachrede oder ein Verdacht der Ab-
neigung gegen Carducci, der Anschwärzung seines
Werkes, nicht etwa, weil wir jemals Grund zu diesem
Urteil gegeben hätten, sondern weil ein paar junge
Leute, die nichts Besseres zu tun hatten, vor mehreren
Jahren darüber ein Geschrei erhoben, wir beleidigten
59
Carducci, und sich als seine großherzigen Verteidiger
aufspielten. Allein in den Aufsätzen über Carducci,
1910 in dieser Rundschau veröffentlicht, die eben den
Anlaß zu diesem echten und rechten, wenn auch ganz
unterhaltenden Verleumdungsfeldzug gaben, war gerade
der Versuch gemacht, den kraftvollen und originalen
Kern der Dichtung Carduccis, ihren geschichtlich-
sittlich-bürgerlichen Kern, herauszuschälen gegen jene
Kritiker, die sie als „Professorenpoesie" bezeichnet hat-
ten, wie gegen jene anderen, die von Carducci lediglich
einige wenige „landschaftliche" Bruchstücke gelten las-
sen wollten, Vorläufer, wie sie behaupteten, der „Laudi"
d'Annunzios. So möge es einmal gestattet sein, uns
selbst abzuschreiben und in dieser Rundschau einen
schon vordem in ihr abgedruckten Abschnitt zu
wiederholen; einen unter jenen Aufsätzen, die sehr gut
auf den vorliegenden Fall passen.
„Was Carducci's Herz entflammte (schrieben wir
damals), was er unablässig anstrebte, war Italiens Größe.
Alles, was dessen Geister durch ein Jahrhundert ersehnt
und gesucht hatten, von den Republikanern von 1799
bis zu den Carbonari von 1820 und dem Jungen Italien
von 1831; von Murats Soldaten bis zu denen, die
Venedig und Rom verteidigten und die Österreicher
aus den lombardischen Ebenen vertrieben; was Ros-
settis, Berchets, Leopardis, Manzonis Gesänge und
die Prosa Giobertis und Guerrazzis befeuert hatte; die
Verschwörung, die Revolution, Schrifttum und Ge-
danke Italiens während eines ganzen Jahrhunderts, alles
dies klang noch in ihm nach und verbreitete sich in
weiten Wellenringen in seinem Geiste, auch nachdem
ein so ansehnlicher Teil jener Bestrebungen Wirklich-
keit geworden war. „Italien über alles" : das war sein
60
Leitsatz, und da die Männer der Wiedererhebung das
Ideal eines kampftüchtigen ItaUen aufgestellt und zu
verwirklichen gesucht hatten, in vollem Bewußtsein
davon, daß die Vernachlässigung der WafFentüchtig-
keit und die Einbuße an Manneszucht und militä-
rischen Tugenden den Verfall Italiens verursacht und
begleitet hatten, sowie daß das künftige Italien die erste
Regung seines neuen Lebens auf den napoleonischen
Schlachtfeldern geoffenbart hatte — so träumte Car-
ducci vor allem von einem kriegerischen Italien: Die
Italiener (die sich nach jenem Ausspruch eines franzö-
sischen Generals, der übrigens der Widerhall eines über-
kommenen und jahrhundertalten Urteils war, „nicht
schlagen"), sollten sich schlagen, und Carducci froh-
lockte ; er sah nicht auf die Uniformen der Kämpfenden :
Freiwillige der Republik oder Soldaten der Monarchie,
Demokraten nach französischem Muster auf Barri-
kaden fechtend, oder Verteidiger des alten Piemont
gegen die Franzosen, in geordneten Schlachtreihen für
die Ehre und für ihr kleines Vaterland fallend:
„Und wohl ersteht und siegt,
Wer für die Heimat fällt
Im heil'gen Glanz der Waffen!"
Was verschlug es ihm, ob es junge Studenten waren,
die einem unbestimmten Humanitätsgefühl folgend,
die Waffen gegen die Türken trugen, oder Truppen-
offiziere, die Bataillone von Askaris gegen die Abes-
synier führten? Sie schlugen sich, und Carducci um-
faßte sie alle mit der gleichen Bewunderung und dem
gleichen Anteil.
Aber da jene Bewegung der italienischen Wieder-
erhebung in einer seltenen geistigen Höhe begründet
und ausgedrückt war und dem Lande nicht nur durch
6i
das vollbrachte Werk zur Ehre geneicht, sondern auch
weil sie die Feinheit, den Adel, den maßvollen Geist
dieses alten Stammes bekundet, so verkehrte sich das
von den Männern der Wiedererhebung und von Carducci
gepflegte kriegerische Ideal niemals in jenen Aben-
teurermut und in jene barbarische Roheit, die später
Imperialismus und Militarismus genannt wurden. Der
Vertreter des wiedererstandenen kriegerischen Italiens,
und Carduccis größter Held war Garibaldi, der (wie
treffend gesagt worden ist) „ruhmgekrönt durch glück-
liche WafFentaten zu Land und zur See, in der Hei-
mat und an fernen Gestaden, dennoch niemals das
Schwert des Kriegers oder des Eroberers zu führen
schien, sondern es als Werkzeug der Gerechtigkeit und
als Sinnbild künftigen dauernden Friedens schwang".
Die Triebfeder jenes Ideals war nicht der Trieb des
wilden Tiers oder des Plünderers, sondern das Be-
dürfnis nach Manneszucht und der Wunsch, den Stamm
des italienischen Bürgertums wieder zur Blüte zu
bringen. Vor zwei gleicherweise für das Vaterland ge-
storbenen Dichtern, Petöfi und Mameli, verbarg Car-
ducci nicht seine Vorliebe für den zweiten, den Kreuz-
fahrer der Idee, fein, milde, heldenhaft, der soldatischen
Wildheit des andern bar. Darum verbindet sich sein
kriegerisches Ideal ohne Zwang mit dem Abscheu vor
dem Geist der Eroberung und Unterdrückung. Die
Soldaten Italiens wollen nicht schöne fremde
Küsten plündern und den Adler Roms, weiter Flüge
gewohnt, ziellos ins Weite tragen ; wohl aber ihre Her-
zen, ihre Fahnen und Erinnerungen aufrecht halten,
die Alpen und die beiden Meere schützen. Die Bogen
des Forums erwarten neue Triumphe, aber nicht von
Königen oder Cäsaren, nicht solche über kettenbeladene
bz
Menschen; sie erwarten Italiens Triumph über das
schwarze Zeitalter und über die Ungeheuer, von denen
es die Völker befreien wird. Auch dort, wo es den
Anschein hat, daß Carducci den Krieg verherrlichte,
betrachtet er gedankenvoll das Schicksal des Krieges,
lastend auf dem Menschengeschlecht, für das „Friede"
ein zweifelhaftes Wort bedeutet. Allein er möchte
dieses harte Schicksal brechen; wann wird der Friede
seine reinen Schwingen aus dem Blute erheben.? Wann
wird die Sonne nicht Müßiggang und Kriege für Ge-
walthaber bestrahlen, sondern die fromme Gerechtig-
keit der Arbeit?"
So ruft unser Erinnern an Carducci in diesen
Tagen unsere alten Gedanken an ihn wach, gegen-
wärtig und lebendig gemacht durch die Ereignisse des
Heute ; sie brauchen nicht ihren Dichter zu erwarten,
und erfordern keine andere Dichtung, da diese schon
in den Worten gegeben ist, die Giosue Carducci mit
seinem besten Herzblut genährt hat.
PHILOSOPHIE UND KRIEG {Critica XIII,
August 1915). — Was ich im vorigen Hefte über die
Pflichten der Männer der Wissenschaft in der Kriegs-
zeit schrieb, hat die Verwunderung Garganos (Mar-
zocco, I. August) erregt, der sogar davon Anlaß nimmt,
den Nutzen der Philosophie in Zweifel zu ziehen. Ich
meine jedoch, daß die Verwunderung meines geschätz-
ten Gegners sich sogleich bei der Erwägung legen wird,
daß die Philosophie nicht bloß die Wirklichkeit, son-
dern auch sich selbst, das heißt ihre eigenen Grenzen,
kennt, und wohl weiß, daß, sowie die großen Staats-
lenker niemals Philosophen, sondern Menschen der
Leidenschaft und des Willens gewesen, so auch die
63
Kriege durch den tiefen Trieb und die Leidenschaften
der Völker, die mit ihrer dunklen Arbeit die Wege der
Zukunft erschließen, bestimmt und getragen worden
sind. Dem Philosophen, insofern er Patriot ist, liegt
zu Kriegszeiten keine andere Pflicht ob, als die Philo-
sophie beiseite zu lassen und sich mit seinem Volk
völlig eins zu fühlen : Volk zu werden. Was ferner den
„Nutzen" der Philosophie anbelangt, so braucht er
weder hervorgehoben noch verteidigt zu werden, da
eine ewige Grundwirksamkeit des menschlichen Geistes
dessen nicht bedarf; hier handelt es sich nur darum,
klarzustellen, daß ihr Nutzen in ihr selbst beschlossen
ist und darin liegt, daß sie für das Hervorbrechen der
Leidenschaften und des werktätigen Handelns immer
höhere Bedingungen schafft; mildert und verfeinert
die Kunst die Gemüter, so erhellt sie der Gedanke.
Befindet sich aber das Tun im vollen Strom seiner Ent-
wicklung, so ist es vergebens, philosophische Hilfen
dafür bieten oder fordern zu wollen : oportet studuisse,
non studere, es ist dann die Zeit des Bewährens, nicht die
kritischer Forschung und Darlegung. Macht die deut-
sche Philosophie Deutschland zu dem, was es jetzt ist?
Man behauptet es, und trotzdem verhält es sich nicht
also. Sicherlich hat die philosophische Erziehung dazu
beigetragen, Deutschland geistig kraftvoller zu machen
(ebenso wie sie es mit dem italienischen Volke im Zeitalter
der Renaissance getan hat) ; aber an sich hat sie kein Ver-
dienst und keine Verantwortlichkeit an der unbezähm-
baren Sucht nach Wachstum und Ausbreitung, die das
deutsche Volk ergriffen und es zu einem wütenden
Ringen mit den übrigen Völkern Europas geführt hat;
und noch viel weniger an diesem oder jenem werk-
tätigen Entschluß der Deutschen, an der Verletzung der
64
belgischen Neutralität, an der Beschießung offener
Städte, am Flug lenkbarer Luftschiffe über Paris und
ähnlichem. Selbst die Lehre vom Recht als Macht
(alles eher denn deutsch in ihrem Ursprung, vielmehr
italienisch, von Macchiavelli an bis auf Vico und den
Abbe Galiani) ist gänzlich unschädlich ; und bis gestern
haben wir uns ihrer bedient, Philosophen wie Histo-
riker, werden dies auch morgen tun, wie ich für mein
Teil mich ihrer auch heute bediene, um den Gang der
Geschichte zu verstehen: da ich nicht im mindesten
gewillt bin, sie mit der hohlen Fortschritts-, Auf-
klärungs- und Wohlfahrtslehre des achtzehnten Jahr-
hunderts zu vertauschen. Allein jene Lehre ist weit-
räumig genug, um ebensowohl die Macht der Aristo-
kratie, wie jene der Demokratie, die der Nationalität,
wie jene der Menschenrechte in sich aufzunehmen;
gerade so, wie in der Umwälzung von 1 848 Konser-
vative, Liberale wie Sozialisten an der Hegeischen
Philosophie eine Stütze fanden, als einer geistigen Grund-
lage, die den allerverschiedensten werktätigen Ent-
schließungen gemein war. Lese ich die Schriften und
Aufsätze, die mir aus den Ländern unserer Verbündeten,
namentlich aus Frankreich, zukommen, und in denen
der wirksamen Betätigung der kriegerischen Tüchtig-
keit Deutschlands theoretische Hohlheiten über die
demokratischen Ideale, über das Reich des Friedens
und der Gerechtigkeit gegenübergestellt werden ; höre
ich gar den Russen Herrn Sasonoff auf die Einnahme
von Warschau mit dem Vorwurf der „abscheulichen
Lehre von der Macht" antworten, so überkommt mich
tiefe Schwermut, denn mir scheinen dies alles Merk-
male der Schwäche, oder mindestens Anzeichen, daß
in den lateinischen und slawischen Ländern die Geister
5 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 6c
keineswegs auf der Höhe der Ereignisse, die sich ent-
wickeln, stehen. Statt dessen müßte man einfach sagen:
Wie ItaUener (oder Franzosen, Engländer, Russen usw.)
sind Italiener (oder Franzosen, Engländer, Russen usw.),
und da der Verlauf der Ereignisse nun einmal Europa in
Kriegszustand versetzt hat, so wollen wir uns bis zum
äußersten schlagen und für unser Vaterland jedes Opfer
bringen, was immer sich auch ereignen möge. Anderes
kümmert uns jetzt nicht, noch wollen wir von anderem
wissen. — Gibt es eine schönere und richtigere Philo-
sophie als diese.? Und ist es nötig, sie mit theoretischen
und geschichtlichen Ungereimtheiten zu verbrämen?
„Jawohl (meine ich Gargano zu vernehmen), weil der-
artige Ungereimtheiten ein Bedürfnis der kämpfenden
Völker bilden." Das ist nun wohl offensichtlich, da
alles, was sich ereignet, irgendeinem Bedürfnis ent-
spricht: auch die Lüge, auch das Gestammel und die
Verschmitztheit des Schülerleins, das seine Aufgabe
nicht gelernt hat. Aber daraus folgt keineswegs, daß
es rätlich sei, die Zahl der Ungereimtheiten zu ver-
mehren; ich für meinen Teil eigne mich sicher nicht
zu diesem Geschäft, und ich beklage es, daß es meine
Philosophiekollegen in andern Ländern ausüben, denen
Schweigen besser angestanden hätte. „Aber du mußt
doch mindestens das Bedürfnis fühlen, zum allgemeinen
Besten das, was du Ungereimtheiten nennst, zu be-
kämpfen!" Nun, das ist es, was ich, wenn auch mit
Zurückhaltung, tue, denn, wie gesagt, jetzt ist es nicht
an der Zeit, zu schulmeistern ; es gilt etwas anderes für
Italien: zu siegen. Und wer nicht unmittelbar zum
Siege beitragen kann, wird besser tun, sich den Auf-
gaben des gewöhnlichen Alltagslebens zu widmen, so
wie man es in Deutschland getan hat und tut, sowohl
66
in Voraussicht dessen, was nach dem Kriege geschehen
wird, als aus nationalem Stolz, um nicht zu zeigen, daß
der Krieg allen die Köpfe verdreht hat.
Wenn übrigens Gargano Lust hat, mich in der Rolle
des Schulmeisters zu sehen, so bietet sich mir dazu
Gelegenheit, dank Guglielmo Ferrero.
FERRERO UND DIE PHILOSOPHIE {Critica
XIII, August 191 5). — Dieser fährt nämlich fort, von
Dingen zu reden, die er nicht wohl versteht, von den
Problemen des Gedankens und der Kultur; von der
deutschen Philosophie, wie er sie im 6'd'f 0/0 beleuchtet
hat, geht er nun auf die Philologie über {J'ribuna,
23. Juli) und zieht zum Beweise, daß es den Deutschen
an gesundem Menschenverstände mangle, die „Homer-
frage" heran, in der ihm zufolge die europäische Bil-
dung sich nicht vermessen habe, die Schranken der
Überlieferung zu durchbrechen, „bevor die deutsche
Wissenschaft auf den Plan getreten ist." Leider lassen
ihn auch diesmal seine geschichtlichen Kenntnisse im
Stich; denn die großen Vertreter der „Homerfrage"
waren (wie jetzt allgemein bekannt ist) ein Italiener,
Vico, und ein Franzose, der Abbe d'Aubignac, denen
ein paar englische Kritiker sich zugesellten ; und schon
allzu oft ist Wolf, der sie in Deutschland wieder in
Aufnahme brachte, des Gedankenraubs bezichtigt
worden. Das will besagen, daß diese „Frage" ein not-
wendiges Ergebnis des Fortschritts der Geister in Europa
gewesen ist: die Ausdehnung der Kritik, die Spinoza
am Pentateuch und an Moses geübt hatte, auf Homer
(wie ich anderwärts darzutun versucht habe); in der
Tat wurde dadurch der Begriff der Dichtung, des
Mythus und der Urgeschichte erneuert, so daß auch
5* 67
diejenigen unter den Deutschen, die in bezug auf
Homer die grundstürzende Verwerfung des ersten Be-
ginnens verständigerweise aufgegeben haben, jetzt
nicht umhin können, zuzugeben, die „Homerfrage"
sei das grof3e Übungsfeld für die moderne Philologie
gewesen. Ferrero verweist des weiteren auf die Zer-
setzung, die die Deutschen in die Geschichte Roms
und des alten Italien gebracht und damit auch die
Italiener „bis zu dem unglaublichen kritischen Wahn-
witz eines Pais" verleitet hätten — Pais war ein anderer
Gegner Ferreros bei seinen Bestrebungen, eine Lehr-
kanzel zu ergattern, und so sucht er nun auch ihm,
wie vorher mir, anläßlich des Krieges einen Hieb zu
versetzen! Er muß aber in vollständiger Unkenntnis
dessen sein, was die Forschungen über die Urgeschichte
Italiens in der italienischen Wissenschaft der ersten
Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts vorstellen, der
„unglaubliche Wahnwitz" eines Micali, Mazzoldi,
Jannelli; sonst müßte ihm klar sein, daß die Herüber-
nahme der deutschen Forschungsweise und der „un-
glaubliche Wahnwitz" von Pais selbst einen großen
Fortschritt bedeuten, der Italien zu Ehre gereicht, und
den wir, wills Gott, auch in und nach dem Kriege
festhalten werden. Ganz zu geschweigen, daß er gegen
die deutschen Historiker und Philologen schnöden
Undank an den Tag legt, deren mühsame Arbeiten er
in seiner Geschichte Roms weidlich genützt hat. Die
beigebrachten Beispiele verallgemeinernd, klagt Ferrero
die deutsche Bildung an, sie halte die Überlieferung,
die Autorität, die festen Grundsätze nicht in Ehren;
das alles ist Literaturgeschichte vom Schlage Ferreros,
denn es ist allgemein bekannt, daß im Gegenteil Deutsch-
land mächtig dazu beigetragen hat, den geschichtlichen
68
Sinn und die Ehrfurcht vor der Vergangenheit wieder-
herzustellen, obwohl es, gerade infolge davon, mit vielen
falschen Überlieferungen und Autoritäten sowie mit
den ihnen entsprechenden falschen Grundsätzen hat
aufräumen müssen. Politische Geschichte vom Schlage
Ferreros ist weiter die krönende Behauptung, „der
europäische Krieg wäre nicht ausgebrochen, wenn das
deutsche Volk klüger oder seine Regierung schwächer
gewesen wäre: der politische Gehorsam und die geistige
Unordnung haben diese Katastrophe herbeigeführt".
Diesen vereinfachenden Behauptungen muß entgegen-
getreten werden; denn sie leiden, um nur eines zu
sagen, an demselben Fehler, der den Deutschen zur
Last gelegt wird, und stellen dem Begriff des „aus-
erwählten Volkes" den nicht weniger törichten des
„schuldigen, sündigen Volkes" gegenüber. In diesen
wechselseitigen Beschimpfungen der Völker erhalten
sich die Italiener, obwohl auch sie im Kriege stehen,
mehr als die übrigen Völker y,sceleris puri^\ als große
Herren, dank einer langen Geschichte, die sie mit be-
sonderer Einsicht und Geistesschärfe ausgestattet hat;
darum geben sie sich nicht dazu her, Beleidigungen
mit Beleidigungen zu vergelten, nicht einmal solchen
wie in den Kundgebungen österreichischer Kaiser, Erz-
herzoge und Feldmarschälle, die ihnen ganz natürlich
erscheinen müssen, weil die Geschichte nun einmal
Österreich das widerwärtige und harte Amt eines Erb-
und Polizeistaates zugewiesen hat, uns Italienern da-
gegen das entgegengesetzte Amt. Allein die „Intellek-
tuellen", das heißt die Leser ausländischer Broschüren
und Zeitungen, bemühen sich auch bei uns, das, was
die Stärke Italiens in Gegenwart und Zukunft ausmacht,
zu schwächen und das Gift in unser gesundes Blut zu
69
träufeln. Diese Bemerkung und dieser Einspruch gegen
das Vergiftungswerk, das die „Intellektuellen" in diesem
furchtbaren und erhabenen Trauerspiel des europäischen
Krieges vollführen, stammt übrigens nicht von mir,
sondern von einem englischen Schriftsteller, der seine
Bücher in italienischer Sprache veröffentlicht, von
Herrn Mackenzie {Über den bio-philosophischen Sinn
des Krieges, Genua 191 5), dem ich, zugleich mit der
gebührenden Berufung auf ihn, meine aufrichtige Freude
auszusprechen mir erlaube.
KULTUR UND ZIVILISATION {Critica XIII,
Oktober 1915). — Diese Unterscheidung ist jetzt wieder
aufgetaucht, die ungefähr vor einem Jahrhundert in
Italien eine so große Rolle gespielt hat, damals, als
sich, ein Vorzeichen der Wiedererhebung, das Nach-
denken über die Tugenden und Fehler des italienischen
Volkes vertiefte. Das, was man jetzt von den übrigen
Völkern sagt, haben damals die Italiener von sich selbst
behauptet: daß sie nämlich in den neuern Zeiten, in
und nach der Renaissance, Kultur und nicht Zivili-
sation besessen hätten; daher ihr politischer und so-
zialer Verfall und die Fremdherrschaft. Man schlage
nur — ich beschränke mich auf eine einzige Anführung
— die Geschichtswerke eines Cesare Balbo nach. Nun
verstand Balbo, gleich den andern Italienern jener Zeit,
zwar, wie wir es auch heute tun, unter „Kultur" die
theoretischen Seiten des Geistes, Kunst, Philosophie,
Wissenschaft; dagegen unter „Zivilisation" fast das
Gegenteil von dem, was man heute so nennt, und, um
die Wahrheit zu sagen, auch das Gegenteil der ge-
schichtlichen Bedeutung dieses Wortes: die Zivilisation,
die sie anstrebten, war viel eher das, was der italienische
70
Philosoph (Vico) das „edelgeartete Barbarentum" ge-
nannt hatte, der Glaube an das, was das Einzelwesen über-
mannt, die Aufopferung des Einzelwesens zugunsten
von Staat und Vaterland, die religiöse oder sittliche Auf-
fassung des Lebens, das republikanische Rom oder das
begeisterte und gläubige Mittelalter, aber nicht die
Renaissance, und noch viel weniger die demokratische
y^civilisation^'- \ und das Ende dieser Zivilisation, das
heißt dieses „edelgearteten Barbarentums" in Italien
beklagten sie, an dessen Stelle am Schlüsse des Mittel-
alters die Neigung zu Annehmlichkeiten und Vor-
teilen sowie die Sorge um die Wohlfahrt des Einzel-
wesens trat. Wie werden wir sie aber heute auffassen
nach den neuen Erfahrungen, die die Geschichte uns
auferlegt hat? Wollen wir den demokratischen, nach
Geschichte und Herkunft englisch-französischen Sinn
des Wortes: „Zivilisation" beibehalten oder wollen wir
ihn nach Art der Männer unserer Wiedererhebung
abändern ? Ich lese im Mercure de France (wohlgemerkt
im Mercure de France, und man achte wohl darauf, daß
ich nicht eine deutsche oder deutschfreundliche Rund-
schau anziehe, Heft vom i. September, S. 98) den Er-
guß eines seiner Schriftleiter, der mit Ungestüm her-
vorbricht, so wie es bei Gefühlen und Gedanken, die
von der unerbittlichen Notwendigkeit eingegeben
werden, zu gehen pflegt: „Die demokratischen Formeln
haben sich als ebenso hohl und nichtig herausgestellt
wie dereinst die monarchischen Formeln, nur mit dem
ihnen wenig zur Ehre gereichenden Unterschied, daß
die Zeit sie etwas weniger aushöhlen konnte! Wahr-
haftig, die Demokratie ist das reine Nichts! Sie ist die
Herde, die den Schäfer führt, die verkehrte Welt,
sie ist die organisierte Unordnung, Leerheit, Dumm-
71
heit! Das Recht gegen die Macht: dieses Wort ist
nichts anderes als eine armseHge Erschleichung, wenn
das Recht sich nicht seine eigene Macht zu
schaffen imstande war! . . ." Ich freue mich, daß
diese Anschauung sich nun auch in Frankreich Bahn
bricht, so wie ich mich ein andermal darüber betrübt
habe, wenn ich die Formel vom Recht gegen die
Macht wiederholen hörte, ohne die unumgängliche
Erläuterung, deren sie bedarf: daß ein ohnmächtiges
Recht kein Recht, sondern elendes Geschwätz ist.
NÜTZLICHE UND UNNÜTZE DINGE {Cri-
tica XIII^ Oktober 1915). — Wenn ich ein Thema,
das in den früheren Heften schon berührt wurde, hier
wieder aufnehme, von der Unzulässigkeit, namens der
Wissenschaft in dem Augenblick Partei zu nehmen,
wo (um den Ausdruck des gemeinen Verstandes zu ge-
brauchen) die Kanonen das Wort haben, so setze ich hin-
zu, daß man auch, falls man nicht Partei nehmen will,
ja sogar edle Anstrengungen gemacht werden, um über
zu enge Gesichtspunkte hinauszugelangen, selbst wenn
man das Unzulässige vermeidet, dennoch immer in
Hohlheit verfällt. Man wird den Brief Romain RoUands
beachtet haben, der in einer eigens gegründeten Züricher
Rundschau in englischer und deutscher Sprache (Inter-
nationa/ Review, Internationale Kund schau) während
der verflossenen Monate eine „Annäherung der freien
und gebildeten Geister aller Völker über den Krieg
hinweg" versucht hatte. „Dieser Versuch" (hat Romain
Rolland in jenem verzweiflungsvollen Briefe gestanden)
„ist elend gescheitert. Ich ziehe mich müde aus einem
blinden Kampf zurück, in dem jeder der Kämpfenden
keine andere Stimme als die der eigenen Leidenschaft
72
vernimmt und keine andern als die eigenen Gründe
anerkennen will, ohne sich irgendwie die Mühe zu
geben, nach einem Mittel zu suchen, das einen Grund
dem andern, ein Herz dem andern nähern könnte."
Aber dieser Fehlschlag war vorauszusehen, weil er durch
den Versuch selbst gegeben ist; und ebenso nichtig
erscheinen mir auch alle übrigen Auseinandersetzungen,
die ich in jener Rundschau gelesen habe, mögen sie
auch die Empfindungen und Willensrichtungen, die sich
in ihnen ausdrücken, beleuchten, so zum Beispiel jene
zwischen dem Engländer Ramsay Macdonald und dem
deutschen Wirtschaftslehrer und Historiker Jastrow über
den Begriff der belgischen Neutralität; man kann daraus
höchstens nur entnehmen, daß die beiden Mächte eine
und dieselbe Sache, die Neutralität Belgiens, wollen,
allein in derselben Weise, wie (nach einem Beispiel
Kants) Franz I. und Karl V. vollkommen überein-
stimmten, da sie alle beide dasselbe wollten, nämlich
Mailand ! Das was die Männer von redlichem Gewissen
(ich meine nicht lediglich die „Gelehrten") tun können,
und was die genannte englisch - deutsche Rundschau
recht gut leistet, besteht darin, „die Lügen und die
Aufhetzung eines Volkes gegen das ' andere zu be-
kämpfen", und die gegenseitige Achtung zwischen den
kämpfenden Völkern, die sämtlich die ihnen von der
Geschichte anvertraute Sache verteidigen, zu fördern.
Das ist aber auch der einzige im Kriege mögliche
„Einklang der Menschheit".
WAS JETZT DIE PHILOSOPHEN SAGEN
{Critica XIII, Oktober 1915). — Auch Emil Boutroux
hat, wie mir scheint, über den Leidenschaften des
Tages einigermaßen seine philosophische Klarheit und
73
Strenge verloren. In seiner Antwort auf die Umfrage
der Opinion (4. Sept. 19 15) über den Begriff der „Or-
ganisation" und das Grundwesen der deutschen Organi-
sation im besondern sagt er, der hier dennoch als der-
jenige vorgeführt wird, der das Joch der mecha-
nischen Auffassung abgeschüttelt habe (obgleich es
falsch ist, wenn hinzugesetzt wird: er habe es durch
Verwerfen der deutschen Philosophie — der er im
Gegenteil gefolgt ist — getan) : „das tatsächliche mensch-
liche Problem" liege nicht sowohl in der Unter-
werfung der Einzelnen unter die Allgemeinheit, als
darin, „das Höchstmaß an Manneszucht mit dem
Höchstmaß an Freiheit zu verbinden". Sollte gerade
das nicht eine untadelig mechanistische Auffassung
sein, wie im übrigen auch die gewählten Ausdrücke
selbst in ihrer mathematischen Färbung dartun ? Eine
abstrakte Zweiheit, die durch eine Addition und Sub-
traktion beseitigt werden soll? Und hat sich nicht gegen
die so geartete mechanische Auffassung siegreich und
endgültig die spekulative Synthese von Zucht und Frei-
heit, von Allgemeinem und Einzelhaftem erhoben, die
nicht allein der deutschen Philosophie, sondern dem
ganzen modernen Denken angehört, seit das Göttliche
und Allgemeine vom Himmel auf die Erde herab-
gestiegen ist, das Einzelwesen sich wahrhaft Mensch
und Person in der Einheit mit dem All fühlt, das seiner-
seits sich bloß in den Einzelwesen verkörpert? So hatte
bis jetzt die Philosophie gelehrt, das war längst eine
ihrer Grundwahrheiten: ist es erlaubt, sie zu leugnen,
um den Deutschen einen Tort anzutun?
DEUTSCHFREUNDLICHKEIT. EIN INTER-
VIEW {Roma, Neapel, i. Oktober 1915)- — Haben Sie
74
die Aufsätze Guglielmo Ferreros und anderer gelesen,
in denen von Ihrer „Deutschfreundlichkeit" die Rede
ist? — fragte ich den Senator Croce.
— Jawohl, ich habe sie gelesen und lasse die Leute
reden. Man mag mich ruhig weiter als Deutschen-
freund ausrufen, während ich für mein Teil fortfahre,
immer, wenn es mir passend erscheint, die geschicht-
lichen und wissenschaftlichen Ungereimtheiten klar-
zustellen, die Herr Ferrero und andere Schriftsteller
seines Schlages über die deutsche Wissenschaft, Philo-
sophie und Philologie von sich geben. Was wollen
Sie? Ich meine nicht, daß die Aufsätze Ferreros einen
Bestandteil der militärischen Unternehmungen Italiens
ausmachen, und daß das Schweigen über sie eine
patriotische Pflicht ist! Mir scheint das Gegenteil ge-
boten zu sein : trügerische Behauptungen richtig zu stel-
len, die zu nichts nütze sind und die verhindern, daß
man uns ernst nimmt.
— Immerhin glauben manche, daß die Wirkung der
deutschen Kultur auf Italien nachteilig und daß der
Augenblick gekommen sei, sich ihrer für immer zu
entledigen.
— Ich verstehe ganz gut, daß manche dieser Meinung
sind. Es ist natürlich, daß für verschiedene Leute lange
und mühsame Wege beschwerlich sind und daß sie
darum die bequemern vorziehen : allein ich bin ein be-
scheidener Abkömmling und Fortsetzer jener neapo-
litanischen Schule, die sie sich vor 1 848 herausbildete,
zu ihren Häuptern Francesco de Sanctis und Bertrando
Spaventa hatte und darauf ausging, das Denken und
Forschen Italiens durch deutsche Wissenschaft zu be-
leben. Diese Schule hat sehr gute Früchte getragen,
und ich für mein Teil denke nicht daran sie aufzugeben.
IS
— Besteht nicht die Gefahr, daß auf diese Weise, wie
man behauptet, die Eigenwüchsigkeit itaUenischen
Geistes verloren geht?
— Eigenwüchsigkeit besteht darin, fremde Arbeit
gründlich kennen und achten zu lernen, sich ihrer zu
bedienen, um weiter fortzuschreiten, besseres und eigenes
zu machen. Es wäre seltsam, wenn man, um eigen-
wüchsig zu bleiben, in jungfräulicher Unwissenheit ver-
harren sollte.
— Hatte aber nicht gerade die deutsche Kultur diesen
fürchterlichen Krieg zur Folge, den Deutschland her-
vorgerufen hat und mit solcher Verbissenheit führt.?
— Keinerlei wissenschaftliche Theorie (wenn sie
anders wirklich Theorie und Wissenschaft ist) vermag
unmittelbar, in logischer Folge, diese oder jene sinn-
fällige Handlung zu bestimmen. Die Verantwortung
für die gegenwärtige deutsche Politik liegt bei den
Staatsmännern Deutschlands, bei seinem Volk, auch
seinen Männern der Wissenschaft, aber allein insoweit
sie nicht Wissenschaft sondern Politik treiben ; keines-
wegs aber bei der deutschen Wissenschaft, die, wie
jede wahre Wissenschaft, stets über den politischen
Parteien und den nationalen Streitigkeiten steht.
— Lassen wir also die deutsche Wissenschaft aus dem
Spiel und erlauben Sie eine andere Frage. Sie waren
kein Anhänger des Krieges Italiens gegen die Mittel-
mächte ?
— Das ist Geschichte, die sich in vollem Tageslicht
vor aller Augen abgespielt hat. Ich gehörte zu jenen
zahlreichen Italienern (ich sage zahlreich, obwohl nicht
alle die Gelegenheit oder den Mut gehabt haben, da-
von öffentlich Zeugnis abzulegen), welche die von vielen
Seiten an Italien ergehende Aufforderung, sich aus
76
nicht klar erkennbaren nationalen Gründen heraus in
einen überaus schweren Krieg zu stürzen, ungerne
sahen, und die deshalb das undankbare Amt eines ad-
vocatus diaboli auf sich genommen hatten, damit, mußte
der Krieg schon eintreten, dies ausschließlich aus wirk-
licher und bewiesener nationaler Notwendigkeit heraus
geschähe. Allein in der Zeitschrift, betitelt Ita/ia nostra,
die ich und meine Freunde herausgaben, ermangelten
wir nicht des öftern zu betonen, daß die letzte Ent-
scheidung dem zufiele, der den Staat in sich darstellte,
und daß wir alle, werde die Entscheidung wie immer
gefallen sein, dem nationalen Unternehmen Folge leisten
und an ihm mitarbeiten würden. Und das haben wir
auch getan, jeder in der Art, wie es ihm gegeben war.
Mein Freund Cesare de Lollis^), der jenes Blatt leitete,
hat sich sogar (obgleich er sich den Fünfzigern näherte)
als Infanterieleutnant einreihen lassen. Nun haben wir
den Krieg, " und ich will nicht einmal mehr die vor-
ausgegangenen Streitigkeiten zurückrufen. Nichts er-
weckt mir mehr Ekel als die Klagemänner, die Kopf-
schüttler und Unheilpropheten, denn ich hege, für
mein Teil, das feste Vertrauen, daß wir aus dem Unter-
nehmen, zu dem wir uns angeschickt haben und um
das schon so viel edles Blut geflossen ist, ehrenvoll
hervorgehen werden.
— Und was denken Sie über die Grausamkeiten, deren
die Deutschen bezichtigt werden?
— Was weiß ich darüber.? Ich weiß nur, daß in den
letzten Kriegen Anschuldigungen wegen Grausamkeit,
begleitet von einschlägigen, Gott weiß ob verbürgten
*) Er war vorher, in der Zeit der Neutralität, wegen der Haltung des
Blattes, als Universitätslehrer ebenso kindischen als unwürdigen Angriffen
von Seiten der Studentenschaft ausgesetzt gewesen. A. d. Ü.
77
Photographien, nach und nach gegen alle Völker er-
hoben worden sind: gegen die Italiener zur Zeit des
Krieges in Libyen, gegen die Bulgaren im Balkankrieg
und jetzt gegen die Deutschen bei ihrem ersten Er-
scheinen in Belgien. Ich erinnerte mich auch eines klugen
alten italienischen Sprichworts: „Bei Krieges Währen
wachsen Lügen wie Beeren." Auch habe ich einige
der schlimmsten Grausamkeiten, die man den Deutschen
zuschrieb, nachdrücklichst widerlegen gehört: hier
ist zum Beispiel ein vor kurzem erschienener Aufsatz
des englischen Mathematikers und Philosophen Rüssel,
betitelt: Gerechtigkeit in der Kriegszeit ^ der, auf Zeug-
nisse belgischer Behörden gestützt, das Vorhandensein
des belgischen Mädchens widerlegt, dem die deutschen
Soldaten die Nase abgeschnitten haben sollen, und dessen
schreckliche Geschichte die Engländer schon hatte er-
schauern lassen. Ein Prediger, der darüber von der
Kanzel herab gesprochen hatte, erklärte von derselben
Kanzel herab, für die irrtümlich von ihm verbreitete
und unterstützte Verleumdung Abbitte tun zu wollen.
Ich selbst habe die Lese- und Übersetzungsfehler fest-
stellen können, in die Professor Bedier in seinem Werk-
chen über die Taschenbücher der deutschen Soldaten
(auch in Italien in Tausenden von Abzügen verbreitet)
verfallen ist, als ich die Übersetzungen mit den der
Schrift beigegebenen Nachbildungen in Lichtdruck
verglich. Aber damit spreche ich keinen kritischen Vor-
behalt oder einen methodischen Zweifel aus und er-
kenne nicht Tatsachen an, denen die nötige Beurkun-
dung fehlt, ich urteile nicht in einem Gerichtsverfahren,
bei dem der Angeklagte nicht gehört worden ist. Ich
frage vielmehr: weshalb gibt man sich so viel Mühe
mit diesen Nachforschungen und Erörterungen gerade
78
jetzt, da die Zeugnisse fehlen und die Leidenschaften
entfesselt sind? Hat Deutschland sich solcher Ver-
brechen gegen die Menschlichkeit schuldig gemacht,
o, zweifeln Sie dann nicht, daß es dafür wird Sühne
leisten müssen, denn die Geschichte ist eine strenge
Richterin ! Aber wäre es auch das Vorbild aller mensch-
lichen Tugenden, jetzt ist es unser Gegner, weil es
Österreich in seinen Schutz nahm, das unseren natio-
nalen Interessen nachgestellt und sie mit Füßen ge-
treten hat; uns ziemt es jetzt, es auf dem Schlachtfeld
zu bekriegen, nicht in unregelmäßigem Gerichtsver-
fahren zu verurteilen.
— Jedenfalls scheint die barbarische Kampfesweise der
Deutschen nicht im Einklang mit ihrer vielbelobten
Kultur und Gesittung.
— Vor dem Kriege ist niemand der Ansicht gewesen,
daß die Deutschen barbarisch und grausam wären. Ich
bin geneigt, das Gefühl der Abneigung und des Wider-
strebens, das viele ihrer Handlungen hervorriefen, auf
etwas andere Weise zu erklären. Ein jedes Volk hat
seine besonderen völkischen Fehler, die seinen Vor-
zügen entsprechen; und die der Deutschen sind be-
kanntlich die Schulmeisterei und eine gewisse grob-
schlächtige Einfalt. Alle Völker besaßen einmal, und
viele auch jetzt noch, Galgen und Henker; aber allein
die Deutschen wären fähig gewesen, die „Theorie"
und das „Handbuch" dieses Gewerbes zu schreiben!
Nun haben sie die Theorie des Krieges ausgearbeitet,
indem sie Dinge, die ohne Zweifel dem Krieg anhängen
und unvermeidlich sind, aber, in dieser Gestalt ausein-
andergesetzt, Abscheu erregen, auf Formeln und Vor-
schriften gebracht haben. Aus Schulmeisterei über-
treiben sie und überschreiten das Maß; und haben sie tat-
79
sächlich einige der Grausamkeiten, die man ihnen in die
Schuhe schiebt, begangen, so wird das gerade aus schul-
meisterhcher Beobachtung der aus dem Begriff des
Krieges abgeleiteten Regeln sowie aus der abstrakt rich-
tigen Lehre heraus geschehen sein, daß die einzig wirk-
same Menschlichkeit des Krieges in seiner Unmensch-
lichkeit liege, darin, daß er schreckenerregend und
beschleunigend wirke. Mir kommt dabei in den Sinn,
was Silvio Spaventa zu sagen pflegte: daß die Bestim-
mungen des bourbonischen Zuchthauses für die poli-
tischen Gefangenen ebenso hart und vielleicht noch
härter waren als die österreichischen; daß aber der
große Unterschied darin bestanden habe, daß die öster-
reichischen Kerkermeister sie genau beobachteten, wenn
sie zuweilen auch das Los der Sträflinge beklag-
ten (siehe „Meine Gefängnisse^'- von Silvio Pellico!),
während die neapolitanischen, sei es aus Gutmütigkeit,
sei es aus Bestechlichkeit, sie in vielen Punkten milderten
und erträglich machten. Gleicherweise vermag der
Deutsche, wenn er sich zu einer vom sittlichen oder
gesetzmäßigen Standpunkte nicht zu rechtfertigenden
Handlung anschickt, sie nicht zu idealisieren oder in
geschickte Phrasen zu kleiden, wie es andere elegantere
und wohlerzogenere Völker tun, sondern sagt unver-
blümt heraus, wie Herr Bethmann Hollweg, daß es
sich um eine verwerfliche Sache- handle, aber „Not
kein Gebot" kenne.
— Ich möchte Sie noch fragen, was Sie von dem po-
litischen Ideal der Deutschen halten, seinem aristokra-
tischen, staatsmännischen, militaristischen Gepräge?
Erscheint es Ihnen nicht als niedriger stehend und zu-
rückgebliebener gegenüber dem demokratischen la-
teinischen Ideal?
80
— Aristokraten- und Demokratentum haben wie
Jugend und Alter, wie die verschiedenen Abschnitte
und Zustände des Lebens, jedes seine Stärken und
Schwächen, seine Tugenden und Laster. Es ist unmög-
lich, in wenigen Worten den Werdegang zu erläutern,
in den die Völker des westlichen Europas, Franzosen,
Engländer,. Italiener, eingetreten sind : es ist das eine
zentrifugale Entwicklung, die in einer nicht fernen
Zukunft die Staatsidee und die gesellschaftliche Ein-
heit zu vorübergehendem Vorteil der einzelnen Indi-
viduen und der einzelnen Gesellschaftsgruppen aufzu-
lösen droht. Einer unserer neapolitanischen Schrift-
steller über Politik, der Senator Herzog von Gualtieri,
hat im vergangenen Jahre, ein paar Monate vor Kriegs-
ausbruch, eine bedeutende Arbeit über diesen Gegen-
stand veröffentlicht. Ebensowenig läßt sich in knappen
Worten der umgekehrte, zentripetale Werdegang, der
sich in Deutschland vollzogen hat, umschreiben, das,
obwohl es in hervorragender Weise an der modernen
Gesittung mitgearbeitet hat, dennoch das Gefühl für
das Vaterland, den Staat, die geschichtliche Sendung
des deutschen Volkes äußerst lebendig bewahrt und
das Einzelwesen dem Staate untergeordnet hat. Ich
gehöre nicht zu denen, die an den schicksalhaften
Kreislauf der aristokratischen Gesittung^ glauben, die
sich allmählich zu Demokratien wandeln, oder von
Demokratien, die sich allmählich in Zerrüttung auf-
lösen und neuen aristokratischen und militärischen
Bildungen zum Opfer fallen. Aber ich halte daran
fest, daß, wenn die Deutschen wohl etwas von den
Demokratien Westeuropas werden aufnehmen müssen,
wir unsererseits ebenso etwas aus dem strengen Begriff
lernen müssen, den die Deutschen von Staat und Vater-
6 C r o c e , Randbemeikuagen eines Philosophen O I
land haben. Es scheint mir, daß dies bereits im Zuge
ist, eben infolge des Krieges, um uns der deutschen
Übermacht zu erwehren und das höchste Gut, die na-
tionale Freiheit, zu erhalten. Ist dem so, so wird nicht
alles Übel zu unserm Schaden über uns gekommen sein.
Wir werden aus dem Kriege mit einer höheren, ern-
steren, tragischeren Empfindung für das Leben und
seine Pflichten hervorgehen, wir werden viele Erbärm-
lichkeiten unseres politischen Lebens der letzten Jahr-
zehnte in seinen Flammen zerstören.
EIN VERRUFENES WORT {Critica XIV, De-
zember 1915). — Außer dem der Kultur^) (bei dem ich
bisher noch nicht einzusehen vermag, weshalb es von
diesem Schicksal erreicht worden ist) gibt es noch ein
anderes, das ich mit einem Tone, halb Abscheu, halb
Verachtung aussprechen höre : Realpolitik. Weiß Gott,
was harmlose Leute sich unter dieser fürchterlichen
Realpolitik vorstellen mögen! Trotzdem handelt es
sich um eine alltägliche Sache. Nehmen wir den Fall,
es käme uns jemand, der ganz abenteuerliche Ideen
über Ausdehnung und Lage der verschiedenen Länder
hätte, über die Bergketten, die Flußläufe, über Meere
und Häfen; so werden wir ihm empfehlen, sich ein
gutes Handbuch der Erdkunde zu beschaffen, sich
über die Geographie der Geographen, die Geographie
der Dinge, die wirkliche, nicht eingebildete, die
Realgeographie, zu unterrichten. Oder wir haben eine
Erörterung mit einem andern, der höchst verworrene
und ungereimte Kenntnisse von dem oder jenem ge-
schichtlichen Ereignis besitzt : wir werden ihm den Rat
*) Die Kursiv gedruckten Ausdrücke sind im italienischen Urtext deutsch
angeführt. D. Ü.
82
geben , kritisch verfaßte, auf beglaubigten Urkunden
ruhende Geschichtsdarstellungen zu lesen und den
Anekdotenkram gegenüber der wirklichen Ge-
schichte, AtvReaihistoriographte, beiseite zu lassen. Oder
endlich, wenn uns jemand mit der herkömmlichen
Salbaderei, wie sie in Unterhaltungen gang und gäbe
ist, langweilt, über Philosophie und Nichtphilosophie,
Idealismus und Positivismus, Kant, Hegel, Spencer,
Schopenhauer; so werden wir dem Geschwätz ein
Ende machen und den lästigen Unterredner darauf
verweisen, wenn er's vermag, die Bücher der Denker,
von denen er faselt, zu lesen, den Versuch zu machen,
sich in den Problemen zurechtzufinden, die die Phi-
losophen gestellt und gelöst haben, die Philosophie
der Kaffeehäuser zugunsten der wirklichen, der
Reaiphilosophie, aufzugeben. Ganz ebenso ergibt sich,
wenn man über Politik mit völliger Unkenntnis der
Interessen und der Kräfte der Staaten, ihrer Zwecke
und Mittel, der Möglichkeiten und Unmöglichkeiten,
des Unterschiedes zwischen Dingen und Worten, zwi-
schen Wollen und Vorgeben reden hört, von selbst die
Mahnung, die Politik des Haufens, der Müßiggänger,
der Naiven, ja sogar der Literaten und Professoren bei-
seite zu lassen und die politische Wirklichkeit oder
die wirkliche Politik, die Realpolitik, zu studieren.
Diese Formel ist in Deutschland aufgekommen, und
zwar nicht zu dem Zwecke, um die politische Weisheit
der Deutschen ans Licht zu stellen, sondern im Gegenteil
als Bekenntnis und Tadel des geringen politischen Sinnes
bei den Gebildeten Deutschlands, so wie er sich nament-
lich in den Bewegungen der Jahre 1848—49 und in je-
nem vielberufenen Frankfurter Parlament geoffenbart
hatte, das die Blüte deutscher Geisteskraft und Wissen-
b* 83
Schaft in sich schloß, von den staunenswertesten Reden
widerhallte und trotzdem jämmerlich genug wirkte
und endete. Man kann nicht leugnen, daß die Kennt-
nis der Bedingungen und Interessen der Staaten von
da ab in Deutschland außerordentlich zugenommen
und daß sie selbst die einstens berühmte politische
Einsicht Englands erreicht, vielleicht sogar überholt
habe. Auf jeden Fall liegt es auf der Hand, daß
die Deutschen , verfolgen sie eine Realpolitik , damit
nicht bloß für sich selber sorgen, sondern auch allen
übrigen Völkern eine gute Lehre geben: oder wollte
man vielleicht lieber eine irreale, eine Phantasiepolitik
verfolgen ? Und sollten wir Italiener uns nicht um die
politische Erziehung, ich sage nicht unseres Volkes,
sondern unserer führenden Klassen bemühen ? Die po-
litische Unwissenheit (und in Wahrheit, nicht allein
die politische) der italienischen Demokratie ist überaus
grof3 ; vielleicht wird sie nicht einmal die sachliche und
augenscheinliche Lehre der Ereignisse, die sich jetzt
vollziehen, davon abbringen, Bündnisse und Kriege auf
Grund von Theorien und Schlüssen zu fordern, denen
ähnlich, die Glück gemacht haben (ein Glück, das uns
gegenwärtig teuer zu stehen kommt), und die den „la-
teinischen Geist" oder die „griechisch-lateinische" Ver-
wandtschaft betreffen. Italienische Professoren sind seit
einem Jahre umhergefahren, um Vorlesungen über die
logische Notwendigkeit eines rumänischen Bündnisses
mit den lateinischen Völkern zu halten, auf Grund der
Erinnerungen an Trajan oder an das „torna^ torna
fratre (Kehr um, Bruder), das 579 in Mösien im Munde
eines Soldaten erklang und bekanntlich das älteste Bruch-
stück der rumänischen Sprache und eines der ältesten
unter allen neulateinischen ist. Nun, diese Geschichte
84
von Trajan und dem neulateinischen Bruchstück ist
beispielsweise keine gute Politik, keine Realpolitik!
Allein man wird behaupten, die Deutschen hätten
die Realpolitik verhaßt gemacht, weil sie von ihnen
bedenkenlos, grobschlächtig, in vordringlicher und
rüpelhafter Art zur Anwendung gebracht wird, ohne
daß sie gewisse Dinge beachten, die gleichwohl nötig
sind, um eine wirkliche Realpolitik zu treiben, die nie-
mals wahrhaft real sein wird, wenn sie nicht gleich-
zeitigideal ist, da tatsächliche Idealität und tatsächliche
Realität zusammenfallen. In diesem Vorwurf mag etwas
Richtiges liegen. Ein Deutscher ist Deutscher und hat
seine Fehler; jetzt übertreibt er um so mehr seinen Rea-
lismus, als er sich seiner einstigen Unerfahrenheit entledi-
gen zu müssen glaubt. Ich erinnere mich, daß ich vor
manchem Jahr einmal im Gespräch mit einem italieni-
schen Sprachforscher eine gewisse Theorie, verfehlt in
Italien, aber maßlos übertrieben in Deutschland, er-
wähnte ; mein Zwischenredner bemerkte mir witzig, der
Unterschied zwischen dem Italiener und dem Deutschen
sei, was diese Dinge betreffe, derselbe wie zwischen
dem Menschen und dem Hunde : der Mensch verspeise
das Rippenstück und lasse den Knochen liegen, der
Hund verschlinge beides. Die Folge davon wird also
sein, daß man Realpolitik wird treiben müssen, so gut
als es nur angeht, wenn möglich besser als die Deut-
schen : auf der geistigen Höhe, mit der Großherzigkeit
und dem gesunden Verstand, die italienischem Wesen
eignen, aber auch mit vollkommenster Vorurteilslosig-
keit und dem schärfsten kritischen Mißtrauen gegen ge-
schwätzige Einbildungen und gleichmacherische Be-
strebungen, niit der genauesten, sorgsamsten und man-
nigfaltigsten Kenntnis der gegebenen Tatsachen ; derart,
85
daß wir die Psychologie von Belgrad nicht mit der
von Mailand verwechseln, die türkischen Parlamen-
tarier nicht mit den englischen, Beduinen nicht mit
den Männern der „Fünf Tage" (selbst bis zu diesem Tief-
stand sind unsere heimischen Demokraten und Sozia-
listen gelangt, als sie die Erhebung der Araber von
Tripolis gegen die Italiener der dieser letztern selbst
gegen die Österreicher im Jahre 1 848 gleichsetzten !) :
mithin stets Realpolitik, nicht Phantasiepolittk. Dieses
letztere Wort müßte bei uns den Abscheu erregen, den
man, zu Unrecht, jetzt gegen das andere an den Tag
legt.
EIN VERHASSTER NAME {Dezember igis).
— Treitschke: Dieser Name ist ebenfalls unsern De-
mokraten und Nationalisten in die Feder geraten, die
an ihm ihr Mütchen kühlen, als an einem über alle
Maßen barbarischen Menschen und Schriftsteller. Und
in der Tat, lassen sich Silben in ohrenzerreißenderer
Art zusammensetzen! Obgleich, um genau zu sein,
Heinrich von Treitschke nicht deutscher, sondern sla-
wischer Herkunft war, seiner Heimat nach kein Preuße,
vielmehr einem preußenfeindlichen Staat und einer
preußenfeindlichen Familie entstammend, als Sohn und
Bruder sächsischer Militärs. ArmerTreitschke, du hättest
wohl etwas mehr Rücksicht verdient, wenigstens von
uns Italienern, wäre es auch nur darum, weil du für
kein fremdes Land so viel Zuneigung hattest als für
Italien : du betrachtetest ja Italien und Deutschland als
die zwei Völker, ^die am längsten leiden und kämpfen
mußten, um die Nachwirkungen des Mittelalters ab-
zuschütteln, das eine, mit dem fressenden Krebsge-
schwür des Papsttums im Leibe, das andere mit dem
86
des Heiligen Römischen Reiches und des Hauses
Österreich, seines letzten Vertreters; du hast den Sieg
beider über die gemeinsamen Feinde begrüßt! Wohl
war Treitschke ein Anhänger Bismarcks, aber noch
viel glühender bewunderte er Cavour, dem er 1869
einen prächtigen Versuch widmete, der noch immer
zu den gehaltvollsten Schriften zu Ehren des italieni-
schen Staatsmannes zählt! Er kannte nicht bloß die
Dichter Italiens (deren Worte er gern in seinen Schrif-
ten anzieht, Manzoni, Leopardi, Giusti), sondern
auch die politischen Schriftsteller — er führt ihre
Gedanken an, von Machiavelli bis auf Gaetano Mos-
ca — , und war überhaupt für uns wie ein guter Bruder,
der seine eigene Familie hat, aber mit frohem Behagen
auf die des Bruders sieht. Er verdiente Achtung von
allen in allen Ländern, da er ein edles Herz, eine feurige
Seele, eher Dichter denn Geschichtsschreiber war, ein
klarer, anschaulicher, höchst lebendiger Schriftsteller
mit Leidenschaft und Liebe, sittlich unabhängig, auch in
seiner Verehrung für die Hohenzollern, so sehr, daß
er das Kaisertum Wilhelms des Zweiten in düsteren
Farben schilderte und der romantisch-feudal-kauf-
männischen Persönlichkeit des neuen Kaisers nicht
traute, was ihm dessen Ungnade zugezogen hat. Aber
auch in dieser seiner preußisch-deutschen Begeisterung
erweckt er keine Abneigung, so sehr ist er offen, red-
lich, arglos, zuweilen kindlich. Seine Deutsche Ge-
schichte im neunzehnten Jahrhundert ist ohne Zweifel
keine wirkliche und wahrhaftige Geschichte (obgleich
sie viele ausgezeichnete geschichtliche Bestandteile ent-
hält, besonders in den Beschreibungen von Gefühlen und
Bräuchen, wie der ganzen Umwelt), sondern ein Er-
bauungsbuch, eine Verteidigungsschrift zum Ruhm
87
von Preußens Werk bei der Bildung des deutschen
Staates; in derselben Weise wie die Übersicht unseres
Balbo, die ihr in mancher Hinsicht ähnelt. Allein er ent-
waffnet uns mit seiner Erklärung : „Bei ausländischen
Kritikern, freundlichen wie feindseligen, hat der ganze
Ton meines Buches Befremden erregt, und ich konnte
nichts anderes erwarten. Ich schreibe für Deutsche.
Es mag noch viel Wasser unsern Rhein hinabfließen,
bis die Fremden uns erlauben, von unserm Vaterlande
mit demselben Stolze zu reden, der die nationalen Ge-
schichtswerke der Engländer und Franzosen von jeher
ausgezeichnet hat. Einmal doch wird man sich im
Auslande an die Gesinnungen des neuen Deutschlands
gewöhnen müssen."
Diese Worte sind als anstößig angeführt worden : aber
sind sie nicht vielmehr naiv.? Merkt man darin nicht
das mit Verspätung ans Ziel gelangte Volk, das im
heißen Bemühen, sich in allem mit den früher ange-
langten Völkern auf gleiche Linie zu stellen, auch
deren minder löbliche Seiten nachahmt, so wie der
Provinzler mit den städtischen Moden auch das Über-
triebene und Geschmacklose annimmt.? Der Schrift-
steller sagt mit andern Worten : — „Wohl, ich weiß ganz
gut, daß die Geschichte, die wahre Geschichte nicht
vom deutschen, französischen, englischen Standpunkt
aus geschrieben werden kann, sondern von dem der
Menschheit, der weiter ist als sie alle ; aber da Fran-
zosen und Engländer parteiische Geschichten verfassen
und sich an ihnen begeistern, so schreibe auch ich eine
parteiische, für das Volk, dem ich zugehöre." —
Treitschke macht uns, während er sich seiner vater-
ländischen Leidenschaft hingibt, auf seine Zielsetzung
aufmerksam und gibt uns die Möglichkeit, sie richtig-
88
stellen und unschädlich zu machen. Kann man einen
Menschen dieser Art hassen? Man vermag es sicher-
lich nur dann, wenn man niemals seine Werke gelesen
hat, und mit der Wut der Unwissenheit die Silben
seines „gotischen" Namens wiederkäut.
DER STAAT ALS MACHT {Dezember 1915). -
Treitschke (in den beiden Bänden seiner Vorlesungen
über Politik^ aus dem Nachlaß 1 897 von Cornicelius
herausgegeben) muß die Kosten eines Schriftchens
von Durckheim bestreiten, das mir eben zukommt:
Der deutsche Gedanke und der Krieg (Paris, Colin 1 9 1 5).
Durckheim leitet aus jenem Werk die Lehre vom
Staat als Macht ab, der kein anderes Gesetz als die
eigene Macht kennt, und, nachdem er sie als unchrist-
lich und heidnisch verdammt, nachdem er sie mit der
sittlichen Lehre, die die Demokratie über den Staat
ausspricht, in Gegensatz gestellt hat, steht er nicht an,
die geistige Verfassung, von der sie Zeugnis ablegt,
für einen „unzweifelhaften Fall sozialer Pathologie"
zu erklären, „dessen Ursachen die Historiker und So-
ziologen einmal aufzuhellen trachten werden, dessen
Vorhandensein festzustellen aber für jetzt genügt".
Im selben Geiste ist ein anderes Schriftchen gehalten,
das mir zugleich mit dem Durckheims zukommt:
Seignobos, Vom Wiener Kongreß bis zum Kriege 1914.
Nun sind sicherlich weder Durckheim noch Seignobos
mit den französischen und italienischen Demokraten
üblichen Schlages und höchst oberflächlicher Bildung
zusammenzuwerfen ; beide sind Gelehrte und wissen-
schaftlich geschulte Männer. Allein gerade deshalb
kann man an ihnen der geistigen (philosophischen, hi-
storischen, ethischen, soziologischen etc.) Minderwer-
89
tigkeit besser inne werden oder, wenn man lieber will,
der zurückgebliebenen geistigen Form, die vielen Krei-
sen der sogenannten lateinischen Länder eignet und
leider auch ihre Demokratien beherrscht. Durckheim
hat sich gar keine Rechenschaft über die Entwicklung
des europäischen Gedankens gegeben, so wenig (man
sehe sein Schriftchen S. 20—23), daß er als „heidnisch"
und „unchristlich" das ansieht, was ein Erzeugnis des
„Protestantismus", das heißt einer Erhebung des christ-
lichen Geistes ist, und daß er „Jesuitenmoral" in meiner
Auffassung findet, die die schärfste Verneinung des jesui-
tischen Legalismus ist : fast in derselben Weise, wie
vor Jahren ein anderer Weiser der Demokratie, Gugli-
elmo Ferrero, ein Band zwischen jesuitischer und Kanti-
scher Sittenlehre entdeckt hat, weil (hört! hört!)
beide auf dem „Zweck" fußen — natürlich hat er die
Kleinigkeit außer acht gelassen, daß die eine auf die
Doppelzüngigkeit, die andere auf die Reinheit der
Zwecke gegründet ist. Ebensowenig hat er sich Rechen-
schaft davon gegeben, daß die politische Lehre, die
jetzt in Deutschland im Umlauf ist — und ich kann
nicht müde werden zu wiederholen, daß diese nicht in
Deutschland zur Welt gekommen und nicht deutsch,
sondern allgemeines Eigentum der Wissenschaft ist —
sich über die früher dargelegte Unfaßlichkeit und den
innern Widerspruch der demokratischen, vertrags-
freundlichen, humanitären Lehre, die Durckheim als
etwas Überlegenes erscheint, hinaus entwickelte und
festigte. „Man muß den Geist Machiavellis und Bis-
marcks verscheuchen" (wiederholt seinerseits Seignobos
S. 34). Meint man demnach — wir lassen Bismarck
beiseite — der StaatsbegrifF eines Machiavelli sei etwas,
das zu verwerfen sei? daß dieser streng sittliche, weil
90
tragisch menschliche Begriff unsittUch sei? daß die
ItaUener sich des Grabmals in Santa Croce, das Machia-
vellis Andenken verherrlicht, schämen müßten ? „Die
Völker müssen durch Volksabstimmungen um ihre
Meinung befragt werden" (Seignobos S. 5). Sind die
überaus schweren Bedenken nicht wohlbekannt oder
sind sie etwa schon widerlegt, die man gegen das
System (viel eher eine Vorspiegelung) der Volksab-
stimmungen erhoben hat, kraft dessen der Lauf der
Weltgeschichte dem Belieben einzelner Gruppen oder
geradezu kleinster Minderheiten unterworfen sein
müßte ? Selbst angenommen, die Lehre vom Staat als
Macht wäre kritisierbar und zu überwinden durch die
vom Staat als Recht — diese ist vielmehr schon im
achtzehnten Jahrhundert auf den Widerspruch der Po-
litiker der guten italienischen Schule gestoßen — ange-
nommen, das achtzehnte Jahrhundert vermöchte über
das neunzehnte zu triumphieren, so bliebe das doch
eine höchst schwerwiegende Frage, die nicht mit Rede-
künsten und Gefühlsgründen, sondern durch wissen-
schaftliche Zergliederungen und Begründungen, im
Bereich der Wissenschaft selbst, zu lösen ist ; und man
sieht nirgends, daß die „demokratische Wissenschaft"
dies in der Vergangenheit geleistet hätte oder jetzt lei-
stete. Die gegnerische Lehre als „pathologisch" hin-
zustellen, will wenig besagen; und die Berufung auf
das Christentum, die jetzt bei den Freimaurer-Demo-
kraten im Schwange ist, läßt den Zweifel erstehen, ob
diese Berufung sich nicht eher als an das tiefe welt-
schmerzlich durchwühlte Christentum, an das katho-
lisch-scholastische wendet — daher die Zärtlichkeit von
heute zwischen den Freimaurern der Göttin Gerechtig-
keit und den Scholastikern vom Schlage des Kardinals
91
Mercier, die beide an der gleichen geistigen Greisen-
haftigkeit leiden ! In Italien, in England, in Frankreich
selbst haben in den letzten Jahren nicht wenige Den-
ker daran gearbeitet, diese Überreste des Intellektua-
lismus, des abstrakten, scholastischen und Enzyklopä-
diewesens beiseite zu räumen ; selbst das Glück, das die
marxistischen Lehren gemacht haben, rührt zum be-
trächtlichen Teile von der kraftvollen Auffassung des
Lebens als eines Kampfes her, der ihnen innewohnt,
nicht sowohl eines Kampfes zwischen dem Geist des
Guten und des Bösen, als gerade eines Kampfes,
den das Gute mit dem Guten führt, um zu einem
höheren Guten aufzusteigen. Aber dieser kritischen
Gedankenströmung war es noch nicht gelungen, die
politische Bildung 6^es westlichen Europa zu durch-
dringen und umzugestalten ; der Krieg hat sie in ihrem
Beginn überrascht, und ihre Arbeit wird erst später
zum Abschluß gelangen. Wäre sie wirklich von den
einsamen Forschern oder aus dem Kreise der Philo-
sophie in die Werktätigkeit des Lebens getreten, so
hätte Deutschland nicht gewagt, dem demokratischen
Europa den Krieg zu erklären, oder es wäre gleich zu
Anfang auf ernste Hindernisse gestoßen. Es hat ihn
aber gewagt, weil allzuviele, in Frankreich und ander-
wärts, nach Art der Professoren Durckheim und Sei-
gnobos faselten ; deren Namen ich, nebenbei gesagt, in
einem Buche angestrichen finde, das mir sein Verfasser
einige Monate vor dem Krieg, im März 1914, zu-
gesandt hat (A. SECHE, Le desarroi de la coscience
frangaise^ Paris, Ollendorff, S. 284), und zv^ar unter
denen der französischen Hochschullehrer, die ein ver-
derbliches Beginnen ins Werk gesetzt hätten, indem
sie den Pazifismus, Internationalismus und Antimili-
92
tarismus predigten und das Vaterlandsgcfühl in den
Herzen der Jugend vernichteten oder schwächten!
