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Full text of "Religionsphilosophie"

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•     I 

1 


LIBRARY 

.      OF  THE 

UNIVERSITY  OF  CALIFORNIA. 

%eceivea        JUN23  1892       ,189 
c/lccessions  No.  'Yo'</^ .  Class  No. 


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ReligioEsphilosophie. 


Von 


Gustav  Teichmllller, 

ordentl.  E^fessor  der  Philosophie  an  der  üniTersitftt  Doipat 


-^^^ 


\,-"":  ■•■'■■■■•■   -;  •; 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 


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^  S  /y^ 


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Meiner  Tochter  Anna 


gewidmet 


,      29.  Apnl  ,„^ 
den    ,,   JT-  1886. 
11.  Mai 


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Vorrede. 


Die  empirischen  Forscher  hatten  mehrere  Jahr- 
zehnte hindurch    so   viel   mit  neuen   Entdeckungen  '^^oh^^Mr" 
zu  thun,   dass  sie  erst  bei  dem  Versuch,   den  er-        ^^"^^^ 
worbenen  Reichthum  zusammenzurechnen  und  in  Be- 
griflPen  auszudrücken,  die  Philosophie  bemerkten,  in  deren  Gebiet 
sie  plötzlich  gerathen  waren.    Da  Philosophie  ja  nur  der  gebildete, 
sich  selbst  und  seine  Thätigkeiten  erkennende  Geist  ist,  so  ver- 
steht es  sich  ohne  Weiteres,  weshalb  in  allen  Erfahrungswissen- 
schaften  die   geistvolleren  Forscher   zu   philosophiren  begannen 
und  den  Ruf  nach  der  Philosophie   laut  werden  Hessen;   denn 
ohne  Geist  Hessen  sich  ja  die  Dinge  nicht  deuten  und  begreifen. 

Sehr  beachtenswerth  ist  aber  zugleich  das  Phänomen,  dass 
die  empirischen  Forscher  fast  tiberall  auf  eigene  Faust  zu  philo- 
sophiren versuchten,  in  derselben  Weise,  wie  man  nach  dem 
Ableben  der  mittelalterlichen  Scholastik  „juxta  propria  principia" 
sogar  auf  den  Titel  der  Bücher  setzte.  Der  Grund  dieser  Er- 
scheinung ist  zwar  darin  zu  erkennen,  dass  die  bisherige  Philosophie 
eben  nicht  im  Stande  war,  die  erforderlichen  Begriffe  zu  liefern; 
da  man  aber  den  Grund  vielleicht  auch  auf  die  Naivität  und  die 
Ignoranz  der  Empiriker  in  philosophischen  Dingen  schieben 
könnte,  so  ist  es  gut,  zur  Gonfirmation  für  dieses  erste  Zeichen 
des  Ablebens  der  früheren  Philosophie  noch  ein  zweites,  sichereres 
anzuführen.     Es  zeigte  sich  nämlich  auch  bei  früheren  Vertretern 

uiymzeu  uy  x^j  vyVjy  Iv^ 


n 

der  Philosophie  selbst  eine  Verzweiflung  an  der  metaphysischen 
Erkenntniss,  und  sie  gingen  deshalb  bettelnd  zu  den  Erfahrungs- 
Wissenschaften,  um  sich  empirische  Methoden  und  etliche  induc- 
tive  Allgemeinheiten  als  Principien  zu  holen,  nannten  sich  offen 
Positivisten,  beschränkten  sich  auf  blosse  Kritik  des  Erkenntniss- 
vermögens und  suchten  eine  Thatsachenphilosophie  einzuftihren, 
d.  h.  sie  erklärten  den  Banquerott  der  Philosophie. 

Wie  nun  Äristophanes  darüber  spottete,  dass  die  heroischen 
Könige  bei  Euripides  im  Costtime  und  in  der  Sinnesart  der 
Armuth  und  des  Elends  auftraten,  so  könnten  auch  wir  nur  mit 
Humor  die  königliche  Wissenschaft  in  dieser  tragischen  Ernie- 
drigung betrachten,  wenn  nicht  ein  Umstand  dabei  unser  wissen- 
schaftliches Interesse  reizte.  Es  geht  nämlich  diese  ganze  Hin- 
wendung zu  der  Empirie  und  zu  den  sogenannten  Thatsachen 
von  der  Unbefriedigtheit  an  dem  Idealismus  aus.  Man  verlangt 
instinctiv  nach  Realität  und  nach  einem  Verkehr  mit  wirk- 
lichen Wesen.  Dieses  Bedtirfiiiss  ist  das  Wahre  und  Aner- 
kennenswerthe  an  der  sonst  so  schwachen  und  entarteten  Richtung, 
die  ihr  Ziel  und  die  Wege,  es  zu  erreichen,  so  wenig  erkennt, 
dass  sie  da  Hülfe  sucht,  wo  ihr,  wie  in  der  Naturwissenschaft, 
nur  Erscheinungen,  also  nur  Ideelles  geboten  werden  kann. 
Man  sieht  daher,  dass  auch  Diejenigen,  welche  den  Realismus 
offen  auf  ihre  Fahne  schreiben,  gezwungen  sind,  zum  Idealismus 
zurückzukehren,  wenn  sie  z.B.  den  vollen  Begriff  der  Erschei- 
nungen für  das  Reale  halten.  Darum  müssen  sie  auch  Raum 
und  Zeit,  welche  eine  Mitgift  der  Anschauungsbilder  sind,  in 
ihre  reale  Welt  aufnehmen  und  auch  folglich  das  Nichts  flir 
ein  unentbehrliches  Ingrediens  der  Realität  halten.  Kurz  alle 
die  Fehler  und  Verlegenheiten  des  Idealismus  folgen  nothwendig 
ihren  Fersen,  wie  der  Geruch,  der  die  Verwesung  anzeigt. 

Aus  allen  diesen  Zeichen  ist  es  unverkennbar,  dass  ein  Be- 
dürfniss  nach  einer  neuen  Philosophie  überall  verbreitet  ist  und 
dass  auch  in  gewisser  Weise  die  Art  dieser  neuen  Metaphysik 

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m 

sich  bestimmen  lässt,  wenn  sie  dem  Bedürfniss  gentigen  soll. 
Sie  muss  nämlich  das  Sein  nicht,  wie  der  Idealismus,  bloss  in 
der  Region  der  Erkenntniss  suchen  und  muss  unseren  Verkehr 
mit  wirklichen  Wesen  ausser  uns,  die  von  allen  Begriffen 
unabhängig  sind,  zu  begründen  wissen. 

Da  dieses  Ziel  nur  zu  erreichen  ist,  wenn  man 

Die  neue 

eine  neue  Erkenntnissquelle  für  das  Sein   und  das    BrkenntniM- 

quelle« 

Wesen  der  Dinge  findet,  so  scheint  guter  Rath  theuer; 
denn  wie  sollten  in  der  langen  Zeit  philosophischer  Arbeit  nicht 
schon  alle  dem  Menschen  überhaupt  zugänglichen  Quellen  der 
Erkenntniss  gefunden  und  benützt  sein!  Und  man  darf  doch 
im  Gebiete  der  Wissenschaft  nicht  vom  Pferde  auf  den  Esel 
steigen,  um,  wie  einige  schwache  Reiter  thaten,  auf  dem  spiri- 
tistischen Grauschimmel  „verkehrt  statt  des  Zügels  den  Schwanz 
in  der  Hand**  in  das  Land  der  Narrheit  zu  reiten. 

Wenn  also  die  Erkenntnissquellen  der  Wissenschaft  wohl 
als  bekannt  anzunehmen  sind,  so  könnte  eine  neue  Quelle  nicht 
anders  als  durch  Analysis,  d.  h.  durch  Zerlegung  einer 
alten  gefunden  werden.  Wie  aber  die  Chemie  erst  von  der 
Stelle  gekonmien  ist,  seitdem  sie  die  bekannten  Körper  in  bisher 
unbekannte  zerlegte,  so  hoffe  ich,  dass  auch  der  Metaphysik 
Schwungfedern  wachsen,  wenn  sie  aufhört,  mit  der  bisherigen 
Philosophie  das  Bewusstsein  ftlr  einen  Akt  der  Erkenntniss- 
fnnction  zu  halten.  Diese  Zerlegung  habe  ich  in  meiner  „Neuen 
Grundlegung  der  Metaphysik"  zu  vollziehen  gesucht  und  be- 
sonders auf  die  Schwierigkeit  aufmerksam  gemacht,  die  von 
Seiten  der  Sprache  entgegensteht,  da  die  naive  Verwechselung 
von  Bewusstsein  und  Wissen  eben  so  alt  wie  die  Sprache  ist. 
Alle  unsere  Thätigkeiten  aber,  alle  Gefllhle  und  alle  Erkennt- 
nisse und  Wissenschaften  können  uns  ebensowohl  bewusst  wie 
unbewusst  zukommen  und  angehören,  wie  z.  B.  der  Virtuose  in 
jeder  Kunst  alle  seine  Bewegungen  unbewusst  ausübt,  wie 
ein  Schmerz  im  Schlaf  bestehen  und  uns  erst  beim  Erwachen 


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IV 

bewusst  werden  kann,  wie  alles,  was  wir  wissen,  als  sogenanntes 
Gedächtniss  unbewusst  in  uns  vorhanden  ist.  In  meiner  Metaphysik 
ist  dies  nun  genauer  erörtert;  ich  bemerke  nur,  dass  es  durch  diese 
Zerlegung  des  sogenannten  Wissens  und  Erkennens  in  das  Element 
des  Bewusstseins  und  in  das  Element  des  Denkens  möglich  wird, 
eine  neue  Erkenntnissquelle  nachzuweisen  und  dadurch  die 
Philosophie  von  Grund  aus  umzugestalten.  Denn  wir  werden 
nun  als  Erkenntnissfiinction  im  specifischen  Sinne  nur  das  gelten 
lassen,  was  als  Vorstellung,  Meinung,  Begriff,  Urtheil  oder  Schluss 
auf  bestimmte  Beziehungspunkte  hinblickt,  wie  z.  B.  unsere 
astronomischen,  geographischen,  grammatischen,  geometrischen 
Erkenntnisse  immer  ihre  zugeordneten  Beziehungspunkte  haben, 
da  etwa  die  Vorstellung  von  der  Abplattung  der  Erde  auf  etwas 
anderes  hinblickt,  als  der  Begriff  der  Lautverschiebung.  Alle 
solche  specifische  Erkenntnisse  können  nun  in  mir  sein,  ohne 
dass  ich  gerade  „daran  denke ^  oder  mir  ihrer  im  Augenblicke 
„  bewusst ""  werde.  Mithin  wird  man  sich  nicht  einfallen  lassen, 
das  Bewusstsein  oder  Bewusstwerden  dieser  Erkenntnisse  nun 
selbst  fär  eine  Erkenntniss  zu  halten;  denn  das  Bewusstwerden 
ist  weder  die  specifische  und  bestimmte  Erkenntniss,  die  ich  ja 
schon  hatte,  ohne  mir  ihrer  bewusst  zu  sein,  noch  etwa  eine 
lächerlich  verdoppelte  Erkenntniss  der  Erkenntniss,  da  eine  Er* 
kenntniss  nicht  durch  etwas  anderes  als  durch  ihre  eigenen 
zugehörigen  Beziehungspunkte  entstehen  kann  und  deshalb  einer 
Verdoppelung  oder  Stellvertretung  unzugänglich  ist.  Also  hat 
das  Bewusstsein  mit  der  specifischen  Erkenntnissfunction  oder 
dem  Wissen  und  Denken  gar  nichts  zu  thun. 

Durch  diese  Analysis  wird  nun  der  Begriff  des  Bewusst- 
seins in  eine  ganz  neue  Lage  gebracht  und  erfordert  eine  neue 
Topik;  denn  es  zeigt  sich,  dass  dem  Erkennen  und  Wissen  nicht 
etwa  das  Unbewusste  entgegengesetzt  ist,  während  das  Bewusst- 
sein zum  Wissen  gehörte.  Beides,  das  Bewusstsein  und  das  Un- 
bewusste, ist  vielmehr   seinem  Gattungscharakter  nach  ein 


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und  dasselbe,  d.  h.  das  Unbewnsste  mass  selbst  als  ein  gewisses 
Bewusstsein  betrachtet  werden,  da  es  in  verschiedener  Quantität 
(Intensität)  vorhanden  sein  kann.  Wenn  ich  einen  freien  Vortrag 
halte,  so  sind  mir  die  Worte,  die  ich  im  nächsten  Augenblick 
sprechen  werde,  unmittelbar  vorher  unbewusst,  d.  h.  in  einem 
geringeren  Grade  bewusst,  als  in  dem  Augenblicke,  wo  ich  sie 
anspreche.  Gleichwohl  müssen  sie  mir  in  einem  gewissen  Grade 
auch  bewusst  gewesen  sein,  da  ich  sie  aus  der  Menge  der 
übrigen  möglichen  Worte  auswählte  und  doch  also  darauf  hinblickte. 
Ebenso  sind  sie  mir  beim  Aussprechen  selbst  zwar  deutlicher 
bewusst,  aber  doch  nicht  in  dem  Grade,  wie  wenn  mich  Jemand 
unterbricht  und  über  die  Etymologie  und  den  Sinn  der  gebrauch- 
ten Wörter  Rechenschafk  verlangt  Mithin  ist  das  Bewusstsein 
und  das  Unbewnsste  ein  und  dasselbe  und  nur  gradweise  ver- 
schieden. Es  wird  deshalb  für  den  Menschen  ein  Minimum 
(Di£ferential)  und  ein  Maximum  der  Bewusstheit  für  jeden  be- 
liebigen Inhalt  geben  und  der  Inhalt  selbst  hat  mit  diesem  Grade 
nichts  zu  thun  (d.  h.  in  Bezug  auf  qualitative  Identität,  obwohl 
er  in  bestimmter  Goordination  dazu  stehen  muss).  Eine  Analogie 
möge  die  Sache  verdeutlichen.  Der  Inhalt  des  Bewusstseins 
soll  mit  verschiedenen  Körpern,  der  Grad  der  Bewusstheit  mit 
der  Bewegung  verglichen  werden.  Nun  wird  eine  Bleikugel  nicht 
ihre  Qualität  ändern  und  zu  Silber  werden,  auch  wenn  sie  ebenso 
schnell  rollt,  und  ein  Pferd  wird  nicht  zur  Kuh,  auch  wenn  es 
ebenso  langsam  wie  diese  geht  Aber  die  Geschwindigkeit  eines 
Körpers  kann  so  gering  und  so  bedeutend  sein,  dass  dadurch 
für  den  Menschen  die  Möglichkeit  der  Wahrnehmung  entweder 
schlechthin,  oder  für  die  Unterscheidung  der  Theile  aufhört,  und 
es  wird  auch  einen  Grad  geben,  der  für  die  Auffassung  des 
Menschen  am  Meisten  angemessen  ist  Ebenso  verhält  es  sich 
mit  dem  Inhalt  des  Bewusstseins,  ohne  dass  ich  etwa  materia- 
listisch das  Bewusstsein  fttr  einen  physischen  Bewegungszustand 
der  Nervenelemente  erklären  will;  es  giebt  aber  ein  dem  Menschen 

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VI 

gefahrliches  (pathologisches)  Maximum  und  ein  flir  die  wissen- 
schaftliche Arbeit  zu  geringes  Mass  der  Bewusstheit.  Wie  aber 
die  Bewegung  selbst  weder  eine  Bleikugel,  noch  ein  Pferd  ist, 
so  ist  auch  das  Bewusstsein  in  allen  seinen  Graden  nicht  der 
ideelle  Inhalt,  dessen  wir  uns  bewusst  werden. 

Indem  ich  nun  so   die  Erkenntnissfunction  mit  ihrem  spe- 
cifischen  Inhalt  von  dem  Bewusstsein  in  allen   seinen  Graden 
vollständig  ablöse  und  jedes  Element  chemisch  rein  fbr  sich  dar- 
stelle, wird  es  mir  möglich,  das  Gebiet  der  Erkenntniss  beträcht- 
lich zu  erweitern;  denn  die  Erkenntnissfunction  schliesst  sich 
immer  an  gewisse  Beziehungspunkte  an,  die  zu  einem  gewissen 
Grade  der  Bewusstheit  gelangt  sind,  und  es  kommt  also  fttr  die 
Erweiterung  des  Wissensgebietes  darauf  an,    der  Erkenntniss- 
function neue  Beziehungspunkte  darzubieten,  die  sie  dann  nach 
allen  ihren  Methoden  zu  bearbeiten  hat    So  z.  B.  kann  Jemand 
aus  dem  Volke  wie  ein  Nestor  reden,  aber  sein  eigenthümliches 
ihm  bewusstes  Thun  braucht  noch  nicht  durch  die  Combinationen 
der  Erkenntnissfunction  an  andre  Beziehungspunkte  angeknüpft 
worden  zu  sein,  so  dass  er  etwa  selbst  eine  Theorie  der  Rhe- 
torik ausarbeiten  könnte.     Ebenso   fühlen  die  Kinder  Scham, 
Liebe,  Ehrfurcht  u.  s.  w.,  und  sie  haben  sicherlich  ein  Bewusst- 
sein ihres  Gefühls;    aber  erst,    wenn  wir    denkend    auf  diese 
Bewusstseinsinhalte  hinblicken  und  sie  mit  anderen  Beziehungs- 
punkten verknüpfen,   entsteht  uns  auch  eine  Erkenntniss  dieser 
Gefühle,   so  dass  sie  sich  benennen,   definiren  und  nach  ihren 
causalen  Elementen  systematisch  und  genetisch   ordnen  lassen, 
ohne  dass  diese  Psychologie  der  Affecte  etwa  selbst  ein  patho- 
logischer Vorgang  wäre.     In  derselben  Weise  hat  Jeder  ein 
Bewusstsein  von  seinem   singulären  Ich;   aber  dies  ist  nicht 
etwa  ein  Begriff,   Urtheil   oder  Schluss,   sondern   soweit  davon 
entfernt,   dass  vielmehr  alle   die  Realisten   und  Idealisten,  wie 
Kant,  Fichte,  Herbart  und  die  meisten  Neueren,  welche  das  Ich 
als  Product  der  Erkenntnissfunction  suchten,  es  natilrlich  nicht 


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vn 

finden  konnten  und  deshalb  jure  eliminirten.  Darum  ist  es  aber 
nicht  de  facto  eliminirt,  sondern  es  spottet  bloss  über  die  Jäger, 
welche  das  Wild  da  suchen,  wo  es  nicht  ist;  denn  das  Ich 
kommt  zu  allen  Graden  der  Bewusstheit,  ohne  irgend  einen  Akt 
der  Erkenntnissfunction  dazu  nöthig  zu  haben,  und  es  ist  nur 
ein  Idolen  fori,  wenn  man  z.  B.  Fichte  flir  einen  Vertreter  des 
Ichs  hält,  der  so  wenig  davon  ahnte,  dass  er  es  mit  dem  Wissen 
identificirte,  d.  h.  völlig  annullirte. 

Da  ich  also  die  Erkenntnissfunction  mit  ihrem  specifischen 
Inhalte  von  dem  Bewusstsein  abgetrennt  habe,  so  gewinnt  die 
Erkenntniss  dadurch  neue  Beziehungspunkte  für  ihr  Räsonnement, 
d.  h.  es  eröffiien  sich  ihr  neue  Erkenntnissquellen.  So  in  erster 
Linie  ist  das  Ich,  welches  sich  bewusst  wird,  eine  eigene  Er- 
kenntnissquelle, ebenso  das  Bewusstsein  unserer  Thätigkeiten. 
Die  Erkenntnissfunction  wird  diese  Beziehungspunkte  wissen- 
schaftlich verwerthen  und  daraus  die  Kategorien  Substanz,  Äcci- 
denz,  Activität,  Passivität,  Ursache  u.  s.  w.  ableiten  und  fär  die 
Psychologie,  Naturphilosophie  u.  s.  w.  eine  Menge  der  wichtigsten 
Destructionen  früherer  Vorurtheile,  wie  die  Handhabe  zu  neuen 
Constructionen  gewinnen.  In  derselben  Weise  hoffe  ich  (in  meiner 
später  herauszugebenden  „Philosophie  des  Ghristenthums'O  zeigen 
zu  können,  dass  die  Gottheit,  welche  nicht  absoluter  Begriff  und 
nicht  unser  Ich  ist,  uns  doch  unmittelbar  bewusst  und  nicht  bloss 
semiotisch  erkannt  wird,  wie  die  ausser  uns  vorhandenen  Wesen, 
die  sich  in  den  Perceptionen  unserer  Sinnlichkeit  bloss  symboli- 
siren,  ohne  dass  wir  von  ihnen  selbst  ein  Bewusstsein  hätten. 
Dadurch  dass  bisher,  so  viel  ich  sehen  kann,  überall  das  Bewusst- 
sein, d.  h.  der  eigenthümliche  Inhalt,  welcher  bewusst  wird,  mit 
dem  darauf  bezogenen  Inhalte  des  Wissens  heillos  durcheinander- 
gemischt und  erzartig  verbunden  war,  konnten  die  Erkenntniss- 
quellen, deren  Producte  alle  schon  im  Umlaufe  waren,  dennoch 
nicht  als  solche  anerkannt  und  nach  ihrer  Autorität  und  ihrem 
wissenschaftlichen  Ort  verwerthet  und  gebraucht  werden.     Es 

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wäre  daher  zwar  lächerlich,  wenn  ein  Philosoph  neue  Erkenntniss- 
quellen entdecken  oder  schaffen  wollte;  wie  es  aber  für  die 
Handschriftenkunde,  Geographie  und  Geschichte  eine  Erweiterung 
der  Erkenntniss  mit  sich  bringt,  wenn  sich  feststellen  lässt,  dass 
unter  den  Handschriften,  die  man  schon  kennt.  Eine  Handschrift 
archetypisch,  dass  unter  den  Berichterstattern,  die  man  vergleicht. 
Ein  Berichterstatter  selbst  die  Reise  gemacht  oder  selbst  die 
diplomatischen  Verhandlungen  geftihrt  hat,  so  ist  auch  fllr  die 
Philosophie  durch  die  Aufweisung  einer  Erkenntnissquelle  als 
Erkenntnissquelle  zugleich  eine  Erweiterung  des  Wissens  ge- 
geben. Ein  Californier  würde  seine  Farm  für  wenig  Dollars 
verkaufen-,  sobald  er  sich  aber  im  Besitz  einer  Goldader  weiss, 
ist  er  sofort  wirklich  viel  reicher  geworden,  ohne  dass  sein 
Grundeigenthum  im  Mindesten  verändert  wäre. 
Das  Gebiet  der  Eiuc  nothwcndigc  Folge  der  Muth-  und  Kraft- 
phiiosophie.  i^jgigk^it  der  Philosophie  war  auch  der  Zweifel,  ob 
sie  überhaupt  noch  irgend  ein  Gebiet  besitze,  auf  das  sie  mit 
Recht  Anspruch  erheben  dürfe.  Wie  bei  Schiller  der  Poet  sich 
verspätet,  als  Zeus  die  Erde  vertheilte,  und  deshalb  nur  noch, 
so  oft  er  kommt,  im  Himmel  willkommen  geheissen  werden  soll, 
so  schien  auch  bei  wachsender  Kraft  der  empirischen  Special- 
forschung die  Philosophie  in's  Blaue,  in  ein  transscendentes 
Spukreich  jenseits  der  Wirklichkeit  gedrängt  zu  werden.  Allein 
Schiller's  Zeus  hatte  vergessen,  dass  die  Irdischen  den  heimath- 
losen  Himmelsgästen  gern  Quartier  gewähren,  wenn  diese  nur 
irgendwie  zahlen  können.  Es  handelte  sich  also  eigentlich  nur 
darum,  den  Poeten  mit  einem  tauschftlhigen  Gute  auszustatten, 
damit  ihm,  wie  dem  Philosophen,  der  Verkehr  unter  den  Spezia- 
listen und  Empirikern  bereitwillig  zugestanden  würde.  Die 
Frage  war  also  nur,  ob  es  solch  ein  Gut  gebe,  das  nicht  specia- 
lisirt  und  auf  die  einzelnen  Gebiete  der  Erfahrung  vertheilt 
werden  könnte;  denn  man  kann  es  den  Specialisten  nicht  ver- 
denken, dass  sie  ein  stark  entwickeltes  Rechtsgeftthl  zur  Schau 

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IX 

tragen  und,  wie  die  tücbtigen  Bauern,  das  Eigenthum  nicht  dem 
Gommunismus  preisgeben  wollen.  Es  beruhen  ja  alle  Leistungen 
auf  einer  ernstlichen  Einseitigkeit,  auf  der  Concentrirung  aller 
Kräfte  auf  einen  Punkt,  und  es  ist  darum  ganz  in  der  Ordnung, 
dass  jeder  Forscher  wie  einen  hütenden  Zaun  einen  eigenthtim- 
lichen  Namen  ftlr  sein  Fach  sucht,  um  sich  innerhalb  dieses 
Eigenthumes  zu  verschanzen.  Ohne  Theilung  der  Arbeit  in 
Anatomie,  Physiologie  u.  s.  w.  wäre  die  allgemeine  Wissenschaft 
nicht  weit  gekommen. 

Bei  diesem  strammen  Geist  der  besitzenden  Klassen  sind 
nun  einige  Philosophen  in  der  Noth  zu  dem  Entschluss  ge- 
kommen, sich  einem  der  anerkannten  Specialgebiete  anzuschliessen, 
die  Bearbeitung  gewisser  bisher  yernachlässigten  Erscheinungen 
zu  übernehmen  und  dies  für  die  eigentliche  Philosophie  zu  er- 
klären. So  wurde  z.  B.  ein  ausgezeichneter  Physiker  als  grosser 
Philosoph  ausgerufen,  und  obgleich  Fechner  in  der  Philosophie 
nichts  geleistet,  sondern  nur  phantasievoUe  und  für  die  Philo- 
sophie werthlose  Reveries  geschrieben,  dennoch  auf  den  Schild 
erhoben,  weil  er  fllr  die  heruntergekommene  Philosophie  einen 
neuen  Erwerbszweig  in  den  Zäunen  der  Physiologie  durch  seine 
Psychophysik  ausfindig  gemacht  hatte.  Denn  nun  konnte  man 
unter  dem  starken  Schutz  einer  Erfahrungswissenschaft  sich  un- 
gescheut  für  einen  Philosophen  ausgeben,  konnte  Experimente 
machen,  messen,  zählen  und  rechnen,  ganz  wie  die  anderen  an- 
erkannten Herren.  Dass  Fechner  als  unentbehrliche  Voraus- 
setzung seiner  Gedanken  sich  unter  der  Hand  die  Principien 
von  dem  halbseitig  gelähmten*)  Spinoza  holte,  von  einem  Spi- 
noza, der  wohl  nie  in  seinem  Leben  einen  eigenen  Gedanken 
gehabt  hat,  das  wurde  thunlichst  vertuscht,  indem  man  moderae 
Ausdrücke  an  die  Stelle  der  Spinozistischen  termini  setzte.  Kurz 
ein  Theil  der  Philosophen  war  auf  diese  Weise  wieder  zu  Be- 
schäftigung und  Anerkennung  gekommen. 

*)  Vergl.  meine  Neue  Studien  zur  Geschichte  der  Begr.   III.  Bd.   S.  399. 

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Nach  der  andern  Seite  war  es  ja  natürlich,  dass  die  Spe- 
cialisten  an  die  Gränzen  ihrer  Gebiete  kommen  und  zu  philo- 
sophiren  anfangen  mussten.  Ich  habe  darüber  S.  399  ausführ- 
licher gesprochen  und  will  hier  nur  einen  ansehnlichen  Natur- 
forscher namentlich  anführen.  So  zeigt  z.  B.  Bauber,  der  1879 
die  wichtige  Entdeckung  oder  Deutung  des  Personaltheiles  und 
des  Germinaltheiles  in  dem  Individuum  machte,  als  geistvoller 
Mann  die  Neigung,  sofort  die  Entdeckung  in  philosophischer 
Weise  zur  Erklärung  der  Vererbung  auszubeuten,  wie  er  über- 
haupt als  einer  der  eifrigsten  Förderer  der  Entwickelungstheorie 
die  philosophischen  Fragen,  als  sei  das  Sache  der  Biologie,  un- 
genirt  zu  behandeln  liebt.  Am  Auffallendsten  ist  mir  dies  in 
seiner  kleinen  Schrift  „Homo  sapiens  ferus'^  gewesen,  die  ich 
mit  dem  grössten  Vergnügen  und  Nutzen  gelesen  habe.  Ich 
kann  nicht  sagen,  dass  darin  der  natürliche,  noch  uncivilisirte 
Mensch  vom  Standpunkte  der  Anatomie  oder  der  Physiologie 
betrachtet  würde;  der  Verfasser  nimmt  vielmehr  in  der  liebens- 
würdigen und  geistreichen  Art  von  Rousseau  alle  philosophischen 
Gebiete  für  sich  in  Anspruch  und  schreibt  rechtsphilosophisch 
den  Juristen  vor,  wie  sie  Staat  und  Recht  auffassen,  religions- 
philosophisch den  Theologen,  wie  sie  die  Religion  behandeln, 
pädagogisch  den  'Schulmännern,  wie  sie  erziehen  und  die  Schul- 
pläne einrichten  müssten  u.  s.  w.  Ebenso  vne  Rousseau  un- 
gemein anregend  gewirkt  hat,  kann  auch  Rauber's  Homo  ferus 
wie  mich,  so  gewiss  viele  Andre  fesseln  und  zu  manchen  neuen 
Ueberlegungen  reizen,  obwohl  man  von  beiden  Schriftstellern 
sich  nicht  gerade  durch  eine  zvringende  Dialektik  irgendwie 
gebunden  und  zur  Annahme  ihrer  Thesen  genöthigt  sieht.  Dies 
ist  aber  ftir  unsere  Frage  Nebensache;  unser  Interesse  dreht  sich 
an  diesem  Ort  nur  um  die  Thats^^che,  dass  die  empirischen 
Specialforscher  selbst  auf  eigene  Hand  zur  Ueberschreitung  ihrer 
Gränzen  getrieben  werden  und  Lust  zum  Anbau  der  Philosophie 
verspüren. 


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XI 

Soviel  Genuas  man  aber  auch  aus  Arbeiten  solcher  Art 
schöpfen  mag,  so  ist  doch  in  die  Augen  fallend,  dass  dabei  der 
Begriff  der  Philosophie  selbst  und  das  Bewusstsein  ihres  Special- 
gebietes ganz  verschwunden  ist;  und  wenn  wir  auch  gern  ein- 
räumen, dass  die  Philosophie  in  gewisser  Weise  Gemeingut 
werden  könne  und  als  Ingrediens  in  die  Bildung  aller  guten 
Köpfe  gehöre,  so  muss  die  Philosophie  doch  immer  ein  Special- 
gebiet besitzen  und  eine  eigenthümliche  Function  des  Geistes 
bleiben,  weil  sie  sonst  überhaupt  nicht  lehrbar  und  kein  wirk- 
licher und  nennbarer  Inhalt  der  Erkenntniss  sein  könnte,  wie 
das  Blut  zwar  in  allen  Organen  des  Leibes  verbreitet  ist  und 
allen  zu  Gute  kommt,  dennoch  aber  ein  eigenes  und  von  allen 
übrigen  verschiedenes  Gewebe  bildet. 

Nun  hat  der  Vater  des  Idealismus,  Plato,  zwar  die  Gränzen 
der  Philosophie  schon  durch  den  Begriff  des  apriorischen  oder 
angeborenen  Vernunftinhalts  abzustecken  gesucht  und  Kant  hat 
in  diesem  Sinne  den  Inhalt  reiner  Vernunft  genau  auszumessen 
und  abzuzählen  unternommen;  allein  es  zeigte  sich  sehr  bald, 
dass  dies  transscendentale  Gebiet  zu  klein  war;  denn  der  Idea- 
lismus von  Piaton  bis  Hegel  wollte  nur  das  Allgemeine  und 
Formale  erfassen,  und  obgleich  er  scheinbar  das  Leben  mit  er- 
griff, da  er  das  Subject  nicht  vergass,  sondern  es  in  dem  abso- 
luten Geiste  in  das  Object  durch  das  Denken  des  Denkens  auf- 
hob, so  war  dieser  Geist  doch  bloss  wieder  das  Allgemeine, 
Ewige  und  Formale  der  Vemunftftinction,  in  welches  alle  Indi- 
vidualität unterschiedslos  verschwindet,  und  erregte  gegen  sich 
gerade  die  oben  erwähnte  Entrüstung  der  Erfahrungswissen- 
schaften, welche  sowohl  in  der  Natur  als  in  dem  geschichtlichen 
sittlichen  Leben  mit  Bealität  und  wirklichen  Wesen  zu  thun 
haben  wollten,  wie  auch  den  Widerspruch  der  positiven  Theologie, 
welche  nach  einem  lebendigen  Gott  und  einem  realen,  nicht  bloss 
logischen  Verkehr  der  individuellen   Seele    mit    ihm  verlangte. 


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Darum  muss  ein  Fehler  in  dem  IdealismuB  und  seiner  Gebiets- 
bestimmung der  Philosophie  stecken. 

Diesen  Fehler  wird  man  an  den  monströsen  Verbildungen 
der  Kantischen  Kritik  am  Bequemsten  zeigen.  Denn  erstens 
fällt  wohl  Jedermann  gleich  bei  Kant  auf,  was  man  als  Schielen 
bezeichnen  könnte,  dass  er  mit  dem  rechten  Auge  praktisch 
postulirend  alle  die  Gegenstände  erblickt,  die  er  angeblich  mit 
dem  linken  Auge  theoretisch  nicht  sehen  kann.  Dadurch  ver- 
setzt Kant  den  unglücklichen  Menschen  in  eine  heimliche  Bi- 
gamie mit  zwei  Welten,  indem  der  Mensch  jeder  seiner  beiden 
Ehehälften  das  Verhältniss  zur  andern  verbergen  muss  und  mit 
praktischer  Vernunft  zwar  seine  freie  Seele  zur  Unsterblichkeit 
und  zu  Gott  führt,  seine  theoretische  Vernunft  aber  in  der  Sinnen- 
welt sitzen  lässt  Zweitens  sprach  Kant  von  der  Einheit  der 
Apperception  und  vollzog  mit  ihrer  Hülfe  all*  sein  Denken; 
dennoch  fehlte  ihm  das  singulare  und  individuelle  Selbst- 
bewusstsein  des  Ichs,  wie  wenn  das  Herz  seine  nöthigen  Con- 
tractionen  taschenspielerisch  vollziehen  könnte,  ohne  von  arteriellem 
wirklichen  Blut  erregt  zu  werden.  Drittens  wollte  Kant  im 
Menschen  transscendentale  oder  „angeborene"  Brillengläser  der  Zeit 
und  des  Baums  gefunden  haben,  die  sich  doch  bei  keinem  gesund 
geborenen  Menschen  nachweisen  lassen,  und  mit  diesen  Brillen, 
behauptete  er,  sollte  der  Mensch  beständig  die  Unendlichkeit  der 
Zeit  und  die  Unendlichkeit  des  Baums  als  Anschauung  geniessen, 
was  doch  keinem  normalen  Menschen  jemals  zu  Theil  werden 
kann,  weil  ein  solcher  Unendlichkeits- Unsinn  in  der  wirklichen 
Welt  nicht  existirt  und  auch  nie  ohne  Geisteskrankheit  ange- 
schaut oder  vorgestellt  zu  werden  vermag. 

Da  nun  die  Kantischen  Fehler  mit  modificirtem,  mehr  oder 
weniger  gutartigem  Charakter  dem  ganzen  Idealismus  anhaften, 
so  muss  eine  Beformation  der  Philosophie  sich  nicht  bloss  gegen 
diese  oder  jene  einzelne  Bichtung,  sondern  gegen  die  gesammte 
bisherige  Philosophie  von  Plato,  ja  von  Thaies  an  richten;  denn 


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bis  auf  unsre  Zeit  hin  ist  alles,  was  man  Philosophie  genannt 
hat,  durch  die  Hellenische  Auffassungsweise  gestempelt  gewesen. 
Selbst  der  Materialismus,  Skepticismus,  Positivismus  und  ver- 
wandte Sichtungen  machen  davon  keine  Ausnahme,  da  sie 
höchstens  nur  von  dem  Dogmatisieren  im  abstracten  Gebiete  ab- 
sehen, sich  aber  doch  nur  im  ICreise  des  ideellen  Seins  drehen, 
welches  ja  die  Sinnenwelt  ebenso  wie  die  intellectuale  umfasst 
Der  Fehler  der  bisherigen,  von  dem  Hellenismus  abhängigen 
Philosophie  besteht  also  darin,  dass  sie  dem  Bedürfniss  des 
Menschen,  die  Wirklichkeit  zu  erleben  und  mit  realen  Wesen  zu 
verkehren,  kein  Gentige  leistete,  sondern  die  Welt  in  einen  blossen 
Erkenntnissprocess  verwandelte;  denn  indem  sie  das  Bewusst- 
sein  selbst  als  eine  Art  oder  Stufe  der  Erkenntniss  auffasste, 
musste  ihr  das  Reale  und  das  Wesen  in  ideelles  Sein  tibergehen. 
Sie  macht  es  also,  wie  wenn  Jemand  einem  Menschen,  der  in 
der  Fremde  nach  seiner  Heimath  und  nach  dem  Verkehr  mit 
seinen  Lieben  Sehnsucht  empfindet,  alles  dies  nur  im  Spiegel 
zeigte,  indem  sie  die  Spiegelbilder  der  Erkenntniss  für  das  „wahr- 
hafte^^ Sein  der  Dinge  ausgiebt.  Darum  ist  das  Gebiet  der 
Philosophie  fraglich  geworden  und  befindet  sich  unter  Sequester 
gelegt  von  der  Empirie,  sodass  allererst  eine  neue  Definition  der 
Philosophie  zu  fordern  ist. 

Wenn  man  nun  eine  Reform  und  nicht  bloss  Dienene 
einen  An-  oder  Umbau  der  Metaphysik  versuchen  p^uosophie. 
will,  so  hat  man  mit  einem  jahrtausendealten  historischen  Riesen- 
bau zu  thun  und  zieht  den  Verdruss  der  unzähligen  Bewohner, 
die  in  ihrer  Ruhe  gestört  werden,  auf  sein  Haupt;  denn  es  kann, 
wie  oben  erwähnt,  ohne  eine  neue  Grundlegung,  d.  h.  ohne  eine 
neue  Erkenntnissquelle,  in  der  Metaphysik  nicht  gebaut  werden. 
Es  ist  eine  sittliche  Forderung,  mit  aller  Bescheidenheit  seine 
Ankündigungen  zu  prtifen,  aber  auch  ungescheut  die  Wahrheit 
heraus  zu  sagen.  Dazu  kommt,  dass  es  im  theoretischen  Ge- 
biete ein  Zeichen  der  Unklarheit  ist,   wenn   ein  Forscher   den 


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xrv 

Umfang  und  die  Tragweite  seiner  Begriffe  nicht  übersieht  und 
sich  das  Verhältniss  seines  Vorhabens  zu  den  früheren  literari- 
schen Leistungen  nicht  deutlich  gemacht  hat.  Die  Wissenschaft- 
lichkeit  selbst  fordert  deshalb  die  bestimmteste  Bezeichnung  des 
Neuen,  welches  man  gegen  das  Alte  zu  setzen  und  zu  begründen 
sucht;  weshalb  es  auch  von  Kant  keine  Prahlerei  war,  dass  er 
sein  Unternehmen  mit  dem  des  Kopemikus  verglich;  nur  fehlte 
ihm  die  geschichtliche  literarische  Gelehrsamkeit,  so  dass  er  sein 
Verhältniss  zu  den  Griechen  nicht  erkannte. 

Bei  der  neuen  Grundlegung  meiner  Metaphysik  bedarf  ich 
nun,  wie  ich  schon  am  Schluss  der  Vorrede  meines  Buches  be- 
merkte, „keines  Zaubers  der  Rede  und  keiner  Bundesgenossen** 
und  auch  keiner  Protection,  wie  sie  die  Hegersche  Philosophie 
in  Preussen,  die  Herbart*sche  in  Oesterreich  in  officiellen  Kreisen 
fand;  ich  wende  mich  mit  voller  Zuversicht  an  die  ganze  Ge- 
lehrtenrepublik; denn  es  fehlt  nie  an  selbständigen  Köpfen,  welche 
sich  durch  die  Tradition  nicht  binden  lassen,  sondern  unberückt 
wie  von  der  Mode,  so  vom  Nimbus  des  Alterthums,  schliesslich 
nur  das  brauchbar  finden,  was  wirklich  wahr  ist.  Für  die 
schwächeren  Naturen  aber,  die  ihrem  eigenen  Urtheil  nicht  völlig 
vertrauen,  sondern  sich,  wie  auf  den  heiligen  Geist,  auf  die 
Mehrzahl  der  Stimmen  verlassen,  will  ich  hinzufügen,  dass  die 
neue  Metaphysik  nicht  bloss  kriegerisch  auftritt,  indem  sie  die 
früheren  Weltansichten  mit  dem  Schwerte  der  Kritik  entwaffnet 
und  ihre  Thttrme  in  den  morschen  Unterbau  stürzt,  sondern  dass 
sie  auch  mit  der  grössten  Einfachheit  und  Bescheidenheit  im 
Bürgerkleide  einhergeht,  weil  sie  in  der  That  des  allermächtig- 
sten  Schutzes  friedlich  gemessen  kann.  Denn  ihr  erster  Beschützer 
ist  die  unvertilgbare  Ueberzeugung  der  ganzen  Menschheit 
selbst,  da  Niemand,  wenn  er  nicht  eine  paradoxe  These  ver- 
fechten will,  sich  weigern  wird,  zuzugestehen,  dass  er  an  seine 
eigene  Existenz,  an  die  Bealität  seiner  Thätigkeiten,  an  seine 
Pflicht  und  an  den  wirklichen  Verkehr  mit  anderen  Wesen  ausser 


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XV 

ihm  glaubt,  weshalb  diese  Philosophie  auch  mit  der  Erfahrung 
und  allen  positiven  Wissenschaften,  wie  mit  dem  Gefühl  und 
Gewissen  aller  besseren  Naturen  im  Einklänge  steht.  Die  zweite 
Schutzmacht  bildet  das  Christenth um,  welches,  wie  der  Apostel 
Paulus  nachdrücklich  hervorhob,  mit  der  ewigen  Bedeutung  der 
Persönlichkeit  steht  und  fällt;  denn  wenn  die  sinnliche  Erschei- 
nung des  Menschen  in  irdischer  Zeit  mit  dem  ihr  anhängenden 
kurzen  Bewusstseinsinhalt  Alles  ist  —  was  denn  auch  geboren 
und  wieder  begraben  wird  —  so  ist  das  ganze  Evangelium  eitel. 
Wer  deshalb  vor  der  Neuheit  und  Grösse  der  Ankündigung  er- 
schrickt, der  mag  gutes  Muthes  sein,  weil  dies  Neue  das  allge- 
mein im  Stillen  Geglaubte  und  dies  Grosse  die  demtithige  Ueber- 
zeugung  jedes  Christen  ist.  Es  handelt  sich  aber  auch  bei  allen 
Entdeckungen  nicht  darum,  durch  unser  künstlerisches  Vermögen, 
wie  bei  den  Erfindungen,  unsere  Macht  über  die  Natur  zu  ver- 
mehren, sondern  nur  für  die  Erkenntnissfunction  etwas,  das  schon 
ist  oder  schon  gilt,  zur  Auffassung  und  zum  Begriff  und  wissen- 
schaftlichen Aufdruck  zu  bringen.  Das  Gebiet  der  Entdeckungen 
ist  darum  ganz  uhbeschränkt,  und  wenn  auch  im  Kreise  der 
Natur  mehr  der  Nutzen  in  die  Augen  springt,  so  weiss  doch  der 
Verstand  mehr  das  Neue  im  Gebiete  des  Geistes  zu  schätzen. 
Pier  soll  nun  nicht  etwa,  was  die  vom  Asthma  der  Zeitbildong 
Gequälten  verlangen,  eine  neue  Religion  empfohlen  werden, 
sondern  es  gilt,  die  alte,  gute  und  wahre  aus  ihren  hellenischen 
Fesseln  zu  befreien  und  die  Philosophie  zu  neuem  Leben  zu 
erwecken.  Diese  Angelegenheit  ist  freilich  keine  ephemerische 
und  geht  über  den  Gesichts-  und  Geschäftskreis  der  gerade  en 
vogue  befindlichen  positivistischen  Richtungen  hinaus;  denn  es  > 
dreht  sich  um  die  Philosophie  der  Jahrhunderte. 