Deutschland hat es gewagt, weil es sich bewußt war,
mit weniger unterrichteten und weniger einsichtigen
Männern aus politischen Kreisen als den seinen zu tun
zu haben; und hätte dies nicht unternommen, wenn
seine Gegner nicht bloß militärisch, sondern auch sitt-
lich und geistig wachsam gewesen wären. Denn (wie
ich oben von der Realpolitik gesagt habe) es scheint
mir seltsam, — wenn es sich nicht um einfache Heu-
chelei oder eine rhetorische Übung handeln sollte —
einen Staatsbegriff zu verwerfen, der nicht sowohl ein
„Fabriksgeheimnis" für das Gedeihen Deutschlands, als
ein allgemeiner Leitsatz, gleichermaßen für alle Staaten
nützlich, ist und der allen Staaten die „Macht" und
nicht die „Unmacht" empfiehlt: die Anspannung aller
ihrer Kräfte, um die andern zu der gleichen Kraftäuße-
rung an Leben zu zwingen, zum «Vorteil der Mensch-
heit, die allein durch Arbeit und Mühen vor Tod und
Fäulnis gerettet wird. Was anderes haben wir Italiener
gewollt, als wir in den Krieg eintraten, denn Vorsorge
zu treffen, daß die „Macht" unseres Staates nicht ge-
mindert, vielmehr vergrößert werde.? Ich weiß recht
wohl, daß die salbungsvollen Demokraten anstatt dessen
verlangten, was sie jetzt ausschreien, daß wir den Krieg
führen müßten, um die Gerechtigkeit im Streit der
Völker zum Siege zu bringen. Allein, ich erlaube mir
zu denken, daß niemals ein Volk über das andere Ge-
rechtigkeit übt, sondern Gott oder jener Gott, der die
Geschichte ist, über sämtliche Völker; und ich meine,
daß die Italiener hinlänglich Geistesschärfe besitzen,
um nicht Pflichten auf sich zu nehmen, die die
menschliche Kraft übersteigen und darum der Lächer-
93
lichkeit verfallen : ganz so wie die Deutschen lächer-
lich werden, wenn sie davon reden, die Sittlichkeit in
der Welt wieder herstellen und „züchtigen" zu wollen.
Und sind wir etwa nicht in den Krieg getreten, indem
wir uns aus einem alten Bündnis lösten, das wegen
der Mängel, die es an sich trug und wegen der ge-
änderten Voraussetzungen unsere „Macht" bedrohte?
Gerade weil die Lehre, die jetzt mit dem Namen ihrer
neuen Verkünder und Förderer „deutsch" genannt
wird, in Wirklichkeit aber von dem ersten großen,
gegen das Mittelalter gewendeten Politiker, von dem
Italiener Machiavelli herrührt, die wahre Lehre ist,
dürfen wir über das Wort „Verrat" lächeln, das uns
jetzt da und dort — so weit es die dürftige Kenntnis,
die uns die Zensur von den deutschen Zeitungen zu
nehmen erlaubt, zuläßt — aus Deutschland entgegen-
tönt ; lächeln, und die Deutschen ersuchen, ein anderes
Register zu ziehen, da dieses kreischend und falsch
klingt.
ZUM BESSERN VERSTÄNDNIS {Dezember
1915). — „Also", wird man sagen, wenn man dies liest,
„Ihr seid für Deutschland und die deutsche Kultur?"
Ich könnte darauf wie der Abbe Galiani antworten, den
man in der Hitze des Gefechts fragte, ob er im Grunde
für oder gegen die freie Ausfuhr des Getreides sei: „Ich
bin für keines von beiden. Ich bin nur dafür, daß
man nicht Dummheiten redet. Die Ausfuhr des ge-
sunden Menschenverstandes ist das einzige, was mich
ärgert!" {Dia/ogues, S. 12.) Was soll es heißen, für oder
gegen die deutsche Kultur zu sein? Die deutsche Kultur,
so gut wie die französische, die englische, die italienische
ist das, was sie ist, und keine von ihnen verkörpert voll-
94
ständig das menschliche Ideal, wäre es auch nur aus
dem einfachen Grunde, daß das Ideal stets das ist, was
nicht vorhanden ist, nicht das, was da ist, die Zukunft,
nicht die Vergangenheit, das zu Schaffende, nicht das
Geschaffene. Nichts von dem, was da ist, kann genügen,
und in jeder geschichtlichen Formel des sozialen und
Kulturlebens empfinden wir Mängel und Widersprüche.
Ich habe auch nicht auf den Krieg gewartet, um dar-
auf hinzuweisen oder zu behaupten, daß Deutschlands
Philosophie der letzten achtzig Jahre nur mittelmäßig
ist; daß seine Wissenschaft sich gern die Industrie zum
Vorbild nimmt, in der mechanischen Arbeitsteilung und
dem mechanischen Aufreihen der Ergebnisse; daß sie
allzu oft von nationalen Grillen gestört wird; daß in der
politischen Psychologie der Deutschen die zynische Art,
wie sie Bismarck zur Schau trug, üble Wirkungen her-
vorgebracht hat; und so fort. Es sind das Dinge, die ich
des öftern in dieser Rundschau und anderwärts habe
drucken lassen, in ruhigen Zeiten, als noch kein Verdacht
leidenschaftlicher Parteinahme aufkommen konnte,
und wenn jemand dessen nicht mehr eingedenk wäre,
so bin ich bereit (mit Verletzung meiner Bescheiden-
heit), in einem der nächsten Hefte eine Blumenlese
meiner einschlägigen Aussprüche zu bieten, die mich
in den Stand setzen würde, im Stil des Danteschen
Teufels auszurufen: „Du hast wohl nicht gedacht, daß
ich ein Deutschenfeind sei?" Aber was sollen mir diese
Verwahrungen, unnütz für die, die mich kennen, und
in anderer Art, aber ebenso unnütz für die, die mich
nicht kennen ? Es ist freilich wahr — um bei unserem
eigentlichen Gegenstand zu bleiben — daß ich auch dort,
wo die Genialität fehlte und das Schulfuchsentum über-
wog, immer die Gewissenhaftigkeit und redliche Arbeit
95
der deutschen Bücher bewundern mußte, die gewöhn-
lich — und das ist ein großer Vorzug! — so mittelmäßig
sie auch sein mögen, dennoch die Schwere der Probleme
besser empfinden lassen als die leichtbeschwingteren
anderen Schrifttums. Ich will es jetzt auch nicht
einmal unternehmen, dem von den Leidenschaften und
mannigfachen Interessen verzerrten Bild Deutschlands
dessen wahres Bild entgegenzustellen ; denn, würde ich
mich auf dieses Gebiet begeben, so würde ich mit Not-
wendigkeit in das Amt des Verteidigers, sei es auch mit
redlicher Absicht, gedrängt werden, und seit einiger
Zeit findet mein Gemüt und mein Geist nur mehr daran
Freude, die Dinge sachlich zu betrachten, nach ihrem
systematischen Orte, im Zusammenhang ihrer Ent-
wicklung, fern von jedem Geiste der Für- oder Wider-
spräche. Was ich allein verteidige, das sind einige Be-
griffe, die ich mißverstanden, nicht verstanden oder
mit unterlegenen Begriffen bekämpft sehe; es sind einige
Verhaltungsarten in Arbeit und Forschung, die ich
für wertvolle. Errungenschaften, von Italien und für
Italien gemacht, halte, Errungenschaften, die eifersüch-
tig gewahrt werden sollten. Lange Zeit haben deutsche
„Wissenschaft", deutsche „Methode", deutscher„Ernst"
und deutsche „Genauigkeit der Darstellung" den ita-
lienischen Forschern als Panier gegolten, zugleich als
Waffe, deren sie sich untereinander im Kampfe bedient
haben und mit der sie die Dilettanten, die Faulen, die
Stegreifdichter, die Pfuscher aus ihren Kreisen fern-
hielten; Deutsch zu können und durch das Lesen und
das Beispiel der deutschen- Bücher sich auf der Höhe
der wissenschaftlichen Bewegung zu halten, war das
Mittel, um die italienische Wissenschaft zu „entprovin-
zialisieren", sie zu erneuern und mit europäischer Kultur
96
zu durchdringen. Unter denen, die jetzt gegen das „ger-
manische" Pedantentum losziehen und die „lateinische"
Genialität preisen, sehe ich allzuviel wohlbekannte Ge-
sichter des wissenschaftlichen und literarischen Pöbels
und „Halbweltwesens"; allzuviele, die sehr froh wären,
könnten sie nunmehr nach Bequemlichkeit handeln und
obendrein auf billige Weise die Lorbeeren des besorg-
ten Vaterlandsfreundes verdienen; vor diesen und gegen
sie pflanze ich das Banner der „deutschen Methode"
auf und ergreife deren Waffe. Es mag das ein „Symbol"
sein, aber ich glaube, daß es gefährlich, unpatrio-
tisch, das heißt schädlich für Italien wäre, sich seiner
jetzt zu entledigen. Und ich werde es bloß dann bei-
seite legen, wenn es möglich sein wird, es mit einem
andern Sinnbild von gleicher Wirksamkeit zu vertau-
schen: jenem der „italienischen", „französischen", „eng-
lischen", meinethalben auch „japanischen" Methode.
Nur sind Symbole ein Ergebnis der Geschichte, sprießen
aus freien Stücken wie die Wörter und Spruchweis-
heiten, und es ist nicht möglich, sie nach Gutdünken
zu vertauschen; so wäre auch „italienische" oder „fran-
zösische Methode" eine farblose, willkürliche Phrase,
die niemanden überzeugen würde. Nicht ich, sondern
die „Lateiner", insbesondere die Italiener sind es, die
fortwährend sich selbst angeklagt haben, es fehle ihnen
an „Disziplin", und die den Ruf oder wenn man lieber
will, die Legende des deutschen „Fleißes" und „metho-
dischen Wesens" geschaffen haben. Wie sollen ich oder
andere nunmehr mit einem Schlage zunichte machen,
was unsere Ahnen in der niemals unterbrochenen Folge
ihrer Urteile, im Laufe mehrerer Jahrhunderte auf-
erbaut haben.? Nehmen wir immerhin an, diese Urteile
seien jetzt zu Vorurteilen geworden; aber selbst diese
7 C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen
97
verleihen den „Symbolen" Glanz und Kraft, mindestens
durch eine lange Zeitspanne, nachdem die Dinge sich
mehr oder weniger verändert haben. Wenn wir Italiener
durch ein ganzes langes Jahrhundert ein „methodisches
Wesen", das besser als das deutsche ist — dergleichen
liegt ja im Bereich der Möglichkeit — aufgestellt und
geübt haben werden, wird es uns gar keine Anstrengung
kosten, um in dieser Hinsicht in den Ruf von Vorbildern
zu kommen und sprichwörtlich zu werden, sowie wir es
für eine Reihe anderer Dinge gewesen sind oder noch
sind. Gegenwärtig aber zeigt das Bemühen, auf einmal
Symbol und Fahne zu wechseln, lediglich die Nichtig-
keit dieses Vorhabens.
NUTZEN DER POLEMIK {Critica XIV, Fe-
bruar igi6). — Wie auch andere urteilen mögen, die
Polemik, die ich mit diesen Randbemerkungen gegen
das Hirngespinst der abstrakten Gerechtigkeit verfolge,
scheint mir nützlich und der Fortsetzung wert. Jenes
alte Hirngespinst, im Juli 19 14 neu herausgeputzt,
könnte man als einen Götzen der Einbildung hingehen
lassen, als durch die Wirkung des Kampfes selbst er-
zeugt und mit ihm vergehend : wenn man nicht im Eifer
der Beteuerung, unsere Sache sei die der Gerechtigkeit,
der Freiheit, der Zivilisation, Gefahr liefe, sich an den
Gedanken zu gewöhnen: unsere Sache sei jedenfalls in
gute Hände (in die Hände Gottes) gelegt, und die Vor-
teile, die die Gegner erringen können, seien nichts anderes
als Teufelswerk. Eine höchst bedenkliche Gemütsver-
fassung, die man um des großen aus ihr erwachsenden
Schadens halber mit allem Nachdruck bekämpfen muß.
Zuerst glaubte ich, daß im Verlauf des gegenwärtigen
Krieges weder Gelegenheit noch Zeit zu einer solchen
98
Richtigstellung gegeben wäre; dann aber, als dieser
immer verwickelter und zäher wurde, und die Tech-
niker Muße hatten, neue Arten von Geschützen und
Luftschiffen zu erfinden, die Chemiker „Stickgase" zu
brauen, sehe ich nicht ein, weshalb der bescheidene
Historiker und Philosoph nicht auch seinerseits mit-
arbeiten sollte, so gut er's vermag, und Unterstützung
durch „aufklärende Begriffe" zu bringen, das heißt,
durch Erwägungen, Richtigstellungen und Theorien,
die er für praktisch wirksam erachtet, um Täuschungen
zu beseitigen, leere Redensarten und Geberden unnötig
zu machen und den gebotenen Weg zu weisen.
SITTLICHKEIT DER LEHRE VOM STAAT
ALS MACHT {Februar igi6). - Es ist gut, noch ein-
mal kurz auf diesen Punkt zurückzukommen: Die
Lehre vom Staat als Macht und vom Leben des Staates
als eines Kampfes ums Dasein rechtfertigt in nichts den
Abscheu, den furchtsame Seelen vor ihr empfinden, es
sei denn, man würde auch einen unerbittlichen Lehr-
satz der Arithmetik oder einen der politischen Wirt-
schaftslehre, das heißt, eine wissenschaftliche Aufstel-
lung als abscheuerregend ansehen. Um die Sache kurz
und in volkstümlicher Ausdrucksweise zu sagen, die
Geschichte (und ebenso die Logik des Lebens selbst)
zeigt, daß die Staaten wie sonstige gesellschaftliche Ver-
bände fortwährend um die Erhaltung und das Gedeihen
der besten Form in einem Kampf auf Tod und Leben
stehen; und einer der akuten Fälle dieses Kampfes ist
eben der, den man Krieg nennt. Bricht dieser aus —
und ob dies geschieht oder nicht, ist ebensowenig sitt-
lich oder unsittlich als ein Erdbeben oder irgendeine
andere Erscheinung des Erdsystems — so haben die Be-
99
standteile der verschiedenen Gruppen keine andere sitt-
liche Pflicht als die, sich zur Verteidigung ihrer eigenen
Gruppe zusammenzuschließen, zum Schutz des Vater-
landes, um den Gegner zu unterwerfen, seine Macht
zu beschränken oder um ruhmvoll zu unterliegen, indem
sie den Keim für künftige Gegenschläge legen. Nur in
dieser Weise ist das Einzelwesen im Recht, obgleich
auch sein Gegner ebenso im Recht ist; und ebenso wird
für eine mehr oder weniger lange Zeit die Ordnung, die
sich nach dem Kriege bildet, im Recht sein. Ich glaube
nicht, daß der gesunde Sinn des Volkes jemals die Kriege
in anderer Weise aufgefaßt hat — der Volksglaube be-
trachtet sie als „Züchtigungen Gottes", um die Men-
schen zu „bessern" — ; und nur eine falsche Ideologie,
ein Trugschluß, schlechter Literaten würdig, kann sich
herausnehmen, diese einfachen, strengen Begriffe durch
die Ideologie von Recht und Unrecht, von gerechtem
und ungerechtem Krieg ersetzen zu wollen. Es ist das
ein Trugschluß, ganz ähnlich dem vielverspotteten der
scholastischen Wirtschaftslehrer, die sich vermaßen von
vornherein, außerhalb des Wettbewerbes und des Mark-
tes das iustum pretium, den angemessenen Kaufwert
festzusetzen, den bloß Wettbewerb und Handel be-
stimmen. Wäre es möglich, von vornherein Recht und
Unrecht festzustellen, von vornherein die Ordnung zu
finden, der die Völker von Fall zu Fall sich fügen
müßten, um das Werk der Zivilisation zu erfüllen, so
verhandelten noch heute Rom und Karthago um ihre
wechselseitigen Rechte: ja die Römer müßten noch
immer um ihre Grenzen und ihr gegenseitiges Vor-
gehen mit den Sabinern, den Fidenaten und Vejentern
im Streite liegen !
lOO
DEUTSCHER FREIMUT {Februar igi6). - Die
deutschen Theoretiker haben, die ÜberUeferung der
itaHenischen PoHtiker aufnehmend (kaum unterbrochen
im achtzehnten Jahrhundert von der „exotischen" fran-
zösischen Schule der Enzyklopädisten), die Lehre vom
Staat als Macht in ihren logischen Folgerungen zur
Geltung gebracht, und man kann sie sicherlich jedes
andern zeihen, nur nicht der Gleisnerei. Ich v^^ill da-
von eine neue Probe geben, anläßlich eines geschicht-
lichen Ereignisses, an das in diesem Kriege des öftern
erinnert v^orden ist, der Verletzung der dänischen Neu-
tralität durch England im Jahre 1807, v^ährend des
Kampfes mit Napoleon. In englischen Zeitschriften
konnte man unlängst lesen, daß die Engländer noch
jetzt das damals von ihnen gegen das Völkerrecht be-
gangene Verbrechen beklagten : es sind das Tränen, die
vor allen andern mit dem Namen des heiligen Nilbew^oh-
ners bedacht zu w^erden verdienen, denn die Engländer
haben von jenem Verbrechen Vorteil gezogen und ge-
nießen ihn noch heute. Wohl aber haben ihnen die
deutschen Historiker schon die Taschentücher geliefert,
um ihre strömenden Zähren zu trocknen, und jenen
Zw^ischenfall der englischen Geschichte dargelegt, ohne
ihn zu verurteilen, ja sogar seine Rechtfertigung ge-
geben. „England hatte auf die Tilsiter Friedensanträge
(wird in einem in den Schulen Deutschlands w^eitver-
breiteten Handbuch, der Geschichte der Neuzeit von
Schäfer, gesagt) eine Antw^ort gegeben, die an Deutlich-
keit nichts zu v\rünschen übrig ließ. In den Tagen vom
2. bis 5. September 1 807 hatten, da Dänemark ein Bündnis
verv^eigerte, seine vereinigten Land- und Seestreitkräfte
Kopenhagen bezw^ungen, die ansehnliche dänische Flotte
mit allem Zubehör genommen und hinw^eggeführt. Es
lOI
\
war eine Tat, die oft genug als brutaler Bruch des Völker-
rechts gebrandmarkt worden ist und das auch verdient.
Aber sie war doch eine richtige Antwort auf die Tilsiter
Friedensheuchelei. Dänemark hatte sich nicht unähn-
lich den preußischen Hoffnungen in Neutralitätsträumen
gewiegt, es war, wenn es Partei nahm, je nachdem, zu
Land oder zur See, Gefahren ausgesetzt, und in der Neu-
tralitätsstellung blühte die dänisch-norwegische Schiff-
fahrt erfreulich empor. Es hatte nicht erkannt, daf3
diese Stellung unhaltbar geworden, seitdem Napoleon
Danzig, Stettin und Stralsund beherrschte und den Zaren
seinen Freund nannte. Konnte England ruhig zusehen,
daß auch der Sund mit Dänemarks wertvoller Flotte in
Frankreichs Hände falle und ihm die Ostsee, der Weg
zu den V^orratskammern seines Schiffbau- und Getreide-
bedarfs geschlossen werde.? Das eingeschlagene Ver-
fahren lag in den Grenzen der Gepflogenheiten, zu denen
England mehr als einmal seine Zuflucht genommen
hat, wenn es glaubte, Lebensinteressen verteidigen zu
müssen; am wenigsten hatte aber ein Napoleon, der
geniale Meister der Gewalttätigkeit, recht, Klage zu
erheben. Seine Scharen standen bereit, das auszuführen,
worin England ihm zuvorkam." Es bestätigt dies, was
ich ein andermal ausgesprochen habe: daß die in
Deutschland vertretene politische Lehre ausgesprochen
wissenschaftlicher Natur ist; nicht zugunsten Deutsch-
lands allein ersonnen, sondern zu jedes beliebigen andern
Staates in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.
Alles dreht sich darum, daß man die Fähigkeit besitze,
daraus Vorteil zu ziehen, das heißt, aus der Wahrheit
Vorteil zu ziehen.
I02
SITTLICHER TIEFSTAND DER LEHRE
VOM STAAT ALS RECHT {Fe^ruari9i6).-Nicht
das gleiche könnte ich von der seraphischen Lehre vom
Staat als Recht sagen, mag sie auch in einem verführe-
rischen Licht erscheinen, gerade darum aber 'auch als
ein tückischer Spiegel von Vogelstellern ; sie dient (und
hat immer gedient), um die besondern Ziele der Einzel-
wesen und der Staaten zu verdecken, v^ährend man sich
über die andern hinwegsetzt, die man, bevor man sie
mit der Tat vergewaltigt, mit einer trugvollen und un-
billigen Anrufung der Gerechtigkeit zu verwirren, in
Verruf zu bringen und zu schwächen sucht. Auch da-
für will ich ein Beispiel anführen, aus jener französischen
Rundschau, dem Mercure de France^ geschöpft, aus dem
ich in den letzten Nummern einige Worte des Beifalls
und der Unterstützung meiner Äußerung in der Cri-
tica angeführt habe. Allein wie steht die Sache nun?
Seit einigen Heften hat der Mercure einen andern Ton
angeschlagen, die italienischen Zeitberichte unterdrückt,
aufgehört an der Lehre von der Macht etwas Gutes zu
finden und die Ungereimtheiten, die über die deutsche
Wissenschaft umlaufen, zu tadeln; er läßt vielmehr jetzt
die Lehre vom Staat als Recht in stolzer Einsamkeit
aufleuchten, und siehe, da stellt sich auch sofort die An-
wendung dieser geheiligten Lehre ein, natürlich nicht
auf Kosten Frankreichs, sondern Italiens: „Wenden wir
den Grundsatz der Völkerbefragung an, wie wir es tun
müssen, denn er ist der Untergrund unseres sitt-
lichen Seins, so müßte Italien sich jeder Einverlei-
bung enthalten: selbst in Triest und Fiume hat der
italienische Bestandteil kaum die Mehrheit . . . Aber
unsere lateinische Schwester hat auch ihrerseits ihre ge-
schichtlichen Erinnerungen, deren Gewicht sie vorwärts
103
treibt, und sie möchte das alte Gebiet der Republik
Venedig erwerben : sie möchte sogar endgültig Valona,
am Eingang des Kanals von Otranto, besetzen, obwohl
es ihr niemals gehört hat . . . Lassen wir nicht alle
Hoffnung fallen, daß sie sich mäßigen und die
Rechte der andern berücksichtigen werde . . ."
{Mer eure de France^ i. Jänner 191 6, S. 164/5.) Das sind
also die Folgen, wenn man die Politik nach Art der
Lehrbücher für die Unterklassen auffaßt und die Staaten
wie ebenso viele Häuschen oder Fritzchen behandelt,
denen man ihr Abendsüpplein gibt und sie zu Bett
schickt!
Ist nun diese ölige Lehre vom Staat als Recht kein
hinterlistiges Werkzeug für die eigenen Ziele, was ist
sie dann? Nichts anderes als ein geschwätziger Trost
für den Schwachen und Besiegten. „Es liegt etwas
Erniedrigendes, Sklavenmäßiges darin, hartnäckig zu
wiederholen, eine Sache müsse vorhanden sein, weil sie
gerecht sei", schrieb Maurice Barres vor Jahren (ich weiß
nicht, was er jetzt schreibt) in ^ointn Amities fratifaises.
Ist sie aber nicht einmal dies, — weder Klageruf von
Besiegten, noch Hinterlist von Politikern — , ist sie reine
Theorie ohne versteckte Absichten, läßt sie sich wenig-
stens dann für etwas Achtungswertes halten? Nicht ein-
mal dann, da sie vom wissenschaftlichen Standpunkt
aus immer eine Torheit bleibt.
WOMIT SICH ITALIENISCHE PROFESSO-
REN MÜHEN {Februar 1916). - Die italienischen
Universitätsprofessoren haben sich in vielen Bemühun-
gen, die den Zwecken des Krieges dienen sollten, ver-
sucht; nach meinem bescheidenen Dafürhalten hätten
sie sich diese ersparen können. Hier einiges davon.
104
Eine Gruppe von Professoren hat ihren Kollegen
vorgeschlagen, eine Vereinigung zu bilden „zum geist-
lichen Beistand der Nation" ; und ich glaube, daß dieser
Vorschlag irgendwie in die Tat umgesetzt v^orden ist,
das heißt, daß ein Verein (mit Vorsitzendem, Stellver-
treter und Schriftführer) ins Leben trat, von dessen
Wirksamkeit freilich noch niemand etwas gehört hat.
In der Tat ist der Gedanke „den Seelen beizustehen"
ein Priestergedanke; er stößt nur auf die nicht geringe
Schwierigkeit, daß, wer das Bedürfnis nach einem sol-
chen Beistand fühlt, sich lieber gleich an den Priester
selbst wendet, dessen Gestalt ihm von Kindheit auf in
solchem Amte vertraut ist. Mit einem Professor am
Kopfkissen zu sterben, der einem seine Gedanken ins
Ohr flüstert — nein, das lieber doch nicht!
Andere haben sich darauf geeinigt, in ihren Antritts-
reden zum akademischen Jahr oder zu ihrem Sonder-
kurs die dauernde Zivilisation der Romanen gegenüber
der dauernden Barbarei der Germanen zu verherrlichen.
Da aber dieses Unternehmen unsinnig ist, so ist's kein
Wunder, daß die für diesen Zweck aufgesetzten Reden
mit verkehrten Darlegungen, entstellten Angaben, häufig
auch mit sehr ergötzlichen Schnitzern gespickt sind.
Man stelle sich vor, daß ich selbst in einer der besten
solcher Art, herrührend von einem gelehrten Mann mit
vornehmem Empfinden, dieses wundersame Gesetzlein
gefunden habe: „Lange bevor die Deutschen von Kant
gelernt hatten, die Lehren der reinen Vernunft mit
der praktischen Vernunft zurechtzumachen, hatte
die Natur allen Gewalttätern Lügen, Trugschlüsse
und Vorwände gelehrt, um wenigstens in ihren Augen
alle Arten von Schurkenstreichen zu entschuldigen."
(Eröffriungsrede des Prof. Patetta zum akademischen
105
Jahr an der Univ. Turin, in der Riforma Sociale,
XXXI, 845.)
Andere richten wieder ihre Polemik im besondern
gegen Hegel, eine um so gefahrlosere und heftigere
Polemik, da sie durch die Kenntnis dessen, was kriti-
siert werden soll, keine Hemmung erfährt; gerade so
wie der ältere Dumas behauptete, die erste Bedingung,
um ein Land gut zu beschreiben, sei die, es niemals ge-
,sehen zu haben. — So werden in einer andern Antritts-
rede Dialektik und Idealismus vernichtet als „lügen-
hafte", „hinterlistige", „erschreckende", „abscheuer-
regende", „unmenschliche" und „zynische" Philo-
sophie; und aus der Gegenüberstellung dieser falschen
Philosophie mit der wahren und dauernden, derjenigen,
die aus den erhabenen Grundsätzen von 1789 leuchtet,
ist „philosophisch unser Endsieg hergeleitet". In der
Nuova Antologm (Heft vom 1 6. Sept. 1 9 1 5, S. 224) habe
ich gelesen: „Nicht wenige freie Geister des freien
Deutschland erheben mächtig ihre Stimme gegen den
Philosophen (Hegel), der die Gewaltherrschaft (!) durch
einen Weisheitsgedanken wappnete; allein diese hat
durch die hundertjährigen Auskunftsmittel der Be-
stechung (!) und der Verfolgung Deutschland das Hegel-
tum aufgedrängt, und hierauf in bewußter Tätigkeit (!)
dessen Ausfuhr (!), begleitet von Schutzzöllen (!) in alle
jene Länder eingeleitet, dazu ausersehen, das organisato-
rische Genie des im Frieden triumphierenden Deutsch-
lands zu bewundern." Eine Gedanken verfilzung, von
der ich die Hände lassen will, nur daß ich aussprechen
möchte, daß die Hegeische Philosophie in Österreich
(wo vielmehr die gegensätzliche Philosophie Herbarts
Glück gemacht hat) niemals Anhänger hatte und daß
sie seit mehr als einem halben Jahrhundert einer ge-
106
wissen Mißachtung und Vergessenheit anheimgefallen
ist— der Alldeutsche Houston Chamberlain ist ein großer
Verächter Hegels— so daß erst in den allerletzten Jahren
dort wieder ihr Studium in Aufnahme gekommen ist,
ganz besonders als Widerhall der Arbeiten eini-
ger italienischer und englischer Forscher!
Wieder andere erheben den Kampfruf für die Be-
freiung des italienischen Denkens vom deutschen Joch.
Nur schade, daß sie fast alle bis zum Tag des Kriegs-
ausbruches zu den sklavischesten Anhängern der deut-
schen Forschung gezählt haben: so sehr, daß ich von
einem unter ihnen, der jetzt am meisten um sich schlägt,
in meiner Bücherei ein vor Jahren in Neapel gedrucktes
Werkchen besitze, über den Einfluß Dantes (wohl-
gemerkt Dantes!) in Spanien (wohlgemerkt in Spanien !)
auf deutsch geschrieben, und in dem sogar die höchst
neapolitanische Offizin des Universitätsdruckers — sie
stellt meine Geduld gewöhnlich durch ihre elenden Ab-
züge auf die härteste Probe — deutsch vermummt ist:
Neapel. A. Tessitore und Sohn. Druckerei der K. Uni-
versität! Knechtsinn gegenüber der Mode von damals,
Knechtsinn gegenüber der Mode von heute; die Rech-
nung stimmt genau. Wer aber, gleich mir, damals nicht
knechtisch gesinnt war, wird, dank einer geistigen Un-
abhängigkeit, jetzt dazu veranlaßt, die deutsche For-
schung in Schutz zu nehmen. Und auch da geht die
Rechnung glatt auf.
Noch andere wollen dazu beitragen, einen „intellek-
tuellen" Bund zwischen Italien und Frankreich, wohl
auch mit England zu stiften, als wenn die Männer,
die auf dem Felde des Gedankens und der Wissen-
schaft tätig sind, sich jemals durch geschicktes Reden
von Handlungsreisenden für diesen oder jenen Erzeuger
107
gewinnen ließen (etwas, das dank dem Wettbewerb
zwischen den Erzeugern und dem Eifer der feindlichen
Handelsangestellten nicht einmal auf wirtschaftlichem
Felde gelingt) und nicht vielmehr ihre geistigen Hilfen
frei dort suchten, wo sie wissen, daß sie zu finden sind,
in Deutschland ebenso gut wie in Frankreich, im
Morgenland wie im Abendland; für die Alltance de la
culture latine hat sogar Herr Charles Benoist in der
Nuova Antologia (V. Heft, i6. Dez. 191 5) das Wort
ergriffen, der vor etwa zwanzig Jahren bei uns als Be-
leidiger Italiens einen Sturm entfachte. Jetzt aber
macht er es noch schlimmer; wenn er, zum Beispiel,
von einem italienischen Buche spricht, das er vor kur-
zem gelesen hat, sagt er, der Verfasser desselben zeige
sich, nachdem er im analytischen Teil (!) ganz sich
prächtig erwiesen habe, plötzlich, von der deutschen Me-
thode verführt, ,,ergriffen von der verderblichen Sucht,
ein riesenhaftes E)enkmal zu errichten ; er breche sich das
Genick an diesem Gerüste, aus dem Objektivismus in
den Subjektivismus taumelnd. Das Ergebnis war, nach
Voltaires Wort, Metaphysik, denn die Hörer verstanden
ebensowenig mehr wie der Redner sich selber". Herr
Benoist hat keine Ahnung davon, daß die italienischen
Forscher gerade, um dieser platten Art des Urteilens,
die einmal in den französischen Büchern herkömmlich
war, auszuweichen, sich — der deutschen Wissenschaft
in die Arme geworfen haben.
Andere endlich haben einen kürzern und praktischem
Weg eingeschlagen, indem sie an ihren Fakultäten
Tagesordnungen für die Entfernung dieses oder jenes
deutschen oder österreichischen Kollegen von seinem
Lehrstuhl veranlaßten, der seit vielen Jahren ehrenvoll
zum Nutzen der italienischen Studierenden gewirkt
108
hatte ! Darüber will ich nun kein Wort verlieren, denn so
sehr es mir vernünftig erschienen vv^äre, vor dem Kriege
die Abschaffung der gesetzlichen Bestimmungen zu
fordern, die in den ersten Zeiten des geeinigten Italiens
die Berufung ausländischer Lehrer zuließen, so w^enig
großherzig dünkt es mich, jetzt diese Forderung zu
erheben, so wenig würdig, sie mit persönlichen Spitzen
zu versehen.
Ich will diese Aufzählung nicht fortsetzen, und
werde dies vielleicht ein andermal tun, möchte jetzt aber
nur im Vorbeigehen auf die Verzückungen hinweisen, in
die Professoren und Zeitungsschmierer über den „ Stil " der
Kriegsberichte des Generals Cadorna geraten sind : einen
„starken neuen Stil" [forte stilnuovd), wie gesagt worden
ist, (man sehe daraufhin einen Aufsatz imFanfulia dellado-
menica von dem früher erwähnten Verfasser von „ Tessi-
/'or^i^W*S'(9>^/?"), bestimmt, dem neuen Zeitalter des italie-
nischen Schrifttums sein Gepräge zu geben. Ich lasse die
Nachforschung nach dem Urheber oder den Urhebern
der Prosa jener Kriegsberichte — sie würde vielleicht für
Italien die Enthüllung nicht eines, sondern mehrerer
„Stilkünstler" bringen — bei Seite ; ebenso die Bemer-
kung, daß die einfache und gedrängte Schreibart allen
Geschäfts- und Tatmenschen eigen ist, und man mit
demselben Recht die neue Literatur von den Tele-
grammen, die die Großunternehmer untereinander aus-
tauschen, erwarten könnte: Was zeugt aber mehr von
schwächlichem Literatentum, von literarischer Ange-
faultheit, als den „Stil" von Urkunden zu bewundern,
die jedes italienische Herz, angstvoll „Tatsachen"
suchend, liest, ohne auch nur zu bemerken, ob sie „Stil"
haben?
109
WOMIT SICH DEUTSCHE PROFESSOREN
MÜHEN {Februar igi6). — Sündigen die italienischen
Professoren in solcher und anderer Weise, tun dies nicht
ebenso sehr auch die deutschen? und hat man nicht
manchen Hinweis darauf in den Zeitungen gefunden,
die beispielsweise die Urteile und die Lehren der Pro-
fessoren Kohler und Sombart und Herrn Houston
Chamberlains brachten ? Warum also (wird man sagen)
richtest du nicht gegen sie etwas von dem Tadel, mit
dem du den unsern gegenüber so freigebig bist ? — Vor
allem, weil nach Italien jetzt keine deutschen Bücher,
Zeitschriften und Tagesblätter gelangen; und man kann
nicht wohl etwas bemängeln, dessen genauen Wortlaut
man nicht vor Augen hat ; sodaß ein derartiges Unter-
nehmen notwendig auf die Zeit nach dem Kriege verscho-
ben werden muß, wo dann jeder von uns, dem die Sorge
um die Wissenschaft und Wahrheit obliegt, berufen
sein wird, über den Gebrauch, den er von dieser Sen-
dung gemacht hat, Rechenschaft abzulegen ; und viele,
Deutsche wie Italiener, werden dann über das von ihnen
Geschriebene erröten müssen, als auf offenkundigem
bösem Willen, Lüge oder Verdrehung ertappt; die
Deutschen noch mehr als die Italiener, denn wer kennt-
nisreicher ist, hat auch mehr Verantwortung zu tragen.
Freilich werden wir dann, für die Deutschen nicht
weniger als für die Italiener, mildernde Umstände gel-
tend machen ; wir werden gegen den früher erwähnten
Herrn Houston Chamberlain nicht allzu streng ver-
fahren, der trotz des Rufes, den er sich auch in Italien
mit seinem dickleibigen Werk: Eiinleitung in die Ge-
schichte des neunzehnten Jahrhunderts erworben hat,
trotzdem nur ein schwacher Kopf, ein Dilettant
schlimmster Gattung, bar allen Sinnes für Wahrheit
ist; wir werden Leute verstehen wie Sombart, einen
Wirtschaftslehrer, der nicht ohne Verdienst ist, der aber
schon in seinen Werken über die Entwicklung des
Kapitalismus und über das Judentum die Neigung ge-
zeigt hat, mit abstrakten Bestandteilen zu theoretisieren,
in einem einzigen Ton zu malen, und fortgefahren
ist, England und seine Geschichte in gleicher Weise
darzustellen ; was Kohler anbelangt, so werden wir uns
erinnern, daß dieser vielseitige Philosoph, Rechtslehrer,
Historiker, Dichter, Übersetzer, stets auch in Deutsch-
land selbst trotz einer gewissen ihm eignenden Leb-
haftigkeit und geistigen Behendigkeit für einen großen
Wortmacher und Leichtfuß angesehen worden ist, und
daß auch dort viele über seine Verteidigung der welt-
lichen Macht und der Autorität des Papsttums als
etwas, das ausschließlich den lateinischen Völkern zu-
komme und was Deutschland zum Nutzen dieser ewig
Minderjährigen unterstützen müßte, gelächelt haben
werden. Alles in allem : Was gehen mich gegenwärtig
die Ungereimtheiten an, die die Herren Professoren
in Deutschland drucken lassen ? Ich wollte, sie sagten
zu ihrer Schande und zu ihrem Schaden deren noch
viel mehr; wollte aber auch, daß viel weniger von
solchen Sachen in meinem Vaterlande laut würde, das
mich im Gegensatz dazu sehr viel angeht.
EINE FALSCHE ANEKDOTE {CriticaXIKMai
igi6). Ich kann der Versuchung nicht widerstehen,
noch ein Blümlein aus einer akademischen Eröffnungs-
rede zu pflücken, in der Art derjenigen, von denen öfters
die Rede war. Dort lese ich: „Als Georg Hegel voll
tiefen Nachdenkens in seinem Hause saß, und um ihn
die Kanonen von Jena erdröhnten, zerschlug ein Granat-
ili
Splitter die Fenster seines Zimmers. Da rief der Philo-
soph, unbekannt mit dem, was sich außerhalb des
Kreises seiner Mauern und seiner Gedanken zutrug,
seine Haushälterin und befrug sie über jene lästigen
Geräusche der Außenwelt. Als er aber von Napoleon,
von der Schlacht, von den besiegten Preußen, vom
Wüten des Todes sprechen hörte, versetzte er: — Das
alles geht mich nichts an. Mache Ordnung, damit ich
in Ruhe weiter arbeiten kann." (P. Savj Lopez,
Neulateiner und Germanen^ EröfFnungsvorlesungen der
Universität Pavia, in der Nuova Anto/ogia, i6. Jänner,
S. 257). Ist das nicht geistreich.? Freilich von etwas
seichtem Geist, obwohl der herkömmlichen Feinheit
akademischer Hörsäle nicht unangemessen. Nur ist
diese Anekdote nicht, wie der Vortragende sagt : mehr
oder weniger geschichthch; sie ist geradezu falsch; falsch
als Tatsache, falsch als Sinnbild. Als Tatsache, weil Hegel
die letzten Seiten seiner Phänomenologie in der „der
Schlacht bei Jena vorangehenden Nacht" vollendet hat,
wie er selbst in einem Briefe des folgenden Jahres sagt, in
dem er sich wegen der „ Vnform^'- dieser letzten Seiten ent-
schuldigt: es ist das eine Einzelheit, die zu dem ab-
gebrauchten Bilde über die „beim Donner der Kanonen
von Jena" geschriebene Phänomenologie Anlaß gegeben
hat und die auf Umwegen, die nicht erforscht zu wer-
den brauchen, jetzt seltsam verunstaltet in der von dem
italienischen Redner erzählten Anekdote wieder-
erscheint ; Gott weiß aus welcher Quelle er sie geschöpft
hat. Den folgenden Tag, während der Schlacht, steckte
Hegel seine Niederschrift aus Furcht vor' Plünderung
oder Brand seines Hauses in die Rocktasche, irrte in Jena
umher, und suchte eine Woche hindurch zu erfahren,
was aus seinen Freunden in Stadt und Umgebung,
112
darunter auch Goethe, geworden wäre. Der Redner
wird sagen, daß er, was ihn anbelange, mit seinem
pochenden Herzen nicht imstande gewesen wäre, unter
solchen Bedingungen die Phänomenologie zu vollenden ;
ich bin bereit, ihm einzuräumen, daß er weder damals
noch jetzt imstande gewesen wäre, nicht nur sie nicht
zu vollenden, sondern überhaupt anzufangen. Wie dem
auch sei, es ist bekannt genug, daß es ein Glück ist,
hat man in den größten Aufregungen, in den stärksten
Schmerzen eine begonnene Arbeit in Händen, die uns
dadurch, daß sie uns in ihre Gedankenbahnen einspinnt
und mit sich fortreißt, Zeit und Sorgen überwinden
hilft. Falsch ist ferner jene Anekdote, wie ich schon
sagte, auch als Sinnbild, denn Hegel war niemals ein
von der Welt abgeschiedener Denker, gleichgültig
gegen ihre Angelegenheiten, nie ein Mystiker oder ein
Buddhist, vielmehr ausgeprägt „politisch", nicht bloß
in der Grundrichtung seiner Philosophie (die damit den
geraden Gegensatz zu Schopenhauer bildet), sondern
auch in seiner besonderen Tätigkeit als Schriftsteller und
Publizist; schon 1 798 — um von anderem zu schweigen—
hatte er über die Reform der Verfassung Württem-
bergs (seiner • Heimat) sich vernehmen lassen, und
zwischen 1801 und 1803 eine bewundernswerte Zer-
gliederung der Umstände, die Deutschlands politische
Ohnmacht herbeiführten, gegeben; er war endlich
Tagesschriftsteller, hat bis in seine letzten Lebens-
tage über die politischen Aufgaben seiner Zeit nach-
gedacht und kräftig an der preußischen Politik der
Restaurationszeit mitgewirkt. Allein unser Redner
bedient sich des albernen von ihmerzählten Märchens,
um bis zu mir herabzusteigen: zu „einem unserer Philo-
sophen . . . der etwas ähnliches wiederholt hat, als er
8 Croce, Raiidb<!ii>erkuagea eines Philosophen 11^
die italienischen Forscher ermahnte, während des Krie-
ges, als gäbe es keinen Krieg, die gewohnte methodische
Arbeit fortzusetzen, und sich vor dem bürgerlichen
Fieber zu hüten, das deren Klarheit trüben könnte.
Allein wie viele unter uns werden sich bereit finden,
dieser Stimme zu folgen, die aus dem eisigen Himmel
geistiger Abstraktion zu tönen scheint, fremd jeder
Lebenswärme?" Hieraus erhellt, daß der Redner mehr
„Lebenswärme" als ich zu haben glaubt — darüber
mag er denken wie er will — , aber auch daß er von den
Dünsten seiner sprühenden Glut umnebelt, meine
Worte nicht verstanden hat; denn diese waren keines-
wegs eine Aufforderung an die Forscher, sich den Bürger-
pflichten zu entziehen, vielmehr ein Ansporn, nicht
müßig zu gehen, die Zeit nicht mit leeren und wenig
würdigen Dingen zu vertun, wie es gerade der Miß-
brauch der Wissenschaft zu Kampfzwecken ist. Man
lasse sich als Soldat einreihen, als Krankenwärter ver-
wenden, trage zum Hilfswerk für die Familien der
Kämpfer bei, oder zu ähnlichem, je nach Anlage und
Möglichkeiten: das sind alles sehr löbliche Dinge;
allein man rechne nicht zu seinen bürgerlichen Pflich-
ten, alltäglich den Schülern und Lesern Abgeschmackt-
heiten vorzusetzen und dem Volk zu verkünden, daß
man seine gewohnte Beschäftigung aufgegeben habe
und j etzt fromm gesammelt dastehe, um für das Vaterland
zu bangen, darauf bedacht, seine lebhaften Kümmernisse
den trägen Gemütern der andern einzuflößen. Das nützt
nichts und niemandem ; unser Volk ist ruhig und ent-
schlossen und hat kein Bedürfnis nach Reizmitteln;
im Gegenteil, dieses beflissene Darreichen nicht ver-
langter Reizmittel ist vielmehr geeignet, Mißtrauen
und Verdacht zu erwecken.
114
GRENZEN DER LEHRE VOM STAAT ALS
MACHT [Mai igi6). — Bevor ich zu andern Erwä-
gungen übergehe, möchte ich noch die Lehre vom
Staat als Macht mit ein paar guten Hammerschlägen
befestigen. „Lasse ich eine so schöne Gelegenheit vor-
beigehen (sagt Renzo von der Pest in Mailand), so
bietet sich mir nicht mehr eine zv^eite der Art!" Nüt-
zen wir diesen harten Krieg nicht, um uns von den
abstrakt-humanitären Vorurteilen zu befreien und die
wahre Lehre vom Staat uns zu eigen zu machen, wann
wollen wir klug werden? Es scheint mir aus den vor-
ausgegangenen Darlegungen klar hervorzugehen, daß
die Politik gleich der Wirtschaftslehre ihre eigenen,
von der Sittlichkeit unabhängigen Gesetze hat: und
daß nicht sowohl der sittlich handelt, der sich vergebens
gegen sie auflehnt, als derjenige, der sie der sittlichen
Pflicht unfcirordnend annimmt, beispielsweise für sein
Vaterland kämpft : rig/it or wrong, it is my country. Dies
— im Vorbeigehen gesagt — bringt eine tiefgehende
Richtigstellung von Hegels Lehre mit sich, der noch den
Staat und den Kampf um den Staat als der Sittlichkeit
„übergeordnet" auffaßte, während die von mir ver-
teidigte Lehre ihn sogar als „untergeordnet" auffaßt
(wenn auch mit seiner eigenen Beschaffenheit begabt,
die die Sittlichkeit anwenden, aber niemals verzerren
darf): eine Richtigstellung, die ich nicht erst heute
vorschlage (man sehe z. B. meinen Versuch über He gel ^
N. A. von 191 3, Anhang S. 159—162). Forscht man
nun nach den Ursachen, aus denen die Lehre vom Staat
als Macht oder von der Selbstherrlichkeit der Politik
solches Widerstreben auszulösen pflegt, so wird man
bemerken, daß eine der stärksten unter ihnen die Furcht
ist, es möchte, sobald die Politik von der Sittlichkeit
8* 115
unabhängig gemacht wird, alles erlaubt erscheinen,
jede noch so scheußliche Grausamkeit, jeder noch so
schmähliche Betrug, jegliche Vergewaltigung, jeglicher
Verrat. Aber wer hat jemals behauptet, daß damit
alles erlaubt sei ? Gewiß ist alles erlaubt, was zum Siege
führt, aber Sieg ist nicht der einfache Augenblicks-
erfolg, der wieder verloren geht und bald, wenn er auf
üble Weise errungen ist, sich rächt, sondern schlecht-
hin der Sieg: das heißt nicht ein einfach äußerlicher
und vergänglicher Triumph über den Gegner, sondern
ein geistiger und dauernder, ein Triumph der Fähig-
keit, Klugheit, Voraussicht, etwas, das dem eigenen
Volk und ^ der gesamten Menschheit die Frucht des
Kampfes sichert. Darum muß man vermeiden, den
besiegten Feind in seiner Ehre zu treffen oder ihn all-
zusehr in seiner Selbstachtung zu erniedrigen; daher
muß man trachten, ihn in einer Lage zu belassen, die
nicht unerträglich ist, oder seiner Tätigkeit andere
Wege weisen; dafür sorgen, internationale Rechte
und Gepflogenheiten zu beobachten, die Erzeugnisse
der Geschichte sind und die, obwohl sie nicht als fest-
stehend und unbedingt, ohne Ausnahme gültig, be-
trachtet werden können, dennoch ihren großen Wert
in sich tragen: wer gezwungen ist, ihn irgendwie zu
verletzen, spielt ein gefährlich Spiel, ähnlich dem
Arzte, der einen kühnen Eingriff wagt oder ein ge-
waltsames Heilmittel anwendet, das den Kranken wohl
retten, ihm aber auch später ein neues Übel zuziehen
kann ; das beweist der Eifer, den die Deutschen an den
Tag legen, um die von ihnen vollführten Gewalttaten zu
rechtfertigen, indem sie sie der Notwendigkeit oder der
vorbeugenden Abwehr gegen die Feinde, die die näm-
lichen Gewalttaten planten, zuschr.eiben. Das, was sich
ii6
später ereignet, die folgende Geschichte, ist die wahre
Richterin über die Einsicht, mit der ein Staat um seine
Macht gekämpft hat, ohne die Grenzen des Kampfes
zu überschreiten und allein das erfüllend, was wirklich
und innerlich notwendig, fruchtbar für den Sieg war:
jeder erinnert sich, wie einem Napoleon die Ermor-
dung des Herzogs von Enghien niemals vergeben
wurde, oder den Bourbonen von Neapel der Bruch der
Kapitulationen und die Meineide, mit denen sie sich
zwar den Sieg für den gegenwärtigen Augenblick
sicherten, zugleich aber auch ihre eigene Niederlage
für die nächste Zukunft vorbereiteten ; auch den Deut-
schen werden die Gewalttaten und Grausamkeiten, deren
sie sich schuldig gemacht haben, nicht vergessen wer-
den, und sie werden sie irgendwie sühnen müssen (so-
weit sie Bestätigung finden werden).
Nur sind diese Hemmungen und Grenzen, die der
Staat als Macht empfinden und innehalten muß, durch-
aus nicht etwas, das von außen kommt oder die Sitt-
lichkeit ihm wie einen Aufschriftzettel anheftet ; es sind
Hemmungen und Grenzen, die er in sich selbst findet
und aus seiner eigenen Beschaffenheit, aus seinen Zie-
len, seinem Nutzen und sozusagen aus seinem Erhal-
tungstrieb ableitet. Der Mangel an Hemmungen und
das Überschreiten der Grenzen wird in der Politik nicht
Sünde oderVerbrechen genannt, sondern „Irrtum" (nach
Talleyrands glücklichem Ausdruck) : Irrtümer, die in
diesem Umkreis noch schwerer wiegen als Verbrechen
und Sünden. Deshalb wird die Lehre von der Selbst-
herrlichkeit der Staaten, von der Unabhängigkeit der
Politik und der Sittenlehre durch die Anerkennung
ihrer notwendigen Grenzen und Hemmungen nicht
erschüttert, sondern bestätigt und gefestet. Genau so
117
wie es bei einer andern Unabhängigkeitslehre zutrifft,
die nicht weniger als die von der Politik angegriffen,
auch ihrerseits immer noch von dem großen Haufen
abgelehnt wird, da auch sie den Furchtsamen zu allen
möglichen Ängsten Anlaß gibt: die der Unabhängig-
keit der Kunst von der Sittlichkeit. Mithin (sagen
die Gottesfürchtigen) soll aller Schmutz, soll jede
Zote in der Kunst erlaubt sein? Gewiß nicht, weil
Schmutz und Zoten eben keine Kunst sind, und diese
nicht nötig hat, sich bei der Sittlichkeit Rats zu erholen,
um dergleichen zurückzuweisen; es genügt ihr, sich
von sich selbst, aus ihrer eigenen Natur heraus beraten
zu lassen, die als reiner Gefühlsausdruck und reine
Anschauung nicht zugleich Sinnlichkeit und Wollust
sein kann. Darum ist die wahre Kunst, die eben
Kunst, nicht Sittlichkeit ist, nicht im Zwiespalt mit
dieser, ebenso wie die wahre Politik, eben Politik und
nicht Sittlichkeit, dieser nicht widerspricht und sehr
wohl mit ihr verbunden sein kann.
GEGEN DAS ACHTZEHNTE JAHRHUN-
DERT {Mai igi6). Wenn ich in meinem gewohnten
Verfahren, in den Geist der Gegner einzudringen und
die Beweggründe ihrer Einwürfe zu erfassen, diesmal
den dunklen Punkt, den ich oben aufhellen wollte, ge-
funden habe, so scheint es mir doch unmöglich, zu
leugnen, daß der Grundantrieb, dem der Widerwille
gegen die Lehre von der Selbständigkeit der Politik
(sowie die von der Selbstherrlichkeit der Kunst) ent-
springt, immer noch aus der Geistesverfassung des acht-
zehnten Jahrhunderts herkommt, die noch zum großen
Teile in der Gesellschaft des zwanzigsten Jahrhunderts
fortlebt und künstlich aufrecht erhalten wird, geradeso
ii8
wie die katholische Kirche die Geistesverfassung des
Mittelalters oder vielmehr der Zeit der Gegenrefor-
mation festhält. Es ist schvs^ierig, diese veraltete Gei-
stesverfassung durch Aufhellung einzelner Begriffe zu
beseitigen, eben weil sie nicht in einzelnen Irrtümern,
sondern in der Gesamtheit einer geistigen Erziehung
und Richtung wurzelt. Der Anhänger des achtzehnten
Jahrhunderts in unserer Gegenwart verhält sich zu der
neuen historischen Philosophie fast ganz so, wie der
Anhänger des achtzehnten Jahrhunderts Abbe Morellet
gegenüber der neuen Dichtung eines Chateaubriand.
Man erinnert sich seiner vielberufenen Kritik. Chateau-
briand hatte im Atala vom Mond gesagt: „. . . Er hüllt
die Wälder in jenes große schwermütige Geheimnis,
das er den alten Eichen und den ehrwürdigen Meeres-
gestaden zu erzählen liebt." Morellet bemerkte dazu:
„Ich frage, worin das große schwermütige Geheimnis
liegt, das der Mond den Eichen erzählt? Bekommt
ein vernünftiger Mensch, wenn er diese gesuchte und
gewundene Redensart liest, davon irgendwelche klare
Gedanken?" Der Abbe Morellet war nicht zu wider-
legen: um das zu tun, hätte man ihm den Kopf zu-
rechtsetzen müssen, den ihm der Konvent auf den
Schultern belassen hatte.
Da mir nichts anderes zur Hand ist, wende ich mich
für jetzt gegen die Freimaurerei, nicht sowohl, wie es
gewöhnlich geschieht, weil ich sie für eine gefährliche
Verbindung von Ränkeschmieden und Strebern halte
(davon weiß ich nichts, ja ich wäre sogar bereit, sie
mit Francesco de Sanctis, der selbst Freimaurer war,
für eine einfache Wohltätigkeitseinrichtung der ganzen
Welt anzusehen!), als weil gerade diese Einrichtung,
entstanden am Schlüsse des siebzehnten Jahrhunderts,
119
beim ersten Auftauchen der verstandesmäßigen Rich-
tung, ausgebildet im achtzehnten Jahrhundert, jetzt der
radikalen Demokratie dienstbar gemacht, vom kleinen
Bürgertum erfüllt, von der Bildung von Elementar-
schullehrern erleuchtet und gestärkt durch den ratio-
nalistischen Vereinfachungsgeist des Judentums, das
größte Sammelbecken der „Geistigkeit nach Art des
achtzehnten Jahrhunderts" ist, eines der größten Hin-
dernisse, das den lateinischen Ländern im Wege steht,
wenn sie sich zu wahrem philosophischem und ge-
schichtlichem Verständnis der Wirklichkeit und einem
der neuen Zeit angemessenen politischen Leben auf-
schwingen wollen. Vielleicht ist es in naher Zukunft
nicht mehr nötig, sich darüber Gedanken zu machen :
der gegenwärtige Krieg, gleichgültig zu welchen inter-
nationalen Einrichtungen er führen wird, hat schon
den Sozialismus gestürzt, dessen Tod, den Tod von
innen heraus, der der eigentliche Tod ist, schon vor
fünf und mehr Jahren vorausgesagt wurde (Croce,
Kultur und sittliches Leben, S. 167—179) und der jetzt
auch von außen her gestorben ist oder höchstens noch
wie eine in ihrem Schlupfwinkel verkrochene Hyäne
heult, gierig danach, an Leichen ihren Fraß zu halten :
ein wenig würdiges Ende für eine Scliule, die einst da-
von geträumt hatte, die Proletarier der ganzen Welt
in ein Bündnis zusammenzuschließen, sich der inter-
nationalen Politik als eines Überrestes des bürgerlichen
Zeitalters zu entledigen und das friedliche Zusammen-
leben der Proletarierklassen aller Länder zu begründen.
Hingegen hat der Krieg gezeigt, daß die zwischen-
staatlichen Kämpfe noch immer den Vorrang über die
sozialen behaupten und daß die handelnden Personen
in der Weltgeschichte die Völker, nicht die Klassen
120
sind. Er hat ferner die humanitäre oder freimaurerische
Ideologie erschüttert, umgestürzt und zu fast vollstän-
digem Verfall geführt, da der Krieg (wie ihre Anhänger
seufzen) bewiesen hat, daß im Menschen nicht der
seraphische Logenbruder, so wie sie ihn erträumten,
steckt, sondern das „blutdürstige Tier" ; wie er ander-
seits mit der Tat gezeigt hat, daß im Menschen noch
immer der Held steckt, bereit, sein Leben und alle
Wohlfahrt zu opfern, um eine Fahne zu verteidigen,
heiße sie nun die Italiens oder Frankreichs, Deutsch-
lands oder Österreichs, Englands oder Rußlands, bereit,
sich aufzuopfern für etwas, das über ihm steht, und
zufrieden mit dem Opfer seiner selbst, einen Gesang,
einen Vers, ein Wort, der größten aller Dichtungen
einzuverleiben, jener, die die Geschichte aus den
Handlungen der Menschen webt, bald harmonisch zu-
sammenklingend, bald sich infolge höherer Harmonien
entzweiend und einander entgegentretend. Dies alles,
den Krieg, diese religiöse Hekatombe, zu der das alte
Europa im Glauben an seine Zukunft und auf seine
Kindeskinder blickend, sich dargeboten hat, dies — wie
es die Humanitarier und die Freimaurer tun — einen
„Überrest von Barbarei und ein Überlebsel blutdür-
stiger Triebe" zu nennen, ist ein Urteil, das allein hin-
reichen würde, um die unheilbare Minderwertigkeit,
Enge und Stumpfheit der geistigen Form des Frei-
maurertums an den Tag zu bringen.
GEISTIGE KRAFT UND VOLKSKRAFT
{Mai igi6). — Diese Dinge führen abermals zu der
Schlußfolgerung, daß die Völker, die sich auf den
Schlachtfeldern besiegen lassen, die nämlichen sind, die
bereits auf denen des Gedankens und der Kultur unter-
121
legen sind, und daß darum die in argem Leichtsinn
handeln, die frohgemut fortfahren, veraltete Begriffe
und oberflächliche Urteile zu verbreiten, unter dem
Vorv^and, den Krieg zu fördern und die Gemüter für
ihn zu erwärmen, während sie mit ihrem verderblichen
Werk in Wahrheit zur Niederlage beitragen würden,
wenn nicht zum Glück die selbstwilligen Kräfte des
Volkes, der nicht zu beseitigende klare Menschenver-
stand und die Logik der Dinge jener abgeschmackten
Zungendrescherei Widerstand leisteten und sie eben als
hohles Geschwätz erscheinen ließen. Die besten Män-
ner Frankreichs haben nach 1870 alle geurteilt, daß
Frankreich die unglücklichen Ereignisse jenes Jahres
durch die Minderwertigkeit seiner geistigen Arbeit
vorbereitet habe. Nun befinden wir, Italiener, Fran-
zosen, Engländer, uns sicherlich nicht in der Lage des
damaligen Frankreich; anderseits besitzen wir so viel
an entwickelter und erworbener geistiger Lebhaftigkeit,
daß wir, gerade so wie wir in aller Eile unsere unge-
nügende Vorbereitung für den modernen Krieg ausgegli-
chen haben, mit derselben Raschheit wenigstens in dem,
was das Wesentlichste und Dringendste ist, der Schwäche
unserer Leitgedanken werden abhelfen können. Denn
was man in vielen Jahren nicht zu erlernen ver-
mocht hat, läßt sich bisweilen an einem Tage, durch
eine Gemütserschütterung lernen (und wo gibt es eine
größere Erschütterung, als die wir jetzt an uns erleben ?),
die uns in die Lage setzt, eine vorher verkannte oder
dunkle Wahrheit in uns aufzunehmen.
LEIDENSCHAFT UND WAHRHEIT. UN-
ZULÄNGLICHE GRÜNDE {Mai 1916). - Man
kann nicht sagen, daß meine Randbemerkungen philo-
122
sophisch-politischen Inhalts unbemerkt geblieben sind.
Sie haben vielmehr eine stattliche Anzahl privater und
öffentlicher Erwiderungen hervorgerufen, zum Teil
beleidigender Art — wie billig, berücksichtige ich
diese nicht — zum Teil mit Phantasiegründen ge-
stützt und in Gemütsbewegungen gipfelnd. Nein,
darum handelt es sich jetzt wahrlich nicht! Redne-
rische Hilfen müssen jetzt beiseite gelassen werden,
denn wir befinden uns in den Hallen der Wissenschaft,
so gut oder schlecht sie sein mögen, ich habe logische
Gründe zur Unterstützung der dargelegten Begriffe
beigebracht ; und nur Gegengründe logischer Art dür-
fen mithin herangezogen werden. Mit Phantasiegrün-
den ist bekanntlich jede Lehre bekämpft worden, die
gegen überkommene geistige Einstellungen verstieß;
von der astronomischen der Bewegung der Erde um
die Sonne an (die der Augenerfahrung widersprach)
bis zu der spekulativen der Idealität der Außenwelt
(die der Tasterfahrung entgegentrat).
Ebensowenig gelten die Zweckmäßigkeits-
gründe, wie etwa die Gefährlichkeit gewisser Lehren
in der Kriegszeit darzulegen, weil sie die Leidenschaf-
ten herabmindern, die Kraft der Kämpfer und des
ganzen Volkes, das in seiner Gesamtheit kämpft, läh-
men könnten. Ist eine Lehre wahr, so kann sie keine
andern als gute Wirkungen haben, kann sie nur jeg-
liches gute Ding achten und fördern; es ist ein eitles
Beginnen, über die Mißverständnisse, die sie bei an-
dern herbeiführen könnte, zu faseln, wie über die üblen
Wirkungen, die sie zur Folge haben würde, und die
Dummheit unserer Nebenmenschen zur Voraus-
setzung zu nehmen, weil man unter dieser Vorausset-
zung niemals wüßte, wie man sich benehmen sollte:
123
jedes Wort, ja das Schweigen selbst kann „mißver-
standen" werden.