Die  Definition  ist  immer,  wie  Leibnitz  mit  Recht      Definition 
sagt,  ein  Meisterstück   der  Wissenschaft;   denn  sie  der  phiioaopbie. 
fasst  die  Resultate   aller  zugehörigen   Untersuchungen   in   dem 
kürzesten  Ausdruck   zusammen,   in  welchem   nichts  überfliessen 

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XVI 

und  nichts  fehlen  darf.   Wir  haben  hier  nun  die  schwierige  Auf- 
gabe, die  Philosophie  zu  definiren. 

Die  Definition  der  Positivisten  *)  eines  Mill  U.A.,  brauche 
ich  gar  nicht  zu  erwähnen,  weil  sie  von  Philosophie  keine 
Ahnung  haben;  Kant  aber  und  seine  Anhänger,  welche  unter 
Philosophie  bloss  Erkenntnisstheorie  verstehen,  bleiben  nicht  nur 
in  theoretischer  Ignoranz  über  alle  eigentlich  wissenswerthen 
Dinge,  wie  über  das  Wesen  der  Natur,  über  die  Seele  und  Gott, 
sondern  sie  verfallen  auch,  indem  sie  die  transscendentalen  Form- 
demente  der  Erkenntniss  studiren,  demselben  Vorwurfe,  wie 
Aristoteles  und  die  Idealisten,  da  sie  alle  der  Vernunft  oder 
der  Philosophie  nur  das  Allgemeine  und  Ewige  und  Intelligible 
vindiciren;  denn  sie  berauben  auf  diese  Weise  die  Vernunft  des 
Rechtes,  über  das  Einzelne  zu  urtheilen,  und  der  Möglichkeit, 
überhaupt  zu  wirklichem  Gebrauch  zu  gelangen.  Hat  z.  B.  die 
Aristotelische  Vernunft  nur  mit  den  intellectuellen  Principien  zu 
thun,  so  ist  sie  folglich  abgeschnitten  von  den  Sinneswahrneh- 
mungen, den  Meinungen  (Sö^ot),  den  Begehrungen,  den  Hand- 
lungen und  dem  singulären  Selbstbewusstsein.     Da  sie  nun  als 


*)  Soeben  geht  mir  noch  ein  Buch  zu  unter  dem  Titel:  The  final 
science  or  spiritual  materialism  (Funk  &  Wagnalls,  New- York  und  London 
1885).  weiches  wahrscheinlich  von  Z.  Test  in  Richmond  (Indiana)  verfaast 
ist  und  mit  ganz  vorzüglicher  Dialektik  die  unlogische  Beschaffenheit  des 
modernen  Materialismus,  Darwinismus,  Positivismus,  Spencerianismus  und 
Atheismus  aufzeigt.  Der  Verfasser  ist  von  einer  edlen  Gesinnung  beseelt 
und  es  ist  fast  Schade,  dass  er  so  viel  Witz  und  Scharfsinn  an  die  Weg- 
räumung herrschender  Vorurtheile  verschwendet.  Das  Buch  erinnert  mich 
an  die  geistvollen  Ironien  Swift's  und  ist  ein  schönes  Zeichen  für  den  ge- 
sunden Geist,  der  in  den  Vereinigten  Staaten,  wie  auch  N.  Port  er 's  Werke 
beweisen,  die  Oberhand  zu  gewinnen  scheint.  Besonders  lesenswerth  ist 
auch  der  Abschnitt  Über  die  Religion,  wo  der  Verfasser  den  Agnosticism  von 
Kant,  Hamilton,  Hansel  und  Herbert  Spencer  als  einen  religio us  Know- 
Nothingism  mit  äxiht  Sokratischer  Ironie  und  gutem  Humor  zu  Boden  streckt. 
Die  ganze  lebhaft  polemische  Arbeit  des  Verfassers  wird  aber  von  dem  hohen, 
christlichen  Geist  und  einer  zugehörigen  Metaj)hysik  getragen,  so  dass  sie 
nicht  in  blosser  Negation  stecken  bleibt,  sondern  auf  eine  befriedigende 
Weltausicht  indirect  hinweist. 


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XVII 

reine  Vernunft  nichts  von  allen  diesen  guten  Dingen  erfahrt,  so 
kann  sie  auch  nichts  darüber  urtheilen,  von  Rechtswegen  in  der 
Logik  nicht  einmal  ein  Beispiel  anführen  und  folglich  überhaupt 
gar  nicht  gebraucht  werden.  Denselben  Fehler  machen  Plato, 
Fichte,  Hegel  und  die  andern  Idealisten;  sie  verwandeln  zum 
Erstaunen  für  den  unbefangenen  Zuschauer  die  Seele  und  Gott 
in  unpersönliche  Vemunftallgemeinheiten,  wodurch  denn  aller 
Verkehr  dieser  hohen  und  vornehmen  Clique  des  „Allgemeinen" 
mit  dem  Pöbel  des  Einzelnen  und  der  Erfahrung  gänzlich  unter- 
sagt ist,  so  dass  die  Ich- Allgemeinheit  nicht  einmal  mehr  äussern 
dürfte:  „ich  bin  hungrig",  oder  „ich  gehe  spazieren".  Wenn 
deshalb  die  Geschichtsschreiber  der  Philosophie  nicht  gar  zu 
liebenswürdig  und  nachsichtig  wären,  so  würden  sie  als  Kritiker 
die  naive  Inconsequenz,  durch  welche  allein  es  den  Idealisten 
möglich  ist,  überhaupt  noch  zu  philosophiren,  nicht  durchgelassen 
haben,  sondern  hätten  längst  die  idealistische  Vernunft  mit  ihren 
Kategorien,  Ideen  oder  wie  sie  ihre  Allgemeinheiten  benennen, 
zu  Eiszapfen  erstarren  lassen.  Und  vor  diesem  tödtlichen  Frost 
würde  auch  Hegel  trotz  seiner  dialektischen  Bewegung  nicht 
gerettet  sein,  da  seine  Dialektik  ja  in  kyklischem  Abschlüsse 
ein  starr  identisches  System  von  Allgemeinheiten  liefert,  welches 
sich  hoch  über  den  warmen  Pulsschlag  des  individuellen  Ichs  in 
die  Aetherregion  des  reinen  Denkens  erhoben  hat  und  sich  daher 
zu  Tode  philosophiren  muss. 

Die  Definition  der  Idealisten  leidet  an  zwei  Fehlern;  man 
sucht  nämlich  erstens  eine  völlige  Abgränzung  der  Philosophie 
von  den  positiven  Wissenschaften  durch  eine  selbständige  Geistes- 
kraft, welche  die  Lebensgemeinschaft  mit  der  Erfahrung  ver- 
läugnet,  und  zweitens  kennt  man  noch  nicht  die  logische  Chemie, 
welche  das  Bewusstsein  von  der  Erkenntnissthätigkeit  zu  trennen 
vermag. 

Was  den  ersten  Fehler  betriflft,  so  wird  ausser  Augen  ge- 
lassen,  dass  der  Geist  nicht  bloss  mit  dem  Formalen,  Intellec- 

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xvm 

tualen,  Principiellen  und  Universalen,  sondern  auch  mit  der 
M^aterie  der  Erkenntniss,  mit  dem  Sensiblen,  Einzelnen,  Zufälligen 
und  Bedingten  zu  thun  hat,  weil  er  nur,  wenn  er  darauf  hin- 
blickt, zu  den  Gesichtspunkten  kommt,  die  (wie  die  Zahl,  Qualität, 
Relation,  Gesetz  u.  s.  w.)  sinnlos  und  unmotivirt  sein  würden, 
wenn  sie  nicht  als  Beziehungsgründe  und  Beziehungseinheiten 
mit  den  Beziehungspunkten  der  Erkenntniss  in  Coordination 
ständen.  Die  Philosophie  kann  darum  zwischen  sich  und  den 
Erfahrungswissenschaften  das  Tischtuch  nicht  zerschneiden,  sondern 
ist  auf  connubium  und  commercium  mit  ihnen  angewiesen,  da 
ebenso  die  Emperie  in  demselben  Masse  zur  Wissenschaft  wird, 
als  sie  sich  mit  philosophischem  Geiste  durchdringt.  Wenn  daher 
Piaton  die  Philosophie  als  königliche  Wissenschaft  bezeichnet 
hat,  weil  sie  allein  das  höchste  Gut  des  einzelnen  Menschen  und 
des  Staates  in's  Auge  fasse,  so  können  wir  diese  Bezeichnung 
annehmen,  sie  aber  zugleich  gegen  Piaton  und  den  Idealismus 
kehren,  indem  wir  die  königliche  Vernunft  nöthigen,  aus  ihrer 
ewigen  und  abstracten  Himmelsregion  herabzusteigen  und  sich 
auch  mit  den  Sinnen  und  den  Gefühlen  und  Trieben  abzugeben, 
damit  sie  doch  wisse,  was  sie  zu  regieren  hat  und  ob  es  in  der 
unteren  Region  nicht  so  hergeht,  wie  sie  wünschen  möchte.  Die 
speculative  Vernunft  also  darf  nicht  mehr  nach  dem  Vorgange 
des  Anaxagoras,  Piaton,  Aristoteles,  Kant,  Hegel  und  der  andern 
Idealisten  in  ein  von  den  übrigen  Kreisen  des  Seelenlebens  ganz 
abgetrenntes  Formen  -  Palais  geführt  werden,  sondern  muss  als 
sociales  Glied  in  dem  Coordinatensystem  ded  geistigen  Lebens 
sich  acht  königlich  auch  um  das  Einzelne  und  um  die  gegebenen 
empirischen  Beziehungen  bekümmern  und  alles  selbst  sehen  und 
nichts  geringschätzen.  Der  Geist  ist  ein  einiger  und  also  giebt 
es  auch  nur  eine  einzige  Wissenschaft.  Die  Theilung  in  Special- 
gebiete ist  eine  Arbeitstheilung,  bei  welcher  jedoch  alle  Arbeiter 
an  der  Herstellung  eines  und  desselben  grossen  Gebäudes  zu- 
sammenwirken, so  dass  der  Empiriker,  welcher  von  der  Philo- 

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XIX 

Sophie  absehen  zu  können  meint,  nur  die  Tagelöhnerstellung 
wählt,  und  der  Philosoph,  welcher  das  Einzelne  der  Erfahrung 
geringschätzt,  nur  wie  ein  Commis  in  optischen  oder  chirurgischen 
Magazinen  Waaren  verkauft,  von  deren  Ursprung  und  Gebrauch 
er  keine  Rechenschaft  geben  kann.  Wie  bei  der  Baukunst  die 
Fundamente  in  Hinblick  auf  das  Gewicht  und  die  Höhe  der  zu 
errichtenden  Mauer  und  Bedeckungen  gelegt  und  umgekehrt  diese 
wieder  nur  in  Verhältniss  zu  den  Fundamenten  aufgerichtet 
werden,  während  beide  Arbeitskreise  doch  in  der  That  von  ver- 
schiedenem Charakter  sind,  so  können  auch  die  Erfahrungs- 
wissenschaften, wenn  sie  die  Erforschung  des  gegebenen  Mannig- 
faltigen auf  sich  nehmen,  von  der  Philosophie,  welche  den 
forschenden  Geist  selbst  zu  ihrem  Untersuchungsobjecte  wählt, 
zwar  getrennt  werden,  beide  aber  müssen  in  beständiger  Ge- 
meinschaft bleiben,  weil  die  getrennten  Arbeitsgebiete  doch  ein 
einziges  Ziel  verfolgen  und  der  Empiriker  auch  nicht  ohne  Geist, 
wie  der  Philosoph  nicht  ohne  Hinblick  auf  gegebenes  Mannig- 
faltiges denken  kann. 

Während  nun  der  antike  Idealismus  die  speculativC;  das 
„Allgemeine"  erkennende  Vernunft  (voü(:)  als  ein  von  dem  übrigen 
Seelenleben  völlig  abgetrenntes  Wesen  (xwpt'STöv)  hinzustellen 
suchte,  und  der  moderne  Piatonismus  HegeUs  auf  dem  Wege 
dialektischer  Entwickelung  zu  demselben  Ziele  kam,  ging  ein 
andrer  Zweig  der  idealistischen  Zunft  mit  Kant  auf  die  erkenntniss- 
theoretische Unterscheidung  der  Erfahrungswissenschaft  von  der 
Philosophie  aus.  Und  dabei  zeigt  sich  der  zweite  Fehler,  den 
ich  andeutete.  Es  fehlte  nämlich  bisher  die  Einsicht  in  die 
Natur  des  Bewusstseins,  welches  man  mit  dem  Wissen  und  Er- 
kennen vermengte.  Der  Unterschied  aber  ist  so  zu  formuliren, 
dass  Wissen  und  Erkennen  nur  dem  Erkenntnissvermögen  zuge- 
hört, Bewusstsein  aber  sowohl  der  Erkenntnissfunction,  als  dem 
Begehren  (Fühlen),  Handeln  und  dem  Ich  zukommen  oder  fehlen 
kann,   ohne  dass  diese  Lebensmächte  dadurch   in  ihrem  Wesen 

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XX 

und  Wirken  aufgehoben  würden.  Zweitens  ist  Bewusstsein 
einfach  und  ohne  Hinblick  auf  Anderes  (obgleich  diejenige 
Function,  welche  bewusst  wird,  natürlich  realiter  in  Coordination 
zu  anderen  steht),  während  alles  Erkennen,  Wissen  und  Denken 
ein  Schluss  ist,  also  immer  mindestens  zwei  Beziehungspunkte 
und  einen  medius  verlangt.  Drittens  ist  das  Bewusstsein  von 
seinem  Inhalte  nicht  trennbar,  alles  Erkennen  aber  beruht  auf 
der  Gegensetzung  der  Erkenntnissfunction  gegen  ihren  Gegen- 
stand, der  sowohl  unbewusst  als  bewusst  sein  kann;  denn  selbst 
in  der  specifischen  Erkenntniss  (nicht  bloss  in  der  semiotischen) 
ist  eine  solche  Trennung  nothwendig,  da  zwar  das  erkennende 
Subjective  mit  dem  erkannten  Object  ideell  identisch,  das  Sub- 
jective  aber  als  einzelner  realer  Act  von  dem  Object  als  ideell 
Allgemeinem  verschieden  ist.  Mithin  kann  die  Philosophie  nicht 
als  die  Wissenschaft  von  der  Erkenntnissfunction  oder  als  Ver- 
nunftwissenschaft definirt  werden,  weil  wir  in  der  Philosophie 
semiotisch  auch  die  anderen  beiden  Functionen,  das  Wollen  (Ethik) 
und  das  Handeln  (Politik,  Kunst)  und  auch  das  Ich  und  die 
Gottheit  (Metaphysik)  mit  umfassen,  von  denen  das  erkennende 
Vermögen  als  solches  völlig  verschieden  ist  Wir  müssen  also 
eine  andere  Definition  auf  anderem  Wege  suchen. 

Nun  bezeichnen  wir  die  über  das  bloss  Animalische  hin- 
ausgehende Entwickelungsstufe  des  Seelenlebens,  auf  welcher 
sowohl  das  Ich,  als  die  einzelnen  Functionen  in  allen  ihren 
Coordinationen  bewusst  werden,  als  „Geist"  oder  als  geistiges 
Leben  im  weiteren  Sinne,  weshalb  ein  Mensch  auch  geistlos  sein 
kann,  ohne  seine  Existenz  zu  verlieren.  Wenn  das  im  Bewusstsein 
gegebene  Mannigfaltige  dann  nach  seinen  Beziehungen  von  der 
Erkenntnissfunction  verarbeitet  wird,  so  entstehen  die  empiri- 
schen Wissenschaften.  Da  das  Ich  sich  von  diesen  Gegen- 
ständen unterscheidet,  so  werden  in  den  empirischen  Wissen- 
schaften die  Gegenstände  immer  nach  Aussen  projicirt,  weshalb 
sogar    auch    die    empirische    Psychologie    anfänglich    die    Vor- 


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XXI 

Stellungen  and  Gefühle  und  das  ganze  geistige  Leben  naiv 
wie  äussere  Gegenstände  auflfasst,  die  Seelenvermögen  im  Kopf,* 
Herzen  und  Bauche  mit  Piaton  und  Aristoteles  logirt  und  auch 
noch  heute  womöglich  Alles  im  Gehirne  localisirt  und  alle 
geistigen  Beziehungen  durch  eigentlich  gemeinte  Metaphern  aus 
der  Sphäre  des  Raums,  der  Bewegung  und  der  Physik  und  Chemie 
bezeichnet.  Sobald  aber  diese  empirischen  Erkenntnissfunctionen 
ebenfalls  wieder  bewusst  und  als  Beziehungspunkte  von  der 
Erkenntnissftinction  auf's  Neue  zu  Beziehungseinheiten  nach 
dabei  entspringenden  Gesichtspunkten  oder  Beziehungsgrtinden 
coordinirt  werden,  so  ei\tsteht  Philosophie  und  zwar  zunächst 
die  Wissenschaftslehre.  Dieser  Entwickelung  der  Erkenntniss 
entsprechen  dann  zugleich  in  den  übrigen  Functionen  höhere 
Stufen,  die  wiederum  bewusst  werden  können  und  zusammen  den 
„Geist"  im  engeren,  aristokratischen  Sinne  bilden.  Wenn  die 
Erkenntniss  nun  auf  alle  diese  Bewusstseinsinhalte  des  Geistes 
hinblickt  und  sie  wissenschaftlich  bearbeitet,  so  ist  dies  die  ganze 
Philosophie,  die  also  kurz  als  Wissenschaft  des  Geistes 
definirt  werden  kann.  Die  Anwendung  der  philosophischen  Be- 
griffe in  den  Erfahrungswissenschaften  giebt  dann  die  sogenannte 
geistvollere  Auffassung  der  Natur,  der  Geschichte  u.  s.  w.  und 
bringt  die  vielen  philosophischen  Fragen  in  jedem  empirischen 
Forschungsgebiete  hervor,  wodurch  die  allgemeine  Einheit  aller 
Wissenschaft  und  der  Zusammenhang  aller  Gegenstände  der 
Erkenntniss  begründet  mrd.  Die  Definition  der  Philosophie  ist 
aber  nicht  so  zu  deuten,  als  sollte  damit  nur  die  sogenannte 
Geisteswissenschaft  im  Gegensatz  gegen  die  Naturwissenschaft 
abgegränzt  werden;  daran  fehlt  viel;  denn  die  Geisteswissen- 
schaft (z.  B.  die  Geschichte,  die  Jurisprudenz,  die  Religionslehre) 
kann  ebenso  empirisch  betrieben  werden,  wie  die  Naturwissen- 
schaft. Ich  habe  darum  die  weitere  und  die  engere  Bedeutung 
des  Wortes  „Geist"  unterschieden  und  beziehe  die  Philosophie 
nur  auf  den  Geist   im  engeren  Sinne,   in  welchem  die  Sphären 

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der  Natur-  und  der  Geisteswissenschaften  als  blosse  Beziehungs- 
punkte gegeben  sind. 

Die  Eigenthtimlichkeit  der  neuen  Philosophie  und  ihrer  De- 
finition beruht  also  im  Gegensatz  gegen  den  hellenischen  Idealis- 
mus auf  der  Unt^scheidung  des  Bewusstseins  von  der  Erkenntniss- 
function,  da  die  Philosophie  als  blosse  Erkenntnissarbeit  den 
Geist  nicht  in  sich  verschlucken  soll,  sondern  als  Glied  in  einem 
Coordinatensystem  die  übrigen  Functionen  des  Geistes  und  das 
Ich  als  selbständige  Mächte  anerkennt. 

Um   dieses  noch  deutlicher  auszuführen,  möchte 

Stellung 

Eo  Hegel,  ich  mit  ein  paar  Worten  das  S.  517  erwähnte  aka- 
demische Memoire  des  ausgezeichneten  Hegelianers  Spaventa 
erörtern,  welches  er  zur  Versöhnung  meiner  Metaphysik  mit  der 
HegeVschen  Dialektik  verfasst  hat.  Ich  gehe  gleich  mitten  in 
die  Sache.  Wenn  Hegel  die  Philosophie  als  Wissenschaft  des 
absoluten  Geistes  bestimmt,  so  soll  dieser  Geist  alle  materielle 
Natur  und  alles  subjective,  mit  der  Ichheit  behaftete  Seelen- 
leben in  sich  aufgehoben  haben  und  an  der  äussersten  Spitze 
der  Weltentwickelung  erscheinen,  indem  er  nichts  mehr  ausser 
sich  lässt,  sondern  als  absolute  Wahrheit  selber  Alles  ist.  Dieser 
Auffassung  setze  ich  entgegen,  dass  die  Philosophie  nur  die  Arbeit 
der  theoretischen  Function  ist  und  deshalb  von  Allem,  was 
nicht  Denken  ist,  nur  eine  Semiotik  bringen  kann.  Der  abso- 
lute Geist,  wenn  er  als  Wissen  bestimmt  wird,  kann  daher  nur 
Gedanken  in  sich  schliessen,  aber  weder  die  wirklichen  Wesen 
der  Natur,  noch  das  Ich,  noch  die  nicht-theoretischen  Functionen 
unserer  Seele.  Durch  die  beste  Pomologie  kommt  man  nicht  in 
Besitz  des  kleinsten  Obstgartens  und  durch  die  grösste  geo- 
graphische Erkenntniss  wird  man  kein  Reisender,  weil  man  nur 
semiotisch  die  Dinge  erkennt,  ihr  Wesen  und  ihre  Wirkungen 
aber  durch  den  blossen  Gedanken  nicht  in  sich  hat  Ebenso- 
wenig ist  das  Ich  im  absoluten  Geist  aufgehoben  und  conservirt, 
vielmehr  verschwindet  der  absolute  Geist,  wenn  das  Ich   ein- 


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xxrn 

schläft^  und  das  leb  kann  durch  gewisse  äussere  Handlungen, 
z.  B.  durch  Herbeiholen  und  Lesen  der  Hegerschen  Logik,  be- 
>Yirken,  dass  der  absolute  Geist  im  Denken  geboren  wird.  Dass 
meine  Definition  der  Philosophie  also  mit  der  ähnlich  lautenden 
Hegers  auch  nicht  entfernt  verwandt  ist,  es  sei  denn  wie  Namens- 
vettern, die  aber  keine  Erbansprttche  an  einander  haben,  das  ist 
augenfiLllig  genug.  Ich  kann  das  Verhältniss  aber  kurz  noch 
nach  der  Topik  der  Ideen  ausdrücken,  da  Hegel  unter  die  Idee 
der  Wahrheit  Alles  subsumirt,  während  ich  lehre,  dass  die 
Wahrheit  bloss  dem  ideellen  Inhalte  des  Denkens  zugeordnet  ist, 
aber  nur  semiotisch  die  Idee  des  Wesens  und  der  Realität  und 
die  Idee  des  Guten  und  Schönen  umfasst,  dass  alle  diese  Ideen 
also  nicht  in  dem  Verhältniss  dialektischer  Unterordnung  stehen, 
sondern  in  einem  Coordinatensystem  einander  zugeordnet  sind. 
Spaventa  will  nun  seinen  Meister  vertheidigen  und  meint*), 
dass  das  Ich  als  Einheit  der  drei  Functionen,  da  es  nicht  nach 
der  formalen  Logik  bloss  die  nota  communis  sei,  als  Activität 
sich  nothwendig  negativ  zu  seinen  Functionen  verhalten  und  die- 
selben nach  der  Idee  der  Entwickelung  (sviluppo)  in  sich  auf- 
heben und  conserviren  müsse.  Ich  sehe  aus  dieser  Argumen- 
tation, dass  es  Spaventa  nicht  gelungen  ist,  meinen  neuen  Ge- 
dankenweg aufzufassen,  weshalb  er  sich  bloss  die  Alternative 
der  früheren  philosophischen  Denkweise  vorstellt  und  das  Ich 
zwar  nicht  nach  der  formalen,  aber  wohl  nach  der  Hegerschen 
Logik  begreifen  zu  können  meint.  Es  handelt  sich  aber  um 
einen  neuen  Weg,  und  es  dürfen  die  Begriffe  von  Sein,  Thätig- 


*)  Esamc  di  un  'obbiezione  di  Teichmüller  alla  dialettica  di  Hegel. 
Memoria  del  socio  B.  Spaventa  p.  20.  Ora  V  Jo  di  Teichmüller,  come  prin- 
cipio,  sostanza,  la  cui  attivitk  identica  ha  la  forma  del  conoscere,  del  sen- 
tire,  del  volere,  h  fuori  di  certo  della  logica  formale:  non  h  una  nota  com- 
mune; b,  di  nome  almeno,  essenzialmente  attivo.  —  E  impossibile  concepire 
qnalsiaai  xmiik  di  opposti,  se  questi  non  sono  apuntati  o  negati  in  quella: 
Jiegati,  non  annichiliti;  cioe,  se  l'unitli  como  attivitU  non  h  insieme  una 
potenza  negativa. 


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XXIV 

keit,  Entwickelung,  Einheit  u.  s.  w.  nicht  mehr  so  ohne  Weiteres, 
als  wüBste  man  schon,  was  das  wäre,  gebraucht  werden;  viel- 
mehr ist  durch  meine  Metaphysik  gezeigt,  woher  wir  den  Be- 
griff des  Seins  und  Wesens  schöpfen  und  die  Merkmale,  die  ihm 
zukommen,  bestimmen  können.  Demgemäss  sieht  man  jetzt,  dass 
das  Ich  nicht  eine  solche  Einheit  ist,  wie  die  Zahl,  in  welcher  als  in 
einer  Beziehungseinheit  wir  im  Denken  die  Summanden  oder 
Factoren  aufheben  und  conserviren,  da  die  Zahl  nur  alle  ge- 
gebenen Theile  als  Ganzes  zusammenfasst,  sondern  das  Ich  hat 
als  Wesen  ein  selbständiges  Bewusstsein  von  sich  und  steht  als 
Wesen  mit  anderen  Wesen  in  realen  Beziehungen  und  ist  so 
wenig  bloss  die  negative  Einheit  aller  seiner  Functionen,  wie 
der  Hirt  nicht  die  Einheit  der  Schafherde  und  der  Oberst  nicht 
die  Einheit  der  in  ihn  verschwundenen  Soldaten  seines  Regi- 
mentes ist;  denn  wenn  die  Functionen  der  Seele  zwar  auch 
nicht,  wie  in  diesen  Analogien,  selbständige  Wesen  bilden,  so 
sind  sie  doch  sowohl  untereinander  real  verschiedene  Akte,  als 
sie  im  Yerhältniss  zum  Ich,  wenn  sie  überhaupt  bewusst  werden, 
ihr  eigenes  unvermischtes  Bewusstsein  haben.  Spaventa  erwidere 
ich  also,  dass  man  nicht  neuen  Wein  in  alte  Schläuche  fassen 
soll,  sondern  die  neue  Methode  der  Deduction  der  speculativen 
Begriffe  zuerst  zu  erörtern  hat. 

Bei  Hegel,  wie  bei  den  darwinistischen  Entwickelungslehrern 
spielt  auch  die  Zeit  ihr  Gaukelspiel,  da  man  allerdings,  wenn 
die  Taschenspielerkünste  dieses  Begriffes  nicht  aufgedeckt  sind, 
wozu  auch  Lotze  nicht  kam,  in  den  ganzen  Taüz  des  Werdens 
und  der  Entwickelung,  in  das  Verschwindenlassen  und  Aus-dem- 
Nichts-Zaubcrn  u.  dergl.  hineingeräth,  wie  man  auch,  was  das 
Schlimmste  ist,  nicht  naiv  mit  Hobbes  die  Gegenwart  als  das 
allein  wahrhaft  Seiende  ruhig  geniessen  kann,  sondern  in  jedem 
Augenblick  auf  der  haltlosen  Kippe  zwischen  dem  Grabe  der 
Vergangenheit  und  dem  Abgrunde  der  Zukunft  steht  und  seines 
Lebens  keinen  Augenblick  sicher  wird,  da  der  Augenblick  keine 

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XXV 

Breite  hat,  sondern  die  Negativität  oder  der  Tod  dem  unglück- 
lichen Zeitgläubigen  nicht  bloss  jeden  Tag  und  jede  Secunde, 
sondern  selbst  das  individuelle  Differential  seiner  Zeiteinheit  ver- 
gällt. Ich  verkünde  aber  diesen  Armen  und  Geängsteten  Ruhe 
und  Frieden;  denn  ich  lehre  ihnen,  dass  jenes  Nichtsein,  vor 
dem  sie  sich  fürchten,  nicht  ist,  dass  die  Zeit  bloss  unsre  Ord- 
nungsform der  perspectivisch  aufgefassten  Welt  bildet,  dass  also 
das  Vergangene  und  Zukünftige  ebenso  fest  steht,  wie  die  Gegen- 
wart, und  dass  das  Unbewusste  nur  einen  minimen  Grad  des 
Bewusstseins  -ausdrückt  und  je  nach  der  Ordnung  in  dem  heil- 
samen System  der  Welt  wieder  die  volle  Stärke  der  Bewusstheit 
erhalten  kann,  so  dass  Nichts  verloren  geht,  nichts  ewig  vergessen 
wird,  dass  das  lebendige  und  selbständige  Ich  über  alle  die 
negativen,  summativen,  organischen  und  sonstigen  Einheitstypen 
spottet,  in  die  man  es,  wie  unter  dem  Stempel,  prägen  will,  da 
der  Denker  umgekehrt  erst  aus  dem  Studium  des  Ichs  die  eigen- 
thümliche  Einheit  kennen  lernen  muss,  die  dem  Ich  mit  seinen 
Functionen  zukommt,  um  dann  einen  neuen  Typus  fbr  seine 
Stempelungen  zu  gewinnen;  denn  das  Ich  ist  frei  und  steht  über 
den  Kategorien,  die  der  Verstand  bei  der  Auffassung  der  Er- 
scheinungen findet 

Wenn  Spaventa  darum  auch  die  Functionen  der  Seele  in 
eine  Entwickelungsreihe  stellen  will,  so  dass  die  Erkenntniss 
das  Erste  wäre,  das  Gefühl  das  Zweite  und  der  Wille  das 
Dritte,  da  die  Reihe,  wie  er  meint,  niemals  umgekehrt  abfolgen 
könnte,  so  siegt  mein  Goordinatensystem  leicht  über  diesen 
chronologischen  Schematismus,  da  man  doch  auch  zuerst  den 
Willen  haben  kann,  z.  B.  Spaventa's  akademisches  Memoire 
kennen  zu  lernen,  und  dann  erst  die  Erkenntniss  davon  ge- 
winnt; oder  wie  man  erst  Zahnschmerz  fühlt  und  dann  erst  er- 
kennt, wer  der  Uebelthäter  ist,  wie  er  aussieht  und  dass  man 
ihn  ausreissen  lassen  muss.  Die  Functionen  sind  also  bloss  ein- 
ander  zugeordnet,   keine  aber  entwickelt  sich  aus  der  andern, 

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XXVI 

sondern  sie  haben  selbständige  Lebensquellen,  die  nicht  von  ein- 
ander erzeugt,  sondern  nur  in  Zuordnung  zueinander  ausgelöst 
werden. 

Obgleich  die  neue  Philosophie  in  allen   Disci- 

Deatractiver 

und        plinen  einen  neuen  Standpunkt  aufzeigt,  von  welchem 

^Tharertl?^'^  aus  die  früheren  philosophischen  Auffassungen  theils 

der  neuen     g^jg  falsch,  thcils  als  Woss  pcrspcctivisch  richtig  oder 

Philosophie.  '  r        r  o 

einseitig  erscheinen,  so  wäre  es  doch  sehr  leicht, 
nach  dem  HegeF sehen  Programm  bei  der  Darstellung  der  früheren 
Philosophie  die  Fragen  hervorzuheben,  wo  das  Bedttrfhiss  nach 
dem  neuen  Standpunkte  fühlbar  wird  und  wo  auch  etwa  schon 
eine  richtige  Tendenz  zu  misslungenen  Versuchen  der  Annäherung 
geführt  hat.  So  z.  B.  zeigen  Xenophanes,  Parmenides,  Plato 
und  Aristoteles  schon  in  der  Annahme  der  identisch  abgeschlossenen 
Weltkugel  die  Tendenz  zu  dem  technischen  Weltsystem,  indem 
sie  das  ^pag  dem  aneipov  vorziehen;  aber  in  der  naiven  räum- 
lichen Fassung,  in  dem  übriggebliebenen  ^icstpov  der  Materie  und 
in  der  Zufalls-  und  Zeitillusion  behalten  sie  das  begrifflose  Un- 
endliche. So  suchten  auch  Aristoteles  und  seine  scotistischen 
Gommentatoren  schon  das  aTO{xov  £i8o<;  und  die  ultima  realitas, 
die  haecceitas,  das  incommunicabile;  da  sie  aber  dem  illusorischen 
Begriff  der  Materie  und  der  projectiven  Auffassungsweise  noch 
preisgegeben  sind,  so  können  sie  den  Begriff  des  Wesens,  der 
nach  dem  Ichbewusstsein  abzuleiten  ist,  noch  nicht  finden  und 
bleiben  in  allen  Widersprüchen  stecken.  So  suchten  Piaton, 
Aristoteles,  die  Scholastiker,  Leibnitz,  Hegel  u.  A.  schon  eine 
series  veritatum  aetemarum,  aber  wegen  des  perspectivischen 
Begriffs  des  Zufalls  konnten  sie  immer  nur  einen  Theil  der 
Welt,  das  ideell  Allgemeine,  damit  umfassen  und  verfehlten  das 
Wichtigste,  die  wirklichen  geschichtlichen  Zusammenhänge  der 
lebendigen  Wesen.  So  strebten  auch  Piaton,  Aristoteles,  Leibnitz, 
Kant  und  viele  Moderne  darnach,  dem  Menschen  die  Freiheit 
des  Willens  zu  vindiciren,  da  sie  aber  das  Wesen  des  Willens 

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xxvn 

nicht  gefunden  hatten,  so  blieb  der  Alp  der  Nothwendigkeit 
immer  drückend  über  ihnen.  In  dieser  Weise  könnte  man  ftlr 
jeden  neuen  Lehrsatz  die  Tendenzen  und  Versuche  der  Früheren 
freundschaftlich  aufsuchen;  diese  completive  und  exsolutorische 
Leistung  der  neuen  Philosophie  mag  aber  später  hervorgehoben 
werden*) ;  die  erste  Aufgabe  ist  die  Destruction,  da  die  hemmenden 
Schranken  falscher  und  einseitiger  Auffassung  erst  niedergerissen 
werden  müssen,  um  die  richtigen  Tendenzen  aus  der  Erstarrung 
zu  befreien.  In  dieser  Beziehung  muss  eine  neue  Philosophie 
immer  auch  einen  destructiven  Charakter  haben. 

Es  wird  aber  von  den  Vertretern  des  Christen- 
thums  immer  sehr  viel  Werth  darauf  gelegt,   dass   nenepwiosophie 
durch  Christus  etwas  von  Gott  unmittelbar  offenbart        ^^^  ^^ 

Ohristenthnm. 

sei,  was  die  Vernunft  und  also  die  Philosophie  nicht 
von  sich  aus  finden  könnte.  Deshalb  scheint  eine  jede  Philosophie, 
die  sich  nur  auf  ihre  eigenen  Erkenntnissquellen  beruft  und  die 
Autorität  der  Offenbarung  nicht  zu  Hülfe  nimmt,  dem  Christen- 
thum  feindlich  zu  sein,  nicht  bloss  wenn  sie  auf  andre  Resultate 
konmit,  sondern  auch  wenn»  sie  den  Offenbarungsinhalt  vernünftig 
und  richtig  findet;  denn  die  Offenbarungsidee  verlange  eben, 
dass  ihr  Inhalt  nicht  anders  als  nur  durch  die  geschichtliche 
Offenbarung  vermittelt  werden  könne.  Eine  solche  auf  ihr  Eigen- 
thumsrecht  poch%nde  Monopolgesellschaft,   wie   demgemäss   die 


*)  Wenn  z.  B.  die  Psychologie  durch  meine  neue  Eintheilung  der 
Seelenvermögen  und  geistigen  Functionen  wesentlich  umgestaltet  wird  (vgl. 
S.  26  ff.),  so  ist  es  sehr  interessant  zu  sehen,  dass  die  Theologen  zwar  nicht 
durch  Selbstbeobachtung,  aber  durch  natu  rliche  Gruppirung  der  Manifestatio- 
nen bei  ihrer  Psychiologie  Gottes  zu  demselben  Resultate  gekommen  sind, 
indem  sie  allgemein  potentia,  amor,  sapientia  unterschieden.  Die  idealisti- 
schen Dogmatiker,  wie  z.  B.  Augustin,  geriethen  von  einer  anderen  Seite 
auf  denselben  Weg,  indem  sie  im  Anscbluss  an  die  alte  Eintheilung  der 
Philosophie  in  Physik,  Logik  und  Ethik  die  trinitarischen  Personen  in  Vater 
(Schöpfung  =  potentia),  Sohn  (Xo^oc  z=:  sapientia)  und  Geist  (Gemüth  =  amor) 
gliederten,  was  zwar  unhaltbar  ist,  jetzt  aber  exsolutorisch  von  der  neuen 
Philosophie  richtig  gedeutet  werden  kann,  da  die  Psychologie  Gottes  eben 
die  Unterscheidung  der  drei  wirklichen  Functionen  des  Geistes  forderte. 


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xxvm 

Kirche  ist,  muss  sich  nun  freilich  recht  ungesellig  und  unver- 
träglich ausnehmen,  so  dass  es  scheint,  als  wenn  die  ehrlichen 
Philosophen  um  keinen  Preis  dieses  Monopol  anerkennen  dürften, 
ohne  sich  um  alles  Ansehen  und  alle  Selbständigkeit  zu  bringen. 
Allein  die  Dinge  sehen  oft  schlimmer  aus,  als  sie  sind.  Der 
Philosoph,  der  die  Geschichte  seiner  Wissenschaft  kennt,  wird 
unmöglich  verkennen,  dass  in  der  That  kein  vorchristlicher 
Philosoph  die  Ideen,  durch  welche  die  Oflfenbarung  des  Evan- 
geliums ihre  Metaphysik,  Ethik  und  Philosophie  der  Geschichte 
ausgedrtickt  hat,  auch  nur  von  fem  in  seinem  Systeme  besitzt 
und,  ohne  sein  System  zu  zerstören,  besitzen  könnte.  Es  ist 
deshalb  ein  einfacher  Act  der  Gerechtigkeit  und  der  Sach- 
kenntniss,  wenn  man  den  Theologen  diesen  ihren  Prioritäts- 
anspruch ofifen  zugesteht. 

Eine  andre  Sache  freilich  wäre  es,  wenn  die  Theologie  noch 
jetzt  der  Philosophie  gegenüber  das  Monopol  zum  Vertrieb  der 
überkommenen  Wahrheit  aufrecht  erhalten  wollte.  Denn  die 
Wahrheit  der  evangelischen  Offenbarung  ist  nun  einmal  mit 
Macht  überall  verbreitet  worden  und,  wenn  man  auch  einräumt, 
dass  nur  ein  Charakter  wie  Columbus  im  Stande  gewesen  wäre, 
bis  zur  neuen  Welt  durchzudringen,  so  getraut  sich  doch  jetzt 
jeder  kleine  SchiflFscapitän  und  Steuermann  den  Weg  dahin  zu 
finden.  Ich  glaube  darum,  dass  die  Theologie,  da  sie  nicht,  wie 
Schelling  meinte,  eine  Mysterienlehre  ist,  sondern  von  jeher  oflTen 
Propaganda  gemacht  hat,  nicht  mehr  auf  ein  Monopol  der  Wahr- 
heitserkenntniss  Anspruch  machen  darf,  sondern  die  Philosophie 
völlig  freigeben  muss,  da  ein  Jeder  nach  seinen  Kräften  das  zu 
sehen  suchen  wird,  worauf  die  Offenbarung  aufmerksam  gemacht 
hat.  Daher  kann  in  dieser  Beziehung  zwischen  einem  Theologen 
und  einem  Philosophen  gar  kein  Unterschied  sein;  man  müsste 
sonst  behaupten,  dass  ein  vernünftiger  Mensch  diese  durch  die 
Offenbarung  gezeigten  Dinge  gar  nicht  sehen  könnte,  sondern 
dass  sie  nur  durch  den  sogenannten  Glauben  erblickt  würden; 

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XXIX 

allein  diese  aach  von  der  Bitschrschen  Schnle  getragene 
Behauptung  erinnert  zu  sehr  an  das  so  fein  gesponnene, 
prächtige  Gewand  des  Kaisers  von  China  bei  dem  Dichter 
Andersen,  das  angeblich  nur  die  Klugen  und  Gerechten  sehen 
konnten  und  das  deshalb  allgemein  bewundert  wurde,  bis  ein 
Offenherziger  zum  Schrecken  und  zum  Lachen  damit  herauskam, 
dass  der  Kaiser  ja  ganz  nackt  einherginge.  Die  Philosophie 
hat  solchen  Theologen  darum  den  Bath  zu  ertheilen,  den  Glauben 
nicht  zu  einem  Organ  von  Illusionen  zu  machen.  Die  Wahrheit 
kann  zwar  zuerst  von  Einem  gesehen  sein;  wenn  sie  aber  von 
diesem  offenbart  ist,  so  muss  sie  mit  der  übrigen  Wahrheits- 
erkenntniss  im  Einklang  stehen  und  von  aller  Wirklichkeit 
bezeugt  werden,  so  dass  man  Jedem  Fehler  nachweisen  könnte, 
der  sie  läugnen  wollte,  und  es  darf  nicht  mehr  auf  einen  grund- 
losen Glauben  ankommen,  wie  bei  den  Quacksalbern. 

Der  Grund  aber,  weshalb  man  bisher  zwißchen  der  Philo- 
sophie und  dem  Christenthum  das  rechte  Yerhältniss  nicht  finden 
konnte,  liegt  tief  versteckt  Schopenhauer  nahm  die  Sache  zu 
oberflächlich  und  glaubte  witzig  die  natürliche  Feindschaft  zwischen 
beiden  Elementen  dadurch  zu  erklären,  dass  sich  beide  wie  Wolf 
und  Lamm  im  selbigen  Käfig  verhielten,  woraus  folge,  dass  das 
Lamm  unfehlbar  gefressen  werden  würde.  Allein  so  richtig  diese 
Folgerung,  so  irrig  ist  seine  Annahme,  als  wenn  die  Philosophie 
selbstverständlich  der  Wolf  wäre,  da  die  Weltgeschichte  doch 
genügend  zeigt,  dass  die  Kirche  kein  Lamm  ist,  dass  sie  viel- 
mehr alle  philosophischen  Schulen  des  Alterthums  durch  den 
Kaiser  Justinian,  den  sie  als  beweglichen  Unterkiefer  benutzte, 
schon  im  Jahre  52%  aufgefressen  hat  Im  ganzen  Mittelalter 
wurde  der  angebliche  Wolf  als  knechtischer  Kettenhund  vom 
Lamm  gehalten  und  in  der  neuen  und  neuesten  Zeit  haben  sich 
alle  bedeutenderen  philosophischen  Systeme  trotz  ihrer  unbehin- 
derten Freiheit  vor  dem  Christenthum  in  aufrichtiger  Bewunde- 
rung oder  aus  Furcht  vor  dem  Stärkeren  verneigt.    Der  Vergleich 

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XXX 

Schopenhauer's  war  also,   wie  fast  alle  seine  Einfillle,   nur  flir 
Kurzsichtige  überzeugend. 