Darum gibt es keinen andern Weg, sich von einer
Lehre freizumachen, als den, sie als logisch verfehlt
und deshalb schädlich nachzuweisen. Im vorliegenden
Fall hat dies ein der Philosophie Beflissener versucht,
indem er mir einwandte, daß geradeso wie im wissen-
schaftlichen Streit das, was den Streitenden anfeuert,
der Glaube ist, er halte die Wahrheit in Händen gegen-
über dem vom Irrtum verblendeten Gegner, dies auch
im politischen und nationalen Kampfe zutreffe, in dem
der Kämpfer sich für den Verteidiger der gerechten
gegen die ungerechte Sache hält. Dieser Einwand
könnte — wie er sicherlich formell richtig ist — gelten,
wenn politische und nationale Kämpfe wissenschaft-
lichen Streitigkeiten vergleichbar wären , oder aber
sittlichen Kämpfen, zu denen uns lediglich der Glaube
an die Wahrheit und das Bewußtsein des Rechten
drängen, und in denen uns die Pflicht zufällt, haben
wir uns im Irrtum befangen erkannt, uns der Wahr-
heit, die dargelegt ward, zu beugen und der nunmehr
erwiesenen Redlichkeit des frühern Gegners unsere
Achtung auszudrücken. Aber ich lasse nicht davon
ab, auf folgendem Punkt zu bestehen : daß es notwen-
dig sei, auf der Hut zu sein, damit der Umstand der
Verschiedenheit zwischen den einzelnen geistigen
Formen nicht außer acht gelassen werde: das heißt, in
unserem Fall, sich klare Rechenschaft davon zu geben
und niemals aus den Augen zu verlieren, daß die po-
litischen Kämpfe, von denen die Rede ist, nicht wissen-
schaftliche oder sittliche, sondern eben politische,
oder wie ich sie verallgemeinernd nenne, wirtschaft-
liche Kämpfe sind.
1 24
Nun liegt der Fall in der Tat so : in den politischen
und wirtschaftlichen Kämpfen ist zum Unterschied
von den sittlichen und wissenschaftlichen kein anderer
Glaube denkbar als der an die eigene Kraft und Fähig-
keit: ein Glaube, der anders als bei diesen letzten die
Achtung, nicht die Mißachtung von Seiten des Geg-
ners zuläßt und mit sich bringt, namentlich wenn
dieser nicht ein schmählicher Feind ist und unserer
Kraft seine eigene starke Kraft entgegensetzt. Einem
jungen Manne, der jetzt im Heere dient und mir
schrieb, könnte er jemals meiner Auffassung gemäß
denken, daß unsere Gegner ebenso im Recht wären
wie wir, so müßte er sich vom Kampfe abgehalten
fühlen, habe ich erwidert, daß er sich sicherlich über
seine Empfindung täusche und es ganz unmöglich sei,
daß er als Soldat es für schöner und tröstlicher halte,
Räubern und Verbrechern, einem Gesindel, oder Hel-
fern von Gesindel gegenüberzustehen, als Soldaten
gleich ihm selbst. Verbrecher sind, wie mir scheint,
nicht der Ehre wert, von Soldaten bekämpft zu wer-
den, dafür sind Häscher und andere Wächter der
öffentlichen Sicherheit da. Man schreit so viel über
„Barbarei" ; wie kommt es, daß man nicht bemerkt,
wie Haß, Verleumdung, Beleidigung, Hohn und Spott
fegen den Gegner im modernen Krieg echte und rechte
Jberbleibsel der Barbarei sind, die häufig genug künst-
lich hervorgerufen und zwischen Völkern, die dieselben
Götter verehren, lebendig erhalten werden?
Den Phantasie- und Zweckmäßigkeitsgründen haben
sich zuweilen solche gesellt, die ich die Ehrfurchts-
gründe nennen möchte; denn man hat mich ermahnt,
Männern gegenüber, die, wenn sie auch fälschlich ur-
teilen, doch immerhin von Leidenschaften edelsten
125
Ursprunges beseelt sind , mit meinen Ausstellungen zu-
rückzuhalten oder sie wenigstens zu mäßigen. Gewif3,
begegnet es mir, daß ich Ergüsse solcher Art von den
Lippen Ungebildeter höre, so hüte ich mich wohl,
meine Ansichten hervorzuholen und einen kalten
Strahl auf den Feuerbrand von Liebe und Haß zu
richten ; das wäre unnütze Mühe, ja in diesem Fall
vielleicht schädlich, weil vorschnell auf noch unreife
und unvorbereitete Gemüter wirkend. Maxima puero
dehetur reverentia — dem Kinde soll man Ehrfurcht
zollen ! Allein, die Männer der Forschung, die Profes-
soren, an die ich mich in dieser Rundschau wende,
sind nicht Knaben; und mag sie auch die Leiden-
schaft verwirren, so besitzen sie doch in sich selbst die
Mittel, ihren Geist zu klären. Es geht aber noch um
etwas anderes. Es sind solche darunter, denen ich nicht
glaube, daß sie so verstört sind, wie man behauptet,
und daß sie, aus Liebe zur Heimat, den Kopf verloren
haben : ich glaube vielmehr (und dessen klage ich sie
an), daß sie ihn vielmehr recht sehr auf ihren Schul-
tern behalten haben: den alten Kopf, das alte Gehirn
aus Friedenszeiten, mit der Neigung, die Wahrheit als
etwas zu behandeln, das den zufälligen Erfordernissen
anzupassen erlaubt sei. Es sind nun schon ein paar
Jahrzehnte her, daß ich in der akademischen Welt
lebe, ohne ihr anzugehören, als eine Art „Regiments-
freund" nach Scribe; ich kenne hinlänglich die Ge-
wohnheiten dieser meiner guten Freunde, die allzu leicht
geneigt sind, die Wissenschaft praktischen Rücksichten
unterzuordnen, Methoden und Lehren zu rühmen
oder zu verdammen, je nach den Einflüssen von
Machthabern, der Kund- und Freundschaft, der ge-
werbsmäßigen Zu- und Abneigungen der Volksgunst.
126
Diesen Neigungen entsprechend, meine ich, haben sie
nicht allzuviel Mühe gehabt, den Aufbau ihrer Be-
griffe und Urteile mit einem Schlage zu ändern, kaum
daß die internationale Lage sich geändert hatte und
der Krieg ausgebrochen war. Man kann also von mir
erv^arten, daß ich gegen die Schw^achheiten von heute
Nachsicht übe — und in diesen Randbemerkungen
suche ich es auch zu tun, indem ich, sov^eit als mög-
lich, keine Namen nenne und persönliche Angriffe
vermeide — aber verlangen, daß ich das aus Gründen
der Achtung tue, das ist wahrhaftig zu viel verlangt !
VOM VÖLKERRECHT {Critica XIV, Mail
Sept. igi6). — In diesen Kriegsjahren hat man öfter
vom „Tod" oder „Niederbruch" des Völkerrechts ge-
hört, zusammen mit der Verteidigung durch die An-
hänger dieses Rechts, die darzutun suchten, daß die
vorgefallenen Verletzungen keineswegs seine Geltung
aufheben, höchstens für einige Zeit sein weises und wohl-
tätiges Wirken unterbrechen, daraufgerichtet, in einer
mehr oder weniger nahen Zukunft die Abschaffung
der Kriege und die Einführung des ewigen Friedens
durchzusetzen. Beim Anhören dieser Anklagen und
Verteidigungen dachte ich bei mir, daß eines stets
lebendig und ein anderes diesmal wirklich gestorben
ist. Tot ist der trügerische Gedanke des Völkerrechts
als einer sittlichen Gesetzgebung der Menschheit;
lebendig ist aber das Völkerrecht in seiner tatsächlichen
Wirklichkeit von Richtlinien, die im gegenseitigen
Einvernehmen der Staaten sich herausgebildet haben,
und von denen einige, jetzt von allen oder von eini-
gen Staaten abgelehnt, nach dem Kriege entweder
wiederherzustellen oder abzuschaffen oder zu berich-
127
tigen sein werden. Was ist denn überhaupt das tat-
sächliche Leben jedes Rechtes? Was anderes liegt in
jedem Recht, als Aufstellung und Annahme von
Richtlinien, Auflehnung, Abschaffung, Wiederher-
stellung und Reformen, da alles, was den Kampf der
Interessen widerspiegelt, der praktischen Angemessen-
heit der einzelnen geschichtlichen Augenblicke ent-
spricht ?
Indessen bietet das Völkerrecht, das die Rechtsge-
lehrten mit Unrecht von dem übrigen Recht als „der
Bestätigung entbehrend" oder mit „unzureichender
Bestätigung versehen" scheiden, gerade dieses Grund-
wesen dar: die eigentliche Beschaffenheit jeglichen
Rechts und seine tiefste, einzige Grundlage, welche
die Stärke, das heißt die wirtschaftliche Angemessen-
heit ist, besser durchblicken zu lassen. „Das Natur-
recht der Völker (hat Vico gegen die Gelehrten seiner
Zeit eingewendet) ist ein Recht der öffentlichen Ge-
walt, die Staats vertrage werden durch die Kraft, die die
Staaten entfalten, gestützt; andere Mächte halten sich
darüber nicht auf, besonders wenn auch sie ihnen bei-
treten, vor allem jedoch, wenn sie dafür bürgen."
Allein auch Vico schied von diesem Völkerrecht,
„das zwischen den staatsbürgerlichen Gewalten gilt,
die kein gemeinsames bürgerliches Recht besitzen",
jenes bürgerliche Recht, das „unter den Bürgern im
Ansehen steht, die, als unterworfen einer gemeinsamen
höchsten Waffengewalt, nur mit den Waffen der
Vernunft kämpfen können". Nur ist diese Unter-
scheidung höchst gebrechlich, da das Leben des bür-
gerlichen und nationalen Rechtes denselben Ursprung
und denselben Verlauf hat und den nämlichen Wechsel-
fällen wie das Völkerrecht unterworfen ist ... Es scheint
128
bloß, daß um jenes mit der Vernunft gekämpft wird,
der Kampf ist aber immer einer der Macht oder des
Ansehens ; nur die Vernunft, oder genauer gesagt, die
Auslegung und Anwendung der Gesetze ist in der Tat
ebenso veränderlich wie in den Beziehungen zwischen
den Staaten, und der Umsturz der Gesetze vollzieht
sich hier mit derselben Notwendigkeit wie der in den
zwischenstaatlichen Verhältnissen ; die Bürger der herr-
schenden Klasse sind wohl geneigt, die bestehenden
Gesetze als eine unverletzliche, vernunftgemäße und
sittliche Gesetzgebung anzusehen, allein die Unzufriede-
nen und die Empörer betrachten sie nicht in derselben
Weise, da sie sich gegen den Zwang des bürgerlichen
und Strafrechtes zur Wehr setzen, genau so wie ein
Volk, das sich von einem andern in seiner Ehre ver-
letzt, vergewaltigt oder ausgebeutet erachtet, an den
Zügeln des Völkerrechts und seiner feierlichen Ver-
träge reißt. Die Bestätigung des Völkerrechts liegt
in der Macht, die gerade so wirksam andauernd wie
das nationale Recht oder ebenso unwirksam und vor-
übergehend ist, je nach dem einzelnen Falle; die Macht,
die, wohlgemerkt, nur dann Macht ist, falls sie die
andern als für sich nützlich erachten oder sich ihr als
dem kleineren Übel anfügen und anpassen.
Ist aber das Leben des Völkerrechts und jeden an-
deren Rechtes so beschaffen, wie wir es hier zu um-
schreiben gesucht haben, so sollte auch klar werden,
daß es nichts Törichteres gibt, als vom Recht die Ab-
schaffung der Kriege zu erwarten. Denn das Recht
ist in sich selbst Kampf oder Krieg, oder ein Zwischen-
spiel von Kampf und Krieg, und es vermag den Krieg
nicht abzuschaffen, ohne sich selbst abzuschaffen. Die
Richtlinien, die es aufstellt und die der allgemeinen
9 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen I 20
praktischen Einstellung des wirtschaftlichen Lebens
dienen, sind ein Erzeugnis von Kriegen oder Voraus-
setzungen für neue Kriege, sie werden durch Kriegs-
drohung oder durch den ausgekämpften Krieg aufrecht
erhalten und formen sich in ähnlicher Weise um.
Würde auch einmal das ersehnte Schiedsgericht der
Staaten verwirklicht, so liegt es wohl auf der Hand,
daß der Krieg trotzdem durch gewisse rechtliche Fik-
tionen weiterbestehen würde, vermöge der Anstren-
gungen, dieses oder jenes beschlossene oder auf Ab-
stimmung ruhende Vorgehen, eine bestimmte Zahl
von Beauftragten, durchzusetzen oder vermöge der
periodischen Reformen dieser Einrichtung unter dem
Druck drohender Kriege oder als Folge von durch-
gekämpften Kriegen. Auch wenn man aus Gründen
technischer Art dazu gelangte, den unmittelbar mör-
derischen Krieg aufzugeben, wie er mit Geschützen
und Torpedos geführt wird, so würde darum nicht jede
andere Form des Krieges citra effusionem sanguis auf-
hören: als der Krieg des Hungers, der Einkreisung, des
wirtschaftlichen Zwanges, ja selbst des Bannes!
Es gibt viele, die, obgleich sie nicht unmittelbar diese
Wahrheiten des gesunden Menschenverstandes zu leug-
nen vermögen, sich dennoch von der Wirklichkeit,
die diese vor Augen stellen, unbefriedigt zeigen, als
(wie sie sagen) ihrem Gefühl widerstrebend, abscheu-
lich, schlecht. Allein, sie müßten uns doch erklären,
worauf sich denn ihre Unzufriedenheit gründet. Auf
die anerkannte Übermacht der Sittlichkeit, Kriege und
Kämpfe« aus der Welt zu schaffen und das Recht zu
formen ? Ist aber die Sittlichkeit unvermögend, zu be-
wirken, daß Recht nicht Recht sei (sowie sie nicht be-
wirken kann, daß Kunst nicht Kunst sei), so vermag
130
sie hingegen im höchsten Grade das Gewissen und den
Willen zu formen und sittliche Erfordernisse aufzu-
stellen, die fortwährend in der Geschichte des Rechts
wirksam sind, obwohl sie notwendigerweise stets die
Form des Rechtes, der Macht, des Nutzens an-
nehmen mußten: darin liegt ja gerade der sittliche
Fortschritt der Menschheit. Oder auf die tragische Be-
stimmung des Menschen, dazu verurteilt, zu leiden
und leiden zu machen, den Tod zu geben und ihm
selbst zu erliegen? Aber da ein Leben ohne Schmerz,
ein Leben, das nicht Tod ist und nicht den Tod in sich
trägt, unfaßbar ist, so fehlt hier der Maßstab des
Glückes, an dem jenes pessimistische Urteil über das
wirkliche Leben zu messen wäre: es sei denn, daß jene
Pessimisten in ihrem Gehirn den Plan einer bessern
Welt, als die Gott zu schaffen verstanden hat, trügen,
einen Plan, den kennen zu lernen gar wunderbar wäre,
wäre es auch nuif um ihn als ein unerreichbares Schö-
nes anstaunen zu können. Zieht sich übrigens eine
logische Gegnerschaft auf das Gefühl zurück, so ist sie
reif, sich zum Roman zu wandeln: zu dem Roman
der Freifrau von Suttner, als welcher die einzige Stufe
der Kunst ist, die die Begeisterung der Humanitarier
zu erreichen vermag. Alle sonstige Kunst ist leider,
wie das Leben selbst, dialektisch und antipazifistisch,
NOCH ETWAS ÜBER DIE PHILOSOPHIE
DES KRIEGES {Mai I Sept. jpiö). - Gewisse merk-
würdige Empfehlungen locken mir ein Lächeln ab,
die einige wenig glückliche Schriftsteller über philo-
sophische Dinge aus der „Vorkriegszeit" jetzt der
Öffentlichkeit mit ihren neuen Geisteserzeugnissen vor-
zusetzen pflegen, indem sie auf diese Art zugleich die
9*
131
Aufmerksamkeit auf ihre übrigen altern, noch in den
Schränken der Buchhändler schlummernden Schriften
zu lenken suchen. Sie bemühen sich zu verkünden,
daß ihre Philosophie stets eine „Gegnerin jener un-
sinnigen Geschichtsphilosophie und der Lehre von der
Immanenz vs^ar, die in den letzten Zeiten vorherrschte
und endlich in den gegenwärtigen Krieg ausgemündet
ist". Es ist mir nicht klar, w^elches Verdienst sie sich
damit zuschreiben vv^ollen, oder w^orin die Begründung
für die Belohnung liegen soll, die sie anstreben und die
in der heiß ersehnten Ehre, gelesen zu werden, besteht.
Die Philosophie, die sie angefeindet haben, ist, so wie
sie vorher die ewige Idee des Krieges nicht geleugnet
hat, nicht über den Krieg, der sich vor uns entwickelt,
betroffen, noch schreit sie über den Verrat, den die Tat-
sachen an den Idealen verübt hätten. Ich behaup-
tete, daß die Geschichte ein Wettbewerb um Macht,
aber kein Tribunal eines Friedensrichters, und daß die
Berufung an eine abstrakte Sittlichkeit hohles Ge-
schwätz sei ; man hat es erfahren, daß alle Völker, auch
die am wenigsten kriegerischen oder die am stärksten
in gedanklichen Täuschungen befangenen, sich ent-
schließen mußten, in den Kampf um die Macht ein-
zutreten, mit den Waffen, jedes sein eigenes Haus be-
stellend, die eigene Kraft zur Geltung bringend, im
vollen Bewußtsein, daß sie von andersher keine Hilfe
zu erwarten hätten. Demgemäß ist unsere Philosophie
nach wie vor im Einklang mit den Tatsachen, die ihre
hingegen, damals wie jetzt, im Widerstreit. Eine Philo-
sophie aber, die mit den Tatsachen in Widerspruch steht,
ist mehr oder weniger eineschwache Philosophie und um
so schwächer, je größer dieser Widerspruch ist. Es scheint
mir also das Verlangen nach Anerkennung und Be-
132
lohnung von Seiten der Vertreter dieser schwächlichen
Philosophie in keiner Weise erfüllbar.
Wie billig, habe ich das Wort „Philosophie" in
seinem eigentlichen und strengen Sinn genommen, als
Gedankensystem, als Erklärung der Wirklichkeit. Ich
weiß aber recht wohl (und habe öfters davon gehan-
delt), daß andere alles das „Philosophie" nennen, was
per accidens sich den eigentlich philosophischen Fragen
zugesellen oder doch mit ihnen vermengen kann : etwa
diese oder jene individuelle oder kollektive Gefühlsäuße-
rung, diese oder jene Handlungeines Menschen oder eines
Volkes, die mitunter dieses Einzelwesen selbst, oder
jenes Volk, wohl auch ein anderer, der über sie urteilt, als
logische Ableitung der vorgeblichen Philosophie zu
verkünden pflegt. Aber sollte es noch nötig sein, die
Widerlegung dieses überaus verbreiteten Irrtums zu
wiederholen, der das werktätige Handeln als eine
logische Schlußfolgerung ansieht, und ihm damit Selbst-
willigkeit, Freiheit, Verantwortlichkeit und Eigenart
nimmt? Muß eine Philosophie vom Wirklichen in
seiner Gesamtheit Rechenschaft ablegen, von Gut
und Böse, von Wildheit und Sanftmut, von dem so-
genannten Krieg wie vom sogenannten Frieden, wie
kann man nur glauben, daß sie den Willen zu dem
oder jenem besondern Tun bestimmt, zu der oder jener
Form von Handlungen, zu Wildheit oder Sanftmut,
zu Frieden oder Krieg, zum Guten oder Bösen.? Und
scheint sie in einigen Fällen dergleichen Bestimmungen
oder Antriebe zu enthalten, sollte es nicht augenschein-
lich sein, daß man dann in diesen eine ungeläuterte,
nicht genügend verfeinerte und strenge Philosophie
vor sich hat, nicht wirklich und vollständig philo-
sophisch, sondern von praktischen Bestandteilen durch-
133
setzt, denen, nicht ihr selbst, Tadel und Lob der gewähl-
ten besonderen Bestimmung zugehört?
Daraus folgt, daß die praktischen Einflüsse dar-
legen, wie sie dieser oder jener Philosoph bietet,
nicht den Philosophen beurteilen heißt, sondern den
Menschen, der hinter dem Philosophen steckt; es
heißt das die Empfindung des Menschen beurteilen,
nicht aber seine Philosophie, die vielmehr durch diese
Kritik selbst geläutert wird und größere logische Stärke
gewinnt.
Trotzdem pflegen die Philosophen sehr häufig (auch
von eleganten Geistern, wie Heinrich Heine) als
Schöpfer, Förderer oder Rechtfertiger der Taten eines
Volkes aufgeführt zu werden; es geschieht das aus
naheliegenden Gründen, von denen einer schon erwähnt
wurde und der in dem persönlichen werktätigen Ver-
halten liegt, das ein Philosoph dem Leben seiner Zeit
gegenüber einnimmt. Ein anderer liegt in der Tatsache,
daß die Philosophen die praktischen und politischen
Aufgaben ihrer Zeit zum Stoff, das heißt zur Triebfeder
ihres Denkens machen ; so daß es darum scheint (und der
vorbildliche Fall dafür ist Machiavelli), daß sie die Wirk-
lichkeit inTat umgesetzt haben, die sie freilich geschaffen
oder neugeschaffen haben, allein in der Form des Ge-
dankens, als Theorie. Ein dritter Grund ergibt sich end-
lich aus der Verbindung der Größe der Philosophen mit
der eines bestimmten Volkes oder eines bestimmten ge-
schichtlichen Augenblicks, derart daß sie als Sinnbilder
dieses Volkes oder dieses Augenblicks dienen : so kann
Cartesius als der Philosoph Frankreichs unter Ludwig
XIV. erscheinen, Kant (oder Hegel) als jener der begin-
nenden Machtstellung Deutschlands im modernen Le-
ben; die gleiche Rolle hätten Bruno und Vico gespielt,
^34
wären sie nicht gerade in den Zeiten politischen Verfalls
und Stillstandes des italienischen Volkes aufgetreten.
Weshalb gebe ich mir die Mühe, noch einmal auf
diese alltäglichen Unterscheidungen zurückzukommen?
Vor allem, um die Freiheit der Philosophie in Schutz
zu nehmen, die schwer bloßgestellt wäre, wollte man
sie mit der Politik der Philosophen und der verschie-
denen Völker, denen sie angehören, vermengen, sie mit
dieser zusammen richten und bekämpfen : ebenso aber
auch, um die Freiheit zu verteidigen, die jedem Men-
schen, sei er nun Philosoph oder nicht, zukommt, von
Fall zu Fall sein praktisches Verhalten , wie es ihm gut
scheint, zu bestimmen, ohne Furcht, seine Philosophie
durch seine möglichen politischen Torheiten bloßzu-
stellen und ohne die Hoffnung, sie aus seinen allfälligen
Voraussagen Nutzen ziehen zu lassen.
KLASSIK UND ROMANTIK (Mai I Sept. 1916).-
Sogar in der literarischen Kritik beginnen sich die
„Torheiten der Kriegszeit" geltend zu machen, da
von neuem der Gegensatz zwischen Klassischem und
Romantischem, zwischen lateinischer und germanischer
Kunst hervorgeholt wird, den wir bereits für immer
los zu sein glaubten. Das Seltsame daran ist, daß dieser
Gegensatz durch Leute wieder hergestellt wird, die das
Schlagen ihres Herzens für die „Internationalität" und
„Humanität" nicht stark genug hervorzukehren wissen ;
von einem im politischen Felde unmöglichen Inter-
nationalismus und Humanitarismus träumend, erheben
sie gleichzeitig die frevelnde und entweihende Hand
gegen die wirklich bestehende Internationalität und
Menschlichkeit: jene von Wissenschaft undKunst.Aber
das geht sie allein an: sie haben Papier vergeudet und be-
135
schmiert, und die Sache wird ihnen nicht zur Ehre aus-
schlagen. Für unseren Teil halten wir an dem von der
ästhetischen Wissenschaft, nach langen Versuchen, be-
stätigten Grundsatz fest: daß die wahre Kunst weder
romantisch noch klassisch ist, das heißt romantisch
und klassisch zugleich, das erste, weil aus Gefühlsleben
quellend, das zweite, weil sie dieses Leben zur Kunst-
form verklärt; daß Romantik und Klassik mithin
zwei einander entgegengesetzte Fehler darstellen, die
abwechselnd als Heilmittel der einen für die andere
angestrebt werden : so daß, wenn das Klassische zum
Klassizismus erstarrt, es vom Romantischen be-
richtigt wird, das als ein revolutionäres und fortschritt-
liches Wesen emporkommt; verliert sich das Roman-
tische im Wirrwarr entfesselter Leidenschaft, so wird
es vom Klassischen gebändigt, das ihm in Erinnerung
bringt, daß Kunst Klarheit oder Vollkommenheit des
Ausdrucks ist. Klassische und romantische Augen-
blicke gibt es demnach nicht nur bei jedem Volk und
zu jeder Zeit, sondern in jedem Künstler, der nur dann
wahrer Künstler ist, wenn er den Gegensatz überwindet,
derart, daß er weder als Klassizist noch als Romantiker
mehr aufgefaßt werden kann. Das Klassische in den
lateinischen, das Romantische in den germanischen
Völkern verkörpern zu wollen, kann mitunter zu ge-
wissen erfahrungsmäßigen Scheidungen nützen, zeigt
sich aber sofort als grobschlächtig und ungeeignet,
wenn man sich auf die Einzelheiten einläßt. Ich habe
das schon vor zehn Jahren klargestellt, als ich von
der Gegenüberstellung ^^Germanischer und lateinischer
Dichtung^'- handelte (vgl. Probleme der Ästhetik^
S. 158—64); dort habe ich auch auf die Trugschlüsse
und Wortspielereien hingewiesen, zu denen man griff,
136
um diese wenig begründete Unterscheidung in den
Einzelfällen festzuhalten. Die neuesten Untersuchungen
könnten reichlich die bereits angeführten Beispiele
ergänzen ; hat man doch in diesen Tagen gesehen, wie
dem deutschen Volk seine größten Künstler, so Goethe
und Beethoven abgesprochen wurden, als angeblich
„universelle, nicht deutsche Genies" und ihm dafür alle
unsere Künstler anfechtbarster Art zugeteilt wurden,
als „deutsch dem Geiste, wenn nicht der Geburt nach" !
Allein die neuen Anhänger des Klassizismus und
Feinde der Romantik gehen weit über die künstlerische
Gegnerschaft hinaus, die bloß eine Seite ihrer Polemik
darstellt und haben nicht mehr und nicht weniger im
Sinne, als das sittliche, gesellschaftliche und politische
Leben von der romantischen Seuche zu heilen, die von
den Deutschen aus über Europa gekommen sein soll.
Darin äffen diese Italienschwärmer allerdings gewöhn-
lich französische Muster nach und bilden sich vermut-
lich ein, daß sie allein gelesen hätten, was wir alle
kennen : die Bücher von Maurras, Lasserre, Valois, die
Revue critique des ide'es und andere durchaus nicht sel-
tene Werke. Hätten sie aber auch die italienischen
Bücher aus der ersten Hälfte des neunzehnten Jahr-
hundertsgelesen, die von Rosmini undGioberti, auch die
von Botta und Niccolini, so hätten sie erfahren, wie alt
die Antriebe zu dergleichen Polemiken sind, und sie
hätten lange vor Lasserre, Maurras und andern Fran-
zosen von diesen alten Italienern die Anklagen gegen
die Romantik, gegen den Sensualismus, Panthe-
ismus und ähnliches hören können; ja sie können sie
sogar in der ^^Zuwage^^ (Giunta alla derratd) gesammelt
finden, die Carducci und seine der Romantik abgeneig-
ten Freunde 1856 herausgaben, und die jetzt, zur guten
Stunde, wiederabgedruckt worden ist. Diese Zusammen-
stellung soll nicht bloß einen zeitlichen Vorrang fest-
legen, sondern vor allem die wahre Beschaffenheit jener
Anklagen erkennen lassen; denn so wie sie vorlängst
in Italien von katholischen oder sonstwie rückschritt-
lich gesinnten Schriftstellern herrührten, so jetzt in
Frankreich von reaktionären Schriftstellern, die sich
zwar nicht als Katholiken zu geben wagen, aber es
doch gerne täten, und vorderhand einem politischen
Katholizismus das Wort reden. Nehmen wir das Buch
von Lasserre, gewiß eine scharfsinnige und wirksame
Schrift, reich an verständigen Beobachtungen, die aber
jedem, der durch die Oberfläche zu sehen versteht, so-
fort zwei Irrtümer aufdeckt, die letzten Endes auf
einen einzigen hinauslaufen: die Voraussetzung der
Jenseitigkeit, demgemäß das wahre menschliche Leben
im Himmel der Ideen sein ewiges Vorbild besäße;
dann den Mangel an geschichtlichem Sinn, demgemäß
das sittliche Romantikertum als eine Verirrung oder
Entartung angesehen wird, aus der heraus die Rettung
möglich sei durch die Rückkehr zu irgend einer un-
bestimmten Ethik „Altfrankreichs". Alles eher denn
geneigt oder wohlwollend dem sittlichen Romantiker-
tum gegenüber (derart, daß mir seit Jahren fortwährend
der Vorwurf des Intellektualismus, der Gefühlskälte,
des Autoritätswesens und so fort gemacht wird), ver-
mag ich mich doch nicht der Tatsache zu verschließen,
daß die Romantik, die das ganze neunzehnte Jahr-
hundert im Banne gehalten hat und noch immer die
Gemüter bewegt, eine große Zeit des menschlichen
Geistes gewesen ist, die ihren entfernten Usprung im
Christentum, wenn nicht noch weiter zurück hat und
vielleicht erst jetzt an ihren endgültigen Abschluß
'38
gelangt ist, da sich da und dort die Umrisse neuer
geistiger Bildungen zeigen, die dem sittlichen Leben
neue Gestalt geben werden, jedoch über die Romantik
hinaus und sich ihrer bedienend, niemals aber in ihrem
Bannkreis und im vergeblichen Streben Geschehenes
ungeschehen zu machen. Daß diese Gestalt in allzu
vereinfachender Weise durch die Rückkehr zur Sittlich-
keit „Altfrankreichs" erw^eckt werden könnte, zum
Königtum, dem Blutsadel, der Geistlichkeit als politi-
scher Macht, zur Akademie und zu Boileau, das ist
Literateneinbildung ; daß sie nach dem Kriege mit einem
Es werde in die Erscheinung treten könne, dank dem
festen Entschluß, jeder Berührung mit dem krankhaften
Deutschtum auszuweichen, ist Geschwätz von Feder-
helden, die ihren Aufsatz zusammenflicken müssen
und die Umgestaltung der Welt für ebenso leicht und
jeder gedanklichen Anstrengung ledig halten als den
Artikel, den sie gerade hinsudeln. Die Arbeit ist hart
genug, tatsächlich über die zerrissene romantische
Gemütsverfassung, über Fausts zwei Seelen hinaus-
zukommen, sie ist hart, langdauernd und vielfältig, und
alle Menschen aller Teile Europas sind an ihr seit einem
Jahrhundert beteiligt, durch Leiden und Irrtümer hin-
durch, mit den Bekenntnissen in Dichtung und Roman,
mit den Forschungen der Philosophie, mit der sittlichen
Erziehung, der wirtschaftlichen Zucht, den gesellschaft-
lichen Reformen ; wer den wohltätigen Trieb zu diesem
Ziele hin empfindet, darf nicht anders als irgendwie
an dieser Arbeit teilnehmen, um sich als „ernstzu-
nehmender" Mensch zu bewähren. Aber es ist nicht
Sache ernsthafter Leute, vorzugeben, das Übel des sitt-
lichen Romantikertums sei ausschließlich in dem Volke,
gegen das man gegenwärtig Krieg führt, zu finden, —
139
bei jenem Volke, das länger in ihm gelebt hat, aber kraft-
voller und glücklicher als jedes andere sich seiner zu
entledigen gesucht hat, — und sich die Befreiung von
der Romantik etwa wie einen kleinen Artikel, der in den
künftigen Friedens- oder Siegesvertrag aufgenommen
würde, vorzustellen. Dazu bedarf es wahrlich ganz an-
derer Dinge!
DIE NEUE AUFFASSUNG VOM LEBEN
{Mail Sept. igi6). — Wäre es mir jemals möglich zu
denken, das, was man die „lateinische" Auffassung von
politischem und geschichtlichem Leben nennt, das heißt
das Ideal von internationaler Gerechtigkeit, Brüder-
lichkeit und Frieden, sei, ich sage nicht überlegen,
so doch mindestens ebenbürtig dem, was man „ger-
manisch" nennt, das ist dem Ideal des Lebens als eines
fortwährenden Kampfes, das in diesem meist mit seiner
Begründung auch seine Beruhigung findet; gelänge es
jemandem, mir dies zu beweisen, so hörte ich auf zu
schreiben, wie ich es tue und hielte es von da ab für meine
Pflicht, mich den vielen andern zur Verteidigung des
lateinischen Ideals zuzugesellen, das theoretisch dem
germanischen gleichwertig wäre, dennoch aber für uns
praktisch höher stehend, gerade weil es unser ist. Leider
verhält es sich aber nicht also; denn diese beiden sind
durchaus nicht der Ausdruck zweier verschiedener
Rassen, wie die Nichtswisser sich einbilden, die so von
Nationaldünkel oder von metaphorischen, aus beson-
deren Fällen abgeleiteten Stammesbezeichnungen sich
täuschen lassen, sondern sie sind zwei Formen, Stufen
oder Abschnitte des Gemüts- undGeisteslebens, wie wir
alle wissen, die wir nach langen Arbeitsjahren dazu ge-
langt sind, uns in Probleme der Geschichte zu vertiefen.
140
Zwei Abschnitte: der erste davon (das sogenannte
lateinische Ideal) ist noch der theologische Zeitraum
mit dem Ziel des himmlischen Paradieses, wie bei den
Katholiken, oder des Paradieses auf Erden, wie bei den
Jakobinern und Demokraten jeder Färbung, er wird in
der Zeitrechnung dort als Mittelalter, hier als acht-
zehntes Jahrhundert bezeichnet. Der andere hingegen
(das sog. germanische Ideal) ist der wahrhaft mensch-
liche Zeitraum, in dem das Paradies sowohl im Him-
mel als auf Erden geleugnet wird, und die wahre
Gottes- oder Vernunftstadt sich als die Geschichte selber
darstellt. Dem ersten dient noch die Scholastik, die
Vorstellung vom Naturrecht und der Intellektualismus,
überhaupt die Philosophie, die sich im extremen Karte-
sianismus und in der Ency klopädie erschöpft,dem zweiten
die Dialektik, die historische Richtung, der Idealismus,
die Philosophie, die in Deutschland durch Kant, in
Italien durch Rosmini und Gioberti eingeleitet wurde;
beherrscht nun der Gedanke die Welt (wie alle sagen,
aber nicht immer mit der Tat bekräftigen), ist es dann
nicht klar, daß die Form geistigen Lebens, die von
einem überlegenen Gedanken geleitet wird, auch in
ihrer Gesamtheit der überlegen ist, die sich nach einem
tieferstehenden Gedanken richtet? Diese Überlegenheit
wird durch die Auflehnung bezeugt, die sich schon seit
Jahren in den lateinischen Ländern gegen die demo-
kratische Ideologie bemerkbar machte, und ihren Na-
men bald von den verschiedenen Nationalismen, bald
sogar vom Sozialismus und Syndikalismus entlehnte;
wenn aber diese Versuche auch in ihrer Eigenschaft
als Anzeichen sehr bemerkenswert sind, wohl auch
noch als etwas mehr, nämlich als satirisch-leidenschaft-
liche Verneinungen jener Ideologie, so zeigen sie doch
141
deren Schwäche, die einen mit ihrer Hinneigung zu
mehr oder weniger literarischen Sehnsüchten nach
unmögHchen Rückschritten und Restaurationen, die
andern mit ihrem Anschluß an den Klassenkampf, das
heißt an eine einseitige und enge Auffassung der Ge-
schichte, als welche die verschiedenartigsten und gröb-
sten Angelegenheiten ausschließlich des Proletariertums
behandelt. Aber es ist nicht nötig, sich in die Über-
treibungen der Nationalisten wie Syndikalisten zu ver-
lieren, um zu erkennen, daß die Linie der Geschichte
zur Idee des Lebens als Selbstzweck und ewiger Tat,
durch die der Mensch und die menschliche Gesell-
schaft sich ewig erneuen, hinleitet. Ist das richtig, und
bisher hat noch niemand beweisen können, daß es nicht
richtig sei (die Gefühlsgründe, die Schimpfreden und
ähnliche Albernheiten zählen dabei nicht mit), so
würden wir, die wir diese Wahrheit gehegt haben und
denen in unmittelbarerer Weise das Amt, diese zu be-
hüten, zukommt, unseren Überzeugungen untreu wer-
den und eine schmähliche Handlung begehen, wenn
wir das sogenannte — übel sogenannte — lateinische
Ideal gegen das ebenso übel benannte germanische ins
Treffen führen wollten. Freilich meinen etliche, daß
zum Nutzen des Krieges und des Vaterlandes aujch
das Opfer unserer wissenschaftlichen Überzeugungen
erforderlich sei; allein, die so sprechen, denken nicht
über diese ihre Worte nach. Täten sie es, so müßten
sie sogleich einsehen, daß sie, setzen sie ihr Vaterland
in Widerspruch mit der Wahrheit, damit die Verur-
teilung ihres Vaterlandes aussprechen, das im un-
gleichen Kampf mit der Wahrheit notwendig unter-
liegen muß. Dem eigenen Volk, das in größerem oder
geringerem Maße in trügerische oder wirre Gedanken
142
verstrickt ist, leistet man nur dann einen Dienst, wenn
man die falschen Meinungen richtig stellt und die ver-
worrenen aufhellt, in dem ruhigen Bewußtsein, daß
nichts von dem, was wohltätigen Einfluß gehabt hat,
verloren geht, vielmehr seine Wirksamkeit wächst und
an Kraft gewinnt. Denn wer vermöchte im Ernst zu
glauben, daß unser Land jetzt für etwas anderes kämpft
als für sein Heil und seine Volkskraft, bewußt, damit
sein würdig Teil an der Geschichte zu nehmen, ent-
schlossen, sich um keinen Preis in die Reihe der un-
tätigen und der Völker zweiten Ranges verweisen zu
lassen ? Die Reden in den Versammlungen, Umzügen,
Festmählern mögen verschiedenen Klang haben ; allein
jeder hört aus ihren Klängen die tatsächlichen Emp-
findungen heraus, empfindet hinter den Bildern die Tat-
sachen, die sich unter ihnen verbergen oder in sie
hineingelegt werden müssen. Wehe, wenn er nicht
also täte! und wehe, wenn er die herkömmlichen
Redensarten als etwas Wirkliches nimmt, und die Hand-
lungsweise, die er seinem Lande empfiehlt, logisch
daraus ableitet, das heißt in Albernheit und Verderben
zu stürzen sucht. Gerade weil unter den Intellektuellen
und Politisierenden diejenigen allzu zahlreich sind, die
sich dieser üblen Ratschläge schuldig machen, ist es
notwendig, daß sich gegen sie andere erheben, die
diesen Verrat an der Wahrheit, der zugleich auch Ver-
rat am Vaterlande ist, verhindern. Mein Glaube an
die Vorzüglichkeit des historischen Ideals (man
lasse es mich mit seinem wahren Narrien und nicht
unter seinem ethnischen Gleichniswort nennen), an das
geschichtliche und kämpfende Ideal des Lebens ist so
groß, daß ich überzeugt bin, daß in diesem Kriege die
lateinischen Völker und das verbündete und demo-
H3
kratisierte England, statt ihr demokratisches oder para-
diesisches Ideal zu stärken, es vielmehr allmählich zu
zerstören im Begriffe sind, um sich selbst zu stärken,
und daß sie sich, nach Schluß des Krieges, in einer gar
sehr veränderten Geistesverfassung befinden w^erden,
viel w^eniger demokratisch und phantastisch, als sie v^aren
und zu verbleiben glauben, viel „militaristischer", das
heißt kriegerischer, als sie es seit langer Zeit v^aren.
Ich habe außerdem noch einen andern Grund, der mir
verbietet, das geschichtliche Lebensideal mit Deutsch-
land gleichzusetzen, das es in den letzten Zeiten ohne
Zw^eifel besser als andere Völker verkörpert hat ; denn,
vsräre diese Gleichsetzung richtig, müßte ich schließen,
daß Deutschland, w^ie immer der Krieg auch ausgehe,
sein Ideal zur Anerkennung gebracht und seine geistige
Führerschaft geltend gemacht habe. Allein mein
Glaube und meine Hoffnung gehen dahin, daß v^ir
alle, Italiener, Franzosen und Engländer, aus unserm
eigenen Innern, aus dem Grunde unserer Menschlich-
keit, jene Kräfte hervorbringen v^erden, die w^ir haben
unterdrücken, herabsetzen und schv^ächen lassen, und
daß wir eine gesündere europäische Gesellschaft w^er-
den aufrichten helfen, in der kein Vorv^and und keine
Versuchung mehr gegeben sein wird, das geschicht-
liche und kämpfende Lebensideal „deutsch" zu nen-
nen, weil es, europäisch geworden, zu gleicher Zeit von
dem geläutert sein wird, was es zufällig an besonderem,
stofflichem und grobschlächtigem Deutschtum enthal-
ten hat. Was haben wir (so viele oder wenige wir gewesen
sind oder noch sind) auf dem Felde der Forschung
getan? Haben wir vielleicht denen Gehör geschenkt,
die uns schon im Verlaufe unserer völkischen Wieder-
erhebung aufgefordert haben, uns an die ehrwürdige
144
„italische" Weisheit, an Pythagoras, an Zenon von Elea,
an Thomas von Aquino oder Marsilio Ficino zu halten,
und die Ohren vor den Lockungen der teutonischen
Sphinx zu verschließen? Nein, wir haben vielmehr die
Ohren recht weit aufgetan vor jenen neuen, seltsamen
Stimmen; und ohne sie nachzuäffen, haben wir uns
ihrer Unterweisung bedient, um eine neue Philosophie
hervorzubringen, die nicht die des vergangenen alten und
ältesten Italiens ist, aber auch nicht die Deutschlands
im neunzehnten Jahrhundert. So wird es, so muß es
auch im politischen Leben in England, Frankreich,
Italien geschehen; unsere nationale Eigenliebe würde
vortrefflich für sich selbst sorgen, wenn sie uns den
Vorrang oder vielmehr den Vortritt in der selbstän-
digen Tätigkeit zu sichern suchte, und wenn sie uns
Italiener, schlecht und recht ausgedrückt, dazu führte,
daß wir ein gutes Beispiel einer modernen Einstel-
lung und Haltung des Denkens und WoUens gäben.
NOCH EIN WEITERES {September 1916).^) -
Ich will eine Artikelfolge Crispoltis erwähnen, damit
man nicht sagen kann, ich schweige über die gegen mich
gerichteten Kritiken, während ich in Wahrheit von jenen
(und es ist die Mehrzahl) schweige, die nicht Kritiken,
sondern Torheiten und Beleidigungen sind und mich zu
Entgegnungen verleiten müßten, die im gegenwärtigen
Zeitpunkt mehr als jemals erbärmlich und zu vermeiden
sind. Crispolti freilich begründet seine Kritik sehr gut:
nur hängt der Faden seiner Darlegungen an der christ-
lichen und katholischen Auffassung, die sicherlich, wenn
man sie sich zu eigen macht, die von mir vertretene
^) Anläßlich einer Folge von Artikeln, die Crispolti im Momento dt Torino
(9. August fF.) veröffentlicht hatte.
10 Croce, Randbemerkiingen eines Philosophen 14.^
Lehre nicht verträgt; lehnt man sie jedoch ab, so bleibt
der von Crispolti angesponnene Faden in der Luft. Es
ist unbestreitbar, daß die einzige Auffassung, von der
aus man das Leben als einen Kampf um die Macht
leugnen kann, die jenseitige christliche ist, die die
Menschen auffordert, in Frieden und Brüderlichkeit
miteinander zu leben und mit so wenig Sünden als
möglich diesen Weg der Pilgerschaft zurückzulegen,
der die Welt heißt; ich bin sogar gerade w^eil ich die
Erhabenheit einer solchen Auffassung verstehe und
fühle, so unerbittlich gegen die andere humanitär-
freimaurerische, die nicht ihre Gegnerin, v^ie sie sich
einbildet, sondern ihr Zerrbild ist, da sie Frieden, Ge-
rechtigkeit und allgemeine Verbrüderung der Welt
predigt, — aber der Predigt ihre Stütze nimmt, die eben
in der Voraussetzung eines Jenseits liegt. Die wahre
und eigentliche Gegnerin der christlichen Auffassung
ist aber die von der Wirklichkeit als einer Entwicklung
und eines Kampfes, der nicht, wie manche glauben,
eine Ausnahme von der Moral zugunsten der Politik
fordert, sondern im Gegenteil dem Einzelwesen die
strengste sittliche Pflicht auferlegt, die Politik un-
abhängig von der Sittenlehre zu behandeln (so wie
es strengste sittlicheP flicht des Künstlers oder Forschers
ist, auf die ästhetische oder logische Vollkommenheit
seines Werks bedacht zu sein, ohne sich von nicht zur
Sache gehörigen sittlichen Wallungen abziehen zu
lassen). Mit andern Worten, das Einzelwesen ist berufen,
an dem leidensvollen Geheimnis des Werdens der
Wirklichkeit teilzunehmen, darum auch an dem ewigen
Kampf, der von der alltäglichen Reibung bis zum be-
waffneten Widerstand oder dem Krieg reicht; es kann
sich nicht anmaßen, die Gesetze — die göttlichen Ge-
146
setze - der Welt zu ändern, sondern muß allein die
Sache des Volkes, von dem es einen Teil ausmacht,
verfechten und den Posten, der ihm von seinen be-
sonderen Bedingungen her angevvriesen vvrorden ist, bis
zum Äußersten behaupten: im Vertrauen darauf, daß
aus seinem ehrlich und streng erfüllten Wirken das
größtmögliche Gute sprießen wird. — Aber diese Auf-
fassung ist religiöser Art! w^ird man sagen. — Wies euch
gefällt^ — aber sie gehört dann zu jener Religion, die
zugleich Philosophie ist.
VON ITALIENS GESCHICHTE {Critica XIV,
Juli igi6). — Ich stehe nicht an zu sagen, entgegen den
herkömmlichen Vorurteilen und Redensarten der land-
läufigen Geschichtsschreibung, und v^eiche damit gleich-
wohl nicht von dem tiefen Allgemeinbewußtsein ab,
daß die italienische Geschichte keine alte und jahr-
hundertlange, sondern eine neue, keine geräuschvolle,
sondern eine bescheidene, keine glänzende, sondern
eine von Mühsal erfüllte ist.
Neu: das heißt es muß aus ihr nicht nur — wie es
die Geschichtsschreiber des romantischen Zeitraums
versuchten — die Geschichte Altroms ausgeschieden
werden, sondern auch die mittelalterliche der Stadt-
gemeinden — die jene Geschichtsschreiber hingegen
in enge Verbindung mit ihr brachten, — ferner selbst die
Renaissance, deren wir uns erst später zu rühmen be-
gonnen haben. Diese drei oder zwei (wenn man die
Geschichte der Stadtwesen und der Renaissance als
eine einzige betrachtet) großen Geschichten sind längst
vollkommen überwunden und, ist der Ausdruck erlaubt,
verdaut, und obwohl sie für immer der allgemeinen
Geschichte der Menschheit angehören, so gehören sie
io» 1 47
doch nicht mehr unserer eigenen wirklichen und be-
sondern Gegenwart. Ist das ein Paradoxon? Nicht im
geringsten ; das ergibt sich aus den Worten der Erzähler
und Verherrlicher jener Geschichten selbst, in denen
Italien nach ihrem Ausspruch Europa die antike Ge-
sittung und antikes Recht, die neue bürgerliche Ge-
sittung im Handel und Gewerbe, die moderne im Sinne
des Laientums gehaltene Auffassung von Mensch und
Staat „geschenkt" hat. Nun, was man „geschenkt"
hat, kann man nicht wieder zurücknehmen, und es ist
nicht mehr unser, sondern höchstens ebenso unser wie
derer, die wir zu Teilhabern eines längst allgemein ge-
wordenen Gutes berufen haben. Will man noch einen
andern Beleg? Was hat Italien getan, nachdem es seine
Renaissancegesittung über ganz Europa verbreitet hatte ?
Es verfiel, sagen die Geschichtsschreiber, das heißt, es
bewahrte nicht allein nicht jenen Vorrang, sondern es
erwies sich andern Völkern als unterlegen und geriet
nacheinander unter die Vorherrschaft der übrigen
Nationen. Und was tat es nach dem Verfall? Es er-
hob sich von neuem, antwortet die landläufige Ge-
schichtsschreibung. Was heißt aber dieses Wiederer-
heben, wenn nicht ein Aufstreben zu neuen Zielen,
der Beginn einer neuen Geschichte? Diese hat ihre Vor-
boten im achtzehnten Jahrhundert, verstärkt sich durch
den Wendepunkt der französischen Revolution, ge-
winnt im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts Gestalt
und bewegt sich immer in aufsteigender Linie. Es
handelt sich also längstens um die Geschichte von
anderthalb Jahrhunderten: eine neue Geschichte, und
wie ist es möglich, in dem italienischen Angesicht von
heute die vorherrschenden Züge des Römertums, des
mittelalterlichen Bürgertums oder des Renaissance-
148
menschen zu erkennen? Dafür sind höchst ausgeprägt
die der Gesittung des achtzehnten Jahrhunderts und
der französischen Revolution, obwohl gemildert durch
die geschichtlichen Erfahrungen der Folgezeit und die
Einwirkung des heutigen Weltlebens : daher des weitern
die in unserm Lande merkbaren Gegensätze zwischen
humanitären und patriotischen Zielen, zwischen gleich-
machenden und gliedernden, individualistischen und
staatlichen, unter Überwiegen der erstem.
Ich habe die italienische Geschichte nicht bloß neu,
sondern auch bescheiden genannt. In der Tat, was
ist bis jetzt ihr Inhalt gewesen.? Sich auf die Stufe der
vorgeschritteneren Länder Europas zu erheben, am
europäischen Leben nicht nur im leidenden Sinn (in dem
Italien, wie es unausweichlich war, auch in den Zeiten
seines Verfalls teilgenommen hat) zu beteiligen, sondern
auch im tätigen und handelnden. Einst Lehrmeister der
Gesittung in der Renaissance, fand sich Italien seinen
Schülern gegenüber im Zustand der Unterordnung, und
dieses Bewußtsein der Unterlegenheit, das sein acht-
zehntes Jahrhundert hatte, war ein Ansporn zu den Be-
mühungen, sich wieder zu erheben und auf gleichen
Fuß mit den andern zu stellen. Daher die Reformen,
die Unabhängigkeit von der Fremdherrschaft, die Auf-
lösung des politischen Bandes mit der katholischen
Kirche, das heißt die bürgerliche Unabhängigkeit, die
Einigung, das heißt die Entwicklung zu einer ansehn-
lichen und gefestigten staatlichen Individualität, die ge-
sellschaftliche und wirtschaftliche Umbildung, die
Förderung von Gewerbfleiß und Handel, die Erneuerung
der Kultur und so fort. Ein sehr ansehnlicher Inhalt,
aber trotzdem bescheiden; und an Bedeutung der Ge-
schichte jener Völker, die unterdessen der Welt neuen
149
Anstoß gaben, nicht vergleichbar; unvergleichbar auch
der Geschichte Italiens in den drei großen, früher er-
wähnten Zeiträumen. Wer sich davon überzeugen will,
braucht sich nur die Geschichte Europas im acht-
zehnten und neunzehnten Jahrhundert zu vergegenwär-
tigen; er wird finden, daß Italien an ihr nur insoweit
Anteil hat, als, bin ich versucht zu sagen, „es Anteil
haben wollte." Gewiß, es hat in diesem Zeitraum den
Wissenschaften und Künsten hervorragende Männer
geschenkt, ansehnliche Beiträge zur Weltarbeit geleistet;
allein die wirklich neuen Strömungen sind nicht von
ihm ausgegangen, es hat vielmehr nur an jenen Bewe-
gungen Anteil genommen, die schon vorher anderwärts
zutage getreten waren.
Endlich eine mühselige Geschichte, gerade deshalb,
weil sie nicht aus der reifen Kraft eines Volkes hervor-
bricht, sondern einem Heilungsvorgang vergleichbar
ist, in dem sich die Kräfte langsam wiederherstellen,
unter Rückfällen, Schwächezuständen und vielfachen
Spuren der überstandenen Übel, desgleichen unter
neuen Schäden, die aus der Anstrengung, die eigenen
Kräfte anzuspannen, hervorgehen. Die sicherlich über-
mäßige Neigung der Italiener zur Literatur ist nicht
ohne Grund; denn es ist Tatsache, daß sie dieser den
Beginn ihrer Wiedererhebung verdanken : eine Wieder-
erhebung, die vom Gehirn ausgegangen, sich den
Gliedern mitgeteilt hat, nicht wie in andern Fällen, auf
dem umgekehrten Wege. Aber dieser Ursprung aus
dem Gehirn hat notwendigerweise auch Ungleich-
heiten mit sich gebracht, zwischen Träumen und
Wirklichkeiten, zwischen Vorsätzen und Taten, und
angesichts der Größe der Erwartungen, geringfügige
Ergebnisse. Es ist nicht nötig, glaube ich, dieses Urteil
durch das schwermütige Verzeichnis der Unter-
nehmungen zu bekräftigen, zu denen Italien sich an-
geschickt und an denen es gescheitert ist oder kärgUche
Früchte geerntet hat; oder mit der Aufzählung des
ungeheuerlichen Aufwandes, den uns jeder unserer
Fortschritte gekostet hat. Spricht man, wie alle tun,
von dem Glück, das uns zur Seite stand, so ist das ohne
Zweifel oberflächlich, wenn man dabei vergißt, daß
man, um der Hilfe des Glücks teilhaft zu werden, auch
in Bereitschaft gewesen sein muß, sich seiner zu be-
mächtigen. Allein man spricht die Wahrheit, wenn man
mit diesem Bilde einfach die Mühseligkeit der italie-
nischen Geschichte herausstellen will, die sich ihr
Strombett nicht durch kraftvollen Ansturm der Ge-
wässer geschaffen, sondern da und dort den Pfad ge-
sucht hat, Hindernisse umgehend und die Wege
nutzend, die sich vor ihr auftaten.
OPTIMISMUS (Juliic)i6). - Ich weiß recht gut,
daß diese meine Betrachtungen über die Geschichte
Italiens pessimistisch angehaucht erscheinen werden und
daß man (wie es wirklich in ziervoller Weise geschehen
ist) sagen wird, sie seien eine neue Niederträchtigkeit
von mir, um „unsern Krieg zu sabotieren" oder (mit
einem andern, den Zeiten mehr angemessenen Bilde,
das ebenfalls auf mich angewendet worden ist) daß
sie „indirekte Schüsse" bedeuten, um „Italien zu treffen
und seine Feinde in Schutz zu nehmen." Es sind das
Albernheiten, die mich nicht aufregen, da sie von der
Art sind, wie sie stets über den ausgeschüttet werden,
der es verschmäht, falsche und ungesunde Urteile sich
zu eigen zu machen, die man ihm gewaltsam auf-
drängen will, und der versucht, so zu urteilen und zu
reden, wie es die Wahrheit erfordert. Das Sonderbarste
ist aber, daß die von mir vorgebrachten Darlegungen,
w^eit entfernt davon, mich zu pessimistischen Schluß-
folgerungen zu führen, vielmehr optimistische haben.
Ich gehöre und habe niemals zu den. Vielen gehört,
die so oft an Italien und an seiner Zukunft verzv^eifel-
ten, obgleich ich niemals v^eder im Frieden noch
im Kriege, weder für Italiener noch vielleicht für irgend
etwas anderes in der Welt, das Amt des Lobredners
ausgeübt habe, so schön dies Amt auch sein mag, zu
dem mir aber sicherlich etwas nicht zu Entbehrendes
fehlen muß: Temperament, Stil, Wärme, Eifer oder
weiß Gott noch was. Ich begreife nicht, weshalb bei
der Fülle dieser Ware auf dem literarischen Markt die
Leute sich so arg darüber beschweren, sie bei mir nicht zu
finden, das heißt gerade an der Stelle, wo man sie am
wenigstens zu suchen hat und wo man dafür Waren
von geringerem Glanz, aber deshalb doch vielleicht
nicht ganz ohne Wert, finden kann.
Ist mithin Italien gehalten auf seine ruhmreiche
Vorgeschichte, auf die Geschichte der zwei oder drei
vorausgehenden Italien, zu verzichten, und muß es
sich auf seine eigene, kurze, moderne beschränken, so
ist das, nach meiner Ansicht, eine Wohltat für Italien,
und sehe ich diese Erkenntnis zutage treten, wie in
dem Ausspruch, daß hier ein „junges Volk" sei oder
in der Mahnung „die alten Ruhmestaten beiseite zu
lassen", so freue ich mich dessen, weil ich darin die
Italien von Natur gegebene Tugend des gesunden
Menschenverstandes aufleuchten sehe, der sich mit
einer schlichten Gebärde der widergeschichtlichen An-
sicht von den Völkern als festumschlossenen Indivi-
dualitäten, metaphysischen Seinsarten, bevorzugten oder
verworfenen Geschöpfen freimacht. War das etwa ein
großes Italien, das sich mit den Erinnerungen an das
alte Rom belud und in Verschen von der Art Meta-
stasios über sie deklamierte? Oder war das ein kluges
Italien, das sich am „Primat" Giobertis berauschte?
Hat dem heutigen Deutschland die phantastische
AnStückelung seiner ganz modernen und preußischen
Geschichte durch die Erinnerungen an Hermann, an
die Nibelungen, die Ottonen, an Friedrich Barbarossa
großen Nutzen gebracht, die ihm die Versuchung nahe
legten oder sie in gefälligen Farben zeigten, die Ge-
schichte der Völkerwanderung und des Weltkaisertums
nachzuahmen? Und wo steht es geschrieben, daß man,
um würdige Taten zu vollbringen, sich einbilden
müßte. Ahnen zu besitzen, die man nicht hat oder die
uns nicht mehr zugehören, und sich auf das trübe Be-
wußtsein von einer göttlichen Auserwähltheit zu ver-
lassen, bekräftigt durch eine sagenhafte Geschichte,
die in unsern aufgeklärten Zeiten einigermaßen nach
Betrug schmeckt?
Ebensowenig hat die zweite Behauptung von dem
bescheidenen Charakter der italienischen Geschichte
irgendwie pessimistischen Sinn, da kein Volk die Welt-
lage, in der es sich zum Handeln berufen sieht, er-
schaffen kann, genau so, wie kein Mensch beanspruchen
kann, erhabene Unternehmungen auszuführen, wenn
der Lauf der Ereignisse ihm nicht den Stoff dazu bietet ;
wohl aber erweisen Einzelwesen und Volk ihren Wert,
wenn sie die Aufgabe, die ihnen von Fall zu Fall gestellt
wird, gut erfüllen. Anderseits ist es für ein Volk etwas
so Seltenes, einer Epoche den Namen zu geben, daß
dies keinem jemals zuzweien Malen geglückt ist— (außer
Italien, wo aber auch eine scharfe Unterscheidung not
tut) ; darum kam vorlängst durch üble Verallgemeinerung
der Gedanke auf, jegliches Volk sei in seinem Augen-
blick berufen, seine Rolle auf dem Geschichtstheater
zu spielen, um dann abzutreten und für immerdar zu
schweigen; daher die „Folge der Monarchien", die
„Dialektik der Völker", die Weissagung von der Voll-
endung oder vom Ende der Menschheit um des Mangels
willen, der sich eines Tages an neuen, zu den ersten
Rollen berufenen Völkern herausstellen würde! Und
obgleich man, die sogenannte Weltgeschichte aus dem
Groben betrachtend, die Behauptung aufstellen könnte,
sie habe sich bis jetzt in Vorherrschaften dargestellt,
so ist es doch wahrscheinlich, daß dieser Rhythmus
jetzt erschöpft oder doch gründlich abgeändert ist,
wenigstens bei den Völkern, die die europäische Ge-
sittung ausmachen ; und obwohl eine solche Folgerung
denen sehr unerfreulich klingen mag, die das Amt von
Schulmeistern des Menschengeschlechts für etwas über-
aus Schönes halten, so wird doch andern die Schau der
Völker Europas als etwas viel Schöneres erscheinen,
die als eine Gesellschaft von Gleichen leben, zusammen
arbeiten, wetteifern, voneinander lernen, wohl auch
miteinander kämpfen, bald dies, bald jenes Sieger in
diesem oder jenem Bereich des Lebens, allein jedes frei
unter Freien, ohne den höchsten magister oder imperator^
und ohne die pax germanica oder einen andern Vor-
mund, einen Frieden^ der ein Sumpf für Beherrschte
und Herrscher wäre. Demnach sehe ich für das neue
Italien keinen Grund zur Klage, wenn aus seiner Ge-
schichte nicht erhellt, daß es „zum drittenmal als
Herrscherin" erschiene oder zu erscheinen bestimmt sei.
Was ich ferner als das Mühselige seiner Geschichte
bezeichnet habe, so ist das ohne Zweifel etwas, das uns
154.
die Schranken unserer Kräfte, die Mängel unserer Sitten
und Einrichtungen immer mehr zum Bewußtsein zu
bringen geeignet ist, uns ferner überlegter in unsern
Entschlüssen, behender in den anzuwendenden Heil-
mitteln, immer mißtrauischer gegen die Fürsprecher
gewagter Unternehmen und ungeduldiger gegen Fest-
redner und sonstige Schwätzer zu machen. Allein die
unablässige Kritik, die hochzuehrende, falls tätige
Unzufriedenheit, die sich aus der geschichtlichen Be-
trachtung ergibt, ist gerade das Gegenteil jenes Ge-
fühls der Verzagtheit, das sich Pessimismus nennt.
Denn jene geschichtliche Einsicht in den langsamen und
mühseligen Fortschritt im Leben Italiens ist gleich-
wohl die Einsicht in einen Vor-, nicht Rückschritt,
einen um so wertvollem Fortschritt, je mehr er be-
hindert ist, uns um so teurer und heiliger, je mehr er
uns gekostet hat, um so wunderbarer, je tiefer die Stufe,
von der wir ausgegangen sind. Wie ich schon erklärt habe,
tauge ich nicht zum Lobredner und mag mich auch
jetzt nicht in dieser Weise vernehmen lassen; will aber
ein anderer sich daran machen, dem jenes Tempera-
ment, jener Stil, jener Eifer und jene Wärme, die mir
offenbar fehlen, zur Verfügung stehen, so rate ich ihm
(was er ja wohl tun wird), den Gegensatz zwischen dem
Italien vor anderthalb Jahrhunderten oder selbst mit dem
vor sechzig Jahren und dem von heute wohl ins Licht
zu stellen: das verlumpte Volk und die erbarmungs-
würdige Bauernschaft von damals mit dem Stadtvolk
und den kräftigen und blühenden Landbewohnern von
heute; die Schwärme von Bedienten, Lakaien und
sonstigem Gesindel mit den heutigen Arbeitern, mögen
sie auch in sozialistische Verbände gepreßt sein; die
wenigen überaus gelehrten Männer und die unüber-
155
sehbare Menge der Unwissenden damals mit der weit
und gleichmäßig verbreiteten Bildung von heute; die
Wenigen von heldenhafter Anlage, die stolzen Seelen,
„die in verderbter Zeit gelebt", mitten in einer niedrig
gesinnten, feigen und verängsteten Gesellschaft, mit den
Vielen von heute, denen die Gelegenheit fehlt, sich zu
Helden und stolzen Seelen zu entwickeln, in denen
aber eine allgemeine Redlichkeit und Würde lebt, die
früher selten war; oder noch besser, das politische und
militärische Italien, das sich der französischen Revolution
und der napoleonischen Macht gegenübergestellt sah,
das Italien von 1815, 1820/21, von 1848/49, ja selbst
das von 1859/60 mit dem heutigen, das nach langem
leidenschaftlichen Streit seinen Platz in dem Völker-
kampf gewählt hat, seinem Ideal und seiner Auffassung
folgend, seinen leitenden Männern gehorchend, und
das zum erstenmal seit Jahrhunderten, vollkommen
geeint einen großen und harten Kampf besteht, dessen
schwere Lasten mit klarem Geiste auf sich nehmend
und gefaßten Mutes seine Leiden tragend: das Italien
von heute, in dem alle Stämme, einst fast unbekannt
miteinander, von den entferntesten Gegenden her sich
wirklich einig und als Italiener fühlen, in dem selbst
die Weiblein und Buben mit lebendiger Teilnahme
das Werk des nationalen Heeres verfolgen, das die
Alpen verteidigt, bessere Grenzen für den Staat zu er-
ringen, ihm die Straßen nach Afrika und dem Orient
zu sichern trachtet. Sicherlich bleibt uns noch viel zu
lernen und zu arbeiten übrig, um den Platz, den wir
uns unter den großen Völkern erworben haben, wür-
dig festzuhalten und zu erweitern ; allein, was geleistet
worden ist, erscheint wie ein Traum, wenn man die
äußersten Enden, den Ausgangspunkt und den, zu dem
156
man gelangt ist, vergleicht; vor allem erhebt uns die
Wahrnehmung, daß jeder Schritt ein Schritt nach vor-
wärts gewesen ist, jeder Fehler eine Warnung, das Jahr
1848 dem Jahr 1821 ebenso überlegen wie 1859 jenem
und 191 5 dem Jahr 1866. Daß mithin dieser Krieg
selbst nicht allein einen Fortschritt über die Vergangen-
heit hinaus bedeuten wird, sondern zugleich eine Er-
fahrung, die uns ein klareres Bewußtsein unser selbst
und der modernen Welt, in der wir leben, verleihen
und uns anspornen wird, in Zukunft allen Teilen unseres
nationalen Lebens eine bessere Richtung zu geben.
„ITALIENISCH-FRANZÖSISCHE GE-
SELLSCHAFT". EIN WORT FÜR DEN
ERNST DER WISSENSCHAFT {Dezember 1916).
— Ich setze voraus, daß der Plan einer Vereinigung,
die die italienischen Studien in Frankreich bekannt
machen soll, sich in nichts von andern Plänen unter-
scheidet, die man ausgedacht hat oder ausdenken könnte,
um diese Studien in welchem Teil der Welt immer
zu verbreiten. Sollte aber in diesem Plan (und wahr-
scheinlich verhält es sich also) der Hintergedanke an
irgendein Bündnis zwischen italienischem und fran-
zösischem Denken stecken, im Namen einer angeb-
lichen Rasseneinheit, nach Abkunft oder Geschichte,
einer bestehenden oder zu entwickelnden Verwandt-
schaft zwischen italienischem und französischem Geist
und eines gemeinsamen Anderssein dem anderer
Völker gegenüber, so müßte ich zum Schutze der
höchsten Daseinsgründe aller Wissenschaft dagegen
Einsprache erheben. Denn wollte man selbst die selt-
samen Auffassungen von der Gleichartigkeit oder Rasse
sowie der Brüder- oder Vetterschaften zwischen Völkern
zugeben, so wäre die Schlußfolgerung, die man ziehen
müßte, der gerade entgegengesetzt, die man gewöhn-
lich macht ; das heißt, es wären vielmehr die Beziehungen
zwischen den ethnisch und historisch sich ferner-
stehenden Völkern herzustellen, ist der Satz richtig,
daß Ehen zwischen Nächstverwandten, so verführerisch
und so herzlich eingeleitet sie auch sein mögen, gefähr-
lich sind, während die Ehen zwischen Fernstehenden
eine kräftige und lebenstüchtige Nachkommenschaft
erzielen. Es ist in der Tat allgemein bekannt, welchen
Nutzen Deutschland daraus gezogen hat, das es zuerst
bei Italien, dann bei Frankreich in die Schule gegangen
ist und wieviel anderseits uns Italienern die englische und
deutsche Dichtung und Literatur genützt hat, um
unseren Geist zu bereichern und unsere Bildung auf
demselben Wege wie unsere neue Dichtung zu nähren.
Allein die Wissenschaft den Stammes- und Kultur-
verwandtschaften unterordnen, heißt nicht allein in
schädlicher Weise den Kreis der geistigen Ehen ein-
engen, sondern auch die Wahrheit zu einer praktischen
Angelegenheit machen, zu einem physiologischen,
kulturhaften und politischen Erzeugnis, und sie damit
in ihrer göttlichen Freiheit verneinen, in ihrem Grund-
wesen als Wahrheit selbst, die fortwährend aus dem
menschlichen Streben quillt, aber auch fortwährend
über dieses hinwegschreitet. Als Pfleger der Wissen-
schaft sind wir zuerst solche und erst in zweiter Linie
Italiener, und kein Nationalismus, kein politischer An-
teil wird uns jemals verleiten können, eine minder-
wertige Philosophie, nur weil sie italienischer oder
französischer Herkunft ist, anzunehmen und eine höher
geartete, weil deutscher Herkunft, zurückzuweisen; so-
wie niemals die Anhänglichkeit an das Vaterland oder
•5.8
an eine politische Partei einen Astronomen dazu be-
wegen wird, die irrigen Berechnungen eines lateinischen
Bruders anzunehmen — ich spreche von Astronomie,
weil ich unter den Namen der Förderer des neuen
Instituts den Astronomen Professor Celoria finde; ich
möchte ihn hier fragen, ob es wirklich eines eigenen
Instituts oder einer internationalen Ruhmesagentur be-
darf, um die Entdeckungen und die astronomischen
Verdienste eines Piazzi und Schiaparelli in Frankreich,
Deutschland oder England bekannt zu machen? Was
das anbelangt, werden wir, während des Krieges wie
späterhin, trotz der Forderungen der politischen Kanne-
gießer und Ränkeschmiede, die uns nahelegen wollen,
in der Wissenschaft die sogenannten, ganz mytho-
logischen „italienischen Überlieferungen" aufrecht er-,
halten, in der Wissenschaft, die das Eigene hat, daß
vor jedem ihrer Schritte jede Überlieferung zu-
nichte wird — ; trotz diesen Forderungen also, die
einen gröblichen Angriff auf dife Unabhängigkeit der
Wissenschaft bedeuten, durch Leute, die glauben, alles
könne und müsse sich ihren Bequemlichkeiten und
Launen fügen, wollen wir damit fortfahr«n, die Wahr-
heiten zu hören und entgegenzunehmen, woher sie
auch kommen mögen, ohne uns darum zu küm-
mern, ob in den Adern ihrer Urheber lateinisches
oder germanisches, keltisches oder jüdisches Blut fließe,
weil alles dies nicht das mindeste mit der Wahrheit
zu tun hat. Darum, liebe Freunde, um es auf fran-
zösisch zu S2igtn, fichez nous la paix mit der lateinisch
oder anglo- lateinischen oder slavo-anglo- lateinischen
Wissenschaft! Weshalb ewig auf diese langweilige
Sache zurückkommen ? Weder Ihr noch andere werdet
jemals etwas mit ihr erreichen, aus dem einfachen
159
Grunde, weil man schlechterdings nichts mit ihr er-
reichen kann.
FÜR DEN ERNST DES POLITISCHEN EMP-
FINDENS [Dezember igi6). — Hier glaube ich zu
fühlen, wie mich jemand am Ellbogen zupft und mir
sagt: — Schon recht, aber man muß wirklich recht dick-
schädelig sein, um nicht einzusehen, daß alle diese „Ge-
sellschaften", „Institute", diese „A/Z/ances'^ und „Ami-
tUs^^ einen wesentlichen und praktischen Zweck haben,
ganz verschieden von dem anscheinenden und wissen-
schaftlichen, den du zu kritisieren unternimmst; einen
politischen Zweck, der darin liegt, gewisse Gruppen
von Menschen auszuwählen und bereitzuhalten, damit
sie fortwährend oder wenigstens in gewissen ernsten
Augenblicken auf die öffentliche Meinung einwirken
und den politischen Beziehungen der beiden Länder
Nachdruck verleihen. — Nun gut, das habe ich wohl
auch verstanden, allein gerade das hätte ich nicht zu
verstehen gewünscht, oder besser, ich hätte gern davon
zu sprechen vermieden ; nun sehe ich freilich, daß dies
nicht angeht. So frage ich mich denn, mit welchem
Rechte ein Bürger über Fragen politischer Art zu einem
Einverständnis, einer Vereinbarung, einer Kundgebung
des Anteils, oder wie man's nennen will, mit Bürgern
fremder Staaten kommen kann. Ich glaubte zu wissen,
daß die Beziehungen der Staaten, ihre Gegensätze, Er-
örterungen und Verhandlungen bloß die betreffenden
Regierungen angingen und eine dem Vorgehen der ein-
zelnen, die den Staat bilden, gänzlich entzogene Sache
ausmachten ; daß mit Auswärtigen wohl der Austausch
von Waren, die Zusammenarbeit in der Wissenschaft,
Bande der Freundschaft möglich seien, jedoch gerade
i6o
dies eine verwehrt sei: über Angelegenheiten zu ver-
handeln, die die politischen Beziehungen der betreffen-
den Länder angehen ; — alles das v^urde mir durch einen
Grundsatz der Anstandslehre bestätigt, daß man mit
Fremden niemals über Politik sprechen dürfe, v^rill man
nicht Gefahr laufen, je nachdem entw^eder gegen die
(eigene) Würde oder gegen das Zartgefühl (der andern)
zu verstoßen. Es kann sich unter anderem ergeben, daß
der Lauf der Dinge die Staaten, denen die Bürger in
solchen Verbänden angehören, in Gegnerschaften ver-
v^ickelt; dann werden die in diesen angeknüpften Bande
zu Hemmungen, Verlegenheiten oder Ärgernissen für
die Erwägungen oder Entschließungen der leitenden
Männer, die allein verantwortlich und allein zuständig
sind, weil sie die allein tatsächliche Lage in ihrer Gesamt-
heit überblicken, aber die Unverantwortlichen und Un-
zuständigen sich entgegenarbeiten sehen, mit ihren
törichten oder aus trüben Quellen stammenden Vor-
schlägen, mit ihrer nicht weniger törichten Berufung
auf die „Sympathie" oder die „Freundschaft". Das ist
nicht so gemeint, als ob in freien Staaten, auch was die
äußere Politik anbelangt, der Beitrag freier Erörterung
und Meinung durch die Bürger verwehrt sein solle;
aber eben bloß als Erwägungen, die man im Familien-
kreise anstellt und die von jedem Schatten praktischer
und gefühlsmäßiger Verbindlichkeit frei bleiben sollen,
von jenem „Einvernehmen" zwischen Gruppen von
Privaten, die fast schon den Beginn politischen Handelns
und Antriebe zu Bündnissen darstellen, die dem Wohl
des Vaterlandes entgegen sein können. Es ist demnach
Pflicht eines jeden, der das politische Empfinden in
Italien gesund erhalten und immer ernsthafter machen
will, die Bildung internationaler Verbände zwischen
II C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen I O I
Privatleuten nicht zu begünstigen, oder aber sie im Auge
zu behalten und darüber zu wachen, daß ihnen die Mög-
lichkeit zu schaden benommen werde, sie sich vielmehr
einfach auf Empfänge von Akademikern und Feier-
lustigen beschränken, die sich beeifern, von den be-
treffenden Regierungen wenn möglich Ordensauszeich-
nungen zu ergattern und untereinander auszutauschen.
Wer dem geschichtlichen Ursprung der „internationalen
Freundschaften" nachgeht, wird finden, daß diese haupt-
sächlich französischer Herkunft sind und mit der Politik
der französischen Revolution zusammenhängen, aus
jener Zeit, als franzosenfreundliche Gesellschaften sich
in Italien, wie in manchen andern Ländern Europas,
aufgepfropft auf den Stamm der freimaurerischen Ge-
setze, zu bilden begannen ; er mag darüber nachdenken,
was dank diesen Gesellschaften sich ereignet hat, und
sich der Verrätereien gegen die nationalen Regierungen,
zu denen sie auch auf den Schlachtfeldern Anstoß gaben,
und der daraus folgenden Unterdrückung durch die
Fremdherrschaft erinnern. Seit jener Zeit haben die
Franzosen, stets dessen eingedenk, daß es ihnen schon
einmal gelungen war, das Gefüge der Staaten zu brechen,
dadurch, daß sie eine Art von neuem ideologischen Staat
in deren Schoß pflanzten — und mit den Franzosen zu-
sammen ihre Nachahmer in der Demokratie — immer
wieder von neuem versucht, die Politik der Völker von
der Politik der „Staaten" zu sondern und dieser ent-
gegenzustellen, das großherzige „Gefühl" der Völker
den trüben „Interessen" ihrer Monarchien, und einen
Dualismus gehätschelt, der seinen Förderern zuweilen
schlimme Streiche gespielt und bittere Enttäuschungen
gebracht hat. Mit andern Worten, die Verbände der
„Völker", die „Freundschaften", die internationalen
162
„Sympathien" bilden einen Teil jener Gesamtheit von
Methoden und Mitteln, die das demokratische und
freimaurerische Dogma ausmachen ; und hat der gegen-
wärtige Krieg gezeigt — wie es sicher der Fall ist — wie
kurzsichtig dieses politische Dogma ist, wie viel Blut
und Unheil es kostet, die Übel, die es hervorbringt, gut-
zumachen, und wie dringend es mithin ist, die Gemüter
Italiens im Verlauf des Krieges und später von ihm zu
reinigen, so wird klar, weshalb man von jetzt an jed-
weder Vereinigung solcher Art entgegenarbeiten muß,
der italienisch-französischen, italienisch-englischen, ita-
lienisch-russischen, italienisch-japanischen oder in der
Zukunft einer italienisch-deutschen, italienisch-bulga-
rischen, italienisch-griechischen oder welcher immer.
Wünschen wir uns mit allen Völkern lebhafteste Han-
delsverbindungen wie lebhafteste geistige Verbindungen;
erweitern wir den Umkreis unserer privaten Freund-
schaften durch solche mit den Menschen der verschie-
densten Völker, nicht allein, weil dies in uns das Gefühl
der Humanität vertieft, sondern auch, weil es dem Geiste
Nutzen bringt, ihn von Vorurteilen läutert und mit
neuen Kenntnissen, neuen Antrieben bereichert; lehnen
wir es ab, Mitschuldige zu werden an den Überheblich-
keiten, Verleumdungen, Plattheiten, an dem Schmutz,
den jedes Volk gegen das andere schleudert, nament-
lich die „Nachbarvölker", die ausersehen scheinen,
sich nach Art der Bauern benachbarter Gemeinden zu
hassen : — aber von italienischer Politik wollen wir nur
unter uns Italienern reden und uns stets in Bereitschaft
halten, jedes Volk, auch das, welches am meisten zu
unseren Herzen oder zu unserer Phantasie spricht, als
Gegner zu betrachten, falls die Leiter des Staates es uns
eines Tages als solchen bezeichnen sollten. Die poli-
"• 163
tischen Angelegenheiten — das ist's, was man, ich weiß
nicht warum, nicht hören will, was aber den Wert eines
Axioms hat — sind nicht unsere privaten Angelegen-
heiten, auch nicht durch unser zärtliches Herz umzu-
formen, sondern sie gehören jenen Leviathanen an, die
man die Staaten nennt, jenen ungeheueren Lebewesen
mit ehernen Eingeweiden, denen zu dienen und zu ge-
horchen wir verpflichtet sind; und diese haben ihrerseits
gute und gewichtige Gründe, einander scheel anzusehen,
sich die Zähne ins Fleisch zu schlagen, sich zu zer-
reißen und zu verschlingen, in Anbetracht dessen, daß
die Weltgeschichte sich bisher allein in dieser Weise
abgespielt hat und im Wesen auch immer so abspielen
wird.
ORGANISATION UND GESCHICHTLICHES
WESEN {Critica XV, März 1917). - Ein vor kurzem
erschienenes Buch (E. Giovannetti, Der Unter-
gang des Liberalismus, Bari 19 17), weit ausgreifend in
seinen Überblicken und sehr lebendig in der künst-
lerischen Darstellung, bricht eine Lanze gegen die „libe-
rale Idee" der lateinischen Länder und Englands und
für die „Organisation" — ein häßliches Wort, das ein-
stens die Anhänger der französischen Revolution im
Munde geführt haben und das heute wieder bei den
Bewunderern der deutschen Macht in Schwang ge-
kommen ist. Und in der Tat, solange der Verfasser die
beiden verschiedenen Auffassungen in ihrem Gegensatz
zeichnet und die Überlegenheit der zweiten über die
erste dartut, verficht er eine unumstößliche These, denn,
wie ich schon ein andermal darzulegen gesucht habe,
heißt dies die Überlegenheit des Reifern über das
weniger Reife anerkennen, des Denkens des neun-
164
zehnten über das des achtzehnten Jahrhunderts, der
sozialen Wirklichkeit über einen abstrakten Idealismus.
Allein, sobald der Verfasser zur Beurteilung von poli-
tischen Bildungen und Einrichtungen fortschreitet, er-
heben sich in mir nicht geringe Zweifel ; um diese alle
in einem einzigen zusammenzufassen, möchte ich nur
meiner Befürchtung Ausdruck verleihen, es könnte die
„Organisation", das greifbare Ideal sozialen und poli-
tischen Lebens selber in abstrakter, jakobinermäßiger
Weise aufgefaßt werden. Ich sage absichtlich „Befürch-
tung", weil wir nach dem Kriege vielleicht allenthalben
in unsern Ländern die Mahnung, den Antrieb, den Be-
fehl zu „organisieren" erleben werden ; sehr häufig wird
aber eine Maske ohne lebendiges Antlitz dahinter „or-
ganisiert" werden, eine neue gesellschaftliche Lüge, ein
schön ausgestattetes Titelblatt, hinter dem sich Gewalt,
Trug und ähnliche Dinge verbergen werden. Um schon
jetzt allem Hinterhalt und der Gefahr vorzubeugen,
muß man sich eine Seite des Organisationsgedankens
recht deutlich machen, die einfach „Seite" genannt
werden kann, wenn man das Wort an den richtet, der
sie übersieht, die aber in Wirklichkeit das Wesen und
den lebendigen Hauch dieser Idee darstellt und ihr
wirksame Kraft verleiht: die feste Überzeugung von
der Ehrfurcht, die man der Geschichte schuldig ist.
Denn wahrhaftig, „organisieren" ist bald gesagt, wer
aber hat denn die Kraft, die virius^ zu organisieren? Es
erfordert das Autorität, und wo findet sich diese, das
heißt, die mit Ehrfurcht betrachtete Macht, von Ver-
trauen umgeben, und darum sich selbst vertrauend.?
„Wohl sind Gesetze, doch wer führt sie aus?" Und will
nicht „Organisation" eine besondere gesellschaftliche
Ordnung besagen, oder nicht vielmehr jede Ordnung,
.65
die organisch, nicht mechanisch, lebendig, nicht tot ist?
War die „organisierte" JesuitenrepubHk in Paraguay „or-
ganisch" oder nicht vielmehr die anscheinende Anarchie
des italienischen Städtelebens im dreizehnten und vier-
zehnten Jahrhundert? Und v^äre — nehmen w^ir es als
Beispiel oder als Bild — ein Neapel auf deutsche Art
„organisiert" etwas Organisches, mit seinen Schaum-
schlägern, die bei diesem Anlaß den Mund vollnähmen
mit Redensarten deutscher Prägung, mit seinen Ver-
waltungen, die auf deutsche Art die ortsüblichen schlech-
ten Gewohnheiten in ein System brächten, wie sie es
bereits nach französischer, freimaurerischer oder Block-
manier, wie man es nennen will, tun, und mit den
klugen Zuschauern (bei uns sind die Klugen immer
Zuschauer), bereit zur Ironie und zum Spott? Wäre
diese wenig anziehende Vorstellung einem Neapel nach
deutscher Art gegenüber nicht das alte Neapel weitaus
organischer zu nennen, von Hof- und Kirchenleuten
verwaltet, die eine lange geschichtliche Überlieferung
hinter sich hatten und viel Gutes wirkten, wie es die
Einrichtungen, die sie hinterlassen, und die Denkmäler,
die sie errichtet haben, bezeugen? Der Begriff der Or-
ganisation — nicht der vernünftelnden, jakobinischen,
sondern der von innen heraus wirkenden, dialektischen —
erfordert an erster Stelle das Nachforschen darüber, wie-
viel an Lebendigem, noch Wirkungs- und Entwick-
lungsfähigem in den sozialen Einrichtungen und Klassen
vorhanden ist, und die daraus sich ergebende Klugheits-
forderung, dieses Lebendige (mag es auch hie und da
fehlerhaft, übersteigert und zwiespältig erscheinen) nicht
zu opfern, nicht dem Wahnbild einer vermeintlichen
Regelmäßigkeit und Einfachheit nachzulaufen, das sich
bei der Umsetzung in die Wirklichkeit als unfruchtbar
i66
und ohnmächtig herausstellen oder zu den Mißbräuchen
des Alten die Fehler des Neuen hinzufügen würde. Wer
jemals an Verwaltungsgeschäften teilgenommen hat,
wird bei seinen ersten Schritten eines jugendlichen Ra-
dikalismus an sich selbst die Erfahrung gemacht haben,
daß ihip, wenn er zuweilen an Stelle des Ungeregelten
das Geregelte setzen wollte, das Ungeregelte unter den
Händen starb und das Regelrechte nicht geboren wurde,
und wird sich, nicht ohne innere Gewissensbisse des
landläufigen Sprichworts vom lebendigen Esel, der mehr
wert ist als der tote Doktor, erinnert haben. Es ist dies
sogar der natürliche Weg, auf dem man vom Radikalen
mehr oder weniger zum Konservativen wird, nicht etwa,
wie die Spötter sagen, weil auf die warme jugendliche
Hochherzigkeit die kalte und berechnende Nützlich-
keitsgesinnung des reifen und bejahrten Menschen folgt.
TOTE UND LEBENDIGE GESCHICHTLICH-
KEIT [März 1917). — Die Gewissenserforschung der
nationalen Politik, die wir anstellen müssen, die Er-
weckung der Reue und der Vorsatz, der daraus folgen
muß, bestehen also in erster Linie in der Erkenntnis,
daß in den Ländern des Abendlandes während der letz-
ten hundertfünfzig Jahre allzuviel und allzuhastig zer-
stört worden ist. Man müßte die Stimmen jener Min-
derheiten sammeln und wieder auf sie achten, die im
Verlauf der Zerstörungen Einspruch erhoben und warn-
ten, besonders in den gefährlichsten Augenblicken, so
bei der Ausbreitung der französischen Revolution oder
bei der des auf Einheit zielenden Italiens; es sind das
Stimmen, die selbst in unserer Dichtung Widerhall
fanden, so in den Sonetten Alfieris, wo man unter ande-
rem lesen kann:
167
Alt ist die Welt und stets war dies ihr Lauf;
Doch ohne aufz,ubauen zu zerstören,
• Das trifft allein der starre Gallierschädel.
Freilich, vorbei ist vorbei, und mir fällt es sicherlich
nicht ein, zu Klagen über nahe und ferne Vergangen-
heit aufzufordern, und noch viel weniger zu empfind-
samen, phantastischen und theatermäßigen Wieder-
belebungsversuchen, und obv^ohl ich gerade die Terzine
Alfieris angeführt habe, w^ill ich doch auch noch die
Anrufung des guten Kaisers Barbarossa durch Heinrich
Heine hierhersetzen:
Das Mittelalter, immerhin
Das wahre, wie es gewesen,
Ich will es ertragen — erlöse uns nur
Von jenem Zwitterwesen.
Von jenem Kamaschenrittertum,
Das ekelhaft ein Gemisch ist
Von gothischem Wahn und modernem Lug,
Das weder Fleisch noch Fisch ist.
Jag fort das Komödiantenpack
Und schließe die Schauspielhäuserj
Wo man die Vorzeit parodiert —
Komme du bald, o Kaiser!
Nein, nichts von Mittelalter aus Pappendeckel, von
ancien regime französischer Nationalisten, von Teutonen-
tum nach Art italienischer Jungen, auch nicht einmal
von Monarchie vom Schlage Marie-Antoinettes, w^ie
sie einst unser Bonghi ersehnt hat; nichts von Erzeug-
nissen in Retorten und Destillierkolben, nicht Helme
Don Quijotes! Aber auch in unserem Italien, hervor-
gegangen aus einer Folge von Umwälzungen, „ge-
wachsen" (wie Carducci gesagt hat) „im freien Sonnen-
licht" Frankreichs, gibt es viel Vergangenheit, viel
i68
Geschichtliches, das noch Dienste zu leisten fähig ist;
sogar in unserer Staatsverfassung, wo wir eine Herrscher-
gewalt haben, die einst eine vortreffliche und strenge
Dienerin ihrer Völker war, als sie noch auf ihr altes
Piemont beschränkt war, und die eine treue Dienerin,
eine .nachsichtige Mutter, voll mäßigender Klug-
heit gewesen ist, als sie sich über Gesamtitalien er-
streckte: eine Monarchie, die wir nicht stückweise zu-
sammenzuklauben brauchen, wie es die französischen
Nationalisten tun müssen, aus dem Sumpf, in den ihre
Königs- und Kaiserfamilien hinabgesunken sind, son-
dern die ihren geschichtlichen Zusammenhang und
ihre sittliche Würde gewahrt hat. Und eine Kraft der
Überlieferung liegt in dem nicht mit Unrecht gerühm-
ten gesunden Sinn der Italiener, gebildet aus Bescheiden-
heit, Ergebung und Mut. Eine Kraft der Überlieferung
ist ebenso unser künstlerischer Geist, der das Körper-
und Formhafte liebt und gleicherweise die zügel-
lose Einbildung wie die tüftelnde Überlegung verab-
scheut. Kraft der Überlieferung ist die Abneigung gegen
Mystik, Theologentum, der wissenschaftliche und philo-
sophische Realismus, der sich in verschiedenen Arten
und Abstufungen in allen Landschaften Italiens und in
allen ihren Schulen bemerkbar macht. Und Kraft der
Überlieferung ist ebenso das „zu lachen wissen" über
Schwulst und Taumel aller Art, lehrhafter oder prak-
tischer Natur, ist das sofortige Zurückführen falscher
Traumgröße auf ihr kleines Maß. O hegen und pflegen
wir doch das alles, das vorhanden ist, und entwurzeln
wir es nicht, um an seine Stelle Gewächse zu setzen,
die schwerlich Wurzeln schlagen werden ! Der scharf-
sinnige Verfasser des früher angeführten Buches ver-
spottet den Begriff der Nation, und ist durchaus im
169
Recht, sagt dreimalheilige Dinge, wenn er ihn darauf-
hin betrachtet, was er an Naturwissenschaftlichem und
Materialistischem enthält,und für jeden modernen Geist,
der sich zuerst und wesentlich als Mensch fühlt oder
wenigstens als europäischer, sicherlich nicht nationaler
Mensch fühlt, etwas Erniedrigendes hat. Aber es gibt
ein anderes Nationalgefühl, gar sehr dem Familiengefühl
verwandt, ein Gefühl, das mit dem zusammenfällt, was
in der Sittenlehre die „Pflicht gegen den Nächsten"
heißt und das nicht bloß die Nation, sondern selbst den
Gau und den Kirchturm umfaßt; und hier heißt es mit
Kritik und Satire vorsichtig sein, um nicht durch ihre
ätzenden Säuren, zusammen mit der naturwissenschaft-
lichen Kruste auch das ideale Mark zu verletzen; nament-
lich in Italien, insofern das Nationalgefühl bei uns eine
ziemlich neueErrungenschaft oderÜberlieferung ist, sehr
viele Überwinder des nationalen Bewußtseins überhaupt
niemals ein solches wirklich besessen haben, aus einer
Überwindung (wie es aus der Philosophie her bekannt
ist), die heilsamerweise nur dem gegenüber eintreten
kann, was man besessen hat, niemals aber dem gegen-
über, was man niemals sein genannt hat. Es scheint
mir, daß der Verfasser diese Vorsicht außer acht läßt,
wenn er, habe ich recht verstanden, von einer Art freier
Wahl zwischen den Vaterländern spricht: etwas, das
mir, offen gesagt, widerstrebt, weil ich in dieser Hinsicht
der Meinung Dantons bin, daß man das Vaterland
nicht an den Schuhsohlen trage; und so schmeckt mir
auch nach Egoismus der Gedanke, das Vaterland auf-
zugeben — es sei denn, man wäre dazu durch unaus-
weichlichen Zwang genötigt — weil man es, obwohl es
das von Natur gegebene, als uns nicht entsprechend
ansieht, um eines bessern, aber künstlichen willen; denn
170
ich habe das Gefühl — oder sollte dies religiöser Aber-
glaube sein? — daß die Vorsehung uns dort, wo sie uns
zur Welt kommen läßt, auch die Ausübung unserer
Pflichten auferlegt.
DIE NEUE ORGANISATION (März 1917). -
Dennoch scheint alles, was ist, dazu bestimmt, sich
umzubilden, das heißt zu sterben, und ich leugne nicht,
daß gesellschaftliche Einrichtungen und Formen, die
ich in Italien noch für lebensfähig halte, eines mehr
oder weniger nahen oder fernen Tages unter ruhigen
oder stürmischen Abendröten vergehen werden. Ich
leugne nicht einmal, in theoretischer Hinsicht, daß es
eines Tages ebenso zeitwidrig und töricht sein wird, sich
als Italiener, Franzosen, Spanier zu bekennen, wie heute
als Herzog, Fürst oder sonstwie als Feudalherrn. Wenn
ich auch die deutsche Klugheit verstehe und schätze,
die im modernen Leben sogar gewisse mittelalterliche
Einrichtungen, gewisse feudale Klassen, gewisse barba-
rische Verhaltungsweisen zu bewahren und auszunützen
verstanden hat, als einzigartiges Beispiel der von den
Soziologen gemeinsam als widersinnig verurteilten Ver-
bindung einer militärischen mit einer industriellen Ge-
sellschaft, so bin ich doch weit davon entfernt, diese
vorübergehenden geschichtlichen Bildungen in Götzen-
bilder und Fetische zu verwandeln, ihnen Ewigkeit und
ewig wirksame wohltätige Kraft zuzuschreiben. Wenn
alle diese einst kraftvollen und heilsamen gesellschaft-
lichen Gebilde allmählich gealtert sein und absterben
werden, will ich es gerne den Dichtern überlassen, sie
zu verklären und zurückzusehnen, sowie sie es schon
mit den Burgfrauen des Mittelalters, den Zinnentürmen
und den fahrenden Minnesängern getan haben. Auch
171
vermag ich nicht, um dergleichen auf der Hand liegen-
der Voraussichten willen, düster und trübe in die Zu-
kunft zu blicken, noch mich durch die Bilder eines
„Verfalls des menschlichen Geschlechts", wie es die
positivistischen Soziologen zu tun pflegen, abschrecken
zu lassen, oder durch solche vom Untergang der Welt,
wie ihn die Anokalyptiker aller Zeiten ausmalen; der-
gleichen Todesbetrachtungen, nicht allein auf die Einzel-
wesen gerichtet, sondern auf alle menschlichen Ein-
richtungen, ja selbst die Völker — auch diese sterben,
obwohl ein schönrednerisches Schlagwort besagt, daß
„ein Volk nicht stirbt" — sind, wie leicht einzusehen,
eine Quelle des sozialen Pessimismus, der in den all-
gemeinen Weltschmerz ausmündet. Jegliches stirbt, nur
der Geist nicht, der alle sterblichen Dinge geschaffen
hat und stets in der Lage und am Werk ist, neue zu
schaffen, ja gar nichts anderes zu tun vermag. Und
hieran liegt es, daß die Pflicht, die sich zu der gesellt,
nicht leichtsinnig das Bestehende und das noch zu nütz-
lichen Diensten fähige Alte zu vernichten, auch die
Pflicht ist, das Neue zu schaffen, die neuen Überliefe-
rungen, da auch das Alte, Tote oder Sterbende einstens
neu gewesen und nicht vom Himmel gefallen, son-
dern durch Geistes- und Willensanstrengung der Men-
schen geschaffen worden ist. Diese Pflicht ist um so
stärker und dringlicher in den Ländern unseres west-
lichen Europa, weil, wie gesagt, allzuviel zerstört worden
ist; darum wäre es aber doch kein ernstzunehmender
Gedanke, Gerippe und Knochen zu sammeln, um aus
ihnen lebendige Menschen zu bilden, die in der idealen
Welt ebenso wie in der physiologischen nicht durch
Verfahren von Einbalsamierern, Totengräbern und
anderen Friedhofsangestellten hervorgebracht werden.
172
So schließt also die Betrachtung, die mit der Geschichte
und Kritik des Schlagwortes der „Organisation" ein-
geleitet wurde, mit der durchaus nicht verwunderlichen
und immer richtigen Folgerung, die erste und grund-
legende „Organisation" sei die, die wir fortwährend mit
unserem Geist und Gemüt vorzunehmen gehalten sind,
und von der die äußerlichen „Organisationen" nur Sinn-
bilder darstellen, die gerade so viel wert sind als die ver-
sinnbildlichte Sache.
m
LITERARISCHES ZWISCHENSPIEL
SCHRIFTSTELLER AUS DER ZEIT VOR
DEM KRIEGE (Crü.XFlAug.igiyY-M.BARRES.
— Ist es möglich, große Gefühle oder gar große Ge-
danken vorzutäuschen, wenn man bloß elementare
und krankhafte Empfindungen hat? Sicherlich, falls
sich zu dieser natürlichen Beschränktheit ein nicht
weniger natürlicher Scharfsinn zugesellt und der „Be-
weisgrund des Geistes" zum „üblen Wollen", das heißt
in diesem Fall zum „üblen Empfinden" hinzukommt.
Nun, gerade Moritz Barres scheint mir — ich spreche,
wohlgemerkt, vom Künstler, nicht vom Menschen —
eine Seele, die, streng genommen, in ihrem Grunde
nichts anderes als ein Gewimmel ungesunder Neigungen
aufweist, zum Teil aber vorgeführt als das Verhalten
eines überlegenen Geistes, zum andern erweitert zu
einem politischen und nationalistischen Gefühl, so-
wie zu einem sittlichen und geschichtlichen Dogma.
Von seinen ersten Büchern an erscheint er als Nach-
ahmer Stendhals, der diese Quelle seiner Eingebung
mit andern von Baudelaire und Flaubert (dem Flau-
bert der Salammbo und der Tentattons) gespeisten ver-
mischt .und beide trübt, indem er Stendhal seiner
naiven Vorliebe für das Kraftvolle und Leidenschaft-
liche, auf dem seine Dichtung ruht, entkleidet, Baude-
laire des Abscheus vor sich selber und seines Sinnes
für menschliches Mitleid, und von Flaubert das
174
Schlechteste annimmt, nämlich das, was gerade in sei-
nen minderwertigen Werken zum Ausdruck kommt.
Barres' culte du moi ist nichts anderes als Stendhals
egotisme (ein Wort, das er übrigens selbst gelegentlich
als gleichbedeutend verwendet): Napoleon tritt auch
bei ihm als „Lehrer der Spannkraft" auf und erteilt
ihm Lehren einer „Methode im Dienst der Leiden-
schaft" ; dem Andenken Napoleons oder seiner Gruft
leisten seine Gestalten den Treueid, wie vorher Julian
Sorel oder Fabrice del Dongo, und sie bemühen sich,
gleich Stendhals Helden, „soviel als möglich zu fühlen,
indem sie soviel als möglich zergliedern";. ebenso ent-
nehmen sie ihr Rüstzeug der religiösen und kirchlichen
Welt, und streben sie auch nicht wie ihre Ahnen die
Prälatur an, so ziehen sie sich doch zeitweise in ein
fast klösterliches Leben zurück, nehmen die geistlichen
Übungen des heiligen Ignatius zum Leitstern und
wollen für die Anbetung des Ich die gleiche „Hygiene"
anwenden, die vordem die geistlichen Orden für jene
Gottes gebraucht haben. Aber wenn die Helden Sten-
dhals auf irgendwelche geräuschvolle Taten, außer-
ordentliche Leidenschaften oder politische Herrschaft
zielten, so schätzen die Barres' keine andern Werte als
„gewisse Nervenkitzel, die die Welt weder kennt noch
empfinden kann, und die wir in uns vervielfältigen
müssen". Der Sozialismus, als eine „Magenfrage", er-
weckt ihnen keinen Anteil, da sie bereits seine gute
Seite ausgeschöpft und für ihren Magen gesorgt haben,
und da damit die leiblichen Bedürfnisse erledigt sind,
so trachten sie, „ihrem Feingefühl die seelische Be-
friedigung zu geben, die es fordert" ; ihr Problem ist
nicht das quid agendum^ sondern das quo modo gauden-
dum: „das Ergebnis ist nichts, alles liegt in der Erkun-
düng", wie Barres zu wiederholen liebt, in einem ganz
andern Sinn, als dieser Formel bei ihrem Ursprung
innewohnte, denn „Erkundung ist alles", bedeutet für
ihn „Lust ist alles". Derart daß, während Stendhals
egotisme die verdrehte Form des Egoismus ist, der
culte du moi nur die Form ist, die wir, um es nicht in
unserer Sprache sagen zu müssen, auf französisch co-
chonne nennen wollen. Und die cochonneries, die Barres
fast in allen seinen Büchern, besonders in Du sang,
de la volupt^ et de la mort vorbringt, sind unsagbar ;
wollte man sie sammeln und zusammenstellen, so
würde man glauben, die Paragraphen einer Abhand-
lung über geschlechtliche Pathologie niederzuschreiben :
Vorliebe für Blutschande, für verschieden betonte und
gleichzeitige Liebeshändel, für Wollust und Blut, für
frevelnde, verbrecherische und schändliche Lüste, vor
allem für die Verbindung des Bildes der Liebe mit
denen von Zerstörung und Auflösung, Tod und Lei-
chen. Lassen wir den Vorhang darüber fallen, umso-
mehr als es für uns Kritiker höchst überflüssig ist,
Dinge zu zergliedern, die im Schrifttum des neun-
zehnten Jahrhunderts recht alt sind und die wir längst
bei ganz andern Künstlern und mit ganz anderer Be-
tonung getroffen haben. Was aber hervorzuheben not
tut, ist eine und die andere Stelle, in der Barres deut-
licher enthüllt, was er vom Menschen denkt; so wenn
er, die Aufregungen einer corrida schildernd, sagt:
„Feine Geister erheben sich aus dem vergossenen Blut,
ein Duft durchdringt uns und weckt das reißende Tier
in uns. Für die Menschheit ist das ein Jungbrunnen;
jüngster Jugend, noch derTierheit nahe", oder wenn er
seinen Helden Sturel, den er in die tiefsten Niederun-
gen des Pariser Lebens führt, den Gedanken aus-
176
sprechen läßt: „Ich kann wohl meine individuellen
Eigenheiten haben, denn keine Blüte der Welt ist an-
dern Blüten gleich, aber ich tauche hinab in das,
was allen Menschen gemein ist und was nur den
schärfsten Blicken sich enthüllt. Ich nehme an der
Tier h ei t teil. Wir sind ursprünglich geboren, um zu
beißen, zu erbeuten, zu zerfleischen." Weiter-
sinnend darüber, endigt er damit, sogar auf die Goethe-
schen „Mütter" zurückzugreifen. Nun beweisen Ge-
danken, wie die eben angeführten— da, was ursprünglich,
auch wesentlich ist — ausdrücklich, was man im übri-
gen dem ganzen Schaffen Barres' entnehmen kann:
daß er keine Ahnung von der Geistigkeit des Men-
schen hat, derart, daß er die „jüngste Jugend" nicht in
das Auge des Kindes verlegt, das vor dem Schauspiel
der Welt erstaunt, sondern in die Begierde des Tieres,
jenes Tieres, das letzten Endes der verwandelte Mensch
selbst ist, nicht das wirkliche Tier, das man nicht ver-
leumden sollte, wie es üblerweise getan wird.
Gar manche Leser werden zuweilen vor Barres'
Blättern in Verwirrung geraten sein und sich die Frage
vorgelegt haben, ob der Verfasser im Ernst spreche,
oder scherze und sie zum besten halte; der wackere
Bourget nennt in der Einleitung zu jenem andern ver-
kehrten Meisterwerk, dem Disciple (auch dies ein
Gemengsei aus Stendhal, läppisch geworden durch das
Hineintragen einer albernen philosophisch-moralischen
Tragik), den Homme libre des „ausgezeichneten Zer-
gliederers Hrn. Barres" ein „Meisterwerk der Ironie,
dem bloß eine Bekehrung fehlt". Nun, fehlt diese
„Bekehrung" — die innerliche Bekehrung, nicht etwa
* ein angekleisterter Schluß, der wohl leicht hinzuzufügen
gewesen wäre — so fehlt alles und die Ironie ist un-
12 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen
177
möglich ; denn diese erfordert gerade, daß der beschrie-
bene Seelenzustand überwunden und ersetzt werde.
Barres ist kein Ironiker, obwohl, wie oben erwähnt,
ein scharfsinniger Geist, der sich wohlbewußt ist, daß
gewisse Dinge nur erträglich sind, wenn sie einfach
und derb herausgesagt werden ; so sagt er sie also bald
im Ton lehrhaften Ernstes, bald aus zerrissenem und
angewidertem Gemüt heraus, bald mit fast scherzhafter
Übertreibung, nicht etwa weil er sie wirklich unter
sich gebracht hat, sondern vielmehr, weil er sie in sich
trägt und zur Schau stellen will, indem er auf diese
Art vermeidet, allzuviel Ärgernis zu erregen, sich offen
sittlichen Tadel zuzuziehen ; so verschafft er sich dank
diesem Ton ein Alibi. Er ähnelt einem Lasterhaften,
der nicht umhin kann, von seinem Laster zu sprechen,
es aber mit einem gewissen Geist uiid vor allem mit
der Geschicklichkeit des Mannes von Welt tut.
Was für eine Kunst aus einer solchen Geistesanlage
entspringen kann, ist leicht vorauszusehen. DerBarres-
schen Prosa kann malender und klanglicher Reiz,
Kraft des Ausdrucks, Darstellungsvermögen keines-
wegs abgesprochen werden; allein das alles sind be-
sondere und äußerliche Vorzüge, und im Lebensatem
dieser Prosa fühlt man nicht die Kunst — die Kunst,
die uns so häufig in den Strophen der Fleurs du mal ent-
gegenklingt und die auch das Schamlose keusch macht
— , sondern die Rhetorik des Unreinen und Schänd-
lichen, eine Rhetorik, die nur verwirren, niemals läu-
tern kann. Man denke an seine wichtigsten Frauen-
gestalten, die Berenice des Jardin de Berenice oder die
Asiatin Astine der Deracines und frage sich selbst, ob
man sie Geschöpfe der Kunst zu nennen sich getraue, *
wie man es doch vor der Lady Macbeth oder Madame
178
Bovary tut. Es sind mehr Geschöpfe zügelloser Ein-
bildung als künstlerischer Phantasie.
DER SINNLICH GERICHTETE NATIONA-
LISMUS. — Wie alle trübgestimmten Sinnesmenschen,
können auch Barres' Helden nicht anders denn Wider-
willen gegen werktätiges Handeln, insbesondere die
Politik zu empfinden, namentlich gegen die klügelnde^
demokratische, die gleichsam eine der ihren entgegen-
gesetzte Einseitigkeit darstellt — Intellektualismus ge-
gen Sensualismus — und derer^ Mängel und Irrtümer
sie sofort durchblicken. Auch darin liegt nichts Neues,
auch dies ist in Barres' „Quellen" vorhanden; sein Eigen-
tum ist bloß der neue StofFzur Beobachtung, die französi-
sche Politik, an der der Verfasser mit beteiligt war, na-
mentlich zur Zeit des Generals Boulanger und des Pana-
mahandels. Sein Scharfsinn leistet ihm auch hier gute
Dienste ; mit Spannung und nicht ohne Nutzen liest man
den Zeitbericht, den er in den Deracines, im Appel au
Soldat^ in Leursßgures von jenen Jahren gibt, und bewun-
dert oft seine Kunst soziologischer Typengestaltung, die
in vielen der von ihm gezeichneten Figuren bemerkens-
wert ist und in der des Professors Boutellier gipfelt, des
Erziehers mit den Grundsätzen der Vernunftmoral,
des guten Republikaners, des starren Freimaurers, des
vortrefflichen Regierungsagenten für die Wahlvorbe-
reitung, in der Art, wie er sich zum Abgeordneten
wählen läßt, verwickelt in die wenig säubern Ange-
legenheiten des Panamahandels: es ist eine Gestalt,
wie sie leider in der Politik des westlichen Europa
nicht selten vorkommt, eifernd und heuchlerisch, ärger
als ein Pfaffe und wie ein solcher zugleich unduldsam
und geschmeidig. Allein Barres will sich nicht auf
12« IJC^
diese verneinende Kritik beschränken und stellt darum
eine gegensätzliche Politik, eine gegensätzliche Lehre
auf: die von der stammhaften und völkischen Seele,
im Widerspruch zur abstrakten Seele der Nationalisten
und Demokraten. Auch das ist eine ziemlich alte
Lehre, die nur die sprunghafte Entwicklung der fran-
zösischen Kultur im neunzehnten Jahrhundert hat
original erscheinen lassen können; genau so wie aus
demselben Grunde viele Leute in Frankreich verführt
worden sind und es noch werden, in Hippolyt Taine
einen selbständigen und tiefen Denker zu sehen, der,
um es geradeheraus zu sagen, trotz der Verehrung, die
der Mensch und der Forscher verdienen, viel mehr in
die Geschichte der Kultur als in die der Wissenschaft
gehört, in welch letzterer man kaum angeben kann,
was er Neues gefunden hätte, außer einigen Paradoxen,
gut genug für das Anekdotenwesen. Auch Barres
bringt ihn als eine geheimnisvolle, verwirrende Geistes-
kraft auf seine Bühne, erklärt ihn für „einen ver-
ehrungswürdigen Schriftsteller durch die Fülle seiner
Gaben, die Kraft, mit der er sie ordnet, durch seine
Erfassung des modernen Göttlichen" und urteilt, daß
er namentlich als Lehrer für kraftvolle Geister, fähig,
die unvermeidliche Bürde wahrhafter Intelligenz zu
tragen, gelten müsse; gleichsam, als wäre er ein Vico
oder ein Hegel gewesen. Die Lehre von den natio-
nalen, ja selbst den regionalen Werten gehört (wie
jeder weiß, der irgendwie Einblick in die Geschichte
der modernen Philosophie und Historiographie ge-
wonnen hat) dem Rückschlag gegen Aufklärertum
und Jakobinismus vom Beginn des neunzehnten Jahr-
hunderts an ; sie gründet sich auf den Begriff des Allge-
meinen als Sinnfälligkeit und Individuation und wendet
i8o
sich daher nicht in Vereinfachungssucht etwa gegen die
„Humanität des erleuchteten Jahrhunderts", sondern
gegen deren abstrakte Form, und nimmt diese in sich
auf, indem sie sie berichtigt und vervollständigt. In
der Tat v/ürden Nation und Landschaft, abgetrennt
vom Begriff der Menschheit, gar keinen Sinn mehr
haben, nichts Menschliches und darum auch nichts
Wertvolles; ihr Wert liegt darin, dem politischen
Menschen den Stoff darzubieten^ der verarbeitet wer-
den muß, nicht mehr und nicht weniger, verarbeitet
und nicht etwa beiseite geworfen um eines eingebil-
deten, aus den Wolken zu holenden Inhalts willen ; so
wird dem Erzieher oder dem, der sich selbst erzieht,
nicht eine Aufgabe gestellt, die für alle gleich ist, son-
dern eine Aufgabe, die aus bestimmten Anlagen und
' Verhaltungsweisen, aus einer bestimmten Blutmischung
sich ergibt. Daher vermochte Barres, der so gänzlich
jeden Gefühles für wahre Menschlichkeit und Geistig-
keit bar ist, auf keinerlei Weise zum Begriff der Nation
und der Region zu gelangen, weil dieser im höchsten
Sinne geistig ist, das heißt viel tiefer als jener armselig
geistige, weil bloß verstandesmäßige des Professors
Bouteiller. Wie mag es nun gekommen sein, wäre es
auch nur dem Scheine nach, daß er für den Apostel
des französischen Volks und der lothringischen Land-
schaft gilt, und über diesen Gegenstand in seinem reifen
Alter ebenso viele Bände geschrieben hat als in der
Jugend über Liebeleien, umwittert von Weihrauch
und Blut; trunken von der Sucht für das Unreine und
die Vorboten der Verwesung? Gerade auf diesem
Wege, dem der Sinnlichkeit, ist er dahin gelangt; den
Übergang hat ihm die Landschaft vermittelt, jene
traurige, wollüstige, sinnliche Landschaft, an der er in
i8i
seinen ersten Büchern so viel Gefallen fand und die
allmählich, ohne ihr innerstes Wesen zu ändern, zur
Landschaft wurde, durch die die Seelen der toten
Ahnen schwanken, und die die Aufgabe bestimmt,
derer harrend, die in ihr zur Welt kommen: ihre
Pflicht gegen Frankreich ; so werden diese, falls sie im
Rationalismus erzogen werden, falls versucht wird, sie
zu Menschen, nicht zu Geschöpfen der Scholle zu
machen, „Entwurzelte", d&acines. Denn auch der
Regionalismus hat, wie überhaupt der Mensch bei
ihm, seine Wurzeln, ja seine ewige Jugend im Tier,
und der Götzendienst des landschaftlichen Ich ist nur
ein neuer Abschnitt im Götzendienst des persönlichen
Ich ; daher ist Barres' Nationalismus (wie der vieler an-
derer französischer Nationalisten literarischer Her-
kunft) ein sinnlicher Nationalismus und vermag
als solcher nur mit einer gewissen absichtlichen Über-
steigerung, die auch blague heißt, aufrechterhalten
und verkündet werden.
SINNLICHER UND GEISTIGER NATIONA-
LISMUS. — Von einem derartigen Nationalismus aus
gaben sich vor dem Weltkriege manche in Frankreich
den Anschein, der deutschen nationalen Lehre Wider-
part halten zu können; diese letztere hat aber ihre
geistigen Voraussetzungen im Protestantismus wie in
der idealistischen Philosophie, und ihre Übertreibung,
das Alldeutschtum, schöpft seine Kraft aus primitiven
theologischen Anschauungen von einem auserwählten
Volk, wie sie zuweilen auch in den Aussprüchen einer
naturwissenschaftlichen Völkerkunde zutage tritt: es
sind das alles Dinge, die, wenn auch trügerisch, so
doch viel edler und sicherlich viel reinlicher als tierische
\%2
und triebmäßige Unterstellungen sind. Ebenso ist
edler und reinlicher, im Gegensatz zu ihnen, auch die
rationalistische und demokratische Ideologie nach Art
Bouteillers — nebenbei gesagt, versteht man nicht,
warum Barres ihn gerade zu einem Nachfolger
Kants macht, der in dieser Hinsicht ein Philosoph
des Übergangs ist und den Rationalismus in seiner
Reinheit, dessen wahre Klassiker in Frankreich zu
finden sind, nur unvollkommen vertritt. Die demo-
kratische Ideologie ist wohl eine zurückgebliebene, aber
sie gestattet den Übergang zu einer höhern Form, ist sogar
in gewissem Sinne ein notwendiger Bestandteil in der
Entwicklung jedes Menschen, zusammen mit dem
Republikanertum, das in einem Lustspiel von Pailleron
die „politische Blatternkrankheit" {rougeole politique)
genannt wird. Allein der sinnliche Nationalismus ist
eine richtige Verfallslehre und bietet jener Kritik, die
Fortschritt ist, gar keine Stütze. So kann es nicht wun-
dernehnien, wenn die zahlreichen Schriften, die Barres
bei Kriegsausbruch veröffentlichte, getrieben von dem
Verlangen auch seinerseits nach Möglichkeit zum
Kampfe und zum Widerstand seines Volkes beizu-
tragen, allgemein als frostig und abgeschmackt emp-
funden worden sind; denn er hätte sich, um ein so
ernsthaftes, schweres und prosaisches, oder auch dich-
terisches aber prosaisch-dichterisches Ereignis wie den
Krieg würdig zu erfassen, geistig erneuern und von
vorne beginnen müssen ; solche Vorgänge von Erneue-
rung und Wiederherstellung brauchen aber Zeit. Hätte
er wenigstens die Notwendigkeit einer solchen Erneue-
rung in sich verspürt, so würde er sich in sich selbst
zurückgezogen und geschwiegen haben. Allein er
wollte sprechen; da aber klang seine Rede falsch,
.83
so vortrefFlich auch seine Absichten gewesen sein
mögen.
P. CLAUDEL. — Ich möchte sagen, daß die näm-
liche krampfartige Erregung, wie bei Barres der Na-
tionahsmus, bei Claudel die Religion ist; und ich
brauche dazu keinen andern Zeugen als ihn selbst,
nämlich die ans Obszöne streifenden Worte, in denen
er seine Lust, sich dem Katholizismus zu verbünden,
schildert: „Sättigung, wie durch die Nahrung, eine Be-
friedigung gleich der, die in der Vereinigung der Ge-
schlechter liegt." Beim Lesen seiner Bühnenstücke ver-
mag ich niemals, leihe ich auch dem musikalisch-philo-
sophisch-lyrischen Singsang seiner Figuren mein Ohr,
den Geruch des Tieres, der Bestie, des Geschlechtlichen
loszuwerden, und es erhebt sich in mir immer wieder
die fast ärgerliche Frage : Bei welchem Dichter, bei
welchem großen und bei welchem wahren, wenn auch
noch so bescheidenen Dichter war jemals dieSe Form
der Erregung zu finden, die im neuesten Schrifttum
immer mehr an Ausdehnung gewinnt.? Gewiß nicht
bei dir, gewaltsam-leidenschaftlicher Dante, der du
den Schauer des Fleisches so wohl kanntest und in
deiner Terzine ausgedrückt hast, ihn mit sittlicher
Schamhaftigkeit umhüllend und verklärend; nicht bei
dif, liebevoller Meister Ludwig, der du zugleich zart
und klug zu sein verstandest, und sogar aus deinem
Exemplar des Furioso ein paar Oktaven ausmerztest,
in denen deine komische Einbildungskraft und deine
Meisterschaft in der Beschreibung sich allzusehr gehen
ließen; nicht bei dir, empfindungsreicher und wol-
lüstiger Tasso, der du auch die Gefallsucht der Ar-
miden zur Demut der Liebe gezwungen hast; nicht
184
bei euch, Foscolo und Leopardi, euch modern-roman-
tischen Geistern, erfahren in Süßigkeit und Wut der
Liebe, stets verhebt und stets von Schönheit träumend;
ihr, die ihr so keusch in euren Versen gewiesen seid.
Und ebensow^enig bei allen andern Dichtern jeglicher
Zeit und jeglichen Volkes, die ich mir durch den
Sinn gehen lasse, die, sicherlich nicht kühl oder düster
und asketisch, dennoch sämtlich um die Verhältnisse
der Dinge Bescheid w^ußten und in der „göttlichen
Proportion" der Kunst die Trunkenheit, die Raserei,
die Krankheit an ihren Platz zu stellen v^ußten, sie
aber nicht zu Königinnen krönten. Befindet man sich
hingegen unglücklicherw^eise unter den seelischen Be-
dingungen eines Claudel, so muß man nicht zur Lite-
ratur greifen, sondern viel eher — w^ie soll ich nur
sagen ? — zum Reisen, um seine armseligen und lächer-
lichen Tragödien der Sinne durch die Schau der Werk-
tätigkeit, der Bewegtheit, der Tragödie der w^eiten
Welt zu beschämen und zu bändigen; oder zur kör-
perlichen Arbeit, unter Arbeitern der Hand, wo denn
die Gewöhnung das richtige Verhältnis herstellen
und den Sinn des Lebens, der in Arbeit liegt, wieder
zurückgeben wird. Claudels Bühnenstücke sind mit
allen ihren Ansprüchen auf philosophische Tiefe und
erhabene Dichtung doch nur ein nervenkrankes Irre-
reden; und wann sind Irrereden und Pathologie jemals
Dichtung gewesen .?
Da aber Poesie auf solche Weise nicht erreicht wer-
den kann, so ist die Gestalt der Glaudelschen Dramen
auch formlos: ein Blinken von Bildern, ein rhythmi-
scher Kitzel, die einen überströmenden Reichtum vor-
täuschen — etwas, das D'Annunzio verführt hat, mit
vollen Händen daraus zu schöpfen — , das aber tatsäch-
■85
lieh arm und eintönig ist. Vor allem ist die Tongebung
falsch, denn richtige Tongebung bedeutet geistige Herr-
schaft des Dichters, und hier ist weder Herrschaft noch
Dichtung, und die NachäfFung eines nicht geringern
als des äschyleischen Tuns vermag dafür keinen Ersatz
zu geben. So spricht etwa einer von seinen Helden,
ein Schuft und Taugenichts, mit seinem süßen jungen
Weibchen, das er aus Liebe geheiratet hat und das ihn
über alles liebt (das aber freilich bald einen andern lie-
ben wird, wenn es sich in ihn vergaffen konnte !) ; er,
der sich jetzt zu einer andern Frau hingezogen fühlt,
sagt in deren Gegenwart zu ihr:
O Marthe, ma femme! o Marthe, ma femme! — O douleur,
hdas ! — o douce - am^re ! certes je t'appellerai am^re, car il
est amer de se sdparer de toi! — O demeure de paix, toute ma-
turitd est en toi ! — Je ne puis vivre avec toi, et ici il faut que
je te quitte, car c'est la dure raison qui le veut, et je ne suis pas
digne que tu me touches. — Et voici, que mon sdcret et ma
honte se sont ddcouverts! — C'est le corps qui l'a voulu, car il
est puissant chez les jeunes gens et il est dur quand il tire. — Et
il est vrai que j'y ai consenti et je voulais mentir et cacher, mais
voilä que cette action s'est ddcouverte — Et je me suis pris a
cette femme et je lui suis attachd fortement, et je sais qu'elle ne
te vaut pas, et eile n'est pas honnSte. — Elle m'aime, et moi je
ne puis me d^prendre d'elle! O ma femme! O ma femme qui
es ici! Tu es ici et il faur que je te dise adieu!
Diese Sprache ist falsch, nicht nach dem Spruch
der rhetorischen oder realistischen Kritik, die leugnet,
daß ein Mensch dieses Charakters in dieser Lage so
sprechen dürfe (denn man wird sagen, die Personen
Claudels wollen nackte Seelen, nicht Menschen sein),
sondern weil sie in sich selbst falsch ist, als Lyrik, die
sie zu sein vorgibt. Und ebenso sind es alle seine an-
dern Sachen: Tete d'or^ Jeune ßlle Vtolaine^ La Ville^
Partage du Midi und Otage, mit ihren in Hingabe und
i86
Opfer heroisch-stupiden Geschöpfen, mit ihren heroisch-
verbrecherischen Liebenden : sämtHch übergeschnappt,
besungen von einem Übergeschnappten.
DER STIL GL AUDELS. - Aber selbst wenn Glau-
del sich nicht diesem Aberw^itz überläßt und den ge-
hobenen Ton des Sittenlehrers, des Philosophen, des
Vaterlandsfreundes und des Katholiken anzuschlagen
sucht, ist sein Stil falsch. Da es meine Gewrohnheit ist,
Schriftstellern gegenüber, die ich bew^undert sehe, die ich
meinerseits aber nicht bev^undern kann, nicht auf die
Gegner, sondern die Anhänger und Lobredner zu hören,
um bei ihnen jenes Licht zu suchen, das mir vielleicht
mangeln kann, um mir von ihnen die Schönheiten
darlegen zu lassen, die mir möglicherw^eise verborgen
bleiben, so habe ich vor kurzem aufmerksam eine
Studie über Claudel gelesen, die in einer angesehenen
englischen Rundschau {Quarter ly Review N. 456, Jän-
ner 19 17, SS. 18—94) erschienen ist; hier v^ird er nicht
allein bedingt als the greatest living french poet — was
nicht viel heißen würde — gefeiert, sondern unbedingt
als a great poet\ und so habe ich die Perlen zu bewun-
dern getrachtet, die der Kritiker hervorzieht und zur
Schau stellt. Nach seiner Meinung hätte Claudel die
Vervollkommnung der französischen Prosa gefördert
durch Weiterführen der Arbeit, die von Chateaubriand
zu Maurice de Guerin, und von diesem zu Rimbaud
leitet: wieder etwas, das in der Dichtung recht wenig
besagt, da die Techniker die Werkzeuge verbessern,
von Montgolfiers Ballon allmählich zum lenkbaren
Luftschiff gekommen sind und sicherlich noch weiter
gelangen werden ; aber dergleichen ist nicht ' Sache
der Dichter. Wie dem auch sei, genießen wir eine
187
Probe raffinierter Prosa, einen Denkspruch aus Uart
poHique'.
Tournons donc comme la rdligieuse Chaldde nos yeux vers le
ciel absolu oü les astres en un inextricable chiffre ont dressd notre
acte de naissance et tiennent grefFe de nos pactes et de nos serments.
Hier mag und wird auch wohl die „feine Musik"
vorhanden sein, die den Kritiker entzückt; aber
gleicherweise auch Verschrobenheit des Gefühls und
Ausdrucks, in der Art des schlimmsten Schwulstes aus
dem siebzehnten Jahrhundert! Und das folgende Bruch-
stück aus der Connaissance de P Est mag wohl eine „wun-
derbare Harmonie von Klang und Bedeutung" auf-
weisen, allein es sagt in marktschreierischem Über-
schwang nur etwas, das man heutzutage in jedem
mittelmäßigen Buch über Philosophie findet:
Aux heures vulgaires nous nous servons des choses pour un
usage, oubliant ceci de pur, qu'elles soient: mais quand, apr^s
un long travail, au travers des branches et des ronces, ä midi,
pdn^trant historiquement au sein de la clairi^re, je pose ma main
sour la Croupe brülante du lourd rocher, l'entrde d'Alexandre ä
Jerusalem est comparable ä l'dnormitd de ma constatation.
Ebenso stößt mich die Geziertheit in der Anrufung
der Muse (in der Citiq grandes ödes) ab, wo in der näm-
lichen Art ein recht gewöhnlicher Gedanke wieder-
holt wird:
Mais ton chant, 6 Muse du po^te,
Ce n'est point le bourdon de l'avette, la source qui jase,
L'oiseau du paradis dans les girofFliers!
Mais comme Dieu saint a inventd chaque chose
Ta joie est dans la possession de son nom,
Et comme il a dit dans le silence: „Qu'elle soit!" c'est
Ainsi que, pleine d'amour, selon qu'il l'appelle
Comme au petit enfant qui dpelle: „Qu'elle est!"
Ich Staune wie man einem solchen Kniff von Naive-
tät gegenüber ■ noch behaupten kann: „Dies ist die
i88
Geburt des Wunders in einer von vieler Erkenntnis
gesättigten Welt und in einer Dichtung, verarmt in
ihren Worten, vsreil sie jede unmittelbare Kraft einge-
büßt haben. Die Lust des Erkennens, die Freude des
Kindes, dem sich das Sein enthüllt, strömt in diesen
Zeilen w^ie ein befruchtender Strom durch die aus-
gedörrten Felder der modernen französischen Dich-
tung." Diese Felder sind aber in Frankreich, und nicht
nur hier, schon seit einem guten Stück mit diesem
alles eher denn befruchtenden Schlamm über und über
bedeckt. In einem Bruchstück der Trois po^mes de guerre
(1915)-
De nouveau apr^s tant de sombres jours de soleil ddlicieux
Brille dans le ciel bleu.