Der  wahre  Grund  der  Schwierigkeit,  das  Verhältniss  zwischen 
Philosophie  und  Christenthum  zu  bestimmen,  liegt  darin,  dass 
sich  so  schwer  in  Begriffen  ausdrücken  lässt,  was  eigentlich 
das  Christenthum  und  die  Philosophie  sei.  Das  Christenthum 
ist  nicht  nothwendig  bloss  eins  der  heutigen  Bekenntnisse; 
es  wird  wohl  auch  nicht  sicher  genug  durch  die  compara- 
tive  Dogmatik  festgestellt,  die  Freiherr  H.  von  der  Goltz  in 
seinem  interessanten  und  verdienstvollen  Werke  ( „  die  christ- 
lichen Grundwahrheiten")  einzuführen  suchte,  weil  das  Christen- 
thum schon  ein  paar  Jahrtausende  alt  ist  und  auch  ohne  formu- 
lirte  Dogmatik  auskam.  Ich  kann  auch  den  Apostel  Paulus 
und  den  Verfasser  des  Johannesevangeliums  nicht  als  Photo- 
graphen des  Christenthums,  sondern  nur  als  Theologen  auffassen, 
die  vielleicht  die  ersten  Versuche  zu  seiner  theologischen  Dar- 
stellung machten,  ohne  dass  man  verpflichtet  wäre,  ihre  Auf- 
fassungsformen für  allgemein  bindend  und  ftir  die  organischen 
Gewebe  des  Christenthums  selbst  zu  halten.  Was  ist  also  eigent- 
lich das  Christenthum?  Denn  es  wird  doch  kein  feinerer  Kopf 
der  geist-  und  gemüthlosen  Definition  zustimmen,  die  jüngst  von 
der  herrschenden  Richtung  fortgerissen  der  angesehene  Kirchen- 
historiker Adolph  Harnack  formulirte,  als  wenn  das  Christen- 
thum bloss  eine  abgeschmackte  Illusion  jüdischer  Bauern  gewesen 
wäre,  die  (wie  die  ehstnischen  Bauern  hier  vor  etwa  zwanzig 
Jahren)  den 'Weltuntergang  und  die  Aufrichtung  des  Paradieses 
in  ihrem  Lande  erwarteten.  Solche  Geschichtsauffassung  huldigt 
zu  sehr  der  heutigen  positivistischen  und  dai*winistischen  Mode, 
als  dass  sie  Aussicht  auf  längeren  Beifall  hätte;  denn  es  wider- 
strebt zu  sehr  dem  gesunden  Gefühl,  das  Grösste  und  Herrlichste, 
was  die  Menschheit  besitzt,  aus  einem  verächtlichen  und  durch 
die  Geschichte  widerlegten  Aberglauben  hervorgehen  zu  lassen; 
und  nur  diejenigen,  welche  im  Stillen  wenigstens  über  die  Wahrheit 

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XXXI 

des  heutigen Gfaristenthams  dasselbe  abfällige Urtheil  haben,  wie  ttber 
seinen  Ursprung,  werden  mit  Harnack's  Resultaten  sympathisiren. 
Das  Christenthum  ist  also  schwer  zu  definiren.  Wer  soll 
es  aber  definiren?  Weltansichten  definiren  kann  nicht  die  Ge- 
schichte, sondern  nur  die  Philosophie.  Dadurch  kommen  wir 
auf  den  zweiten  Partner;  denn  die  bisherige  Philosophie  trägt 
eben  die  Schuld  der  vorhandenen  Schwierigkeiten.  Das  Christen- 
thum ist  Geist  und  hat  darum  seine  eigene  Metaphysik,  Ethik, 
Aesthetik,  Geschichtsphilosophie;  aber  die  Ausarbeitung  der  ihr 
zugehörigen  philosophischen  Formen  bedui*fte  langer  Zeit,  ehe 
sie  dem  mächtigen  Geiste  zum  angemessenen  Ausdruck  hätten 
dienen  können.  Um  den  Inhalt  des  Ghristenthums  schnell  zu 
schöpfen  und  zu  verbreiten,  benutzte  man  daher  die  alten,  einem 
andern  und  weit  geringeren  Geiste  entsprechenden  Formen  des 
früheren  griechischen  Idealismus.  In  diesen  hellenischen  Formen 
trat  die  Dogmatik  auf.  Was  ist  natürlicher,  als  dass  sie  nirgends 
recht  passten  und  dass  überall  Widersprüche  sichtbar  wurden. 
An  diesen  Widersprüchen  ergötzte  sich  nun  der  unreife  Verstand 
und  glaubte  das  Christenthum  sich  selbst  zersetzen  zu  lassen. 
Klügere,  die  aber  nach  ihrer  intellectualen  Stellung  der  vor- 
christlichen Bildung  angehörten,  suchten  den  Geist  aus  dem 
Christenthum  herauszuziehen  und  zogen  natürlich  nichts  anderes 
als  wieder  den  griechischen  Idealismus  heraus,  wie  dies  z.  B. 
Fichte  und  Hegel  und  seine  Schule  machte.  Das  Christenthum 
wartet  aber  geduldig,  bis  es  auch  von  den  Philosophen  ver- 
standen wird;  denn  die  dem  Geiste  des  Christenthums  hin- 
gegebenen, aber  nicht  gerade  speculativ  angelegten  Naturen 
wissen  von  selbst,  was  sie  an  ihm  haben,  auch  wenn  sie  dieses 
mächtige  Leben  philosophisch  nicht  befriedigend  auszudrücken 
im  Stande  sind.  Darum  kann  erst  eine  neue  Philosophie,  die 
auf  dem  Boden  des  Christenthums  selbst  gewachsen,  zugleich 
aber  über  die  Formen  und  Grundlagen  der  bisher  allein  herr- 
schenden   hellenischen    Philosophie    hinausgekommen    ist,    das 

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xxxu 

Christenthom  definiren.    Denn  der  Geist  wird  durch  nichts  offen 
hart,  als  durch  sich  selbst. 

zweck  ^^°  ^^^^  ^^^  *^^  ^^^  ersten  Blick  sehen,  dass 

dieses  Buches.  |q  ^q^  \^qy  Vorgelegten  Religionsphilosophie  ein 
anderer  Geist  mit  einer  anderen  Methode  auf  andre  Ziele  hin- 
arbeitet, als  man  unter  solchem  Titel  bisher  zu  suchen  und  zu 
finden  pflegte.  £s  handelt  sich  um  eine  logische  Chemie  des 
religiösen  Lebens;  die  empirisch  gegebenen  Religionen  werden 
in  ihre  Elemente  zerlegt,  die  in  constanten  Coordinationen  stehen; 
dadurch  werden  scharfe  und  feste  Definitionen,  exacte  Ein- 
theilungen  möglich;  die  Kritik  verliert  ihren  subjectiven  Charakter, 
da  die  zu  beurtheilenden  Standpunkte  sich  selbst  begränzen  und 
die  natürlichen  Typen  für  die  gemischten  empirischen  Religions- 
formen liefern.  Eine  praktische  und  politische  ätellungnahme 
zu  den  Parteifragen  der  Gegenwart  wird  aber  hier  hoffentlich 
nirgends  sichtbar;  man  wird  kaum  erkennen,  ob  der  Verfasser 
Katholik  oder  Protestant,  ob  er  flir  oder  gegen  den  Culturkampf, 
die  grosse  Stöcker'sche  Bewegung  u.  s.  w.  ist;  das  Interesse  ist 
ein  rein  wissenschaftliches,  vor  welchem  die  Parteistandpunkte 
in  blaue  Feme  versinken.  Etwas  zu  sehr  in  die  Augen  fallend 
aber  wird  wohl  die  Verachtung  sein,  die  das  Modegeschwätz 
der  Zeit  hier  findet;  das  Urtheil  der  Majorität,  das  Coquettixen 
mit  den  Entwickelungstheorien,*)  die  Huldigungen  vor  den  Götzen 


*)  Ich  möchte  lieber  mit  Stillschweigen  über  das  eben  erschienene  Buch 
von  W.  Wundt  »Ethik,  eine  Untersuchung  der  Thatsachen  und  Gesetze 
des  sittlichen  Lebens«  hinweggehen,  aber  als  öffentlicher  Lehrer  der  Wissen- 
schaft fühle  ich  die  Pflicht,  mein  Urtheil  auszusprechen.  Das  Buch  gehört 
jener  Richtung  an,  die  mit  Ironie  jetzt,  wie  lucus  a  non  lucendo,  exacte 
Philosophie  benannt  wird,  und  giebt  ein  Beispiel  dafür,  wie  das  sogenannte 
Philosophieren  ohne  philosophischen  Geist  der  Verwahrlosung  und  Verwilde- 
rung preisgegeben  ist. 

Zum  Beweise  genügt  es  hier,  ein  paar  Proben  vorzulegen.  So  will 
Wundt  8.  83  feststellen,  was  man  überhaupt  unter  Religion  zu  verstehen 
habe,  und  erklflrt  dazu:  »Hier  sind  aber  nicht  weniger  als  drei  Ansichten 
aufgetreten.«  —  Nach  welcher  Methode  sind  diese  Ansichten  aufgesucht? 
nach  welchem  Fundameute  eingetheilt?   wie  können  wir  erfahren,   ob  diese 


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XXXIIl 

des  Positivismus,  die  demokratisch- geologische  Geschichtsauf- 
fassung ä  la  Buckle  und  Anderen,  die  den  schöpferischen  Einfluss 
der  grossen  Naturen  wegdeuten  und  das  Leben  des  menschlichen 
Geistes  nach  dem  Vorbilde  der  Gletschertheorien  erklären,  ferner 
die  beliebten  Prophezeiungen  vom  Sieg  des  Judenthums  über 
das  Christenthum  oder  die  Marktschreierei  über  die  Zersetzung 
des   Christenthums   —  alle  dergleichen    von    einer    augenblick- 


Ansichten  überhaupt  von  Belang  und  ob  nicht  viele  andre  wichtigere  ausser 
Augen  gelassen  sind?  Um  solche  pedantische  Fragen  der  Logik  kümmert  sich  das 
Buch  nicht  und  weiss  nichts  davon,  dass  die  Zucht  im  Denken  den  Nach- 
weis des  Nicht  mehr  und  nicht  weniger  verlangt,  da  es  sich  nicht  um 
eine  Historie  von  drei  Burschen,  die  über  den  Rhein  zogen,  handelt,  sondern 
um  Begriffe  und  Wissenschaft. 

Dann  meldet  Wundt  S.  38:  »Der  natürliche  Entstehungsort  der  reli- 
giösen Ideen  ist  aber  das  Völkerbe wusstsein.«  Woher  mag  er  diese  Depesche  * 
erhalten  haben?  Sind  das  »Untersuchungen«,  wenn  man  ohne  alle  Untersuchung 
Orakel  zum  Besten  giebt?  Und  was  für  Orakel!  In  Zukunft  darf  man  also 
nicht  mehr  von  Buddha,  Jesus,  Mohamet  sprechen,  sondern  muss  ein  fabel- 
haftes »Völkerbewusstsein«  als  Entstehungsort  für  alle  Religion  aufsuchen. 
Warum  nicht  lieber  gleich  ein  Erd-  oder  Planetenbewusstsein !  Und  man 
muss  nach  der  Analogie  erklären:  »der  natürliche  Entstehungsort  aller  Häuser 
sind  die  Städte.« 

S.  41  giebt  Wundt  die  Definition  der  Religion:  »Religiös  sind  —  so 
kann,  glaube  ich,  allein  geantwortet  werden  —  alle  diejenigen  Vor- 
stellungen und  Gefühle,  die  auf  ein  ideales,  den  Wünschen  und  Forderungen 
des  mensclilichen  GemÜthes  vollkommen  befriedigendes  Dasein  sich  beziehen.« 
—  Ich  habe  in  keiner,  auch  der  schlechtesten  Logik,  nicht  gefunden,  dass 
man  mit  »glaube  ich«  Definitionen  zu  Stande  bringt.  Welche  Sehnsucht 
empfindet  man  in  dieser  »Untersuchung  der  Thatsachen  und  Gesetze«  nach 
einer  wirklichen  Untersuchung,  nach  Methode  und  Beweis. 

Nachdem  Wundt  dann  wieder  seinen  gläubigen  Lesern  erzählt  hat,  dass 
»Phantasie  und  Gefühle«  die  Quellen  der  Religion  sind,  lobt  er  Feuerbachs 
Satz:  »die  Götter  sind  die  verwirklicht  gedachten  Wünsche  der  Menschen.« 
Sollten  die  Phönicier  in  der  That  den  Moloch  nur  so  lange  verehrt  haben, 
als  sie  wünschten,  Menschenfleisch  zu  fressen  und  die  Erstgeborenen  zu 
morden?  Allein  solche  Fragen  brauchen  in  einem  Buche  nicht  beantwortet 
zu  werden,  das  Thatsachen  und  Gesetze  untersuchen  will;  denn  bald  erfahren 
wir  wieder,  dass  »die  Götter  die  sittlichen  Ideale«  gewesen  wären  und  die 
Religionastifter  sittliche  Vorbilder  u.  dergl,  alles  aber  ohne  Beweise,  um 
den  Leser  nicht  durch  unnütze  Anstrengungen  zu  belästigen. 

Wir  aber  sagen  mit  Parmenides:  iUa  ab  rfjoS'  ä^'  6Söö  hl^-rpity;  slpf« 
v6-nua. 

m* 

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XXXIV 

liehen  Fluthbewegung  getragenen  Wichtigkeiten  werden  hier 
getrost  der  Ebbe  überlassen,  die  sie  bald  wieder  vom  Schauplatz 
wegführen  wird.  Für  die  Aufregungen  des  Tages  arbeitet  die 
Wissenschaft  nicht;  denn  sie  ist  ihrem  Wesen  nach  aristo- 
kratisch und  schaut  in  die  Jahrhunderte;  über  den  Tumult  der 
Vielen  siegt  auch  immer  das  Herakleitische:  et«;  [i6p  loi.  Ebenso 
deutlich  wird  sich  zeigen,  dass  der  Verfasser  in  dem  Christen- 
thum  die  Offenbarung  einer  neuen  religiösen  Gesinnung  von 
ewiger  Bedeutung  anerkennt,  einer  Gesinnung,  welche  man  ebenso 
vergeblich,  wie  den  Menschen  aus  dem  Affen,  aus  dem  Juden- 
thum  oder  aus  dem  Piatonismus  oder  dem  römischen  Kosmo- 
politismus oder  gar  aus  dem  Buddhismus  abzuleiten  sucht.  Das 
Christenthum  wird  aber  in  diesem  Buche,  welches  schon  zu  um- 
fangreich wurde,  nicht  mehr  behandelt;  ich  möchte  deshalb  die 
Leser,  welche  meiner  Methode  und  Auffassung  ihre  Sympathie 
schenken,  im  Voraus  darüber  beruhigen,  dass  meine  Philosophie 
des  Christenthums  nicht  etwa  auf  eine  dürre  abstracto  Formel 
im  Sinne  der  bisherigen  idealistischen  Metaphysik  hinauslaufen 
wird,  sondern  die  neue  und  wahre  Metaphysik  trifft  gerade  das 
Leben  im  Mittelpunkt  und  geht  auf  die  Persönlichkeit  und  die 
Geschichte,  weshalb  zwar  das  historisch  und  specifisch  Neue  des 
Evangeliums  frei  sein  muss  von  alF  den  specifischen  Elementen 
der  untergeordneten  Religionen,  diese  Elemente  aber  in  einem 
höheren  und  allumfassenden  religiösen  Coordinatensysteme  an 
ihrem  Orte  gehörig  verwerthen  kann.  So  ist  z.  B.  die  Erlösungs- 
idee und  die  Stellvertretung  zwar  nichts  specifisch  Christliches; 
wie  der  Geist  aber  das  seelische  Leben,  das  wir  mit  den  Thieren 
theilen,  und  die  vegetativen  Processe,  die  uns  mit  den  Pflanzen 
gemein  sind,  nicht  von  sich  abstösst,  sondern  in  und  über  ihnen 
lebt,  so  hat  auch  der  neue  Geist  des  Christenthums  die  alten 
und  untergeordneten  religiösen  Lebensformen  in  seinem  Sinne 
umgewandelt  und  benutzt. 

Für   diejenigen,    welche   ein  Bedürfniss   nach    einer  neuen 
Philosophie   lebhafter   empfinden   und   der  Arbeit  des-  Denkens 

uiyiiized  by  v^nV^  v^^pc  iv^ 


XXXV 

nicht  abgeneigt  sind,  bemerke  ich  noch,  dass  die  philosophischen 
Voraussetzungen  des  Buches  genauer  in  meiner  „Wirklichen  und 
scheinbaren  Welt"  erörtert  sind.  Für  meine  Schüler  habe  ich 
auch  dem  alphabetischen  Inhaltsverzeichniss  Sorgfalt  zugewendet, 
damit  man  die  massgebenden  Begriffe  und  Methoden  immer  in 
vielen  Anwendungen  verfolgen  kann. 

Ich  möchte  noch  ein  Wort  über  meine  Stellung 

Schluss. 

dem  Geiste  der  Zeit  gegenüber  sagen.  Wie  sollte 
man  die  wirklichen  Arbeiten,  die  vielen  und  erfolgreichen 
Forschungen  der  Zeitgenossen  nicht  aufnehmen,  schätzen  und 
bewundem!  Nur  vermisse  ich  in  den  leitenden  Gesichtspunkten 
der  jetzigen  Fluthwelle  den  philosophischen  Geist.  So  z.  B. 
verfolge  ich  mit  grossem  Interesse  die  feinen  physiologischen 
Experimente  über  die  Functionen  des  Gehirns;  aber  es  ver- 
wundert mich  fast  die  Komik  der  Deutungen,  die  man  den  Phä- 
nomenen giebt;  denn  ihre  monarchische  und  metaphysische 
Psyche  wollen  die  Forscher  aus  der  Welt  gebracht  und  die 
geistigen  Functionen  alle  demokratisch  vertheilt  und  im  Gehirn 
localisirt  haben,  ganz  in  der  Art,  als  wollte  man  etwa  Bismarcks 
Existenz  gänzlich  läugnen,  da  experimentell  nachgewiesen  wäre, 
dass  dies  mächtige  Wesen  aus  lauter  einzelnen,  von  vielen  Um- 
ständen bedingten  Functionen  bestände,  die  bestimmt  localisirt 
nur  in  Varzin,  im  Reichstag,  im  königlichen  Schlosse  u.  s.  w. 
vollzogen  würden;  denn  wenn  man  die  Summe  dieser  Phänomene 
zusammenstellte,  so  käme  gerade  das  heraus,  was  man  sich  bis- 
her als  den  angeblichen  Fürsten  Bismarck  vorgestellt  hätte. 
Um  die  Sachlage  allgemeiner  auszudrücken,  müssen  wir  die 
Stellung  der  Parteien  aus  den  Verhältnissen  der  Elemente  in 
unserem  geistigen  Leben  selbst  erklären.  Ein  Jeder  findet  in 
sich  einen  zur  Herrschaft  in  der  Seele  geborenen  Geist,  der  die 
christlich  religiöse  Gesinnung,  die  speculative  Vernunftkraft,  die 
höheren  sittlichen  Geftlhle  und  die  frei  gewordene  Thatkraft 
umfasst;  dieser  im  Einzelnen  mehr  oder  minder  starken  Region 
steht  aber  nun  eine  bei  Weitem  umfangreichere  mit  den  Wurzeln 

uiymzeu  uy  x^j  vyVjpt  Iv^ 


XXXVI 

in  der  thierischen  und  pflanzlichen  Natur  steckende  Masse  von 
demokratischen  Elementen  gegenüber,  die  das  nackte  selbstische 
Leben  mit  dem  Tumulte  der  zufölligen  Meinungen,  den  roheren 
Trieben  und  Genüssen  und  den  abhängigen,  dem  Nutzen  dienenden 
Arbeiten  zum  Bewusstsein  bringt.     Das  politische  Verhältniss,  in 
welchem  diese  beiden  Elemente  unseres  geistigen  Lebens  stehen, 
spiegelt   sich   daher  nothwendig  in   dem   ganzen  Zustande   der 
Gesellschaft,  der  Staatsverfassung,  den  wissenschaftlichen  Rich- 
tungen und  den  Kunstbestrebungen  ab.    Um  hier  nun  bloss  die 
wissenschaftlichen  Richtungen  herauszuheben,  so  kann  Jeder,  der 
etwas  zu  vergleichen  und  zusammenzufassen  versteht,  leicht  er- 
kennen,  dass  zwar  alle  Forschungen  als   solche  dem  höheren 
Geiste  dienen,  dass  diejenigen  Tendenzen  oder  leitenden  Gesichts- 
punkte der  Forschung  aber,  welche  darauf  abzielen,  den  Menschen 
zum  Thier  zu  machen,  den  Staat  auf  blinden  socialen  Mechanismus 
zurückzuführen,  die  Freiheit  des   Gewissens  in  den  Zwang  zu- 
fälliger Entwickelungsverhältnisse  aufzulösen,   das  Christenthum 
als  einen  Kehrichthaufen  aus  den  Abfilllen  früherer  Culturelemente 
zu   beschreiben,   den  Geist   aus   den  Erzitterungen   des  Nerven- 
gewebes  zu  erklären,   das  Denken  in  Verdichtungen   von  Vor- 
stellungswolken umzudeuten,   die  Philosophie  in  Empirie  umzu- 
wandeln, die  zweckmässigen  Lebensformen  aus  blinden  DiflFeren- 
zirungen  und  Integi'irungen  herzuleiten,  die  grossen  Genien  der 
Menschheit  durch  Massenwirkungen  unbedeutender  Männlein  zu 
ersetzen,  ich  sage,  dass  alle  diese  und  ähnliche  Tendenzen  offen- 
bar das  politische  üebergewicht  des  von  Natur  untergeordneten 
geistigen  Lebens  über  die  rechtmässigen,  aber  in  Unmündigkeit 
erhaltenen  höheren  Mächte   des  Geistes   ausdrücken.    In   sofern 
nun  tritt  die  neue  Philosphie  diesen  sich  als  Herren  geberdenden 
Sclaven  geringschätzig  entgegen  und  nimmt  ihr  rechtmässiges 
Erbe   hier  und  da  scheinbar  mit  harter  Hand  wieder  an  sich. 

Kesmo,  am  esthländischen  Strande, 
Juli  1886. 


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Inhalts -Verzeichniss. 


Seite 

Erster  Theil.     Grundlegung. 
EinleituDg. 

Erstes  Capitel.    Definition  der  Religion 14 

§  1.     Naturalistische  Erkenntniss  der  Religion  ...  14 

§  2.     Frühere  Definitionen  der  Religion 15 

Modus  deuin  cognoecendi  et  colendi lö 

Lebendiger  Glaube  an  das  höchste  Gut 17 

Schleiermacher's  Definition 18 

HegeFs  Definition 19 

Krause 20 

Lotze 21 

0.  Pfleiderer's  Definition 22 

A.  Ritschrs  Definition 23 

§  3.     Die  Eintheilung  der  Functionen  der  Seele  ...  26 

Die  elementare  Wichtigkeit  dieser  Frage 26 

Die  bisherige  Eintheilung  der  Seelenvermögen 27 

Das  Erkenntnissvermögen  ist  nicht  receptiv 28 

Das  Begehren  ist  nicht  spontan 30 

Das    GefQhl    ist    nicht   Embryonalzustand    der    andern 

beiden  Functionen 31 

Idolon  fori,  Gefühl  als  unklares  Denken 32 

Die  Platonisch -Aristotelische  Auifassung  und  Spinoza    .  32 

Der  neue  Lehrsatz 34 

Wille  und  Bewegung 34 

Identität  von  Wille  und  Gefühl 35 

Die  Ideen  des  Wahren,  Schönen  und  Guten 37 

Zur  Methode 41 

Die  Analyse  des  sogenannten  Willens  führt  auf  das  Gefühl  41 

1.  Erste  Stufe  des  Begehrens 41 

2.  Zweite  Stufe  des  Begehrens 42 

3.  Dritte  Stufe  des  Begehrens 44 

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J 


xxxvm 

Seite 

Corollar:  Der  GrundbegrifF  der  Jurisprudenz 47 

Zwaug  im  Recht 53 

Bechtsent  Wickelung] 57 

Synthetische  Methode 59 

Erste  Synthesis 60 

Zweite  Synthesis 62 

Resultat 66 

§  4.    Definition  der  Religion 67 

Eintheilung  der  Definitionen 67 

^1.  Systematische 67 

2.  Individuelle,  generische,  ideale 69 

3.  Anlage,  Akt,  lebendige  Kraft 71 

Die  Elemente  der  Coordination 72 

1.  Der  erste  Beziehungspunkt.    Fundamentum  relationis  72 

2.  Der  zweite  Beziehungspunkt.     Terminus  relationis.  78 

3.  Die  Function 79 

a.  Religion  als  Anlage 81 

b.  Religion  als  Act 84 

Excurs  über  eine  verbreitete  Häresie 87 

c.  Religion  als  lebendige  Kraft 89 

Conclusion    .   .' 91 

Zweites  Capitel.    Eintheilung  der  Religionen. 93 

Nothwendigkeit  einer  Eintheilung  der  Religionen.    ...  93 

Die  genetische  Eintheilung 94 

Die  speculative  Eintheilung 97 

Der  Eintheilungsgrund  in  dem  Gotteabewusstsein  ....  99 

1.  Die  projectivische  Theologie 102 

2.  Die  pantheistischen  Religionen 103 

3.  Das  Christenthum 104 

Entwickelungslehre,  Topik  und  Geschichte 107 

Zweiter  TheiL    Projectivische  Religionen. 

Die  projectivischen  Religionen' 113 

1.  Die  Religion  der  Furcht 116 

Erstes  Capitel.     Die  Ethik  der  Religion  der  Furcht  116 

§  1.     Apriorische  Methode 116 

§  2.     Deduction  des  Eintheilungsprincips 117 

§  3.     Deduction  des  ersten  religiösen  Motivs 117 

Alle  persönlichen  Gefühle   haben  eine  Beziehung  auf' 

die  Zukunft 117 

Hofinung  und  Furcht 118 

Die  Furcht  bildet  das  erste  religiöse  Gefühl 119 

Formulirung  der  zugehörigen  Coordinationen     ....  121 


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XXXIX 

Seite 

Zweites  Capitel.     Die  zugehörige  Dogmatik  ....  123 
§  1.    Eintheilungen  des  Objects  der  Furcht  im  Erkenntniss- 

yermögen 123 

Erstens  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Macht 123 

Zweitens  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Erkennbarkeit .  124 

§  2.     Deduction  des  ersten  Gottesbegriffs 125 

Gott  ein  böser  Geist  ohne  alle  Moralität 126 

§  3.    Die  Zahl  der  Götter 126 

§  4.    Die  constitutiven  Sätze  der  Dogmatik  dieser  Religion  128 
Nicht  die  Phantasie,  sondern  der  Verstand  erzeugt  die 

Dogmatik 129 

1.  Veränderlichkeit  Gottes 131 

2.  Gemeinschaft  zwischen  Gott  und  Mensch  ....  131 

3.  Stimmungen    Gottes    Ton    den    Handlungen    des 
Menschen  abhängig 131 

4.  Der  Wille   und   das  Interesse  Gottes   entwickelt 

sich  mit  dem  Menschen 133 

5*  Der  Mensch  ein  Mitstreiter  Gottes 134 

Der  Animismus    bildet    nur    eine    einzelne  Form 

der  Beligion 135 

§  5.    Unbestimmbarkeit  des  theologischen  Objectes  .    .    .  136 

Scblangenkult  und  Thierkult  überhaupt 136 

Menschenkult 138 

Stemdienst 139 

Gott  als  Kind  und  Leichnam 140 

Die  Symbole 142 

Drittes  Capitel.     Der  zugehörige  Cultus 144 

§  1.    Deduction  der  Principien  des  religiösen  Handelns   .  144 

§  2.    Eintheilung  der  Arten  des  religiösen  Handelns    .    .  146 

1.  Versöhnung  des  Zornes  des  Gottes  .......  146 

a.  Durch  Erregung  seiner  Eitelkeit 146 

b.  Durch  Erregung  seines  Interesses 147 

2.  Die  Mittel,  unsere  Hoflfoungen  zu  erreichen ....  148 

a.  Die  Gebete 14S 

b.  Die  Theurgie 149 

§  3.    Das  Priesterthum 151 

Die  auswärtige  Angelegenheit  in  der  Religion ....  152 
Die  Religion  bezieht  sich  auf  das  Zufällige  und  Ein- 
zelne, nicht  auf  das  Allgemeine 153 

Erste  Aufgabe  des  Priesters:  die  Erkenntniss    ....  154 
Zweite  Aufgabe  des  Priesters:  die  Praxis. 

a.  Verkehr  mit  dem  Gott 155 

b.  Therapeutische  Behandlung  der  Gläubigen    .    .  157 

OL.  Die  Beruhigung 157 

p.  Das  Orakel    .   .    ,   . 158 

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§  4.     Die  Inspiration 161 

1.  UnbewTisstheit  des  Seelenlebens 161 

2.  Kein  specifischer  Unterschied  zwischen  Priester  und 

Gläubigen 161 

Wesen  der  Inspiration 162 

Die  Inspiration  ist  ein  wirkliches  Ereigniss  ....  163 

Dämonischer  Charakter  dieser  Inspiration 164 

Viertes  Capitel.    Allgemeine  Fragen 166 

§  1.    Das  Wunder 166 

Heuristische  Methode 168 

Erste  heuristische  Forderung 168 

Zweite  heuristische  Forderung 169 

Dritte  heuristische  Forderung 170 

a.  Der  Begriff  des  Wunders  in  der  Furchtreligion  171 

1.  Die  Erkenntniss  der  Wunder 173 

2.  Die  Psychagogie 177 

b.  Die  Kritik  der  Wunder 180 

Die  Kritik  der  Zeichen 181 

Kritik  der  Deutung 183 

1.  Wirkung 185 

2.  Die  Wahrheit 186 

c.  Philosophischer  Begriff  des  Wunders 191 

1.  Die  Thatsachen-Frage 192 

2.  Deduction 194 

a.  Die  Zusammenhänge  und  der  Satz  vom 
Grunde 194 

b.  Die  zweite  Prämisse.  Zusammentreffen 

des  Einzelnen 194 

c.  Der  Satz  vom  Grunde  und  das  Zufällige  195 

d.  Deduction  der  Gültigkeit  des  Satzes  vom 
Grunde  für  das  Gebiet  des  Zufälligen. 

Die  Welttechnik  Gottes 197 

e.  Begriff  des  Wunders 198 

f.  Normirung  der  Anwendung  des  Satzes 
vom  Grunde  und  des  Zufälligen .    .    .  200 

Speculative  Erörterung  d.  Principien  dieser  Deduction. 

Nachweis  der  Neuheit  dieses  Beweises    .    .   .  203 

Recapitulation 206 

Kritik   der  angeblichen  Unerklärlichkeit  und 

Voraussetzungslosigkeit  des  Princips    .    .    .  207 

1.  Erklärung  des  Satzes  vom  Grunde .  .  208 
Kritik  der  Logik  von  Wundt  ....  209 

2.  Begründung  des  Satzes  vom  Grunde  .  214 
Corollar  über  das  Causalitätsprincip  .  215 
Recapitulation 217 

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d.  Gebrauch  des  Wunders  in  der  wahren  Religion  217 

1.  Die  Erkenntnisa  der  Wunder 218 

2.  Die  Psychagogie 220 

Epilogus 226 

§  2.     Das  Schicksal 227 

Zur  Logik  und  Methode 227 

Kritischer  Excurs   gegen   die  HegeFsche  Dialektik 

und  den  Darwinismus 229 

Anwendung  auf  die  Schicksalsidee 234 

Erste  Form  der  Schicksalsidee.    Der  Fluch 235 

Drei  Ursachen  des  Glaubens  an  die  Macht  der  Flüche  238 

1.  Verwechselung  von  Voi-stellung   und  Wahr- 
nehmung      239 

2.  Wahrscheinlichkeit  des  Eintreffens 241 

3.  Die  Sicherheit  des  Todes 241 

Segen 242 

Der  Fluch  und  der  Ursprung  der  Beligion  ....  243 

Zweite  Form  der  Schicksalsidee 244 

Der  neue  Beziehungspunkt 245 

Die  neue  Coordination 246 

Religiöser  Charakter  dieser  Schicksalsidee    ....  247 

Rolle  der  Priester 250 

Dritte  Form  der  Schicksalsidee.     Auflösung  der  Reli- 
gion der  Furcht 252 

Beurtheilung  des  Zufallsglaubens 254 

§  3.     Die  zugehörige  mythologische  Weltanschauung   .    .  256 

Weltanschauung 256 

Perspectivischer  Standpunkt 256 

Kosmologie 257 

Entstehung  und  Wesen  der  Mythologie 258 

Wieweit  Mythologie  ein  Gegenstand  der  Philosophie  ist  260 

Stellung  der  griechischen  Mythologie 262 

§  4.     Der  Islam 264 

1.  Dogmatik  . 264 

2.  Ethik 267 

3.  Cultus 267 

2.  Die  Religion  der  Sünde  oder  die  Recbtsreligion. 

Erstes  Capitel.     Die  zugehörige  Ethik 270 

§  1.    Das  Eintheilungsprincip  der  Geföhle 270 

§  2.     Ursprung  der  Moralitftt  und  des  Rechts     .....  273 

Kant's  verunglückter  Erkl&rangsversuch 273 

Mitleidstheorie  widerlegt 274 

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Ursprung  des  Rechts  und  der  Moralität 275 

1.  Unrecht  und  Entrüstung 276 

2.  Eechtsbewusstsein 277 

3.  Die  Sünde 277 

Beweis,  dass  die  pittliche  Stufe  die  höhere  ist  ...    .  278 

Inhalt  des  Rechtsbewusstseins 280 

Zweites  Capitel.    Die  zugehörige  Dogmatik   ....  281 

§  1.     Die  Theologie  der  Religion  der  Sünde 281 

§  2.     Unbestimmtheit  des  Gottes ' 283 

§  3.     Die*  numerische  Bestimmung  des  Gottes 285 

Monotheismus 285 

Polytheismus 285 

Dualismus 286 

Der  reine  Monotheismus  bei  den  Juden 289 

§  4.     Die  UnVeränderlichkeit  Gottes 292 

Das  Princip  der  geschichtlichen  Theologie  liegt  in  der 

Furchtreligion 292 

Princip  für  die  Deduction  der  Unveränderlichkeit  Gottes  295 

Drittes  Capitel.     Der  zugehörige  Cultus 299 

§  1.    Der  spflcifische  Cult .  290 

1.  Die  Uneinigkeit 301 

2.  Die  Einigkeit 305 

Der  specifische  Unterschied  der  Rechtsreligion  in  Be- 
ziehung zu  den  höheren  Religionsformen 306 

§  2.    Der  Priester 307 

Viertes  Capitel.  Die  concrete  unreineRechtsreligion  312 

§  1.     Die  zugehörige  Ethik  und  Dogmatik 312 

Die  homologen  Glieder  und  ihre  Verquickung  ....  312 
Verderbniss  des  Gewissens,  des  Gottesbewusstseins  und 

der  Geschichtsphilosophie 313 

Zur  Beurtheilung  der  hebräischen  Propheten 314 

Piaton,   das  Christenthum  und  die  natürliche  Lebens- 
kraft der  unreinen  Rechtsreligion  . 316 

Die  Sophistik  der  unreinen  Rechtsreligion 318 

Das  jüdisch-Eantische  Ideal  des  höchsten  Gutes  .    .  318 

Der  zugehörige  Optimismus  und  Pessimismus.    .    .  319 

Zur  Kritik 320 

§  2.     Der  zugehörige  Cultus 322 

Die  Idee  der  Sühnung 322 

Die  Einth eilung  der  Sühnungen 323 

1.  Opfer 323 

2.  Körperstrafen  und  Freiheitsentziehung *j24 

3.  Die  Stellvertretung 324 

Das    Christenthum    und    die    neue    Religions- 
philosophie     328 

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Seite 

Die  Wirksamkeit  der  Sühnungen 330 

Irreligiosität  des  unendlichen  Schuldgefühls.    ...  331 

Wirksamkeit  der  Sühnung  durch  Opfer  und  Gebete  332 

Wirksamkeit  der  Sühnung  durch  Askese 333 

Wirksamkeit  der  Sühnung  durch  Stellvertretung  .  333 

Fünftes  Capitel.    Der  sociale  Charakter  der  Religion  335 

§  1.    Religiöse  Geselligkeit  überhaupt 335 

Die  allgemeine  Begründung  und  die  Kritik  der  Schleier- 

macher'schen  Theorie 335 

Die  Arten 339 

§  2.     Die  specifischen  Formen  der  politischen  Organisation  342 

Sechstes  Capitel.    Die  Religionsphilosophie  ....  347 

Lessing's  Standpunkt 848 

Eant's  Religionsphilosophie 349 

Ritschrs  Theologie 351 

Dritter  Thell.     Die  pantheistischen  Religionen. 

Die  Uebergangsform.    Der  Atheismus 356 

Ursprung  des  Atheismus 356 

Ist  ein  religiöser  Standpunkt 358 

Systematischer  Ort  des  Atheismus 359 

Der  Positivismus 360 

Die  zugehörige  Ethik 364 

Die  zugehörige  Dogmatik 367 

Der  zugehörige  Cultus 370 

Die  drei  pantheistischen  Religionen. 

§  1.  Definition  und  Charakteristik  des  Pantheismus  ....  874 
Voraussetzung:  Die  im  Atheismus  gegehene  pessimistische 

Stimmung 374 

Die  constitutiyen  Elemente  des  Pantheismus:  Das  Ich  als 

Geist  und  das  Verschwinden  der  Götter 375 

1.  Die  Verlegung  des  Schwerpunkts  des  Ichs    ....  377 

2.  Das  Ich  verschwindet  selbst 378 

Charakteristik  des  Pantheismus 380 

1.  Vergottung  und  ewiges  Leben 380 

2.  Keine  Gläubige  mehr 381 

§  2.     Division  des  Pantheismus 382 

Das  Eintheilungsfundament  des  Pantheismus    ....  382 

Die  Eintheilung  des  Pantheismus 383 

Reihenfolge  und  Werthbestimmung  der  Arten  ....  384 

1.  Der  Pantheismus  der  That 387 

Eintheilung 387 


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XLIV 


Seite 

ErsteB  Capitel.    Der  Fortschrittaenthusiasmus.    .    .  389 

Ethik 390 

Dogmatik 392 

Oultus 393 

Zur  Kritik  . 395 

Excurs  über  die  letzte  Revolte  gegen  die  Philosophie.  399 

Zweites  Capitel.  Die  pantheistische  Werkheiligkeit  402 

Zur  Methode 402 

Apriorische  Synthesis 403 

Empirische  Confinnation 404 

Der  Buddhismus 406 

Apologie  des  Buddhismus  gegen  Oldenberg.    ...  408 
Drittes    Capitel.      Pantheistischer    Staats  -  Enthu- 
siasmus   412 

Dogmatik 413 

Ethik 414 

Cultus 415 

Die  unreine  Form 416 

Viertes  Capitel.    Der  pantheistische  Eirchenenthu- 

siasmus 418 

Zur  Topik 418 

Aetiologie  und  Semiotik 419 

Dogmatik 420 

Ethik 421 

Cultus 422 

A.  V.  Oettingen 422 

Zur  Kritik 

1.  Erster   Fehler:    Die  Wesen    werden   zu    blossen 
historischen  Erscheinungen  herabgesetzt ....  427 

2.  Zweiter  Fehler:  Die  Ethik  und  Dogmatik  werden 
durch  Feldherrnklugheit  normirt,  und  es  fehlt 

ein  Princip  des  Werthes  und  der  Wahrheit  .    .  428 

3.  Dritter  Fehler:  Die  Ethik  wird  Social-Ethik  und 
verliert  ein  Princip  der  Autorität 429 

4.  Das  antagonistische  Princip  indicirt  die  perspec- 
tivische  Einseitigkeit  des  Standpunktes  ....  430 

Fünftes  Capitel.     Der   pantheistische   Kunstenthu- 
siasmus    432 

Definition 432 

Schiller 434 

Dogmatik 435 

Ethik 437 

Cultus 438 

Zur  Kritik 440 


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XLV 

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2.  Pantheismus  des  Gefühls. 

Erstes  Capitel.    Definition 442 

Kein  Pantheismus  kann  Volksreligion  werden  ....  442 

Einseitigkeit  der  Menschen 443 

Definibilität  des  Gefilhls 443 

Ort  des  Gefühls  in  dem  Coordinatensystem  der  geisti- 
gen Functionen 444 

Die  Gegensätze  des  GefQhls  und  das  Coordinatensystem 

der  Welt 446 

Allgemeine  Eintheilung  der  Gefühle 446 

Die  Arten  der  objectiven  Gefühle 447 

Das  religiöse  Gefühl 447 

Excurs  über  die  Aristotelische  Ethik 448 

Fortsetzung:  Das  religiöse  Gefühl 450 

Zweites  Capitel.     Die  reine  Form 453 

§  1.     Dogmatik  und  Cultus 453 

Dogmatik.    Mysticismus 453 

Cultus.     Quietismus 454 

§  2.    Ethik 455 

Ethik 455 

§  3.     Die  religiöse  Gesinnung 456 

Der  Schmerz  ist  kein  der  Lust  nebengeordnetes  Princip  456 

Die  Hemmungen  der  Acte 458 

Der  quietistische  Weg  zur  Freude 458 

Die  Seligkeit  des  Quietisten  und  Mystikers ....  460 

§  4.     Die  zugehörige  Beligionsphilosophie 462 

Schleiermacher 462 

§  5.     Zur  Kritik  der  Religion  des  Gefühls 464 

Drittes    Capitel.      Unreine   Form    des   Gefühlspan- 
theismus. 

Naturschwärmerei 469 

Musikalische  Phantasieschwärmerei 470 

Pietistische  Richtung 471 

Methodismus 472 

Anmerkung    über   Kem's    »Job.    Scheffler's    cherubin. 

Wandersmann« 473 

3.  Die  pantheistische  Religion  des  Gedankens. 

Erstes  Capitel.    Die  zugehörige  Ethik 474 

§  1.    Das  ethische  Motiv. 

Ueberordnung  der  Wahrheit  über  das  Gute,  Nützliche 

und  Schöne 475 

§  2.    Das  religiöse  Motiv 477 

Der  zugehörige  religiöse  Charakter  des  Pantheisten    .  478 

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XLVI 

8oiU» 

§  3.     HistoriBche  Confirmationen. 

Piaton 479 

Aristoteles 480 

Fichte 480 

Hegel 481 

Gnosis  und  Pistis 482 

Nachweis  des  Paralogismus 484 

Zweites  Capitel.    Der  zugehörige  Cultus 487 

Piaton  und  die  unreinen  Formen 488 

Drittes  Capitel.    Die  zugehörige  Dogmatik    ....  491 

Anfang  der  wissenschaftlichen  Theologie 491 

§  1.    Die  alterthfimliche  Form  des  Idealismus 492 

Materie  und  Idee 493 

Idee  und  Individuen 494 

Gemeinschaft  von  Idee  und  Materie 495 

Gott  und  Mensch 495 

§  2.    Der  Platonische  Idealismus 497 

Kein  Dualismus  aber  Hylozoismus 503 

§  3.    Theologie 504 

Die  Aristotelische  Theologie 504 

Im  Platonischen  Idealismus  giebt  es  keinen  Gott  als 

selbständiges  "Wesen 509 

§  4.    Von  der  Erlösung 512 

§  5.    Moderne  Idealisten 515 

Fichte 515 

Hegel 517 

§  6.    Verlegenheiten  christlicher  Dogmatik 522 

§  7.    Zugehörige  positive  Religionen 527 

Brahmanismus 527 

Zwei  kritische  Bemerkungen. 