L'hiver bientot va finir, bientot, le printemps commence, et le matin
S'avance dans sa robe de lin.
Apr^s le corbeau afFreux et le sifFlement de la bise gdmissante
S'entends le merle qui chante'
Sur le platane tout ä l'heure j'ai vu sortir de son trou
Un insecte lent et mou.
Tout s'illumine,* tout s'dchaufFe, tout s'ouvre, tout se ddgage,
Peu ä peu croh et se propage.
Une eap^ce de joie pure et simple, une esp^ce de sdrdnitd
La foi dans ia future dtd!
Ce Souffle encore incertain dont je sens ma joue caress^e
C'est la France, je le sais !
Ah, qu'elle est douce, car c'est eile! naive mais pdremptoire,
L'haleine de la Victoire! —
finde ich alles, v^as der Kritiker daran lobt : „die Kühn-
heit der Bev^egung, die unnachahmlich zarte Beschleu-
nigung des Rhythmus"; aber durchaus nicht : „die
Einigung der musikalischen Empfindung mit der gei-
stigen Zuversicht zu einer triumphierenden Gewißheit".
Vielmehr finde ich darin die Rhetorik von Anlauf und
Beschleunigung, lauter mechanische Dinge, aber gar
189
keine Innerlichkeit. Wäre sie überhaupt vorhanden,
so genügte es, um sie zu verscheuchen, jenes insecte
lent et mou^ und jenes nüchtern-komische naive mais
peremptoire !
CLAUDELS RELIGIÖSE DICHTUNG. - Noch
seltsamer ist die katholische Poesie Claudels, von der
ihr englischer Bewunderer ein Bruchstück aus dem
Lobgesang auf Gott beibringt :
Et puis il n'est rhomme si vulgaire qui ne vous ait gard^ quelque
chose de nouveau,
Et qui n'ait fabriqud pour vous, en dehors de ses heures de
bureau
Esperant que l'idde un jour vous viendra de le lui demander,
Et que peut-6tre 9a vous plaira, quelque chose d'afFreux et de
compliqud,
Oü il a mis tout son coeur et qui ne sert a quel que ce soit.
Ainsi une petite fille, le jour de ma f^te, qui s'avance avec em-
barras,
Et qui m'ofFre, le cceur gonfld d'orgueil et de timiditd,
Un magnifique petit coussin ceuvre de ses mains pour y mettre
des dpingles en laine rouge et en fil dore.
Darin entdeckt er eine „köstliche Gutmütigkeit".
Das ist aber ganz etvv^as anderes als Gutmütigkeit, das
ist echter und rechter Voltairianismus, der die katho-
lischen Ideen und Vorstellungen, die Bräuche des Kul-
tus kindisch und lächerlich findet ; die Grille, die sich
Claudel in den Kopf gesetzt hat, sich als Katholiken
zu geberden, und die ihn über diese Komik eine ko-
mödiantenhafte Salbung und Bußfertigkeit ausbreiten
läßt, macht sie noch komischer, und noch mehr vol-
tairisch unehrerbietig. Die hier angewendete Versart
scheint eigens dazu gemacht, zum Lachen zu bringen,
die Verszeile auf diese Wirkung hin berechnet. In dem
Lobgesang auf Gott (mit vielen andern Stücken der
190
gleichen Art veröffentlicht in dem Bande Corona benig-
nitatis anni Domini 191 5) stehen ferner diese beiden
Verse, in denen die komische Absicht ganz klar wird,
in den ä dimension ausgestreckten Armen, die sich auf
Ascension reimen.
Mais je vais avoir le soleil m6me, j'ouvre les bras ä votre dimen-
sion.
Je regarde au plus haut du ciel un point d'or comme un jour de
votre Ascension.
Gibt es eine wirksamere Art, einen Tartuffe darzu-
stellen, als indem man ihn die Arme ä dimension Gottes
öffnen läßt .?
Wollte man mir diese katholische Lyrik Claudels
als scherzhafte Dichtung zugestehen, so würde ich hie
und da an ihr Geschmack finden können. Im Chant
de N'phiphanie erscheint es ganz natürlich, daß die
Armen um die Krippe stehen:
Mais avec les savants et les Rois c'est une bien autre afFaire!
II faut, pour en trouver jusqu'ä trois, remuer toute la terre.
Encore est-il que ce ne sont pas les plus illustres ni les plus
hauts,
Mais des esp^ces de magiciens pittoresques et de petits souverains
coloniaux.
Et ce qu'il leur a fallu pour se mettre en mouvement ce n'est
pas une simple citation,
C'est une dtoile du ciel meme qui dirige l'expddition . . .
Die drei Magier an der Krippe, die malerischen Drei-
königlein, die mit „kleinen Kolonialherrschern" ver-
glichen werden, sind wirklich niedlich! Sainte-Odiie:
Et pourtant eile ^tait ma grande fiUe chdrie et je ne pouvais m'en
passer,
Ma grande Odile au visage si doux, avec de petits points de rouille,
Ma fille d'Alsace en or, chargde de soie comme une quenouille.
Auch dieses große sommersprossige Mädchen, mit
ihrem sanften Gesicht, mit ihrem Goldhaar auf dem
191
Kopf, so reich, daß sie aussieht wie ein voller Spinn-
rocken, ist gelungen !
Würde Claudel auch mit den Figuren seiner Bühnen-
stücke eine ähnliche Parodie vornehmen, sow^äre meine
Aussöhnung mit ihm vollkommen, da ich wirklich
nichts anderes zu wünschen hätte. Allein die parodi-
stische Umformung stellt sich bei ihm selbstwillig nur
in Religionsdingen ein, weil er sie nicht ernst nimmt;
niemals würde ihm das bei den andern in den Sinn
kommen, die für ihn eine höchst ernsthafte Angelegen-
heit bedeuten.
BERÜHMTHEITEN AUS DER ZEIT VOR
DEM KRIEGE: A. RIMBAUD. - In Wirklichkeit
ist Rimbauds Name in Italien schon um 1890 bekannt
gewesen; Pica hatte den Freund Verlaines in Vor-
trägen und Aufsätzen behandelt. Aber „wiederentdeckt"
worden ist er erst an zwanzig Jahre später, damals als von
neuem durch Frankreich eine Welle der Anteilnahme
und Bewunderung für das „Wunderkind", für den Ver-
fasser der lUuminations ging; so daß um das Jahr 19 10
auch bei uns Bewunderer, Ausleger, Übersetzer und
Nachahmer Rimbauds, der als ein außerordentlicher
und tief geheimnisvoller Geist gefeiert wurde, auf-
standen. In dieses Geheimnis vermag ich freilich nicht
einzudringen, da der Band mit Rimbauds Werken sowie
die Schriften seiner Biographen und Kritiker mir in die
kurze Geschichte dieses Menschen und dieses Geistes für
jedermann klaren Einblick zu gewähren scheinen. Rim-
baud war ein frühreifer Knabe, der sehr frühe einiger-
maßen von Baudelaire beeinflußte Gedichte geschrieben
hat, Offenbarungen eines überströmenden, aufrühre-
rischen, launenhaften Gemütes, das sich gegen das
192
gesellschaftliche Herkommen empörte, von der Sucht
nach dem Schändlichen und Häßlichen besessen, dem
Sarkasmus ergeben war. Eingebungen solcher Art
stellten dar Ma boh^me, Poete ä sept ans, Les assis, Le
bateau ivre, und noch ein paar andere Sachen, in denen der
Ungestüm des Gassenjungen, ja des Taugenichts, seiner
selbst froh, sicher und stolz, mitunter an die Dichtung
heranreicht, obwohl sie sonst meist nur eine nicht
gewöhnliche Geschicklichkeit erkennen lassen. Allein
bei dieser dem Anschein nach glücklichen Jugend-
begabung war Rimbaud dennoch im Grunde recht
unglücklich, da ihm jede Spur von Feinheit und wahrer
menschlicher, spekulativer, religiöser, politischer, sitt-
licher Leidenschaft, ja selbst Liebesleidenschaft fehlte ;
dieser unglückliche Mangel führte ihn dazu, zwei Pläne
zu fassen, die beide seine Unfähigkeit zu einer ernst-
haften und fruchtbaren Entwicklung darlegten. Der
eine davon war, sich ein Leben außerhalb des gesell-
schaftlichen Herkommens zu zimmern, ein Leben der
Freiheit, das außer Stoff zur Poesie, an sich selbst Poesie
sein sollte ; der andere, eine neue Kunst und Sprache zu
erfinden. Der Widersinn dieser Doppelabsicht ist leicht
zu durchschauen ; denn niemandem ist es gegeben, außer-
halb der tatsächlichen Verhältnisse zu leben, da Leben
nichts anderes ist, als diese zu verarbeiten und damit neue
zu schaffen ; noch viel weniger ist es möglich, zu dem
Ende zu leben, um sich Stoff zum Dichten zu ver-
schaffen, denn in solchem Streben zerrinnt gleicher-
weise Leben wie Dichtung, jenes seinem innersten
Zweck entfremdet, diese künstlich gesucht, während
sie überhaupt nicht gesucht werden kann, sondern ent-
springt, wann es eben dazu an der Zeit ist; endlich ist
jede neue Dichtung, die erscheint, neue Kunst und
13 C r o c e , Randbemerkungen eines Philosophen
193
Sprache, und sich die Neuheit als Ziel vorzusetzen, heißt
lediglich eine leere Abstraktion verfolgen und das Stück
Fleisch um seines Spiegelbildes w^illen ins Wasser fallen
zu lassen. Wer demnach nicht nach vvrirklichem Leben,
sondern nach einer Lebensdichtung und Stoff zur Poesie
trachtet, gelangt unausvs^eichlich zu einer Art Ze.rrbild
von Leben und Dichtung und sieht als solche die Un-
ordnung, den M üßiggang, die Z ügellosigkeit, das Sprung-
hafte und Zusammenhanglose an. „Was er w^ollte —
schreibt der Hauptbiograph Rimbauds — v^ar, ein Seher
zu vsrerden. Zu diesem Zweck beschließt er sein Sinnen-
leben durch alle Mittel, durch Wein, durch Gift, durch
Abenteuer zu bereichern." Später fügt er noch hinzu:
„Er v^ill die Schmach, er w^ill die Schande kennen ler-
nen: darin liegt Schönheit! Alles w^as den Menschen
Leiden schafft, alles w^as sie für gewöhnlich verabscheuen,
das wünscht er an sich zu erleben!" Es ist nicht nötig,
sich das sooft Erzählte und in Wahrheit des Erzählens
recht wenig Werte noch einmal aufzuwärmen, Rim-
bauds Kameradschaft mit Verlaine, ihre gemeinsame
Landstreicherei, die gemeinsamen wüsten Gelage, die
Pistolenschüsse, die sie erhalten, die Fußtritte und Faust-
schläge, die sie ausgeteilt haben; es genügt zu bemerken,
daß sich darauf das von Rimbaud erträumte reiche und
freie Leben beschränkte und wohl auch beschränken
mußte, „der so bezeichnende Trieb Rimbauds (wie der
Biograph sagt), stets seine Empfindungen zu erneuern,
sein unersättlicher und unerhörter Wunsch, das All zu
umfassen . . . zum Zwecke einer unvergleichlichen Auf-
stapelung von Poesie, eines vollständigen Vorrats an
Gedanken und einer Erneuerung der rhythmischen
Sprache". Hätte er irgendein bescheidenes Handwerk,
ja selbst häusliche Pflichten ausgeübt, oder hätte er
194
sich etwa in eine Bibliothek eingeschlossen, so würde
er wahrscheinlich reichere und tiefere, sicher edlere
„Lebenserfahrungen" gesammelt haben, als in den
Schnapsläden und Schenken von London und Brüssel.
Aus einem solchen Leben hat sein Dichtwerk weder
Stoff noch Wachstum erhalten; und das Ideal dieses
Werkes selbst stellte sich ihm in etwas Willkürlichem
und Launenhaften dar, denn — wie abermals sein Bio-
graph sagt — nicht zufrieden mit sämtlicher Dichtung
„von Homer bis zu den Parnassiens", gestaltete Rim-
baud den Gedanken, die neue Dichtung müsse reine
Wiederholung eines Traums sein, frei von überlegenden
und verstandesmäßigen Bestandteilen. Da aber die Dich-
tung nie etwas anderes gewesen und niemals etwas
anderes sein kann als dieses, frei von allem andern,
was sie nicht selbst ist, so läßt sich gerade deshalb ihr
Grundwesen oder ihre allgemeine Aufgabe nicht in
einen besondern Zweck verlegen : genau so wie man nach
einem berühmten Beispiel nicht eine Frucht im all-
gemeinen essen kann, sondern immer nur Kirschen,
Pfirsiche oder Pflaumen. In dieser Hinsicht widerfuhr
Rimbaud dasselbe wie im gewöhnlichen Leben, in dem
er, um eine abstrakte Freiheit zu suchen, sich in die
törichteste Knechtschaft begab, genau so, wie er um
reine Dichtung zu erlangen, in Wirklichkeit nichts
erlangte; seine llluminations haben keinen andern Wert
als den eines unfruchtbaren Versuches. Wenig über
zwanzig Jahre alt, überkam ihn schließlich das klare
Bewußtsein, gänzlich, in Leben wie in Dichtung, irre
gegangen zu sein ; eines Tages schrieb er unter bittern
Tränen über sich selbst sein Bekenntnis und erkannte
das Problem, die ihm noch ungelöst in Saison en enfer
vorgeschwebt hatte: „Ich, der ich mich Magier oder
13»
19s
Engel genannt hatte, ledig aller Moral, ich habe mich
der Erde wiedergegeben, mit einer Pflicht, die zu suchen,
mit der runzelvollen Wirklichkeit, die zu erfassen ist.
Bauer werden!" So schob er das Dichten beiseite und
versuchte vielerlei Arten verschiedener Werktätigkeit,
bis er sich endlich entschloß, in Afrika zu reisen und
Handel zu treiben; erst nach etwa zwanzig Jahren ist
er wieder krank in die Heimat zurückgekommen, um
dort mit siebenunddreißig Jahren zu sterben. Über
seine Dichtung von einstens vermied er zu reden, und
schätzte sie, falls man ihn daran erinnerte, als etwas
„Lächerliches und Abgeschmacktes" ein; daß er seine
zweite Entwicklungsstufe als Vorbereitung für eine
andere vielgestaltigere Dichtung betrachtet hätte, das
ist ein frommer Glaube seines schon wiederholt ange-
zogenen, höchst naiven Biographen, der sich Herr
Paterne Berrichon nennt.
DIE URSACHE VON RIMBAUDS LITE-
RARISCHEM RUF. - Daß diese biographisch-
kritische Auslegung nicht etwa ein Hirngespinst oder
eine Verleumdung ist, wird, wie schon gesagt, jeder
einsehen, der sich die Mühe nimmt, die wenigen
Werke Rimbauds und die Nachrichten von seinem
Leben zu lesen. Wollte man — was mir in diesem
Falle nicht angebracht schiene — der Bestätigung kein
Gewicht beilegen, die sie durch Wort und Tat Rim-
bauds selber erhält, besonders in jener Saison en enfer,
die übrigens ebensowenig eine glückliche Dichtung ist
(obwohl die Bewunderer hier von niemand Geringerem
als Dante gesprochen haben !), sondern wesentlich eine
lebensgeschichtliche Urkunde, so könnte doch die Ver-
gleichung meines Urteils mit dem zweier französischer
196
Schriftsteller, die aus verschiedenen Gründen geneigt
sein mußten, Rimbauds Kunst zu schätzen und zu
überschätzen, einiges Gewicht haben. In seinen Diva-
gations schreibt Mallarme : „Es ist das Aufflammen eines
Meteors, ohne anderen Trieb als seine Gegenwart selbst
entzündet, einsam entstehend und vergehend. Sicher
wäre alles seitdem, ohne diese bemerkenswerte vorüber-
gehende Erscheinung, ebenso ins Leben getreten, gerade
so wie ihn tatsächlich kein literarischer Umstand vor-
bereitet hat: der ganz persönliche Fall bleibt mit Not-
wendigkeit bestehen . . . Ich glaube, daß die Hoffnung
auf ein Werk der Reife hier der exakten Auslegung
einer in der Geschichte der Kunst einzig dastehenden
seltsamen Erscheinung schadet." Desgleichen schreibt
Laforgue in den Melange s posthumes: „Rimbaud, eine
jäh aufgesprossene und ganz für sich stehende Blume,
ohne ein Vorher und Nachher. Hier gibt es weder
Strophe, noch Mache, noch Reim. Alles beruht auf
dem unerhörten Reichtum der . Bekenntniskraft und
der niemals vorauszusehenden Unerschöpflichkeit an
stets angemessenen Bildern. In diesem Sinne ist er das
einzige Gegeribild Baudelaires".
Trotz alledem verstehe ich die Gründe , die nicht
wenige bewogen haben, ihn als einen Vorläufer und
Lehrer zu begrüßen. So viel man auch auf Rechnling
einer gewohnheitsmäßigen Bewunderung sogenannter
„seltener" oder „Ausnahmekunst" wird setzen dürfen, es
steht dennoch fest, daß Rimbaud durch sein Wunschbild
eines von jedem sittlichen Zwang gelösten Lebens und
einer Kunst, die das Chaos der Empfindungen bildhaft
macht, mit einer zwiefachen Krankheit dem Doppel-
leiden entgegenkommt, das viele Seelen unserer Zeit ge-
drückt hat und noch drückt, einem Leiden, dessen ge-
197
schichtliches Werden und dessen tiefer Sinn hier nicht
abermals dargelegt werden soll. Wenn dieses Doppel-
leiden einmal geheilt oder vermindert sein wird, wird
auch Rimbaud mit andern Augen angesehen werden: als
ein negatives Beispiel für die Bestätigung der Wahrheit,
daß die Kunst wie Blüte des Lebens auch Ernst sei;
und daß ein Künstler, bevor er Künstler ist, eine „ Persön-
lichkeit", das heißt ein Mensch von Herz und Geist sein
muß und — das ist der wesentliche Punkt — daß eine
Persönlichkeit solcher Art nicht irgendwie künstlich
beschafft werden kann, am allerwenigsten durch ein
Müßiggänger- oder Zigeunerleben, zu dem Zwecke,
Stoff zu sammeln oder auf künstlichem Wege eine
unmögliche Dichtung hervorzutreiben.
RIMBAUD ALS SEELENWERBER FÜR DIE
KATHOLISCHE KIRCHE. - Solange aber jene
Doppelkrankheit anhält, bleibt Rimbaud und muß es
bleiben, ein Vorbild, gleichsam ein Heiliger für die
bohemiens^ die sich Künstler wähnen; sowie für die-
jenigen, die sich absichtlich als bohemiens geben, weil
sie hoffen, daß sich irgendeine der neun Musen in sie
vergaffe. Es scheint viel schwieriger verständlich, wie
so Arthur Rimbaud jetzt als sittlicher Held und als eine
von Gottes Hand berührte Seele der Ehre eines Altars
teilhaftig werden kann. In seinem Leben wie in seinen
Werken begegnen uns so viel unschöne Dinge, und
sicherlich niemals eine Tat, ein Ausspruch, ein Gedanke,
die eine wie immer geartete Höhe des Gefühls oder eine
Spur religiösen Bewußtseins verrieten ; ohne irgendwie
geneigt zu sein, ihn mit Strenge zu behandeln (was
sollte das nützen ?), vielmehr mit dem Zugeständnis, daß
er nicht gewesen ist, was man niedrig oder bösartig
198
nennt, und daß er in seinem ferneren Leben Mut und
eine Art Stoizismus bewiesen habe, kann man doch nicht
umhin, sich gegen gewisse freisprechende und verherr-
lichende Urteile seines Biographen aufzulehnen, min-
destens über sie zu lächeln; so wenn er, beispielsweise
bei der Erzählung, wie Rimbaud sich als Kolonial-
soldat in holländischen Diensten anwerben ließ, und
nachdem er den Sold eingesteckt, desertierte, bemerkt:
„er hatte einen viel zu lebendigen Sinn für Ehre und
Würde (!) ; eine zu starke sittliche Auffassung (!), um auch
nur einen Schatten von Verpflichtung (!) Leuten gegen-
über zu fühlen, deren Gewerbe es ist, diejenigen aus-
zurotten, die sich nicht ohne Widerstand ausplündern
lassen" : Was so viel heißt, daß es erlaubt, ja vielmehr
Pflicht sei, die Holländer oder allgemein gesprochen,
Diebe zu bestehlen (denn nach alledem sind ja die Hol-
länder Diebe!). Nichts demnach von Sittlichkeit, nichts
von Religion, aber auch nicht einmal — und dies spricht
zu seinen Gunsten — der komödiantenhafte Versuch, sie
vorzutäuschen, wie es sein unglücklicher Freund Ver-
laine getan hat. Das muß auch der Biograph zugeben,
der rühmt: „Keine vereinzelte religiöse Formel, und
wäre es auch der Katholizismus, war imstande, seine
ungeheuren, unerhörten Geheimnistiefen in sich zu
fassen; er fühlte sich jeglichem Glauben jeglichen
Landes zugehörig; eine kosmographische Synthese
thronte in seinem Innersten", derart, daß „sein end-
gültiges Wort, in meisterlicher Verschmelzung aller
Sprachen, harmonisch und von einer alles bezwingen-
den und überall zugänglichen Beredsamkeit, vielleicht
die menschliche Seele wiedererneut hätte."
Auch heute gibt es noch jemanden, der behauptet :
„Arthur Rimbaud war ein Mystiker im Naturzustand,
199
eine verlorene Quelle, die aus einem gesättigten Boden
dringt ; sein Leben ein Mißverständnis, ein mißlungener
Versuch, durch die Flucht sich dieser Stimme zu ent-
ziehen, die ihn ruft und zu sich fordert und die er nicht
anerkennen v^ill ..." Noch gibt es jemanden, der ihn
als einen Fürbitter bei Gott ansieht und als gläubiger
Katholik in Rimbaud die „Enthüllung des Über-
natürlichen" erkennt!
Wer mag, lieber Leser, dieser feine und zartempfin-
dende, sittlich-religiöse Geist sein? Du hast es bereits
erraten: Monsieur Claudel. Niemand anderer als er . . .
DER KRIEG UND DIE STUDIEN {CriticaXV,
September 1917). — Diese Rundschau hat ihre zweite
Folge begonnen, als der Krieg sich bereits in Europa
entzündet hatte; sie tritt nun in das vierte Jahr ihrer
zweiten Reihe, während er noch fortdauert. Man ge-
statte uns demnach, auf der Schwelle dieses vierten
Jahres, uns ein wenig mit unsern Lesern über die Lage,
in die der Krieg die Studien teils schon versetzt hat,
teils für die Zukunft vorbereitet, zu unterhalten.
Man wird sich erinnern, daß wir, als unser Land be-
schloß, an dem großen Kampf teilzunehmen, in einer
Randbemerkung unsern Entschluß kundgaben, das
Werk der Forschung fortzusetzen, „als ob es keinen
Krieg gäbe". Es war das ein Wort, das vielen Ohren
wie eine Überspanntheit oder eine Lästerung klang;
während es vielmehr ein wohlerwogener Gedanke, von
guter Voraussicht eingegeben, war. Der diese Absicht
äußerte, nimmt keinen Anstand, zu beteuern, daß er da-
mit einem Bedürfnis nach persönlicher Rechtfertigung
Genüge tat; denn er erwog in Gedanken die Länge und
Langsamkeit des Krieges und erblickte sich keineswegs
200 '
als Minister und noch viel weniger als Gehilfen des
Ministers für Äußeres, für Krieg und Volksernährung,
sondern sah sich der Qual dessen ausgesetzt, der als Zu-
schauer den Ereignissen beiwohnen muß, sie nach seinen
Wünschen lenken und ihren Abschluß beschleunigen
möchte, es aber doch nicht vermag, sich darum in mehr
oder weniger unnützer Tätigkeit versucht, die jedenfalls
nicht der eigenen Fähigkeit und Vorbereitung entspricht
und sich in Beteuerungen, Beschwörungen, Voraussagen
und anderm unfruchtbarem Gerede verliert, als fünftes
Rad am Wagen, seine Verstandes- und Willenskräfte
derart erschöpfend, daß er davon ganz zerrüttet wird.
Aus diesen Gründen hat er den Freunden, die einen
andern Weg einschlugen und vermutlich auch von
Natur die körperliche Eignung und Widerstandskraft
besaßen, die ihm mangelte, die ihn aber unter vier
Augen und öffentlich aufforderten, „seine Pflicht" zu
erfüllen, das heißt sich als Redner und Agitator gleich
ihnen zu betätigen, stets ablehnend geantwortet, aus
derselben „Furcht vor dem Leeren" heraus, aus der er
einem geantwortet hätte, der ihn etwa aufforderte, sich
kopfüber aus einem Fenster des vierten Stockwerks zu
stürzen. Allein er muß mit der gleichen Wahrhaftig-
keit bekennen, daß seine individuelle Besorgnis und Vor-
sicht sich mit einer ebensolchen allgemeiner Art ver-
band, da er schweren Herzens sah und sieht, was sich
in Italien und vielleicht noch mehr in einigen andern
Teilen Europas ereignet hat und noch ereignet: die fast
vollständige Unterbrechung alles geistigen, kritischen
und wissenschaftlichen Lebens. Gedenkt man der viel-
fachen Anstrengungen, des sorgsamen Eifers, der harten
Mühen und der geduldigen Erwartung, die notwendig
sind, um in einem Volk oder einem Zeitraum ein paar
20I
Mittelpunkte und Straßen der Kultur zu schaffen, so
kann man nicht anders als sorgenvoll vorder Verwüstung
stehen, die auch in dieser Hinsicht auf vv^eite Strecken
hinaus angerichtet worden ist; erst vor kurzem hat einer
der erlesensten Geister Frankreichs, mit dem ich mich
seit mehr als zwanzig Jahren in Gedankenaustausch
und Übereinstimmung befinde, die gleiche Besorgnis
geäußert, indem er mir schrieb : „Je länger sich der Krieg
hinzieht, um so mehr scheint mir die Zukunft Europas
bedroht. Ich glaube nicht, daß bis jetzt viele Leute diese
Gefahr eines langdauernden wissenschaftlichen Nieder-
gangs erkannt haben." Die literarischen und wissen-
schaftlichen Zeitschriften der verschiedenen europä-
ischen Länder bringen fast in jedem Hefte Namen ihrer
im Kriege gefallenen Mitarbeiter, und zahllose andere
Jünglinge, die ihre Studien begonnen hatten oder schon
in ihnen weit vorgeschritten waren, sind seit geraumer
Zeit gewaltsam aus ihnen gerissen worden, gerade in
der heikelsten Zeit ihrer geistigen Entwicklung, und zu
einer ganz anders gearteten hingeführt worden; und
wenn auch die geistig frischesten unter ihnen, die eines
Tages doch in das bürgerliche Leben zurückkehren
werden, sich von dieser langen Unterbrechung nicht
allein hinreichend rasch erholen, sondern auch daraus
den Antrieb zu neuer und selbständiger Kraft werden
schöpfen können, so ist doch zu fürchten, daß die Vielen,
die weniger Starken, aber dennoch für die allgemeine
Kultur Unentbehrlichen unwiderruflich abgelenkt oder
sich auf andere niedrigere oder praktischere Lebens-
weisen einstellen werden. Auch legen wir auf die Vor-
hersagen kein Gewicht — wir hoffen, sie werden bloß
solche bleiben — die manche Beobachter und Forscher
über die Entwöhnung von der sittlichen und geistigen
202
Entschluf3kraft vorgebracht haben, wie sie das bürger-
liche Leben sogar täghch fordert und anregt, die aber der
gegenwärtige Krieg unterbinde, sowie über die Schwierig-
keit, ja zuweilen Unmöglichkeit des Wiederanpassens.
Inzwischen ist jedoch die Lage derer fast noch schlim-
mer, die daheim geblieben sind, um das Geschick ihrer
Heimatländer bangend, gemartert von der Sorge um das
Geschick ihrer Lieben oder verzweifelt über die Ver-
luste, die sie erlitten, gestört oder gehindert in ihrer ge-
wohnten Tätigkeit, jeden Augenblick in Gedanken auf
den Krieg zurückgleitend, und Jahre hindurch von
nichts anderem hörend und redend. Wohin sind die
von Verständnis leuchtenden Augen um uns, die war-
men Worte, die kühnen Pläne gekommen, das geist-
reiche Lachen, das wir in den Jahren hörten, von denen
uns ein Abgrund trennt? An ihrer Stelle sind ermüdete
Mienen, erloschene Augen, stumpfgewordener Verstand
getreten, die Bereitwilligkeit, jeden Klatsch, der erzählt
wird, jede noch so rohe und verdrehte Doktrin, die
fanatische oder unwissende Menschen vorbringen, für
bare Münze zu nehmen.
Diese Erwägungen — um vom Großen wieder aufs
Kleine zu kommen — rechtfertigen den von uns ge-
faßten Vorsatz, dafür zu sorgen, daß in unserem kleinen
Kreise der in der letzten Friedenszeit mühsam ange-
sponnene Faden nicht abreiße und verloren gehe, sowie
fortzufahren, für unser Teil zu arbeiten, sogar noch
angespannter als vorher, nämlich auf Rechnung auch
derjenigen unserer geistigen Genossen, die berufen wur-
den, ihre Soldatenpflicht dem Vaterlande gegenüber zu
erfüllen. In Zeitschriften und Büchern, nicht bloß ita-
lienischen, auch ausländischen, wurde gesagt, wir hätten
den italienischen Jünglingen geraten, sich keine Ge-
203
danken über den Krieg zu machen und während des-
selben „archäologische Bücher" zu schreiben; in Wahr-
heit haben wir aber vielmehr den Archäologen geraten,
Archäologie zu treiben und die archäologisch-politisch-
patriotischen Sendschreiben beiseite zu lassen, mit denen
man ein gar zu leichtfertiges Spiel zu treiben begonnen
hatte; desgleichen haben wir jedem geraten, seinen
Beruf weiter zu betreiben, so lange es ihm gestattet sei;
und diesen Rat haben wir ebenso uns selber gegeben
und ihn zur Tat zu machen gesucht. In alledem liegt
unserer Meinung nach nichts Anstößiges, noch weniger
Lächerliches. Wenn wir nach dem Kriege mit dem
übrigen auch das geistige Soll und Haben aufstellen
werden und in diesem etwas als unser Guthaben ge-
bucht werden wird, dürften wir uns ein Stück davon
zuschreiben und daraus berechtigte Genugtuung schöp-
fen können.
Wir haben aber von Anfang an auf einem anderen
Punkt bestanden; auf der entschiedenen, fortdauernden
Abwehr gegen etwas, das schlimmer als Erschlaffung
und geistiger Müßiggang ist, weil es nicht bloß alles,
was an Gutem und Nützlichem hervorgebracht wird,
vernachlässigt und verkommen läßt, sondern es un-
mittelbar angreift und zersetzt, ja selbst die schlum-
mernden Keime künftiger Ernten tötet. Wir spielen
damit auf einen Zustand an, der sich sogleich allent-
halben in Europa herausgebildet hat und auch in Italien
(hier freilich nicht mehr, denn anderswo) in Schwang
kam : die Wissenschaft selber in Trugschlüsse aufzulösen,
unter dem Vorwand, der Sache des Vaterlandes zu dienen.
Dem haben wir sogleich den goldenen Grundsatz ent-
gegengehalten : es sei pflichtgemäß alles dem Vaterland
zu geben, außer Sittlichkeit und Wahrheit, denn das
204
sind nicht Dinge, die den Einzelwesen gehören und über
die diese mithin nach Gutdünken verfügen dürfen. Um
dieses von uns durchaus nicht entdeckten, sondern bloß
in Erinnerung gebrachten unantastbaren Grundsatzes
halber wurden wir (auch diesmal nicht nur in ita-
lienischen, sondern auch in ausländischen Zeitungen und
Schriften) mit dem Verfasser des Jean- Christophe^ der
zum Verfasser des Au-dessus de la meUe geworden war,
in denselben Topf geworfen und dergleichen Rüge teil-
haftig. Allein niemals ist es uns in den Sinn gekommen,
uns „über das Handgemenge" im Sinne des trefflichen
Romain Rolland stellen zu wollen, der allen kämpfen-
den Völkern gegenüber als Bannstrahlschleuderer und
als Pädagoge der Gerechtigkeit auftritt, sie alle gleicher-
weise tadelt und liebt; vielmehr haben wir versucht, uns
„jenseits des Handgemenges" lediglich auf theoretisches
und wissenschaftliches Gebiet zu stellen oder vielmehr
dort zu verbleiben, denn Kunst und Wissenschaft sind,
soviel uns bisher bekannt geworden ist, gerade die beiden
Formen, in denen sich der menschliche Geist fortwäh-
rend der melee oder dem Gewirr des praktischen Seins
entwindet und sich ewig über sie erhebt.
Diese Abwehrstellung war um so dringender, als die
Wahrheiten, die in Italien und in den mit ihm verbün-
deten Ländern am schwersten verletzt wurden, gerade
diejenigen waren, die innerhalb der modernen Gesittung
von dem Volke, gegen das zu kämpfen uns obliegt, zur
Geltung gebracht worden waren; zur Geltung gebracht,
nicht etwa geschaffen, denn wenn irgendein Volk das
getan hat, so sind gerade wir Italiener in unserer großen
Zeit es gewesen. Wir brauchen hier nicht mehr im Aus-
zug zu wiederholen, was wir des öftern mit vielen Einzel-
heiten zur Unterstützung der „historischen" gegenüber
205
der „abstrakten" Politik und der geregelten gegen eine
abenteuernde Wissenschaft vorgebracht haben. Diese
doppelte Abwehr muß einen Rückschlag von Belei-
digungen und Verdächtigungen von Seite der Vielen
hervorrufen, die — eine alte Geschichte ! — aus der Ver-
wirrung Vorteil ziehen, um sich aufzuspielen „trag an t
des faux devoirs et frappant des vrais droits^\ wie der
Dichter sagt; allein es ist unnütz, von ihnen allzuviel
Aufhebens zu machen oder ihre so rasch verfliegenden
Worte zu behalten. Worum es sich einzig handelt, ist
zu untersuchen, ob unsere Behauptung richtig und,
weil richtig, auch wohltätig und heilsam sei; oder ob
wir in unserer Darlegung gefehlt und mit unserm Irr-
tum Schaden gestiftet haben, für den wir, gemäß der
von uns vertretenen Lehre, nicht in unserm guten Glau-
ben Entschuldigung suchen, sondern uns für sittlich
verantwortlich erklären werden. Wir beruhigen uns
in der Zuversicht, daß in näherer oder fernerer Zeit an-
erkannt werden wird, daß wir der Wahrheit gemäß
gesprochen und derart die vaterländische Pflicht erfüllt
haben, die uns aus Gründen unserer Zuständigkeit oblag.
Vielleicht brauchen wir nicht einmal den kommen-
den Tag zu erwarten, da, als erst vor wenig Wochen
ein Schrei der Entrüstung durch Italien ging, über die
Probe internationalen Rechtes, das heißt abstrakter
Politik, die ein paar einer gewissen Gemeinschaft an-
gehörige Italiener auf einer internationalen Zusammen-
kunft zum Schaden ihres Vaterlandes geliefert haben,
uns aus den Ereignissen selbst eine freiwillige und voll-
kommene Bestätigung wurde, gleicherweise auch von
denen uns zugebilligt, die in ihrem Nachdenken von
den Tatsachen zu den Theorien aufzusteigen pflegen.
Ein Hagel von Anklagen, Entgegnungen, Spottreden
206
ergoß sich über jene unseligen Sendboten der Humani-
tät und der internationalen Gerechtigkeit; derart, daß
unsere erste Regung sogar die war, für sie in die Schran-
ken zu treten, da es uns unbillig erschien, daß, wer von
falschen Voraussetzungen ausgeht, über diejenigen den
Stab breche, die von den nämlichen Voraussetzungen
her ihre logischen Folgerungen ziehen. Der Irrtum
jener Sektierer liegt nicht sowohl darin, daß sie ihre
phantastische Humanität über das Vaterland gesetzt
haben, denn darin handelten sie folgerichtig und das
verdient Lob, als darin, daß sie sich in einer Ideologie
wiegten, die im achtzehnten Jahrhundert, vor Napoleon,
ja sogar vor der französischen Revolution erlaubt war,
jetzt aber so veraltet und ungeeignet ist, als das ptole-
mäische System oder die Lehre von den vier Welt-
monarchien.
Lassen wir nun die Politik beiseite (von der wir immer
nur ungern und allein um jenes wenigen willen, das
philosophische Lehren und geschichtliche Auslegungen
zuläßt, sprechen) und bleiben wir vielmehr bei dem
Problem der Wissenschaft und der Bildung, so haben
alle in den letzten Zeiten dem Schauspiel der Auflösung
beigewohnt, von der Italien durch die Schulverord-
nungen bedroht wird, sowie den Angriffen, mit denen
man jenes Maß von wissenschaftlicher Zucht zu er-
schüttern begann, das nach den sechziger Jahren durch
die unablässigen Mühen von Forschern und Lehrern
aus allen Gegenden Italiens begründet worden war. Man
ist dazu gelangt, für die Lehrkanzeln der italienischen
Literatur an den Universitäten abermals der Dichtung
Beflissene vorzuschlagen und schon wagen sich die Lob-
redner ihrer leichtfertigen Geschichtsdarstellungen und
ihrer platten Philosophien hervor, die, in Italien unbe-
207
kannt, aber, wie sie sagen, „von der geistigen elite der
lateinischen Lande und Amerikas bewundert werden."
Gegen den Warnungsruf, den wir vor nunmehr zwei
Jahren erhoben, hat sich ein alterund überaus achtungs-
werter Philolog und Lehrer, auch seinerseits von un-
angebrachtem politischen Eifer ergriffen, gewendet,
indem er uns öffentlich vorwarf, wir vermöchten mit
unsern Ideen nicht einmal drei Soldaten gegen die Öster-
reicher ins Feuer zu führen ; gerade als ob wir Korporale
und nicht vielmehr Forscher wären, die sich nach Ver-
nunftgründen mit andern Forschern auseinandersetzen.
Allein, wenn jener Wackere bemerkt hat, wie sich im
Namen des Italienertums, der Deutschfeindlichkeit und
der lateinischen Geistigkeit Scharen von Angreifern,
wir sagen nicht gegen seine Person, wohl aber gegen
die Hochziele wissenschaftlichen Lebens, denen er sein
ganzes Leben gewidmet hat, erheben, so wird er, wenn
auch verspätet, unsern Warnungsruf ein wenig besser
verstehen und sich überzeugen, daß unsere Voraussicht
diesmal größer als die seine gewesen ist.
KRIEG UND BÜRGERTUM (Giornale d'Italia,
■ ly. September igiy), — Lieber Bergamini, erlauben Sie,
daß ich einmal, statt die Leser Ihrer Zeitschrift über
literarische Dinge zu unterhalten, von Politik spreche ?
Von Politik, die nicht streitbar und vielleicht selbst
Literatur ist . . .
Vor ein paar Wochen las ich ein Buch über die
moderne Geschichte Italiens, von einem österreichischen
Historiker [L. Hartmanri] herrührend — übrigens sehr
rücksichtsvoll gegen unser Land gehalten — und fand
darin den Satz: Italien werde „gegen die Minderheit,
die die Wiedererhebung gemacht und seine neueren
208
Geschicke gelenkt hat", von den Arbeitern, der sozia-
listischen Partei, dem „Volk" gerettet werden.
Nun habe ich gar nicht die Absicht, etwas zu sagen,
das wie eine Beleidigung Herrn Giolitti's aussehen
könnte, da ich den Grundsatz vertrete, Politiker könn-
ten, und sei es in schärfster Form, meinetwegen selbst
mit Beleidigungen durch andere Politiker bekämpft
werden, daß aber, wer außerhalb der werktätigen Politik
steht, nicht, wie es allzuoft geschieht, Schmähungen
gegen sie richten dürfe, die unbillig sind, weil sie von
Unverantwortlichen stammen.
Nichts demnach von Beleidigungen; aber es bleibt
Tatsache, daß ich beim Lesen des Buches jenes Öster-
reichers daran denken mußte, seine Auffassung sei im
Grunde die nämliche wie in der unlängst im Provinzial-
landtag von Cuneo gehaltenen Rede!
Dieses Zusammentreffen erschien mir als die schärfste
Kritik an jener Rede; denn — auch die besten Ab-
sichten des Redners zugegeben — es ist schwer, ihre
ungünstige Wirkung in den Unruhen von Turin und
der Gärung, die sich in andern Teilen Italiens zeigt,
zu verkennen.
Aber wie man von Gedanken zu Gedanken schweift,
so habe ich auch darüber nachgedacht, daß konservative
und liberale Zeitungen, einem sicher wohltuenden red-
nerischen Nachdruck Raum gebend, seit einiger Zeit
etwas schildern, das gar nicht vorhanden ist, und da-
durch Gefahr laufen, es in die Welt zu setzen (nämlich
seine schlimmen Folgen) : fast wie Balzac, der kraft der
* Beschreibungen, die er in seinen Romanen vom Haus-
rat bric-ä-brac entwarf, die Mode des bric-ä-brac her-
vorgebracht und damit den guten Geschmack unserer
Zeit sicherlich nicht gefördert hat.
14 Croce, Raudbemerkungen eines Philosophen 20Q
Dieses nicht Vorhandene läßt sich in einen Satz zu-
sammenfassen, der voll tiefen Sinnes zu sein vorgibt und
in Wirklichkeit abgeschmackt ist: — Den Krieg führen
die Landleute. Ich habe dies von Landleuten wieder-
holen gehört, nicht im Tone des Stolzes, sondern mit
Traurigkeit und Unmut, in dieser Gestalt: Nur wir
armen Teufel sind gut genug dazu, umgebracht zu
werden.
Will man mit diesem Satz aussprechen, daß im
kämpfenden Heere die Bauern an Zahl überwiegen, so
behauptet man etwas unzweifelhaft Richtiges, das aber
gar nichts besagt, weil, auch in Friedenszeiten, Bauern
und Handarbeiter die zahlenmäßige Mehrheit der Be-
völkerung ausmachen.
Will man aber vielmehr sagen, daß die Landleute
in den Krieg ziehen und die Bürgerlichen zu Hause
bleiben, so spricht man damit die Unwahrheit, denn
jeder von uns, die wir doch im großen und kleinen
Bürgertum, nicht unter Landvolk leben, sieht, wenn
er um sich blickt, alle seine Bekannten, Verwandten,
Freunde unter den Waffen, viele von ihnen gefallen,
verwundet, wegen ihrer Tapferkeit ausgezeichnet. Die
Tausende und aber Tausende von Offizieren, die dieser
Krieg erfordert, sind mit bewundernswerter Raschheit
vom Bürgertum, wie ich glaube, nicht vom Land-
volk gestellt worden ^).
Ebensowenig möge man gegen das Bürgertum die
Anschuldigung oder Beleidigung, es suche sich zu
„drücken", richten, denn man müßte darauf mit der
^) Hierzu bemerkt der italienische Herausgeber G. Castellano mit Recht,
die jetzt erscheinenden Statistiken über die Kriegsverluste aller kriegführenden
Länder zeigten, daß die verhältnismäßig höchsten Ziffern dem Bauern- und
Bürgerstand angehören, die geringeren jedoch den Arbeitern, die allenthalben
in weitem Ausmaße enthoben worden sind.
Z'IO
Aufforderung an die Militärbehörde antworten, so un-
erbittlich als möglich die „Drückeberger" auszuheben,
wo immer sie sich auch finden mögen, gleichzeitig
aber den Gendarmen und Polizisten empfehlen, mit
dem größten Eifer Ausreißer und Versteckte auszu-
forschen und dingfest zu machen, die, soviel ich weiß,
nicht bürgerlich zu sein pflegen. Mit andern Worten,
es genießt auch in dieser betrüblichen, vom Krieg un-
zertrennlichen und allen Ländern gemeinsamen Er-
scheinung kein gesellschaftlicher Stand das Vorrecht
der Lauterkeit. Die Sünder sind in jedem vertreten.
In diesem Ducken und Sichkleinmachen der bürger-
lichen Blätter vor Arbeitern und Landleuten ist eine
unbewußte Unterwerfung unter die Anmaßungen und
Überheblichkeiten, nicht etwa jener Volksklassen, die
kräftig und bescheiden sind, wohl aber ihrer Anführer
oder Verführer zu merken. Ich wollte, daß das italie-
nische Bürgertum zuweilen in sich die Kraft fände,
sich selbst Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, und
das mutige Wort auszusprechen, das der Historiker
Drumann, im Namen der deutschen Forscher und
Bürger zu den Massen, die sich damals mit dem Namen
der arbeitenden Klassen zu schmücken begannen, ge-
sagt hat: — die wahre Arbeiterklasse sind wir!
Erregt es auch diesmal Anstoß, daß ich damit fort-
fahre, Namen deutscher Schriftsteller anzuführen?
Möglich, daß mir dazu die Lust gewachsen ist, seit
man mir zumuten wollte, sie nicht mehr in den Mund
zu nehmen! Wie dem auch immer sei, ich wieder-
hole, was mit geringerer Rauheit des Ausdrucks, aber
größerer Anmut ein hervorragender französischer
Dichter, Alfred von Vigny, in seinen 1 847 verfaßten
Versen gesagt hat:
H' 2 1 I
Noriy non, il n*est pas vrat, que le peuple h tout äge
Lui seul ait travailUy lui seul ait combattu:
Que l^immolation, la force et la courage
N'halfitent pas un coeur de velours revkuy
Plus helle itait la vie et plus grande est sa perte
Plus pur est le calicey oü l^hostie est offerte ... —
Je mehr man die rednerische Übertreibung, die ich
erwähnt habe, aufputzt, verbreitet und festigt, desto
mehr erleichtert man den Wühlern das Zurechtmachen
eines ihrer beliebten gefühlsmäßigen Trugschlüsse:
„Den Krieg haben die Bürgerlichen gewollt, aber sie
lassen ihn von den Bauern, die ihn nicht wollten, führen" .
Als ob etwas Absonderliches oder Unsittliches darin
läge, daß die sorgenvolle Bekümmernis und die schwere
Verantwortlichkeit, über den Krieg schlüssig zu werden,
leider den gebildeten und leitenden Klassen zugefallen
ist, die auf diese Art zweimal die Rechnung bezahlen,
das eine Mal mit dem Gehirn, das zweite Mal mit
dem Einsatz ihrer Person. Den übrigen Klassen fällt
hingegen bloß die Ausführung und die Pflicht, aus-
zuharren, zu: Dinge von höchster Wichtigkeit und
edelster Art, aber etwas weniger sturmvoll und quälend,
denn Gehorchen ist pflichtgemäß, aber auch viel ein-
facher und beruhigender als Befehlen.
Entschuldigen Sie diese Plauderei, lieber Bergamini;
bevor ich mich von Ihnen verabschiede, lassen Sie mich
noch hinzufügen, daß ich durchaus keine Furcht vor
irgendeiner grundstürzenden Reform habe, die die
wirtschaftliche Wohlfahrt, die geistige Kultur und
das bürgerliche und vaterländische Bewußtsein unserer
wackern Landleute vermehrt. Wohl aber empfinde
ich große Furcht vor rednerischem Wortschwall, der
geistlos nachgeplappert, den Weg zu stumpfer Ergebung
ebnet und Werte und Zuständigkeiten, die sich müh-
212
sam in der Geschichte herausgebildet haben, zugunsten
von elementaren, anfängermäßigen oder noch unrei-
fen Werten und Zuständigkeiten herabdrückt. Eine
Furcht, die freilich, wie ich gestehe, sich etwas vermindert
hat seit der großen, uns durch Rußland geleisteten Unter-
stützung — ich meine damit nicht die Waffenhilfe vom
Frühjahr 1916, als Vergeltung für die unsere vom
Frühjahr 1 9 1 5, und von uns abermals im Sommer 1 9 17
geleistet, sondern dadurch, daß es uns in einem furcht-
baren Beispiel gezeigt hat, wohin die Umkehrung der
gesellschaftlichen Werte führe. Ich glaube, daß dieses
Beispiel selbst auf die italienischen Sozialisten seine
Wirkung nicht verfehlen wird, die, was man auch von
ihnen sagen mag, dennoch ebenfalls Italiener sind, das
heißt einem durch jahrhundertelange Erfahrungen ge-
läuterten und bedächtig gemachten Volke angehören,
und die, wie ich glauben möchte, es für keinen Ehren-
titel halten würden, „Mitglieder des Sowjet" genannt
zu werden.
DER KRIEG ITALIENS, DAS HEER UND
DER SOZIALISMUS (Giornale d'Italia, Sept. 1917^)
— Ich muß damit beginnen, den Lesern ins Gedächt-
nis zurückzurufen, daß ich mich in Wahrheit nicht
für würdig halte, in den Versammlungen zu sitzen, die
die sogenannten „Interventionisten" noch im dritten
Kriegsjahre einberufen, denn vor unserer Kriegs-
erklärung war ich offenkundig „deutschfreundlich",
wie man damals sagte, oder „Anhänger des Dreibunds".
Ebenso muß ich in Erinnerung bringen, daß ich während
des Krieges fortgefahren habe und noch fortfahre in
Schutz zu nehmen, was an Wahrem und Gesundem
1) Ursprünglich wegen der Ereignisse im Herbst 1917 unterdrückt.
in deutscher Wissenschaft und deutschem Brauche
liegt: ich habe deshalb von den meisten Tadel, aber
von den w^enigen, an die ich allein meine Worte richtete,
Lob erfahren, und verharre auch heute noch trotz aller
Schmähungen (die sich übrigens seitdem merklich ver-
ringert haben) bei dieser Haltung, die ich für würdig
und kraftsteigernd halte; — und ich vermag das mit
ruhigem Gewissen zu tun, weil es mir niemals in den
Sinn gekommen ist, irgendwer könnte im Ernst an
dem tiefen undeifersüchtigen Vaterlandsgefühl jemandes
zweifeln, der nicht bloß die Ehre hat, dem Senat des
Königsreiches anzugehören, sondern vor allem auch
italienischer Schriftsteller war und ist. Meine drei-
bündlerischen Neigungen waren schon, wie es natür-
lich ist, mit der Kriegserklärung im Mai 19 15 über-
holt; seit damals habe ich mich von ihnen verab-
schiedet, wie man es mit so vielen Dingen tut, die in
den Schatten der Vergangenheit zurücktreten und die
man niemals mehr erblicken wird.
Man verzeihe mir diese persönlichen Bemerkungen,
da sie einerseits dazu dienen, ebenso niedrige wie nicht
zu rechtfertigende Anwürfe hintanzuhalten, anderseits
vielleicht das bekräftigen, was ich zu sagen habe.
Wer die italienische Geschichte durchforscht hat,
um über die oberflächlichen und herkömmlichen
Kenntnisse, die einem die Schule vermittelt, hinaus-
zugelangen, weiß, daß einer der ältesten und fast der
einzige Vorwurf, der den Italienern von den andern
Völkern Europas, besonders Franzosen und Deutschen,
gemacht worden ist, der war, „unkriegerisch" zu sein.
Dieses Urteil bildete sich hauptsächlich zu Ende des
fünfzehnten Jahrhunderts, dank der schwachen oder
214
gar nicht vorhandenen Abwehr gegen die Fremden
bei ihrem Herabsteigen in unser Land, das ihr Schlacht-
feld wurde; aber vorausdeutende Zeichen finden sich
bereits im Mittelalter, als unter anderem die Fabel vom
„Lombarden und der Schnecke" in Europa verbreitet
war und die harten, eisenklirrenden Lehnsherren von
jenseits der Alpen die italienischen Bürger verachteten,
„die erst seit gestern — den üblen Fettwanst gürteten
mit ritterlicher Wehr". Dieser Vorwurf konnte auch
nicht durch das Schauspiel verwischt werden, das die
Italiener in dem neuen französischen Einbruch, nicht
mehr königlicher, sondern republikanischer Truppen,
zu Ende des achtzehnten Jahrhunderts und in den Er-
eignissen der Restaurationszeit darboten; und er wurde
ebenso nur wenig gemildert durch die nicht immer
einträchtigen, widerstandskräftigen oder vom Glück be-
günstigten Kämpfe unserer Wiedererhebung.
Wie peinlich dieser Vorwurf empfunden wurde, das
beweisen die überaus zahlreichen Schriften, die besonders
zwischen 1830 und 1848 ihn zu entkräften unternahmen,
indem sie die leuchtenden Beispiele italienischen Kriegs-
ruhms vorüberziehen ließen, im Zeitraum der mittel-
alterlichen Stadtgemeinden, in der Renaissance und
ganz besonders in der jüngstvergangenen napoleonischen
Zeit. Ich hatte Gelegenheit, mich mit diesem Feder-
krieg zu beschäftigen, als ich die Geschichte der ita-
lienischen Historiographie im neunzehnten Jahrhundert
verfolgte; allein es wäre ganz nützlich, wenn jemand
eine eigene Abhandlung darüber schriebe, um den
Stoff von allen seinen verschiedenen und belehrenden
Ansichten her zu beleuchten.
Trotzdem wirkten diese Streitschriften nicht über-
zeugend und brachten die Frage nicht zum Abschluß.
21S
Weshalb? Weil sie sich allzu wörtlich an die Aus-
sprüche der Angreifer und Spötter hielten und jenen
Vorwurf als einen Vorwurf natürlicher Unfähig-
keit, der äem italienischen Volke gemacht wurde,
auffaßten; so verstanden, war er offensichtlich eine
Albernheit. Albern und leicht zu widerlegen, so wie
denn ein alter napoleonischer Offizier und Verfasser
geschichtlicher Darstellungen, Luigi Blanch, geant-
wortet hat, kein Mensch, und noch viel weniger ein
ganzes Volk sei unfähig, das Leben um irgendeines
Beweggrundes, der zu seinem Herzen spräche, aufs
Spiel zu setzen. Und die Italiener waren in der Tat
dessen so wenig unfähig, daß kein Volk jemals so be-
reit schien wie sie, das Leben, außerhalb der eigentlich
militärischen Kämpfe, täglich wegzuwerfen : die italie-
nischen Chroniken des siebzehnten Jahrhunderts, also
der Zeit, in der die militärische Tüchtigkeit Italiens
sich auf der tiefsten Stufe befand, bringen auf jeder
Seite Nachrichten von wilden Streitigkeiten, von Zwei-
kämpfen und Handgemengen, zwischen Einzelnen
und Parteien, und erwecken die Vorstellung von einem
Italien, in dem Tag für Tag das Blut durch Stadt und
Land floß. Die Zweikämpfe der Adelsherren wurden
damals in „Compagnien" ausgefochten, das heißt jeder
pflegte seine Freunde mit sich zu führen, damit man
sich aus den nichtigsten Gründen das Lebenslicht
ausblasen könne. Noch gewalttätiger waren die
Volksmassen und das Landvolk. Das war also alles
andere eher denn Anhänglichkeit an das Leben! Es
scheint vielmehr, daß dieses damals recht niedrig im
Werte stand, und man könnte auf jene Zeugnisse das
Gesetz der Erfahrung — noch durch andere Beobach-
tungen gestützt - gründen, daß der geringern mili-
216
tärischen Tüchtigkeit einer Gesellschaft eine größere
Neigung zu Bluttaten entspreche, und umgekehrt.
Deshalb hat auch Marat in einer seiner Ansprachen
dem Wunsch Ausdruck gegeben, bloß „dreihundert
Neapolitaner, mit nackten Armen, bewaffnet mit
Dolchen", um sich zu haben, um die Revolution in
Frankreich endgültig zum Siege zu bringen.
Jedoch in seinem versteckten und tiefen Sinn ver-
standen, v^ar der Vorwurf richtig und unwiderlegbar.
Insofern er nämlich, in anderer Form, aussagte, daß
den Italienern der Zusammenhang mit einem starken
Staatsgebilde, dessen Ausdruck die militärische Tüch-
tigkeit ist, gefehlt habe. Die Beispiele selbst, die gegen
ihn ins Treffen geführt worden waren, hatten nur den
Wert von Ausnahmen, die die Regel bestätigen: das
heißt, sie zeigten, daß stets, wenn es in Italien einen
starken Staat gegeben hatte (zum Beispiel jenen des
Hauses Savoyen), ein Gefühl nationalen Stolzes, oder
zum wenigsten einen Innungsgeist, man sich vortreff-
lich geschlagen hatte. 1798—99 flüchtete das neapoli-
tanische Heer beim ersten Zusammenstoß mit den
Franzosen; allein wenige Wochen später bildeten sich
überall bewaffnete Banden, die auf die Franzosen und
Jakobiner Jagd machten und nach einigen Monaten
unausgesetzten Kampfes die Oberhand behielten. „Wie
geht das zu?" fragte verwundert einer der französischen
Heerführer, Thiebault (ich schreibe an einem Orte,
wo mir keine Bücher zur Hand sind und ich mich
auf mein Gedächtnis verlassen muß), „diese Neapoli-
taner laufen davon, wenn sie Uniform tragen, und
kämpfen, wenn sie sie weggeworfen haben." Ein
Rätsel, dessen Lösung leicht ist: der Feldzug der Jahre
217
1798—99 ^^^ einer Berechnung der Kabinette ent-
sprungen, war geführt mit einem ansehnhchen Heer
unerfahrener Rekruten, von einem österreichischen
Theoretiker befehhgt (demselben, der sich später von
Napoleon in Ulm einschließen ließ) und vorausbe-
stimmt, zu mißglücken ; w^ährend jene Banden unter dem
Antrieb des Hasses gegen die Fremden und zur Ver-
teidigung von Religion und König aufstanden: zwei
gewaltige Mächte im katholischen und monarchisch
gesinnten Süden Italiens. Ich könnte diese Anekdoten
und die aus ihnen sich ergebenden Betrachtungen leicht
vervielfachen; allein ich überlasse das demjenigen, der
einmal jene Monographie schreiben wird, deren Stoff
ich oben bezeichnet habe.
Nun wohl: was bewirkt das italienische Heer, das
jetzt unter der kräftigen und klugen Leitung des Gene-
rals Cadorna kämpft.?^) Nichts Geringeres als dies: es
ist im Begriff, das italienische Volk endgültig
von einem fünfzehn Jahrhunderte alten Vor-
wurf zu reinigen. Es beweist nämlich mit der Tat,
daß dieses italienische Volk nunmehr seine nationale
und politische Einheit erreicht hat, dessen Ausdruck
die Stärke des Heeres ist.
Es genügt, meine ich, diesen Sinn des gegenwärtigen
Krieges darzulegen, um jedem vernünftigen Menschen,
jedem gesunden Gemüte den überaus hohen Wert des
Werkes, das sich vollendet, klarzumachen, dem gegen-
über kein Opfer jemals groß genug, kein Ausharren
wenig lohnend wird genannt werden können, und keine
1) Ich habe hier das Urteil wiedergegeben, das damals in aller Mund
war; und ich lasse jetzt diese Worte (obwohl sie bis jetzt unveröffentlicht
sind) unverändert, weil es mir scheint, ich würde mich, wollte ich sie jetzt
ändern, einer, ich weiß nicht zu sagen, ob großen oder kleinen Feigheit
schuldig machen. (Anmerkung Croces.)
2t8
im Bereich der Möglichkeit liegende Schwäche jemals
von der Schuld eines echten und rechten Verrats an
den höchsten nationalen Gütern wird reinzuwaschen
sein. Angenommen auch, daß der gegenwärtige Krieg
kein anderes Ergebnis für uns haben sollte, als daß wir
den andern Völkern der Welt mit erhobener Stirn, von
Gleichen zu Gleichen, ins Auge werden blicken können,
so würde der Gewinn, nicht nur der sittliche allein, auch
der politische ungeheuer sein. Die künftigen Ge-
schlechter werden immerdar das Geschlecht segnen,
das dies erstrebt und erreicht hat, so wie wir jene segnen,
die mit ihren Anstrengungen, ihrem Märtyrertum, ihrem
Blute Italien die Freiheit und Unabhängigkeit ge-
schenkt haben. So abgebraucht diese Worte ins Ohr
klingen mögen, in ihnen ist nichts von der Armut des
Gefühls, die sich in fadenscheinige Redensarten hüllt;
mir, dem einfachen Philosophen und Kritiker, begegnet
es im Verlauf meiner Forschungen sehr oft, daß ich
mir sagen muß : kann ich das schreiben, was ich denke,
kann ich mich mit so vielen freien Geistern Italiens,
Europas und anderer Teile der Welt verbunden und
verbrüdert fühlen, so schulde ich das denjenigen, die
hundertachtzehn Jahre früher, in meinem Neapel, unter
dem grinsenden Hohn des Pöbels, auf dem Markt-
platze den Tod am Galgen erlitten haben. Und darum
ehre und segne ich sie.
Indessen gibt es heute eine politische Partei in
mannigfachen Abstufungen — der Kürze wegen will
ich sie die sozialistische nennen — die spöttisch die
Achseln zuckt und derartige Gefühle und Be-
geisterungen als schlauen Betrug oder als naive Täu-
schung verhöhnt; sie hat den Vorsatz, das Menschen-
2ig
geschlecht, voran Itahen, von den Einbildungen über
militärische Ehre und Ruhm zu heilen, setzt darum
das große Werk, das sich unter unsern Augen vollzieht,
herab oder befehdet es. Ich möchte die gebildeten und
vernünftig urteilenden Sozialisten fragen — es sind deren
viel mehr, als man glaubt, nur erscheinen sie w^enige,
v^eil ihr Mut nicht so groß ist, daß sie laut die Folgen
ihrer Ervv^ägungen bekennen v^rürden — ob sie v^irklich
meinen, daß der Sozialismus (gesetzt den Fall, sein
Ideal gesellschaftlicher Ordnung v\rerde eines Tages
verw^irklicht) der Macht des Staates v^irklich entraten
könnte, und w^äre es auch des Proletarierstaates, mit
dem zugehörigen Heere, der Manneszucht, Rang-
stufung, dem Ehrgefühle, militärischen Überlieferungen
und Ruhmestaten, mit Belohnungen und Strafen und
allen sonstigen notwrendigen Dingen. Welche Wunder
man auch vom Sozialismus zu erw^arten geneigt ist,
das eine vvrird man doch von ihm nicht erwarten wollen,
daß er die Gestalt der Erden und Meere ändere, die
ethischen und geschichtlichen Merkmale der ver-
schiedenen Bevölkerungen, den gegensätzlichen Anteil,
der sich daraus ergibt und dessen schwanker Aufbau
immer entweder durch den Kampf oder die gegen-
seitige Furcht gegeben sein wird. Es gehört die wunder-
same Kindlichkeit der russischen Sozialisten dazu, um
sich ein Heer zu denken, das durch den Odem demo-
kratischer Predigten festen Zusammenhalt empfangen
und kämpfen soll; es gehört ihre in Wahrheit unge-
heuerliche Unkenntnis dazu, um als Stütze dafür das
Beispiel der französischen Freiwilligen von 1793 an-
zuführen, während jeder mäßige Kenner französischer
Geschichte weiß, daß diese Freiwilligen zuerst die
Probe recht übel bestanden haben und daß es strengster
2-20
Manneszucht bedurfte, um sie in das alte republi-
kanische Heer einzugliedern, dessen Siege größtenteils
den militärischen Einrichtungen des abgeschafften
Königtums verdankt wurden.
Was, glaubt man wohl, erregt so viel Furcht und
so viel Widerstand dem Sozialismus gegenüber? Etwa
die Störung der sogenannten privaten Interessen? Allein
jedermann weiß, daß es geschworene Antisozialisten
ohne einen Heller in der Tasche gibt, wie Sozialisten und
dem Sozialismus Zugeneigte, die Millionäre sind. Der
Mensch wird viel mehr, als man gemeiniglich glaubt,
von idealen und geistigen Beweggründen getrieben, die
von seinen unmittelbaren und persönlichen Interessen
unabhängig sind. Störungen dieser Interessen, und mehr
oder weniger ausgebreitete Umstürze gesellschaftlicher
Klassen ereignen sich fortwährend, durch den Bruch
eines Handelsvertrags, durch einen gewerblichen Um-
schwung, ja selbst durch ein Kerbtier, die Reblaus oder
die Ölfliege, und trotzdem zittert man deshalb nicht.
Was aber tatsächlich Abscheu und Schrecken erregt,
ist der Gedanke an politische Schwächung, gesell-
schaftliche Auflösung, Anarchie, an die Gemeinheit,
die blutdürstig und grausam wird, und nach alledem
an die mühselige Rückkehr zu den früheren Verhält-
nissen, unter allgemeiner Schädigung und Beschämung,
oder zuweilen der besondern jener Klasse, die übel-
beraten versucht hatte, sich auf Kosten des staatlichen
Lebensgefühls zu erhöhen. Die antimilitaristischen
Sozialisten müssen die zwei einzigen selbständigen
Denker, die der Sozialismus gehabt hat, Karl Marx
und Georg Sorel, sehr wenig und oberflächlich kennen,
beide erfüllt von kriegerischem und in gewissem Sinne
konservativem Geiste: Beweis dafür die große Ver-
221
wunderung, die es erregt hat, als man jüngst erfuhr,
wie Marx zuzeiten fast wie ein MiUtarist und All-
deutscher gesprochen hat. Jene aber sind unüberlegte
und leichtsinnige Sozialisten, und es bleibt ihnen nichts
anderes übrig — ist ihr Herz besser denn ihr Kopf — als
in aller Hast Leid und Reue zu erwecken, wie es
Herrn Herve gegangen ist.
Es sind nun sieben Jahre her, also lange vor dem
Krieg, da legte ich die Gründe dar, weshalb die sozia-
listische Bewegung, allenthalben in die nationalen Be-
wegungen aufgegangen, versagt und enttäuscht habe;,
ich brachte unter anderem als Beweis dafür die Ver-
schmelzung der deutschen Sozialisten mit dem deut-
schen Reich, die seither durch den Krieg ihre Bestätigung
gefunden hat. Allein, da alle Vorhersagen nur mäßigen
Wert haben, will ich auch der meinen nur einen solchen
zubilligen und will für einen Augenblick die entgegen-
gesetzte Annahme aufstellen, das heißt die des mehr
oder weniger nahen Sieges des Sozialismus, wohlver-
standen, seines dauernden, nicht etwa vorübergehenden.
Unter welchen Umständen wird er in Italien tatsäch-
lich und dauerhaft sein? Bloß dann, wenn jene mili-
tärische Kraft, die einst den lombardischen Adel, die
venezianischen Patrizier, die Bürger von Florenz und
ich möchte selbst sagen, die Neapolitaner beseelte, die
bei Velletri die Österreicher schlugen, sich in großen
Mengen gegen die Franzosen waffneten, 1848 ihren
Königen Sizilien zurückgewannen und sie nicht ohne
Ehren in Gaeta verteidigten — jene militärische und
politische Kraft, die sich mit den liberalen und nationalen
Ideen vermählend, 1 859 und 1 860 die Waffen des neuen
Italien zur Geltung brachte und die heute, um so viel
Z22
größer geworden durch die Teilnahme der gesamten
Nation unsere Grenzen deckt und ins feindliche Gebiet
vorrückt — wenn diese unversehrt, ja erhöht an die neuen
sozialen Klassen übergeht. Dann werden diese sich in der
Tat als reif erweisen, die Zügel des Staates zu übernehmen;
die nationale Ehre, Kultur, Gesittung, die Intelligenz,
die von einer langen Geschichte hervorgebrachten
Werte werden dann in neue, aber gute Hände gelegt
sein, und jedes großmütige Herz wird dann nicht um
die erbärmlichen und vergänglichen „Privatinteressen"
(diese dann vielmehr „herabgesunken" zu Privat-
interessen) klagen, die geopfert werden können, genau
so wie sie alle Tage, aus verschiedenen Ursachen, ge-
opfert werden. Diese leitenden Klassen der Zukunft
werden mithin nur so weit Kraft besitzen, als sie die
politische und militärische Erbschaft des Heeres, das
jetzt um Italiens Geschicke kämpft, anzutreten wissen
werden ; und ich vermag, mich mit der größten Sach-
lichkeit, wie ich oben getan, auf die Seite des Sozialis-
mus stellend, nicht zu verstehen, wie die Sozialisten
jetzt nur wünschen oder versuchen können, ein Erb-
teil an Kraft zu zerstören, das anzutreten sie trachten
sollten, und das sie darum vielmehr zu verteidigen und
zu vermehren bestrebt sein müßten. Allein, die Toren
glauben stets, daß Gesellschaft und Welt ein weicher
Teig seien, den sie nach ihrer Weise von ihren kleinen
Gehirnen her und mit ihren ungeschickten Fingern
umkneten und herrichten können !
NOCH ETWAS ÜBER DIE PHILOSOPHIE
DER POLITIK (Critica XVI, März 1918). - Ich
will, wie schon gesagt, nicht mehr auf den Begriff des
Staates als Macht zurückkommen, weil man wissen-
223
schaftlichen Wahrheiten zuweilen einen üblen Dienst
leistet, wenn man sie allzusehr verteidigt. Sind sie ein-
mal aufgestellt und verteidigt worden, so muß man ihren
Leugnern gegenüber die Achseln zucken und zum
Maccaronilatein : Quivult c apere capiat oder zum scho-
lastischen: Scientia non habet inimicum praeter igno-
rantem greifen. So pflegen wir es längst bei denen zu
tun, die aufs neue fordern, die Poesie solle sich von der
Sittenlehre leiten lassen ; und so wollen wir es von nun
ab auch mit der Politik halten, die, um Worte Vicos
in unserer Weise anzuwenden, „eine in gewissem
Sinne tatsächliche Poesie" ist; glauben andere jedoch,
daß eine garstige Dichtung durch den klugen sittlichen
Vorsatz, der sie eingegeben hat, gefechtfertigt werde,
oder die üble Politik eines Staatsmannes durch die edle
Idealität der Gerechtigkeit, der sie entsprang, ent-
schuldigt werden müsse, und sehen sie nicht ein, daß
dieser Staatsmann oder jener Dichter sich vielmehr
gegen ihre nächsten und genau bestimmten Pflichten
schwer versündigt haben, nun so ist das ihre Sache,
und sie mögen in ihrer Torheit verharren. Ich habe
vordem versucht, das Wort: „Macht", das so viel
Schrecken erregt, weil es die — bei geistig Schwachen
immer sehr lebhafte — Einbildungskraft aufregt, mit
„Tüchtigkeit" zu übersetzen, und zu zeigen, daß die
Fähigkeiten nicht erkannt und erwählt werden können,
falls man sie nicht miteinander kämpfen läßt; aber es
ist verlorene Mühe! Um so mehr als (während sich in
Sachen der Poesie doch zuweilen einer findet, der sich
für unzuständig erklärt und schweigt) in Sachen der
Politik „jeder seine Meinung hat" , auch die Vielen,
die gar nicht wert sind, eine zu haben, da sie nicht im-
stande sind, sich eine solche zu bilden; besonders die
224
Freimaurerei ist ein großer Kramladen von „Über-
zeugungen", die zu volkstümlichen Preisen erworben
werden können und nicht mehr und nicht weniger
wert sind als sie kosten. Nur von einem Gesichtspunkt
aus können derartige „Ansichten" ernst genommen
werden, nämlich insofern sie die Gemüter der Vielen,
der Überzahl beherrschen; sie bilden auf diese Weise
einen Sturzbach, eine Masse, eine Lawine von Un-
wissenheit, die aber eine Tatsache gleich andern ist,
ein Schwergewicht, das man ohne Zweifel in Rech-
nung ziehen muß. Allein derartige Rechnungen auf-
zustellen, ist Sache des Politikers, der sich dieser auf
ihm lastenden Masse oder diesem Gewicht, das sich
an seine Füße hängt, gegenüber findet; nicht des Kri-
tikers, der das Ungetüm umkreist, es anstaunt, aber nicht
zu ihm spricht, weil er sehr wohl weiß, daß er selbst
nur einen Mund, jenes aber tausend Mäuler hat, und
daß mithin die Unterredung mit ihm nicht zum Zwie-
gespräch werden kann. Sagt man aber, die moralisti-
schen Theorien der Politik seien immerhin eine Reli-
gion des Trostes für die besiegten, unterdrückten,
schwachen und kleinen Völker, oder das politische
Auskunftsmittel für solche, die die erworbene Macht
zu behaupten suchen, indem sie dieser eine heuchle-
rische, aber glänzende und darum nützliche Recht-
fertigung geben, so möchte ich antworten, daß die
ersten, statt sich mit jener falschen Religion zu trösten,
besser daran täten, sich zu kräftigen und dauerhafte
Bündnisse zu schließen, die andern aber, statt sich auf
die über die Welt verbreitete Unwissenheit zu ver-
lassen, vielmehr bedenken sollten, daß man mit Aus-
kunftsmitteln wohl einen augenblicklichen, aber sehr
gefährlichen Vorteil erzielt und man mit ihnen über
15 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 22 C
das Nächste hinweg kommt, aber keineswegs zu leben
vermag.
DAS VORURTEIL VOM „BESTEN STAAT«
[März igi8). — Der moralistische oder demokratische
Irrtum (wie man ihn auch nach denen, die ihn be-
sonders hätscheln, nennen könnte) in der Wissenschaft
der Politik ist sicherlich einer der gewöhnlichsten ; ver-
zichte ich hier auch darauf, ihn noch einmal zu wider-
legen, so möchte ich trotzdem auf zwei ebenfalls recht
eingewurzelte Irrtümer hinweisen, von deren einem
sich ein schwacher Widerschein selbst in Treitschkes
Politik bemerkbar macht; in einem Buche, das kürz-
lich ins Italienische übersetzt wurde und dessen Le-
sung und Ergründung nicht nachdrücklich genug emp-
fohlen werden kann, so viel enthält es an Lebensweis-
heit, dargelegt in einfacher und gedrängter Form. Es
handelt sich dabei um ein sehr altes Vorurteil, ob es
nämlich möglich sei, die beste politische Form, den
„besten Staat" bestimmen zu können, der die größten
Vorteile der übrigen Formen sämtlich mit den gering-
sten Nachteilen in sich vereinige: diese Form ist für
zahlreiche Publizisten des neunzehnten Jahrhunderts
die verfassungsmäßige und parlamentarische Monar-
chie gewesen, fürTreitschke wohl auch die verfassungs-
mäßige, aber nicht parlamentarische Monarchie preu-
ßischen Gepräges. Dagegen muß erinnert werden, daß
politische Formen überhaupt nicht bestehen, sondern
einfach Gedankenbauten der Theoretiker sind, und
daß, was in Wirklichkeit besteht, die geschichtliche
Tatsache ist, das heißt Formen, die nicht mehr ein-
fache Formen sind, sondern Völker in bestimmten
Augenblicken ihres Lebens, mit bestimmten Reli-
226
gionen und Philosophien, bestimmten praktischen und
sittlichen Zielen, bestimmten Überlieferungen, in be-
stimmten internationalen oder Weltlagen; daher sich
alles, was man zugunsten oder zuungunsten der
Form sagt, in der Tat immer auf diese bestimmte und
festumschriebene geschichtliche Wirklichkeit bezieht.
Die wissenschaftliche Folgerung ist demnach, daß,
wenn jemand auf diesem Wege zu einer allgemeinen
Wahrheit zu gelangen vermeint, er höchstens zu einer
besondern gelangt, nämlich, daß ein gegebenes Volk
in einem gegebenen Zeiträume gedeiht und die andern
überflügelt; erhebt man aber diese besondere Wahr-
heit zu einer allgemeinen, so öffnet man den so oft
verworfenen politischen Utopien Tür und Tor, die
nicht nur darin bestehen, daß man vollkommene Staats-
wesen außerhalb des geschichtlichen Verlaufs und un-
abhängig von ihm ohne Änderung beharrend oder be-
stimmt, ihn mit einem paradiesischen Dauerzustand
abzuschließen, feststellt, sondern auch darin, daß man
aus der Geschichte zufällige Formen absondert und
sie für unbedingt ausgibt. Daher stammen die un-
überlegten Nachahmungen von politischen Formen
fremder Völker oder solcher, die durch ein ruhmvolles
politisches Leben ausgezeichnet sind: Nachahmungen,
die namentlich im Zeitalter der französischen Revo-
lution mitunter zu Zerrbildern entarteten, und die,
gleichviel ob in ansehnlicher oder in verzerrter Auf-
machung, immer auf der trügerischen Annahme ruhten,
daß es, um Wirkungen hervorzubringen, denen ähn-
lich, die sich in einem gegebenen Fall eingestellt haben,
genüge, sich ein paar in jenem Fall an der Oberfläche
beobachtete Verhaltungsweisen anzueignen : gerade so
wie es die Petrarchisten mit der Dichtung Petrarcas
15» _ 227
oder die Raffaeliten mit Raffaels Malerei gemacht
haben, und wie es die Professoren in allen möglichen
Weltteilen mit der deutschen Philologie zu tun ge-
wohnt waren. Wer sich die nötige geistige Freiheit be-
wahrt, wer vorurteilslos zu sein versteht, gibt sich
keiner Täuschung darüber hin, als ob heilsame Formen
oder Staaten, die dauerndes Gleichgewicht erreicht
hätten, bestünden, sondern schärft sein Auge, um die
wirklich tätigen Kräfte zu entdecken und damit die
wirklichen Möglichkeiten für ein bestimmtes Volk in
einem bestimmten Zeitpunkt ; und wenn beispielsweise
für dieses Volk oder diesen Zeitpunkt die wirksamste
Lebensform in die Erscheinung tritt, mit der Repu-
blik, ja selbst mit dem Sozialismus, so wird er in diesen
Formen den besten Staat begrüßen, den besten, weil
die besten Kräfte ihm Leben verleihen und ihn tragen,
und weil die Geschichte uns niemals andere „beste"
Staaten als die derart entstandenen und erhaltenen vor
Augen geführt hat, so mannigfaltig auch ihre äußeren
Züge gewesen sein mögen. Mit andern Worten : die
Aufgabe des Politikers wird immer und einzig die sein,
die Fülle des Lebens zu fördern, gleichviel, woher sie
stammt, und stets und überall die Rückschrittlichen
und Fortschrittsfeinde zu bekämpfen, seien sie Adels-
oder Arbeiterklassen, Monarchisten oder Republikaner,
Sozialisten oder Anarchisten, die ja sämtlich, von Fall
zu Fall, zu Rückschrittlichen oder Fortschrittsfeinden
werden können, geradeso wie ein Anhänger der unbe-
schränkten Monarchie mitunter ein Fortschrittsmann
und Revolutionär sein kann. Zu dem Vorurteil über
den Wert gewisser, abstrakt genommener, politischer
Formen gesellt sich mithin jenes andere über den fort-
schrittlichen Charakter gewisser Parteien und den
228
rückschrittlichen anderer, während in der wirklichen
Geschichte dergleichen Charaktere häufig die Rollen
tauschen und einander ablösen ; ebenso kann ein Staat,
dem Anscheine nach, im Vergleich zu andern, die
den höchsten Grad der Verfeinerung erreicht haben,
sehr wohl fortschrittlich sein, beispielsweise Rom ge-
genüber den griechischen Städten Italiens und Siziliens,
oder die germanischen Völker gegenüber den römi-
schen Bürgern der späten Kaiserzeit.
DAS VORURTEIL VON DER GRÖSSE DER
VÖLKER {März 1918). - Hat nun der Politiker
dieses Amt, so kann sein Hauptziel nicht darin be-
stehen, die Größe und den Ruhm eines Volkes aufzu-
richten ; denn diese Dinge entstehen und werden nicht
künstlich gemacht. In der Tat nennt man Größe eines
Volkes die Rolle, die es als Vorbild und Führer für
andere innehat, als Vertreter jener Form der Gesittung,
die zu einer bestimmten Zeit die höchste ist. Nun
liegt aber diese Rolle fallweise in den Händen der ver-
schiedensten Völker und keines hat sie jemals so fest-
zuhalten vermocht, daß sie ihm für immer verblieben
wäre ; vielmehr ist die höchste erreichte Stufe der Vor-
herrschaft fast immer der Vorläufer nahen Abstiegs
gewesen. Welchem Volke sie in der nächsten Zukunft
zufallen oder ob sie unter verschiedene aufgeteilt wer-
den wird, das ist das religiöse Mysterium der Ge-
schichte, das Geheimnis der Vorsehung: jener Vor-
sehung, die in einem gegebenen Augenblick bei dem
Volke oder den Völkern, die sie erkoren hat, etwas wie
eine wundersame Harmonie zwischen Gedanken und
Tat, zwischen Gesellschaft und Staat, zwischen den
verschiedenen Klassen herstellt, den Massen die Führer
229
gibt, den auszuführenden Werken die großen Einzel-
wesen, die sie in ihrem Geiste zusammenfassen und
zur VerwirkUchung bringen. Gehört aber diese Zu-
teilung der Vorsehung an, so kann der Politiker nicht
mit ihr in die Schranken treten, wenn er nicht auch
hier schlechte Nachahmungen und törichte Zerr-
bilder des Unnachahmlichen und Selbstwirksamen her-
vorbringen will. Wie ein rechter Dichter sich nicht
vornimmt, das große Gedicht oder die große Tra-
gödie zu machen, sondern seiner Innern Stimme ge-
mäß dichtet, und vollauf an knapper Lyrik oder der
Novelle Genüge findet, indem er es der Muse über-
läßt, will sie es, ihn zu jenen Werken zu leiten, die
man als „große" ansieht und die doch nur solche
anderer Art sind; wie der kluge Mensch nicht um
sich blickt, die beneidend, die höher als er stehen, son-
dern auf seine Arbeit bedacht ist und es dem Glück
anheimstellt, ihn, liegt es in dessen Absicht, auf die
nämlichen hohen Stufen, ja noch höher zu führen : so
muß auch ein Volk danach trachten, das möglichst
Beste aus den gegebenen Umständen zu schöpfen,
nicht aber das Rom Julius Cäsars, das Makedonien
Alexanders des Großen oder das Frankreich Napoleons
nachzuahmen: es sind das Vorsätze, die in der Litera-
tur von Federfüchsen und ähnlichen Lendenlahmen,
in der Politik aber von den „Großmannsüchtigen", wie
die genannt werden, die solches anstreben, gefaßt werden .
Wahrlich, würden wir uns in Italien insgesamt von
den Sittenpredigern der Politik, den Anhängern ab-
strakter Form und abstrakter Größe (Demokraten, Dok-
trinären, imperialistischen Nationalisten) freimachen,
so hätten wir mit einer stattlichen Menge nicht nur
leeren, sondern auch gefährlichen Geschwätzes auf-
230
geräumt, und Zeit und Raum gewonnen, um die wirk-
lich ernsten Fragen unseres nationalen Lebens zu er-
örtern und allmählich deren Lösung herbeizuführen.
DAS AMT DER REDNER UND DIE PFLICH-
TEN DER GELEHRTEN. VOM SAGEN UND
NICHTSAGEN DER WAHRHEIT [JumigiS).-
Vor einigen Jahren habe ich irgendwo die recht ober-
flächlichen Vorstellungen über die sittliche Pflicht
„die Wahrheit zu sagen", das heißt, andern die Wahr-
heit mitzuteilen, kritisiert, indem ich erstens zeigte,
daß man die Wahrheit nicht „sagt" und nicht „mit-
teilt", als ein fertiges Erzeugnis, da jeder sie von sich
selbst aus hervorbringen muß, und was man „Mit-
teilung" nennt, ein Inbegriff^ praktischer Mittel ist,
durch die man andere in eine bestimmte geistige Lage
zu bringen sucht, geeignet, den Gedanken zu wecken
und ihn in einer bestimmten Richtung tätig werden
zu lassen; zweitens habe ich daraus abgeleitet, daß das
Wort, in diesem seinem praktischen Gebrauch, als
Mittel der Überredung, keinen theoretischen Wert
weder als wahr noch als falsch habe, und recht wohl
zu praktischen Zwecken angewendet werden kann,
auch angewendet wird, die nicht unbedingt den
Boden zum Hervorbringen der Wahrheit vorbereiten,
vielmehr gewisse Lebensformen fördern sollen; ajs
Beispiel habe ich die Worte angeführt, die man zu
Kranken zu sprechen pflegt, um sie an Geist und
Körper aufzurichten, oder zu Soldaten, um sie zu be-
herztem Angriff zu veranlassen. Wie es mir aber auch
in andern Fällen ergangen ist, so erweckte auch diese
meine Theorie, deren Hauptzweck war, den Begriff
der „erlaubten" oder „edelmütigen Lügen" zu be-
231
kämpfen — durch das einzige Mittel, durch das man
einen falschen Begriff aus der Welt schaffen kann,
nämlich seine Bestandteile und die Wahrheitsforde-
rungen, die er enthält, aber übel zusammenfügt, auf
ihren richtigen Platz zu stellen — irgendwie den An-
schein des Zynismus. Ich weiß nicht, was ich dazu
sagen soll: ich kann bloß hervorheben, daß ich mit
aller Schärfe gedacht und meinen Gedanken klar aus-
gedrückt habe; ist er nicht oder übel verstanden wor-
den, so liegt die Schuld nicht an mir, sondern an der
Unaufmerksamkeit oder Oberflächlichkeit anderer.
Es ist demnach an den andern, zu begreifen, denn
meine Aufgabe, „klar zu unterscheiden" habe ich
erfüllt.
Hingegen mag es nützlich sein, hier die Erörte-
rung nochmals auf ein geschichtliches, uns naheliegen-
des, nämlich politisches und zeitgemäßes Gebiet zu
verlegen. Wer hier fortfahren wollte, nicht oder übel
zu verstehen, könnte mich hier — und ich wundere
mich, daß es bis jetzt nicht versucht worden ist — des
Widerspruchs mit mir selbst bezichtigen und der An-
schein spräche in diesem Falle für ihn. Denn es ist
Tatsache, daß ich, der Theoretiker der oben erwähnten
Lehre, in die Lage gekommen bin, mit allem Nach-
druck den „Kriegslügen", der „falschen Wissenschaft
vom Kriege" entgegenzutreten, und des öftern auf der
Notwendigkeit zu bestehen „die Wahrheit zu sagen",
ohne sich über eingebildete Gefahren, die daraus für
das Leben erwachsen sollen, den Kopf zu zerbrechen.
DIE DEMOKRATIE, DIE VORGEBLICH
„GEFÄHRLICHEN WAHRHEITEN" UND
DIE VORGEBLICH „HEILSAMEN LÜGEN". -
232
In der Tat haben in unscrn Demokratien alle jene For-
meln von den „gefährlichen Wahrheiten" und den
„heilsamen Täuschungen" Umlauf, desgleichen tauchen
hier alle jene Versuche wieder auf, eine besonderen
praktischen Interessen dienstbare Wissenschaft aufzu-
stellen, eine „demokratische Wissenschaft", wie es einst
eine der Feudalen und der Klerikalen gegeben hat und
noch gibt, ebenso wie jeder andern Partei, die zu ver-
zweifelten Mitteln greifen muß, um sich zu verteidigen,
wenn sie sich des rechtmäßigen Mittels verlustig sieht:
der geschichtlichen und tatsächlichen Rechtfertigung.
Dennoch wäre es eine Buße für meine Sünden — und
nur als solche würde ich sie demütig hinnehmen — ,
wenn all diese Schmutzereien, gegenwärtig demokra-
tisch, einst konservativ oder vielmehr rückschrittlich
undjesuitisch, mit meinem Satze verwechselt und gleich-
gesetzt würden: daß die Wahrheit nicht „mitgeteilt",
sondern lediglich, je nach den Zeiten und Umständen,
erzeugt werde, durch praktische Vorsorgen und Antriebe,
geeignet, die Gemüter fähig zu machen, sie hervorzu-
bringen. Denn diese Vorsorgen und Antriebe, von denen
ich sprach, waren alle daraufgerichtet, nicht eine falsche
Wissenschaft aufzurichten (eine falsche Wissenschaft,
die aber dann, Gott weiß wie, für heilsam ausgegeben
wird, um sie an die Stelle der wahren zu setzen, die, man
weiß nicht wieso,als gefährlich ausgeschrieen wird),wohl
aber der Wissenschaft Raum zu schaffen, der einzigen
Wissenschaft, die die stets sich erneuernde Wahrheit ist;
nur aus diesem Grunde riet ich, die Wahrheit dem zu
verschweigen, der noch nicht würdig ist, sie zu hören und
sich der leeren Formel bedienen würde, um seine Lei-
denschaften zu befriedigen; desgleichen dem, der sich
unter solchen praktischen Umständen befindet, daß es
• 233
Torheit wäre und wie Hohn aussähe, ihn zum Nach-
denken, Überlegen, Forschen und Urteilen veranlassen
zu wollen, während das, was ihm einstweilen nottut,
gerade ist, ihn aus dieser mißlichen Lage zu befreien.
Hingegen greift die Theorie der „gefährlichen" Wahr-
heit und Wissenschaft das Leben der Wissenschaft selbst
an und zerstört es, da sie nichts anderes als den Auf-
bau der falschen Wissenschaft befördert.
Was ist nun diese letztere? Sie liegt nicht in den ein-
fachen, irrationalen (wie man sie zu nennen pflegt) und
doch wirksamen und erhabenen Worten, die ich als
weder wahr noch falsch und dennoch als nützlich (wohl
rational, allein in praktischer Hinsicht) bezeichnet
habe, etwa solchen wie der Ruf: „Hoch Italien!" oder
jener Garibaldis in Mentana: „Wollt ihr nicht mit mir
sterben?" oder der Friedrichs des Großen an seine im
Kampf entmutigten Soldaten: „Racker, wollt ihr denn
ewig leben?" und ähnlichen; wohl aber in der kalt be-
rechneten Lüge selbst, die als solche nichts anderes denn
Täuschung hervorbringt und früher oder später Ent-
täuschung, Niedergeschlagenheit und Erniedrigung im
Gefolge hat. Zum guten Glück erzeugt sie viel öfter
noch Langweile und Ekel, weil die, denen sie aufgetischt
und angepriesen wird, kein Bedürfnis nach solchen Ge-
richten empfinden, auch nicht in der Lage sind, weder
die echte noch die falsche Wissenschaft in sich aufzu-
nehmen, sondern sich eben so verhalten, wie es ihnen
gemäß ist, und das Leben nach ihrer Weise führen,
nach ihren eigenen Beweggründen, Überlieferungen
oder Trieben, welcher Art sie auch sein mögen.
Unglücklicherweise fallen jedoch derartige Erzeug-
nisse gerade durch ihre Hülle „falscher Wissenschaft"
auf jenen Teil der Gesellschaft zurück, der die Welt oder
234 .
der Kreis der Wissenschaft heißt: ein Kreis, der unter
anderem in der Absicht gebildet und umschrieben wor-
den ist, daß Männer, Versammlungen, Unterredungen,
Bücher, Zeitschriften und andere geistige Einrichtungen
und Verhältnisse dieser, Art aufgestellt und erhalten
werden, in denen die Notwendigkeit zu schweigen und
Mittel rednerischer Überzeugung anzuwenden auf das
äußerste beschränkt, hingegen die reine Darlegung kri-
tischer und wissenschaftlicher Begriffe auf das höchste
gesteigert ist.
Gerade weil die Gesellschaft in ihren sonstigen Schich-
ten etwas ganz anderes zu tun hat, und die Wissenschaft,
die reine, strenge Wissenschaft dies durchkreuzen würde,
sei es, daß sie von jenem Tun ablenkt, sei es, daß sie
Übelgesinnten Vorwände zu Mißbräuchen liefert, ist es
nur der Kreis der Wissenschaft selbst, in dem uns volle
Freiheit verliehen ist, jene Freiheit, die keine unbe-
dingte ist — denn Unbedingtheit hieße hier Unwirklich-
keit — , vielmehr stets bedingt, die aber dennoch, wie
gesägt, auf das höchste gesteigert ist und sein muß. So
fälscht die falsche Wissenschaft, bricht sie hier ein, die
Wissenschaft selber, stört deren Leben, bewirkt, daß der
ganzen Gesellschaft ein Vorrat an Kraft entzogen wird
und mangelt, der ihr ebensosehr oder noch mehr nötig
ist als der an Korn und Eisen : die Erzeugung und Ver-
breitung der Wahrheit. Ich gebe keine Beispiele, da
ich schon da und dort deren genügend viel gegeben
habe und meine Leser längst wissen, daß dank einer
falschen Werbetätigkeit, die sich in die Wissenschaft
eingeschlichen, für Italien und einen großen Teil der
Völker, mit denen es vereint ist, der gesunde Begriff der
Politik, der Geschichte und des Lebens verloren ge-
gangen oder geschwächt worden ist. Dieses üble Werk
235
wird nach wie vor bezeichnet als „Anfeuerung der
Geister", als etwas, „das für den Kampf den Rücken
stärke" ! Als ob es, in welchem Betracht immer, für
ein Volk oder ein Einzelwesen von Vorteil sein könnte,
in eine derartige geistige Verwirrung gestürzt zu werden,
daß es sich nicht mehr im Besitz der Bestandteile des
Wahren findet: ähnlich einem, der das Gedächtnis
für die Zahlenfolge und die pythagoreische Tafel ver-
loren hat, in einer Welt, in der man nun einmal ohne
Addition und Multiplikation nicht das Auslangen findet!
DIE EHRFURCHT VOR DER WAHRHEIT
UND DER SINN FÜR DAS ZWECKMÄSSIGE
(Juni igi8). — Umkehr tut not, darin, wie in vielen
anderen Dingen; vor allem kommt es den Männern der
Wissenschaft zu, furchtlos die Wahrheit zu suchen und
zu sagen, denn es gibt nun einmal keine „gefährlichen
Wahrheiten", außer in dem allgemeinen Sinn, daß jede
Bewegung, jede Gebärde des Lebens gefährlich ist, und
o?nnia periculis sunt plena^ das heißt jegliches ist mit jeg-
lichem verbunden. Allein, Wahrheit ist Licht und Licht
ist der Welt Leben.
So ist es notwendig, daß die werktätigen Menschen
sich sorgfältig hüten müssen, ihren Nächsten, das Volk,
den Pöbel (denn auch Volk oder Pöbel sind Menschen
und müssen als solche gewertet werden) mit Hirn-
gespinsten zu füttern; namentlich aber auch, ihnen
nicht Speisen einflößen zu wollen, die ihre Mägen noch,
nicht verdauen können, das heißt Wahrheiten, für die
sie nicht vorbereitet sind; das will aber nicht etwa be-
sagen, daß man, auf der andern Seite, diese Unerfahrenen
und Unreifen mit Unwahrheiten füttern soll, sondern,
im Gegenteil, daß man sich darauf beschränken müsse,
236
ihnen lediglich jene Wahrheiten beizubringen, die sie
zu begreifen imstande sind, und im übrigen ihre Ge-
fühle und Triebe auf die soziale Wohlfahrt und auf
ihre stufenweise individuelle Erhebung hinzuleiten, die
sie in einer mehr oder weniger nahen Zukunft dahin-
bringen wird — vielleicht auch nicht dahin bringen
wird — , auch die übrigen, jetzt noch für ihren Verstand
zu schwierigen Wahrheiten zu begreifen.
Eine schwere Aufgabe ! — Sie ist dennoch sehr leicht,
vorausgesetzt, daß man ehrlich und vernünftig zu Werke
geht. Was mich betrifft, so kann ich sagen, daß ich bei
aufmerksamster Beobachtung meines Selbst in den
mannigfaltigsten Lebenslagen und Beziehungen zu den
verschiedensten Leuten niemals in die Notwendigkeit
versetzt worden bin, eine falsche Theorie zurechtzu-
zimmern oder etwas nicht Vorhandenes zu behaupten,
um auf meinen Nächsten oder mit ihm zu wirken:
höchstens, daß ich zuweilen in gewissen, sehr heiklen
und fast verzweifelten (aber zum Glück außerordent-
lich seltenen) Fällen schweigen oder gewissen Selbst-
täuschungen ihren Lauf lassen mußte. Wenn es mir
aber begegnet ist, beispielsweise mit einem Mann aus
dem Volke oder einem Bauern sprechen zu müssen, der
mich über den Krieg befragte und mir seinen Unmut
über die Opfer, die er fordere, ausdrückte, so habe ich
ihm gewiß weder die Lehre Machiavellis, noch die
Vicos und Hegels auseinandergesetzt, aber ich hatte
auch nicht das Bedürfnis, ihm die Theorien des Neu-
thomisten Kardinal Mercier oder der Großmeister der
westlichen Freimaurerei beizubringen und gegen ihn
und gegen mich selbst zum Lügner zu werden. ' Ich habe
ihm vielmehr in einfachen Worten gesagt: Mein Sohn,
der Krieg ist gekommen wie Dürre oder Hagelschlag,
237
was ist dagegen zu machen! Bescheide dich, und da
nichts anderes übrig bleibt, denk daran, das Gewehr fest
in der Hand zu halten, das man dir gegeben hat, um
das Vaterland zu verteidigen, das Vaterland, das du, ich,
deine und meine Kinder sind, denn wir alle leben auf
italienischer Erde. — Mit andern Worten, ich habe ihn
nicht auf die Höhen der Wissenschaft, der Kritik, der
begrifflichen Aufgaben geführt, weil ich es nicht konnte
und weil kein Anlaß dazu war; aber ich habe ihm auch
keine Lüge gesagt.
IDEOLOGISCHE ÜBERLEBSEL {Polhica, Rom,
Jahrg. I, Nr. 2, Juni igi8). — Nicht ohne eine gewisse
geistige Genugtuung beobachte ich an den Fossilien der
Demokratie die Schlußfolgerungen der Ideologen des
achtzehnten Jahrhunderts: wie unfähig sie nämlich sind,
sich neue Elemente anzugleichen und wie sie unaus-
weichlich das alte geistige System in allen seinen Teilen
wiederkäuen müssen. Da aber dieser psychologische
Vorgang von erheblicher Bedeutung nicht nur für die
Studien, sondern auch für die werktätige Politik ist,
so möchte ich jetzt zwei dieser Wiederholungen der
Vergangenheit näher beleuchten, zwei Gestalten oder
Typen, die jedermann in der heutigen politischen Tages-
schriftstellerei bewundern kann oder konnte: den Ver-
antwortlichkeitsjäger und den politischenSitten-
richter.
Seit dem Beginn des Krieges, und leider auch jetzt
noch, haben sich allzuviele— und sie lassen nicht davon
ab — auf die Feststellung des „Verantwortlichen", des
„großen Schuldigen", des „Verbrechers", der den Welt-
krieg entzündet habe, geworfen; er ist leicht in einem
Einzelwesen zu finden gewesen, das, obwohl es ein
238
Kaiser ist, nichtsdestoweniger ein Mensch, ein armer
Mensch ist, unfähig, eine so gewaltige Last in Bewegung
zu setzen und einen Umsturz herbeizuführen, wie ihn
nicht einmal Zeus, die Brauen runzelnd, hervorge-
bracht hätte; gar nicht davon zu reden, daß dieser
Mann vor dem Kriege von seinen Volksgenossen be-
schuldigt wurde, wenig Mut und geringe Geistesstärke
zu besitzen, zu ängstlich zu sein, um sich jemals zu
einer Kriegserklärung bewegen zu lassen. Aber wenn
auch — und dies haben die Vernünftigeren getan — die
Ermittlung des Schuldigen vom Einzelwesen auf eine
Gesellschaftsklasse, besser noch auf ein ganzes Volk
oder eine Gruppe von Völkern ausgedehnt worden ist,
so wurde dennoch der Verantwortliche nicht entdeckt
und folgerichtig nachgewiesen; denn ein Volk ist nicht
für seine Vergangenheit verantwortlich, die ihm diese
oder jene Gegenwart anweist und in dieser oder jener
Art sein Handeln bestimmt und gestaltet. Daher stammt
die Ergebnislosigkeit dieser angestrebten Ermittlung,
die sehr bald Überdruß und Widerwillen erregt, wie
jeder unfruchtbare Versuch, jeder Schwall von Worten,
der dem Geiste keinerlei Erleuchtung bringt*).
Was will nun die Ermittlung des für geschicht-
liche Ereignisse Verantwortlichen besagen? Es ist
ein alter, wohlbekannter Irrtum, der längst genau um-
^) Der Übersetzer kann sich nicht versagen, hierzu die sehr treffende Fuß-
bemerkung des italienischen Herausgebers G. Castellano anzuführen: „Croce hat
diese Worte viele Monate früher geschriet)en, bevor Zeitungen und Minister
der Entente den Vorschlag machten, Kaiser Wilhelm als den »Schuldigen* vor
einen Gerichtshof zu ziehen und zu verurteilen. Die französische Rejjierung er-
langte dafür ein zustimmendes Urteil von zwei Professoren der Rechtsgelehr-
samkeit: diese haben offenbar den Ehrgeiz, in der Geschichte einen noch höheren
Platz einzunehmen, als die berüchtigten Rechtsjjelehrten des Reichstages von
Roncaglia, die Friedrich Barbarossa zum Schaden der italienischen Kommunen
befragt hat."
239
schrieben, hinreichend zergliedert, kritisiert und aui
seine idealen Ursprünge zurückgeführt worden ist, für
jeden, der sich jemals um geschichtliche Studien be-
müht hat; er ist im Verzeichnis der falschen und zu
vermeidenden Methoden aufgeführt; er ist das, was
man.in der historischen Methodenlehre die individua-
listische oder pragmatische Auffassung der Ge-
schichte nennt; diese hat gerade im achtzehnten Jahr-
hundert ihren Gipfel erreicht und ist von der Geschicht-
schreibung des neunzehnten Jahrhunderts mit wach-
samer Sorgfalt bekämpft, widerlegt und ausgemerzt
worden.
Desgleichen hat in Italien wie anderwärts die Zahl
derjenigen zugenommen, die sich darauf verlegt haben,
über die kämpfenden Staaten und Völker ein sittliches
Urteil zu fällen, indem sie dem Rechte zusprachen,
der sie nicht zu erwerben oder nicht zu verteidigen
weiß, sowie Schranken und Pflichten für den, der, seinem
eigenen Urteil folgend und das eigene Blut vergießend,
mit Recht keine andere Schranke und Pflicht außer der
anerkennt, die ihm sein Geist und seine Stärke raten
und setzen. Die äußerste Grenze dieses Verhaltens hat
man bei den russischen Revolutionären beobachten
können, die, sobald sie in den Vordergrund gelangt
waren, einen obersten Gerichtshof gebildet haben, der
alle Völker, im Namen der Moral, zur Verantwortung
über ihre Kriegsziele ur^d zu deren Prüfung vorlud,
Schafe und Böcke sonderte; so haben sie auch, ebenso
sittenrichterlich vorgehend, die gegenseitigen, auf Treu
und Glauben geschlossenen diplomatischen Verträge
veröffentlicht (Verträge, die ihrem würdevollen und
reinen Bewußtsein als schändliche Geheimnisse er-
240
schienen); endlich haben sie das nämliche Verhalten
einer höchst empfindlichen und genauen Ehrlichkeit
auch gegen die feindlichen Generale und Unterhändler
befolgt und dabei, außer der Ehre, auch die sogenannten
„materiellen" Interessen ihres Vaterlandes vernichtet,
indem sie dieses der Fremdherrschaft auslieferten. Es
ist sicherlich zugleich widerwärtig und lächerlich, wie
ein paar sogenannte „Intellektuelle", den in den KafFee-
und Bierhäusern von Zürich, London und Paris — in
denen zur Friedenszeit die Ausgewanderten und Dema-
gogen sich versammelten und ihr Wesen trieben — an-
geeigneten Formelkram wiederkäuend, sich nun als
Sittenrichter aufspielen (sie, die dieses Amt vielleicht
nicht einmal dem Einzelmenschen gegenüber auszu-
üben berufen sind), als Richter über ganze Völker und
Staaten: etwas, das in dieser großartigen Form nur in
Rußland möglich ist, wo es durch die Mißwirtschaft
und die ungenügende Entwicklung der herrschenden
Klassen vorbereitet wurde; wobei aber nicht zu ver-
gessen ist, daß dies theoretisch nichts anderes als die
äußerste Folge des Verhaltens politischer Moralisten
darstellt, das sich allenthalben in unsern reiferen und
klügeren Ländern spreizt. Der wissenschaftliche Irrtum
dieses Verhaltens stammt, wie jetzt schon längst klar
sein sollte, aus dem Vorwand, die Politik als Moral zu
behandeln, während die Politik -- das ist die einfache
Wahrheit — eben nur Politik und nichts anderes als
diese ist. Will man mir noch einmal erlauben, die Formel
und den Vergleich, die ich liebe, vorzubringen, so wieder-
hole ich, deren Sittlichkeit beruht allein und ausschließ-
lich darauf, gute Politik zu sein, gerade so wie die Sittlich-
keit der Dichtung (was auch die Unzuständigen darüber
sagen mögen) einzig darauf beruht, gute Dichtung zu
i6 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 2,A.l
sein. Auch jener Irrtum entstammt ja dem achtzehnten
Jahrhundert, der Aufklärung, die in ihrem Gegensatz
zum Mittelaher und der Kirche eine Art ratipnaUstischer
Nachahmung von Mittelalter und Kirche hervorbrachte ;
da die letztere die Politik als Moral auffaßte, so behielt
man diese Auffassung bei, nur daß der Moral ein an-
derer, der neuen Zeit angepaßter Inhalt gegeben und
die Auffassung verweltlicht wurde. Die Jakobiner er-
klärten dem Königtum in der nämlichen Weise, mit
dem nämlichen Ton und den nämlichen Worten den
Krieg, wie einst die Kirche in den Kreuzzügen den Un-
gläubigen.
Wenn nun auch diese zwei typischen Vertreter irriger
Gedankenformen bei den Völkern des westlichen Europa,
dank dem Widerstand, den sie hier in der Überliefe-
rung, Erfahrung und Verfeinerung der Geister finden,
nicht den Schaden verursachen, den ihre Genossen (oder
sagen wir besser ihre naiven Schüler) anderwärts ver-
ursacht haben, so schwächen sie nichtsdestoweniger, oder
versuchen es zu tun, das Bewußtsein von den Gefahren,
denen zu begegnen, von den Anstrengungen, die zu
machen, von den Anstalten, die zu treffen sind. Denn
wäre der Krieg ein Verbrechen und gäbe es demgemäß
einen dieses Verbrechens Schuldigen, nun, so ist es klar,
daß dieser wie jeder andere Übeltäter früher oder später
der Polizei in die Hände fallen oder sich der gebühren-
den Strafe allein durch die Flucht und das Versteck
entziehen und in der einen oder anderen Art die Ge-
meinschaft der anständigen Leute von seiner Gegen-
wart befreien müßte. Ebenso ist es klar, daß, gäbe es
Völker mit „unsittlichen Zielen", die sich gegen Völker
mit „sittlichen Zielen" erhöben, es nicht notwendig
242
wäre, sich darüber allzuviel Gedanken und Besorgnisse
zu machen. „Die Pforten der Hölle werden nicht trium-
phieren ..." Deshalb muß jeder gute Staatsbürger sich
mit aller Kraft den Schnüfflern nach geschichtlichen
Verantwortlichkeiten und den Sittenrichtern der Politik
entgegenstemmen, als den unbewußten Verrätern an
dem Volk, dem sie angehören.
Allein, Leuten dieses Schlages gegenüber empfinde
ich gewöhnlich etwas mehr und anderes als das einfache
Gefühl von Mißbilligung, Mißtrauen und Vorsicht, das
man gegen jemanden empfindet, der einen Irrtum hegt
und die Gefahr bietet, daß er ihn in die Herzen anderer
säe. Ich werde vielmehr von einem Gefühl des Wider-
willens und Absehens ergriffen, wie einer Person gegen-
über, die mit einer ekelhaften Krankheit behaftet ist.
Denn in der Mehrzahl der Fälle (die Naiven aus-
genommen, die auch hier nicht fehlen) sind jene Ver-
antwortlichkeitsjäger nichts weiter als solche, die die
Verantwortlichkeit fliehen, jene so überaus sittlichen
Politiker nichts als Leute, die vor der aufrechten Moral
ihr Ohr verschließen. Die ersten ersparen es sich, über
der Ermittlung einer eingebildeten Verantwortlichkeit
die eigene, persönliche zu suchen, die der Redliche vor
jeder andern sucht; so umnebeln sie sich selbst und
andere. Wenn sie zum Beispiel die Kategorien des Straf-
rechtes auf die hohenzoUerische Majestät anwenden,
so schütteln sie die Verpflichtung ab, Urteil und Strafe
auf sich selbst anzuwenden, sie, die seit Jahren gegen
die Heeresauslagen Widerspruch erhoben, gegen sie ge-
stimmt und dazu beigetragen haben, ihr Vaterland zu
entwaffnen. Jene Sittenrichter aber befreien sich, indem
sie die heilige Sittlichkeit auf die politische Geschichte
der Staaten in den verschiedenen Weltteilen anwenden,
i6«
243
damit von der lästigen Sorge, alle jene kleinen Pflichten
gegen die Wahrheit, das eigene Vaterland, den eigenen
Beruf und das eigene Handwerk zu erfüllen, die die
einzigen wirklich vorhan den enPflichtenausmachen,
als die einzigen, die auf wirklichen, nicht eingebildeten
Grundlagen ruhen. Höre und lese ich das von prahle-
rischen Gebärden begleitete Geschwätz dieser Verant-
wortlichkeitsjäger und politischen Sittenrichter, so
fühle ich, wie sich die Vorschriften der Anstandslehre
in mir lockern; ich raune mir dann die Worte zu, die
der heilige Franz von Assisi dem Bruder Leo riet, dem
Teufel ins Gesicht zu schleudern, der ihm als Ver-
sucher unter der Gestalt der Gekreuzigten zu erscheinen
pflegte: „Öffne den Mund usw.", und ich wiederhole
die Verse unseres Carducci: „O Idealismus der Mensch-
heit, versinke ..." (Carducci sagt, wohin, und weist jenen
Leuten den ihnen gebührenden Platz an.)
GESCHICHTLICHKEIT UND BEHAR-
RUNGSVERMÖGEN DER FREIMAURER-
IDEOLOGIE (Politica, Juni igi8). — Sagt man, wie
auch ich es des öftern getan habe, die demokratische,
intellektualistische Freimaurerideologie sei etwas Über-
wundenes, ein Stück achtzehnten Jahrhunderts, so soll
damit nicht gesagt werden, daß sie nicht in allen Zeiten,
mithin auch den unsrigen, vorkomme. In welchem Sinne
ist es dann zu verstehen, daß sie einer bestimmten Zeit
angehöre.? In dem, daß sie sich in dieser mit besondern
tatsächlichen Bedürfnissen und mit Handlungen, die
auf deren Erfüllung gerichtet waren, verbunden hat,
und daß sie gleichsam das Stichwort für jene Bedürf-
nisse gewesen ist; darum war sie damals etwas ernst zu
Nehmendes, das heißt, sie bezeichnete etwas Ernsthaftes,
«44
später jedoch nicht mehr, weil sie nichts mehr besagte,
leere Hülse geworden war. Es sind bekannte Dinge,
daß Freiheit, Brüderlichkeit, Humanität und ähnliches
im achtzehnten Jahrhundert geschichtlich und werk-
tätig als Befreiung aus den Fesseln der Adels- und
Kirchengewalt und als Aufruf an das gebildete Bürger-
tum ganz Europas zur Mitarbeit an diesen Zielen aus-
gelegt worden ist; kein fruchtloser Aufruf, wie sowohl
die sogenannte Reformperiode, als die der französi-
schen Revolution bezeugen, mit der Ausbreitung und
den Gegenwirkungen, die sie in allen Ländern erfahren
hat. Das verhinderte aber freilich nicht, daß diese Ideo-
logie selbst damals, sofern sie sich als Theorie und Wissen-
schaft gebärdete, in Zweifel gezogen und von kritischen
und tiefen Geistern des Truges beschuldigt wurde. Ich
will hier keine Namen nennen, um diese Randbemer-
kungen nicht in Darlegungen elementarer Geschichts-
kenntnisse zu verwandeln.
Außerhalb dieses geschichtlichen Amtes, dem sie
damals diente und in dem sie ihre Helden und ihre
Blutzeugen aufweist — Ehre euch, ihr großen neapoli-
tanischen Republikaner und „Freimaurer", die ihr auf
den bourbonischen Blutgerüsten des Jahres 1799 euer
Leben aushauchtet und das neue Italien schüfet! —
ist die demokratisch - freimauerische Ideologie eine
Geistesform, die sich immerwährend erneut; weil sie
mit der Anfangsform des Nachdenkens über soziale
Dinge zusammenfällt, mit deren abstrakter Betrach-
tung, mit der zunächst gezogenen abstrakten Folge-
rung über die Art, wie jene zu lenken und zu voll-
kommener Ordnung zu erheben seien. Sobald man
einmal das stumpfe Sichgehenlassen und die Ergebung
in den wie ein unausweichliches Geschick hingenom-
245
menen Weltlauf überwunden hat und versucht, ihn
zu verstehen, zu beurteilen und ihm Richtung zu
geben, erscheinen Welt und Gesellschaft wie ein Inbe-
griff der Unregelmäßigkeit und des Widerspruchs, her-
vorgebracht und aufrechterhalten durch die Schlech-
tigkeit einzelner und die Blindheit aller übrigen, ver-
besserungsfähig dadurch, daß man den Betrogenen
einfach die Augen öffnet, ihnen das Richtige weist,
die Übelgesinnten und am Gewinn Beteiligten, die der
Verwirklichung des Guten Widerstrebenden beseitigt
oder zur Ohnmacht verurteilt. Es ist das die Jugendzeit
des Aufrührerwesens, des Republikanertums, des Hu-
manitarismus, des Krieges gegen den Krieg, des Fanatis-
mus für die Entdeckungen der Naturwissenschaften und
für die Macht der Vernunft des freien Denkens, der
Auf klärung oder Erleuchtung. Es erscheint dann aber-
witzig und verabscheuenswert, daß die Menschen ein-
ander zerfleischen, während sie in heiligem, geruhigem
Frieden leben und einander brüderlich beistehen könn-
ten; daß die Gesellschaften von erblichen Fürsten
regiert werden und in Klassen, aufgebaut sind, gebildet
und geschieden durch Reichtum, Überlieferungen,
Sitten und ähnliche Zufälle; daß so viele Menschen
sich in die Kirchen drängen, vor alten Götzen beugen
und Formeln, die sie nicht verstehen oder nicht ver-
stehen können, herableiern — und so weiter, denn das
Verzeichnis all dieser jugendlichen Kritiken gegen das
Bestehende ist überaus weitläufig und ebenso lang als
das der an sie geknüpften Träume, die sich bis zur
Abschaffung der Gefängnisse und Zuchthäuser und zur
Erlösung der törichten Jungfrauen versteigen. Jeder-
mann durchmißt diese Staffel leichtwiegender Kritik und
noch leichtwiegenderer Träume, und muß es tun, denn
246
es ist ein Gesetz des menschlichen Geistes, dafB man
einen Irrtum nur dadurch überwinden kann, daß man
ihn an sich erfährt, erlebt und wenigstens als vorläufige
Annahme sich zu eigen macht. Alle beschreiten sie,
allein die Ernsthaften, Verständigen, Gewissenhaften,
die auf Selbstkritik Bedachten bleiben nicht auf ihr
stehen, und gelangen ein wenig früher oder später auf
die neue Stufe der Reife, auf der man weder in stump-
fer Ergebung in den Weltlauf noch in abstrakter Em-
pörung und Widerspruchslust mehr verharrt, sondern
zum Verständnis des Weltlaufs in seinem lebendigen
Gefüge, zu der harmonisierenden Auslegung einer an-
scheinenden Unregelmäßigkeit fortschreitet, und in
diesem Ausgleich die Einreihung des eigenen indi-
viduellen Handelns in Mitarbeit, Zurechtweisung und
Umänderung findet, die die organische Entwicklung
unterstützt, nicht aber sie zu vernichten sucht, indem
sie an ihre Stelle einen fein ausgeklügelten Mechanis-
mus setzt.
Andere aber (und es ist die Mehrzahl) kommen aus
allzugeringer Kraft des Geistes, aus ungenügender Bil-
dung, endlich dadurch, daß sie von andern Geschäften
besonderer Art abgezogen werden und in ihnen auf-
gehen — es sind das verschiedene Ursachen, die sich
im Grunde immer auf eine und dieselbe zurückführen
lassen — über diese Anfangsstufe nicht hinaus und voll-
führen nicht den Übergang zur Selbstkritik und zu
tieferem Verständnis. Diese sind die Vertreter der !
demokratisch-freimauerischen Ideologie, der wir allent- \
halben begegnen, handelnd aus eigenem Trieb, viel-
leicht nicht einmal dem Freimaurertum zugehörig, ja
selbst Katholiken. Es sind mithin keine unwissenden
oder naiven Menschen, sondern solche von mittel-
247
mäßiger Bildung, noch nicht wissenschaftlich durch-
gebildet «nd behutsam : Volksschullehrer, Diplomierte
technischer Schulen, gelernte Apotheker, desgleichen
auch Fachleute aller Art, wenn auch in ihrer Weise
hervorragend, Ärzte, Rechtsanwälte, Ingenieure, Offi-
ziere, die wohl ihr Sonderfach von Grund auf kennen,
aber ihr Menschentum, das philosophische und ge-
schichtliche Bewußtsein nicht genügend entwickelt
und nach dieser Seite hin sich an den beim ersten An-
lauf errungenen Ergebnissen, den ersten, notwendiger-
weise abstrakten und vereinfachenden Kenntnissen
haben genügen lassen; verfügten alle diese nicht über
die demokratisch-freimaurerische Ideologie, so hätten sie
in ihrem Gehirn nichts und aber nichts, um über die
menschlichen Dinge zu urteilen und sich irgendwie
in ihnen zurechtzufinden — und niemand vermag im
Nichts zu leben. Allein die Mittelmäßigkeit der Bil-
dung ist in diesem Falle eine Bedingung, der man nicht
entgeht :
et la garde qui veille aux barriires du Louvre
rCen d/fend pas les roh!
Selbst wenn Könige sich entschließen, aus jener
großartigen, heroischen Unwissenheit herauszugehen,
die bei vielen von ihnen, bei den größten, von einer
tiefen triebmäßigen Weisheit des Regierens und Be-
fehlens begleitet wird, selbst sie treten dann auf die
intellektualistische oder demokratisch-freimaurerische
Stufe hinüber, und werden dann, ist diese einmal
erreicht, auf ihr festgehalten, da sie diese, ihrer Stel-
lung wegen, die dergleichen nicht erlaubt, durch Nach-
denken und die tägliche wissenschaftliche Zucht nicht
zu überwinden vermögen. Daher die Erfahrung, daß
gebildete Herrscher mit der Demokratie liebäugeln,
248
wenn nicht anders, so mit Worten und in abstrakten
Ideen : Sie sind Rationalisten, Materialisten, Positivisten,
Anhänger der Naturwissenschaften, Reformer usw., und
— sieht man von ihrem -geheiligten Charakter ab — ihre
Art aufzufassen und zu denken, enthüllt sich als ein
wenig über oder unter jener der früher beschriebenen
Menschengruppe stehend — ich denke an die Könige
des achtzehnten Jahrhunderts und beschränke mich
darauf, zu erinnern, daß der Größte unter ihnen, der
Sohn des ungeschlachten und unwissenden Friedrich
Wilhelm, der große Friedrich, sobald er sich Bildung
und eine Ideologie zu eigen gemacht hatte, der voll-
endetste Typus des aufgeklärten Schriftstellers wurde,
in der Theorie Machiavelli bekämpfte, und in der Lite-
ratur die mittelalterliche Epik wie Goethes neue Dich-
tung mißachtete, im praktischen Leben aber nichts-
destoweniger fortfuhr als König zu empfinden und zu
handeln. „Ce sont-lä jeux de prince^'- — sagte die Fabel
Florians von ihm: — „0;z respecte un moultn, on vole une
province"-.
Nun bedenke man, welche tiefe und schwerwiegende
Gründe also dafür sprechen, daß man sich der Frei-
maurerei und der von ihr ausgehenden Werbearbeit
entgegenstellt. Diese Einrichtung ist an sich, in ihrem
lehrhaften Inhalt, nichts weniger als originell; im
ersten Viertel des achtzehnten Jahrhunderts entstanden,
konnte sie damals nichts anderes tun als die Zeit-
philosophie annehmen und verbreiten; noch we-
niger vermag sie heute auf einen selbständigen Inhalt
Anspruch zu machen, jetzt, wo sie alten Plunder,
abgedroschene und seichte Formeln auskramt. Original
ist sie indessen darin, daß sie, statt die unreifen Gemüter
zur Reife und die mittelmäßige Bildung auf eine höhere
249
Stufe zu bringen, es als ihr Ziel ansieht, die Mittelmäßigen
in ihrer Mittelmäßigkeit und die abstrakten Geister in
ihrer Abgezogenheit zu bestärken. Darum strömen
der Freimaurerei mit Vorliebe jene Menschenklassen
zu, die ich früher als zur abstrakten politischen Ideo-
logie angelegt bezeichnet habe ; und da die Juden, durch
den jahrhundertlangen Druck, der auf ihnen lastete,
durch die Befreiung, die ihnen die französische Revo-
lution brachte, auch durch ihren angeborenen Messias-
glauben, meist Intellektualisten sind und des geschicht-
lichen Sinnes entbehren, so wimmelt die Freimaurerei
von Juden. (Nebenbei bemerkt, fällt es mir gar nicht
ein, das törichte Gev^erbe des Judenfeindes zu betreiben,
obvvrohl ich das tatsächliche Bestehen einer „Juden-
frage" zugebe; ich meine jedoch, daß diese Frage vor
allem die Juden selbst angeht, die danach zu trachten
haben, deren Lösung zu finden, indem sie sich auf die
gleiche Stufe mit der höchsten Kultur und den höch-
sten Gedanken, die von der klassisch-christlichen Ge-
sittung erreicht v^urde, zu stellen suchen müssen, gerade
so w^ie sie, die antihistorisch Gesinnten, sie, die Jahr-
hunderte außerhalb unserer Geschichte gelebt haben,
geschichtlichen Sinn erwerben müssen.) Mit anderen
Worten, das Freimaurerwesen ist ein Mittel der Ver-
teidigung, Festigung, Ausbreitung für jene untergeord-
nete Sinnesart, die ich vorhin gekennzeichnet habe;
und als solches ist dieser angebliche Feind der Dunkel-
männerei der schlimmste aller Dunkelmänner.
Freilich sagte mir ein werter, der Freimaurerei
ergebener Freund, als er eines Tages diese meine durch-
aus nicht verblüffenden, aber trotzdem wissenschaft-
lich begründeten Darlegungen hörte, und fühlte, daß
er sich ihrer zwingenden Kraft beugen müßte, ich irrte
ZSO
mich, wenn ich glaubte, die Freimaurerei verschließe
sich hartnäckig gegen jeden Wahrheitsbeweis, der ihre
alten Gedankengänge umgestaltete; sie, die den Fort-
schritt der Vernunft bejahe, könne sich vielmehr sehr
wohl umformen und die festen sittlichen, geschicht-
lichen, politischen, philosophischen Begriffe sich zu
eigen machen, in der Art wie sie die Kritik festgelegt
habe, namentlich wenn Männer, die dächten wie ich,
sich entschlössen, dem Freimaurertum beizutreten. Ich
erwiderte meinem arglosen Freimaurerfreunde (viel-
leicht gerade deshalb Freimaurer, weil so arglos), daß
dieser sein Traum nur ein Gegenstück zu dem schiene,
den einst Antonio Labriola verspottete : der Papst, ent-
sprechend aufgeklärt, könnte sich wohl eines schönen
Tages entschließen, das Haupt der Freidenker- Vereini-
gung zu werden. Würde der Papst aber zu einer sol-
chen Vollendung gelangen, so müßte er innerlich, in
diesem Augenblick selbst, seine Auflösung als Papst
empfinden; und würde die Freimaurerei über das Bil-
dungsmaß der Völksschule hinaus gedeihen und die
Frucht vom Baume der Erkenntnis des Guten und
Bösen brechen, so müßte sie sich ebenfalls, als Frei-
maurerei, auflösen, denn was bliebe ihr weiter in
der Welt zu tun übrig, wenn sie nicht darauf sehen
müßte, jenes Bildungsmaß zu verteidigen, und zu ver-
suchen, alle auf dieses herabzuziehen, die merken las-
sen, daß sie sich darüber erheben wollen.?
NATIONALE VERBESSERUNGSPLÄNE.
GEGEN DIE SOGENANNTEN ALLGEMEI-
NEN REFORMEN (Juli 1918). - Es ist zurück-
haltend, wenn ich bekenne, nur geringes Vertrauen in
die Pläne zu setzen, die die „allgemeine Reform" einer
251
Gesellschaft oder eines Volkes herbeiführen sollen —
um mich gleich mit einem Beispiel verständlich zu
machen, von der Art der Reforme intellectuelle et morale
de la France^ die Renan nach dem Kriege 1 870—71 ver-
öffentlichte: ich verhalte mich nicht allein vollstän-
dig ungläubig gegen sie, sondern ich halte sie auch für
schädlich. Ihre Hohlheit wird dadurch bev^iesen, daß
ein Volk, ließe es sich jenen abstrakten Neuerern gemäß
ummodeln, nichts Lebendiges, sondern nur mehr gehalt-
loser Stoff w^äre ; der Schaden, den sie mit sich bringt,
liegt darin, daß sie die Geister in Abstraktionen und leere
Träume verlockt und derart die Faulheit großzieht,
die eben nichts anderes erstrebt als das Nichts-
tun. Eine gute Regel w^ill, daß man ein Volk für das
nimmt, w^as es ist, als etwas Wirkliches und als solches
auch Vernünftiges, als ein Lebewesen, das sein eigenes
Gesetz und Gleichmaß hat; demnach wende man seinen
Geist nicht auf eine phantastische „allgemeine Reform",
die mit einem Schlag weiß Gott welchen Zustand von
Glückseligkeit und Größe herbeiführen soll, sondern
auf die mannigfachen besondern „Reformen", als welche
letzten Endes die einzelnen Lebensäußerungen sind, wie
sie jedes Einzelwesen betätigen muß, und die alle zu-
sammen ein Volk „reformieren", das heißt bewirken,
daß es handelt und im Handeln sich entwickelt. Sollten
in Italien allgemeine Reformpläne, mit Anteil und Bei-
fall aufgenommen und zum Gegenstand erbaulicher
Erörterungen gemacht, auftauchen, Anweisungen zur
nationalen Rettung, Panoramen einer neuen glück-
lichen Gesellschaft mit neuen vernunftgemäßen Ein-
richtungen, so wäre das ein Anzeichen dafür, daß
man bei der Maul macherei, bei der ungeordneten und
zersplitterten Lebensführung verharren will, ohne
252
sich zu einem gesammelten und vertieften Leben zu
entschließen.