1.  Die  allgemein  menschlichen  Lebensausserungen  sind 

bei  den  Indern  niemals  ganz  unterdrückt  gewesen  52S 

2.  Die  indische  Volksreligion  und  der  Brahmanismus 
sind  specifisch  verschiedene  Beligionsformen  .    .    .  528 

Wissenschaft  und  religiöse  Speculation 532 

Der  ächte  Brahmanismus 583 

Aegyptische  Religion 536 

§  8.    Zur  Kritik  des  Idealismus 537 


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Erster  Theil. 

Grundlegung. 


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^     .'^^  OTT  .     "/' 

Einleitung. 


Unter  allen,  die  ttber  die  Religion  reden,  mnss  zuerst  der 
Unterschied  der  Meinenden  und  der  Wissenden  hervorgehoben 
werden.  Wer  bloss  seine  Überzeugung  ausspricht,  kann  sehr 
WerthvoUes  und  Wahres  zur  Mittheilung  bringen;  er  ist  aber 
doch  nur  ein  Meinender  zu  nennen  und  kann  nicht  lehren,  sondern 
nur  durch  Autorität  oder  Beifall  wirken,  bis  er  seine  Behaup- 
tungen begründet  hat.  Die  Gründe,  welche  die  allgemein  zu- 
gänglichen und  offenbaren  Beziehungspunkte  des  Denkens  ent- 
halten, gewähren  dem  Inhalte  seiner  Überzeugung  den  Character 
des  Schlusssatzes.  Wenn  solche  Begründungen  allgemein  durch- 
geführt sind,  müssen  alle  Wege  der  Erkenntniss  blossgelegt 
worden  sein.  Damit  ist  dann  die  Methode  der  Forschung  zu- 
gleich gezeigt  und  eine  wissenschaftliche  Rede  über  solche 
Dinge  gewonnen. 

Demgemäss  haben  wir  zuerst  die  positive  Religionslehre 
und  die  Religionswissenschaft  zu  unterscheiden. 

Die  positive  Religionslehre  giebt,  wie  die  Lehre 
des  positiven  Rechts,  bloss  eine  geordnete  Darstel-  ^**^»ve  »«"■ 
lung  des  Geltenden.     Ob  das  jetzt  Geltende  wahr 
oder  falsch  sei,  ist  eine  Frage,  die  gar  nicht  aufgeworfen  werden 
darf.    Was  gegenwärtig  Rechtens  ist  oder  gegenwärtig  von  den- 
jenigen,  deren  Religion  dargestellt  werden  soll,   geglaubt  wird, 
das  wird  in  den  sogenannten  positiven  Disciplinen   zusammen- 
gefasst. 

Telohmüller,  Religionsphilosophie.  ^.^.^.^^^  b^GoOQlC 


4  Einleitung. 

Da   man  aber  sehr  bald  erkennen  muss,    dass 

Yergleichende 

Reiigions-  die  jedesmal  behandelte  Religion  nicht  die  einzige 
wisBenschaft  Religion,  sondern  nur  eine  neben  andern  ist,  wie  denn 
auch  früher  andere  Religionen  von  den  Völkern  bekannt  wurden: 
so  kann  die  Aufgabe  einer  vergleichenden  Religionswissen- 
schaft entstehen,  wonach  die  Religionen  aller  Zeiten  und  Völker, 
wie  die  Pflanzen  und  Thiere,  in  gewisse  Arten,  Gattungen  und 
Glassen  geordnet  und  auch  möglichst  ethnologisch,  literarhistorisch, 
chronologisch  und  psychologisch  aus  einander  abgeleitet  werden. 
Wer  dies  aber  versucht  —  und  es  sind  schon  viele  vergeb- 
liche Versuche  gemacht  — ,  der  wird  bald  die  Schwierigkeiten 
empfinden,  die  rechten  Eintheilungsgrttnde  zu  bestimmen.  Denn 
ohne  Unterscheidung  des  Wesentlichen  und  Constituirenden  von 
dem  Zufälligen  und  Consecutiven  ist  eine  wahre  Eintheilung  un- 
möglich. Ist  z.  B.  die  Zahl  der  Gottheiten  filr  eine  Religion 
wesentlich?  Ist  das  Geschlecht  der  Götter  constituirend?  Ist 
die  Function  Eintheilungsgrund  der  Götter  und  der  Religion? 
Alles  dies  geht  in  den  Mythologien  vieler  Völker  durcheinander. 
Die  Eine  Gottheit  erscheint  nach  den  Hauptcultsitzen  als  der 
Zahl  und  Function  nach  verschieden  und  die  verschiedenen 
Functionen  werden  bald  getrennt,  bald  vereinigt  Kurz  ohne  ein 
Princip  der  Eintheilung  wird  selbst  die  blosse  Beschreibung 
immer  räthselhaft  und  rathlos  bleiben. 

Ausserdem   hat  jeder   Forschende    selbst    eine 
Religionskritik,  ßgiigj^^  ^^^  jj|^gg  ^q^Jj  g^^^jj  ^j^  jfremden  Religionen 

ihren  Motiven  nach  verstehen  wollen.  Mithin  wird  sich  ein  Urtheil 
ttber  die  verschiedenen  Religionen  einstellen,  und  die  Religions- 
wissenschaft setzt  daher  in  erster  Linie  eine  Reiigions kritik 
voraus.  Ehe  wir  eine  Religion  classificiren  können,  milssen  wir 
sie  verstanden  und  aus  unserem  Gefühl  und  unserer  eigenen 
Erfahrung  begriffen  haben,  weil  dieser  Gegenstand  selbst  Leben 
ist  und  daher  nur  durch  identisches  oder  analoges  inneres 
Leben  erfasst  werden  kann.  Wenn  wir  aber  auch  das  Fremde 
irgendwie  nachfühlen  könnten,  so  wfLrden  wir  es  doch  nur  nach 
unserem  Standpunkte  beurtheilen;  denn  da  die  Religionen  eine 
Offenbarung  ttber  Gott  und  Welt  und  die  Schicksale  der  Menschen 
und  den  Werth  ihrer  Gesinnungen  und  Handlungen  darbieten,  so 
dreht  es  sich  um  die  Frage,  ob  diese  Aussagen  auch  wahr  sind, 
und  hierauf  wird  jeder  nach   seinem  Glauben  antworten.     Da 

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Einleitung.  5 

unsre  eigene  Religion  aber  ebenfalls  als  eine  Religion  unter 
anderen  mit  beurtheilt  werden  muss,  so  zeigt  sich,  dass  wie  der 
vergleichenden  Religionswissenschaft  die  Religionskritik,  so  dieser 
wieder  eine  Kritik  der  Kritik,  d.  h.  eine  höhere  Wissenschaft 
Yorhergehen  muss,  welche  allererst  das  Fundament  und  die  Prin- 
cipien  aller  dieser  Arbeiten  in's  Reine  bringt. 

Der  wahre  Anfang  aller  wissenschaftlichen  Unter- 
suchungen über   die  Religion    liegt  deshalb  in   der        ^*« 
Philosophie,  welche  allein  die  Principien  alles  Wissens 
zu  ihrem  Gegenstande  macht  und  darum  über  alle  Wissenschaften 
regiert,  sofern  diese  nur  die  Aufgabe  haben,  die  von  der  Philo- 
sophie empfangenen  Principien  in  den  besonderen  Gebieten  der 
Erfahrung  geltend  zu  machen  und  das  Erfahrungsmaterial  nach 
diesen  Principien  aufzufassen,  zu  beurtheilen  und  zu  ordnen. 

Da  die  Bildung  jedes  Zeitalters  nun  immer  von  den  bisher 
kund  gewordenen  philosophischen  Gedanken  durchdrungen  ist, 
so  wird  mit  der  Schule  und  der  Specialwissenschaft  und  durch 
die  Berührung  mit  der  Literatur  und  Gesellschaft  von  einem  Jeden 
inmier  ein  mehr  oder  weniger  grosser  Kreis  von  philosophischen 
Gedanken  aufgenommen,  weshalb  sich  Jeder  auch  befähigt  glaubt, 
ohne  weitere  Beschäftigung  mit  der  Philosophie  über  Alles  zu 
urtheilen.  Zudem  werden  die  bloss  realistisch  gebildeten  Köpfe 
durch  die  vielen  Erfahrungskenntnisse  aufgebläht  und  glauben 
mehr  zu  wissen  und  besser  unterrichtet  zu  sein,  als  die  arme 
Philosophie,  die  sich  nur  mit  dem  Allgemeinen  und  dem  Apriori- 
schen beschäftigt,  ja  sie  glauben,  weil  sie  ihren  philosophischen 
Gedankengehalt  in  den  empirischen  Fächern  eingearbeitet  und 
versteckt  aufgenommen  haben,  wie  die  Gitronensäure  in  und  mit  der 
Citrone,  dass  sie  ihre  Gedanken  nicht  sowohl  der  Philosophie  als 
vielmehr  den  Sinnen  oder  der  Erfahrung  verdankten.  Je  weniger 
sie  sich  nun  der  Quelle  ihrer  Erkenntnisse  bewusst  sind,  desto 
lauter  wagen  sie  gegen  die  Philosophie  aufzutreten  und  möchten 
am  liebsten  wie  durch  einen  Sclavenaufstand  ihre  Herrin  absetzen 
und  umbringen,  wodurch  sie  sich  doch  selbst  nur  um  alle  Arbeit 
und  Lebenskraft  brächten. 

Besonders  wird  von  diesen  Plebejern  gegen  die  apriorische 
Erkenntnissart  der  Philosophie  geredet,  da  sie  ja  selber  sich  so 
viel  Mühe  mit  dem  historischen  und  empirischen  Material  geben 
und  deshalb  nicht  begreifen  können,  wie  man  aus  sich  heraus  ohne 

uiymzeu  uy  V^jOOy  IC 


Q  Einleitung. 

Erfahrung  etwas  Wissenswerthes  Bpinnen  könne.  Da  sie  nämlich 
sich  selbst  nicht  nm  die  Philosophie  bemüht  haben,  so  müssen  sie 
natürlich  auch  nur  ganz  schattenhafte  und  verkehrte  Ansichten 
und  Meinungen  von  ihr  haben,  ähnlich  wie  die  Franzosen  eine 
Zeit  lang  über  die  Deutschen  urtheilten,  die  sie  nur  für  Pen- 
dulendiebe  und  rohe  Barbaren  hielten.  Schon  der  alte  griechische 
Sensualist  Antisthenes  und  nicht  erst  der  moderne  Engländer 
Locke  bildete  sich  ein,  die  apriorische  Erkenntniss  mttsste  sich 
als  eingeborene  in  dem  Säugling  und  in  jedem  rohen  Menschen 
fertig  vorfinden,  wenn  sie  wirklich  apriorisch  sein  sollte.  Dass 
der  Geist  des  Menschen  an  den  Erfahrungen  zuerst  unbewusst 
arbeitet,  ehe  er  sich  allmählich  seiner  eigenen  Thätigkeit  be- 
wusst  wird,  das  kam  ihnen  nicht  in  die  Gedanken.  Deshalb 
begriffen  sie  nicht,  dass  das  Apriorische  nichts  andres  als 
das  Bewusstsein  der  Thätigkeiten  des  Geistes  selbst 
ist.  Da  diese  geistige  Thätigkeit  nun  bei  jedem  beliebigen  Er- 
fahrungsgegenstande ausgeübt  wird,  so  bildet  sie  das  apriorische 
Element  in  aller  Erfahrungswissenschaft  und  geht  mithin  aller 
empirischen  Erkenntniss  voran,  weil  man  ohne  gebildeten  Geist 
überhaupt  keine  wissenschaftlichen  Erfahrungen  machen  kann, 
wie  die  Wilden  beweisen,  welche  zwar  mit  ihren  Sinnen  mancherlei 
Naturerscheinungen  auffassen,  aber  auch  nicht  zu  der  geringsten 
Naturwissenschaft  gelangen.  Obgleich  daher  menschlicher  Ver- 
stand unbevmsst  erst  viele  Erfahrungen  machen  musste,  ehe  er 
sich  seiner  Thätigkeit  des  Zählens  bewusst  wurde,  so  bildet  doch 
dieses  Bewusstsein  unserer  geistigen  Thätigkeit,  des  Zählens, 
eine  rein  apriorische  Wissenschaft,  und  die  reine  Arithmetik  geht 
a  priori  allen  denkbaren  empirischen  Anwendungen  voran  und 
beherrscht  gesetzgebend  alle  Operationen,  die  in  denErfahrungs-. 
Wissenschaften  angestellt  werden.  Ebenso  ist  nun  alle  Philo- 
sophie eine  apriorische  Erkenntniss  und  deshalb,  weil  sie  das 
Bewusstsein  des  Geistes  von  sich  selbst  und  seinen  Thätigkeiten 
ausmacht,  natürlich  und  von  rechtswegen  die  Königin  aller 
Wissenschaften,  die  zu  ihr  nicht  in  feindlichen  Beziehungen  stehen 
können,  sondern  von  ihr  grade  das  Bewusstsein  ihres  Verstandes 
und  ihrer  lebendigen  Geisteskraft  erhalten.  Deshalb  können  die 
Erfahrungswissenschaften  zwar  von  einander  getrennt  und  von 
verschiedenen  Forschem  bearbeitet  werden;  keine  einzelne  Wissen- 
schaft ist  aber  von   der  Philosophie  abtrennbar,  wie  die  Pro- 

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Einleitung.  7 

yinzen  zwar  von  yerschiedenen  Gouverneuren  verwaltet  werden, 
jeder  Gouverneur  aber  von  dem  Minister  und  dem  Souverain  inspirirt 
wird.  Die  hervorragenden  Forscher  in  den  empirischen  Wissen- 
schaften sind  sich  auch  zu  allen  Zeiten  dieses  natürlichen  Ver- 
hältnisses bewusst  geworden  und  haben  Achtung  vor  der  Philo- 
sophie und  Liebe  zu  ihr  an  den  Tag  gelegt,  weil  sie  selbst  von 
ihrem  Geiste  kräftiger  erfüllt  waren  und  deshalb,  wie  dies  ja  in 
der  Natur  der  Sache  Uegt,  die  Philosophie  als  einen  nothwendigen 
Bestandtheil  ihrer  allgemeinen  Bildung  betrachteten. 

Obgleich  aber  die  Philosophie  als  einfaches  und  wahres 
BewuBStsein  des  Geistes  von  sich  selbst  und  seinen  Thätigkeiten 
nur  in  einer  einzigen  Gestalt  auftreten  kann  und  unfehlbar 
sein  muss,  so  finden  wir  sie  gleichwohl  geschichtlich  immer 
in  vielen  Systemen  vor,  die  sich  einander  bekämpfen  und 
des  Irrthums  zeihen.  Diese  Thatsache  einer  „metaphysischen 
Anarchie*',  wie  ein  modemer  Skeptiker  sich  ausdrückt,  setzt 
Viele  in  Verwirrung  und  flösst  ihnen  Misstrauen  gegen  die 
philosophische  Arbeit  ein.  Wenn  man  aber  bedenkt,  dass  die 
Thätigkeiten  des  Geistes  gar  nicht  so  leicht  zum  Bewustsein 
konunen,  dass  vielmehr  sowohl  im  einzelnen  Forscher,  als  in 
ganzen  Völkern  dies  Bewusstsein  sich  nur  allmählich  und  bruch- 
stückweise ereignet,  wie  auch  in  der  Regel  noch  die  beson- 
deren Gegenstandsgruppen,  bei  denen  man  sich  der  geistigen 
Thätigkeitsweise  bewusst  wurde,  von  dieser  nicht  ganz  los- 
gelöst werden:  so  ist  nichts  natürlicher,  als  dass  die  Philo- 
sophie auch  ihre  Entwickelung,  ihre  Fehden  und  ihre  Geschichte 
haben  muss,  wie  jede  andre  Wissenschaft.  Wo  es  aber  je  ge- 
lang, eine  Geistesthätigkeit  ftir  sich  rein  aufzufassen,  da  ist  auch 
eine  apriorische  Erkenntniss  geftinden,  die  ihrer  Natur  nach  noth- 
wendig  von  ewiger  und  allgemeiner  Gültigkeit  sein  muss  und  in 
einfacher  Gestalt  unfehlbar  alles  Denken  regiert.  Die  Geschichte 
der  Begriffe  hat  diese  Funde  einzutragen  und  den  Besitzstand 
der  Philosophie  zu  verzeichnen.  Aber  selbst,  wo  die  endgültige 
apriorische  Erkenntnissform  noch  nicht  rein  ausgeschieden  ist, 
da  bleibt  dennoch  der  jeweilige  Stand  der  philosophischen 
Forschung  das  letzte  Princip,  nach  welchem  in  allen  Einzel- 
forschungen der  Erfahrungswissenschaften  gedacht  wird,  so  dass, 
wenn  die  Philosophie  über  einen  Grundbegriff  noch  im  Streite 
mit  sich  liegt,  auch  die  positiven  Wissenschaften,  welche  diesen 

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g  Einleitang. 

Grundbegriff  gebrauehen,  nicht  zu  befriedigender  Klarheit  und 
BeBtinimtheit  gelangen  können  (so  jetzt  z.  B.  die  Jurisprudenz, 
wie  sie  selbst  klagt),  da  ohne  das  Denken  nichts  gedacht  werden 
kann  und  jedes  besondere  Gedachte  die  jedesmal  zugehörige 
allgemeine  Form  des  Denkens  voraussetzt. 

Mithin  bedarf  jede  positive  Religion,  wenn  sie 
Die  Reiigions-  HxiQji  Bcsitzcr  uicht  bloss  erfüllen  und  beherrschen, 
sondern  auch  ihrem  Werthe  und  ihrer  Wahrheit  nach 
gemessen  werden  soll,  erstens  der  vergleichenden  Beligions- 
Wissenschaft,  wodurch  wir  statistisch  auf  alle  ähnlichen  und  un- 
ähnlichen positiven  Religionen  hinblicken  können,  und  zweitens 
der  Religionskritik,  durch  welche  gewisse  Grundsätze  oder 
Gesichtspunkte  zur  Unterscheidung  und  Weiiihbestimmung  der 
positiven  Religionen  dargeboten  werden.  Um  aber  wieder  die 
Wahrheit  dieser  Gesichtspunkte  festzustellen  und  die  Eintheilungs- 
gründe  der  Religionen  zu  beweisen  und  das  Wesen  der  Religion 
selbst  zu  begreifen,  bedürfen  wir  allem  zuvor  einer  Philosophie 
der  Religion,  d.  h.  den  Rückgang  auf  die  apriorische  Erkenntniss, 
durch  welche  die  Thätigkeiten  des  Geistes,  welche  alle  Religion 
hervorbringen  und  im  Leben  erhalten,  bewusst  werden.  Ohne 
diese  Grunderkenntniss  ist  alles  Reden  über  die  Religion  dilet- 
tantisch, unsicher,  rathlos,  widerspruchsvoll,  subjetiv  und  niemals 
endgültig  abzuschliessen. 


Ueber  die  Möglichkeit  einer  wahren  Religionsphilosophie. 

Die  Vollkommenheit  in  der  Wissenschaft  ist  immer  die  Wahr- 
heit; denn  jeder  Mangel  der  Erkenntniss  beruht  entweder  darauf, 
dass  man  die  erforderliche  Wahrnehmung  des  jedesmal  zu- 
gehörigen Gebietes  der  Thatsachen  nicht  besitzt  und  also  einen 
Theil  irriger  Weise  fftr  das  Ganze  hält,  oder  dass  man  von 
irrigen  Voraussetzungen,  Begriffen,  Principien,  Gesetzen  u.  s.  w. 
ausgeht,  oder  drittens,  dass  man  die  Verknüpfungen  der  Begriffe 
mit  den  Begriffen,  der  Thatsachen  mit  den  Thatsachen  und  der 
Begriffe  mit  den  Thatsachen  falsch  ausführt.  Die  Vollkommen- 
heit einer  Religionsphilosophie  hängt  deshalb  ab  von  der  Wahr- 
heit der  zur  Auffassung  benutzten  Metaphysik,  von  der  Richtig- 
keit der  dialektischen  Bewegung  des  Forschenden  und  drittens 


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Einleitung.  9 

zuletzt  und  zumeist  von  der  yoUständigen  Wahrnehmung  des 
religiösen  Lebens;  denn  wer  den  religiösen  Geist  in  allen  seinen 
Lebensäusserungen  nicht  vollständig  in  sich  wahrgenommen  hat, 
der  kennt  die  Thatsachen  nicht,  welche  er  durch  metaphysische 
Begriffe  nach  dialektischer  Methode  darstellen  soll 

Welches  nun  die  richtige  Metaphysik  sei,  von  der  man  aus- 
zugehen hat,  darüber  habe  ich  in  meiner  Neuen  Grundlegung  der 
Metaphysik  gehandelt.  Die  richtige  Dialektik  und  Logik  hier 
zu  erörtern,  ist  ebenfalls  nicht  angezeigt  Der  aufinerksame 
Leser  wird  auch  selbst  alle  Bewegungen  des  Gedankens  und 
alle  Technik  der  Methode  bei  ihrer  Anwendung  zu  prttfen  haben. 
Was  hier  aber  noch  besonders  zu  erwägen  bleibt,  das  ist  die 
Kenntniss  der  Thatsachen  oder  die  Erfahrung  des  religiösen 
Lebens;   denn  ohne  diese  spricht  ein  Blinder  von  den  Farben. 

Da  nun  über  die  Religion  die  verschiedensten 
und  entgegengesetztesten  Meinungen  herrschen  und  »^»«iJgton«- 
Jeder  die  Meinung  des  Andern  nach  seiner  Meinung 
beurtheilt,  so  scheint  zunächst  wenig  Hoffiiung  vorhanden  zu 
sein,  eine  wahre  Philosophie  der  Religion  herstellen  zu  können. 
Da  aber  jede  Meinung  als  eine  Art  Erkenntniss  auf  den 
drei  eben  dargelegten  Momenten  beruht,  so  ist  jede  falsche 
Meinung  auch  schlimmer  daran,  als  der  Sohn  der  Thetis,  da  sie 
nothwendiger  Weise  an  drei  Achillesfersen  tödtlich  verwundet 
werden  kann.  Dies  ist  der  dreifache  Grund,  weshalb  die 
Meinungen  der  Menschen  veränderlich  sind  und  sich  auch  wirk- 
lich sowohl  über  weltliche  als  über  religiöse  Dinge  mit  der 
Zeit  immer  verändert  haben.  Die  thatsächliche  Verschiedenheit 
religiöser  Meinungen  ist  daher  an  sich  kein  Hindemiss  ftlr  den 
Aufbau  eines  wissenschaftlichen  Systems,  da  die  richtigen  Mei- 
nungen zur  Unterstützung  dienen  und  als  testimonia  gebraucht 
werden  können,  die  falschen  aber  auf  drei  Wegen  verschwinden, 
wie  im  Halbdunkel  entstandene  Sinnestäuschungen  bei  anbrechen- 
dem Tageslicht 

Diejenigen  jedoch  fallen  einer  Illusion  zur  Beute,  welche 
noch  einen  vierten  Weg  zur  Entfernung  einer  falschen  Meinung, 
nämlich  den  freien  guten  Willen,  zu  kennen  glauben.  Die  Meinung 
ist  aber  eine  nothwendige  Function  ihrer  jedesmal  zugehörigen 
Goordinaten  in  dem  Lebenszustand  jedes  Menschen,  indem  ein 
Jeder  nach  dem  Umfange  seiner  Erfahrung  und  der  Kraft  seiner 

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1 0  Einleitung. 

Erkenntniss  sicherlich  seine  Meinungen  über  dieses  und  jenes 
Dogma  und  über  diese  oder  jene  Form  des  Cultus  und  dergleichen 
haben  wird  und  zugleich  nicht  anders,  als  er  wirklich  meint, 
meinen  kann.  Die  Meinung  ist  nicht  Sache  der  WillkfLr,  sondern 
geht  jedem  willkürlichen  Entschlüsse  vorher.  Wie  Niemand  mit 
freiem  Willen  machen  kann,  dass  er  meint,  sein  Vater  wäre  sein 
Bruder,  oder  eine  Tanne  wäre  eine  Weide,  so  kann  auch  Nie- 
mand sich  irgendwie  zwingen,  zu  meinen,  Christus  wäre  aufer- 
standen oder  die  Bibel  wäre  inspirirt  Die  Meinungen  flber 
religiöse  Dinge  vom  sogenannten  freien  Willen  abhängig  zu 
machen,  wird  man  verleitet,  weil  die  religiösen  Dinge  zu  einem 
grossen  Theile  Zustände  des  Willens  sind  und  weil  deshalb 
gesetzmässig  das  Bewusstsein  des  Menschen  flber  die  in  ihm 
selbst  vorhandene  oder  fehlende  Gesinnung  immer  auch  ent- 
sprechende Meinungen  in  ihm  hervorbringt.  Wenn  man  deshalb 
aber  die  Meinungen  verurtheilt  und  andre  Überzeugungen  von 
dem  Menschen  verlangt,  so  kann  man  höchstens  eine  Verheim- 
lichung des  Unglaubens  und  Zweifels,  d.  h.  Heuchelei,  hervor- 
bringen, während  man  die  Meinungen  bei  Seite  lassen  und  das 
Herz  des  Menschen  ergreifen  sollte,  da  ein  verwandeltes  Herz 
von  selbst  die  alten  Meinungen  schmilzt  und  oft  mit  Tbränen 
auslöscht,  um  nach  gewonnener  tieferer  Erfahrung  sofort  eine 
andre  und  zuweilen  bessere  Meinung  in  religiösen  Dingen  zu 
haben  und  zu  bekennen. 

Die  Meinung  der  Menschen  und  also  auch  die  Kritik,  die 
sie  anderen  Standpunkten  gegenüber  geltend  machen,  fusst  aber 
nicht  bloss  auf  dem  zufalligen  individuellen  Erfahrungskreise 
des  Urtheilenden,  sondern  zweitens  auch  auf  den  in's  Bewusst- 
sein aufgenommenen  Gedanken  der  herrschenden  Systeme.  Es 
ist  darum  ausserordentlich  leicht,  jeden  Urtheilenden  nach  seinem 
Urtheile  sofort  zu  errathen  und  ihn  mit  seinem  kritischen  Stand- 
punkte unter  ein  System  zu  rubriciren,  wie  wir  eine  Pflanze 
sofort  nach  ihren  Merkmalen  in  eine  grössere  Familie  und 
Ordnung  bringen  und  sie  dadurch  bestimmen.  Die  in  einem 
jeden  Zeitalter  zur  Kenntniss  gekommenen  philosophischen 
Theorien  erobern  sich  ja  unmerklich  von  selbst  ein  Herrschafts- 
gebiet in  allen  Geistern,  da  jeder  genöthigt  ist,  das  was  er 
denkt,  unter  gewissen  Gesichtspunkten  aufzufassen.  Wenn  einer 
nun  nicht  selbst  diese  Gesichtspunkte  entdeckt  und  also  kein 

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Einleitang.  11 

sehöpferischer  philosophischer  Genius  ist,  so  benutzt  er  einfach 
und  häufig  sogar  unbewusst  die  von  seinen  Lehrern  oder  aus 
Büchern  flbemommenen  Gesichtspunkte  und  wird  dadurch  willenlos 
ein  Unterthan  eines  philosophischen  Systems.  Ist  er  ein  klarer 
Kopf,  so  bleibt  er  bei  einem  System;  ist  er  von  etwas  schwäch- 
lichen Muskeln  des  Verstandes,  so  mischt  er  die  unvereinbarsten 
Gesichtspunkte  durcheinander;  ist  er  grösser  als  die  herrschenden 
Systeme,  aber  zu  selbständiger  Schöpfung  nicht  fähig,  so  wird 
er  die  Unzulänglichkeit  der  bisherigen  Auffassungsformen  er- 
kennen und  zwar  nicht  der  feigen  und  geistlosen  Skepsis  der 
Positivisten  verfallen,  aber  doch  entweder  mit  einer  gewissen 
Traurigkeit  auf  die  Arbeit  der  Wissenschaft  blicken,  oder  in 
glttcklicherer  Wendung  mit  einer  schönen  Hoffnung  dem  neuen 
Genius  der  Philosophie  entgegenkommen. 

Da  nun  die  Philosophie  nichts  anderes  als  das 
dialektisch  ausgebildete  Bewusstsein  des  Geistes  von  ^^"*  christu.. 
sich  selbst  und  von  seinen  Thätigkeiten  ist,  so  wird  Jeder  eine 
einseitige  Philosophie  haben,  der  bloss  in  einseitiger  Weise  geistig 
thätig  ist  und  sich  nur  diese  Thätigkeit  zu  Bewusstsein  bringen 
kann.  Daher  legt  jedes  philosophische  System  zugleich  Zeugniss 
ab  über  die  Begabung  und  den  Arbeitskreis  des  Philosophen 
selbst.  Am  augenfälligsten  wird  dies  für  Jeden,  der  die  philo- 
sophischen Systeme  der  Ethik  und  Keligionslehre  beachtet;  denn 
wessen  die  Philosophen  in  ihrem  eigenen  Gefühl  und  ihrer 
eigenen  Erfahrung  sich  nicht  bewusst  geworden  sind,  weil  der- 
gleichen in  ihnen  nicht  vorkam,  dafür  haben  sie  auch  in  ihrem 
System  keinen  Begriff  aufstellen  können.  Wie  darum  die  voll- 
kommene Beligion  nur  in  einem  vollkommenen  Menschen  an's 
Licht  treten  wird,  so  kann  auch  die  vollkommene  Beligions- 
philosophie  nur  von  einer  göttlichen  Natur  geschaffen  werden. 

Es  wäre  sonach  wenig  Hoffnung,  eine  wahre  Beligions- 
philosophie  zu  erhalten,  da  ein  göttlicher  Mann  dazu  erforder- 
lich ist  und  ein  solcher  doch  selten  in  der  Geschichte  auf- 
tritt; wie  aber,  wenn  ein  Licht  entzündet  ist,  Viele,  die  selber 
Feuer  anzufachen  nicht  im  Stande  waren,  mit  ihren  Kerzen 
herankommen  können,  um  sie  an  dem  schon  brennenden  Lichte 
zu  entzünden,  so  giebt  es  auch.  Gottlob!  eine  grössere  Menge 
von  Naturen,  die  wenigstens  fähig  sind,  das  von  einer  gött- 
lichen Natur  ausströmende  vollkommene  Leben  in  sich  aufzu- 

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J 


12  Einleitung. 

nehmen,  es  sich  anzueignen  und  mitzageniessen,  so  dass  sie, 
wenn  anch  nicht  als  Schöpfer  des  göttlichen  Lebens,  doch 
als  Erben  und  Theilnehmer  das  Wesen  desselben  in  sich  em- 
pfinden und  zum  Bewusstsein  bringen  können.  Und  glücklicher 
Weise  ist  sogar  mit  dieser  zweiten  Stellang  noch  ein  gewisser 
Vorzug  yerknüpft.  Wie  die  Enkel  eines  den  Adel  begründenden 
Vorfahren  vornehmer  und  von  älterem  Geblüt  sind  als  der  ohne 
Ahnen  auftretende  Ahnherr;  so  dass  sich  sogar  Napoleon  wünschte, 
sein  eigener  Enkel  zu  sein:  so  ist  es  auch  ftlr  die  Wissenschaft 
von  Vortheil,  wenn  derjenige,  welcher  eine  geistige  Lebensmacht 
zu  klaren  Begriffen  bringen  soll,  sie  nicht  selber  erst  erzeugt 
hat.  Shakespeare  hätte  nicht  wohl  vermocht,* eine  dramatische 
Theorie  auszuarbeiten,  die  doch  seiner  Leistung  und  des  Genusses 
derselben  bedarf,  um  zu  einer  höheren  Stufe  zu  gelangen.  Alle 
Dinge  sind  eben  an  die  Quantität  gebunden,  so  dass,  wer  in 
Einem  Gebiete  gross  ist,  nothwendig  seine  Arbeit  von  den  andern 
Gebieten  zurückziehen  muss.  Der  grosse  Dichter  kann  nicht 
zugleich  gross  als  Philosoph  sein  und  umgekehrt.  Dies  ist  der 
Grund,  weshalb  auch  die  Religionsstifter,  die  Reformatoren  und 
alle  vorherfschend  religiösen  Naturen  fUr  die  philosophische  Auf- 
fassung ihres  göttlichen  Lebens  nichts  oder  wenig  geleistet 
haben,  und  weshalb  ein  in  der  Religion  bloss  receptiver  und  mit- 
geniessender  Geist  ftlr  die  Philosophie  der  Religion  gerade  der 
rechte  Mann  ist,  weil  er  nicht  mühsam  durch  die  Wurzeln  die 
Nahrung  aus  dem  Boden  zu  saugen  braucht,  sondern  als  Rebe 
den  edlen  Saft  des  Weinstocks  fertig  empftlngt  und  als  Erbe  den 
Reichthum  des  göttlichen  Lebens  nun  registriren  und  unter  wohl- 
geordneten Titeln  überschauen  kann. 

Dennoch  bleibt  die  Wahrheit  immer  bestehen,  dass  wer  die 
vollkommene  wissenschaftliche  Erkenntniss  der  Religion  lehren 
soll,  entweder  zugleich  die  vollkommene  Religion  selbst  in  sich 
offenbaren  oder  in  Gemeinschaft  und  Sympathie  mit  einem  voll- 
kommenen religiösen  Genius  stehen  muss.  Denn  da  die  Religion 
Geist  ist,  so  kann  Niemand  die  Religion  vollkommen  verstehen, 
der  ihren  Inhalt  nicht  als  geistiges  Leben  in  sich  besitzt.  Wer 
niemals  von  Zorn  und  Entrüstung  ergriffen  wird,  der  kann  auch 
diese  Affekte  nicht  in  Wahrheit  verstehen  und  also  auch  von  den 
Begriffen  des  Rechts  und  der  Ehre  niemals  eine  genügende  Er- 
klärung geben.     So  muss  in  der  Geschichte  nothwendig  das 

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Einleitung.  13 

Auftreten  der  yerschiedenen  Keligionsstifter  vorhergehen,  ehe  die 
jedesmal  zugehörige  Religionsphilosophie  aufkommen  kann.  Die 
YoUkonmiene  Philosophie  setzt  deshalb  eine  vollkommene  religiöse 
Persönlichkeit  voraus,  von  deren  Lebensmacht  der  Philosoph 
ergriffen  und  belebt  sein  muss,  wenn  er  den  Inhalt,  den  er  sich 
zu  Bewusstsein  und  zu  Begriffen  bringen  will,  nicht  verfehlen 
soll.  Es  ist  daher  nicht  zu  verwundem,  dass  das  Heidenthum, 
Judenthum,  der  Buddhismus  u.  s.  w.  keine  beMedigende  Religions- 
philosophie hervorgebracht  haben  und  dass  erst  durch  das  von 
Christus  ausgehende  Leben  eine  allgemeine  Erkenntniss  aller 
Religionen  und  eine  alle  Religionslehren  beurtheilende  und  sich 
ihrer  eigenen  Wahrheit  methodisch  bewusstwerdende  abschliessende 
Religionsphilosophie  möglich  wird. 


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Erstes  Capitel. 

Definition  der  Religion. 


§  1.    Naturalistische  Erkenntniss  der  Religion. 

Wenn  wir  die  Religion  definiren  wollen,  so  müssen  wir  anf 
das  zu  Definirende  als  auf  einen  Beziehungspunkt  unserer  Ur- 
theile  hinblicken.  Wir  setzen  also  voraus,  dass  wir  schon  wissen, 
was  das  sei,  was  wir  mit  dem  Namen  Religion  bezeichnen. 
Diese  vorausgesetzte  Erkenntniss  ist  aber  keine  wissenschaft- 
liche, sondern  nur  ein  Bewusstsein  um  gewisse  Thatsachen  und 
Erlebnisse.  Darum  kann  ein  kleines  Kind  und  ein  reiner  Realist 
nichts  verstehen,  wenn  man  ihnen  auch  die  beste  Definition  der 
Religion  mittheilte,  weil  sie  die  Bekanntschaft  mit  jenen  That- 
sachen nicht  gewonnen  haben  und  die  erforderlichen  inneren 
Erlebnisse  nicht  in  ihrem  Bewusstsein  vorfinden. 

Wie  nun  das  Kind  an  der  Uniform  und  der  Wehr  erkennt, 
was  ein  Soldat  ist  im  Unterschied  von  einem  Civilisten,  so  giebt 
es  auch  gewisse,  äusserlich  erkennbare  Handlungen  der  Menschen, 
die  wir  der  Religion  zuschreiben.  Wer  z,  B.  irgendwo  einen 
Juden  sieht,  der  sich  einen  Gebetsriemen  um  den  Arm  schnallt, 
einen  Sack  über  den  Kopf  zieht,  murmelt  und  dergleichen  thut, 
der  merkt  sehr  bald,  dass  dies  nicht  eine  diätetische  Übung  ist 
zur  Erhaltung  der  Gesundheit,  auch  nicht  zum  Handel  dient  oder 
zur  Wissenschaft  und  Kunst,  sondern  dass  sich  das,  was  die 
Menschen  Religion  nennen,  auf  diese  seltsame  Weise  äusserlich 
kund  thut  Wer  im  Orient  reist,  kann  den  mahometanischen 
Kaufinann  in  seinem  Laden  täglich  gewisse  Handlungen  ausüben 
sehen,  die  mit  dem  Verkauf  der  Waaren  nichts  zu  thun  haben, 
sondern  Religion  sind.  Der  Araber  steigt  auch  auf  der  Reise  oft 
plötzlich  vom  Pferde,  breitet  ein  Gewand  auf  der  Erde  aus,  netzt 
seine  Lippen  und  Hände  mit  Wasser  oder  Wüstensand,  wirft  sich 
nieder,  berührt  mit  der  Stirn  die  Erde^  ruft  Allah  und  andere 

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Frühere  Definitionen.  15 

Worte  ans  —  und  reitet  dann  weiter,  ohne  dass  er  sich  hätte 
ansrohen  oder  trinken  oder  irgend  ein  weltliches  Geschäft  yoU- 
ziehen  wollen.    Was  war  das  alles?    Religion. 

Ebenso  kennt  man  anch  mit  dem  sogenannten  inneren  Sinne 
bestimmte  Gesinnungen,  Gedanken  oder  GefUhle,  die  man  als 
religiös  oder  Religion,  oder  als  Andacht,  Frömmigkeit,  Gottes- 
furcht und  dergl.  bezeichnet.  Man  kennt  sie  naturalistisch  in 
derselben  Weise,  wie  man  weiss,  wann  man  sich  zornig  oder 
traurig  fühlt  und  wie  man  Hass  und  Liebe  in  sich  unterscheidet 

Diese  Kenntniss  von  der  Religion  ist  von  derselben  Art,  wie 
der  Hund  seinen  Herrn  von  andern  Personen  wohl  zu  unter- 
scheiden versteht  Der  Mensch  ist  aber  bei  dieser  Kenntniss  um 
eine  Stufe  höher,  da  er  das,  was  er  unterscheidet,  durch  gewisse 
Lautzeichen  charakteristisch  zu  stempeln  und  sich  darüber  Anderen 
yerständlich  zu  machen  weiss. 

Eine  solche  naturalistische  Erkenntniss  setzt  voraus,  dass 
die  religiösen  Zustände  der  Seele  qualitativ  verschieden  von 
anderen  Zuständen  sind  und  dass  der  Mensch  schon  so  weit 
entwickelt  ist,  um,  wie  er  z.  B.  Farbenempfindungen  von  Ton- 
empfindungen unterscheidet,  so  auch  die  verschiedenen  GefUhle 
in  sich  nach  ihrer  qualitativen  Verschiedenheit  zu  beachten  und 
davon  ein  Bewusstsein  zu  gewinnen.  Da  der  Mensch  ein  ge- 
selliges Wesen  ist,  so  lernt  er  dann  auch  schnell,  die  bei  den- 
selben äusseren  Veranlassungen  in  ihm  und  den  Andern  gleich- 
massig  entstehenden  Gefühle  mit  den  entsprechenden  äusseren 
Geberden  zu  coordiniren  und  aus  diesen  als  den  charakteristischen 
Zeichen  auf  die  entsprechenden  inneren  Gefühle  der  Andern 
zu  schliessen. 


§  2.     Frühere  Definitionen  der  Religion. 

Wer  nun  keine  wissenschaftliche  Bedürfnisse  hat,  der  bleibt 
auf  dieser  naturalistischen  Stufe  der  blossen  Kenntniss  der  Re- 
ligion stehen  und  würde,  wie  Demokrit  den  Menschen  als  das- 
jenige Wesen,  welches  uns  allen  bekannt  wäre,  definirte,  so  auch 
bei  der  Religion  sich  mit  dem  Hinweis  auf  unsre  vorauszusetzende 
Kenntniss  derselben  begnügen. 

Die  Höhergebildeten  aber  sind  schon  daran  gewöhnt,  die 
einzelnen  Acte   der  Seele  oder  die   sogenannten  Erscheinungen 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


16  Definition  der  Religion. 

des  änBBeren  nnd  inneren  Lebens  znsammenznfaBsen  und  all- 
gemein auszudrücken.  Allein  die  Wenigsten  sind  sieh  bewusst, 
dass  hierbei  eine  sichere  Methode  befolgt  werden  muss  und  dass 
es  auch  filr  die  geistige  Welt  eine  ganz  bestimmte  Topographie 
giebt,  wonach  jeder  Begriff,  wie  im  Raum  jeder  Punkt,  seine 
durch  bestimmte  Bedingungen  fest  und  nothwendig  geordnete 
Lage  in  einem  allgemeinen  Systeme  der  Begriffe  hat.  Darum 
findet  man  zwar  in  den  wissenschaftlichen  Werken  über  die 
Beligion  fast  immer  irgend  eine  Definition,  in  der  Regel  aber 
eine  beinahe  zuföllig  aufgeraffte,  die  weder  eine  methodisch  ge- 
folgerte Ortsbestimmung  des  Begriffes  enthält,  noch  für  die  Er- 
scheinungen, die  dadurch  begriffen  werden  sollen,  hinreicht, 
sondern  bald  zu  weit,  bald  zu  eng  ist  und  das  Wesen  der  Sache 
überhaupt  nicht  deckt. 

Um  die  Schwierigkeit,  diesen  Begriff  zu  be- 
cognoBoandi  et  stimmcu,  vor  Augcn  zu  haben,  wollen  wir  wenigstens 
coiendL  ^jn  p|^j.  Beispiele  fehlerhafter  Definitionen  beurtheilen. 
Die  älteren  Theologen  definirten  die  Religion  als  modus  deum 
cognoscendi  et  colendi,  also  als  eine  Art  und  Weise  der  Gottes- 
erkenntniss  und  Gottesverehrung. 

Nun  ist  jede  Definition  durch  zwei  Coordinaten  zu  leisten, 
von  denen  man  die  Eine  bei  abgeleiteten  Dingen  als  Gattung 
(genus  proximum),  die  andre  als  Differenz  (differentia  specifica) 
zu  bezeichnen  pflegt.  Jedes  Ding  hat  aber  nur  Eine  Gattung, 
unter  die  es  untergeordnet  werden  muss,  wie  z.  B.  das  Dreieck 
eine  Figur,  die  Lampe  eine  künstliche  Lichtquelle  ist  Sobald 
man  daher  in  der  Definition  zwei  Gattungen  nennt,  so  hat  man 
nicht  mit  einem,  sondern  mit  zwei  yerschiedenen  Dingen  zu  thun. 
Ist  der  zu  definirende  Gegenstand  nun  keine  Summe,  sondern 
von  einheitlichem  Wesen,  so  heben  die  angegebenen  zwei  Gat- 
tungen sich  wechselseitig  auf,  da  die  Eine  Gattung  eben  nicht 
die  andre  und  mithin  der  Gegenstand  weder  das  Eine  noch  das 
Andre  ist,  wie  z.  B.  ein  Thier,  das  als  Fisch  und  Vogel  bestimmt 
wird,  weder  das  Eine  noch  das  Andre  und  also  insoweit  nichts 
ist.  Aus  dieser  logischen  Betrachtung  ergiebt  sich,  dass  die 
angefthrte  Definition  der  Religion  nichts  definirt;  denn  sollte  die 
Gottesverehrung  als  Gattung  gelten,  so  wäre  die  Religion,  da 
Verehrung  nicht  Erkenntniss  ist,  auch  keine  Gotteserkenntniss. 
Ist  sie  aber  dies  letztere,  so  wäre  sie  aus  demselben  zwingenden 

u.quizeauy  Google 


Frühere  Definitionen.  17 

Grande  keine  Gottes  Verehrung.  Es  ergiebt  sich  also  ohne 
Weiteres  aas  dieser  schlechten  Definition,  dass  entweder  Gottes- 
Erkenntniss  und  Verehrung  dasselbe  ist  und  man  unntttz  zwei 
Kamen  genannt  hat,  oder  dass  die  Religion  weder  Gotteserkennt- 
niss,  noch  Gottesverehrung  ist,  und  dass  man  daher  die  Frage 
von  Neuem  aufzuwerfen  hat,  was  denn  Religion  sei. 