POLITIK UND DENKEN IN ITALIEN. -
Nehmen wir demnach Italien nicht als etwas, das zu
schaffen ist, sondern als etwas, das da ist und selbst
schafft; und beginnen wir mit der Erinnerung an einen
alten, fast veralteten Grundsatz : daß Denken die Welt
regiere. Wir erwähnen ihn, um ihn in Schutz zu neh-
men, nicht sowohl gegen die sichern Männer und die
Bank der Spötter, sondern gegen jene Neunmalklugen,
die da behaupten, die Welt werde nicht von den Weisen,
den Denkern regiert, sondern von den Tatmenschen,
den Politikern, den Leidenschafts- und Willensmen-
schen. Sie hätten sicherlich durchaus recht, gelänge es
ihnen nur zu beweisen, woher die Tat- und Willens-
menschen, wie die Politiker die Kenntnisse, die Unter-
scheidungsmerkmale, die Begriffe nehmen, die die Vor-
aussetzung ihrer Regierungshandlungen bilden ; woher
anders denn aus der Wissenschaft, der Weisheit, der
Einsicht, die in der Gesellschaft ihrer Zeit liegt, ver-
erbt durch Überlieferung, bewahrt und vermehrt durch
tägliche Geistesarbeit? Gewiß, die Männer des Geistes,
die Forscher, Beschauer, die Gelehrten und Literaten
sind schlechte Staatslenker; allein gerade deshalb, weil
sie ihre Gedanken wegen der Besonderung ihres Ver-
haltens und Berufes nicht in der besondern Form, die
dem Tatmenschen eigen ist, besitzen; und dies bestätigt
gerade, anstatt sie zu verneinen, die Notwendigkeit des
Gedankens für das Handeln. Jegliche Regierung hat
sich noch auf die Kultur bald dieser, bald jener ihrer
Gesellschaftsklassen gestützt: ihrer Priester, ihrer Patri-
zier, ihrer Bürger, ihrer Bureaukratie.
25.3
Und da Italien, insofern es da ist, sich nicht diesem
allgemeinen Gesetz entziehen kann, so gewinnt auch in
ihm die herrschende Klasse Nahrung und Kraft aus der
Einsicht und Bildung des Landes. Und obwohl man
von unsern politischen Vertretern reichlich viel Schlech-
tes zu sagen pflegt, die Unwissenheit, die sie an den Tag
legen, beklagt, die Oberflächlichkeit ihrer BegriflFe, die
Lücken ihrer Allgemeinbildung, die Übereilung in ihren
Urteilen, so müßte man sich doch gerechterweise fragen,
ob man, wollte man die Gelehrten und Studienbeflissenen
• Italiens in eine Tagung versammeln, nicht Anlaß zur
gleichen Klage hätte. Würde man einwenden, daß unter
diesen letzteren sich sehr viele in ihrem Sonderfach aus-
gezeichnete Leute befänden, so wäre zu entgegnen, daß
auch unter den Mitgliedern des Parlaments und der
Regierung sich viele in besondern Zweigen ausgezeich-
nete Männer finden, und was im allgemeinen bei ihnen
zu wünschen übrig läßt, die Festigkeit und Gediegen-
heit der Anschauungen ist, die Gesamtheit und das
Gleichmaß der Bildung, das nachdenkliche und kritische
Verhalten, die Gewissenhaftigkeit in Behauptungen und
Feststellungen, die Verachtung von Wortschwall und
leeren Formeln; diese Mängel finden sich bei den Parla-
mentariern und Regierenden, wie sie sich, vielmehr
weil sie sich ganz ebenso bei den Gelehrten und For-
schern unseres Landes finden; die besten unter ihnen
sind enge Fachleute, nicht hinreichend Menschen, Ge-
lehrte, nicht wahrhaft Gebildete, mit geklärten An-
schauungen über eine Beugungsform oder über die Phy-
siologie des Herzens und der Nieren, aber mit unklaren,
platten und erborgten Ideen von den Pflichten des Bür-
gers, von Staat, Vaterland, Religion, Wahrheit; es ist
das ein Mangel, nicht etwa vollständiges Fehlen, weil
ÄS4
ja Italien sich trotzdem regiert und entwickelt, was be-
weist, daß seine Kultur, mag sie auch unvollkommen
sein, dennoch eine ist, und die Wirksamkeit, die sie
auf das vaterländische Leben ausübt, wenn auch un-
vollkommen, trotz alledem eine Wirksamkeit ist; von
dieser Kultur, von dieser Wirksamkeit aus heißt es den
Ausgang nehmen, um die erste zu heben und gleich-
zeitig damit die zweite zu vertiefen.
REFORMEN DES DENKENS UND DER
KULTUR. — Im Grunde ist auch dies nicht etwas,
womit jetzt begonnen werden kann, denn es geschah
und geschieht täglich, wie es eben geht, und durch
jeden, so gut er es vermag: der Ruf nach der Reform,
der in gewissen feierlichen Augenblicken stärker ertönt,
kann in Wirklichkeit nur eine Ermahnung, ein Antrieb
sein, das Ziel fester ins Auge zu fassen, den natürlichen
Anlagen und der erworbenen Fähigkeit eines jeden ge-
mäß, ohne daß man damit verlangen will, der Gelehrte
solle sich über Nacht zum Politiker wandeln; wohl
aber ist die Forderung aufzustellen, er solle an sich
arbeiten, um in politischer (das heißt nutzenbringender,
staatsbürgerlicher) Hinsicht immer mehr Gelehrter zu
werden. Es ist allbekannt, daß jenes Studiengebiet, das
den politischen Dingen zunächst steht, das der geschicht-
lichen Forschung ist, verstanden in ihrem weitesten und
wahren Sinn, das heißt als Inbegriff der sogenannten
moralischen oder philosophischen Fächer, die Kenntnis
von Vergangenheit und Gegenwart der menschlichen
Gesellschaft umfassend. Mathematik und Naturwissen-
schaften bleiben, der humanistischen Bildung gegen-
über, stets einfache Mittel oder Werkzeuge, die an sich
nicht hinreichen, jene Überzeugungen zu entwickeln,
255
die dem werktätigen, politischen und sittlichen Handeln
als unmittelbare Voraussetzung dienen. Blicken wir auf
die Bedingungen der geschichtlichen Kultur Italiens,
so müssen wir trotz der Verbesserungen, die in den
letzten zwanzig Jahren eingesetzt haben oder sich lang-
sam und vorsichtig vorbereiteten, einräumen, daß die
mit historischem Sinn Begabten in Italien noch äußerst
selten sind, und ebenso selten die Bücher, die als ge-
eignet angeführt werden können, um der Zeit an-
gemessene geschichtliche Kenntnisse zu verbreiten; es
mangelt sogar an einer Geschichte Italiens, die mehr
wäre als eine Wiederholung veralteter Gedanken oder
eine ideenlose Klitterung. Hier liegt mithin ein genau
umschriebenes Feld, dem man sich zuwenden müßte,
um jener oben angeführten Ermahnung Folge zu leisten.
Wir alle, seien wir nun viele oder wenige, die wir im-
stande sind, geschichtlichen Sinn und geschichtliche
Bildung in Italien zu vermehren, müssen diese unsere
Aufgabe als eine hohe Pflicht und eine schwere Ver-
antwortlichkeit betrachten; wir müssen dazu beitragen,
Italien ein geschichtliches Schrifttum zu geben, indem
wir unser Denken immer mehr verfeinern und die
Stoffe, bei denen Klärung am meisten not tut, mit ihm
durchdringen, ferner, was noch mehr bedeutet, die
Art und Weise, wie die Dinge in geschichtlicher, das
heißt sachlicher und wesenhafter Form zu betrachten
sind, kräftigen und ausdehnen.
Zu diesem Zweck wäre die Mitarbeit, wenn nicht
geradezu die Leitung von Seiten des Hochschulwesens
sicher sehr förderlich; allein — da die Universitätslehrer
nun einmal sind wie sie sind und eine Reform der Stu-
dienpläne und -Vorschriften ihre Geister und Gemüter
nicht ändern würde, und eine gründlichere und ernst-
256
haftere Reform nur späte Früchte zeitigen könnte, sich
anderseits auch nur durch eine Bewegung aus dem
Schöße der Universitätswelt selbst bewirken ließe, von
der bis jetzt keine Spur zu sehen ist — es handelt sich,
was unsern Teil betrifft, inzwischen viel weniger darum,
in erster Linie und unmittelbar auf die Universitäten zu
rechnen, als sich an die Jugend zu wenden, die sie be-
sucht. Diese — wir reden von den Begabtesten und
Willigsten, den edelsten Herzen — hängt bekanntlich
nur zum Teil, zu einem kleinen, äußerlichen Teil, von
ihren Lehrern ab und erschließt sich im übrigen willig
den Strömungen des zeitgenössischen Lebens, empfindet
sie überaus stark (denn in den Universitätsjahren liest
man sehr viel), ist einer leidenschaftlichen Erörterung
zugeneigt, leiht dem Leben der Gegenwart gespannte
Aufmerksamkeit und späht in die Zukunft . . . Nun
wohl: es tut. not, daß die Universitätsjugend, soweit es
an uns liegt, im Lande jene Stimmung ernster und
wirksamer Bildung, von der oben bezeichneten Art, vor-
finde, die es ihr ermöglicht, ihren Geist in organischer
Weise zu bilden und sich zur künftigen führenden
Klasse unseres Volkes auszubilden, sogar als künftige
Neugestalterin unserer Universitäten, zu deren Schülern
sie jetzt gehört. Man wird dies freilich nicht erreichen,
wenn man darin fortfährt, ihr futuristischen Über-
schwang, glänzende Verkehrtheiten, tägliche Über-
raschungen abgebrauchter Paradoxe, tägliche Ver-
sprechungen von Wundern vorzusetzen, wie dies leider
noch manche zu tun pflegen, vielleicht dessen nicht
bewußt, daß sie damit einen Verrat am Vaterlande be-
gehen, indem sie, zum Vorteil eigener Bestrebungen
und der eigenen Eitelkeit, den jugendlichen Trieb zum
Neuen und die Unerfahrenheit der Jugend ausnützen.
17 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen 2 C7
Immerhin ist es notwendig, das Schicksal, wenn
auch nicht gerade der akademischen Einrichtungen, auf
welche die Außenstehenden nur in geringem Maße ein-
zuwirken vermögen, so doch einer andern Gattung der
Schule sicherzustellen, derjenigen, die die Vorbereitung
zur Universität bildet, des klassischen Gymnasiums, der
einzigen wirklich humanistischen und bildenden Schule,
die die heutige Gesittung besitzt, und die in Italien durch
eine Reihe von Ursachen, die bereits von anderer Seite—
am besten durch Gentile — auf das klarste beleuchtet
worden sind, so schwer erschüttert worden ist, daß sie
Gefahr läuft, sich aufzulösen, falls man nicht recht-
zeitig zu Mitteln greift, die ebenfalls schon von zu-
ständiger Seite (und auch hier wieder am klarsten und
eindruckvollsten durch Gentile) in zuverlässigster Weise
angegeben worden sind, von denen jedoch die politischen
Kannegießer der Demokratie nichts hören wollen. Für
diese handelt es sich in der Tat nicht um die Schule,
sondern um ihren Schein ; nicht um die tiefgehende Er-
ziehung des Geistes, sondern um einen oberflächlichen,
verstandesmäßigen und antiklerikalen Rahmen; nicht
um die Qualität, die starke Quantität erzeugt, sondern
die tote Quantität, die nichts hervorbringt als Lärm und
Unordnung. Der Keim der echten klassischen Schule
ist bei uns unterdrückt, aber nicht erstickt worden, es
ist not, ihn von dem Gewicht, das auf ihm lastet und
seine wohltätige Auswirkung hindert, zu befreien.
DIE REFORM DES DENKENS ALS DIE
WAHRE „ALLGEMEINE" REFORM. - Es sind
das nur einige wenige Beispiele von „Reformen", wie
sie gerade leicht erreichbar zur Hand liegen, und die
darum sehr viel mehr als die großartigen „allgemeinen
258
Reformen" taugen, die außerhalb des Bereiches unserer
Hände wie der aller andern liegen. Wenn man genau
zusieht, sind diese Einzelreformen, wie die sonstigen
ebenso beschaffenen, die man von Fall zu Fall aut-
stellen könnte, letzten Endes die wahre „allgemeine
Reform" in ihrer qualitativen Bedeutung, insofern sie
sich nämlich auf ihre wesentliche und Grundbedeutung
beziehen. Denn welcher Art auch die praktischen
Entschlüsse sein mögen, die in diesem oder jenem
Umkreis des gesellschaftlichen Lebens, in diesem oder
jenem Augenblick gefaßt werden, welches die poli-
tischen Formen, die die Gesellschaften annehmen
werden, das eine kann man für sicher halten, daß jene
Formen die besten und geeignetsten sein werden, die
von dem höchsten Wissen und Gewissen gezeugt und
getragen sind. Der Glaube an Monarchie oder Repu-
blik, an freien Wettbewerb oder an den Sozialismus,
den Staats- oder den Gewerkschaftssozialismus und so
weiter, sie sind sämtlich — was auch die Theologen
und Priester der verschiedenen politischen Parteien
sagen mögen — bedingte und zufällige Glaubensbekennt-
nisse; der Glaube an die Kraft der Vernunft ist allein
unbedingt und selbstverständlich. Ich sagte „Vernunft",
und meine Leser wissen, welcher „Vernunft" ich da-
mit meine Ehrfurcht bezeugen will; nicht der dürren
„Vernunft" , deren sich die Freidenker in gewissen Logen,
den heutigen Zufluchtswinkeln der Unwissenheit,
rühmen, sondern der dialektischen, tätigen Vernunft;
nicht — ich bedaure, wenn ich das Mißfallen vieler er-
wecken muß, wenn ich den negativen Ausdruck der
französischen, den positiven der deutschen Sprache
entlehne — nicht der Raison^ sondern eben — der „Ver-
nunft^\
GEDANKEN ÜBER DIE KUNST DER
ZUKUNFT. ERWARTUNG SCHLIMMERER
ZEITEN FÜR D!IE KUNST {Critica XFI,
Juni igi8). — Männiglich fühlt und sagt, daß wir harten
Zeiten entgegengehen, die uns die verschiedenartigsten,
schwersten Proben auferlegen werden. Was ist zu tun?
Wollen wir uns unterfangen, den Riesen, der sich vor-
. wärtsbewegt, und die Welt heißt, an den Beinen zu-
rückzuhalten? Das wäre ein kindisches Beginnen. Oder
wollen wir darüber jammern und es verwünschen, daß
er sich bewegt, und uns damit Unbequemlichkeit, ja
Schlimmeres schafft? Das wäre Feigheit. Die einzige
Wirkung, auf die diese Voraussicht zielt, die Mahnung,
die sich in ihr ausdrückt, kann nur die sein, daß, wer
es vermag, von nun an seine geistigen und sittlichen
Kräfte stähle, und sich vorbereite, den langen, gefahr-
vollen Weg einzuschlagen, in allem auf sich selbst ver-
trauend, auf den Vorrat, den er mit sich führt und den
festen Stab, den er sich zu schneiden gewußt hat. Wir
wünschen, daß viele dieser Pflicht zur Sammlung ge-
horchen werden; zur religiösen Sammlung, denn
(geht auch in ruhigen und gewöhnlichen Zeiten das
Bewußtsein davon verloren) religiös ist der Werdegang
der Welt und er muß mit Religion aufgenommen und
verfolgt werden, so wie der Beitrag des eigenen Tuns
dazu mit religiösem Sinne geleistet werden muß.
Allein ich wollte einmal über Literatur sprechen,
und ich wurde nur durch eine allgemeinere und gewich-
tigere Erwägung abgelenkt, aus einem Gleichfall her-
aus, der sich mir von selbst darbot, daß wir nämlich
auch in der Literatur schwereren Zeiten entgegenzu-
gehen glauben. Nicht sowohl durch die Wirkung des
Krieges — denn ist es wirklich der Krieg gewesen, der
260
auch auf politischem und sozialem Gebiet die zu beob-
achtenden Übel und Schwächen hervorgebracht hat,
oder haben diese nicht vielmehr schon früher bestanden,
und hat sie der Krieg nicht aufgedeckt und ihre Offen-
barung beschleunigt? — Nicht also durch die Wirkung
des Krieges, denn das Ziel, auf das Literatur und Künste
in Italien wie in Europa überhaupt (und in den deut-
schen Ländern ebensogut und vielleicht mehr denn
anderwärts) lossteuerten, war lange vor dem Krieg
deutlich gekennzeichnet. Man könnte sich höchstens
darüber wundern, daß der Krieg hier keine Änderung
herbeigeführt hat; aber in der Tat bleiben äußerliche
Tatsachen — das heißt Tatsachen, falls sie äußerlich
aufgefaßt werden — wie der Krieg, unwirksam, weil
sie in dieser ihrer Äußerlichkeit etwas Abstraktes haben
und ihre Verinnerlichung und ihr konkretes Wirken
schließlich mit der Wirklichkeit der Gemüter, in denen
sie sich auswirken, völlig eins werden: ein dekadenter
Schriftsteller (Nachahmer D'Annunzios, Pascolis, Clau-
dels, ein Futurist) wird trotz allem immer in der Lite-
ratur ein Dekadenter bleiben, denn Bombenwerfen,
in Flugzeugen oder Unterseebooten fahren, sich auf
den Feind stürzen, das sind alles Dinge, die an sich
keineswegs in einem bestimmten und gewollten Sinne
Stil, Gefühl und Einbildungskraft, allgemein gespro-
chen, die Seele, verändern. So sehe ich, gewiß mit
Mißvergnügen, aber auch ohne Verwunderung, daß
die jungen Leute in den Schützengräben vor allem fu-
turistisches und dekadentes Zeug lesen und daß sie
von dort wohl ausgezeichnet um ihrer soldatischen Tüch-
tigkeit willen, gutartig, ernsthaft und bescheiden zu-
rückkehren, aber noch gänzlich in jener veralteten
Literatur befangen, und daß sie nur in jenen Formen
261
zu sprechen und zu schreiben verstehen. Wenn der
Krieg bei längerer Fortdauer der Phantasie auch eine
andere Richtung geben wird, so ist es nichtsdesto-
weniger ausgemacht, daß er sie für jetzt erhält, wie
sie ist und sie hierin bestärken wird.
DER FUTURISMUS EINE DER KUNST
FREMDE SACHE. - Was pflegt man denn unter
dem zusammenfassenden Worte „Futurismus" zu ver-
stehen? Er ist nicht eine Form von Dichtung und
Kunst, die erwogen werden könnte, die durch ihre
Neuheit und Kühnheit schwierig für das Verständnis
wäre oder eine Mischung von Schönem und Häf3-
lichem darstellte, sondern schlecht und recht ein Ding,
das weder Dichtung noch Kunst ist. Er wird so ge-
nannt (sagte mein verewigter Freund Eduard Dalbono
in seinem letzten Vortrag, da er* von der futuristischen
Malerei sprach), er wird so genannt, einzig deshalb,
weil ein anderes Wort fehlt, um ihn passend zu be-
zeichnen : „das Wörterbuch ist ein Ding der Vergangen-
heit, passatistisch^"- . Seine Anhänger handeln häufig
in gutem Glauben, denn sie verzeichnen ihre Emp-
findungen, alles, was durch ihre Augen und die andern
Sinne eingeht, und geben sie zuweilen mit vieler bild-
hafter Genauigkeit wieder; in der Meinung, daß die
Poesie in dieser Genauigkeit liege, vermeinen sie Poesie
zu geben. Wenn aber einer von ihnen, beim Lesen
wahrer Dichtung, sich von einem Schauer durchrieselt
fühlen sollte, von jenem Schauer, der wahrhaft poetisch
ist, dann mag es sich ereignen, daß er wie benommen
erwachen und bestürzt ausrufen wird: — fürwahr, das
was ich bisher getan und bewundert habe, war ja etwas
ganz anderes! — Ebenso glauben manche, wenn sie
262
Theater und andere Orte der Art besuchen, reichUch
gewitzt zu sein, die Frauen und die Liebe zu kennen;
wenn es aber einem davon begegnen wird, daß er sich
einmal wirklich verliebt und den Zauber der Weib-
lichkeit wirklich kennen lernt, so wird er wohl einsehen,
daß die Liebe ein anderes Ding ist, als er bis dahin ge-
glaubt hätte.
Darum gebe ich mir keine Mühe, die futuristischen
Erzeugnisse, wie sie mir vor Augen kommen, zu kriti-
sieren; mein Feld ist die Dichtung, und jenes ist „ein
ander Ding", sogar ein höchst wichtiges, wenn auch
recht unerfreuliches Zeugnis von der geistigen Be-
schaffenheit unserer Zeit. Den jungen wackern Leuten
aber, die mir diese ihre Erzeugnisse bringen, und mich
trotz meines Widerwillens nötigen, davon Kenntnis zu
nehmen, um ihnen mein Urteil zu sagen, pflege ich
gewöhnlich mit Scherzen, Fabeln und Paradoxen als
Gegengabe aufzuwarten. Erst vor kurzem brachte mir
einer dieser jungen Leute einen seiner Versuche zum
Lesen, durchaus zerrissen, verstiegen, ausgeklügelt und
schwatzhaft, in dem er die Bewegung eines Fächers
in den Händen einer Frau schildern wollte; ich be-
gnügte mich, ihm ein Verslein vorzusagen, das vor
Jahrzehnten einmal ein alter Herr auf den Fächer eines
Fräuleins in Neapel geschrieben hatte. Dieser alte Herr
hieß ebenfalls Dalbono, Cesare Dalbono: er war ein
Schüler Puotis, und liebte wie dieser das Latein, Grie-
chisch und Französisch, übersetzte in vollendeter Weise
Plato und Montaigne; er wußte mithin, wo die Kunst
zu finden sei. Auf den Fächer seiner jungen Freundin
hatte er aber diese acht Zeilen gekritzelt:
Bella Martüy desidero
che i tuoi pensieri
263
Sie7io sempre volatilt
Steno sempre leggieri.
E se ti dan fasttdio
e se ti dan tormento
sofßali col ventaglioy
che se li porti il vento!
(Schönste Maria, ich wünsche dir
Daß all deine Gedanken
Leicht und beschwingt stets möchten sein
Und stoßen nie an Schranken.
Doch schaffen sie dir Not und Pein
Und sind sie dir zur Plage
So scheuch' sie mit dem Fächer fort,
Daß sie der Wind enttrage!)
Meine Herren Futuristen, nichts für ungut, aber
hier lebt im Rhythmus die ganze vielgestaltige Be-
wegung des Fächers, sein Heben und Senken, sein Spiel
regelmäßiger Wellen in der Ruhe, und sein rasches
nervöses Zittern in der Ungeduld; aber auch noch
etv^as anderes. Es liegt das Lächeln, das Wohlw^ollen,
die Galanterie eines Alten darin, der noch die Erziehung
des achtzehnten Jahrhunderts hatte; ein Hauch des Le-
bens, und darum ist dieses Fächersprüchlein eine kleine
Dichtung, v^as die eure nicht ist, wieder groß noch
klein.
Daß sie das nicht ist, läßt sich auch noch aus anderen
untrüglichen Anzeichen schließen: einmal daraus, daß
die Futuristen eine kaum übersehbare Schule ohne
Haupt bilden, eine Vielheit, eine Herde von Genies,
die nichts anderes als eine Herde von Armen im Geiste
sein kann, denn Genie ist das Gegenteil von Herde;
ferner, daß unter den vielen tausenden von Seiten, die
die Futuristen alljährlich beschmieren und die von
ihren Bekennern überaus gelobt und in den Himmel
264
erhoben werden, auch nicht eine einzige ist, die sich
durch eigene Kraft dem Strom, der sie rasch ver-
schUngt, entwunden, sich der Phantasie, dem Gedächt-
nis, dem Ohr der ÖffentUchkeit eingeprägt hätte. Das
ist ein schHmmes Zeichen! Denn echte Dichtung ist
etwas, das sich vor allem anderem am stärksten ver-
breitet, feiner als alle Gase, und der ansteckendste aller
Stoffe. Es genügte — man erinnert sich dessen noch
wohl — als ein junger, bis dahin ganz unbekannter
Mensch, den die Kritiker im allgemeinen sehr übel
behandelten, der arme Gozzano, drei oder vier gelungene
Gedichtchen verfaßt hatte, daß jene Verse von der
„Großmutter Speranza", vom „gestrengen Oheim"
und der „kleinen Graziella" auf aller Lippen waren.
Mithin wäre der Futurismus in Italien eine Schule
ohne Haupt und ohne Hauptwerke, etwas Widersinniges,
das aber sehr gut bestätigt, daß er Schule für alles mög-
liche (etwa Automobilismus und Flugwesen), nur nicht
für die Kunst ist.
NOTWENDIGES VERHALTEN IN KUNST-
FEINDLICHEN ZEITEN. - Gibt es ein Heilmittel
dagegen? Mitnichten! Man muß warten, daß das
Übel vorübergehe: diese neue Seuche, von der Dich-
tung und Kunst befallen worden ist. Die Geschichte
weist uns Fälle ähnlicher Seuchen nach ; das klassische
Beispiel darunter bleibt in dieser Hinsicht immer das
Pretiösentum oder der Secentismus, der nach sechzig
Fieberjahren endlich erlosch, während deren er immer
heftigere Formen angenommen hatte. Allein das ist
nicht das einzige Beispiel; ein anderes bietet dem, der
sie in ihren Einzelheiten verfolgt, die Romantik, die
auch in Italien zwischen 1830 und 1860 in Aberwitz
265
und Lächerlichkeit verfiel, besonders im Bühnenstück,
aber auch in der Lyrik und der Prosa. Man denke
daran, daß während der vierziger Jahre sich in Neapel
ein gew^isser Antonio Valentini „holdem Wahnsinn"
ergab, als Verfasser eines Versbüchleins: „Mea culpa
und ander es'-'- (Brüssel 1840); die Seele eines Menschen
schlug darin krampfhaft um sich, der gezv^ungen sein
sollte, Priester zu werden und sich von der geliebten
Frau zu trennen; handgreifliche, „futuristische" Bilder
waren darin verkoppelt wie: „Mein Schicksal steht vor
mir, einem alten Leutnant gleich: — Du wirst Priester
oder ich durchschneide dir die Gurgel! . . . oder:
„Tausend Würmer fressen im Gehirn wie in einem
Käse ..." Dekadententum und Futurismus sind die
letzte notwendige Folge einer langen Entwicklung
und einer langvorbereiteten sittlichen und geistigen Auf-
lösung; wie könnte man sie unterdrücken.? Man muß
ihnen freien Lauf lassen, um sich während ihres Wütens
zurückzuziehen, das meiner Ansicht nach, wie gesagt,
im gegenwärtigen Fall noch durch ein gutes Stück
Zeit hin anwachsen wird.
Sich zurückziehen : das ist der Rat, den ich zu geben
mir erlaube, nachdem ich ihn mir selbst gegeben und
ausgeführt habe. Auch während der secentistischen
und romantischen Krankheit gab es Menschen, die sich
so verhielten. Weiters: in der selbstgeschaffenen Ein-
samkeit die großen, die wahren Dichter, die Harmo-
nischen, KlarheitschafFenden, auch im Schmerzvollen
und Tragischen voll goldener Schönheit lächelnden
Dichter lesen und abermals lesen! Wir werden viel-
leicht wenige sein, ähnlich der Gesellschaft des Deca-
merone, mitten in der Pest, die in Florenz und ganz
Europa raste; aber an dies Leben mit sich selbst oder
266
in Gesellschaft weniger hat uns bereits der Krieg ge-
zwungen und gewöhnt. Er hat uns aber auch noch
Besseres gegeben, uns den Geschmack und die Freude
daran gelehrt; so daß es uns vielleicht niemals mehr
gelingen wird, das Gesellschaftsleben von einstens
wiederaufzunehmen, weil es uns im Vergleich dazu
leer und stumpf erscheinen wird. Derart werden wir
uns als Einzelwesen in Sicherheit bringen, zugleich
aber auch die Idee dessen, was Dichtung und Kunst
immer gewesen sind und sein werden, für eine bessere
Zukunft erhalten.
DAS RUSSISCHE DENKEN IN SEINER BE-
LEUCHTUNG DURCH ZWEI NEUE BÜCHER
(Giornale d'Italia, 4. September ig 18). — Als ich in einer
französischen Zeitung die Schilderung las, welche Span-
nung sich der russischen Revolutionäre bei der Nachricht
von der bevorstehenden Ankunft ihres großen Denkers;
des „Philosophen" der Partei, Lenins, bemächtigte,
sowie den festlichen hingebungsvollen Empfang, den
die Schüler auf dem Bahnhof von Petersburg ihrem
dem Zug entsteigenden Plato bereiteten, der lächelnd,
von seinem Ruhme gesättigt erschien, da war ich be-
schämt von meiner Unwissenheit über diesen zeit-
genössischen europäischen Philosophen, diesen be-
rühmten Berufsgenossen, und ich suchte mir, freilich
vergeblich, ein von ihm in Zürich veröffentlichtes
Buch zu verschaffen, das ich in einer schweizerischen
Zeitschrift angezeigt gefunden hatte. Indessen fand
ich dann in dem dickleibigen Werke von Masaryk
über Rußland und Europa (von dem bereits zwei
Bände im Gesamtumfang von etwa tausend Seiten er-
schienen sind, gerade russisches Denken betreffend:
267
Zur russischen Geschichts- und 'Religionsphilosophie 1913)
ein kostbares Bruchstück Leninscher Philosophie, et-
was von der Klaue, daran man den Löwen erkennt:
Nachricht von einer Abhandlung, in der Lenin den
empirischen Kritizismus eines Avenarius und Mach
bekämpft, wie er von einigen russischen Marxisten nach
dem Beispiel der deutschen Sozialisten angenommen
wurde, immer auf der Suche nach Philosophie, um
den schon recht löcherigen Mantel des Marxismus zu
flicken.
Der scharfsinnige Lenin beurteilt den empirischen
Kritizismus nicht allein als „eine verkappte Erneuerung
des „Solipsismus" (!) von Berkeley (!!) und Fichte (!!!)
sondern auch als etwas, das „dank dem Subjektivismus
den Glauben des gemeinen Menschenverstandes an
eine objektive, von Gesetzen gelenkte Welt zerstört
und damit die Religion (!) fördert, das heißt eine der
Stützen des Bürgertums (!) und ihrer Herrschaft; des-
halb ist der empirische Kritizismus eine reaktionäre
Philosophie (!!)" (II, 331)..— Aber das ist ja (dachte ich
bei mir), außer einer Anhäufung von Ungereimtheiten,
nichts anderes als Engels, allertrivialster Engels, noch
trivialer gemacht durch die papageienmäßigen Wieder-
holungen, die mechanische Anwendung, die man seit
Jahrzehnten davon gemacht hat! Die Tageszeitungen
brachten mir dann noch andere Offenbarungen des
Leninschen Denkens, in denen ich niemals andere als
die abgebrauchtesten Begriffe und Worte zu finden ver-
mochte.
Allein dies ist nicht ein besonderes Merkmal Lenins,
sondern es kommt den sogenannten Denkern und Philo-
sophen Rußlands ganz allgemein zu, wie ich schon von
ungefähr wußte und durch das genannte Werk Masaryks
268
bestätigt fand. Obwohl nun dieses, gleich den andern
mir bekannten Büchern des vielberufenen tschechischen
Professors und Agitators (über den Marxismus^ ein zwei-
tes über Logik) nur eine Klitterung ist, so ruht es doch
auf ausgebreiteter Kenntnis der Originalwerke. Eine
andere Bestätigung der gleichen Tatsache gewinnt man
aus einem Buche Miljukows, das unlängst ins Franzö-
sische übersetzt wurde (Le mouvement intellectuel russe,
übersetzt von Bienstock, Paris, Bossard 191 8); Milju-
kows, der ebenfalls zu den führenden Persönlichkeiten
des gegenwärtigen geschichtlichen Zeitraums gehört hat,
während der ersten Monate der russischen Revolution
Minister des Äußern war, und sich nach den jetzt über-
setzten Proben als einen recht geordneten und klaren
Geist zeigt.
Was ist oder war denn der Slawismus, das Slawophilen-
tum, von dem so viel geredet wurde, als von einer
Drohung der russischen Seele gegen die Europas, als von
einer Ankündigung eines neuen Geschichtsabschnittes,
in dem das heilige Rußland seine besondere Weltansicht,
sein politisch -gesellschaftliches Ideal, die Theokratie,
Autokratie, Verachtung materieller Wohlfahrt, Askese,
Mystizismus aufstellen würde.? War das etwa eine
selbständige russische Bewegung.? Nicht im min-
desten ; vielmehr die Nachahmung oder wörtliche Über-
setzung, die einige russische Literaten der deutschen
Geschichtsphilosophie angedeihen ließen, indem sie
dem russischen Volke das Führeramt der Zukunft oder
nächster Zukunft anwiesen. Was bedeutete die damit ver-
bundene Kampfstellung gegen Europäer- oder Abend-
ländertum? Die natürliche Abneigung des russischen
Geistes gegen die abendländische Gesittung.? Nichts
weniger als das; vielmehr einen Widerhall der rück-
269
schrittlichen, restaurationsfreundHcheri , kathoHschen,
romantischen Polemiken und Lehren in Frankreich und
Deutschland, von Bonald, De Maistre, Haller, Görres,
Baader, des Schelling der zweiten Periode, alles Schrift-
steller, die in Rußland gelesen wurden. Auch die Revo-
lutionäre, das heißt diejenigen, die von einer anderen
Vorherrschaft Rußlands träumten, seiner Führung in der
gesellschaftlichen Umwälzung, haben nicht die Probe
auf eine größere Unabhängigkeit bestanden, da sie alle
von Hegel, nach orthodoxer Art verstanden oder miß-
verstanden, ausgingen, dann von der Hegeischen Rech-
ten zur äußersten Linken, zu Feuerbach und dem dia-
lektischen Materialismus abschwenkten, und von da
noch weiter zum nackten, rohen Positivismus und
Materialismus. Dieses Schema wiederholt sich fast bei
allen von ihnen, schon von den ältesten wie Belenskij
und Herzen an; der erste übertrug einfach auf den
Zaren Nikolaus die Sendung, die Hegel dem König
von Preußen zugewiesen hatte, und konstruierte ganz
hegelisch die Schlacht von Borodin, während der zweite
sich so tief in den deutschen Idealismus versenkte und
sich so trefflich an ihm schulte, daß er damit endete,
den Gedanken als eine „Funktion des Gehirns" zu be-
trachten! Bakunin bringt Formeln wie diese: „Der
Staatsgedanke öder die Zentralgewalt ist die These, die
Anarchie oder die Gestaltlosigkeit die Antithese, die
Föderation die Synthese" (II, 1 6) ; man kann nicht um-
hin, darin die Fülle des Inhalts sowie die ganz absonder-
liche Wendung zu bewundern! Tschernitschewki, ein
Nachfolger Feuerbachs, leugnet in einer von Masaryk
angeführten und seine philosophische Beweisführung//?
nuce enthaltenden Stelle die Wirklichkeit des Geistigen,
indem er sagt, die Philosophie vermöge im Menschen
270
nichts anderes zu erblicken, als es Medizin, Physiologie
und Chemie tun, die in ihm keineswegs eine „zweite
Natur" finden. Pisarew will nichts als die „Wirklich-
keit" anerkennen und leugnet, Feuerbach -Stirner fol-
gend, „alle Grundsätze", den Begriff der Pflicht, „sämt-
liche Ideen", die „Ideale"; er verlacht, die Realisten
ausgenommen, alle Philosophen und nennt Plato einen
„General der Philosophie, in der Art wie es Generale
der Infanterie gibt" (II, 80, Worte, deren Spitze ich
übrigens nicht verstehe, weil ich nicht einsehe, worin
das Komische bei der Figur eines Generals der Infanterie
liegt). Er bescheidet sich auch nicht dabei, den beiden
früher erwähnten Hegelianern der äußersten Linken
nachzuplappern, er hängt ebenso an den Rockschößen
Vogts, Büchners, Moleschotts, löst den „dialektischen
Prozeß der Geschichte" in den „physiologischen Pro-
zeß" auf (II, 82) und fällt in seinem famosen Versuch
über die Vernichtung der Ästhetik das erlesene Urteil:
„Der Koch Dusseaux" — ein sehr geschätzter Koch in
Petersburg — sei „ebensoviel wert wie Raffael" (II, 90).
Als im Jahre 1862 das Programm des Jungen Kußlands
in die Welt geschleudert wurde, bemerkte sogar Herzen,
es sei unrussisch, da es ein ?nixtum compositum unver-
dauten Schillers (des Schillers der Räuber) mit Gracchus
Baboeuf und Feuerbach darstelle (II, 105); auch vom
Nihilismus, der ein russischer Originalgedanke sein
sollte, urteilte Herzen später, daß er „nichts Neues
hervorgebracht habe, und daß es ihm nicht einmal ge-
lungen sei, seine eigenen Grundsätze klar auszudrücken"
(II, 102). Peter Lawrow fußte in seinen philosophischen
Arbeiten auf Proudhon, Buckle, Rüge und Bruno Bauer
(II, 134). Michailowski wiederholt alle, namentlich
Hegel und Comte, und wärmt in einer neuen Namen-
271
gebung die „drei Perioden" der Menschheitsgeschichte
auf, die er da nennt: „das objektive Anthropozentrische,
das Exzentrische und das subjektive Anthropozentrische"
(II, 1 58) ; er bekämpft die Metaphysik (die ausgesprochen
hellenisch und mittelalterlich ist!) als die „Philosophie
des Kapitalismus und der Arbeit des Kapitalisten, die
vom erzeugenden Werkzeug getrennt ist!" (II, 181).
Und so w^eiter und w^eiter.
Überblicke ich die lange Reihe der von Masaryk ge-
botenen Auszüge, so muß ich bekennen, daß ich in der
Tat nicht nur kein Bedürfnis empfinde, die Werke dieser
russischen Schriftsteller näher kennenzulernen, son-
dern daß es mir selbst unnötig erscheint, ihre mitunter
recht schw^ierigen Namen im Gedächtnis zu behalten,
die sich mir lediglich als Pseudonyme v^ohlbekannter
und uns allen vertrauter europäischer Schriftsteller dar-
stellen. Auf den größten der russischen Philosophen,
der als der erste v^ahre Philosoph dieses Volkes gefeiert
worden ist, Solow^iew, hat hauptsächlich der grob-
schlächtigste aller deutschen Metaphysiker, Eduard von
Hartmann eingew^irkt, dessen System für Solov^iew eine
Summa theologica bedeutete; von ihm hat er den Aus-
gang genommen für seine slawophile Utopie, die in eine
Reihe schreckhafter „Apokalypsen" auszumünden be-
stimmt w^ar.
Demnach muß es in Verw^underung versetzen, wenn
Masaryk am Schluß seines Werkes von der „Originalität"
des russischen Denkens spricht und in dem Bestreben,
die von ihm selbst gebrach tenTatsachen abzuschwächen,
daran erinnert, wie doch jedes Volk aus der Kultur und
dem Denken der andern geschöpft habe. Das ist ebenso
selbstverständlich, wie es selbstverständlich wäre, daran
zu erinnern, daß jedes Volk und jedes Einzelwesen,
272
durch die bloße Tatsache seines Lebens, immer eine
gewisse Originalität besitzt. Selbstverständlich, aber
ganz allgemein, da die einem Einzelwesen oder einem
Volk zu- oder abgesprochene Originalität nicht diese
allgemein menschliche, sondern jene sonderartige be-
deutet, die sich in der Verarbeitung der übernommenen
Ideen ausspricht, in der Weise, wie sie mit den der
nationalen Kultur entspringenden ausgeglichen werden,
ferner in den neuen Ideen, die in ihr auftreten. Auch
Italien hat sich im XIX. Jahrhundert dem deutschen
Gedanken erschlossen; aber Galluppi, Rosmini, Gio-
berti haben ihn weder einfach wiederholt, noch Hirn-
gespinste an ihn geknüpft; sie glichen ihn sich einer-
seits vielmehr an, anderseits wurde er ihnen der
Antrieb zu neuen Problemen und Gedanken. Auch
die Geschichtsphilosophie und Geschichtschreibung
Deutschlands drang auf weiten Strecken in das Italien
jener Zeit ein; hier stieß sie jedoch auf die Überliefe-
rung von Muratori und Vico her, die sich selbst schon
auf ähnlichen Pfaden bewegt hatte und mit der sie
sich aneinanderzusetzen hatte. Nichts dergleichen läßt
sich bei den russischen Schriftstellern verspüren, nicht
einmal das vorsichtige und bescheidene Verhalten des
emsigen Schülers, der dem Gedanken des Meisters
zu folgen, ihn auszulegen, sich zu eigen zu machen
und anzuwenden versucht. Denn, wie man gesehen
hat, nicht nur die russische Bildung, sondern jeder ein-
zelne jener Schriftsteller ging Hals über Kopf von
einem zum andern Gewährsmann über, zu den aller-
verschiedensten und einander entgegengesetzten, so wie
sie ihnen gerade beim Lesen in die Hände gerieten;
sie legten damit den geringen Ernst ihres jeder Strö-
mung folgenden Geistes offen dar. Bei diesem Ab-
is Croce, Randbemerkungen eines Philosophen ^^Q
schwenken von einem zum andern Autor des Aus-
landes lassen sie sich als beständig nur in dem einen
bezeichnen, daß sie die kritische und wissenschaftliche
Seite allenthalben vernachlässigen.
Masaryk weist darauf hin, daß die russischen Philo-
sophen an den Erkenntnisproblemen, die die europäi-
schen Denker so stark beschäftigen, geringen oder
gar keinen Anteil genommen haben, und daß sie die
„Philosophie der Religion" und die „der Geschichte"
zu ihrem Felde erkoren; es scheint mir jedoch, daß ihm
entgeht, wie das gerade darum geschah, weil diese beiden
Gebiete der Religions- und Geschichtsphilosophie die
am wenigsten philosophischen Seiten der europäischen
Philosophie darstellten, da in ihnen die gefühlsmäßige
Richtung und mythologische Träume vorherrschten,
während die erkenntnistheoretischen Forschungen den
wahren kritischen und fortschrittlichen Mittelpunkt
bilden, und den Prüfstein für ernst zu nehmende spe-
kulative Geister abgeben. Masaryk sagt auch in der
Tat (II, 508), daß die philosophische Kritik der Russen
sich Hume und Kant zuwenden, den Nihilismus, die
Verneinung des Alten, das antikritische Empörer-
tum, das bequeme Aneignen und die ebenso bequeme
Sucht des Nachahmens überwinden müßte. Müsste:
das heißt also, es sei wünschenswert, daß sie es tue;
allein bisher tat und tut sie das Gegenteil. Es kommt
mir nicht in den Sinn, Masaryk nachzuahmen,
und den Russen die Aufgabe ihrer philosophischen
Zukunft vorschreiben zu wollen; nichtsdestoweniger
muß es mir gestattet sein, meine Meinung dahin aus-
zusprechen, daß für sie, wenn überhaupt, ein rich-
tiges Schulprogramm ersprießlich wäre, die Mahnung,
für jetzt, und noch für eine gute Weile, die große Phi-
274
losophie beiseite zu lassen und von den Grundlehren
an zu beginnen, den Methoden des Studiums, der for-
malen Logik : mit alledem, was uns Europäern gleich-
sam durch tausendjährige Erziehung im Blute liegt,
Rußland aber fehlt. Liest man Tolstoi, so stößt man,
wie männiglich bekannt ist, auf verdrehte Erörterungen
über religiöse, sittliche, politische, wirtschaftliche, selbst
literarische Probleme — man erinnere sich der Schrift
y^Was ist Kunst}'''' und des Buches, in dem Shakespeare
vernichtet wird — und man verzeiht derlei dem großen
Dichter: denn wem verzeiht man denn leidenschaftliche
und verdrehte Beweisführung, wenn nicht geliebten
Frauen und Dichtern? Nur ist diese Art der Darlegung,
in der sich an höchst schwankende Voraussetzungen
gewöhnlich widerwärtig starrsinnige Schlußfolgerungen
knüpfen,und mit der verwegenen Ablehnung jeder Auto-
rität und der festesten allgemeinen Überzeugungen die
Unfähigkeit zu scharfem, behutsamem und tiefem Be-
obachten verschwistert, in Rußland durchaus nicht bloß
den Dichtern gleich Tolstoi eigen, sondern auch den
Schriftstellern , die keine Dichter sind, sondern kritische
und philosophische Arbeiten herausgeben. Man müßte
sie in der Tat nach ihrer Besonderheit zergliedern und
ihr einen sie kennzeichnenden Namen geben, etwa „auf
russischer Art schließen?" — eine Bezeichnung, von der
es mich Wunder nimmt, daß sie nicht schon längst her-
vorgetreten ist. Ich finde bei Masaryk (II, 98) einen Aus-
spruch Solowiews über die nihilistische Lehre, die er in
dem Merkwort zusammenfaßt: „Der Mensch stammt
vom Affen, liebe daher deinen Nächsten wie dich selbst" ;
es scheint mir das ein Sinnbild des „Schließens auf
russische Art" darzustellen.
Diese Schriftsteller könnten also in zusammenfassen-
18» 275
der Weise unvorbereitete und noch schwache Geister ge-
nannt werden, denen verwickelte und mit einer langen
Geschichte beladene Lehren eingeflößt wurden, von
denen sie, statt erzogen und gefestigt zu werden, vielmehr
aufgeregt, verwirrt und unheilbar zugrunde gerichtet
worden sind. Namentlich die deutsche Philosophie ist, als
die einflußreichste, in Russland auch die verderblichste
gewesen : von der Hegeischen an, die eine Philosophie
für Erwachsene ist, bis zu der von Marx, zugleich rea-
listisch und metaphysich, vorurteilslos und parteiisch,
nach einer Kritik durch Erwachsene verlangend. Da-
her hat auch die unendliche Zahl der von russischen
Schriftstellern verfaßten geschichtlichen, sozialen, reli-
giösen und sittlichen Theorien der Wissenschaft gar
keinen Ertrag gegeben, nichts, was in deren Geschichte
irgendeine Erwähnung verdiente. Damit soll nicht ge-
sagt sein, daß dieses leidenschaftliche Drängen von For-
meln und Ideologien keinerlei Wert für die soziale
Geschichte hätte; im Gegenteil kann man daraus sehr
gut abnehmen, welches die eigentlichen Kräfte des
russischen Volkes sind, seine Empfindungen und Be-
dürfnisse, welcher sein geistiger Höhenstand ist. Es
wird auch dadurch klar, weshalb Rußland, während die
übrigen Völker eine Wissenschaft und eine Kultur —
mag sie groß oder klein sein — besitzen, statt dessen, wie
man zu sagen pflegt, ein „Intellektuellentum" besitzt;
etwas, das recht eigentlich weder Wissenschaft noch Kul-
tur ist, vielmehr ein hitziges Streiten über alles mög-
liche und ein Hervorstoßen von Paradoxien bedeutet :
etwas, das im Grunde gar sehr dem ähnelt, was man
schlecht und recht: Überspanntheit nennt ^).
*) Croce macht hiezu folgende Anmerkung: „Es wird gut sein, hieran
die Bemerkung zu knüpfen, daß ich in diesem Aufsatze nur vom russischen
276
DREI ARTEN DES SOZIALISMUS (Giornale
d' Itaita, 8. Oktober igi8). — Es gibt oder gab etwas, das
wir in unserer Jugendzeit, s'ist lange her, als Studenten
unter Meister Antonio Labriola lernten und das ungefähr
folgendes besagen wollte: „Das Bürgertum schafft die
moderne Welt der Industrie, der Arbeit, Wissenschaft,
Bildung, begründet und stärkt die nationalen Körper,
macht die verschiedenen Vaterländer stark und ge-
achtet; in dieser Tätigkeit jedoch nützt es sich ab, er-
schöpft, schwächt es sich ; während es, durch dieses Tun
selbst, eine neue Klasse großzieht und herausbildet,
die Arbeiter, die Klasse seiner Söhne, Gegner und
Totengräber, die ihm in einem gegebenen Augenblick
oder allmählich, früher oder später, die Gewalt aus
den Händen winden und die Leitung der Gesellschaft
übernehmen werden. Sie werden sich ihrer bemäch-
tigen, nicht indem sie das Werk des Bürgertums ver-
nichten, sondern bewahren und steigern : seine Wissen-
schaft und seine Bildung, seine Sorge um die nationale
Ehre, indem sie das Vaterland, das jenes mit so viel
Scharfsinn, Mühe und Opfern geschaffen, verteidigen
und dessen Aufgehen in größeren Körpern nur dann
zulassen wird, wenn diese neuen Gebilde tatsächliche
Wirklichkeit besitzen und das Leben der einzelnen
Völker gegen Gewalt und Ausbeutung zu schützen
imstande sein werden." Derart war Antonio Labriola
gleichzeitig Sozialist und Patriot, ja selbst Imperialist,
Anhänger des Krieges und kolonialer Eroberungen.
Denken, insoweit es Gedanke ist, das heißt die Philosophie angeht, spreche;
ich habe damit kein Urteil über die Ereignisse in Rußland abgegeben, über
die wir noch sehr wenig unterrichtet sind, und die jedenfalls unter einem
andern, dem politischen Gesichtswinkel betrachtet werden müssen. Des-
gleichen heißt die Bücher des Professors Wilson beurteilen, nicht die
politische Tätigkeit des Präsidenten abwägen."
277
Wo ist heute, in der Welt der Tatsachen, dieser von
ihm ersehnte und gelehrte Sozialismus ? Ich bin dessen
sicher, daf3 er ihn, könnte er die Augen wieder öffnen,
nirgends als in Deutschland finden würde, dessen So-
zialisten (ich weiß, daß ich damit gegen die landläufige
Meinung verstoße, allein ich muß trotzdem sagen,
was mir wahr und nützlich erscheint) die Grund-
sätze ihrer politischen Lehrer mit aller Strenge aus-
gelegt haben, indem sie sich offen auf die Seite des
deutschen Staates stellten; und in dieser Hinsicht ge-
bührt ihnen Lob für ihre Folgerichtigkeit und ihren
Ernst. Daß diese deutschen Sozialisten dann, in Aus-
nutzung ihrer Beziehungen, Freundschaften und des
Vertrauens, aus der Zeit her, da der Sozialismus
international sein konnte , ihre Genossen in anderen
Ländern zu verführen und zu täuschen gesucht haben,
ihre einfältigeren, leidenschaftlicheren, weniger unter-
richteten Genossen, und sie anzuleiten, die Völker, von
denen sie einen Teil ausmachen, den Bestrebungen,
dem Ehrgeiz und der Begehrlichkeit des deutschen
Staates zu unterwerfen, das war zweifellos unwürdig
und abstoßend, wie jeder Verrat und Mißbrauch guten
Glaubens. Aber was ist da zu machen ? Die Deutschen
pflegen nicht allzu zartsinnig zu sein, und zartsinnig
sind nicht einmal die deutschen Sozialisten.
Es gibt aber einen andern Sozialismus, der anders
urteilt, und der denkt: Kultur, Gesittung, Wissenschaft,
Moral, Vaterland, Unabhängigkeit, Ehre — ; was geht
uns das alles an? Possen ! Ob wir den Fremdherrscher
im Hause haben oder nicht, der Bauer bleibt immer
über seinen Spaten gebeugt, der Arbeiter an seine Ma-
schine gefesselt, und wer weiß, vielleicht mag die
Fremdherrschaft, wenn sie die herrschenden Klassen,
278
die Industriellen, die Grundbesitzer, die Kapitalisten
unterdrückt, dem Proletariertum nützen: denn die
Volksmassen, ja sogar die Hefe des Volkes, gegen
Bürgertum und Adel zu begünstigen, ist eine altüber-
kommene Notwendigkeit für Eroberervölker wie für
Gewaltherrscher und Tyrannen. Zur Zeit des Nieder-
gangs, im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert,
frohlockte der italienische Pöbel, als Zuschauer der
Kriege, die in Europa und auf Italiens Boden selber
tobten : „Hoch Frankreich und der Spanier Staat, wenn
man nur voll den Ranzen hat!"; Giovanni Arriva-
bene berichtet in seinen Erinnerungen, daß er dieses
niedliche Sprüchlein oder eine Variante davon noch in
den ersten Jahren des neunzehnten Jahrhunderts in
der Lombardei gehört habe. — Wo ist dieser Sozialis-
mus heute zu finden? In vorbildlicher Form, soweit
man aus den uns bekanntgewordenen Tatsachen ur-
teilen kann, dermalen in Moskau; als Sinnesart jedoch
ein wenig fast allenthalben : eine beschämende Sinnes-
art, die sich denn auch ihrer selbst schämt. Gehen wir
darum über sie hinweg.
Endlich gibt es noch einen dritten Sozialismus, auf
seine Weise idealistisch, christlich, humanitär, dem
tausendjährigen Reich zugewandt; er fühlt sich leicht
und beweglich genug, um einen kühnen Sprung über
die Geschichte hinweg zu machen, nicht allein über
die der Vergangenheit, sondern auch der Gegenwart
und Zukunft, über alle Geschichte, alle Wirklichkeit.
Er folgert also (wir sagen „folgert", um höflich zu
sein) : Es ist an der Zeit, mit dem Ringen der Völker
und den Kriegen aufzuhören! Was sind Kriege.? Die
Interessen einer kleinen Zahl von Menschen in den
verschiedenen Ländern, Interessen, denen die große
27g
Mehrzahl mit bUnder Willfährigkeit dient, Güter und
Leben zum Opfer bringt. Diese Mehrzahl möge sich
endlich empören, Nein sagen, sich weigern ; dann werden
die Kriege wie mit einem Zauberschlag aufhören und
der Weltfriede wird gesichert sein. Und da man mit
gutem Beispiel vorangehen soll, so beginnen wir da-
mit, unser Land zu entwaffnen. Die andern Völker
werden, angezogen von dem himmlischen Schauspiel,
sich beeilen, diesem Beispiel zu folgen: es wird ein
Weltfeiertag werden.
Diese sogenannte Schlußfolgerung zu widerlegen,
wäre überflüssig; es genügt zu bemerken, daß die
große Menge des Menschengeschlechtes keineswegs,
wie diese naiven Theoretiker sich einbilden, aus
Toren besteht, sondern aus Menschen, wenn auch
wenig unterrichteten Menschen, und daß diese Will-
fährigkeit, diese Unterwerfung unter ein Losungswort,
unter die Befehlshaberschaft, die einer Minderzahl,
den führenden Klassen zufällt, durchaus nicht Blind-
heit, sondern tiefer Trieb zur Rettung, zum allge-
meinen Besten und zur Pflicht ist, Sinn für tiefste Not-
wendigkeit, Gehorsam vor den Gesetzen der Ge-
schichte. — Wo findet sich jetzt diese dritte Art des
Sozialismus ? Die Antwort ist dieselbe wie im früheren
Fall : als Sinnesart, ein wenig fast allenthalben ; in ent-
wickelter und wirksamer Form jedoch in Moskau,
wo Materialismus und Aszetentum, Zynismus und
Idealismus, Niedrigkeit und Heldenhaftigkeit Arm in
Arm gehen.
Ich war gerade im Begriffe, diesen kleinen Aufsatz
zu schließen, als mein kritischer Sinn, der mich gegen
Dreiteilungen mißtrauisch macht, wie sie in der Philo-
sophie bisher überaus bedeutsam, allein auch sehr
280
leicht übel anzuwenden sind, mir zuflüsterte: — Gibt
es denn nicht noch einen vierten Sozialismus? Einen,
der richtig folgert, gerade so wie der, den du an erste
Stelle gesetzt hast, der jedoch aus Politik sich den An-
schein gibt, von Fall zu Fall, wie der Sozialismus
Nummer zwei, auch wie der Nummer drei, zu urteilen,
weil, wie sattsam bekannt, mundus vult decipi} Ein
Sozialismus, dessen Anhänger, einzeln genommen, vor-
treffliche Patrioten sind, die sich der Siege ihres Vater-
landes freuen und über seine Niederlagen betrüben,
jeden Augenblick mit ihm leben, allein in den Zei-
tungen und Parteiversammlungen sich anders verhal-
ten, aus Furcht, daß die Partei ihren Händen ent-
gleite ? Ein Sozialismus, der den Sack schlägt und den
Esel meint, der der Unwissenheit hofiert, allein recht
gut weiß, was Wissen bedeutet, angriffslustig mehr in
Worten und Tagesordnungen, als mit Taten, ein So-
zialismus mithin — im guten und schlechten Sinn des
Wortes — auf italienische Art ?
Ich meine, daß es auch diesen gibt ...
DER SIEG {Viü bei Turin, 5. November 1918). -
Der Sieg ist da, vollständig, glänzend, und was das
Beste ist, verdient. Verdient durch die Zähigkeit der
Verteidigung unter schwierigen Umständen, durch die
Standhaftigkeit des gesamten italienischen Volkes,
durch die Entschiedenheit des letzten Angriffs ; er kam
gleichsam als Folgerung der großen Schlacht im ver-
gangenen Juni, in der Italien, gerade Italien, den Auf-
takt zum Gegenschlag der Verbündeten gab, indem es
sich an Zahl überlegenen, von Angriffslust erfüllten,
aus langer Hand in vorteilhaften Stellungen bereit-
gehaltenen Kräften entgegenwarf; eine Schlacht, die
281
später die Wirkungen, die sie enthielt, offenbar machte,
und deren man sich, wie es zu gehen pflegt, damals
nur zum kleinsten Teile bewußt war.
Wer in Gedanken die jahrhundertlange Geschichte
Italiens durchgeht, glanzvoll in jeglicher Kunst, jeg-
lichem Wissen, jeder Art genialer Tätigkeit, voll der
wunderbarsten Proben sonderlichen Wertes, und trotz-
dem jener Zeugnisse gemeinsamer Kraft ermangelnd,
die weniger begabten und weniger um die Gesittung
verdienten Völkern nicht fehlen — der großen natio-
nalen Kriege und Siege — der vermag allein und in
Wahrheit den unschätzbaren Preis des Gutes zu er-
messen, das die Italiener von heute erworben haben
und ihren fernsten Geschlechtern vererben werden.
Welch leuchtender Gegensatz zu den Tagen der
Qual und Demütigung, die wir gerade vor einem
Jahr durchlebt haben! Wie herrlich haben sich die
Wünsche erfüllt, die wir damals kaum in unserm tief-
sten Innern zu hegen gewagt haben !
Dennoch möchte ich nicht behaupten (und ich bin
sicher, daß viele darin wie ich fühlen werden), daß die
gegenwärtige Freude den Schmerz von damals über-
trifft oder ihm die Wage hält. Unser Geist erkennt
die Größe der vollendeten Tat, das Herz billigt sie,
das Gemüt ist davon befriedigt; allein die Freude
bricht nicht mit der Kraft und stürmischen Bewegung
hervor, die dem furchtbaren Sturm, der damals
unsere Brust durchtobte, vergleichbar wäre. Beruht
also die Lehre mancher Psychologen und der welt-
schmerzlichen Philosophie auf Wahrheit, daß die
Freude weniger stark als der Schmerz sei: eine Lehre,
die ich vordem stets kritisiert und zurückgewiesen
habe .?
282
Nein, diese Lehre ist trügerisch, gerade aus dem
Grunde, den die Kritiker anführen, weil es nämlich
nicht möglich ist, hier von Intensität zu sprechen und
Dinge, die ihrer Beschaffenheit nach verschieden sind,
aneinander zu messen. Der Schein geringerer Inten-
sität der Freude entsteht gerade daraus, daß sie Freude
ist, mithin ihrem Wesen nach selbst nachdenkliche
Sorge über die neuen Schwierigkeiten, die neuen Auf-
gaben, die sich aus der neuen Lage ergeben, die neuen
Pflichten, die in ihr heranreifen. Immer ist mir der
Schluß des Rolandliedes als etwas Bewundernswertes er-
schienen : Karl der Große, der, nachdem er gesiegt und
Rache an den Verrätern genommen, sich vom Boten
des Herrn zu neuen Unternehmungen und Mühen
gerufen sieht:
„Deus — dist li reis — si penuse est ma vie!
Pluret des oilxy sa barbe blanche tiret" ^).
In gewissem Sinne ist es mir recht, daß die Nach-
richt vom Siege mich hier erreicht, in den Bergen, die
sich schon mit Schnee bedecken, in einem Alpen-
dörfchen, weit entfernt von dem Festgepränge der
Städte. Auch hier ist ja der Sieg gefeiert worden, aber
in aller Schlichtheit: die Bergbevölkerung, Mütter,
Gattinnen, Schwestern, Greise, hat sich auf dem Platze
versammelt, die Kinder haben den Ort durchstreift,
dreifarbige Fahnen schwingend, und alles hat sich in
die Kirche begeben, wo der Priester vom Altare aus
rührende hohe Worte sprach. Das genügt mir. Zu
Festen anderer Art fühle ich in mir weder die nötige
Frische noch Ruhe. Und — muß ich es sagen.? —
^) Großer Gott — sprach da der König — so mühevoll ist mein Leben!
Die Augen tränten ihm und er griff in den weißen Bart.
283
nicht allein stoßen mich diejenigen ab, die diese Tage
benützen, um platte Beleidigungen gegen den Feind
zu schleudern, und unsinnige Urteile in widerwärtiger
Art wiederholen, sondern es erscheint mir selbst das
Festgepränge, jedes Festgepränge, das äußerliche und
materielle Formen annimmt, gemein.
Feste feiern — zu welchem Ende? Unser Italien
geht aus diesem Kriege wie aus einer schweren Todes-
krankheit hervor, mit offenen Wunden, mit gefähr-
licher Schwäche in seinem Leibe, die bloß fester Sinn,
gehobener Mut, sich erweiternder Geist überwinden
und durch harte Arbeit in Antriebe zur Größe wan-
deln kann. Hunderttausende unseres Volkes sind da-
hingerafft worden, jeder von uns sieht in diesem Augen-
blicke die trüben Gesichter der Freunde vor sich, die
wir verloren haben, zerrissen von Geschossen, entseelt
auf nackten Felsen oder dem Rasen, weit weg von
ihren Hütten und ihren Teueren. Und die gleiche
Trostlosigkeit herrscht in der ganzen Welt, unter den
Völkern unserer Verbündeten wie unserer Gegner,
Menschen gleich uns, trostloser als wir, da der Tod
aller ihrer Lieben, alle Mühen, alle Opfer nicht hin-
gereicht haben, um sie vor der Niederlage zu be-
wahren. Große Reiche, die Jahrhunderte hindurch
die Völker eines großen Teils von Europa in sich ver-
einigt, in Zucht gehalten, zur Arbeit des Gedankens
und der Gesittung, zum menschlichen Fortschritt an-
geleitet haben, sind dahin; große Kaiserreiche, an Er-
innerungen und Ruhmestaten reich; jeder edle Geist
muß vor der unerbittlichen Erfüllung des geschicht-
lichen Schicksals von Ehrfurcht ergriffen werden, das
die Staaten vernichtet und auflöst wie die Einzelwesen,
um neue Lebensformen zu schaffen. Shakespeares
284
Helden — Vorbilder aller Menschlichkeit — feiern
nicht Feste, wenn sie den Sieg davongetragen und die
furchtbarsten Feinde niedergeschmettert haben; sie
fühlen sich vielmehr von Schwermut durchdrungen
und ihre Lippen bewegen sich fast nur, um des Men-
schen, der ihr Gegner gewesen, und dessen Tod sie
selbst herbeigeführt, zu gedenken und sein Lob zu
verkünden!
285
ANHANG
DER „VÖLKERBUND«. Ein Interview {Tempo,
Rom, ly. Jänner 1919).
Ich begegnete gestern Croce und fragte ihn, was er
von der Frage des Tages, dem Völkerbund, hahe.
Er entgegnete mir: Dasselbe wollte ich gerade Sie
fragen, denn ich muß gestehen, daß ich noch nicht
begriffen habe, um was es sich handelt.
— Sie gehören, setzte ich fort, zu denen, die einen
Völkerbund für etwas Unmögliches ansehen.?
— Durchaus nicht; was ich nicht begreife, ist nur, wieso
man verkünden kann, man wolle heute etwas schaffen,
das bereits besteht.
— Ja, besteht denn der Völkerbund bereits?
— Ich denke wohl, da die Geschichte besteht und
sich in jedem Augenblick entwickelt, was unmöglich
wäre ohne das Zusammenwirken, mithin den Bund der
Völker.
— Wie soll ich mir das erklären?
— Sehr einfach. Welches Ideal schwebt dem Völker-
bund vor? Eine Art von Überstaat, der die verschie-
denen Völker in sich faßt, in ähnlicher Weise, wie
beispielsweise der Einheitsstaat Italien die verschiede-
nen Staaten des alten Italien, die Königreiche Neapel
und Sardinien, das Großherzogtum Toskana, den Kir-
chenstaat und so fort in sich aufgenommen und den
Frieden zwischen ihnen hergestellt hat.
a86
— Gewiß, etwas der Art: einen Schritt weiter in der
Einigung des Menschengeschlechts; und, einstweilen,
das Aufhören gewaltsamer Lösungen durch den Krieg.