Ausserdem  wurde  die  Religion  als  modus,  als  eine  Art  und 
Weise  bestimmt  Dadurch  wird  angezeigt,  dass  es  ausser  dieser 
Modalität  noch  andre  Arten  der  Gotteserkenntniss  und  Gottes- 
verehrung giebt,  die  nicht  Religion  sind.  Da  wir  nun  durch  die 
Definition  nicht  erfahren,  wie  sich  die  Religion  als  Art  von  den 
andern  Arten,  die  nicht  Religion  sind,  unterscheidet,  so  wird  die 
Religion  definirt  als  gleichgültig  gegen  die  Frage,  ob  damit  die 
religiösen  oder  die  nicht-religiösen  Acte  des  geistigen  Lebens 
begriffen  würden. 

Geht  man  aber  von  der  Form  auf  die  Sache,  so  wird  die 
Definition  um  nichts  lehrreicher.  Denn  eine  Gotteserkenntniss 
ist  doch  die  Religion  nicht,  da  Professor  und  Priester,  Experiment 
und  Sacrament  nicht  identisch  sind.  Wäre  die  Religion  Er- 
kenntniss,  so  würde  derjenige,  der  am  Wissenschaftlichsten 
erkennt,  der  religiöseste  sein,  und  die  Religion  wäre  bloss  eine 
Wissenschaft,  wie  die  Physik  oder  die  Geographie.  Ebenso  ist 
zweitens  die  Religion  auch  keine  Gottesverehrung;  denn  da  der 
Cultus  (modus  colendi  deum)  in  äusseren  Handlungen  besteht, 
so  kann,  wie  jedermann  weiss,  auch  ein  Unreligiöser  diese  Hand- 
lungen ausüben,  das  Abendmahl  nehmen,  die  Hände  falten  oder 
Opfer  zum  Altare  bringen  u.  dergl.  Also  ist  durch  diese  Definition 
die  Beligion  nur  etwa  so  erklärt,  wie  wenn  man  den  Sturmwind 
als  eine  Erscheinung  definirte,  bei  welcher  man  eine  gewisse 
Vorstellung  von  der  Luft  hätte  und  zuweilen  seinen  Hut  verlöre. 

Der  Kantianer  Krug  definirt   die  Religion   als 

Lebendiger 

»lebendigen  Glauben  an  das  höchste  Guf  Diese  eunbe  an  dM 
Definition  lahmt  an  allen  Gliedern.  Denn  erstens  ist  »»ochste  Gut. 
das  Attribut  „lebendig^^  unbestimmt  und  unbestimmbar,  da  es  der 
Quantität  unterliegt  und  die  Grenze  nicht  festzustellen  ist,  wann 
der  Glaube  anfängt,  lebendig,  also  Religion,  zu  werden.  Da  er 
femer  mehr  oder  weniger  lebendig  sein  kann,  so  wäre  die  Re- 
ligion auch  mehr  oder  weniger  Religion,  was  ebenso  seltsam  ist, 
als  wenn  ein  Dreieck  dreieckiger  als  das  andre  sein  sollte.    Der 

Teichmüller,  BeUgloniphü<Mophie.  uigiizeu  uy GoOQIc 


18  Definition  der  Religion. 

„Glaube",  zweitens,  wird  dabei  als  Überzeugung  oder  Erkenntniss 
aufgefasst;  dass  aber  Erkenntniss  und  Wissenschaft  nicht  Religion 
sind,  haben  wir  schon  gesehen.  Drittens,  es  bedeutet  das  „höchste 
Gut"  bei  den  Kantianern  die  Übereinstimmung  der  Naturgesetze 
mit  den  Sittengesetzen  in  der  Weise,  dass  auf  gute  Handlungen 
sinnliches  Glück,  auf  böse  aber  Unglück  folge.  Dieses  höchste 
Gut  kann  aber  nicht  gut  sein,  weil  seine  Verwirklichung 
die  Beligion  aufheben  würde,  die  nur  wegen  der  Nichtwirklich- 
keit  jener  erwünschten  Uebereinstimmung  als  lebendiger  Glaube 
möglich  ist.  Beligion  und  höchstes  Gut  verhalten  sich  daher 
bei  den  Kantianern  wie  Hunger  und  Speise,  die  man  niemals 
gatten  kann,  ohne  sie  beide  zu  vernichten.  —  Ausserdem  wird 
jeder  Religiöse  zu  sagen  wissen,  dass  das  inhaltlose  Kantische 
höchste  Gut  mit  dem  inhaltreichen  Wesen  der  Religion  nichts  zu 
thun  hat  und  dass  Kantische  Moralität  nicht  Religiosität  ist. 

Schleiermacher' s  Definition  der  Religion  als  Ge- 
schieiermacher'8  fuij!     gj^^j  ^^^^  Gcschmack  flir's  Unendliche  würde 

Definition.  .  .   , 

erspnesshcher  sein,  wenn  er  nicht,  erstens,  den  leeren 
BegriflF  „des  Unendlichen"  an  die  Stelle  von  Gott  gesetzt  hätte; 
denn  das  Unendliche  bedeutet  ja  bloss,  dass  man  einen  Gedanken- 
gang weiter  fortsetzen  könnte,  wobei  das  etwa  zu  erreichende 
Ziel  unbestimmt  und  also  unerkannt  bleibt;  Gott  ist  aber  durchaus 
bestimmt  und  also  erkennbar,  sonst  sollte  man  lieber  von  ihm 
nicht  sprechen.  —  Zweitens  weiss  Schleiermacher  den  Gattungs- 
begriff der  Religion  nicht  zu  finden;  denn  schon  die  bunte  Zu- 
sammenstellung von  „Sinn,  Geftihl,  Geschmack"  beweist,  dass 
er  im  Unklaren  über  das  Wesen  der  Religion  war.  Dies  wird 
noch  weiter  dadurch  bestätigt,  dass  er  das  Gefühl  in  Gegensatz 
gegen  das  Wollen  stellt  und  sich  also  ebenso  wie  Spinoza,  Kant, 
Hegel  und  die  Späteren,  wie  die  Früheren,  über  das  Wesen  des 
Gefühls  nicht  orientiren  konnte.  Deshalb  musste  auch  HegeFs 
Kritik,  als  wäre  Gefühl  bloss  eine  Sache  des  unvernünftigen 
Geistes  und  Schleiermacher's  Religion  daher  etwas  Thierisches, 
weit  vom  Ziele  treffen;  es  wussten  eben  beide  Philosophen  nicht, 
was  Gefühl  sei.  —  Drittens  haben  wir  nun  noch  die  Combination 
der  beiden  Elemente  in  der  Schleiermacher'schen  Definition  zu 
betrachten  und  werden  dabei  wohl  bekennen  müssen,  dass  sich 
kaum  etwas  Leereres  angeben  lasse,  als  ein  Gefühl  für  das  Un- 
endliche.   Denn   da   das  Unendliche   eine   Quantitätsbestim- 

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Frühere  Definitionen.  19 

mnng  ist  und  so  viel  bedeutet,  wie  „nur  immer  weiter",  so 
ist  der  Geschmack  für  solche  leere  Unbegränztheit  und  Mass- 
losigkeit  entschieden  pathologisch;  denn  alles  gesunde  Gefühl 
hält  sich  an  das  rechte  Mass  und  hat  Geschmack  für  das  gut 
nnd  schön  Begränzte.  Dächte  man  aber  Schleiermacher  zu  Ge- 
fallen bei  dem  Unendlichen  auch  an  etwas  Qualitatives,  so 
wäre  dieser  Inhalt  doch  jedenfalls  nur  negativ  bestimmt,  und 
Niemand  dürfte  sagen,  was  er  sich  bei  diesem  Gefühl  etwa 
denken  könnte,  da  jeder  Inhalt  ja  dem  Unendlichen  eine  Gränze 
setzte.  Also  ist  es  besser,  Schleiermacher  bei  seinem  Kitt  in's 
Blaue  und  in's  Bodenlose  seinen  Gefühlen  zu  überlassen. 

Um  weiter  die  Rathlosigkeit  der  Denker  zu  ver- 
folgen, wenden  wir  uns  Hegel  zu.    Ich  habe  schon      Hegers 

°  Definition. 

in  meiner  Grundlegung  der  Metaphysik  gezeigt,  dass 
bei  Hegel  die  ganze  Welt  zu  einem  bloss  logischen  Processe 
wird  und  ihm  mithin  bloss  das  ideelle  Sein  bekannt  war.  Da 
Hegel  weder  ftlr  das  reale,  noch  ftir  das  substanziale  Sein  die 
Erkenntnissquelle  gefunden  hatte,  sondern  die  specifischen  und 
die  semiotischen  Erkenntnissformen  mit  völliger  Naivetät  durch- 
einander mischte,  so  musste  sich,  das  Besultat  ergeben,  dass 
auch,  wie  die  Dinge,  so  der  Wille  und  die  Beligion  bloss  eine 
gewisse  Stufe  des  allgemeinen  Erkenntnissprocesses  wären.  Da 
die  Religion  nun  nicht  die  Philosophie  ist,  welche  den  ganzen 
Erkenntnissprocess  beschreibt,  so  blieb  ihr  nur  eine  untergeordnete 
Stelle  übrig,  nämlich  die  zweite,  die  subjective  Stufe  des  abso- 
luten Geistes  zu  sein,  in  welcher  dieser  aus  der  objectiven  An- 
schauung, die  er  in  der  Kunst  hat,  zu  dem  in  sich  vermittelten 
Wissen  übergeht  als  Offenbarung  seiner  selbst,  als  Geist  flir  den 
Geist,  aber  nur  in  der  Form  der  Vorstellung  und  nicht  im  Begriff. 
Die  Fehler  der  HegeFschen  Theorie  sind  crass.  Die  Kunst 
wird  bloss  als  Erkenntnissfoim  verstanden  und  daher  mit  den 
Kunstwerken  zugleich  das  ganze  reale  Wesen  der  Kunst  völlig 
übersehen.  Ebenso  ist  ihm  die  Keligion  völlig  unverstanden 
geblieben,  da  er  als  Gattungsbegriff  nur  Erkenntniss  und  als 
Artbestimmung  wieder  nur  eine  bestimmte  Form  der  Erkenntniss, 
nämlich  die  sogenannte  „Vorstellung"  anzugeben  wusste,  von  der 
specifischen  Natur  der  Religion  also  gar  nichts  merkte.  Es  ist 
daher  nur  natürlich,  dass  die  Religiösen  die  nicht  so  unrichtige 
„Vorstellung"  hatten,   etwas  Anderes  und  Besseres  zu  besitzen 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


20  Definition  der  Beligion. 

and  zu  keimen,  als  was  Hegel  für  Religion  hielte,  und  von  ihm 
überhaupt  gar  nicht  verstanden  zu  sein.  Dies  ist  auch  der 
einzige  Grund,  weshalb  sich  sogar  Schleiermacher,  trotz  der  sonst 
vehiichtenden  Kritik  Hegels,  gegen  ihn  halten  konnte.  In  Schleier- 
macher's  Gefllhl  lag  ein  von  ihm  selbst  nicht  erkanntes  reales 
Element,  welches  trotz  der  dialektischen  Schwäche  Schleier- 
macher's  über  Hegel  triumphirte. 

Die  neueren  Definitionen  der  Religion,  welche  in 
Krause.  ßg^ug  auf  die  bisher  gerügten  Mängel  entschieden 
einen  grossen  Fortschritt  anzeigen,  scheinen,  wie  0.  Pfleiderer  mit 
Betonung  hervorhebt  und  worin  er  vielleicht  auch  Recht  hat, 
durch  die  Philosophie  von  Krause  beeinflusst  zu  sein.  Ich  kann 
mich  aber  dennoch  nicht  entschliessen,  im  Einzelnen  auf  diese 
Philosophie  näher  einzugehen.  Sie  hat  einen  gewissen  Werth 
durch  mancherlei  richtige  Impulse  und  durch  manche  nicht  un- 
bedeutende Behauptungen;  aber  sie  steht  an  wissenschaftlicher 
Schulung  nicht  über  Schelling;  also  unter  der  Stufe,  die  ich  für 
beachtenswerth  halten  kann.  Von  seinen  seltsamen  Ausdrücken 
will  ich  gar  nicht  reden;  denn  man  würde  sie  sich  gefallen  lassen, 
wenn  man  dadurch  etwas  Neues  lernte;  das  Unerträgliche  dieser 
Art  von  Philosophie  ist  aber  die  ausführliche  Breite  von  Dar- 
legungen, die  mit  lauter  unbestinmiten  und  alle  eigentliche  For- 
schung lähmenden  begriffslosen  Wörtern  operiren.  So  z.B. 
kann  man  nach  Krause  (Syst.  d.  Phil.  1828  S.  171)  Wesen  und 
Wesenheit  nicht  definiren,  Dasein  wird  ganz  vergnügt  als  Eigen- 
schaft bezeichnet,  Einheit  des  Ichs  kann  nach  seiner  Meinung 
nicht  erklärt  werden,  ebensowenig  die  sogenannte  „Formheit" 
oder  „Satzheit"  des  Ichs;  will  man  erfahren,  was  Krause  unter 
Gott  versteht,  so  hört  man  (Psych.  Anthrop.  1848  S.  125),  er  sei 
„überwesenliches  Wesen  als  übergeistiges  und  übernatürliches 
Wesen",  ohne  dass  diese  prachtvollen  Wörter  durch  irgend  eine 
Erfahrung  mit  der  Wirklichkeit  verknüpft  würden.  Raum,  Zeit, 
Bewegung,  Causalität,  die  doch  Begriffe  von  einem  gewissen  Rang 
sind,  nimmt  Krause  ganz  in  dem  volksmässigen  Sinne,  als  wenn 
Krethi  und  Plethi  darüber  verftigen  könnten.  Natur  heisst  bei 
ihm  „vorherrschende  Ganzheit"  und  Geist  „vorherrschende  Selbst- 
ständigkeit"; eine  Erklärung,  wie  wenn  er  sagte,  ein  Rubel  sei 
vorherrschende  Russheit  und  ein  Thaler  vorherrschende  Deutsch- 
heit.   Was  soll  man  lernen,   wenn  ein  Philosoph   nicht  einmal 

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Frühere  Definitionen.  21 

die  Probleme  stellen  kann.  Ich  will  deshalb  aus  Achtung  vor 
0.  Pfleiderer,  der  aber  die  Philosophie  von  Krause  tiberschätzt, 
gern  zugeben,  dass  die  Behauptungen  Krause's  über  die 
Religion  einen  gewissen  Einfluss  auf  manche  Philosophen  und 
Theologen  ausgeübt  haben;  dasselbe  wäre  aber  doch  auch  von 
jedem  bekannteren  Dichter  zu  sagen,  ohne  dass  man  die  Dichter 
in  der  Geschichte  der  Philosophie  abzuhandeln  pflegt. 

Lotze's  Genialität,  die  allgemein  anerkannt  ist, 
besteht  besonders  in  der  Selbständigkeit  seiner  Ur-  ^°**®' 
theile,  die  sich  von  der  Tradition  nicht  binden  lassen,  und  in 
seiner  Fähigkeit,  die  verschiedensten  Gebiete  geistiger  Forschung 
wie  ein  Einheimischer  zu  betreten  und  sie  zu  neuen  Gombinationen 
fruchtbar  zu  vereinigen.  Man  wird  deshalb  seine  Schriften  immer 
mit  reicher  Anregung  lesen,  das  Gemüth  des  Mannes  lieben  und  die 
Originalität  seiner  Gedankenbewegung  bewundem. 

Es  fehlt  aber  bei  Lotze  doch  die  Totalität  der  wissen- 
schaftlichen Functionen,  sofern  er  eine  Antipathie  gegen  den 
systematischen  Geist  der  Griechen,  gegen  ihre  speculative  Archi- 
tektonik hatte.  Darum  hat  uns  Lotze  nicht  in  eigentlichem  Sinne 
ein  System  hinterlassen,  und  wer  in  der  Schule  der  Griechen 
auferzogen  ist,  der  wird  bei  ihm  immer  die  Akribie  der  Defi- 
nitionen und  die  Kunst  eines  überall  durchgeftlhrten,  Alles  um- 
fassenden und  übersichtlichen  Aufbaus  vermissen. 

Wenn  man  in  den  „Grundzügen  der  Eeligionsphilosophie", 
die  uns  aus  seinen  Diktaten  glücklich  erhalten  sind,  nach  einer 
Definition  der  Religion  sucht,  so  wird  man  mit  Erstaunen  be- 
merken, dass  der  Verfasser  gar  nicht  das  Bedürfniss,  oder  wie 
er  sich  auszudrücken  liebt,  die  Pflicht  fühlt,  eine  Definition  über- 
haupt zu  geben.  Es  ist  vielmehr  so  seine  Art,  vorauszusetzen, 
man  wisse  schon,  um  was  sich  die  Sache  drehe,  und  es  handle 
sich  nur  darum,  diese  oder  jene  Streitfrage  zu  entscheiden.  Er 
ftlngt  deshalb  gleich  mit  dem  Gegensatz  von  Wissenschaft  und 
Religion  an  und  spricht  über  die  Streitfragen,  die  sich  auf  Offen- 
barung und  Glauben  beziehen. 

Sollten  wir  uns  aber  so  etwas  wie  eine  Definition  aus  seiner 
Schrift  heraussuchen  wollen,  so  könnte  am  Besten  wohl  der  §  4 
dienen,  bei  dem  Lotze  drei  Gruppen  von  inneren  Zuständen 
unterscheidet:  1)  die  persönlichen  Gefühle  der  Furcht,  der 
schlechthinnigen  Abhängigkeit  von  unbekannten  Mächten,  die  das 

u.quizeuuy  Google 


22  Definition  der  Religion. 

rohe  Motiv  bilden,  in  einer  nicht-erfahrungsmässigen  Weltansicht 
Trost  zu  suchen;  2)  die  ästhetischen  Gefühle,  die  sich  dem 
Schönen  mit  Bewunderung  hingeben  und  zur  Bildung  einer  Ideal- 
welt anregen;  3)  die  sittlichen  Geftthle,  die  zu  dem  Versuch 
führen,  einen  Weltbau  auszudenken,  der  sie  begreiflich  macht. 
Auf  diese  Gruppirung  folgt  dann  die  Äusserung:  „Denken  wir 
uns  nun  die  religiöse  Wahrheit  aus  allen  diesen  Datis  durch 
unser  Nachdenken  entwickelt,  so  kommen  wir  allerdings  zu  dem, 
was  man  als  Religion  innerhalb  der  Grenzen  der  blossen  Ver- 
nunft bezeichnen  könnte,  aber  doch  nicht  zu  dem,  was  man  so 
genannt  hat.^^ 

Wie  man  sieht,  hat  Lotze  nur  in  seiner  Weise  zu  einer 
überlieferten  Streitfrage  Stellung  genommen  und  dabei  die  engere 
Kantische  Auffassung  durch  Hinzufügung  der  ästhetischen  Ge- 
fühle bereichert,  eine  eigene  systematische  Grundlegung  ist  damit 
aber  nicht  entfernt  gegeben.  Ich  will  von  dem  nachlässigen, 
obwohl  charakteristischen,  circulus  in  definiendo  absehen,  dass 
er  „Religion"  mit  dem  Merkmal  „religiöse"  Wahrheit  definirt; 
aber  soll  denn  nun  die  Religion  bloss  als  eine  Wahrheit  durch 
unser  reich  instruirtes  Nachdenken  entwickelt  werden?  Dem- 
nach wäre  sie  doch  immer  bloss  eine  Wissenschaft,  und  es 
ist  unmöglich,  aus  diesen  Sätzen  zu  einer  anderen  generischen 
Bestimmung  zu  kommen.  Gleichwohl  wissen  wir,  die  wir  Lotze 
kannten  und  verehrten,  sehr  wohl,  dass  er  in  seinem  Leben  unter 
Religion  etwas  ganz  anderes  verstand.  Wir  sehen  deshalb,  dass 
s.eine  Antipathie  gegen  Systematik  leider  den  üblen  Erfolg  ge- 
habt hat,  dass  Niemand  definiren  kann,  was  nach  Lotze  die 
Religion  eigentlich  ist. 

Wenn  Otto  Pfleidererin  seinem  Werke  „Genetisch- 
""rlfluHiT'  speculative  Religionsphilosophie"  (1884  S.  29)  den 
„gemeinsamen  Kern  der  Religion  in  allen  ihren  Formen" 
definirt  als  ,jene  Lebensbeziehung  auf  die  weltbeherrschende 
Macht,  welche  zur  Lebensgemeinschaft  mit  ihr  werden  will",  so 
ist  damit  ein  entschiedener  Fortschritt  über  Schleiermacher  und 
Hegel  hinaus  gemacht.  Die  Definition  ist  auch  durch  Analyse 
der  wirklichen  Religionen  klar  und  reich  vorbereitet;  allein  es 
bleiben  einige  dunkle  Punkte  darin.  Denn  wenn  auch,  abgesehen 
von  dem  metaphorischen  „will",  welches  die  Religion  auf  eine 
schiefe  Ebene  setzt,  der  im  Vergleich  mit  den  vorher  angeführten 

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Frühere  Definitionen.  23 

Definitionen  erfreuliche  Reichthum  in  dem  Begriff  „Lebens- 
beziebung^^  anzuerkennen  ist,  so  fehlt  doch  fbr  eine  Definition 
die  genauere  Angabe  des  Begriffs;  denn  das  Thier  hat  ja  auch 
eine  Lebensbeziehung  zu  Gott,  sofern  der  Gläubige  annimmt, 
dass  Gott  es  erschaffen,  ihm  seine  Nahrung  angewiesen  und 
selbst  den  Sperling  auf  dem  Dache  nicht  vergessen  hat,  und 
doch  schreibt  man  dem  Thier  nicht  Religion  zu.  Ebenso  ist 
yyLebensgemeinschaft^'  mit  Gott  zu  unbestimmt;  theils  weil  sie 
unbewusst  sein  kann,  wie  die  des  Kindes  im  Uterus  mit  der 
Mutter;  theils  weil  der  bei  einer  bewussten  Gemeinschaft  sonst 
still  vorausgesetzte  Antheil  und  Gewinn,  den  Gott  daran  haben 
könnte,  bei  der  Definition  unbestimmt  und  unerfindlich  bleibt; 
theils  endlich,  weil  das  Mittel  des  Verkehrs  zwischen  den  beiden 
Contrahcnten  nicht  angegeben  ist 

Vielleicht  ist  wegen  des  grossen  Einflusses,  den 
die   Göttinger  Theologie   gegenwärtig  ausübt,   auch    ^-  R*^««^*'« 

Dcflnition. 

Ritschrs  Definition  zu  erwähnen.  Ritschi  verhält  sich 
meinen  philosophischen  Arbeiten  gegenüber  noch  mit  keuscher 
Jungfräulichkeit  und  kann  deshalb  über  eine  ganz  unfruchtbare 
Auffassung  der  Religion  nicht  hinauskommen.  Er  sagt  (Recht- 
fertigung und  Versöhnung,  m.Bd.  2.  Aufl.  1883  S.  17):  „Nun  ist 
der  Gedanke  von  Gott  in  der  Religion  gegeben.  Die  religiöse 
Weltanschauung  aber  ist  in  allen  ihren  Arten  darauf  gestellt, 
dass  der  Mensch  sich  in  irgend  einem  Grade  von  den  ihn  um- 
gebenden Erscheinungen  und  auf  ihn  eindringenden  Wirkungen 
der  Natur  an  Werth  unterscheidet.  Alle  Religion  ist  Deutung 
des  in  welchem  Umfang  immer  erkannten  Weltlaufs,  in  dem  Sinne, 
dass  die  erhabenen  geistigen  Mächte  (oder  die  geistige  Macht), 
welche  in  oder  über  demselben  walten,  dem  persönlichen  Geiste 
seine  Ansprüche  oder  seine  Selbständigkeit  gegen  die  Hemmungen 
durch  die  Natur  oder  die  Naturwirkungen  der  menschlichen  Ge- 
sellschaft erhalten  oder  bestätigen.^^ 

Diese  nicht  sehr  klaren  Erklärungen  erregen,  wenn  wir  sie 
gutwillig  interpretiren,  unsere  Verwunderung;  denn  worauf  nach 
Ritschi  erstens  „die  religiöse  Weltanschauung  in  allen  ihren 
Arten'^  gestellt  sein  soll,  das  hat  ja  mit  Religion  nichts  zu  thun. 
Der  Mensch,  sagt  Ritschi,  „unterscheidet  sich  in  irgend  einem  Grade 
von  den  ihn  umgebenden  Erscheinungen  der  Natur  an  Werth";  nun 
ja,   das  ist  wahr;   denn  wenn  er  sein  Vieh  schlachtet  und  den 

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24  Definition  der  Religion. 

Ofen  heizt,  so  mugs  er  sich  und  seine  Bedürfnisse  doch  höher 
schätzen,  als  die  Thiere  und  die  Bäume,  die  er  vernichtet.  Damit 
legt  der  Mensch  aber  nur  seine  physische  Superiorität  über 
die  sonstige  auf  der  Erdrinde  hausende  Creatur  an  den  Tag. 
Die  „religiöse  Weltanschauung  in  allen  ihren  Arten"  ist  hierauf 
jedoch,  wie  Ritschi  meint,  nicht  gestellt,  da  z.  B.  in  dem  griechischen 
Polytheismus,  in  allem  Sterndienst  und  vielen  Thierculten  nicht  bloss 
Sonne  und  Mond,  sondern  auch  Granges^  Krokodil,  Schlange 
u.  s.  w.  einen  viel  höheren  Werth  angewiesen  erhielten  als  der 
Mensch,  der  ihnen  geopfert  wurde.  Ja  ein  grosser,  aber  zugleich 
frommer  indischer  König  opfert  sich  selbst  für  eine  Taube.  Also 
ist  mit  dieser  Ritschrschen  Behauptung,  die  uns  auch  ohne  Be- 
weis geschenkt  wird,  eben  nichts  anzufangen,  weil  sie  nicht  wahr 
ist  und  das  Wesen  der  Religion  nicht  trifft. 

Die  Ritschl'sche  Definition  aller  Religion  aber,  die  dann 
mit  vielen  Gautelen  geschützt  und  mit  Einschachtelungen  und 
Gliederungen  wohl  ausgerüstet,  wie  ein  fllr  einen  Monat  ver- 
proviantirtes  Kamel  daherwandelt,  stellt  uns  erstaunlicher  Weise 
die  Religion  nur  als  eine  Deutung  vor.  Eine  Deutung  oder 
Interpretation  ist  jedoch  immer,  worauf  sie  sich  auch  beziehen 
möge,  ein  blosser  Akt  des  Erkenntnissvermögens,  und  mithin  hat 
Ritschi,  ob  mit  oder  ohne  Absicht,  die  Religion  bloss  als  etwas 
Theoretisches  definirt.  Also  gehörte  sie  zur  Wissenschaft, 
entweder  als  eine  Function  derselben,  oder  als  eine  Art  mit 
bestimmtem  Umkreis  von  Gregenständen,  oder  in  Hegerscher 
Weise  als  eine  Entwickelungsstufe  derselben.  Sieht  man  die 
weitere  Differenzirung  dieses  Gattungsbegriffes  bei  Ritschi  näher 
an,  so  zeigt  sich  wirklich,  dass  er  sie  als  einen  besonderen  Zweig 
der  Wissenschaft,  nämlich  als  sogenannte  Geschichte  versteht, 
und  zwar,  wie  es  scheint,  da  er  dem  Menschen  ja  auch  die 
Naturwirkungen  der  menschlichen  Gesellschaft  gegenüberstellt, 
als  individuelle  Geschichtsbetrachtung,  wobei  der  Indi- 
vidualhistoriker  den  Weltlauf  sich  dadurch  erklären  oder  deuten 
soll,  dass  erhabene  geistige  Mächte,  die  er  annehmen  muss,  ihn 
in  seinen  individuellen  Ansprüchen  erhalten  und  gegen  Natur  und 
Gesellschaft  schützen. 

Gegen  diese  Definition  ist  nun  vielmehr  erstens  die  Religion 
in  Schutz  zu  nehmen,  weil  der  Religiöse  doch  nicht  gar  so 
bomirt  zu  sein  braucht,  um  das  ftlr  eine  zur  „Bestätigung  seiner 

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Frühere  Definitionen.  25 

Ansprüche^'  bestimmte  Leitung  des  Weltlanfs  durch  die  hohen 
geistigen  Mächte  zu  halten,  dass  ihm  etwa  sein  Haus  abbrennt, 
sein  Vieh  stirbt,  sein  Weib  und  seine  Kinder  geraubt  werden 
und  er  selbst  von  den  Blattern  ergriffen  oder  von  einem  Tyrannen 
gepeitscht  und  in  die  Steinbrüche  geschickt  wird.  In  der  That 
ist  es  auch  gar  nicht  wahr,  dass  die  Beligiösen  so  seltsam  den 
Weltlauf  gedeutet  hätten,  sondern  sie  wähnten  sich  beim  Unglück 
von  bösen  Mächten  verfolgt,  die  sie  deshalb  durch  Opfer  zu  ver- 
söhnen suchten,  oder  gegen  die  sie  die  guten  um  Hilfe  anriefen, 
oder  sie  hielten  dergleichen  flir  eine  Strafe  wegen  ihrer  Sünden, 
aber  nicht,  wie  Ritschi,  flir  eine  „Bestätigung  ihrer  Ansprüche 
gegen  die  Hemmungen  der  Natur  und  der  Gesellschaft."  Und 
da  Beligion  nach  Ritschi  nur  eine  „Deutung"  ist,  soll  der  Re- 
ligiöse dann,  wenn  es  ihm  auch  beim  besten  Willen  nicht  möglich 
ist,  sich  den  Weltlauf  nach  RitschFs  Norm  zu  deuten,  sofort  ohne 
Religion  sein? 

Damit  kommen  wir  auf  die  übrigen  Mängel  dieser  Definition; 
denn  es  fehlen  darin  natürlich  die  beiden  andern  Elemente  des 
geistigen  Lebens.  Soll  der  anspruchsvolle  Individualhistoriker, 
der  nach  Ritschi  der  Religiöse  ist,  ausser  seinen  theoretischen 
Interpretationsversuchen  nicht  auch  noch  bitten  und  wünschen, 
danken,  bereuen,  ftirchten  und  hoffen,  kurz  seine  Willensfunc- 
tionen  ins  Spiel  setzen  dürfen?  Und  warum  sollen  wir  ihm 
im  Hinblick  auf  alle  wirklichen  Religionen,  an  die  Ritschi  bei 
seiner  wer  weiss  woher  entstandenen  Definition  gar  nicht  ge* 
dacht  zu  haben  scheint,  alle  Handlungen  versagen,  warum  soll 
der  Religiöse  nicht  auch  seinem  Gotte  Thiere  schlachten  und 
ihm  Lieder  singen,  sich  in  den  Staub  werfen  u.  dgl. 

Ritschl's  Definitition  ist  also  ein  Muster  von  Einseitigkeit 
und  Unvorsichtigkeit  und  verdient  bloss  wegen  des  berühmten 
Namens  des  Stifters  der  Göttinger  Schule  die  ihr  hier  gewordene 
Beachtung. 

Wenn  man  aber  von  der  ganzen  Ungewandtheit  dieses 
Theologen  in  philosophischem  Denken  absieht  und  mit  dem  Secir- 
messer  den  Thorax  der  Definition  eröfinet,  um  das  Herz  heraus- 
zunehmen, so  zeigt  sich,  dass  Ritschi  bei  der  Religion  nur  an 
das  persönliche  Glück  oder  Unglück  der  Menschen  in  der  Sinnen- 
welt denkt,  also,  wie  wir  später  sehen  werden,  nur  die  unreine, 
egoistisch  interessirte  Rechtsreligion  im  Auge  hat.    Darum  müssen 

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26  Definition  der  Religion. 

ihm  alle  die  höheren  Formen  der  Religion,  ich  meine  schon  die  pan- 
theistischen  and  um  so  mehr  dann  das  Christenthum,  überhaupt 
unverständlich  sein,  weil  in  diesen  das  Ritschl'sche  eudämonisti- 
sehe  Herz  der  Religion  nur  eine  untergeordnete  Rolle  spielt  und 
gebührender  Weise  dem  Leben  des  Gehirns  zu  dienen  hat. 


§  3.     Die  Eintheilung  der  Functionen  der  Seele. 

Die  elementare         ^^  ^^^  RcHgion  in   dcu  Krcis  der  Functionen 
Wichtigkeit    der  Seele  einzuführen,  müssen  wir  uns  erst  über  diese 

dieser  Frage.  puuc^Queu  sclbcr  orieutiren;  denn  bis  heute  ist  die  fast 
wichtigste  Frage  der  Philosophie  in  eine  undurchdringliche  Dun- 
kelheit gehüllt,  und  doch  wüsste  ich  nicht,  wie  man  bei  fast  allen 
Untersuchungen  in  der  Wissenschaft  ohne  eine  Klarheit  über  das 
Wesen  und  die  Arten  der  geistigen  Thätigkeiten  irgend  einen 
sicheren  Weg  einschlagen  könnte.  Ueberall  wenigstens,  wo  nicht 
bloss  das  theoretische  Object,  das  ideelle  Sein,  ins  Auge  gefasst 
wird,  sondern  wo  man  auch  das  forschende  und  irgendwie  thätige 
Subject  mit  berücksichtigt,  da  wird  die  Entscheidung  über  un- 
sere Frage  auch  von  cardinaler  Bedeutung  sein. 

Sieht  man  die  Sache  aber  noch  etwas  genauer  an,  so  muss 
man  staunen  über  die  Arglosigkeit,  mit  der  die  Forscher  vorge- 
schritten sind.  Sie  benutzen  mit  gutem  Glauben  ihre  Augen  und 
denken  nur  an  die  Gegenstände,  die  sie  sehen,  untersuchen  aber 
die  Augen  selbst  nicht,  mit  denen  sie  sehen;  oder  wenigstens 
verfahren  sie  bei  dieser  Rücksicht  mit  einer  solchen  Sorglosig- 
keit und  Gleichgültigkeit,  als  müsse  man  möglichst  schnell  über  ' 
diesen  bedauerlichen  Aufenthalt  hinwegkommen;  während  doch 
hier  das  eigentliche  Goldland  der  Philosophie  liegt,  von  dem  aus 
die  Werthe  nach  allen  Seiten  getragen  werden.  Für  eine  Lei- 
stung in  der  Wissenschaft  hält  man  es  ja  immer,  Reihen  von 
Erscheinungen,  die  früher  abgesondert  für  sich  aufgefasst  und 
deshalb  nicht  verstanden  wurden,  durch  Auffindung  einer  gemein- 
samen Wurzel  mit  andern  zusammenzufassen  und  so  die  Zahl 
der  Principien  und  Gesetze,  nach  denen  wir  die  Welt  zu  erklären 
suchen,  zu  vereinfachen.  Eine  Leistung  solcher  Art  ist  schon 
immer  beachtenswerth  und  erfreulich,  auch  wenn  sie  nur  die 
untersten  Erscheinungen  betrifift,  wie  wenn  es  gelingt,  ein  paar 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.     Kritik.  27 

ftir  getrennt  gehaltene  Arten  von  Pflanzen  oder  Thieren  auf  eine 
gemeingame  Art  oder  Gattung,,  oder  auf  einen  gemeinsamen  Ascen- 
denten  zurückzuführen.  Die  Wichtigkeit  der  Arbeit  wird  aber 
natürlich  die  höchste  Stufe  erreichen ,  wenn  es  sich  um  die 
elementaren  Begriffe  handelt,  weil  diese,  wie  die  Buchstaben  in 
allen  Wörtern  der  Sprache,  in  dem  gesammten  Umkreise  der 
Wissenschaft  immerfort  verwendet  werden  und  weil  durch  eine 
Veränderung  in  dieser  gouvernementalen  Kegion  alles  Unter- 
geordnete mit  verändert  werden  muss.  In  unserem  Falle  hier 
dreht  es  sich  nun  um  die  elementaren  Thätigkeiten  des  Geistes. 
Da  nun  alle  unsere  Erkenntnisse  im  Geiste  wurzeln,  so  muss  die 
Frage  nach  den  Thätigkeiten  des  Geistes  nothwendig  von  uni- 
versaler Bedeutung  sein  und  alle  Wissenschaften  berühren,  da 
die  Formen  des  Geistes  die  Begriffe  der  Wissenschaft  bilden. 

Die  bisherige  Eintheilung  der  Seelenvermögen. 

Nun  findet  man  seit  Kant  fast  überall  die  Eintheilung  der 
Seelenvermögen  in  Gefühl,  Begehren  und  Erkenntnis,  und  es  dreht 
sich  zunächst  um  die  Frage,  ob  Gefühl  und  Begehren  wirklich 
von  einander  zu  trennen  sind.  Zur  Trennung  glaubte  man 
sich  veranlasst  zu  sehen,  weil  man  bei  dem  Willen  oder  dem 
Begehren  und  Verabscheuen  immer  an  einen  Impuls,  einen  Stoss, 
der  eine  Bewegung  hervorruft,  dachte.  Man  stellte  sich  deshalb  den 
Willen  als  das  active  Princip  vor,  worin  die  Initiative  der  Be- 
wegung oder  die  Spontaneität  der  Seele  liege,  und  setzte  ihm 
das  Erkennen  als  das  receptive  Princip  gegenüber,  da  vnr  in 
dem  sinnlichen  Empfinden  und  Wahrnehmen  und  den  höheren 
Functionen  des  Denkens  von  den  äusseren  Gegenständen  und 
ihrer  Einwirkung  auf  uns  abhängig  zu  sein  scheinen  oder,  wie 
Aristoteles  dies  ausdrückte,  da  wir  Wahres  oder  Falsches  denken, 
wenn  wir  die  Vorstellungen  verknüpfen  oder  trennen,  jenachdem 
die  ihnen  entsprechenden  Dinge  in  der  Wirklichkeit  verknüpft 
oder  getrennt  sind.  Das  Gefühl  aber  schien  unmittelbar  keine 
Bewegung  auszuüben,  sondern  ein  Zustand  von  Lust  oder  Schmerz 
zu  sein  und  deshalb  auch  nicht  unmittelbar  eine  Erkenntniss  von 
Gegenständen  zu  enthalten,  so  dass  man  drei  Functionen  des 
Geistes  oder  der  Seele  trennen  zu  können  meinte,  von  denen  die 
eine  receptiv,  die  andere  spontan  oder  wenigstens  activ  wäre, 
während  die  dritte  entweder  einen  eigenthümlichen  Mittelzustand 

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J 


28  Definition  der  Religion. 

oder  eine  ursprüngliche  Indifferenz  der  beiden  anderen  bildete, 
wie  sich  dies  letztere  Schleiermaclier  bei  seiner  Theorie  der  Re- 
ligion gedacht  hatte. 

Am  Wunderlichsten  hat  Herbart  über  diese  Dinge  geschrie- 
ben. Denn  obwohl  dieser  Philosoph  den  Kaum  und  die  Zeit  aus 
dem  Gebiete  des  Seins  streicht,  so  beruht  doch  seine  ganze 
Theorie  der  Seele  auf  räumlichen  und  zeitlichen  Bestimmungen. 
Wenn  man  deshalb  seine  Erklärungen  von  dem  Sinken  und  Auf- 
streben der  Vorstellungen,  von  den  Wölbungen  und  Zuspitzungen 
derselben,  von  dem  Sich-einander-Drticken  und  Verschmelzen,  von 
den  Geschwindigkeiten  u.  s.  w.  liest  und  die  Begehrungen  und 
Geftlhle  und  Affecte  in  diesen  räumlich-zeitlichen  und  Bewegungs- 
Verhältnissen  der  Vorstellungen  „sitzen*"  sieht:  so  muss  man  mit 
einigem  Erstaunen  fragen,  ob  denn  Wollen  und  Geflihl  gar  nichts 
Wirkliches  sein  sollen,  da  sie  doch  in  dem  Nichtseienden  ihren 
Sitz  erhalten?  Und  zweitens  wenn  sie,  wie  es  doch  scheint, 
ebensogut  wie  die  Vorstellungen  etwas  Wirkliches  sind,  was  sie 
denn  an  sich  selbst  und  qualitativ  nach  seiner  Psychologie  sein 
sollen,  da  sie  doch  eben  keine  Vorstellungen  sind,  auf  welche 
er  gleichwohl  Alles  in  der  Seele  zurtickfllhrt  Und  drittens, 
welche  von  beiden  Annahmen  eigentlich  in  Herbart's  Systeme 
gelten  solle,  die  metaphysische,  die  den  Raum  und  die  Zeit 
psychologisch  erklärt,  oder  die  psychologische,  die  den  Ranm 
und  die  Zeit  als  metaphysische  Wirklichkeit  voraussetzt,  um 
überhaupt  etwas  erklären  zu  können?  Herbart's  ganze  Philo- 
sophie besteht  so  bloss  aus  zusammenhangslosen  Aphorismen,  die 
man  nie  zusammenbringen  darf,  wenn  sie  sich  nicht  wie  Feuer 
und  Wasser  gegen  einander  benehmen  sollen. 
Das  Erkennt-  ^^^  ^^*  *^^^  crstcns  Icicht  cinzuschen,  dass  der 

nistyermögen  Gcgcusatz  vou^  Reccptivität  uud  Spontaneität,  den  man 
***  ceptw.  ^  ^^^  Scheidung  von  Erkenntniss  und  Begehren  herbeizog, 
mit  der  Beobachtung  und  Auffassung  der  Thatsachen 
nicht  stimmt.  Denn  die  Erkenntniss  wäre  nur  dann  ein  receptives 
Vermögen  und  eine  receptive  Thätigkeit,  wenn  der  Inhalt  der  Er- 
kenntniss, d.  h.  die  empirische  und  speculative  Wahrheit 
schon  draussen  vorhanden  wäre,  wie  dies  z.  B.  bei  demVer- 
hältniss  von  Lehrer  und  Schüler  sich  wirklich  findet,  da  der  Lehrer 
die  Wahrheit,  welche  er  lehrt,  schon  erkennt  und  der  Schüler  sie  re- 
cipirt  Wie  aber  ist  dies  bei  unserer  Erkenntniss  der  Natur?   Die 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.    Kritik.  29 

Idealisten^  and  so  anch  Trendelenbnrg,  haben,  um  ihre  Thesis  zu 
halten,  die  poetische  Wendung  gebraucht,  dass  sie  eine  geheimniss- 
volle  Idee  oder  Vernunft  in  den  Dingen  als  Urbild  annahmen,  wel- 
ches vom  Menschen  bloss  nachgebildet  und  recipirt  würde.  Sie 
haben  sich  auf  die  Sprache  berufen,  welche  ein  Nach-Denken 
fordert,  um  die  schon  von  Gott  oder  der  Natur  vorgedachte  Wahr- 
heit zu  finden.  Allein  dies  ist  Poesie  und  gehört  nicht  in  die 
Wissenschaft. 