— Nun gut: bedenken Sie, daß die Bildung eines
Einheitsstaates nicht das Aufhören der Kämpfe im
Innern eines Volkes bedeutet, vielmehr eine Form, in
der diese Kämpfe sich entwickeln. Kämpfe zwischen
Klassen, Landschaften, politischen Ideen und Ausgleich
zwischen Klassen, Landschaften, Parteien: das ist das
tägliche Leben eines Staates, so einheitlich er auch sein
mag. Die Heftigkeit der Kämpfe wechselt, da sie von
kleinen bis zu großen Reformen, von kleinen bis zu
großen Umwälzungen, selbst solchen, die man Revolu-
tionen nennt, reicht. Etwas Ähnliches oder wenigstens
Entsprechendes bietet nun das Leben der Völker in
ihren gegenseitigen Beziehungen, das heißt in ihrer
internationalen Einheit. Auch hier handelt es sich um
einen täglichen Kampf, und die Verständigung wird
durch diplomatische Verhandlungen, durch Handels-
verträge, durch Ententen, Bündnisse, durch die Her-
stellung eines mehr oder weniger dauerhaften Gleich-
gewichts erreicht; das ist das Leben dessen, was man
Frieden nennt; Kämpfe und Ausgleiche, die in ge-
wissen Augenblicken an Stärke gewinnen und innerhalb
der internationalen Gesellschaft das Gegenbild der Re-
volutionen, den Krieg herbeiführen. Nach diesem tritt
eine neue Ordnung der Dinge ein, das heißt, es beginnt
abermals ein Werdegang von Kämpfen in einem weniger
strammen Rhythmus, der den neuen Friedensabschnitt
bedeutet. Das ist der Bund der Völker, der ebenso wirk-
sam ist wie jener des in einem einzelnen Staat vereinigten
Volkes. Darum sagte ich, einen Völkerbund schaffen
hieße etwas schaffen, das bereits vorhanden ist.
287
— Es macht mir den Eindruck, daß Sie ironisch
sprechen und sich stellten, als ob Sie nicht verstünden,
was Sie in der Tat ganz gut begreifen : daß nämlich der
jetzt vorgeschlagene Völkerbund etwas vollkommen
Neues ist, daß er dahin zielt, die Ursachen jener Kämpfe
selbst zu beseitigen, die für gewöhnlich in Ausgleichen
und Gleichgewichtszuständen ihre Entspannung finden,
aber von Ziit zu Zeit sich in furchtbaren Kriegen ent-
laden.
— In welcher Art beseitigen? Etwa dadurch, daß man
auf das internationale Leben jenes mechanische Ideal
der Gleichheit überträgt, das im Leben der Einzelstaaten
selbst niemals gedacht, geschweige denn verwirklicht
werden konnte? Allein im internationalen Leben er-
weist sich dieses Gleichheitsideal sofort als absurd, ja
selbst komisch ; so groß sind die natürlichen, wirtschaft-
lichen, geistigen, überhaupt alle wie immer genannten
Verschiedenheiten zwischen den Völkern. Wozu soll
ich Ihnen elementare Dinge wiederholen? Wäre es
möglich, diese Verschiedenheiten zu beseitigen, das fort-
währende Entstehen und Sichvervielfachen der Gestal-
tungen zu unterdrücken, die Ursachen von Wettstreit
und Kampf aufzuheben, so würde man die Triebfeder
der Geschichte und der Wirklichkeit zerbrechen und
die Welt endigte in einem großen Gähnen der Lange-
weile.
— Sie nehmen die Begriffe in allzu unbedingter Weise.
Kann man die Triebfeder der Geschichte, als welche
Kampf ist, nicht zerbrechen, so kann man doch eine
bessere Art des Zusammenlebens zwischen den Staaten,
als wir sie bis jetzt kannten, herstellen.
— Gewiß, allein niemals auf Kosten der Logik; und
da der Völkerbund unter der Form von Begriffen und
288
Theorien vorgeschlagen und erörtert wird, so gehe ich
nicht in allzu unbedingter Form vor, wenn ich die Be-
griffe und Theorien untersuche und zeige, daß sie wider-
spruchsvoll und leer sind. Es bleibt die andere Frage
übrig: ob sich das Zusammenleben der Völker auf eine
höhere Stufe erheben könne; aber gestatten Sie mir, auch
was das anbelangt, die Bemerkung, daß man nach etwas
sucht, das längst erreicht ist. Aus welchem andern
Grunde ist denn jemals ein Krieg unternommen worden,
als um ein volleres, würdigeres, höheres, machtvolleres
Leben zu führen ? Wir alle, Sieger und Besiegte, führen
sicherlich ein geistig höheres Leben als das vor dem
Kriege.
— Wir verstehen uns noch immer nicht! Ich frage,
ob die gegenwärtigen Bemühungen, ganz abgesehen
von den Theorien, nicht dazu führen werden, die Er-
neuerung des Krieges unter den gesitteten Völkern zu
verhindern, des Krieges, der mit Waffen und unter Zer-
störung von Gütern aller Art geführt wird.
— Vielleicht, vielleicht auch nicht. Als Philosoph
habe ich niemals den ewigen Fortbestand des Krieges
in seiner zufälligen Form, auf die Sie anspielen, be-
hauptet. Diese Form mag verschwinden und sie wird
verschwinden, wenn der Vorteil, den sie bringt, hinter
dem Schaden, den sie verursacht, zurückbleiben wird,
das heißt, wenn der Krieg für die Menschheit wenig
ertragreich, unwirtschaftlich geworden sein wird. Ob
dies bald der Fall sein wird, das ist Stoff für Voraus-
sagen; und diese liebe ich nicht, wie Sie wissen, viel-
leicht weil ich dazu unfähig bin.
— Allein bemerken Sie denn nicht die Anzeichen
einer versöhnlicheren Stimmung der Geister, die in
allen Teilen der Welt zum Vorschein kommt.''
19 Croce. Randbemerkungen eines Philosophen 2oQ
— Ich bemerke sie nicht; es mag das mein Fehler
sein, da ich auf einer allzuweit entfernten Warte lebe,
von der aus mir vielmehr in Europa selbst die Unter-
schiede nicht allein in > der Gesittung (bedenken Sie :
Engländer und Russen, Italiener und Kroaten, Christen
und Türken), sondern auch in den Begriffen (bedenken
Sie: gallische und germanische Ideologie!) derart groß
erscheinen, daß ich nicht begreife, wie sie durch einen
Vorgang friedlichen Wettbewerbes und Einverständ-
nisses ausgeglichen werden sollen.
— Trotzdem muß etwas Neues und Bedeutsames,
wenn auch in unlogischer und mythologischer Weise,
wie man will, ausgedrückt, hinter dieser Forderung
eines Völkerbundes stecken. Wie?
— Einverstanden; doch was? Das ist es, was ich von
Ihnen zu hören wünschte, denn ich für meinen Teil
weiß es nicht. Vielleicht deshalb, weil es noch nie-
mand bis jetzt wissen kann ; da es sich um eine dunkle
Schwangerschaft handelt, aus der ein Geschöpf, schön
und heiter wie ein Gott, aber auch ein furchtbares Uii-
geheuer, gegen das wir uns rüsten müssen, hervorgehen
kann. Wir werden ja sehen; inzwischen wissen wir,
zum Glück, was uns als Menschen und Italienern für
den Augenblick obliegt; das genügt, oder genügt wenig-
stens mir.
THOMAS MANNS „BETRACHTUNGEN
EINES UNPOLITISCHEN« (Critica XFIII, Mai
ig2o). ^)
Es sind das Blätter, die der berühmte Romanschrift-
steller, Verfasser der Buddenbrooks, während des Krieges
*) Dieser, wie die beiden folgenden Abschnitte, sind in der Sammlung
Castellano's nicht enthalten. D. Ü.
geschrieben hat; „notgedrungen" geschrieben, weil in
anderer Weise zu handeln unmöglich war, wie ^ noch
manch einem in diesen Jahren begegnet ist: Blätter, wie
der Verfasser treffend sagt, die eher als eine „Frucht"
ein „Überbleibsel", ein „Niederschlag", eine „Spur",
eine „Leidensspur" zu nennen sind. Ich gebe diesen
Hinweis auf sie für die wenigen, die noch Freude am
Nachdenken haben und gut geschriebene Bücher zu
schätzen wissen. Das Thema des Buches ist die Auf-
lehnung gegen ^unpolitischen Geist, den demokratischen,
demagogischen, phrasenhaften Literatengeist : kein neues
Thema, aber neu empfunden und mit feinster Beob-
achtung ergriffen. Ich für meinen Teil habe es mit
durchgehender Zustimmung gelesen. Ich vermag nicht
einmal den heftigen Ausfall gegen d'Annunzio gänz-
lich zu mißbilligen (S. 597): „Aber woher nehme ich
das Wort, um ein Maß von Verständnislosigkeit, Staunen,
Abscheu, Verachtung zu bezeichnen, wie ich es an-
gesichts des lateinischen Dichter-Politikers und Kriegs-
rufers vom Typ des Gabriele d'Annunzio empfinde.?
Ist so ein Rhetor-Demagog denn niemals allein.? Immer
auf dem ,Balkon'.'' Kennt er keine Einsamkeit, keine
Selbstbezweiflung, keine Sorge und Qual um seine
Seele und um sein Werk, keine Ironie gegen den Ruhm,
keine Scham vor der , Verehrung'.?" Auch nicht das
folgende, das sich gegen Italien wendet, jenes Italien,
das d'Annunzio Beifall klatschte und vorgeführt wird
als ein „kindlich gebliebenes Land", in dem „aller poli-
tisch-demokratische Kritizismus nicht hindert, daß es
an Kritik und Skepsis in jedem größeren Stile dort fehlt,
ein Land also, dem keine Vernunft-, keine Moralkritik,
am wenigsten aber eine Kritik des Künstlertums Er-
lebnis wurde" .? Allein der Verfasser, der den deutschen
19*
291
Geist als Gegensatz zu dem der „Zivilisation" im vorer-
wähnt«n Sinne faßt, vertreten von den damals im Kriege
mit Deutschland stehenden Völkern (außer Rußland),
weiß sehr wohl und sagt es des öftern, daß der deutsche
Geist, der w^ahre, von ihm gepriesene deutsche Geist,
nicht mit dem tatsächlichen Deutschland zusammen-
fällt, in dem die aus den lateinischen und angelsäch-
sischen Ländern kommenden Strömungen sehr stark
v^aren und es noch sind und die bezweckten und
es noch tun, „Deutschland zur Demokratie heran-
wachsen" zu lassen, das heißt zu einer Staats- und Ge-
sellschaftsform, zu welcher Paraguay und Portugal schon
des längern „herangewachsen" waren (S. XXXVIII).
Man kann dagegen einwenden, daß, gleichwie Deutsch-
land durch jene Gegensätze geteilt ist, es mehr oder
weniger auch alle andern Länder sind, auch Italien, auch
England, auch Frankreich. Von diesem Gesichtspunkt
aus könnte man vielleicht zu dem Schlüsse kommen,
daß das Thema seines Buches, ausgedrückt als der Gegen-
satz zwischen dem wahren deutschen Geiste und jenem
der lateinischen Länder, in symbolischer oder mytho-
logischer Form (eines ethnischen Mythologismus) den
menschlichen und ewigen Widerstreit zwischen Aristo-
kratie und Menge verkörpert. Es ist sicher notwendig,
gegen die Menge Stellung zu nehmen, sie zu um-
schreiben, zu verhöhnen, mit Heftigkeit abzuwehren:
man muß seinen Gefühlen freien Lauf lassen ; die Ge-
duld hat ihre Grenzen. Allein, ist dies geschehen (und
wenige haben es so getroffen wie Mann), so bleibt den-
noch die Menge bestehen; sie bleibt, weil sie werktätig
handelt — auf ihre Weise, wohlverstanden — , und erfüllt
ihre vielfachen Aufgaben, unter denen auch die sich
befindet, in der Aristokratie das Bewußtsein ihrer selbst
292
aufzustacheln und zu verstärken. Kein Krieg, keine
Eroberung, keine Unterwerfung, kein Umsturz, kein
Einbruch fremder Völkerschaften hat sie jemals ver-
nichten können; und v^enn Deutschland (das Deutsch-
land, das w^ie Mann denkt und fühlt) sich dieses Ziel
vorgesetzt hat, so braucht es uns nicht in Verw^underung
zu setzen, daß es den Krieg verloren hat, und daß ihn
vielmehr jene gewannen, die ihre Rechnung mit der
Menge besser zu machen verstanden haben.
OSWALD SPENGLER - DER UNTERGANG
DES ABENDLANDES. Umrisse einer Morphologie
der Weltgeschichte. Erster Band: Gestalt und Wirk-
lichkeit. München 1 9 1 9 — {Critica XV III ^ Juli ig2o) —
Die beifällige Aufnahme, die dieses Buch, zu Anfang
1 9 1 8 und 1 9 1 9 schon in vierter Auflage erschienen —
jetzt ist es bei der achten angelangt — , in Deutschland
gefunden hat, muß denjenigen ernstlich Sorge bereiten,
denen das Geschick wissenschaftlicher Arbeit am
Herzen liegt. Denn da es auf andere ähnlichen Schlages,
wenn nicht seiner These, so doch seiner Methode nach
(gleich jenem vielberufenen von Chamberlain) ge-
folgt ist, so scheint es den Verfall — einen dem Krieg
weit vorausliegenden Verfall! — von Kräften zu be-
zeugen, mit denen Deutschland einst wohltätig auf das
moderne Geistesleben eingewirkt hat. Ich meine damit
die von diesem geschaffene, oder doch mindestens ge-
förderte und verstärkte Gewöhnung, die Probleme
mit voller Kenntnis des ihnen Vorausgegangenen, das
heißt ihrer geschichtlichen Entwicklung, zu behandeln,
um derart so weit als möglich Rückschritte oder un-
nötige Schritte zu verhindern ; sowie ferner das in ähn-
Hcher Weise geförderte Bewußtsein, daß die Wirklich-
293
keit Geistigkeit und Schöpfertum sei, und sich nicht von
naturwissenschaftUchen Auffassungen unterdrücken
läßt, die immer in fatalistische und pessimistische um-
schlagen.
Herr Spengler befindet sich aber in vollständiger
Unvi^issenheit über die Geschichte der Fragen, die er
zur Sprache bringt; seine Gedanken sind ebenso wie
seine Gelehrsamkeit die eines Dilettanten; eines Di-
lettanten, auf daß ich recht verstanden w^erde, vom
Schlage unseres Guglielmo Ferrero, den er übrigens
an Bildung und Scharfsinn überragt, da sein Dilettan-
tismus (und Marktschreiertum) in einem innerlicheren
und mannigfaltigeren Kulturmittel entstanden ist als
das Lombrosianisch-Sozialistische, in dem Ferrero auf-
wuchs. Da er nun die Geschichte jener Fragen nicht
kennt, so stößt es auch ihm zu, daß er bei jeder zu-
sammenhanglosen Klitterung von Begriffen, die er vor-
nimmt, oder bei jeder Halbwahrheit, die ihm durch
den Kopf schießt, Wunder von Entdeckungen, die das
allgemein anerkannte Wissen umstoßen, vollbracht zu
haben wähnt: die hemmungslosen Behauptungen des
Pseudogelehrten gehen so Hand in Hand mit der ver-
wegensten Sicherheit und Selbstgefälligkeit. Die Art,
mit der er das eigene Werk ins Licht stellt, und jeden
Zug unterstreicht, wäre von unsern alten Kritikern, die
voll guten Menschenverstandes waren, wohl „thra-
sonisch" genannt worden — nach der Figur des Maul-
helden im Eunuchen des Terenz.
Man lese als Probe nur wenige Sätze:
„In diesem Buche wird zum ersten Male der Versuch gewagt,
Geschichte vorauszubestimmen" (S. 3). Er erweitert sich zu
einer völlig neuen Philosophie, der Philosophie der Zukunft
(S. 6). Die Geschichtschreibung steht bis heute auf einem Ni*
veau . . . dessen man sich in andern Wissenschaften geschämt
hätte (S. 2i). Die heutige Art geschichtlichen Denkens entspricht
dem ptolemäischen Weltsystem, „und ich betrachte es als die
kopernikanische Entdeckung im Bereich der Historie, daß
in diesem Buch ein neues System ... an seine Stelle tritt" (S. 24).
Hier findet man „die bisher unbekannte Methode der vergleichen-
den historischen Morphologie" (S. 64). „In diesem Buche liegt
der Versuch vor, diese ,unphilosophische* Philosophie der Zukunft
— es würde die letzte Westeuropas sein — zu skizzieren" (S. 65).
Im Vorwort (s. S. VIII) wünscht er sich sogar (es war damals
der Höhepunkt des siegreichen Vormarsches von LudendorfFs
Heeren), daß sein Buch „neben den militärischen Leistungen
Deutschlands nicht ganz unwürdig dastehen möge" !
Will man wissen, worin die von Herrn Spengler
vollbrachte Entdeckung besteht, was seine „ver-
gleichende morphologische Geschichte" bedeutet,
durch die man dazu gelangen soll, die Geschichte „vor-
auszubestimmen" .? Man sollte es kaum glauben : daß
die menschliche Gesellschaft sich in Kreisläufen ent-
wickelt, von Kultur zur Zivilisation übergehend, durch
die Zersetzung der Zivilisation und die Rückkehr
primitiver Bedingungen wieder zu neuer Kultur zu-
rückleitend, nur daß in diesem Kreislauf, zusammen
mit den politischen und sozialen Formen, auch Lite-
ratur, Kunst, Wissenschaft und jegliche Sache sich
änderten. Das heißt, es handelt sich hier um einen der
ältesten Gedanken der Menschheit, um die Lehre von
den geschichtlichen Kreisläufen, die, nach langer
Durcharbeitung in Altertum und Renaissance, dann
in Italien, es sind nun schon zwei Jahrhunderte her,
einen philosophischen Genius fand, der sie sich zu
eigen machte und mit philosophischen und historischen
Begriffen von wunderbarer Frische und Mannigfaltig-
keit bereicherte ; derart, daß nichts von alledem, was
Spengler über sie vorbringt und das irgendwie berück-
295
sichtigungswert ist, etwas bedeutet, das nicht schon
in der Scienza nuova zu finden wäre : dieser gehört, in
gewissem Sinn, selbst die Voraussicht der Periode der
Eroberungen und Expansionen sowie der neuen Bar-
barei an, der die moderne bürgerUche Kultur entgegen-
gehen soll.
Nur ist in den zwei Jahrhunderten, die von Vico bis
auf uns verflossen sind, diese Lehre erörtert, kritisiert,
zum Teil verworfen, zum andern bewahrt, aus ihrer
Starrheit gelöst, von Übertreibungen und phantastischen
Inkrustationen gereinigt, mit der Lehre vom Fort-
schritt wieder verknüpft worden, mithin verfeinert und
im einzelnen durchgearbeitet, gerade durch jene Philo-
sophen und Historiker, die Herr Spengler seine Ver-
achtung fühlen läßt und für die er, seinem Ausspruch
nach , sich schämt — ein Schamgefühl, das der Leser
seines Buches zu erwidern sich bemüßigt fühlen
möchte! Von all dieser kritischen Arbeit weiß Herr
Spengler nichts; und wegen dieser Unwissenheit und
Unbewußtheit ist sein Buch „unter aller Kritik" : mit-
hin werde auch ich mir nicht die Mühe geben, es zu
erörtern und zu widerlegen. Es gibt besseres zu tun.
Wie wäre es auch zu erörtern, wenn darin allent-
halben derselbe Mangel an Methode zu finden ist?
Herr Spengler hat in gar vielen Gebieten des Wissens
Neues zu bieten : von der Mathematik an, in bezug auf
die er uns verkündet, etwas entdeckt zu haben, „was
den Mathematikern selbst verborgen geblieben ist",
daß nämlich die Zahl an sich nicht existiert und die
Zahlen etwas Relatives sind, je nach den Völkern und
den Formen der Zivilisation (S. 85), sowie daß Kant
unrecht gehabt hat, die Kategorien und geistigen
Formen für etwas allen Menschen Gemeinsames zu
296
halten (S. 87). Der Abschnitt über die Kunst beginnt
mit einer Polemik (auch diese dilettantisch und ohne
Zusammenhang mit den Vorstufen des Problems) gegen
die Wichtigkeit, die der Einteilung nach Einzelkünsten
beigelegt wird. Auch das heißt nur üblerweise eine
Tür einrennen, die schon von andern weit geöffnet
worden ist — ebenso mit der Behauptung, daß zwischen
der Musik, der Bildnerei, der Mathematik und der
Wissenschaft eines Zeitabschnitts eine weit größere
Verwandtschaft bestehe als zwischen der Musik, Bild-
nerei usw. zweier verschiedener Zeitabschnitte — was
nur eine Halbwahrheit ist, da die Verbindungen zwi-
schen den verschiedenen Erscheinungen einer Epoche
solche der Kultur sind, jedes Kunstwerk dagegen ein
ästhetisches Einzelwesen und darum unvergleich-
bar ist.
Ich lasse das also beiseite und gehe zu den politischen
Voraussetzungen des Herrn Spengler über: trüb pessi-
mistischen Vorraussagen, bei denen es wegen der qual-
vollen Krisis, in die das große deutsche Volk eingetreten
ist— und die es, wie wir hoffen, bald überwinden wird—
zu befürchten steht, daß sie leicht und allgemein Zustim-
mung finden,Torheiten, Schwächezustände, geistige und
sittliche Schäden erzeugen werden, gleich jenen, die die
Aufstellungen des Herrn Chamberlain und Genossen
zur Zeit des Alldeutschtums und der Vorbereitung
zum Kriege hervorgebracht haben.
Herr Spengler behauptet, gestützt auf seine philo-
sophischen und geschichtlichen Untersuchungen, daß
die Periode von 1900 bis 2000 derjenigen der Hyksos
in Ägypten, dem Hellenismus und der Herrschaft der
Diadochen sowie der römischen Zeit von Scipio bis
auf Marius entsprechen und daß sie durch Imperialis-
- 297
mus und Sozialismus zusammen gekennzeichnet sein
werde. Die folgende, von 2000 bis 2200, soll der 18.
ägyptischen Dynastie, ferner der Zeit von Sulla bis
auf Domitian entsprechen und gekennzeichnet werden
durch den Cäsarismus, die immer mehr anwachsende
Naturalisierung der politischen Formen, den Verfall
der nationalen Körper, die zu gestaltlosen internatio-
nalen Menschenhaufen herabsinken werden, und deren
Aufsaugung in einem Imperium urtümlich - despo-
tischer Art. Nach 2200 wird in Europa allenthalben
Ägyptertum, Mandarinen- und Byzantinerwesen
herrschen. Der imperialistische Mechanismus wird er-
starren und seinerseits in Verfall geraten, alles zur
Beute junger Völker und fremder Eroberer, werden;
allmählich werden wieder vorgeschichtliche Zustände
eintreten, man wird in die Wälder zurückkehren,
Wälder, die, wie es den Anschein hat, nur sehr spär-
liche Bäume aufweisen werden.
Müßte ich als der Neapolitaner, der ich bin, auf diese
Voraussagen antworten, so würde ich mich darauf be-
schränken, die herkömmlichen Beschwörungsgebärden
zu machen. Damit aber der aristokratische Denker
Herr Spengler mich nicht als „Provinzler" verurteile
(so nennt er verächtlich die übrigen Historiker), so
will ich ihm als Philosoph, das heißt mit vieler Ein-
fachheit antworten. Alles kann sich in der Welt er-
eignen, auch daß nach 2200 unsere Urenkel in die
Wälder unserer fernen Ahnen zurückkehren werden.
Allein dies als eine gesicherte Tatsache auf Grund von
„Analogien" zu behaupten (wären sie auch mit dem
Wissen, dem Unterscheidungsvermögen, der Gewissen-
haftigkeit vorgebracht, über die sämtlich Herr Spengler
nicht verfügt), heißt törichtes Zeug reden, das keine
298
andere Wirkung hervorbringt als die allen Torheiten
eigene, die Geister in Verwirrung zu setzen und die Ge-
müter niederzudrücken. Von dem, was sich ereignen
wird, wissen wir gar nichts ; aber wir wissen, unterdessen,
sehr wohl, daß wir nicht in die Wälder zurückkehren
wollen, auch nicht einmal zu ihrem Vorspiel, dem
Mandarinen- und Byzantinertum , und ebensowenig
zu dessen Vorläufer, dem Despotismus, der angeblich
die einzige Herrschaftsform über die gestaltlosen Massen
sein soll. Der Mensch ist Geistigkeit, darum Schöpfer-
tum und trägt in sich unendliche Kräfte, die es ihm
ermöglichen, allen Lagen die Stirn zu bieten, sie zu
überwinden und umzugestalten, so schwierig oder ver-
zweifelt sie auch zu sein scheinen. Herr Spengler rät,
uns dem Imperialismus-Sozialismus, dann dem Despo-
tismus und so weiter anzubequemen, da wir uns längst
im Greisenalter Europas befinden, und der Greis leben
muß, wie es dem Greise geziemt. Allein nicht einmal
der Greis hört, in Sachen des Geistes, auf diese feigen
Ratschläge, sondern fährt fort zu denken und zu
schaffen, bis zum letzten Hauche; und so geschieht es
zuweilen, daß er, wie Kant die Kritik der Urteilskraft
mit fünfundsechzig Jahren schreibt, oder, wie Goethe
den zweiten Teil des Faust mit achtzig, oder, wie Leo-
pold Ranke, die Weltgeschichte mit neunzig ; oder daß
er, wie Blücher , mit siebzig Jahren , Napoleon bei
Waterloo besiegt. Und nun erwäge man, ob die mensch-
lichen Gesellschaften ihnen Gehör schenken sollen,
sie, deren Jugend und Alter bloß metaphorisch sind!
Wie man sieht, habe ich aus Höflichkeit bloß Bei-
spiele hervorragender Deutscher angeführt. Ich füge
noch hinzu, daß die Vorläufer des Herrn Spengler,
nicht in ihren Thesen (etwas, das wenig besagt), son-
299
dem in der Methode (was viel mehr sagen will) , die
Chamberlain und andere desselben Schlages, ganz ähn-
liche Diagnosen über uns Italiener gestellt und uns ge-
raten haben, nach Greisenart zu leben und uns dem
germanischen Eroberer- und Triumphatorentum zu
unterwerfen. Allein die angeblichen Greise haben sich
in vier harten Kriegsjahren nicht mehr und nicht
weniger jung als alle andern Völker erwiesen ; daher die
Verwunderung über die „unerwartete Widerstands-
kraft der Italiener", die in deutschen Zeitungen und
Büchern ihren Ausdruck fand. Denn was hatten jene
Schriftsteller vergessen.? Daß der Mensch nicht ein
Naturwesen, sondern ein Geisteswesen ist, und daß auch
die Italiener Menschen sind, allem Elend unterworfen,
aber auch fähig zu jeder menschlichen Größe. Und
Herr Spengler vergißt seinerseits, daß die „Europäer"
(über die er jetzt den Stab bricht) ebenso Menschen
sind, und daß sie darum denjenigen sehr viele „Über-
raschungen" bereiten, die mechanisch denken wie er.
ÜBER DIE ZOOLOGISCHE STATION VON
NEAPEL (Senatsrede, gehalten am g. Dezember ig2o
vom JJnterrichtsminister Croce).
Meine Herren Senatoren! Die langen Erörterungen
von gestern und heute haben Sie genügend über den
Ursprung und die Schicksale der Zoologischen Station
in Neapel aufgeklärt. Ich will Sie nicht damit ermüden,
nochmals diese Geschichte vor Ihnen zu entwickeln,
obwohl ich dies für einige ihrer Teile mit größerer Ge-
nauigkeit und mit passenderen Farben zu tun vermöchte.
Ich wünsche bloß, daß man sich über das Wesen der
Zoologischen Station wohl im klaren sei, die nicht eine
wissenschaftliche Einrichtung im Sinne einer Universi-
300
tätsfakultät oder einer Akademie ist. Sie ist vielmehr —
um mich so auszudrücken — eine große Herberge für
Fachleute, die aus allen Teilen der Welt zu ihr kom-
men, hier Arbeitstische, eine reiche Fachbücherei, alle
Arten von Hilfsmitteln zur Erforschung der Tierw^elt
des Meeres vorfinden, und vor sich die Bucht von
Neapel, das Mittelmeer haben, das ihnen alles Erforder-
liche in reichem Maße liefert. Allein jeder arbeitet hier
auf seine Rechnung, seinen eigenen Zwecken gemäß,
mit der größten Freiheit.
Den Gedanken dieses Instituts hat der Embryologe
Anton Dohrn aus Stettin gefaßt, hierhergeführt durch
seine Forschungen über die Vorgeschichte der Wirbel-
tiere; sie machten ihm den großen Nutzen deutlich,
der sich daraus ergibt, wenn die Gelehrten sich an
einem geeigneten Orte zusammenfinden und ihnen die
zur Erforschung der Seetiere nötigen Behelfe geliefert
werden können. Allein wie alle, die einen neuen und
nützlichen Gedanken haben, mußte er, in Berlin nicht
minder als in Neapel, viele Kämpfe bestehen und sehr
viele Hemmnisse überwinden; in Berlin, wo das preu-
ßische Kultusministerium ihm zunächst die bescheidene
Beihilfe, die er verlangte, abschlug und die preußische
Akademie ein ungünstiges Gutachten über seinen Plan
abgab, in Neapel, wo er Mißtrauen und Eifersucht er-
weckte, die dann in ungeahnter Weise aufhörten, als
das Haupt der Mehrheit in der damaligen Gemeinde-
verwaltung, Baron Savarese, nachdem er eine Schrift
Dohrns gelesen, die Bedeutsamkeit des Planes er-
faßte, den Verfasser kennen zu lernen wünschte, mit
ihm eine dreistündige Unterredung hatte und dann die
von Dohrn verlangte Konzession im Gemeinderat vor-
schlug und siegreich zur Annahme brachte. Es ist Ihnen
301
schon mitgeteilt worden und beruht auch durchaus auf
Wahrheit, daß Dphrn sein ganzes Vermögen, ja selbst
die Mitgift seiner Frau an dieses Werk gesetzt hat;
allein er hatte die Genugtuung, seine Schöpfung rasch
gedeihen und zu großem Ruf, zu Weltruf gelangen zu
sehen und der Wissenschaft unermeßliche Dienste zu
erweisen. Der ehrenwerte Senator Volterra hat in
Dohrns Taschen nachgeforscht, um darzutun, daß er
sein Kapital zurückerlangt und vielleicht auch dessen
Zinsengenuß erreicht hat. Ich bin nicht imstande, das
nachzuprüfen und möchte nur nachdrücklich der Hoff-
nung Ausdruck geben, daß Dohrn auf seine Kosten
gekommen ist und daraus Vorteil ziehen konnte. Es
wäre das nur der gerechte Lohn für sein Werk und seine
Mühen gewesen {Sehr gut). Sicherlich fand er aber
noch einen schöneren Lohn in der Achtung und Liebe,
die ihm stets in Neapel zuteil geworden ist, das ihn
auch anläßlich der fünfundzwanzig] ährigen Jubelfeier
der Zoologischen Station zum Ehrenbürger ernannt hat.
Als er starb, faßten Freunde und Bewunderer den Plan,
ihm einen marmornen Denkstein zu errichten, und ich,
der ich auf ganz andern Forschungsgebieten tätig bin,
wurde damals eingeladen, der Kunstkommission bei-
zutreten, die über das Werk des Bildhauers zu urteilen
hatte.
Es ist Ihnen auch gesagt worden, welcher Art der von
Dohrn mit der Stadtverwaltung von Neapel geschlossene
Vertrag war. Diese trat den Grund ab zur Errichtung
und zum Betrieb der Zoologischen Station, und nach
einer zunächst auf dreißig, dann (wegen der großen
Erweiterung des Bauwerks) auf neunzig Jahre fest-
gesetzten Frist sollte die Gemeinde Neapel vollkommen
und ausschließlich Besitzerin der Station und aller ihrer
302
zugehörigen Bestandteile werden. Die Verlängerung
von einem Zeitraum von dreißig auf einen von neunzig
Jahren ist als etwas Ungeheuerliches erschienen; allein
ich glaube, daß die Gemeinde Neapel damit sehr klug
für das Gedeihen der Station vorgesorgt hat: denn wäre
sie Eigentümerin geworden, was hätte sie Besseres tun
können, als einen andern Konzessionär als Fortsetzer
und Erben der Dohrnschen Überlieferung zu suchen?
Sie auf eigne Rechnung zu führen, daran wird sie wohl
niemals auch nur für einen Augenblick denken.
Noch ein anderes Mißverständnis muß ich zerstreuen :
daß nämlich die Station in ihrer Verwaltung vom preu-
ßischen Staate abhinge und daß sie ihre Rechnungen
nicht dem italienischen, sondern dem preußischen Staate
ablege.
Nun hat Preußen und, wie man hört, der deutsche
Kaiser aus seiner Privatschatulle die Station mit reich-
lichen Zuwendungen bedacht; es ist bei der Ordnung,
mit der die Deutschen alle ihre Geschäfte abwickeln,
natürlich, daß Abrechnungen verlangt und überprüft
worden sind. Allein Italien, das, wie andere Staaten,
einige Arbeitstische bezahlte, hatte, nachdem es diese
zum Nutzen seiner Studierenden erhalten hatte, keinen
vernünftigen Anlaß, sich weiter um die Geldgebarung
der Station zu kümmern, die auf Gefahr und Kosten
des Konzessionärs ging.
Als Anton Dohrn im Jahre 1909 gestorben war,
folgte ihm in der Konzession und der Leitung der Zoo-
logischen Station sein Sohn, Dr. Reinhold Dohrn, über
den ich von einigen Rednern nicht sehr günstige, oder
besser nicht sehr sympathische Urteile gehört habe.
Jedoch ein anderer Redner hat Ihnen schon in Erinne-
rung gebracht, wie sehr anders der junge Dohrn vor
303
dem Kriege beurteilt, wie hoch und überschwenglich
er von dem nämlichen italienischen Professor, jetzt
Direktionsleiter der Zoologischen Station, begrüßt
worden ist, dem Haupturheber der ganzen Treiberei,
die ihren Widerhall hier im Senat gefunden hat. Ich,
der ich, wie gesagt, andere Studien betreibe, bin nicht
in der Lage, über die größere oder geringere wissen-
schaftliche Fähigkeit des Dr. Dohrn zu urteilen ; allein
ich muß in jedem Fall Ihre Aufmerksamkeit auf das
lenken, was ich über das Wesen der Zoologischen Station
vorgebracht habe, die an ihrer Spitze nicht einen Meister
der Wissenschaft braucht, einen Entdecker oder Erfinder,
ein Genie, sondern einen praktischen Organisator. Und
Dr. Reinhold Dohrn ist ein redlicher und fleißiger
Mann, der für das von seinem Vater begründete In-
stitut volle Hingabe zeigt, dessen Überlieferungen kennt
und dadurch Titel besitzt, um es lebenstüchtig und ge-
deihensvoll zu machen, die man bei andern schwerlich
in dieser Art beisammenfinden würde. Nun ist er auf
seiner Rundfahrt durch das Ausland (um Unterstützung
für die Station zu finden, von der er hofft, daß sie ihm
wieder übertragen werde) von schwerer Krankheit be-
fallen worden; Sie werden mir erlauben, daß ich ihm,
wenigstens für meine Person, in diesem Augenblick,
wo über einen Abwesenden und Kranken gesprochen
wird, den herzlichsten Wunsch baldiger Wiederher-
stellung ausdrücke.
Es ist auch behauptet worden, daß die Zoologische
Station in den Jahren vor dem Kriege einen gewissen,
ausgesprochen deutschen Charakter angenommen habe,
namentlich weil nach dem Tode Prof. Lobiancos, des
Mitarbeiters Dohrns, dieser durch deutsche Gelehrte
ersetzt worden sei. Das mag richtig sein oder nicht;
304
sicherlich aber muß das Übel nicht grofB gewesen sein,
da damals nicht die leiseste Klage oder Widerrede er-
hoben worden ist. Die Klagen und Widerreden sind
sozusagen posthum: posthum nach dem Kriege.
Denn durch den Krieg und allein durch den Weltkrieg,
der sicherlich nicht durch Dohrns oder anderer Einzel-
wesen Schuld entbrannte, sondern durch ein historisches
Verhängnis, wurde die Krisis der Zoologischen Station
hervorgerufen. Es ist nicht richtig, daß Dr. Reinhold
Dohrn, wie der Senator Arlotta gesagt hat, 19 14 aus
»Italien geflüchtet wäre und die Station ihrem Schicksal
überlassen hätte. Dr. Dohrn verließ Italien im Mai 1 9 1 5,
als dieses in den Krieg eintrat; er verließ es auf Anraten
des deutschen Konsuls und ließ gar nichts im Stiche,
sondern übergab, in vollkommener Korrektheit, seine
Vollmacht für die Weiterführung der Zoologischen Sta-
tion einem Italiener, Prof. Federigo RafFaele, dem Ver-
treter der Zoologie an der Universität Rom, der seiner-
seits den italienischen Unterrichtsminister davon sofort
in Kenntnis gesetzt hat.
Wie Ihnen dargelegt worden ist, beschloß die ita-
lienische Regierung im selben Jahr 1 9 1 5 die Einsetzung
einer Kommission für die zeitweilige, außerordentliche
Leitung der Station. Der Bevollmächtigte Prof. Raffaele
glaubte sich in seiner Eigenschaft als italienischer Bürger
und Hochschullehrer nicht befugt, dem entgegenzu-
treten und beschränkte sich darauf, einen Einspruch
zugunsten der Wahrung von Dohrns Rechten nieder-
zulegen. Ich gedenke nicht, die Ersprießlichkeit der
damals von der italienischen Regierung getroffenen Ver-
fügung zu untersuchen; diese übernahm ja im Grunde
ein nichf ihr gehöriges Institut, das während des Krieges
und des Auf hörens der internationalen Beziehungen ganz
30 Croce, Randbemerkungen eines Philosophen
305
gut in einem zeitweiligen Stillstand verharren konnte,
und bestritt die Kosten dafür aus dem eigenen Säckel.
Sei dem nun wie immer, die italienische Kommission
zur Führung der Geschäfte gefährdete in nichts das Ge-
schick des Instituts und entstellte nicht seinen Charakter.
Dies geschah aber durch die Notverordnung vom
26. Mai 191 8; es ist die vor kurzem durch die Regie-
rung aufgehobene, die wir eben erörtern : eine Verord-
nung, die ich nicht von ihrer formalen juridischen Seite
her untersuchen will; einigen rechtskundigen Rednern,
die zu dieser Interpellation das Wort ergriffen haben,j^
ist sie als eine juridische Ungeheuerlichkeit erschienen.
Ich möchte mir nur die Bemerkung erlauben, daß durch
diese Verordnung nicht bloß Dr. Dohrn der Gerecht-
same, die ihm nach dem mit der Gemeinde Neapel ge-
schlossenen Vertrag zustanden, verlustig ging, sondern
auch diese Gemeinde selbst ihr Eigentum nur mehr
dem Namen nach und in widerspruchsvoller Weise
besaß, da hierdurch aus der Zoologischen Station ein
autonomes Gebilde mit unbegrenzter Dauer gemacht
wurde, während die Konzession der Gemeinde Neapel
auf eine Dauer von 90 Jahren festgelegt war, so daß
ihr Übergang in das unbedingte und tatsächhche Eigen-
tum der Gemeinde Neapel auf den Nimmermehrstag
verschoben wurde.
Ich muß aber daran erinnern, daß jene Notverord-
nung noch nicht Gesetz geworden war ; so daß es mir,
als dem neuen Unterrichtsminister, oblag, sie zur
Annahme vorzulegen und die Erörterung darüber
einzuleiten ; was so viel heißt, daß ich in gewisser Hin-
sicht die Verantwortlichkeit dafür übernahm. Es ent-
sprang also durchaus nicht einer bloßen Laune* von mir,
wenn ich auf das, was geschehen war, zurückkam.
306
Noch eine andere Erklärung bin ich bemüßigt vor-
auszuschicken; sie betrifft meinen Ruf als „Deutschen-
freund" (um das im Kriege geprägte Wort zu ge-
brauchen) : Deutschenfreund durch meine literarischen
und philosophischen Forschungen und durch die
Wertschätzung, die ich stets für die von Deutschland der
Wissenschaft geleisteten Dienste bezeugt habe. In der
schwebenden Erörterung hat man auch auf das Archäo-
logische Institut angespielt, dessen Rückstellung an
das Deutsche Reich ich beantragt habe. Jawohl, das
habe ich beantragt, weil ich glaubte — und ich habe
das lange vorher an den damaligen Minister Nitti
geschrieben, ehe ich ahnen konnte, daß ich einmal
selbst Minister würde — , es mache durchaus keinen
schönen Eindruck, wenn man sich einer Sache be-
mächtige, die der geistigen Arbeit anderer entsprossen
war, und es ginge nicht an, zwischen den italienischen
und den deutschen Forschern, welch letztere sehr viel
auf ihre archäologische Bibliothek halten, und deren
Rückstellung in Kundgebungen von Privatleuten und
Vereinigungen wie auf diplomatischem Wege ver-
langten, Haß und Zwietracht zu säen. Was die Zoolo-
gische Station betrifft, so machten sich jedoch derlei
Bemühungen nicht geltend, da auch die Deutschen
sehr wohl wußten, es handle sich um eine private Ein-
richtung internationalen Charakters. Demnach kommt
das Verdienst oder die Schuld für das, was ich vorge-
schlagen und durchgesetzt habe, mir allein zu, und ich
wurde dazu einzig und allein durch das Interesse der
italienischen Verwaltung bewogen.
Als ich mich mithin, wie es meine Pflicht war, daran
machte, die Frage der Zoologischen Station zu unter-
suchen, fand ich mich folgender Sachlage gegenüber.
80* 'JQJ
Vor allem ergab sich eine schwierige finanzielle
Lage, da ich sah, daß Dohrn der Weg zu einer Klage
auf Schadloshaltung offen stand und ich nicht voraus-
sehen konnte, bis zu welcher Höhe sich diese erstecken
würde : gewiß auf einen sehr hohen Betrag, wenn es
auf Richtigkeit beruht, was meine Gegenredner an-
führen, daß Dohrn aus dem mit der Gemeinde Neapel
geschlossenen Vertrag reichlichen Nutzen gezogen hat.
Underdessen hatte der italienische Staat für die Zoolo-
gische Station 275000 Lire außerordentlicher Zu-
schüsse verausgabt und mit den andern Kosten, nach
den Berechnungen des Senators Volterra, ungefähr
eine halbe Million. Nicht genug daran : der Leiter der
Station kam zu mir, um für das laufende Jahr einen
neuen außerordentlichen Zuschuß, ich glaube von
50 000 Lire, zu verlangen; er deutete verhüllt auf For-
derungen der Beamten um Gehaltserhöhung hin. Auch
damit war es noch nicht getan : eine Kommission (der
auch der Senator Volterra angehörte) verlangte vom
Staate zur endgültigen Neuordnung der Zoologischen
Station einen festen Jahresbeitrag von 400000 Lire.
Meine Herren Senatoren, ich habe die Mahnung,
die aus dem Schöße des Senats ergangen ist, alle Er-
sparnisse, die möglich, zu machen, ernst genommen:
das hat mir etliche Verstimmungen eingetragen und tut
es noch, was ich in Geduld trage (Sehr gut!). Allein,
hier handelt es sich nicht um Ersparnisse, sondern um
eine viel einfachere Frage, die ich als Verwalter stellen
mußte: Weshalb sollte der itaHenische Staat, der vor
dem Kriege nichts für die Zoologische Station (außer
der Bezahlung für die Arbeitstische) ausgegeben hat,
sich in dieses Meer von finanziellen Verantwortlich-
keiten und Ausgaben stürzen?
308
Noch schlimmer war es um die Disziplinarlage der
Station bestellt. Die zwei italienischen Professoren, die
an ihrer Spitze stehen, waren schon untereinander in
Streit geraten ; der eine setzte den andern herab, selbst
im Auslande, indem er alles mögliche Unheil für die
Station vorhersagte. Der also angegriffene Leiter be-
kämpfte, wie es sich von selbst versteht, den andern
und war überdies noch mißtrauisch gegen den Senator
Volterra und den Ausschuß für Meereskunde, da er
sie beschuldigte, die Zoologische Station in Neapel auf-
saugen, sich ihrer Bibliothek bemächtigen zu wollen
und ähnliches. Er selbst hat mir davon Mitteilung ge-
macht; übrigens besteht ein schriftlich niedergelegtes
Zeugnis dieses Zwistes, da Jenaer Leiter sich weigerte,
mit den andern Beauftragten den letzten, schon früher
erwähnten Bericht über die Neuordnung der Station
zu unterschreiben. Was wäre mir nun zu tun übrig
geblieben? Alle wegzuschicken und einen neuen
Leiter zu wählen. Aber die Notwendigkeit dieser all-
gemeinen Entlassung war keine leichte Sache, ebenso-
wenig, eine geeignete Persönlichkeit zu finden.
Tatsächlich rief auch diese Personenfrage einen an-
dern wohlbegründeten Zweifel in mir wach, ob man
nicht sehr übel daran täte, das Daseinsgesetz dieses In-
stituts, als auf privatem Unternehmungsgeist ruhend, zu
ändern. Es ist bekannt, daß es stets sehr gefährlich ist, die
staatliche Organisation an Stelle dessen durchzuführen,
was von Einzelwesen geschaffen und verwaltet worden
ist, die ihre Begeisterung und ihren Vorteil an die
Sache setzen [Sehr gut!). Die drei auf dem Wege des
Wettbewerbes ernannten Leiter mit den drei zuge-
hörigen Kanzleien und Instituten, die die Kommission
für die Neuordnung vorschlug, machten mir Angst.
309
Das einzige Heil schien mir darin zu liegen, einen
neuen Konzessionär zu suchen.
Mußte man aber auf einen Unternehmer oder Kon-
zessionär zurückgreifen, wozu dann den frühern ver-
schmähen? Weshalb nicht die Gelegenheit ergreifen,
einerseits die Streitigkeit mit Dohrn beizulegen — sie
war schon durch eine Berufung an den Staatsrat und
einen an den Minister des Äußern gerichteten Ein-
spruch eingeleitet — , anderseits ein internationales Frie-
denswerk zu vollbringen, durch die Beseitigung eines
aus der Psychologie oder vielmehr der Psychose des
Krieges heraus entstandenen Erlasses?
Ich erinnerte mich damals, vom Ministerium des
Äußern ein paar Monate vorher ein zu einem frühern
Zeitpunkte eingebrachtes Gesuch Dr. Reinhold Dohrns
erhalten zu haben, in dem dieser den Wunsch aus-
drückte, noch an dem von seinem Vater geschaffenen
Werke irgendwie mitarbeiten zu können: eine sehr
bescheidene Forderung, die mich rührte, die ich aber
nicht entgegennehmen zu können glaubte, da ja ein
autonomer Körper gebildet worden war. Ich ließ da-
mals Dohrn rufen und fragte ihn, ob er gegebenen-
falls geneigt wäre, den Betrieb der Zoologischen Station
unter den Bedingungen des Vertrages, den sein Vater
mit der Gemeinde Neapel geschlossen hatte, wieder
zu übernehmen. Dohrn zögerte etwas, da ihm nach
allem dem Vorgefallenen, nach der Verwirrung, die
der Krieg in seinen privaten Beziehungen und seinen
Interessen hervorgebracht hatte, die Bürde nicht leicht
erschien; endlich aber stimmte er zu, bewogen von
seiner Liebe zur Sache. Ich fügte damals hinzu, daß
es eine notwendige Vorbedingung sei, wenn ich diesen
Plan in Erwähnung ziehen und dem Ministerrat vor-
310
legen sollte, daß Dohrn dem Ministerium des ÄufBern
eine ausführliche und vollständige Verzichtserklärung
auf alle seine Rechte und Forderungen gegenüber dem
italienischen Staat für alles, was seit 19 15 vorgefallen
war, überreiche. Nach einigen Wochen übersandte
mir das Ministerium des Äußern Dohrns Erklärung;
ich bereitete die Aufhebung der Notverordnung vom
26. Mai 191 8 vor und brachte sie vor den Minister-
rat, der sie guthieß.
In dieser meiner Entschließung liegt gar nichts Ge-
heimnisvolles. Bevor ich sie faßte, benachrichtigte ich
zwischen Juli und August den Leiter der Zoologischen
Station, der, abgesehen von den gegenwärtigen Un-
stimmigkeiten, ein alter Freund und Schulgenosse von
mir ist, und besprach die Sache durch zwei volle
Stunden mit ihm; er kam meinen Gründen gegen-
über zu dem Schlüsse, daß „meine Logik keinen Sprung
aufweise", daß er aber beauftragt sei, den italienischen
Charakter der Station zu wahren ; worauf ich entgeg-
nete, es sei mir weit wichtiger, daß er die zwingende
Logik meiner Gründe anerkenne und daß ich ihm
volle Freiheit ließe, gegen mich aufzutreten. Ich sehe,
daß er von dieser ihm gegebenen Erlaubnis reichlichen
Gebrauch gemacht hat, da sie mir unzählige Proteste
aus Italien und dem Ausland zugezogen, Anfragen
und Interpellationen in der Kammer, sowie zwei Tage
der Erörterung im Senat eingetragen hat (Gelächter).
Ich unterrichtete auch den Senator Volterra davon, der
mich, ich glaube im August, aufsuchte, um zu fragen,
was an dem Gerücht auf Wahrheit beruhe, ich beab-
sichtigte die Zoologische Station wieder in ihr Verhältnis
vor dem Kriege einzusetzen. Und da man ein großes
Wesen aus der Tagesordnung einer Versammlung
deutscher Naturforscher im vergangenen September
gemacht hat, so will ich sagen, daß mir diese Tages-
ordnung niemals mitgeteilt worden ist, und daß ich
ebenso wie der Senator Volterra von ihr bloß aus den ita-
lienischen Tageszeitungen weiß. Ich nehme an, daß
Dohrn, der sich nach Deutschland begab, um die
Fäden seiner Arbeit wieder aufzunehmen, etwas über
die geneigten Absichten der italienischen Regierung
hat verlauten lassen, und jene Naturforscher auf die
Kunde davon sich bewogen gefühlt haben, Italien für
seine Großmut und Gerechtigkeitsliebe zu danken.
Es liegt also nichts darin, was uns Unehre machen
könnte.
Senator Volterra hat an der Schlußformel Anstoß
genommen, die den Charakter der unmittelbaren Aus-
führung des Auf hebungsdekretes betrifft. Allein, das
ist die ständige Formel aller Notverordnungen, sowohl
derjenigen, die die autonome Körperschaft einsetzt,
wie der meinigen, die sie aufhebt.
Senator Arlotta wundert sich, daß die Regierung,
nachdem sie die Verpflichtung auf sich genommen,
keine Notverordnungen mehr zu erlassen, trotzdem
eine solche erlassen hat. Allein er vergißt, daß der
Präsident des Ministerrates, als er diese Erklärung ab-
gab, einige Fälle ausnahm und unter diesen befindet
sich gerade der Fall der Notverordnungen, die den
Staatshaushalt belastende Institute abschaffen : und wie
dies bei der Zoologischen Station zutrifft, habe ich be-
reits gesagt.
Bei der Aufhebung dieser Notverordnung vom
26. Mai 191 8 und der Wiederherstellung des Vor-
kriegszustandes hätte ich Dohrn einige andere Be-
dingungen stellen können, abgesehen von dem bereits
312
erwähnten Verzicht. Weshalb tat ich es nicht? Wes-
halb habe ich nicht einen italienischen Ausschuß, der
die Geschäftsführung der Station zu überwachen hätte,
eingesetzt? Gewiß nicht darum, weil Dohrn sich da-
gegen gesträubt hätte; er hat sich allen Forderungen,
die die italienische Regierung an ihn stellte, gefügig
erwiesen und tut es noch. — Aber ich sehe keinen
Mittelweg zwischen privater und staatlicher Geschäfts-
führung, und ich liebe die Zwitterdinge nicht, die stets
höchst üble Wirkungen haben. Ich deutete Dohrn an,
daß die Veröffentlichungen der Zoologischen Station
ein italienisches Titelblatt haben und Abhandlungen
in allen auf den internationalen Kongressen zugelasse-
nen Sprachen enthalten sollten; er hat dem zuge-
stimmt. Ich sagte ihm, er müsse italienische Gelehrte
zu seinen Mitarbeitern machen. Auch dem hat
er sofort zugestimmt. Allein, ich verfolgte diesen
Faden nicht weiter ; denn ich erwog, daß alle vernünf-
tigen Einschränkungen und Überwachungsmaßregeln,
die die italienische Regierung für gut erachten würde,
sich bei andern Gelegenheiten festsetzen ließen : näm-
lich wenn sie ihren Beitrag für die Arbeitstische oder
bestimmte andere Aushilfen festsetzen würde.
Meine Herren Senatoren, diese schlichte Darstel-
lung, die ich Ihnen gegeben habe, enthält die voll-
ständige Rechtfertigung für die von der Regierung,
der anzugehören ich die Ehre habe, getroffenen Ver-
fügungen. Erlauben Sie, daß ich mich nicht dabei auf-
halte, gewisse Einwürfe, die ich schon stillschweigend
widerlegt habe, nochmals zu entkräften. Ich möchte
nicht der Versuchung zur Polemik, der ich in mei-
nem Leben allzuoft nachgegeben habe, unterliegen.
Wollte ich polemisieren, so müßte ich Ihnen jedoch
zeigen, wie die mannigfachen Verwahrungen von
Akademien und Fakultäten in diesem Falle wenig
Wert besitzen, da es etwas anderes ist, eine Frage im
allgemeinen als im besonderen zu betrachten; etwas
anderes, sie von außen als von innen her zu erwägen.
Ich erinnere mich, daß ich das vergangene Jahr in
Neapel, als Vorsitzender einer Akademie, auf den Be-
richt eines Mitgliedes hin, der Ihr Kollege in diesem
Senate ist, eine Aufforderung an die Regierung be-
schließen ließ, des Inhalts, sie möge die Abtragung
eines alten Kirchturmes nicht zulassen; diesem Be-
schluß traten alle übrigen Akademien, die literarischen
und künstlerischen Gesellschaften Neapels bei, und
hätten wir es gewollt, auch die von ganz Italien ; der
Präfekt unterstützte ihn, und die Regierung zog den
Auftrag zur Niederlegung des Turmes zurück. Allein
durch eine Ironie des Schicksals kam dieselbe Frage
ein paar Monate später vor die Denkmälerkommision
des Landtages, zu deren Vorsitzendem ich mittlerweile
ernannt worden war, wie der Berichterstatter von da-
mals zum Beirat; und da ließ ich, gerade ich, nach-
dem ich die finanziellen Kosten zu Lasten der Ge-
meinde kennengelernt, ferner den Straßenzug, das
Verkehrshindernis, das jenes Überbleibsel verursachen,
und die häßliche Figur, die es machen würde, erwogen
hatte, den Beschluß über seine Niederlegung fassen.
{Gelächter.) Wer wollte einen Beschluß gleich jenem
der Akademien und Fakultäten, die Zoologische Station
betreffend, einen Beschluß, in dem das Italienertum
verherrlicht und die Würde der italienischen Wissen-
schaft in Schutz genommen wird, nicht unterschrei-
ben? Allein, hier hat weder das eine noch das an-
dere davon irgend etwas zu tun; die Frage ist eine
ganz andere: sie ist rechtlicher, verwaltungsmäßiger,
technischer Art; und ich, der ich sie aus meiner Amts-
pflicht heraus studieren mußte, bin für sie zuständiger
als sämtliche Akademien und Vereinigungen, die dies
nicht getan haben.
Ebenso könnte ich den Briefen, aus denen Ihnen der
Senator Volterra einige Bruchstücke vorgelesen hat
und die den Widerstand betreffen, den englische und
französische Gelehrte der Zurückgebe der Station an
Dohrn entgegensetzen, einen ganzen Stoß von Briefen,
die ich hier vor mir liegen habe, gegenüberstellen, von
hervorragenden amerikanischen, norw^egischen, däni-
schen, ja selbst englischen Gelehrten, und die gerade
das Gegenteil besagen. Unter anderem befindet sich
darunter der Vorschlag, alles zu retten, indem man
Dohrn die Stadion zurückgäbe und sie unter den
Schutz des Völkerbundes stellte ! Allein, wohin würde
es führen, wenn man die verschiedenen Meinungen
einander gegenüberstellte? Welche Lehre würde sich
daraus ergeben.? Daß die Anschauungen noch geteilt
sind, daß viele noch die Nachwirkungen des Krieges
fühlen und sehr viel andere sich schon in friedlicher
Verfassung befinden. Es liegt auf der Hand, daß die
nächste Zukunft, und wir müssen es uns wünschen,
der Friedens-, nicht der Kriegsrichtung gehöre.
Und diese friedliche Gesinnung eignet vielleicht
mehr als jedem andern dem italienischen Volke, sie
ist auch die meine, als Bürger, und als Mitglied der
italienischen Regierung. Der Senator Arlotta (dem ich
für die allzu wohl wollenden Worte, die er meiner
Person gezollt hat, danken muß), hat daran erinnert,
daß Mäßigung ein Ruhmestitel Italiens sei. Jawohl,
das ist eine festgewurzelte Tugend und ein wohlver-
315
dienter Ruhm von uns. Ich glaube jedoch, daß im
vorHegenden Falle die beste Weise, unsere National-
tugend zu bekunden, in der von der Regierung ge-
wählten Richtung, nicht aber in der von den ehren-
werten Interpellanten gewünschten liegt, die sich von
der Leidenschaft haben hinreißen lassen : ohne Zweifel
von einer überaus edlen, aber blind wie eben jegliche
Leidenschaft.
Ich überlasse es jedenfalls dem Senate, diese Sache
zum Austrag zu bringen. {Lebhafter Beifall^ der
Redner wird beglückwünscht.)
INHALT
Vorwort des Übersetzers 7
1914
Als Einleitung (ein Interview) Ii
Anläßlich einer Unterschrift . 15
Entscheidungsgründe 20
Deutsche Kultur und italienische Politik 24
1915
Unverdientes Glück 29
Gegen die Nebelhafiigkeit und den Materialismus in der
Politik • • 35
Kampfmethoden des italienischen Nationalismus ... 46
Die Politik eines philosophierenden Chemikers .... 48
Hegelfeindliche Verstimmungen 50
Italiens Eintritt in den Krieg und die Pflichten des Ge-
lehrten . 53
D'Annunzio und Carducci 58
Philosophie und Krieg 63
Ferrero und die Philosophie . 67
Kultur und Zivilisation 70
Nützliche und unnütze Dinge 72
Was jetzt die Philosophen sagen . . . . . . . . 73
Deutschfreundlichkeit (Interview) 74
Ein verrufenes Wort , ... 82
Ein verhaßter Name 86
Der Staat als Macht 89
Zum bessern Verständnis 94
1916
Nutzen der Polemik 98
Sittlichkeit der Lehre vom Staat als Macht 99
Deutscher Freimut . loi
Sittlicher Tiefstand der Lehre vom Staat als Recht . . 103
Womit sich italienische Professoren mühen .... 104
Womit sich deutsche Professoren mühen iio
Eine falsche Anekdote iii
Grenzen der Lehre vom Staat als Macht 115
Gegen das 18. Jahrhundert . ii8
Geistige Kraft und Volkskraft 121
Leidenschaft und Wahrheit. Unzulängliche Gründe . 122
Vom Völkerrecht 127
Noch etwas über die Philosophie des Krieges . . . 131
Klassik und Romantik 135
Die neue Auffassung vom Leben 140
Noch ein weiteres 145
Von Italiens Geschichte '. 147
Optimismus 151
„Italienisch-französische Gesellschaft." Ein Wort für den
Ernst der Wissenschaft 157
Für den Ernst des politischen Empfindens 160
1917
Organisation und geschichtliches Wesen 164
Tote und lebendige Geschichtlichkeit 167
Die neue Organisation . 171
T Literarisches Zwischenspiel 174
Schriftsteller aus der Zeit vor dem Kriege: (M. Barrys). 174
Der sinnlich gerichtete Nationalismus . . . . . . 179
Sinnlicher und geistiger Nationalismus 182
P. Claudel 184
Der Stil Claudels 187
Claudels religiöse Dichtung 190
Berühmtheiten aus der Zeit vor dem Kriege: A. Rimbaud 192
Die Ursache von Rimbauds literarischem Ruf. . . . 196
\ Rimbaud als Seelen werber für die katholische Kirche . 198
^"*TÖer Krieg und die Studien 200
Krieg und Bürgertum 208
Der Krieg Italiens, das Heer und der Sozialismus . . 213
1918
Noch etwas über die Philosophie der Politik 223
Das Vorurteil vom „besten Staat" 226
318
Das Vorurteil von der Größe der Völker . . . . . 229
Das Amt der Redner und die Pflichten der Gelehrten. Vom
Sagen und Nichtsagen der Wahrheit 231
Die Demokratie, die vorgeblich „gefährlichen Wahr-
heiten" und die vorgeblich „heilsamen Lügen" . . 232
Die Ehrfurcht vor der Wahrheit und der Sinn für das
Zw^eckmäßige 236
Ideologische Überlebsei . . . . 238
»/ Geschichtlichkeit und Beharrungsvermögen der Frei-
maurerideologie 244
Nationale Verbesserungspläne. Gegen die sogenannten
allgemeinen Reformen 251
Politik und Denken in Italien 253
Reformen des Denkens und der Kultur 255
Die Reform des Denkens als die wahre „allgemeine" Re-
form 258
Gedanken über die Kunst der Zukunft. Erwartung
schlimmerer Zeiten für die Kunst 260
Der Futurismus eine der Kunst fremde Sache . . . 262
Notwendiges Verhalten in kunstfeindlichen Zeiten . . 265
Das russische Denken in der Beleuchtung durch zwei
neue Bücher 267
Drei Arten des Sozialismus 277
Der Sieg 281
ANHANG
1919
Der „Völkerbund" (ein Interview) 286
1920
Thomas Manns Betrachtungen eines Unpolitischen . . . 290
Oswald Spengler, Der Untergang des Abendlandes . . 293
Über die zoologische Station von Neapel (Senatsrede) . 300
AMALTHEA-VERLAG
ZÜRICH/LEIPZIG/WIEN
BENEDETTO CROCE
Goethe
Obersetzt von Julius v. Schlosser
Mit einem bisher unveröffentlichten
Goethebild von LIPS
Preis brosch. M.35. — , geb. M. 45.—
3. — 4. Tausend
Nürnberger Zeitung: „Dies Buch gehört zum Reifsten, was über Goethe
gesagt wurde."
„Literarisches Echo" : „Das stattliche, auch durch sein Äußeres besonders
erfreuliche Buch enthält eine Fülle feiner und tiefer Bemerkungen . . .
es ist einer der besten Führer in das Bereich Goethes."
„Vossische Zeitung", Berlin: „Das Buch ist ein so ehrliches und wert-
volles Bekenntnis zu Goethe, daß man es als ein goldenes Glied zu der
Kette, die den geistigen Völkerbund zusammennält, bezeichnen kann."
•
Dantes Dichtung
Übersetz^von Julius v. Schlosser
Preis brosch. M. 45.—, geb. M. 55.—
„Neue Zürcher Zeitung": „An der Hand dieses Buches durch die Gött-
liche Komödie zu wandern, ist ein schönster und reichster Genuß. Dem
Dichter Dante ist noch kein reineres, edleres Denkmal gesetzt worden."
*
Ariost, Corneille, Shakespeare
übersetzt von Julius v. Schlosser
Croce, Benedetto
JAH191991