Gehen  wir  kurz  alle  Stufen  der  Erkenntniss  durch!  Bei  der 
untersten  Stufe,  nämlich  der  Sinneserkenntniss,  zeigt  sich  gleich, 
dass  die  Empfindungen  (die  Farben,  Töne,  Gerüche  u.  s.  w.)  das 
erkannte  Object  selber  sind,  welches  ausser  der  empfindenden 
Seele  gar  nicht  existirt,  also  nicht  von  aussen  her  in  uns  herein- 
genommen werden  könnte.  Aber  auch  zweitens  die  complexen 
Anschauungsbilder  der  Dinge  und  der  Vorgänge  isind  draussen 
nicht  vorhanden,  sonst  müsste  die  Wirklichkeit  der  nackte  Wider- 
spruch sein,  wenn  sie  allen  perspectivischen  Anschauungsbildem 
und  subjectiven  Vorstellungen  entsprechen  sollte.  Gehen  wir  zu 
der  intellectualen  Stufe  der  Erkenntniss  über,  so  müssten  auch 
die  Resultate  des  Rechnens,  die  Logarithmen,  die  Decimalstellen, 
und  die  Gesetze  der  Physik  draussen  vorhanden  sein.  Wenn 
ich  ftlnf  Finger  zähle,  so  müsste  ausser  den  Fingern  auch  die 
Fünf  ein  räthselhaftes  Dasein  draussen  besitzen,  damit  ich  diese 
Erkenntniss  von  Aussen  recipiren  könnte.  Ebenso  müsste  die 
Ehre,  das  Recht  u.  s.  w.  ausser  dem  Geiste  mysteriös  und  poe- 
tisch irgendwo  im  Lande  hausen,  um  mich  zur  bloss  recipirenden 
Erkenntniss  anzutreiben.  Kurz,  man  sieht,  dass  diese  Rede  keine 
wissenschaftliche  Bedeutung  hat,  d.  h.  dass  sie  nicht  wahr  ist 

Man  könnte  aber  zur  Vertheidigung  der  Thesis  noch  die 
Analogie  beibringen,  dass  die  Wahrheit,  welche  wir  durch  das 
Erkenntnissvermögen  recipiren  sollen,  in  Gott,  wie  in  dem  Lehrer, 
vorhanden  sei  und  dass,  wie  dieser  durch  physische  Zeichen, 
d.  h.  durch  Worte  oder  Schrift,  seine  Erkenntniss  vermittelt,  so 
auch  Gott  die  ganze  Natur  als  sein  Buch  der  Welt  benutzte 
und  dadurch  docirte.  Diese  schöne  Vergleichung  würden  wir 
mit  Vergnügen  annehmen,  daraus  aber  eine  für  den  Defendenten 
der  Thesis  verdriessliche  Selbstwiderlegong  ableiten;  denn  wie 
in  den  physischen  Worten  des  Lehrers  oder  in  den  Lettern  des 
Buches  noch   keine   Erkenntniss  liegt,    welche  der  Hörer  oder 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


30  Definition  der  Religion. 

der  Leser  vielmehr  erst  durch  seine  eigene  Erkenntnissarbeit 
in  sich  erzeugen  muss,  so  läge  dementsprechend  auch  in  der 
ganzen  Welt  als  dem  blossen  Vermittelungsworte  Gottes  keine 
Wahrheit  und  Erkenntniss,  die  man  recipiren  könnte,  sondern 
diese  müsste  erst  in  dem  Erkennenden  durch  seine  Activität 
hervorgebracht  werden. 
Du  Begehren  Ich  wciss  uuu  wohL  dass  solche  Eateeorien  wie 

ist  nicht  .    .  JA..  X 

spontan.  Keccptivität  Und  ActiYität  jungen  Leuten  ganz  aus- 
nehmend gefallen,  wenn  sie  damit  nur  irgend  etwas  machen 
können,  und  dass  sie  sich  daher  die  brillante  Unterscheidung 
von  Erkennen  und  Wollen  kaum  freiwillig  werden  nehmen  lassen. 

Wenn  wir  deshalb  auch  die  Eine  Redoute  genügend  zer- 
schossen haben,  so  werden  sie  sich  in  die  andere  flüchten  und 
sich  noch  immer  sicher  genug  fühlen,  da  das  Begehren  oder  der 
Wille  doch  di^  Activität  und  Spontaneität  des  Menschen  offen  an 
den  Tag  legt;  denn  von  welcher  andern  Ursache  sollten  wohl 
die  Handlungen  nnd  die  Umgestaltungen  der  Dinge  ausgehen, 
als  allein  von  dem  selbstherrlichen  Willen,  der  das,  was  noch 
nicht  ist,  ins  Dasein  ruft,  während  die  Erkenntniss  das,  was 
schon  ist,  aufnimmt  und  sich  zu  eigen  macht. 

Unsere  Aufgabe  muss  also  sein,  nachzuweisen,  erstens,  dass 
der  Wille  oder  das  Begehrungsvermögen  ebenso  wie  die  Erkennt- 
niss von  einem  vorher  Gegebenen  bedingt  ist,  und  zweitens,  dass 
die  Erkenntnisskraft  ebenso  etwas  Neues  in's  Dasein  ruft  oder 
Daseiendes  umgestaltet.  Der  letztere  Nachweis  ist  nun  z.  B. 
sofort  geliefert,  wenn  uns  der  erstere  Nachweis  gelingt;  denn 
es  würde  dadurch  ja  etwas  Neues,  nämlich  eine  neue  Erkennt- 
niss in  demjenigen,  der  sie  nicht  schon  hatte,  entstehen  und 
seine  früher  daseiende  falsche  Meinung  entfernt  oder  umge- 
staltet werden.  Das  Erstere  aber  kann  gleich  an  Beispielen 
gezeigt  werden,  die  man  bloss  zu  analysiren  braucht,  um  das 
Allgemeine  herauszuheben.  Wer  wüsste  z.  B.  nicht,  dass  das  Be- 
gehren nach  einer  schönen  Frucht  nicht  von  uns  selbst  hervorge- 
bracht, sondern  durch  Erinnerung  an  einen  früheren  Genuss  in  uns 
erregt  wird.  Niemand  will  etwas  von  sich  aus,  wenn  nicht  in  den 
gegebenen  äusseren  Lebensverhältnissen  dazu  die  Veranlassungen 
und  Aufregungen  und  Anregungen  dargeboten  werden.  Wenn  wir 
uns  also  beim  Erkennen  receptiv  verhielten,  dann  sicher  ebenso 
beim  Begehren.    Wo  aber   ein  Begehren   ohne  thatsächlich   ge- 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.     Kritik.  31 

gründeten  Anlass  hervortritt,  wie  z.  B.  bei  dem  edlen  Ritter  Don 
Qnijote  de  la  Mancha,  da  weiss  man,  dass  man  mit  einem  Yer-  , 
rückten  zu  thnn  hat,  und  selbst  bei  diesem  ist  ein  äusseres 
Motiv  der  Auslösung  der  Willensenergieen  immer  vorhanden; 
denn  wenn  auch  kein  zu  bekämpfender  Riese  vorhanden  war,  so 
zeigte  sich  doch  wenigstens  eine  Windmühle. 

Es  liegt  also  auf  der  Hand,  dass  der  Gegensatz  von  Recep- 
tivität  und  Spontaneität  unbrauchbar  ist,  um  Begehren  und  Er- 
kenntniss  von  einander  zu  scheiden. 

Die  Schleiermacher'sche  Meinung  aber,  als  wenn  Das  Gefühl  ist 
das  Geffthl   ein  Zustand   der  Indifferenz   der  beiden  °**^^*  ^™*''y<*- 

nalzustftDd  der 

anderen  Seelenvermögen,  oder  ihr  Embrjonalzustand  andern  beiden 
wäre,   ist  nicht  nur  ohne   wissenschaftliche   Gründe  ^n««onen. 
vorgetragen,   sondern   auch  nachweislich   falsch.     Das    Falsche 
muss  man  wie  Unkraut  mit  seinem  Grunde  entwurzeln. 

Den  Grund  des  Schleiermacher'schen  Irrthums  kann  man 
aber  leicht  auffinden.  Das  Bewusstsein  hat  nämlich  eine  be- 
stimmte Grösse,  so  dass  es,  wie  ein  Raum,  nicht  mehr,  als  nun 
einmal  hineingeht,  fasst.  Je  stärker  und  umfangreicher  nun  ein 
Element  im  Bewusstsein  wird,  desto  mehr  andere  Elemente,  die 
sich  früher  mit  ihm  in  dem  Bewusstsein  theilten,  müssen  ver- 
drängt werden,  d.  h.  verschwinden  oder  unbewusst  werden.  So 
können  blosse  Erkenntnisse  das  Bewusstsein  allein  zu  füllen 
scheinen,  oder  blosse  Begehrungen  oder  Gefühle.  Und  bei  dem 
Gefühl  ist  es  ja  bekannt,  dass  einem,  wenn  es  sehr  heftig  ist, 
die  Besonnenheit  und  alle  Gedanken  vergehen  können.  Da  nun 
das  Gefühl,  wenn  es  aufhört  zu  wachsen,  abnehmen  muss,  so  ist 
klar,  dass  dann  auch,  allmählich  wieder  das  Denken  und  die 
Motive  zu  Handlungen  in's  Bewusstsein  treten,  so  dass  nun  der 
Schleiermacher'sche  Schein  entstehen  kann,  als  wären  diese  bei- 
den anderen  Elemente  aus  dem  mütterlichen  Boden  des  Gefühls 
herausgeboren,  was  aber  ebensowenig  wahr  ist,  als  wollte  man 
meinen,  ein  dicker  Kerl,  der  bei  einem  Gedränge  allein  die  Thür 
verstopft,  hätte  die  ihm  nachfolgenden  anderen  Personen  in  der 
Geschwindigkeit  erzeugt  Ist  das  Gefühl  aber  weniger  stark,  so 
weiss  Jeder,  dass  zugleich  mit  demselben  auch  Erkenntnisse  und 
Bewegungstendenzen  im  Bewusstsein  vorhanden  sein  können. 
Der  Irrthum  Schleiermacher's  ist  also  ebenso  erklärlich,  wie  er 
abgethan  werden  muss. 

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32  Definition  der  Beligion. 

idoionforL  Ge-         Wenn  man  nun  das  Wesen  des  Gefllhls  verstehen 
fühl  »18  unklare«  ^jn  g^  ^j^gg  zunächst  das  Idolon  fori  beseitigt  werden, 

Denken. 

wonach  aach  unklare  Erkenntnisse  als  GefUhle  gelten. 
Diese  Täuschung  der  Sprache  hat  die  Meinungen  der  Philoso- 
sophen  in  einem  erstaunlichen  Grade  beherrscht,  wenigstens  bei 
den  Deutschen.  Und  wenn  man  die  bekannte  Stelle  in  Goethe's 
Faust  nimmt  oder  Jacobi,  Sehleiermacher,  Maass,  Hegel  und  an- 
dere vergleicht,  so  sieht  man  sie  alle  als  Beute  dieser  unschul- 
digen Synonymik.  Die  Engländer  und  Franzosen  konnten  in 
dieser  Beziehung  exacter  sein,  weil  ihre  wissenschaftliche  Sprache 
auf  das  Lateinische  zurückgeht  und  in  diesem,  wie  im  Griechi- 
schen, zu  solcher  Täuschung  keine  Veranlassung  ist;  denn  die 
itd^Ti  und  affectus  sind  keine  Stdvotoi  und  cogitationes. 
Die  Platonisch-  ^^^  ^^®  Erklärung  des  Gefühls  betriflft,  so  ist 
Arintoteiiacbe  ausscrhalb  der  Herbart'schen  Schule,  deren  Resultate 
nnd^^toM».  ^^^  Gedankengänge  aber  nicht  den  wissenschaftlichen 
Anforderungen  entsprechen,  seit  Aristoteles  und  Piaton 
kein  selbständiger  Versuch  aufgekommen,  sondern  alle  modernen 
Denker  schliessen  sich,  wie  Spinoza,  eng  an  Aristoteles  an. 

Spinoza  hat  zwar  keine  Ahnung  davon,  woher  ihm  seine 
Gedanken  gekommen  sind;  aber  das  thut  nichts  zur  Sache; 
denn,  wenn  er  die  Gefühle  als  Lust  und  Schmerz  (laetitia  et 
tristitia)  scheidet  und  sie  als  die  leidenden  Zustände  bestimmt, 
in  welchen  der  Geist  zu  grösserer  oder  geringerer  Vollkommen- 
heit übergeht,  so  hat  er  zwar  in  gewohnter  Weise  die  Geschichte 
dieser  Begriffe  verhtlllt,  dennoch  aber  wird  jeder  Kundige  un- 
schwer errathen,  dass  als  letzte  Quelle  Platon's  Definition  der 
Lust  als  eines  „merklichen  Uebergangs  zum  Wesen''  und  des 
Aristoteles  „Eintreten  der  Entelechie"  hier  zu  Grunde  liegt. 
Spinoza's  Definition  verdeckt  diese  letzte  Quelle  dadurch,  dass 
er  bloss  das  Grösser-  und  Kleiner- Werden  der  Kraft  hervorhebt; 
allein  dies  ist  ein  in  die  Augen  springender  Fehler,  weil  es  sich 
dabei  um  eine  Messung  und  also  um  einen  Massstab  zur  Mes- 
sung handelte,  den  er  doch  nicht  angiebt.  Wenn  nun  der  jewei- 
lige vorhergehende  Zustand  allein  als  objectiver  Vergleichungs- 
punkt genommen  werden  sollte,  so  wäre  die  ganze  Definition 
unbewiesen;  denn  die  Summe  des  jeweiligen  individuellen  Kräfte- 
zustandes  des  Geistes  konnte  weder  zu  Spinoza's  Zeit  berechnet 
werden,  noch  kann  sie  es  jetzt.    Zweitens  sollen  die  Affecte  als 


uiyuizeu  uy  x^jv^v^ 


ö'" 


Eintheilimg  der  Functionen  der  Seele.    Kritik.  33 

Passionen  nur  bei  inadäquaten  Ideen  stattfinden  (cf.  IQ.  3),  der 
Fortschritt  zu  grösserer  Macht  könnte  also  auch  nicht  etwa  an 
den  adäquaten  Ideen  gemessen  werden,  die  dabei  nicht  vorhan- 
den sind.  Zudem  entspricht  diese  Behauptung  auch  den  That- 
Sachen  nicht,  da  z.  B.  bei  einer  Gefahr  gar  keine  Lust  entsteht, 
wenn  man  sich  die  Gründe  der  Trostlosigkeit  seiner  Lage  auch 
noch  so  exact  vorstellt,  wie  z.  B.  der  banquerotte  Kaufmann  nicht 
vergnügter  wird,  wenn  er  die  Ursachen  seiner  Verluste  bis  auf 
die  beiden  Attribute  der  Natur  reducirt 

Die  Naivität,  mit  welcher  Spinoza  die  Lehrsätze  und  De- 
finitionen, welche  ihm  wohl  gefallen,  vorträgt,  zeigt  sich  beson- 
ders in  der  hierher  gehörenden  Behauptung,  dass  jedes  Wesen 
sein  Sein  zu  erhalten  strebe,  und  es  ist  geradezu  komisch,  wie 
Spinoza  mit  der  geometrischen  Feierlichkeit  seines  Vortrags  über 
die  Abgründe  seines  Systems  hinweg  stolzirt,  da  es  ja  kein  in- 
dividuelles Wesen  und  kein  zu  erhaltendes  Sein  in  seinem  System 
geben  kann.  Es  liegt  aber  seiner  ganzen  Vorstellungsweise  un- 
bewusst  der  Platonisch-Aristotelische  Idealismus  zu  Grunde,  den 
er  durch  Aufhebung  der  Teleologie  beseitigt  hat,  ohne  zugleich 
das  mit  dahinfiiessende  Wesen  und  Sein  der  einzelnen  Dinge  auch 
aufgeben  zu  wollen.  Dass  der  Körper  des  Menschen  nach  Aufgebung 
seiner  organischen  oder  teleologischen  Einheit  keine  Einheit  mehr 
hat,  ebensowenig  wie  sein  Geist,  das  merkte  der  sogenannte  subtile 
Denker  nicht  Und  dass  statt  nach  endlosem  Fortschritt  der 
Kräfte  zu  streben  und  die  Verminderung  zu  fliehen,  der  Mensch 
vielmehr  zwischen  dem  Zuviel  und  Zuwenig  das  in  seinem  Wesen 
geforderte  organische  Mass  suchen  müsse,  wenn  er  der  Lust  und 
der  Selbsterhaltung  theilhaftig  werden  will,  das  entging  dem 
Geometer  ebensosehr,  wie  die  Einsicht,  dass  Lust  und  Schmerz 
teleologische  Bestimmungen  sind,  da  das  blosse  Grösser-  oder 
Kleiner- Werden  ja  nur  unsere  Auffassungen  und  Vergleichungen 
betrifft,  in  den  Dingen  aber,  wenn  kein  innerer  Massstab  vor- 
handen ist,  nichts  bedeutet  Spinoza's  Definition  hat  also  über- 
haupt nur  Sinn,  wenn  man  die  von  ihm  aufgegebenen  und  zu- 
gleich dennoch  im  Stillen  festgehaltenen  Platojiisch- Aristotelischen 
Begriffe  immer  hinzudenkt,  was  denn  auch  mit  zu  grosser  Gut- 
müthigkeit  die  Historiker  der  Philosophie  in  der  Regel  wirklich 
thun,  während  die  Geschichte  der  Begriffe  nicht  so  rücksichts- 
voll sein  darf. 

Teiohmüller,  Beliglonspblloftophie.  Digitiz^ll  by  VjOOQIC 


34  Definition  der  Religion. 

Der  neue  Lehrsatz. 
Wille  und  Be-  Die  Chemie  giebt  uns  herrliche  Vorbilder,  um  die 

wegung.  ^^fgabe  des  Forschers  auch  im  Gebiete  der  Specu- 
lation  vor  Augen  zu  stellen.  Wer  in  allen  früheren  Jahrhunderten 
hätte  es  auch  nur  im  Traume  ftir  möglich  gehalten,  die  Säure 
aus  der  Citrone  zu  ziehen  und  als  einen  durchsichtigen  Krystall 
flir  sich  hinzustellen!  Wie  aber  beim  Genuss  jener  Frucht  das 
Zusammengesetzte  als  einfach  betrachtet  wurde,  so  finden  wir 
uns  auch  bei  der  Auffassung  unseres  geistigen  Lebens  immerfort 
in  Illusionen  verstrickt,  indem  wir  die  in  Coordination  zusam- 
menwirkenden Functionen  für  eine  qualitative  Einheit  nehmen. 

Die  Function,  welche  fUr  uns  hier  die  grösste  Bedeutung 
hat,  ich  meine  den  Willen,  wird  bisher  von  allen  Philosophen 
und  folglich  auch  von  den  Theologen,  Juristen  und  Pädagogen 
immer  mit  dem  Bewegungsvermögen  znsammengefasst,  so  dass 
der  Wille  oder  das  Begehrungsvermögen  als  das  Bewegende  im 
Menschen  gilt.  Ich  habe  nun  schon  in  meiner  Schrift  über  das 
„Wesen  der  Liebe"  und  in  meiner  „Neuen  Grundlegung  der  Meta- 
physik^ gezeigt,  dass  Wille  und  Bewegung  zwei  verschiedene 
Dinge  sind.  Ich  kann  wollen,  ohne  dass  mein  gelähmter  Arm 
sich  bewegt.  Wäre  beides  ein  und  dasselbe,  so  würde  mit  der 
Lähmung  des  Nervenapparates  auch  der  Wille  ausgerenkt  und 
entwurzelt  sein.  Umgekehrt  finden  viele  Bewegungen  im  Körper  und 
der  Seele  statt,  die  nicht  bloss  unabhängig,  sondern  auch  gegen 
unseren  Willen  sind,  z.  B.  allerlei  zerstreuende  Zwischengedanken 
oder  traurige  Erinnerungen,  ebenso  das  Erröthen,  das  den  Men- 
schen so  verwünscht  ist,  und  das  Erblassen  und  Zittern  beim 
Schreck,  wodurch  sich  Mancher  wider  Willen  verräth.  Dass 
sich  eine  solche  Trennung  beider  Functionen  aber  nicht  so  leicht 
bei  jedem  Akte  des  Willens  oder  Begehrens  zeigen  lässt,  das  be- 
weist nichts  gegen  die  Verschiedenheit,  sondern  bestätigt  bloss 
die  Coordination  unserer  Vermögen  und  Thätigkeiten,  durch 
welche  die  logische  Chemie  ihre  Täuschungen  und  Schwierig- 
keiten findet 

Wenn  man  jedoch  das  ganze  Gebiet  der  Bewegungen  über- 
blickt, so  lässt  sich  gleich  erkennen,  dass  die  Bewegungen  all- 
mählich in  Kunstfertigkeiten  tibergefllhrt  werden,  wobei  dann 
schon  zur  Ueberraschung  einleuchten  muss,  dass  die  Künste  doch 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  i^- 


Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.  35 

nicht  die  Eigenschaften  des  Willens  an  sich  tragen  nnd  von  dem 
gesunden  Menschenverstände  nicht  als  Tugenden  oder  Laster  be- 
zeichnet werden.  Bei  der  ersten  Bewegung  der  Hand  auf  dem 
Ciavier  oder  der  Violine  wünscht  und  will  man  die  Finger  so  oder 
so  trennen  und  in  dieser  oder  jener  Reihenfolge  bewegen  und  doch 
werden  immerfort  Fehler  begangen,  d.  h.  immer  zeigt  sich  im 
Anfang,  dass  Wille  und  Bewegung  nicht  von  Haus  aus  constant 
coordinirt,  geschweige  denn  identisch  seien.  Sind  die  Bewe- 
gungen aber  erst  eingelernt,  so  kann  der  Wille  gar  nicht  so 
schnell  nachkommen,  um  den  Fingern  jedesmal  Befehle  zu  er> 
theilen,  sondern  er  muss  es  geschehen  lassen,  dass  das  geübte 
Bewegungsvermögen  für  sich  allein  arbeitet  Wenn  nun  auch 
immerhin  des  Kutschers  Wille  die  Pferde  leitet,  so  wäre  es  doch 
lächerlich  zu  sagen,  dass  der  Wagen  durch  den  Willen  des  Kut- 
schers und  nicht  durch  die  Pferde  gezogen  würde.  Die  Coordi- 
nation  von  Bewegung  und  Wille  soll  nicht  geleugnet  werden, 
aber  das  Kunsttalent,  die  Kunstausübung  und  die  Kunstfertigkeit 
sind  keine  Willensbestimmungen  und  Charaktereigenschaften. 

Man  wird  daher  gut  thun,  in  Zukunft  mit  etwas  feinerer 
Chemie  das  Bewegungsvermögen  von  dem  Begehrungsvermögen 
zu  scheiden;  denn  dass  mit  der  Coordination,  die  zur  Vermischung 
beider  geführt  hat,  nicht  einmal  eine  annehmbare  Ausrede  oder 
Entschuldigung  vorgebracht  werden  kann,  sieht  man  daraus,  dass 
ja  auch  das  Erkenntnissvermögen  zugleich  coordinirt  ist. 
Denn  ohne  sich  dies  oder  das  vorzustellen,  kann  man  ja  weder 
wollen,  noch  bewegen.  Wenn  man  weder  die  Noten  sähe,  noch 
die  Tasten  fühlte,  noch  die  Töne  hörte,  also  nicht  jedesmal  eine 
coordinirte  Erkenntnissfunction  ausübte,  so  würden  auch  die 
grössten  Künstler  ihre  künstlerischen  Bewegungen  auf  dem  Cia- 
vier nicht  mehr  ausftlhren  können,  und  doch  wird  es  Niemandem 
einfallen,  die  Sinnesperceptionen  und  Vorstellungen  für  Bewe- 
gungsacte  zu  erklären.  Also  soll  auch  der  Wille  von  dem  Be- 
wegungsvermögen abgelöst  und  chemisch  rein  für  sich  dargestellt 
werden. 

Es  handelt  sich  nun  um  die  Aufstellung  eines  neuen  i^g^y^j^  y^^ 
Lehrsatzes  in  der  Philosophie,   der  bisher  noch  nie-  wnie  und  ee- 
mals  in  den  Gesichtskreis  der  Wissenden  kam,  dessen       ^^^' 
Bedeutung  aber  elementar  und  darum  universell  ist.    Bei  dieser 
Ankündigung  fUUt  mir  natürlich  sofort  Horazens  Frage  ein:  Quid 

uiumzeu  uy  V^J  W\J>t  l^ 


36  Definition  der  Religion. 

dignum  tanto  feret  bic  promissor  hiatu?  Es  kann  aber  nicht  Pflicht 
der  Forschung  sein,  die  deutlich  erkannte  Wichtigkeit  eines  Prin- 
cips  unter  dem  schäbigen  Mantel  der  Bescheidenheit  zu  ver- 
stecken; sondern  man  soll  das  Licht  auf  einen  Leuchter  setzen, 
damit  es  leuchte  Allen,  die  im  Hause  sind.  Dieser  neue  Lehr- 
satz heisst:  Wille  und  Gefllhl  ist  dasselbe. 

Da  dieser  Satz  streng  bewiesen  werden  muss,  und  ftir  den 
Beweis  auch  die  Methode  festzustellen  ist,  so  soll  hier  einleitend 
nur  noch  einmal  an  die  Einfachheit  der  Auffindung  des  Satzes 
und  an  die  frühere  Verwirrung  des  Urtheils  erinnert  werden. 

Zunächst  also  ist  ersichtlich,  dass  dem  Willen  oder  Begeh- 
rungsvermögen  seine  sogenannte  Spontaneität  genommen  werden 
musste,  womit  dann  auch  der  Gegensatz  gegen  die  sogenannte 
Receptivität  der  Erkenntniss  verschwindet;  denn  die  bisher  von 
der  Philosophie  angenommenen  drei  Seelenvermögen,  Wille,  Ge- 
Alhl  und  Erkenntniss,  fimctioniren  eben  nur,  wenn  sie  ausgelöst 
werden,  d.  h.  wenn  eine  entsprechende  Coordination  oder  eine 
sogenannte  hinreichende  Ursache  vorhanden  ist.  Wenn  man 
daher  dem  Willen  all  sein  Reissen  und  Stossen  und  Ziehen 
nimmt,  seine  angebliche  Anstrengung  und  Energie,  sein  Ringen, 
seine  Wildheit  und  Lähmung,  und  die  ähnlichen  vermeinten 
Leistungen,  die  in  der  lateinischen  Sprache  etwa  wie  nisus,  Im- 
petus, vigor  u.  s.  w.  bezeichnet  werden  (weil  dies  nach  der  Seite 
des  Bewegungsvermögens  hingehört  und  für  den  Willen  unwie- 
derbringlich verloren  ist),  so  wird  man  durch  einen  ganz  neuen 
Anblick  überrascht.  Die  GefUhle  nämlich,  die  man  früher  von 
dem  bewegenden  Willen  getrennt  hatte,  fangen  plötzlich  an  sich 
zu  nähern  und  sich  ganz  von  selbst  und  unauflöslich  mit  dem 
von  der  Bewegungs-IUusion  befreiten  Willen  zu  vereinigen. 

Welche  grenzenlose  Unklarheit  aber  über  diese  Fragen  bis- 
her geherrscht  hat,  kann  man  gleich  erkennen,  wenn  man  die 
erschienenen  Psychologien  durchsieht.  Maas  z.  B.  ist  nicht  ein- 
mal im  Stande,  die  Empfindungen  der  Sinne  (Gefllhl  als  Tast- 
sinn) von  den  Geftlhlen  als  Affekten  abzusondern,  und  geräth 
dann  in  noch  grössere  Verlegenheiten,  weil  er  die  Gefühle  von 
dem  Willen  trennen  zu  müssen  glaubt,  was  ihm  denn  auch  nicht 
gelingt.  Herbart  und  seine  Schule,  Waitz,  Volkmann,  Drobisch, 
Nahlowsky  u.  A.  trennen  die  Gefühle  von  dem  Wollen  ganz 
rathlos  und  vermischen  das  Wollen  mit  dem  Bewegungsvermögen 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.  37 

80  anachtsam,  dass  sie  fUr  die  E  an  st  demgemäss  gar  keine 
Seelenfanction  mehr  übrig  behalten.  So  habe  ich  bisher  nirgends 
eine  wissenschaftlich  befriedigende  Behandlang  dieser  Frage  vor- 
gefanden  and  sehe  in  der  Vemachlässigang  dieser  wichtigsten 
elementaren  Erkenntniss  die  Ursache,  weshalb  aach  die  Religions- 
philosophie nicht  za  einer  festen  Grandiegang  gelangen  konnte. 

Die  Kandigen  aaf  dem  Gebiete  der  Philosophie 
werden  nan  zwar  die  angeheare  Tragweite  dieses  ^*jj"^*°^^j*^^ 
neuen  Lehrsatzes  überblicken,  doch  möge  es  mir  er-  und  schönen. 
laabt  sein,  selbst  einige  der  wichtigsten  Folgen  vor 
Aagen  za  stellen.  So  erinnere  ich  an  die  völlige  Rathlosigkeit 
der  Alten  in  Betreff  der  Principien  and  Urkategorien,  die  sie 
als  geheinmissvoUe  Eigenschaften  oder  Wesenheiten  von  dem 
Sein  selbst,  von  der  Sabstanz  oder  Gott  aassagten,  nämlich  be- 
sonders die  Einheit,  die  Wahrheit,  das  Gate.  Diese  Begriffe 
bildeten  nicht  bloss  für  Aagastin,  sondern  aach  ftir  alle  moderne 
Idealisten  ein  blindes  Fatum,  indem  gerade  die  principielle  oder 
goavemementale  Region  der  Yemanft  mit  der  modernen  Drei- 
einigkeit des  Gaten,  Schönen  and  Wahren  gewissermassen  nicht 
vernünftig  war  and  über  den  Ursprang  and  Sinn  dieser  Ideen 
keine  Rechenschaft  gegeben  werden  konnte.  Erst  durch  den 
neuen  Lehrsatz  löst  sich  dasRäthsel;  denn  in  diesen  Ideen  kann 
auf  keine  Weise  ein  metaphysischer,  logischer,  physischer,  oder 
überhaupt  blosä'  theoretischer  Inhalt  aasgefunden  werden,  da  sie 
nichts  Sachliches  an  und  ftir  sich,  sondern  als  Werthbestimmun- 
gen  nur  Beziehungen  zum  Gefühl  ausdrücken. 

Für  die  Idee  des  Schönen  hat  man  diese  Beziehung  in 
mehreren  Schalen  erkannt,  aber  nicht  durchftihren  können,  weil 
man  die  zugeordnete  Auflösung  der  andern  Idee  nicht  beherrschte. 
Bei  der  Idee  des  Guten  sind  seltsamer  Weise  nicht  die  besten 
Köpfe,  wie  Piaton,  sondern  nur  die  unspeculativsten,  die  Sensna- 
listen,  Hedoniker  und  Materialisten  auf  dem  rechten  Wege  der 
Erkenntniss  gewesen.  Weil  ihre  Begabung  aber  zu  gering  war, 
so  blieben  sie  auf  der  untersten  perspectivischen  Stufe  des  Ge- 
ftihls  stehen  und  modellirten  alle  Dinge  in  der  Welt  nach  dem 
Belieben  des  angenehm  oder  unangenehm  afficirten  Subjects. 
Wären  sie  zu  der  objectiven  Stufe  fortgeschritten,  so  hätten  sie 
auch  die  allgemeinen  und  darum  logisch  formulirbaren  Normen 
des  Gewissens  anerkennen  müssen,  wären  dann  aber  mit  dieser 

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38  Definition  der  Religion. 

Anerkennung  dem  Idealismas  in  die  Arme  gesunken ,  wovor  es 
ihnen  graute. 

Der  Grund  aber,  weshalb  man  weder  in  der  Aesthetik,  noch 
in  der  Ethik  und  Rechtslehre  über  die  principiellen  Schwierig- 
keiten hinwegkonmien  konnte,  lag  wesentlich  in  der  Idee  der  Wahr- 
heit,  die  nicht  den  coordinirten  Ausdruck  gefunden  hatte  und 
darum  als  ein  auch  bei  Tageslicht  erscheinendes  Gespenst  die 
Combinationen  der  Denker  lähmte;  denn  wenn  etwas,  so  scheint 
sicherlich  die  Wahrheit  immer  unabhängig  von  aller  Willkür  und 
allem  subjectiven  Gefühl  zu  bleiben  und  daher,  als  allein  fest, 
auch  alles  Andere  von  sich  aus  normiren  zu  können;  die  Wahr- 
heit aber  führte  in  das  bloss  theoretische  Gebiet  der  Logik,  Ma- 
thematik und  Physik,  mit  deren  Gesetzen  man  die  ethische  und 
ästhetische  Welt  doch  nicht  regnliren  konnte.  Also  lag  ein  Bann 
auf  der  Forschung.  Nun  muss  aber  in  Folge  unseres  Lehrsatzes 
dies  Gespenst  des  falschen  Wahrheitsbegriffs  plötzlich  verschwin- 
den; denn  es  hat  kein  Recht  und  kein  Licht  mehr  in  dem  Gebiete 
der  Erkenntniss.  Die  Idee  der  Wahrheit  ist  die  Erkenntniss 
keines  Gegenstandes  und  auch  nicht  die  Erkenntniss  der  Er- 
kenntniss; denn  einen  gewissen  Inhalt  der  Erkenntnissthätigkeit 
bilden  allgemein  gefasst  auch  alle  sogenannten  Irrthümer,  also 
auch  die  Träume  und  Phantasien,  weil  dergleichen  nur  vorkom- 
men kann,  wo  ein  Erkenntnissvermögen  vorhanden  ist;  es  han- 
delt sich  hier,  um  etwas  als  Erkenntnissinhalt^  zu  bezeichnen, 
überhaupt  bloss  um  die  Frage,  ob  es  als  Vorstellungsverknüpfimg 
wirklich  im  Bewusstsein  vorkomme. 

Wie  sollen  wir  diese  Formen  nun  als  wahre  und  falsche 
unterscheiden?  und  was  insonderheit  ist  demgemäss  die  Wahr- 
heit? Gönnen  wir  dem  früheren  Standpunkte  alle  Freiheit  und 
erlauben  wir  seinen  Vertretern  sogar  das  Unerlaubte,  um  sie 
nachher  bereitwilliger  zu  finden,  bei  uns  einzukehren,  wenn  sie 
bei  sich  selbst  am  Ende  ihres  Weges  die  Thttre  verschlossen 
sehen.  Lassen  wir  jetzt  also,  ohne  Einspruch  zu  erheben,  die 
Erkenntniss  ihre  Erkenntnissgegenstände  ordnen  in  solche  Gruppen^ 
die  sich  einander  widersprechen,  und  in  solche,  die  sich  nicht 
widersprechen.  Ist  in  der  letzteren  Gruppe  nun  die  Idee  der 
Wahrheit  gegeben,  wie  man  meint?  Giebt  es  innerhalb  der  bloss 
vorstellenden  Thätigkeit  überhaupt  irgend  einen  Grund,  um  diesen 
oder  jenen   Vorstellungsinhalt    einem    beliebigen  andern   vorzu- 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.  39 

ziehen?  sich  mit  demselben  mehr  za  beschäftigen  nnd  ihn  als 
wahr  jenem  andern  als  falschen  gegenüberzustellen?  Sind  nicht 
vielmehr  die  widerspruchslosen  Vorstellungsinhalte  von  den  sich 
widersprechenden  bloss  so  verschieden,  wie  die  Vorstellung  einer 
Pflanze  von  der  Vorstellung  einer  andern  Pflanze,  etwa  wie 
Laubholz  von  Nadelholz  1  Woher  kommt  dieser  eigenthtimliche 
Beigeschmack,  den  die  Idee  der  Wahrheit  noch  ausserdem  hat 
und  der  es  mit  sich  bringt,  dass  die  Wahrheit  immer  noch  etwas 
mehr  bedeutet,  immer  noch  ein  anderes  Element  in  sich  enthält, 
als  den  blossen  theoretischen  Charakter  der  Widerspruchs- 
losigkeit  der  auf  Grund  der  Erkenntnissquellen  gebil- 
deten Urtheile? 

Auf  diese  Fragen  wissen  wir  jetzt  die  Antwort;  denn  wenn 
wir  das  GeAihl  aus  dem  Geiste  eliminirten,  so  würde  sofort  alle 
intellectuelle  Geistesthätigkeit  gleichgültig  sein  und  keine  Form 
könnte  vor  einer  anderen  Form  bevorzugt  oder  höher  ge- 
achtet und  ausgewählt  werden.  Mithin  gäbe  es  dann  keinen 
Unterschied  mehr  zwischen  Wahrem  und  Falschem.  Sobald  wir 
aber  das  Gefühl  wieder  in  den  dreistimmigen  Chor  der  geistigen 
Functionen  einrücken  lassen,  so  muss  sich  auf  der  Stelle  der  in- 
tellectuelle Inhalt  dem  werthgebenden  Gefühl  coordiniren.  Es 
zeigt  sich  nun,  dass  die  Widersprüche  und  das  Unbegründete 
dem  Gefühle  nicht  behagen,  dass  sie  keine  Gnade  vor  seinem 
Auge  finden,  dass  dagegen  die  Einstimmigkeit  der  Gedanken 
und  das  Wohlbegründete  mit  Wohlgefallen  und  Befriedigung  auf- 
genommen wird.  Das  Bewusstsein  dieser  Coordination  der  gei- 
stigen Vermögen  ist  die  Idee,  welche  wir  die  Wahrheit  nennen, 
und  um  des  zugeordneten  Gefühles  willen  allein  kommen  wir 
überhaupt  dazu,  uns  zu  bemühen,  Widerspruchslosigkeit  und  Be- 
gründung zu  suchen  und  die  oben  angeführte  Gruppirung  alles 
Gedankeninhalts  vorzunehmen,  weil  sonst  kein  Motiv  vorhanden 
wäre,  auf  diesen  Unterschied  zu  achten,  weshalb  wir  eben  jene 
Eintheilung  schon  als  unerlaubt  hätten  untersagen  können,  da 
ohne  Motiv  nichts  geschehen  kann.  Denn  was  hindert  uns,  weiter 
zu  gehen  und  alles  Denken  der  Hegemonie  des  GefUhls  zu  un- 
terwerfen ?  Ohne  das  Gefühl  würde  das  Denken  ja  keinen  Schritt 
thnn,  da  ohne  Werthunterscheidung  jeder  Gedanke  dem  andern 
völlig  gleichwerthig  wäre  und  alle  Gedanken  überhaupt  gar  keinen 
Werth  hätten,  sondern  wie  ein  todter  Hund  unbeachtet  und  re- 

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40  Definition  der  Religion. 

gangslos  bleiben  würden.  So  zeigt  sich  das  Gefühl  in  seiner 
Coordination  sowohl  znr  Bewegung  des  Denkens  als  zum  ideellen 
Inhalte  der  Gedanken  als  die  massgebende  Function',  ohne  die 
wir,  weil  sie  den  terminus  relationis  enthält,  keine  Idee  der 
Wahrheit  haben  würden,  wie  auch  die  sogenannte  Gewissheit 
(certitudo)  nur  die  verschiedenen  Stufen  der  Befriedigung  des 
Gefühls  ausdrückt.  Alles  dies  ist  anderswo  in  ganzem  Zusam- 
menhange darzulegen,  hier  würde  es  ein  Fehler  der  Dialektik 
sein,  diese  Zusammenhänge  alle  zu  entwickeln,  da  die  Aufmerk- 
samkeit nur  auf  einen  Punkt,  auf  unser  Problem  gesammelt 
werden  soll. 

Nun  hat  allerdings  hier  und  da  einmal  dieser  oder  jener 
mehr  dilettantische  Denker  nicht  umhin  gekonnt  zu  bemerken, 
dass  der  Wille  auch  im  Denken  eine  Rolle  spielt  und  dass  z.  B- 
die  grösseren  zusammenhängenden  Untersuchungen  nicht  möglich 
wären,  wenn  nicht  ein  stranmier  Wille  die  Gedanken  zusammen- 
hielte; allein  Keiner,  soweit  ich  die  Litteratur  kenne,  hat  ein- 
gesehen, dass  dieser  sogenannte  Wille  nichts  anderes  als  das 
Gefühl  ist.  Sehr  nahe  hätte  es  doch  Schopenhauer  liegen  müssen, 
bei  seiner  Willensphilosophie  zu  dieser  Einsicht  zu  kommen; 
er  ist  aber  himmelweit  davon  entfernt  geblieben,  wie  man  z.  B. 
daraus  sieht,  dass  er  die  Idee  des  Schönen  in  allen  Künsten 
auf  die  willenlose  Anschauung  begründet,  als  wenn  eine  An- 
schauung schön  und  also  werthvoU  sein  könnte,  wenn  der  allein 
werthgebende  Wille  eliminirt  wäre!  Wer  würde  denn  die  Künste 
ausüben,  und  wer  sich  bemüssigt  sehen,  die  Kunstwerke  zu  be- 
trachten oder  zu  kaufen,  wenn  kein  Wille  auf  diese  Anschauun- 
gen gerichtet  wäre!  Schopenhauer  steckt  eben  noch  bis  zum 
Halse  in  dem  romantischen  Intellectualismus,  den  er  von  Kant, 
Fichte  und  Schelling  eingesogen  hat.  Dass  aber  auch  die  Idee 
der  Wahrheit  nicht  innerhalb  des  theoretischen  Gebietes  allein 
verstanden  werden  kann,  das  ist  bis  jetzt,  soweit  ich  sehe,  noch 
von  Niemand  geahnt,  weil  man  als  Tradition  überall  die  Tren- 
nung von  Erkenntniss,  Wille  und  Geftlhl  vorfand  und  in  Bezug 
auf  die  letzteren  beiden  freilich  wohl  einen  sachlichen  Kitzel 
verspürte,  das  Verhältniss  zu  prüfen,  dennoch  aber  immer  bloss 
versuchte,  beides  in  irgend  eine  Gausalverknüpfung  zu  versetzen 
und  etwa  den  Willen  aus  dem  Gefühle  herzuleiten,  ohne  zu 
merken,   dass  man  keinem  besseren  Ziele  zusteuerte,  als  wenn 

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Eintbeilung  der  Functionen  der  Seele.  41 

man  Friedrich  den  Grossen  endlich  als  Vater  des  alten  Fritze 
ausfindig  zn  machen  hoffte. 

Die  Methode,  die  Identität  von  Wille  und  Gefühl  zar  Methode. 
zn  zeigen,  mnss  zwei  Wege  einschlagen;  denn  erstens 
mnss  die  Analyse  der  Function,  die  man  allgemein  als  Willen 
bezeichnet,  nach  Absonderung  der  nicht  wesentlichen  Be- 
ziehungen auf  denjenigen  Begriff  führen,  dessen  Umfang  allge- 
mein dem  Gefühl  eingeräumt  wird;  und  zweitens  muss  ebenso 
umgekehrt  synthetisch  gezeigt  werden,  dass,  wenn  wir  zu  dem 
Gefühl  gewisse  nicht  wesentliche  Beziehungen  desselben  hin- 
zunehmen, dann  auch  ftlr  den  gemeinen  Menschenverstand  der 
Charakter  des  Willens  hervortritt. 

Den  Willen  analysiren  wir  am  besten  in  drei  Stufen,  als 
sogenannten  Trieb,  als  unüberlegtes  leidenschaftliches  Begehren 
und  drittens  als  völlig  besonnene  und  vernünftig  freie  Ent- 
Schliessung. 

Die  Analyse  des  sogenannten  Willens  führt  auf 
das  Gefühl. 

Allgemein  geht  man,  um  die  Natur  des  Willens  d  Ente  stafe 
zu  erklären,  von  den  höheren  Formen  des  Willens  auf  ^^  Begehrene. 
die  untersten  Formen  zurück  und  glaubt  diese  in  den  Trieben 
vorzufinden.  Als  einen  der  niedrigsten  Triebe  fasst  man  z.  B. 
den  Nahrungstrieb  auf.  Dieser  soll  nun  den  Willen  oder  das 
Streben  und  Begehren  nach  Nahrung  enthalten.  Da  nun,  wie 
man  einsieht,  die  jungen  Hunde  oder  auch  die  menschlichen 
Säuglinge  nicht  schon  wissen  oder  ahnen,  dass  ihrem  Körper 
Milch  zuträglich  sein  würde  und  dass  diese  Flüssigkeit  durch 
Saugen  an  dem  Mutterkörper  herausgezogen  und  in  ihren  Magen 
durch  Schlucken  befördert  werden  könnte,  so  nimmt  man,  um 
die  Wunderlichkeit  einer  solchen  vorauszusetzenden  Erkenntniss 
zn  vermeiden,  einen  Instinct  an,  d.  L  ein  Wissen  und  Wollen 
ohne  Wissen  und  Wollen.  Dieser  Widerspruch  giebt  natürlich 
keine  Erklärung,  sondern  stempelt  die  unbegriffene  That- 
Sache  bloss  lexikalisch  durch  ein  Wort 

Sobald  man  nun  meinem  Bathe  folgt  und  den  Willen  von 
der  Bewegung  trennt,  so  ist  das  Problem  des  Nahrungstriebes 
gleich  aufgelöst  Denn  der  Körper  ist  ein  Coordinatensystem  von 
Bewegungen    und    Bewegungsorganen;    wird    ein   Muskel    an- 

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42  Definition  der  Religion. 

gespannt,  so  kommt  ein  Knochen  in  Bewegung  and  jede  Inner- 
virung  zieht  Maskelthätigkeiten  nach  sich  u.  s.  w.  Wie  nun  der 
Thorax  ganz  von  selbst  za  athmen  an&ngt,  sobald  die  Laft  in 
die  Bäume  der  Lunge  eindringen  kann,  was  wieder  durch  andere 
Vorgänge  vermittelt  ist,  so  bilden  auch  die  Bewegungen  des 
Saugens  und  Schluckens  und  die  Digestionsbewegungen  ein  ganz 
fertig  vorbereites  System  von  Coordinationea  Und  dieses  System 
kommt  gleich  in  Gang,  möge  man  Zuckerwasser,  Fenchelthee 
oder  Muttermilch  zwischen  die  Lippen  schieben.  Bei  diesem 
ganzen  Bewegungsapparate  und  seinen  Functionen  ist  also  vom 
Willen  keine  Rede. 

Wo  steckt  nun  der  Wille?  Man  würde  ihn  ganz  vergeblich 
suchen,  wenn  man  zu  der  Idee  von  Bedtlrfiuss  und  Nahrung  und 
ihrem  teleologischen  Zusammenhange  seine  Zuflucht  nehmen 
wollte;  denn  der  Säugling  weiss  nichts  davon.  Aliein  alles  ist 
gleich  in  Ordnung,  wenn  man  den  Willen  als  Gefühl  fasst  und 
in  dem  Geschmack  sucht;  denn  jenachdem  das  Eingeführte 
schmeckt  oder  widerlich  ist,  entstehen  die  Schluck-  oder  Brech- 
bewegungen. Nun  brauchen  wir  die  Mystik  des  Instincts  mit 
seinen  sich  selbst  widersprechenden  Bestimmungen  nicht  mehr, 
da  wir  sehen,  dass  der  uns  wohlbekannte  Geschmack,  der  auch 
in  dem  kitigsten  Menschen  nicht  kluger  wird  als  er  von  Anfang 
war,  mit  dem  Bewegungssystem  unseres  Digestionsapparates 
ohne  alles  Streben  und  Stossen  in  Coordination  steht  Das  Ge- 
ftlhl  ist  der  Wille,  der  gar  nicht  weiss,  dass  er  etwas  Vernünftiges 
will  oder  thut  Ebenso  wie  mit  dem  Nahrungstrieb  verhält  es 
sich  mit  dem  Geschlechtstrieb  und  allen  tibrigen  Trieben. 

Wir  kommen  jetzt  an  die  Stufe  des  unüberlegten 
2)  Zweite  stufe  leidenschaftlichen  Begehrens,  möge  es  in  Handlungen 
'  des  Hasses,  Zorns,  Neides,  der  Liebe,  Schadenfreude, 
Bache  u.  s.  w.  erscheinen.  Bei  allen  Handlungen  dieser  Art 
wird  ein  Wille  als  Ursache  angenonunen.  Dieser  Wille  setzt 
aber  inmier  gewisse  Beziehungspunkte  voraus,  ohne  welche  er 
nicht  functionirt  Man  nennt  dieselben  die  Motive.  Diese  Motive 
sind  aber  nicht  Wille;  denn  sie  enthalten  blosse  Vorstellungen, 
d.  h.  ideelles  Sein.  Der  Wollende  muss  sich,  ehe  er  wollen 
kann,  etwas  vorstellen,  z.  B.  Worte  oder  Handlungen  anderer 
Menschen.  Der  Dieb  muss  Werthsachen  sehen  und  sich  vor- 
stellen, der  Neidische  Glttcksznstände  eines  Andern,  der  Zürnende 

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Eintheilnng  der  Functionen  der  Seele.  43 

mnss  beleidigende  Worte  gehört  haben.  Da  nun  alle  diese  Vor- 
stellungen der  Erkenntnissfunction  angehören,  so  sind  sie  offenbar 
nicht  dem  Willen  als  einer  von  dem  Erkenntnissvermögen  ver- 
schiedenen Function  zuzuschreiben  and  mithin  nicht  wesent- 
lich für  den  Willen,  sondern  nur  Bedingungen  seiner  Auslösung; 
denn  wenn  die  Peitsche  auch  die  Pferde  antreibt,  so  ist  sie 
doch  kein  wesentlicher  Theil  des  Pferdes, 

Ebensowenig  gehört  zweitens  die  Handlung  oder  die  aus 
dem  Willen  folgende  Bewegung  zum  Willen  selbst,  wie  wir  das 
schon  oben  (S.  34)  erörtert  haben. 

Als  Wille  ist  also  ausschliesslich  die  zwischen  der  aus- 
lösenden Vorstellung  einerseits  und  der  Bewegung  andererseits 
liegende  Function  zu  bezeichnen.  Was  ist  nun  diese  Function? 
Um  dies  ganz  klar  und  deutlich  zu  erkennen,  müssen  wir  uns 
die  sogenannten  Motive  oder  die  auslösenden  Vorstellungen  zum 
Bewusstsein  bringen.  Othello  z.  B.  stellte  sich  die  Handlungen 
der  Desdemona  vor.  Er  fLLhlte  dabei  einen  Schmerz  in  seinem 
Gemüthe,  möge  man  dies  Geftahl  Eifersucht  oder  Entrüstung 
nennen;  einerlei,  er  wollte  die  vorgestellten  Dinge  also  nicht. 
Macbeth  stellte  sich  vor,  wie  es  wäre,  wenn  er  die  Krone 
erhielte,  und  es  füllte  sich  seine  Seele  mit  Lust:  das  wollte 
er  also.  Er  stellte  sich  die  Hindernisse  und  Gegner  vor  und 
empfand  tiefe  Unlust:  diese  Umstände  also  wollteer  nicht  Was 
ist  der  Wille  bei  allen  den  Vorstellungen,  die  durch  ihre  Seele 
gehen,  anders,  als  der  Beifall  oder  die  Lust,  die  bei  einigen 
Vorstellungen  eintritt,  und  das  Missfallen  oder  die  Unlust,  die 
bei  andern  Vorstellungen  ausgelöst  wird.  Jenachdem  nun  diese 
Gefiihle  im  Augenblick  functioniren,  coordiniren  sich  die  Be- 
wegungen und  zwar  einerseits  die  des  Vorstellungsvermögens, 
wodurch  die  geeigneten  Mittel  und  Wege  nach  dem  Goordinations- 
system  der  Erkenntniss  ausgedacht  werden,  und  andrerseits  die 
Bewegungen  des  körperlichen  Bewegungsapparates,  welche  die 
sogenannten  Handlungen  dem  Resultate  jener  Überlegung  ent- 
sprechend hervorbringen.  Ist  Beifall  und  Missfallen  bei  den  im 
Bewusstsein  gegenwärtigen  Vorstellungen  in  gleichem  Masse  vor- 
handen, 80  geschieht  keine  Handlung. 

Man  sieht  also,  dass  die  Analyse  des  sogenannten  Willens 
uns  als  das  Gonstitutive  der  gesuchten  Function  nur  das  Gefühl 
zeigt    Und  diejenigen  Gelehrten,  welche  schon  oft  allen  Willen 

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44  Definition  der  Religion. 

der  Menschen  auf  die  Gefühle  von  Last  und  Schmerz  als  auf 
die  Ursache  zurückgeführt  haben,  wären  zu  loben,  wenn  sie 
nicht  von  einer  Abhängigkeit,  von  Ursache  und  Wirkung,  also 
von  mindestens  zwei  Elementen  gesprochen  hätten,  wobei  GefUhl 
und  Wille  als  verschieden  gilt,  während  wir  nur  eine  einzige 
Function,  nämlich  nur  das  Gefühl,  als  den  sogenannten  Willen 
anerkennen  dürfen.  Da  man  dies  Gefühl  nun  nicht  objectiv 
anders  beschreiben  kann,  als  durch  die  Vorstellungen,  bei  denen 
es  functionirt,  so  nennt  man  gewöhnlich  diesen  ideellen  Beziehungs- 
punkt  den  Willen,  indem  man  z.  B.  sagt:  Othello  wollte  sein 
Weib  erdrosseln,  Macbeth  wollte  König  werden  u.  dergl.  Dieser 
Beziehungspnnkt  ist  aber  ein  blosses  Vorstellongsbild,  gehört  dem 
Erkenntnissvermögen  an  und  dient  bloss  zur  ideellen  Unter- 
scheidung und  Bezeichung  der  Gefühle,  die  ihrer  eigenen  Natur 
nach  nicht  ideell  sind  und  daher  ohne  Beziehung  auf  die  in 
dem  Erkenntnissvermögen  gegebenen  Vorstellungen  nicht  für 
unsre  Erkenntniss  genauer  bestimmt  werden  könnten. 

Diese  letzteren  Betrachtungen  sind  nebenbei  auch  dadurch 
von  besonderem  Interesse,  weil  sie  uns  mit  Einem  Schlage  die 
Stellungnahme  der  bedeutendsten  neueren  Psychologie,  der  Her- 
bartischen, erläutern.  Denn  bei  Herbart  müssen  demgemäss  die 
Gefühle  ihren  „Sitz  in  den  Vorstellungen"  haben,  weil  ja  zur 
Auslösung  und  Specificirung  derselben  immer  Vorstellungen 
erforderlich  sind,  die  auch  allein  zur  Benennung  derselben  taugen. 
Zugleich  aber  konnte  diese  blosse  Vorstellungspsychologie  der 
Herbartianer  das  eigenthümliche  Wesen  und  die  Selbständigkeit 
der  Funktion  des  Gefühls  nicht  begreifen,  sondern  liess  die  Vor- 
stellungen bloss  gymnastische  Übungen  machen  in  einem  fingirten 
Räume  und  in  fingirter  Zeit  und  mit  fingirten  Bewegungs- 
erscheinungen und  deducirte  aus  diesen  Fictionen  recht  lächer- 
lich die  sehr  realen  Gefühle,  die  doch  genau  denselben  Rang 
von  Wirklichkeit  haben  wie  die  Vorstellungen  und  sich  nicht 
bloss  nach  den  athletischen  Leistungen  derselben,  sondern  auch 
nach  dem  qualitativen  Vorstellungsinhalte  richten. 

Es  bleibt  uns  nun  die  dritte  Stufe,  die  des  wohl- 
3)  Dritte  stufe  besonnenen  und  freien  Willens,  übrig.    Um  hier  nicht 

des  Begehrens. 

durch  die  Undurchsichtigkeit  des  individuellen  Seelen- 
lebens die  Klarheit  zu  beeinträchtigen,  ziehe  ich  immer  vor,  das 
grössere  und  in   seinen  Akten  deutlicher  gegliederte  Bild  eines 

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Emtheilung  der  Functionen  der  Seele.  45 

solchen  Willens  in  dem  Gerichtshofe  oder  dem  Parlamente,   wo 
viele  Seelen  denselben  Act  social  vollziehen,  za  betrachten. 

Die  auslösenden  Vorstellungen  im  Gerichtshöfe  sind  durch 
die  Prämissen,  also  erstens  durch  die  Paragraphen  des  Gesetzes 
als  Obersatz  und  zweitens  durch  die  Inquisition  und  Zeugenaussagen 
und  vorgefundenen  Documente  und  die  Geständnisse  u.  dergL  als 
Untersatz  gegeben.  Durch  alles  dieses  hat  der  Richter  also  ein 
möglichst  richtiges  Vorstellungsbild  von  dem  Angeklagten  und 
seiner  Handlung  ^nd  dem  Verhältniss  derselben  zu  dem  Gesetze 
vor  Augen.  Es  wird  vorausgesetzt,  dass  er  selbst  nicht  im 
Mindesten  dabei  persönlich  interessirt  ist,  sondern  mit  voller  Be- 
sonnenheit, objectiv,  wie  man  sagt,  anschaut  und  urtheilt. 

Nun  kommt  der  zweite  Akt,  das  sogenannte  Urtheil  oder 
die  richterliche  Entscheidung,  die  scheinbar  eine  rein 
logische  Conclusion  ist  Allein  man  muss  dabei  etwas  feiner 
distinguiren;  denn  es  findet  zwar  zunächst  die  logische  Schluss- 
folgerung statt;  diese  ist  aber  nur  die  auslösende  ideelle  Be- 
dingung fbr  das  darauf  erfolgende  im  Befehl,  d.  h.  als  Wille, 
gesprochene  Urtheil:  der  Dieb  soll  hängen,  soll  sitzen  oder  soll 
verschickt  werden.  Die  logische  Conclusion  gehört  deshalb 
noch  in  den  ersten  Akt;  die  Entscheidung  des  Gerichtshofes 
in  der  ausgesprochenen  Sentenz  aber  bildet  den  zweiten  Akt 

Und  darauf  folgt  dann  der  dritte  Akt,  nämlich  die  Be- 
wegung der  coordinirten  Bewegungsorgane,  die  hier  durch  die 
dem  Gerichtshofe  zugeordneten  Executivbearaten,  Gensdarmen  und 
Gefilngnisswärter  u.  dergl.  vertreten  werden. 

Nun  fragt  sich,  was  dieser  im  zweiten  Akte  vorliegende 
Wille  des  Gerichtshofes  eigentlich  bedeutet  Dass  er  keine  Denk- 
thätigkeit  oder  blosse  Vorstellung  ist,  springt  in  die  Augen; 
denn  das  Sollen  ist  ein  Begriff,  der  nicht  in  das  Gebiet  des 
Seins  und  der  Erkenntniss,  sondern  in  das  Gebiet  des  Willens 
gehört  Und  auch  die  Ausdrücke,  die  ich  in  meiner  Neuen  Grund- 
legung der  Metaphysik  S.  82  und  102  schon  angefahrt  habe: 
sie  volo,  jubeo,  placet,  Soxst,  car  tel  est  notre  bon  plaisir  u.  dergl. 
gehen  alle  auf  das  Gebiet  des  sogenannten  Willens.  Es  wird 
mit  diesen  Ausdrücken  also  eine  neue  Function,  eine  Stellung- 
nahme der  Seele  zu  dem  im  ersten  Akte  vorliegenden  Urtheile 
ausgedrückt  Um  diese  Stellungnahme  nun  zu  begreifen,  müssen 
wir    nothwendig    noch    ein    wenn    auch   flüchtig   auftauchendes 

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46  Definition  der  Religion. 

zweites  Yorstellungsbild  hinzofügen.  Der  Richter  muss  sich 
nämlich  anch  das  Gegentheil  vorstellen,  z.  B.  der  Dieb  laufe  in 
Znkunft  frei  umher.  Das  missfällt  ihm  und  erregt  seine  Ent- 
rüstung. Aber  das  Bild:  der  Dieb  sitzt  fest,  befriedigt  ihn  und 
löst  das  Gefühl  aus,  welches  in  der  gerechten  Seele  entstehen 
muss.  Man  sieht  also,  dass  die  Entscheidung  des  Bichters  nicht 
von  seiner  Logik  abhängt,  sondern  von  seinem  Gewissen  oder 
seiner  Gerechtigkeit;  denn  wenn  der  Angeklagte  sein  Bruder 
oder  Sohn  wäre,  so  wiürde  ihm  yielleicht  der  unlogische  Schluss 
besser  gefallen,  und  es  ist  ja  bekannt  genug,  wie  namentlich  in 
Russland  seit  Einführung  der  Geschworenengerichte  die  frei- 
sprechenden Verdikte  der  Geschworenen  aller  Vernunft  und  Logik 
zum  Trotze  sehr  häufig  wurden,  und  zwar  aus  dem  einfachen 
Grunde,  weil  die  vom  Gesetz  angeordneten  Strafen  zu  hart  waren, 
sodass  es  gegen  das  Gefühl  oder  Gewissen  der  Geschworenen 
ging,  einen  Brief  boten,  der  aus  Noth  eine  Veruntreuung  begangen, 
nach  Sibirien  zu  schicken.  Es  war  ftü-  sie  ein  weniger  unbe- 
friedigendes Geftlhl,  den  sein  Verbrechen  eingestehenden  Ange- 
klagten gegen  die  Wahrheit  für  nicht-schuldig  zu  erklären  und 
frei  zu  machen,  als  ihn  einer  grausamen  Strafe  zu  unterwerfen. 

Auch  bei  dieser  höchsten  Stufe  des  Begehrens,  wo  ein  ruhi- 
ges und  ganz  objectives  Räsonnement  der  Willensentscheidung 
vorhergeht  und  genügende  Zeit  verstreicht,  um  alle  zufällig  ent- 
standenen unrichtigen  Vorstellungen  über  den  Angeklagten  und 
die  Umstände  der  That  zu  beseitigen,  besteht  also  der  sogenannte 
Wille  auch  bloss  in  dem  Gefühl,  indem  die  eine  Vorstellungs- 
verknüpfung  angenehm  ist  oder  uns  befriedigt,  die  andere  un- 
angenehm ist  oder  uns  nicht  befriedigt.  Der  Wille  wird  hier 
frei  genannt,  weil  er  nicht  durch  verworrene  Vorstellungen  und 
falsche  Einbildungen  und  schlechte  Gewöhnungen  ausgelöst,  son- 
dern durch  möglichst  unfehlbare  Erkenntniss  der  Thatsachen  be- 
stinmit  wird.  Man  sieht  aber  deutlich,  dass  gar  keine  andere 
Ursache  in  letzter  Instanz,  warum  man  sich  so  oder  so  ent- 
scheidet, angefllhrt  werden  kann,  als  das  Gefühl,  das  hier  ge- 
wöhnlich Gewissen  genannt  wird. 

Dies  lässt  sich  durch  indirecten  Beweis  völlig  sicher 
stellen;  denn  sobald  man  das  Gefühl  wegdächte,  so  hätte  man 
blosse  Vorstellungsbilder,  von  denen  das  eine  vor  dem  andern 
gar  keinen  Unterschied   an  Werth  und  Beifall  oder  Missfallen 

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Eintbeilnng  der  Functionen  der  Seele.  47 

besässe,  wovon  also  anch  keins^  wie  man  sagt,  gewählt  oder 
gewollt  werden  könnte,  weil  dieser  Werth  oder  Beifall,  oder 
dieses  Wählen  nnd  Wollen  eben  das  Gefühl  ist,  welches  wegge- 
dacht werden  sollte.  Der  Dieb  sitzt  gefangen,  der  Dieb  ist  frei, 
er  bricht  in  Dein  eigenes  Hans  ein,  der  Mörder  bringt  Deine 
Fran  nm  n.  s.  w.,  alle  diese  Gedanken  würden  völlig  indifferente 
Yorstellnngsyerkntipfangen  sein,  wenn  wir  kein  Gefühl  hätten 
nnd  nicht  bei  jedem  dieser  Gedanken  sofort  nns  angenehm  oder 
schmerzlich  bewegt  fühlten.  Wenn  wir  deshalb  sagen,  ich  will, 
dass  der  Dieb  gefangen  sitze;  ich  will  nicht,  dass  er  frei  sei: 
so  bezeichnen  wir  bloss  diejenige  Yorstellungsverknüpfang  als 
unseren  Willen,  bei  welcher  wir  jenes  angenehme  oder  schmerz- 
liche Gefühl  hatten,  and  der  sogenannte  Wille  ist  also  nur  das 
in  den  coordinirten  Vorstellnngsyerknttpfnngen  ausgedrückte  und 
dadurch  beschriebene  oder  semio tisch  angedeutete  Gefühl.  Das 
Wesen  des  Willens  ist  aber  nicht  die  Vorstellung,  sondern  das 
zugehörige  Gefühl,  ohne  welches  die  Vorstellung  völlig  gleich- 
gültig wäre  und  bloss  dem  Erkenntnissvermögen  zufallen  würde. 

Corollar:  Der  Grundbegriff  der  Jurisprudenz. 

Wenn  man  bedenkt,  wie  gegenwärtig  die  bedeutendsten 
Lehrer  der  Jurisprudenz  an  der  Grundlage  ihrer  Wissenschaft 
zweifelhaft  geworden  sind  nnd  das  Wesen  des  Rechts  nicht  mehr 
zu  definiren  wagen,  so  wird  man  diesen  so  merkwürdigen  Zn- 
stand einer  so  hoch  ausgebildeten  Wissenschaft  begreiflich  finden; 
denn  man  hatte  bisher  das  Gefühl  nicht  als  die  Grundlage  dieser 
Wissenschaft  erkannt. 

Da  ich  hier  nur  einen  kleinen  Seitenweg  einschlage,  um  die 
Fruchtbarkeit  der  neuen  Theorie  zu  zeigen,  so  halte  ich  es  für 
angezeigt,  auf  die  grosse  juristische  Literatur  nicht  näher 
einzugehen;  ich  will  nur  eine  Probe  geben,  indem  ich  aus  dem 
mit  subtilen  philosophischen  Erörterungen  reich  ausgestatteten 
und  von  einem  feinen  Kopfe  herrührenden  Werke  „Irrthum  und 
Rechtsgeschäft  von  Zitelmann  1879^^  ein  paar  Stellen  anflihre, 
um  zu  zeigen,  wie  bisher  überall  sowohl  in  der  Philosophie,  als 
in  den  Specialwissenschaften  die  Grundbegriffe  unserer  geistigen 
Functionen  in  einem  unerhellbaren  Dunkel  lagen,  das  selbst  die 
besten  Köpfe  nicht  lichten  konnten,  so  lange  einerseits  die  Neben- 
einanderstellung und  Trennung  von  Gefühl  und  Wille  fortdauert 

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48  Definition  der  Religion. 

und  andererseits  die  Bewegung,  oder  Handlung  nicht  als  eigene 
geistige  Function  aufgenommen  wird. 

Zitelmann  sagt  S.  36:  ,^ie  Selbstbeobachtung  unterscheidet 
sehr  deutlich  den  Willensakt  (Wollen,  Wille)  von  andern 
psychischen  Akten,  Air  die  wir  den  Namen  Vorstellung  und 
Fühlen  haben:  er  hat  gar  keine  Aehnlichkeit  mit  diesen, 
sondern  ist  etwas  speci fisch  von  ihnen  Verschiedenes.  Zudem 
bemerkt  sie,  dass  jedesmal,  dieser  unbekannte  psychische  Akt  X 
(Willensakt)  von  einer  körperlichen  Bewegung  gefolgt  ist, 
wohingegen  die  blosse  Vorstellung,  das  blosse  Fühlen  für  sich 
noch  keinerlei  körperliche  Bewegungen  nach  sich  ziehen/^  — 
Niemand  wird  leugnen,  dass  Zitelmann  hier  in  scharfen  und 
klaren  Linien  die  bisher  in  der  Philosophie  gültige  Auffassung 
der  geistigen  Functionen  zum  Ausdruck  gebracht  hat.  Aber  es 
lässt  sich  gerade  bei  dieser  Schärfe  und  Klarheit  des  Verfassers 
nun  auch  die  Verlegenheit  der  früheren  Auffassung  deutlich 
zeigen. 

Erstens  sieht  man,  dass  hiemach  die  Bewegung,  die  bloss 
als  körperliche  gefasst  wird,  in  das  geistige  Leben  gar  nicht 
mit  hineingehört,  da  sie  nur  eine  äussere  Folge  bilden  soll,  wie 
ja  der  Schatten  kein  Theil  des  Körpers  ist.  Es  fehlt  also  bei 
dieser  Auffassung,  wie  ich  oben  erinnerte,  die  Möglichkeit,  die 
Kunstfertigkeiten  und  künstlerischen  Functionen  (im  Denken, 
Gomponiren  und  auch  in  den  industriellen  Arbeiten)  und  das  Ar- 
beiten überhaupt  als  eine  Function  des  Geistes  selbst  zu  ver- 
stehen, so  dass  ein  sehr  grosser  Theil  des  Seelenlebens,  der 
nicht  dem  Willen,  also  nicht  der  sittlichen  und  juridischen  Sphäre 
angehört,  unbegriffen  bleibt. 

Zweitens  tritt  bei  Zitelmann  eine  nothwendige  Sophistik 
hervor;  denn  wenn  er  S.  63  den  Willen  definirt:  „Wille  ist  der- 
jenige psychische  Akt,  durch  welchen  unmittelbar  die  motorischen 
Nerven  erregt  werden,"  oder  S.  97  „der  Wille  bringt  unmittelbar 
die  körperliche  Bewegung  hervor,"  so  ist  doch  einleuchtend,  dass 
die  Unterlassungen  keine  Willensakte  wären.  Es  kann  nicht 
helfen,  wenn  Zitelmann  das  Unterlassen  des  Schreiens  beim 
Ausziehen  eines  Zahnes  als  eine  körperliche  Bewegung  nach- 
weist, was  wir  ihm  mit  Vergnügen  zugestehen  wollen,  ohne  doch 
die  Sophistik  dieses  a  minori  ad  majus  schliessenden  Beweises 
weniger  deutlich  zu  finden;  denn  wenn  Jemand  im  moralischen 


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£intheilung  der  Functionen  der  Seele.    Grundbegriff  der  Jurisprudenz.   49 

oder  juridischen  Gebiet  seine  Pflicht  zu  thun  unterlässt,  so 
liegt  solche  pflichtwidrige  Unterlassung  nicht  in  einer  Erregung 
der  motorischen  Nerven,  deren  Thätigkeit  oder  Unthätigkeit  dabei 
vielmehr  gleichgültig  ist  oder  erst  in  zweiter  Linie  Berücksich- 
tigung verdient,  sondern  in  einem  Wollen,  welches  einen  ganz 
anderen  Sinn  hat,  als  bloss  die  Ursache  von  körperlichen  Be- 
wegungen zu  sein. 

Drittens  ist  einleuchtend,  dass  der  Wille  bei  Zitehnann  bloss 
ein  Name  werden  muss,  der  nur  an  einen  Inhalt,  an  die  eigent- 
lich entscheidenden  Geistesfunctionen  erinnert,  ohne  selbst  einen 
Bestandtheil  dieser  Functionen  zu  bilden;  denn  zum  Willen  müs- 
sen, damit  er  flir  die  Rechtssphäre  etwas  zu  bedeuten  habe, 
erstens  immer  gewisse  Absichten,  Entschlüsse,  also  Erkennt- 
nisse und  Vorstellungen  hinzugenommen  werden  und  zwei- 
tens muss  der  Mensch  sich  in  seinem  Gefühl  dazu  stellen,  in- 
dem er  eine  Unlust  zu  entfernen,  eine  Lust  zu  erreichen  sucht 
durch  gewisse  Bewegungen.  Also  kommt  ein  Wille,  der  bloss 
Ursache  von  körperlichen  Bewegungen  wäre  und  qualitativ 
weiter  Nichts,  in  der  Rechtssphäre  gar  nicht  vor,  und  wenn  man 
die  ftar  alles  Juridische  entscheidenden  drei  Elemente  hat,  näm- 
lich die  bewusste  Vorstellung  des  Thatinhaltes,  die  Stellung  des 
Geftihls  (animi  motus)  und  die  Handlung  selbst,  so  braucht  man 
diesen  blossen  Namen  „Wille",  der  angeblich  Ursache  der  motori- 
schen Nervenerregung  ist,  gar  nicht  mehr.  Wodurch  sich  zeigt,  dass 
Wille  entweder  überhaupt  als  elementare  geistige  Function  iden- 
tisch mit  dem  GefUhl  ist,  wie  ich  zu  beweisen  suche,  oder  ein 
blosser  Name,  mit  welchem  man  ein  Conglomerat  der  eigentlichen 
und  elementaren  geistigen  Functionen  zusammenfasst. 

Ich  will  nun  versuchen  zu  zeigen,  wie  der  Ursprung  des 
Rechts  aus  dem  Willen  gleich  einleuchtend  wird,  sobald  man 
das  Specifische  und  Elementare  der  Willensfunction  bloss  als 
Gefühl  auffasst  und  die  frühere  Nebeneinanderordnnng  und  Tren- 
nung von  Wille  und  Geftthl  fahren  lässt. 

Wenn  ein  Bauer  einen  Boden  urbar  macht  und  mit  vieler 
Mühe  bedient,  so  wird  er  sicher  ein  Geflihl  des  Zornes  und  der 
Entrüstung  haben,  wenn  nachher  ein  Anderer  kommt  und  die 
Emdte  wegführt.  Demgemäss  sagt  man  dann,  er  habe  ein  Recht 
auf  die  Emdte,  und  der  Andere  sei  im  Unrecht,  wenn  er  sie 
heimlich   oder  mit  Gewalt  für  sich   wegnimmt,   weil  Jeder  in 

Teichmüller,  RellglonBphiloeophie.  ^,y  4^^  ^^  GoOQIc 


50  Definition  der  Religion. 

gleichem  Falle  das  gleiche  Gefühl  haben  würde.  Wenn  aber 
z.  B.  nach  Abführung  der  gefällten  Bäume  in  einem  Walde  die 
Armen  kommen,  um  die  liegen  gebliebenen  trockenen  Zweige 
davon  zu  tragen,  so  regt  sich  in  dem  Grundherrn  kein  Gefahl 
des  Zorns  oder  Unwillens,  sondern  er  lässt  es  gleichmüthig  ge- 
schehen, weil  die  Arbeit  des  Aufsanmielns  mit  dem  etwaigen 
Verkaufswerth  sich  ausgleicht  und  ihm  also  weder  Gewinn  noch 
Schaden  dabei  in  Frage  kommt.  So  sagt  man  dann,  es  sei  kein 
Unrecht,  fremden  Besitz  in  dieser  Weise  sich  anzueignen,  oder 
die  Armen  hätten  ein  Recht  auf  diese  Nachlese. 

So  wird  man  überall  finden,  dass  immer,  was  in  einem 
Volke  und  in  einer  Zeit  für  Recht  oder  Unrecht  gilt,  auf  dem 
allgemeinen  Beifall  oder  Missfallen,  auf  dem  Gefühl  der  Befrie- 
digung oder  des  Zorns  und  der  Entrüstung  beruht.  Und  zwar 
ist  der  erste  Grund  alles  Rechts  immer  die  schmerzhafte 
Erregung,  also  der  Zorn;  denn  erst  muss  ein  Unrecht  hervor- 
treten, ehe  man  den  normalen  Zustand,  welcher  keinen  Zorn 
erregt,  als  das  Recht  erkennen  wird.  Das  Gefühl,  welches  den 
Zorn  balancirt,  ist  die  Furcht;  diese  wird  aber  als  mitwirkende 
Macht  der  Rechtserzeugung  in  dem  Privatrecht  weniger  bemerk- 
lich, weil  sich  die  Contrahenten  im  privatrechtlichen  Verkehr 
ziemlich  in  der  gleichen  Lage  befinden  und  daher  an  Kraft  und 
Gefährlichkeit  als  nicht  verschieden  in  Betracht  konunen. 

Genau  denselben  Ursprung,  wie  das  Civilrecht,  hat  auch  das 
Staats-  und  Völkerrecht.  Nur  tritt  hier  noch  das  zweite  Gefühl 
zur  näheren  Bestimmung  deutlicher  hervor,  ich  meine  die  Furcht 
Ein  Grundherr  verlange  z.  B.  von  den  Bauern  wöchentlich  einige 
Tage  unentgeltlicher  Arbeit.  Natürlich  werden  sie  darüber  zürnen 
und  unwillig  sein.  Wenn  er  aber  seine  Bewaffneten  schickt  und 
sie  peitschen  lässt,  so  wird  das  Gefühl  der  Furcht  ihren  Zorn 
löschen,  und  es  wird  dem  Grundherrn  ein  Recht  auf  diese  Ar- 
beitsleistung eingeräumt  werden.  Vermindert  sich  aber  durch 
Veränderung  der  Verhältnisse  die  Macht  des  Grundherrn,  so 
wirkt  als  vis  inertiae  noch  eine  Zeit  lang  die  Gewohnheit  weiter, 
allmählich  aber  muss  die  Furcht  aufhören  und  mithin  der  Zorn 
und  Unwillen  wieder  hervortreten,  bis  das  Privileg  abge- 
schafft ist.  Ebenso  ruht  alles  Völkerrecht  auf  Handlungsweisen 
der  Völker,  die  sie  ohne  Erregung  von  Entrüstung  im  Verkehr 
mit  einander  vollziehen  können.     Nur  ist  auch  hier  die  Furcht 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.    Grundbegriff  der  Jurisprudenz.    51 

immer  mit  in  Rechnung  zu  bringen;  denn  ein  schwächeres  Volk 
erträgt  ohne  Zorn,  was  ein  furchtloses  grösseres  Volk  niemals 
ertragen  könnte.  Je  nach  dem  Geftihlszustande  werden  demge- 
mäss  die  Verträge  unter  den  Völkern  abgeschlossen,  wie  z.  B. 
die  Franzosen  den  Verlust  von  Elsass  und  Lothringen  zuerst 
nicht  ertragen  zu  können  schienen,  während  nachher  durch  Nach- 
lassen Yon  Nancy  einerseits,  andererseits  durch  Erregung  von 
Furcht  der  zu  mächtige  Unwille  sich  legte  und  das  Becht  durch 
Friedensschluss  festgestellt  wurde.  Sollte  aber  Deutschland  durch 
Coalition  seiner  Feinde  einmal  an  Macht  herabsinken,  so  würde 
auch  sofort  die  Furcht  in  Frankreich  vermindert  werden  und  die 
Entrostung  wieder  wachsen  und  folglich  der  gegebene  iriedens- 
rechtliche  Zustand  als  Unrecht  empfunden  werden,  bis  durch 
Concessionen  oder  Krieg  das  Gefühl  wieder  beruhigt  ist 

Wollte  man  nun  mit  hochfahrendem  Tone  diese  Begründung 
des  Rechts  als  subjectiv  abweisen,  da  ja  sachliche  Gründe,  be- 
stinmite  Zweckzusammenhänge  und  gewisse  formulirte  gesell- 
schaftliche Verhältnisse  immer  als  Principien  vorhergingen,  welche 
dann  beiläufig  und  nebensächlich  auch  etwa  diese  gleichgültigen 
Gefühle  erregten,  so  würde  der  Vorwurf  der  Subjectivität  wie 
ein  Echo  dem  Rufenden  wieder  entgegentönen,  da  ja  alle  sach- 
lichen Formeln  keinen  Schuss  Pulver  werth  sind  und  keinen 
Menschen  zu  irgend  einer  Handlung  bestimmen,  wenn  sie  kein 
Gefühl  erregen,  d.  h.  gleichgültig  sind.  Wir  erkennen  aber  die 
Gefühle  nicht  durch  irgendwelche  sachliche  Räsonnements,  son- 
dern ermitteln  umgekehrt  den  Werth  und  den  Inhalt  aller  Zweck- 
zusammenhänge und  aller  objectiven  Rechtssätze  nach  dem  Gefühl. 
Das,  womit  wir  zufrieden  sind,  mag  man  objectiv  formuliren 
und  in  die  Rechtsparagraphen  aufiiehmen;  wenn  wir  aber  anfangen^ 
damit  unzufrieden  zu  werden,  so  muss  man  es  wieder  abän- 
dern und  eine  neue  Rechtsordnung  herstellen.  Die  jeweilige 
positive  Rechtsordnung  ist  nur  der  jeweilige  objective  und  all- 
gemeine Ausdruck  für  die  Verhältnisse-,  die  wir  ohne  Zorn  er- 
tragen, und  hat  so  viel  Sicherheit,  als  mehr  oder  weniger  Ge- 
sellschaftsmitglieder dadurch  zufrieden  gestellt  werden.  Mehrt 
sich  die  Zahl  der  Unzufriedenen,  so  kommt  das  Recht  wieder 
in  Fluss.  Mithin  ist  das  Gefühl  die  Grundlage  der  Jurisprudenz. 
Die  positive  Rechtswissenschaft  hat  deshalb  die  historischen 
und  überhaupt  empirischen  Coordinaten  für   das  historisch   und 

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52  Definition  der  Religion. 

überhaupt  empirisch  gegebene  Gefühl  aufzusuchen,  die  Rechts- 
philosophie aber  möglichst  die  apriorischen  Formeln  der  Ver- 
hältnisse zu  finden,  welche  den  zugehörigen  Gefühlen  coordinirt 
sind.  Die  Definition  des  Rechts  soll  hier  nicht  gegeben  werden, 
weil  wir  erst  das  Wesen  des  Gefühls  und  seiner  Arten,  zu  denen 
ja  auch  das  Gewissen  gehört,  genauer  bestimmen  müssten, 
was  hier  zu  weit  abliegt;  aber  es  folgt  aus  unsem  Betrachtungen, 
dass  das  Recht  als  apriorisches,  unbekümmert  um  alle  römi- 
sche oder  moderne  Jurisprudenz  zu  dednciren  und  durch  zwei 
Constanten  festzulegen  ist,  während  die  Definition  des  positi- 
ven Rechts  durch  einen  algebraischen  Syllogismus  eine  Variable 
zu  construiren  hat,  welche  durch  eine  Gonstante  (nämlich  das 
apriorische  Recht)  und  durch  zwei  Variablen  (nämlich  die  varia- 
blen Gesellschaf tszustände  und  die  variablen  persönlichen  Geftihle) 
determinirt  wird.*) 

*)  Ein  Romanist,  dem  ich  obige  Darlegungen  mittheilte,  erklärte  sich 
besonders  dadurch  befriedigt,  dass  hiermit,  was  durchaus  erforderlich,  das 
Völkerrecht  auf  dasselbe  Princip,  wie  das  Privat-  und  Staatsrecht  zurückge- 
führt wäre,  da  die  früheren  Theorien  das  Völkerrecht  immer  abseits  gelassen 
hätten.  Sodann  machte  er  mich  auf  den  Sprachgebrauch  im  Römi- 
schen Recht  aufmerksam,  der  mit  meiner  Auffassung  merkwürdig  über- 
einstimmte, sofern  das  sentire,  consentire  und  der  tacitus  consensus  dort  die 
Grundlage  des  Vertrages  und  des  Gewohnheitsrechts  bestimmte,  cf.  Dig.  11 
tit.  14.  de  pact.  L.  1  §  2  Est  autem  pactio  duorum  pluriumve  in  idem  pla- 
citum  oonsensus.    §  9.  11  Inst,  de  jur.  nat.  (l.  2). 

Obgleich  die  Frage  hier  nur  ein  nebensächliches  Interesse  hat,  so  er- 
laube ich  mir  doch  ein  paar  Worte  über  das  Resultat,  das  sich  mir  aus 
meiner  darauf  angestellten  Untersuchimg  ergeben  hat,  mitzutheilen.  Wenn 
man  nämlich  die  lateinischen  Definitionen  der  .Römischen  Juristen  genau 
interpretirt,  wie  wir  dies  bei  unserem  Aristoteles  gewöhnt  sind,  so  kann  man 
weder  die  Auffassung  Röver's  und  Zitelmann's  annehmen,  wonach  der  Con- 
sensus nur  eine  „innerliche  Willensübereinstimmung"  oder  ,,Ueberein8tim- 
mung  der  Absichten"  wäre,  noch  die  Interpretation  Leonhard's  (Vergl.  „Der 
Irrthum  bei  nichtigen  Verträgen"  1882  I  §  2),  wonach  „der  Consensus  nichts 
Innerliches,  sondern  ein  Aeusserliches'*  sei;  denn  so  sehr  Leonhard  Recht 
hat,  die  äusserliche  tmd  sinnliche  Darlegung  und  Handlung  bei  diesem  Be- 
griffe zu  betonen,  so  verhält  es  sich  doch  dabei  wie  bei  jeder  symbolischen 
Handlung,  bei  der  Sprache  und  bei  jedem  Zeichen,  dass  nämlich  alle  Zeichen 
(a*r]{Uia)  etwas  bedeuten  und  dass  man  deshalb  bei  dem  Consensus  als 
immerhin  äusserlicher  Manifestation  doch  nicht  von  dem,  was  dadurch  mani- 
festirt  werden  soll,  absehen  kann,  ebensowenig  wie  bei  den  Worten  von  dem 
Sinn,  den  sie  durch  articulirte  Töne  andeuten.  Mir  scheinen  deshalb  von 
den  beiden  streitenden  Parteien,  die  ich  nach  Leonhard  angeführt  habe,  beide 


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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele,    Grundbegriff  der  Jurisprudenz.    53 

Ich  möchte  noch  eio  Wort  über  das  Obligirende  ^^^^  '™ 
im  Recht  hinzufügen.  Es  ist  nämlich  eine  blosse  Un- 
klarheit, wenn  man  in  dem  Zwang  des  Rechts  einen  ganz  be- 
sonderen Zauber  sieht,  der  das  Recht  von  der  Moral  unterscheide. 
Diese  zwingende  Kraft  stammt  aber  ganz  einfach  aus  denselben 
Geftlhlen,  die  das  Recht  erzengen.  Wenn  nämlich  eine  Hand- 
lungsweise die  allgemeine  Entrüstung  der  massgebenden  Ge- 
sellschaftsmitglieder hervorrufen  würde,  so  weiss  man  wohl,  dass 
aus  diesem  Gefühl  energische  Reactionen  entspringen  müssten, 
und  geräth  deshalb  in  Furcht 


je  ein  Moment  der  Sache  zur  Hauptsache  zu  machen.  Soweit  der  Gegenstand 
principieller  Natur  und  auch  die  Methode  der  philologischen  Interpretation 
allgemein  ist,  so  darf  ich  mir  ein  eigenes  Urtheil  zutrauen. 

Für  mich  ist  nun  besonders  interessant,  dass  in  den  zugehörigen  Defi- 
nitionen der  letzte  Rechtsgrund  des  Vertrages  auf  den  consensus  in  dem 
Sinne  zurückgeführt  wird,  dass  bei  den  von  beiden  Contrahenten  vorge- 
stellten Dingen  (Bedingungen  der  Uebergabe,  des  Umtausches,  des  Han- 
delns und  Leidens  u.  s.  w.)  immer  das  Gefühl  in  beiden  zufrieden  ge- 
stellt wird,  so  dass  keiner  von  beiden  etwa  mit  dem  Modus  des  Geschäfts, 
der  dann  auch  in  der  Declaration  durch  äusserliche  Handlung  dargestellt 
wird,  unzufrieden  wäre. 

Auf  diese  Weise  ist  es  ganz  in  die  Augen  fallend,  dass  wirklich  das 
Gefühl  (Zufriedenheit,  Unzufriedenheit)  sich  als  Princip  herausstellt.  Ich 
citire  nur  ein  paar  Belegstellen,  indem  ich  die  entscheidenden  Wörter  her- 
vorhebe: 

L.  7  §  19  dig.  de  pactis  2,  14  Ulpianus:  Hodic  tarnen  ita  demum  pactio 
hujusmodi  creditoribus  obest,  si  convenerint  in  unum  et  communi  con- 
sensu  declaraverint,  quota  parte  debiti  contenti  sint;  si  vero  dissentiant 
cet.  Das  entscheidende  Wort  ist  contenti,  d.  h.  negativ:  keiner  von  beiden 
Contrahenten  ist  unzufrieden,  hat  ein  Gefühl  der  Unlust  oder  der  Entrüstung. 
Also  ist  es  ein  in  idem  placitum  consensus,  wobei  placitum  theils  das  Ge- 
fühl (placere,  plaisir),  theils  den  vorgestellten  Inhalt  der  Abmachung  be- 
deutet, bei  welchem  dies  Gefühl  entspringt. 

L.  55  dig.  de  obligat,  et  action.  '14.  7.  (Javolenus).  In  omnibus  rebus, 
quae  dominium  transfcrunt,  concurrat  oportet  affectus  ex  utraque  parte  con- 
trahentium.  Nam  sivc  ea  conditio,  sive  donatio,  sive  conductio,  sive  quaelibet 
alia  causa  contrahendi  sit,  nisi  animus  utriusque  consentit,  perduci  ad 
effectnm  id  quod  inchoatur,  non  potest.  Hier  ist  also  das  Gefühl  (affectus 
und  animus)  der  Befriedigung  von  beiden  Seiten  ebenfalls  anerkannt, 
ohne  welches  die  äusserliche  Darlegung  oder  die  blosse  Vorstellung  keinen 
Vertrag  bilden  kann.  Dasselbe  liegt  in  der  Definition  der  Conventio  in  L.  1 
§  3  Dig.  de  pactis  2.  14:  qui  ex  diversis  animi  motibus  in  unum  con- 
sentiunt. 

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54  Definition  der  Religion. 

Dergleichen  Handlungen  werden  also,  auch  wenn  man  grosse 
Lust  dazu  hätte,  unter  dem  Zwange  dieses  Geflihles  unter- 
lassen; denn  es  werden  die  Executivorgane  der  Gesellschaft 
dem  alle  Bewegungen  des  Menschen  bestimmenden  Geftlhle  mit 
seinem  Bechtsausdruck  zur  VerfUgung  gestellt,  um  alle  missfal- 
lenden Handlungen  nicht  zu  dulden.  Das  Recht  hat  daher 
eine  obligirende  Kraft,  weil  es  der  in  den  Formen  des  Erkennt- 
nissvermögens  gegebene  Ausdruck  der  in  dem  massgebenden 
Theile  der  Gesellschaft  herrschenden  GefUhle  ist  Die  Ent- 
rüstung der  massgebenden  Gesellschafl»gruppe  bestimmt  die  Be- 
wegung, erregt  in  den  anders  ftlhlenden  Gesellschaftsgliedem  die 
entsprechende  Furcht  und  erzwingt  daher  auch  in  ihnen  eine 
Auslösung  von  Handlungen  und  Unterlassungen,  welche  aus  dem 
freien  Process  ihres  Seelenlebens  nicht  hervorgegangen  wären. 
Der  BegriflF  Zwang  bedeutet  daher  eine  Handlungsweise,  die  der 
Unlust  und  nicht  dem  Beifall  coordinirt  ist  Während  die  mass- 
gebenden Theile  der  Gesellschaft  in  dem  Recht  nach  Möglich- 
keit nur  den  Ausdruck  dessen  formuliren,  was  ihnen  beliebt,  und 
für  sie  daher  das  Recht  keinen  Zwang  bildet,  das  dem  Recht 
Widersprechende  vielmehr  ihre  Entrüstung  hervorbringt,  so  müssen 
umgekehrt  alle  diejenigen  in  dem  Recht  einen  Zwang  anerkennen, 
welche  den  Inhalt  dessen,  was  ihnen  geftlUt,  anders  formulieren 
würden,  und  daher  nur  ungern  und  aus  Furcht  das  thun,  was 
das  Recht  gebietet. 

Aus  diesem  Grunde  ist  auch  die  zwingende  Kraft  des  Rechts 
variabel,  wie  jeder  aus  Erfahrung  weiss.  Die  Geftlhle  nämlich, 
welche  den  jederzeit  gegebenen  Gesellschaftsverhältnissen  ent- 
sprechen, sind  ein  lebendiges  und  also  variables  Element,  wäh- 
rend die  aus  ihnen  entspringenden  Rechtsformulirungen  und 
Institutionen  kein  eigenes  Leben  haben,  .sondern  als  abstracto 
Symbolisirungen  in  den  Formen  des  Erkenntnissvermögens  noth- 
wendig  starr  und  mit  sich  identisch  bleiben  müssen.  Wenn  des- 
halb im  Laufe  der  Zeit  die  lebendigen  Gesellschaftszustände  sich 
ändern,  so  sehen  die  Unerfahrenen  mit,  die  Klügeren  aber  ohne 
Erstaunen,  dass  das  bisher  geltende  Recht  allmählich  oder  plötz- 
lich seine  obligative  Kraft  verliert,  bevor  es  auf  dem  legitimen 
Wege  aufgehoben  oder,  wie  man  sagt,  „ausser  Kraft  gesetzt" 
wurde;  die  Ursache  seiner  natürlichen  Entkräftung  liegt  aber 
darin,   dass  die  Entrüstung  nicht  mehr  hinter  ihm  steht  und 

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Eintbeilimg  der  Functionen  der  Seele    Grundbegriff  der  Jurisprudenz.    55 

Niemand  den  Zwang  auszuüben  sich  geneigt  fühlt,  wie  auch 
kaum  Jemand  noch  in  Furcht  vor  dieser  früher  zwingenden 
Autorität  sich  beugt.  Der  Zwang  im  Recht  hat  also  seinen 
Ursprung  in  den  natarlichen  Machtverhältnissen  der  Gefbhle,  von 
denen  alle  Bewegungen  und  Handlungen  der  Menschen  abhängen, 
und  ist  in  allen  Stücken,  in  der  Ausübung  überhaupt  und  in 
dem  Modus  derselben  und  im  Strafinass  durchaus  seinem  Ur- 
sprung gemäss  variabel. 

Daher  kommt  es,  dass  die  Gränzen  zwischen  Moral 
und  Becht  fliessende  sind*);  denn  wenn  z.  B.  die  überwältigende 
Mehrheit  der  Gesellschaftsglieder  sogenannten  moralischen  oder 
religiösen  Gefühlen  leidenschaftlich  unterworfen  sind,  so  wird 
sofort,  was  man  sonst  dem  moralischen  oder  religiösen  GeftihI 
in  Freiheit  überliess,  zu  einem  zwingenden  Rechtstitel,   und  der 


*)  Einen  scharfen  Ausdruck  findet  diese  Unsicherheit  der  Jurisprudenz 
über  ihr  Princip  in  der  Rede  von  Edgar  Löning  (jetet  Professor  in  Rostock), 
die  im  Jahre  1879  von  der  Universität  Dorpat  publicirt  wurde.  Indem  er 
darlegt,  weshalb  (S.  5)  „ganz  ähnlich  wie  die  Naturwissenschaft  sich  heute 
auch  die  Rechtswissenschafb  wieder  veranlasst  sieht,  zu  der  lange  gering 
geschätzten  Philosophie  zurückzukehren",  unterwirft  er  in  historischer  Über- 
sicht alle  firüheren  deutschen,  französischen  und  englischen  Theorien  einer 
scharfen  Kritik,  behält  aber  die  Lösung  der  Aufgabe  der  Zukunft  vor,  weil, 
wie  er  sagt  (S.  28),  „die  Erkenntniss  der  tieften  Grundlage  des  Rechtes 
nicht  möglich  ist,  bevor  nicht  der  Zusammenhang  zwischen  Recht 
und  Moral  aufgedeckt  ist." 

Auch  in  der  neueren  Arbeit  von  Dilthey  (Geisteswissensch.  I.  S.  68  ff.)» 
wo  er  sagt:  „das  Recht  ist  ein  auf  das  Rechtsbcwusstsein  als  eine 
beständig  wirkende  psychologische  Thatsache  gegründeter  Zweckzusammen- 
hang**, finde  ich  nur  den  Ausdruck  der  Schwierigkeit,  aber  keine  Lösung 
des  Problems;  denn  wenn  man  schon  wüsste,  was  das  Rechtsbewusstsein  ist, 
danii  würde  kein  Mensch  mehr  eine  Erklärung  des  Rechts  suchen.  —  Über- 
haupt arbeitet  Dilthey  mit  den  sogenannten  Thatsachen,  als  wären  es  Er- 
klärungsgründe und  nicht  blosse  Probleme.  Die  ganze  Welt  aber  ist  eine 
Thatsache  und  trotzdem  die  Wissenschaft  von  der  Welt  erst  in  den  An^gen. 
Psychologische  Thatsachen  aber  sind,  wenn  auch  von  vornehmerem  Stande, 
dennoch  nicht  der  Legitimation  enthoben,  sondern  vor  dem  Gesetze  der 
Wissenschaft  gleich.  Alle  Thatsachen  sind  wie  Sätze,  die  das  Kind  und  der 
unbefangene  Redner  ausspricht,  ohne  die  darin  verborgene  Gonstruction 
mannigfaltiger  Elemente  zu  bemerken;  der  pedantische  Grammatiker  aber 
löst  den  Satz  in  die  Satztheile,  ihre  elementaren  Formen  und  ihre  Verbin- 
dungen auf.  Darum  sehe  ich  nicht,  wie  man  eine  Wissenschaft  auf  sogenannte 
Thatsachen  begründen  kann,  die  doch  bloss  Probleme  aufgeben,  aber  nichts 
erklären  und  beweisen. 


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56  Definition  der  Keligion. 

Dreieinigkeitsleugner  muss  in's  Feuer  springen,  wie  der  Plnder- 
hosenliebhaber  in's  Geiängniss  kommt,  weil  die  Entrüstung  der 
ausschlaggebenden  Gesellsehaftsglieder  die  Äusserung  solcher 
Gedanken  und  die  Ausübung  solcher  Handlungen  nicht  dulden 
kann.  Die  Zwangskraft  des  Rechts  bildet  deshalb  keine  inhalt- 
liche Gränze  gegen  die  Moral,  sondern  bloss  eine  historische, 
indem  es  immer  von  dem  jeweiligen  Gesellschaftszustande  und 
den  coordinirten  variablen  Geflihlen  abhängt,  was  in  die  Sphäre 
des  Rechts  und  was  in  die  Moral  gehört.  Wer  da  eine  inhalt- 
lich bestimmte  Gränze  sucht,  der  könnte  auch  gewiss  an  der 
Küste  der  Nordsee  eine  Linie  ziehen,  bis  zu  welcher  das  Meer 
in  jedem  Augenblicke  reicht,  über  welche  es  nie  hinausgeht  und 
hinter  welcher  es  nie  zurückbleibt.     Recht  und  Moral  ist  viel- 


Eine  Lösung  unseres  Problems  konnte  Dilthey  aber  schon  aus  dem 
Grunde  nicht  finden,  weil  er  die  bisherige  Eintheilung  der  geistigen  Functionen 
in  seine  Denkweise  hinübemimmt  und  deshalb  überall  vom  Wollen,  Fühlen, 
Vorstellen  spricht  und  den  Menschen  schlechtweg  immer  als  „wollend 
fühlend  vorstellendes  Wesen"  bezeichnet.  Denn  bei  dieser  Dreitheilung 
fehlt  erstens  die  Function  der  Bewegung  oder  Handlung  und  damit  zugleich 
die  Möglichkeit,  die  Kunst  unter  die  geistigen  Processe  aufzunehmen;  und 
zweitens  kann  der  Wille,  da  er  neben  das  Fühlen  (mit  welchem  er  in 
Wahrheit  identisch  ist)  gestellt  wird,  nur  zu  einer  höchst  mysteriösen  Per- 
sönlichkeit werden,  in  welcher  etwas  Gefühl  vorkommt,  die  auch  etwas 
vorstellt,  da  sie  Absichten  hat,  und  die  endlich  auch  Handlungen  verübt. 
Der  Wille  muss  also  im  Geheimen  die  Elemente  der  drei  von  mir  angegebenen 
Functionen  auftiehmen,  und  jeder  Autor,  der  das  Wollen  neben  das  Fühlen 
stellt,  also  etwas  Nichtvorhandenes  in  Reih  und  Glied  einordnet,  wird  immer 
freiwillig  oder  unfreiwillig  den  Schleier  der  Unklarheit  Über  diese  Maske 
werfen,  weil  er  einen  complicirten  Process  mit  einer  elementaren  Function 
verwechselt. 

Dass  ich  Dilthey*s  Richtung,  die  durch  die  Parole  des  modernen 
Positivismus  und  Skepticismus  charakterisirt  wird,  nicht  für  gesund  halte, 
ist  selbstverständlich;  denn  aller  Zweifel  an  der  Wissenschaft  überhaupt  ist, 
wie  bei  Agrippa  ab  Nettesheini ,  Symptom  eines  nicht  genügenden  Gebrauchs 
unserer  Denkfunctionen.  Wenn  deshalb  Dilthey  als  Parole  ausspricht:  „alle 
Wissenschaft  ist  Erfahrungswissenschaft",  um  bloss  mit  sogenannten  That- 
Sachen  ohne  Begriffe  operiren  zu  dürfen  und  die  Philosophie  aus  der  Welt 
zu  schaffen,  so  kann  ich  diese  Beschränkung  des  Allgemeinen  auf  das  Specielle 
nur  far  einen  Scherz  halten ,  da  dieser  Satz ,  als  ein  Oxymoron,  selbst  ja  die 
Erfahrung  übersteigt,  also  speculativ  ist,  und  doch  die  Speculation  be- 
seitigen will.  Es  ist  so,  wie  wenn  ein  Heir  beim  Bezahlen  ausriefe:  „alles 
Geld  ist  Papiergeld"  und  dann  zum  Spass  ein  falsches  Markstück  auf  den 
Tisch  würfe. 


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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.     Grundbegriff  der  Jurisprudenz.   57 

mehr  dem  Begriffe  nach  ganz  ein  und  dasselbe;  nur  ist  man 
gewöhnt,  dasjenige  £echt,  welches  für  den  Einzelnen  oder 
die  Gesellschaft  aus  dem  apriorischen  Verhältniss  der  Gefühle 
specnlativ  abgeleitet  werden  kann  und  welchem  sich  daher  die 
Gesinnung  der  höher  und  feiner  entwickelten  Mitglieder  der  Ge- 
sellschaft mehr  oder  weniger  annähert,  vorzugsweise  Moral  zu 
nennen,  während  man  im  Änschluss  an  die  geschichtliche  Aus- 
drucksweise  im  Staatsleben  den  Inbegriff  der  lebendig  geltenden 
Bestinunnngen,  welche  die  empirisch  gegebene  Gesinnung  der 
massgebenden  und  deshalb  herrschenden  Gesellschaftsgruppe  con- 
stituiren,  schlechtweg  als  Recht  bezeichnet.  Obgleich  daher  das 
Recht  oder  die  Moral  im  ersten  Sinne  ebenso  zeitlos  und  unver- 
änderlich ist,  wie  die  mathematischen  Verhältnisse  der  Zahlen 
und  der  Raumfiguren,  so  spricht  man  doch  in  Rücksicht  auf  die 
empirisch  und  geschichtlich  gegebenen  und  variablen  Gesinnungen 
der  Einzehnenschen  und  der  Staatsgesellschaften  von  einer 
Variabilität  und  Ent Wickelung  der  Moral  und  des  Rechts,  und 
aus  diesem  Grunde  wird  der  Gegensatz  zwischen  Moral  und 
Recht  niemals  aufhören  und  die  Gränze  zwischen  beiden  nie- 
mals endgültig  aufgehellt  werden  können,  weil  man  mit  zwei 
continuirlich  variablen  Grössen  zu  thun  hat,  da  sowohl  das  augen- 
blicklich geltende  Recht  als  die  augenblicklich  in  den  besseren 
Elementen  der  Gesellschaft  gegebene  Gesinnung  nur  eine  augen- 
blickliche Feststellung  erlaubt,  während  die  Thür  zu  weiterem 
Fortschritte  schon  offen  steht. 

Genau  dem  Ursprung  des  Rechts  entsprechend, 
findet  deshalb  auch  seine  sogenannte  Entwickelung      aechta- 
statt.     Diese  Entwickelung  wird  aber  nur  in  meta- 
phorischem Ausdruck  auf  das  juristische  Recht  selbst  bezogen, 
welches  viehnehr  als   der  von  dem  Erkenntnissvermögen  formu- 
lirte  Ausdruck  ein  an  sich  lebloses,   weil  bloss   semiotisches 
Element  ist.    Eine  Analogie  mag  dies  verdeutlichen.    Wenn  ein 
Mensch  erst  erfreuliche  und  dann  schmerzliche  Nachrichten  erhält, 
so  wechselt  jedesmal  sein  Gefühl,  und  es  coordiniren  sich  diesem 
Gefühl  entsprechend  die  Bewegungen,  welche  den  Gesichtsausdruck 
hervorbringen.    Nun  entwickeln  sich  aber  nicht  im  eigentlichen 
Sinne  die  Gesichtsausdrücke  auseinander,  sondern  die  neuen  Muskel- 
bewegungen stammen  aus  den  neuen  Gefühlen  her  und  nur,  weil 
die  früheren  Bewegungen  in  dem  bisherigen  Autdm^  -äts-  €k- 

-•'  •  .<  X  "^ '    'j  '.^  -"  'üy"  ^^-^  OOQ IC 


58  Definition  der  Religion. 

sichts  noch  fortdauerten,  so  wird  auch  der  neue  Ausdruck  sich, 
wie  hei  dem  Parallelogramm  der  Kräfte,  theils  nach  dem  neuen 
Bewegnngsantrieh,  theils  nach  der  noch  bestehenden  Form  richten. 
Genau  nach  dieser  Analogie  ist  da^i  Recht  aufzufassen  einmal 
nach  der  realen  Seite  als  der  iixirte  Bewegungszustand  oder 
die  lebendige  Kraft  aller  in  der  Gesellschaft  gegebenen  Be- 
wegnngstendenzen,  andererseits  als  der  diesen  Zustand  semiotisch 
in  Erkenntnissform  ausdrückende  Begriff,  der  irgendwie  als 
bekannter  Gebrauch  oder  in  geschriebenem  und  publicirtem  Aus- 
druck oder  in  Lehrbüchern  niedergelegt  werden  mag.  Die  Bechts- 
entwickelung  trifft  aber  zuerst  die  den  variablen  äusseren  Ver- 
hältnissen entsprechenden  Gefühle,  in  zweiter  Linie  den  sich 
entsprechend  diesen  Gefühlen  coordinirenden  Bewegungs- 
zu stand  und  erst  in  dritter  Linie  den  formulirten  Ausdruck 
desselben  in  Bechts begriffen.  Die  Veränderung  derselben  ist 
deshalb  unmöglich  eine  rein  inmianente,  weil  die  Begriffe  selbst 
an  sich  identisch  und  unveränderlich  sind,  und  das  Denken  nur 
durch  Hinzunahme  neuer  empirischer  Beziehungspunkte  den  Grund 
zur  Hervorbringung  neuer  Erkenntnisse  oder  Begriffe  findet. 

Nur  darf  man  nicht  glauben,  als  wenn  das  Massgebende  in 
der  Rechtsbildung  und  Rechtsentwickelung  die  sogenannte  Ma- 
jorität wäre.  Wie  die  kleine  und  dünne  Nadel,  die  man 
zwischen  die  Rippen  in  das  Herz  sticht,  den  grössten  Menschen 
tödtet,  so  sind  auch  in  der  Natur  die  Bewegungserscheinungen 
nicht  an  die  Anzahl  der  Elemente  gebunden,  sondern  von  compli- 
cirten  Bewegungsbedingungen  abhängig,  wie  man  ja  auch  an 
einem  langen  Hebelarm  mit  Einem  Finger  die  grössten  Massen 
aufheben  kann.  Daher  ist  das  Ausschlaggebende  im  Recht, 
welches,  wie  wir  sahen,  einen  Bewegungsorganismus  oder  auch 
bloss  eine  sociale  Maschinerie  ausdrückt,  zuweilen  ein  einzelner 
Mensch,  zuweilen  eine  Anzahl  Familien,  zuweilen  die  grosse 
Masse.  Wie  die  obligatorische  Natur  des  Rechts  zuweilen  auf 
den  Volkswillen,  d.  h.  auf  dasjenige,  womit  die  Menge  sich  be- 
friedigt fühlt,  zurückgeflihrt  wird,  so  zuweilen  auf  das  Belieben 
oder  das  Vergnügen  eines  einzelnen  Herrn  (car  tel  est  notre 
plaisir),  während  das  Gegentheil  die  Entrüstung  der  Menge  oder 
des  Herrn  hervorrufen  würde. 

Da  nun  die  Gesellschaft  allmählich  eine  äusserst  complicirte 
Maschinerie  entwickelt,   so  ist  es  auch  begreiflich^   dass  die 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.    Grundbegriff  der  Jurisprudenz.   59 

Kenntniss  von  dem  ausschlaggebenden  und  also  rechtsbildenden 
und  rechtsentwickelnden  und  obligirenden  Princip  nicht  immer 
Allen  zukommen  kann,  weshalb  es  denn  wieder  sehr  begreiflich 
ist,  dass  das  Obligatorische  im  Recht  einen  mysteriösen  Cha- 
rakter bekommt,  dem  die  Meisten  sich  beugen,  während  zu- 
weilen erst  durch  eine  Rebellion  enthüllt  werden  muss,  woher 
eigentlich  das  Recht  stammt  und  welches  Princip  bisher  die 
Zwangsmacht  bildete  und  welches  neue  Geftlhl  jetzt  die  sociale 
Bewegung  dirigirt. 

Die  Rechtsentwickelungs-Geschichte  ist  deshalb  äusserst 
schwierig,  und  sie  hat  nothwendiger  Weise  zwei  ganz  verschiedene 
Principien.  Das  eine  Princip  ist  rein  historisch  und  beruht 
auf  del*  Kenntniss  der  gesellschaftlichen  Zustände  und  ihrer  Ver- 
änderung; das  andre  Princip  ist  apriorisch  oder  speculativ 
und  besteht  in  der  Psychologie  und  Ethik,  d.  h.  in  der  Wissen- 
schaft von  den  Geftihlen  und  ihren  Werthunterschieden«  Da  nun 
die  Geflihle,  die  wir  hier  im  Allgemeinen  als  Furcht  oder  als 
Entrüstung  bezeichnen,  nicht  alle  untereinander  gleichartig  sind, 
sondern  eine  Reihe  qualitativer  Unterschiede  durchlaufen,  die 
einem  immer  umfassenderen  ideellen  Objecto  entsprechend  einen 
immer  höheren  Werth  darstellen,  so  ist  es  auch  möglich,  dass 
die  Rechtsentwickelungsgeschichte  nicht  bloss  gleichgültige  Ver- 
änderungen zu  registriren  braucht,  sondern  einem  sich  verfeinern- 
den sittlichen  Geftlhle  entsprechend  auch  eine  Entwickelung  in 
eigentlichem  Sinne  wenigstens  in  einigen  Perioden  der  Geschichte 
erforschen  kann. 

Synthetische  Methode. 
Wie  nun  musikalische  Naturen  sich  nicht  leicht  genug  thun 
können  im  Anhören  und  Ausüben  der  Musik,  so  versteht  es  sich 
von  selbst,  dass  wir  als  Philosophen  von  einer  ganz  unersätt- 
lichen Passion  für  Beweise  und  Methoden  und  ftlr  alle  Mittel 
und  Wege,  die  Wahrheit  zu  erforschen,  ergriffen  sind.  Wenn 
deshalb  der  neue  Lehrsatz,  dass  Wille  und  Geftlhl  dasselbe  ist, 
auch  durch  die  analytische  Methode  genügend  bewiesen  zu  sein 
scheinen  möchte,  so  wollen  wir  doch  gern  unserer  Neigung,  die 
flir  uns  Pflicht  ist,  gehorchen  und  auch  noch  den  umgekehrten 
synthetischen  Weg  versuchen,  um  zu  sehen,  ob  wir  auch  genau 
bei  demselben  Ziele  herauskommen  werden.     Wie  wir  vorher 

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60  Definition  der  Religion. 

vom  Willen  ausgingen  and.  auf  allen  Wegen  das  Gefühl  fanden, 
so  müssen  wir  jetzt  von  dem  Gefühle  ausgehen  und  auf  den 
Willen  herauskommen.  Synthetisch  heisst  diese  zweite  Methode, 
weil  wir  zu  dem  Gefühle  gewisse  nicht  wesentliche  Beziehungs- 
punkte hinzunehmen  müssen,  damit  der  durch  die  Sprache  irre- 
geleitete Verstand  bei  dieser  Mischung  leichter  erkennt,  dass  das 
Gefllhl  der  sogenannte  Wille  ist.  Wir  setzen  dem  Dinge  also 
gewissermassen  nur  einen  Hut  auf;  dann  weiss  Jeder  gleich, 
dass  es  ein  Mann  ist,  obgleich  der  Hut  keinen  wesentlichen  Theil 
des  Mannes  bildet. 

Die  hinzuzunehmenden  Beziehungspunkte  sind  uns  aber  durch 
unsere  Methode,  die  ein  Coordinatensystem  voraussetzt,  fest  vor- 
geschrieben, da  das  Gefühl  in  der  Mitte  steht  zwischen  den  aus- 
lösenden Vorstellungen  einerseits  und  den  Bewegungen  der 
zugeordneten  ausführenden  Organe  andererseits. 

Die  erste  Synthesis  bezieht  sich  also   auf  Ge- 

Erste  Syuihcsis.    __,  -,,x  ^,  -r^r-ii  i         tt 

ftlhl  und  Vorstellung.  Den  Schmerz  oder  die  Lust 
für  sich  allein  hält  das  gewöhnliche  Bewusstsein  der  Menschen 
nicht  für  einen  Willen;  sobald  aber  die  zugehörige  Vorstellung 
hinzugefügt  wird,  ist  der  Wille  da.  Z.  6.  nach  Italien  reisen 
als  blosse  Vorstellung  ist  kein  Wunsch  oder  Wille;  sobald  aber 
bei  dieser  Vorstellungsverknüpfung  in  dem  vorstellenden  Subjecte 
Lust  entsteht,  sagen  wir,  er  hat  den  Wunsch,  dahin  zu  reisen, 
oder  geradezu  auch:  er  hat  Lust  dazu.  Treten  andere  Vor- 
stellungen hinzu,  die  sich  auf  die  Kosten,  die  Entfernungen,  die 
hindernden  Berufspflichten  und  dergleichen  beziehen,  so  vermin- 
dert sich  vielleicht  die  Lust  und  es  hört  die  Bewegung  im  Denken 
auf,  welche  man  das  Plänemachen  und  die  Ueberlegung  zur  That 
nennt.  Die  Grade  und  Arten  des  Willens  werden  daher  durch 
die  immer  enger  und  bestimmter  zur  Bealisirung  oder  Vermitte- 
lung  erforderlichen  Vorstellungscombinationen  ausgedrückt  und 
der  sogenannte  Zweck  ist  die  ideelle  Goordinate  des  Gefühls, 
d.  h.  die  Vorstellung,  bei  welcher  man  das  Gefühl  der  Lust  in 
erster  Linie  hat.  Da  nun  das  synthetische  Ganze  von  Jeder- 
mann in  diesem  Falle  ein  Begehren  oder  Wille  genannt  wird, 
die  hinzugenommenen  Vorstellungen  selbst  aber  kein  Wille  sind, 
so  muss  der  Wille  in  dem  Gefühle  liegen. 

Um  dies  nicht  einzuräumen,  könnte  man  zwei  andere  An- 
nahmen versuchen,  erstens  die,  dass  der  Wille  zwar  nicht  in  der 

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Eintheilang  der  Functionen  der  Seele.  61 

Vorstellung  und  nicht  im  Gefllhl,  aber  doch  in  der  Synthesis 
beider  liege,  wie  z.  B.  das  Messing  zwar  nicht  Kupfer  und  nicht 
Zink,  aber  doch  die  Synthesis  beider  ist  Allein  dieser  Versuch 
würde  sich  als  eine  Gedankenlosigkeit  herausstellen;  denn  das 
Messing  ist  ein  neuer  Körper  mit  anderen  Eigenschaften  als 
denen  der  Componenten;  die  Synthesis  von  Vorstellung  und  Ge- 
fühl giebt  aber  nichts  Neues  und  von  den  Goordinaten  Verschie- 
denes, da  das  Gefühl  ja  überhaupt  ilir  sich  gar  nicht  abgelöst 
werden  kann,  sondern  erst  bei  der  Vorstellung  entspringt  und 
daher  von  Haus  ans  in  der  Synthesis  mit  der  Vorstellung  steht, 
sofern  es  in  Coordination  mit  den  Vorstellungen  so  oder  so  func- 
tionirt.  Vorstellung:  abreisen:  Lust;  Vorstellung:  nicht  reisen 
können:  Unlust 

Die  zweite  Annahme,  die  man  versuchen  könnte,  bestände 
in  der  Ansetzung  eines  unbekannten  X,  welches  in  der  Synthesis 
mit  der  Vorstellung  das  Gefühl  als  sein  Prodnct  erzeugte.  Jenes  X 
wäre  dann  der  Wille.  Dies  Hesse  sich  hören,  wenn  das  X  durch 
irgend  eine  Gedankenoperation  bekannt  werden  könnte.  Wollte 
man  nun  etwa  sagen,  es  sei  X  ein  gewisses  „Streben^',  so 
hätte  man  sich  eines  doppelten  Fehlers  schuldig  gemacht  Denn 
erstens  ist  das  „Streben^^  ein  weniger  bekanntes  Phänomen  als 
das  Gefühl,-  und  man  hätte  also  obscura  per  obscuriora  erklärt. 
Zweitens  aber  müsste  man  fragen,  wodurch  wir  zu  diesem  „Stre- 
ben'^ veranlasst  werden  könnten;  denn  ohne  Ursache  und  Grund 
wird  man  doch  nicht  streben.  Es  würde  sich  dann  zeigen,  dass 
Lust  oder  Schmerz  alles  Streben  veranlassen  und  dass  uns  also 
effectus  pro  causa  angeboten  wurde.  Das  Streben  bedeutet  eben 
nichts  anderes,  als  die  von  der  Lust  an  einer  vorgestellten  Sache 
angeregte  Bewegung  in  den  Bewegungsorganen,  mit  denen  ja 
das  Gefühlsvermögen  in  Coordination  steht 

Ich  denke  also,  man  muss  sich  dabei  beruhigen,  dass  die 
Geflihle  gerade  das  sind,  was  wir  eigentlich  meinen,  wenn  wir 
von  unserem  Willen  sprechen,  indem  wir  die  vorgestellten  Dinge, 
um  die  Coordination  mit  dem  Gefühl  oder  Willen  auszudrücken, 
sprachlich  in  bestimmten  Formen  bezeichnen,  wie  z.  B.  mit  dem 
Imperativ:  leb'  wohl,  stirb;  mit  dem  Optativ,  oder  mit  den  be- 
kannten Hülfsverben,  oder  durch  die  finalen  Partikel,  oder  durch 
sonstige  Formen  des  Heischens,  wie  z.  B.  ad  mit  dem  Gerun- 
dium, oder  durch  das  Supinum  u.  s.  w.    Denn  alle  diese  Formen 

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g2  Definition  der  Betigion. 

sollen  nichts  anderes  thnn,  als  den  Inhalt  der  Vorstellung  auf 
unser  Gefühl  beziehen,  sofern  wir  das,  was  dabei  vorgestellt 
wird,  gern  oder  ungern  sähen,  Lust  oder  Unlust  dabei  empfsLnden. 
Zweite  Unsere  zweite  Synthesis  besteht  darin,  zu  zeigen, 

synthesifl.  dass  diejenigen,  welche  in  dem  blossen  Geftlhl  den 
Willen  nicht  leicht  erkennen  können,  ihre  Zustimmung  nicht 
verweigern,  sobald  mau  zu  dem  Gefühl  das  ihm  nicht  wesent- 
liche, aber  zugeordnete  Element  der  Bewegung  hinzufligt. 
Die  Bewegungserscheinungen  werden  nämlich  nothwendig  zuerst 
bemerkt,  weil  das  Gefühl  sich  nur  dem  Fühlenden  selbst  offen- 
bart, die  durch  das  Gefühl  ausgelösten  Bewegungen  aber  in  die 
Sinne  fallen,  und  so  hat  man  ganz  natürlich  den  Willen  auch 
zuerst  sinnlich  an  seinen  Aeusserungen  gefasst  und  als  Suchen 
oder  Fliehen,  Begehren,  Gieren  oder  Verabscheuen,  sich  von 
etwas  abwenden  u.  s.  w.  bezeichnet.  Diese  Handlungen  oder 
Bewegungen  sind  aber  bloss  Zeichen  für  die  Modificationen 
unseres  Gefühls  und  geben  an  sich  ebensowenig  den  Willen  an, 
wie  die  Marionetten  durch  ihre  Bewegungen  das  Leben.  Der 
an  die  feinere  Analyse  nicht  herantretende  Verstand  fasst  des- 
halb das  Gefühl  und  die  Bewegung  wie  ein  Ganzes  zusammen 
als  Willen,  und  so  ist  indirect  und  synthetisch  bewiesen,  dass 
das  Gefühl,  welches  die  an  sich  gleichgültigen  'Bewegungs- 
erscheinungen erst  zu  Willensäusserungen  macht,  eigentlich  und 
wesentlich  der  Wille  selber  ist. 

Unter  Bewegung  oder  Handlung  meine  ich  hier  aber 
ganz  allgemein  das,  was  ich  in  meiner  Grundlegung  der  Meta- 
physik als  das  reale  Sein  nachgewiesen  habe.  Darum  sind 
die  Bewegungen  durchaus  nicht  auf  das  sogenannte  Gebiet  der 
Sinne  und  speciell  des  Gesichts-  und  Tastsinns  beschränkt  und 
nicht  bloss  räumlich,  sondern  beziehen  sich  auf  alle  Gebiete 
der  Realität 

Man  braucht  aber  nicht  gleich  die  einzelnen  elementaren 
Akte  der  Bewegung  aufzusuchen;  da  nämlich  jedem  Akt  ein  an- 
derer Akt  coordinirt  ist  und  so  fort,  so  wird  eine  Bewegung  oft 
erst  bei  sehr  entfernten  Bewegungsgliedem  wahrgenommen,  wie 
z.  B.  das  Lachen  erst  aus  den  Gesichtszügen  oder  dem  zuge- 
hörigen Lachgeräusch,  obgleich  diese  letzteren  Effekte  eine  lange 
Kette  von  Zwischengliedern  voraussetzen  und  die  ersten  Akte, 
welche  der  komischeu  Vorstellung  entsprechen,  gar  nicht  wahr- 

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Eintheilung  der  Functionen  der  Seele.  63 

nehmbar  sind.  Zweitens  wird  man  zu  erwägen  haben,  dass  viele 
Akte  stattfinden  können,  ohne  dass  irgend  eine  sogenannte  Ver- 
änderung als  ideelles  Sein  bewusst  wird,  indem  erst  eine  be- 
stimmte Anhäufung  von  einzelnen  Akten  einen  sogenannten 
psychischen  Effekt  erzielt.  Drittens  darf  man  nicht  vergessen, 
dass  die  Zeit  überhaupt  nur  ideelle  Ordnungsform  ist  und  daher 
alle  Akte  zeitlos  bestehen  bleiben,  auch  wenn  man  sich  ihrer 
nicht  mehr  bewusst  ist  Hieraus  erklärt  sich  die  Entstehung 
der  sogenannten  lebendigen  Kräfte  oder  Kraftmagazine,  deren 
Macht  sich  nur  gelegentlich  zeigt,  wie  z.  B.  erst  beim  Abspringen 
aus  dem  Wagen  die  lebendige  Kraft,  mit  der  man  vorwärts  ge- 
gangen war,  durch  den  Fall  bemerklich  wird. 

Nach  diesen  Vorerinnerungen  wird  es  nun  verständlich  sein, 
dass  die  Bewegungen,  welche  unserem  Gefühl  coordinirt  sind, 
sich  nicht  bloss  in  den  in  die  Augen  fallenden  körperlichen  Ver- 
änderungen zeigen,  sondern  auch  in  dem  sogenannten  Vorstellen 
und  Denken  verfolgt  werden  müssen.  Diese  zweite  Sphäre  der 
Bewegung  verdient  deshalb  eine  besondere  Beachtung,  weil  sie 
bisher  noch  keine  geftmden  hat.  Das  Denken  enthält  nämlich, 
abgesehen  von  seinem  ideellen  Inhalte,  eine  bestimmte  Reihen- 
folge von  Akten,  die  eine  bestimmte  Einübung,  ein  Können,  eine 
Kunst  verlangen.  Darum  mag  Jemand  einen  Lehrsatz  seinem 
ideellen  Inhalt  nach  verstanden  haben,  er  kann  ihn  darum  aber 
noch  nicht  in  kunstmässiger  Gedanken-Bewegungentwickeln, 
was  vielmehr  erst  durch  Schulung  erreicht  wird.  Die  Pädagogen 
haben  dies  in  praxi  schon  längst  seiner  Wichtigkeit  nach  er- 
kannt, indem  sie  zwischen  „Können'*  und  „Wissen"  unterscheiden, 
aber  man  hat  bisher  nicht  die  dritte  Function  des  Geistes  darin 
gesehen,  sondern  sich  mit  einer  blossen  Analogie  mit  dem  Ge- 
schehen in  der  Sinnenwelt  abgefunden,  als  wenn  solche  Analo- 
gien überhaupt  gestattet  wären,  wenn  die  Analoga  nicht  der 
Gattung  nach  identisch  wären. 

Ebenso  werden  zweitens  die  einzelnen  Akte  des  Vorstellens 
durch  gewisse  Maschinentheile,  die  nicht  fehlen  dürfen,  mit  ein- 
ander vermittelt,  und  dies  geschieht  besonders  durch  die  Sprache, 
welche  als  ein  System  von  Maschinentheilen- oder  Agitationsmit- 
teln und  reell  ^  wie  ideell  vermittelten  lebendigen  Kräften  ange- 
sehen werden  kann.  Dass  die  Sprache  an  sich  sinnlos  ist,  d.  h. 
kein  ideelles  Geftige  enthält,   wird  ja  Jedermann,   der  eine  ihm 

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g4  Definition  der  Religion. 

fremde  Sprache  hört,  völlig  evident  finden,  weil  er  eben  bei  dem 
Gehörten  nichts  denkt  und  vorstellt  Gleichwohl  kann  darch 
Aneignung  dieses  sprachlichen  Bewegungsapparates  das  Denken 
zu  einer  bestimmten  Reihenfolge  der  Auslösung  des  ideellen  Seins, 
d.  h.  der  Vorstellungen,  veranlasst  werden. 

Dass  nun  beide  geistigen  Functionen,  die  Erkenntnissthätig- 
keit  und  die  Bewegung  des  Denkens,  trennbar  sind,  lässt  sich 
schon  daraus  erkennen,  dass  man  Verse  und  Formeln  ganz  ge- 
dankenlos hersagen  kann,  wobei  sich  also  der  Bewegungsapparat 
von  dem  Denkinhalt  reinlich  flir  unsre  Distinction  abtrennt;  denn 
man  kann  umgekehrt  auch  bei  jedem  Akte,  d.  h.  hier  bei  jedem 
Worte,  den  zugehörigen  ideellen  Inhalt  auffassen  und  dann  zu 
neuen  Gedanken  kommen  oder  frtthere  Gedanken  reproduciren. 

Alles  dies  muss  man  erwägen,  wenn  man  die  neue  Lehre, 
welche  ich  hier  vorlege,  prüfen  will;  denn  wie  der  Erkenntniss- 
inhalt sich  von  den  Bewegungsakten  abtrennen  lässt,  so  auch 
die  Gefühle  oder  Wollungen.  Für  den  Dialektiker  ist  die  Di- 
stinction leicht;  es  lässt  sich  aber  auch  zeigen,  dass  in  concreto 
wegen  der  eigenthümlichen  Maschinerie  in  dem  Bewegungs- 
apparat manche  Bewegungen  der  Extremitäten  und  des  Herzens 
und  manche  Äusserungen  in  Worten  hervortreten  können,  die  nur 
als  seelische  Reflexbewegungen  aus  dem  erworbenen  mechanischen 
Zusammenhang  der  Akte,  nicht  aber  aus  den  augenblicklichen 
Gefühlen  erklärlich  sind;  denn  sie  geschehen  oft  ohne  und  gegen 
unseren  Willen  und  erregen  rückläufig  unangenehme  Gefühle,  wie 
z.  B.  angewöhnte  Bewegungen,  welche  Anstoss  erregen,  oder 
zweideutige  Wörter,  deren  zweiten  Sinn  wir  erst,  nachdem  sie 
gesprochen,  hinterher  bemerken.  Keine  Bewegung  freilich,  die 
von  der  Seele  ausgeht,  kann  erfolgen  ohne  ein  coordinirtes  Ge- 
fühl, das  jedoch  durchaus  nicht  immer  zu  Bewusstsein  zu  kommen 
braucht;  denn  auch  jene  aus  der  allmählich  entstandenen  psy- 
chischen Maschinerie  hervorgegangenen  unfreiwilligen  Be- 
wegungen sind  ursprünglich  durch  ein  GefUhl  ausgelöst  und 
erst  dann  in  den  psychischen  Mechanismus  übergegangen.  Die 
Unterscheidung  der  seelischen  Reflexbewegungen  von  den  schon 
bekannten  physiologischen  lasse  ich  hier  als  zu  weit  abführend 
bei  Seite. 

Es  könnte  nur  noch  eingewendet  werden,  dass  einige  Ge- 
flihle  doch  keine  Handlungen  mit  sich  brächten  und  gerade  wegen 

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Eintheilung  der  {Functionen  der  Seele.  65 

ihrer  Thatlosigkeit  und  Verschlossenheit  auf  den  Unterschied  von 
Wille  und  Gefühl  hingeführt  hätten.  Obgleich  nun  dieser  Ein- 
wand eine  gewisse  Popularität  für  sich  hat,  so  fehlt  ihm  doch 
eben  die  feinere  Beobachtung;  denn  es  giebt  wegen  der  Coordi- 
nation  der  geistigen  Functionen  keine  Gefühle  ohne  zuge- 
hörige Bewegungen.  Der  Geist  ist  eine  Dreieinigkeit,  da 
niemals  Eine  Function  ohne  die  beiden  andern  zur  Wirklichkeit 
kommt  und  doch  eine  jede  von  der  andern  verschieden  ist. 
Hier  z.  B.  darf  man  unter  Handlung  oder  Bewegung  nicht  bloss 
die  in  die  Sinne  fallenden  Manipulationen  und  die  auf  die  Aussen- 
welt  umgestaltend  wirkenden  Muskelarbeiten  verstehen,  sondeni 
wir  müssen  immer  auch  die  im  Gehirn,  in  der  MeduUa  oblongata 
und  im  Herzmuskel  verlaufenden  Bewegungen  und  die  nach 
Aussen  hin  unmerklichen  Thätigkeiten  des  Denkens  und  Phanta- 
sirens  hinzurechnen.  Die  Gefühle  des  Forschers  leiten  seine 
intellektuellen  Operationen,  die  Gefühle  des  Dichters  und  Musikers 
seine  Compositionen  in  Worten  und  Tonbildem.  Der  Inhalt 
dieser  Gedanken  ist  ideelles  Sein,  Vorgestelltes,  Gedachtes,  Wissen- 
schaft, Kunstwerk,  Irrthum,  Traum  oder  Wahrheit;  die  Be- 
wegungen aber,  welche  all  dies  hervorbringen,  sind  reales  Sein, 
wirkliche  Handlungen  und  wirkliche  Veränderungen  im  Leben 
etlicher  Organe  und  besonders  des  Gehirns.  Darum  wird  man 
auch  müde  vom  blossen  lautlosen  Denken  und  Rechnen,  wie  auch 
der  Puls  Zeichen  für  die  dem  Gefühl  zugehörigen  Bewegungen  giebt. 
Ebenso  sind  auch  die  ganz  stillen  Gefühle  der  Wehmuth, 
Schwermuth,  der  verschlossenen  Liebe  und  Freude  nicht  ohne 
zugehörige  Bewegungen,  nur  dass  diese  nicht  nach  Aussen  treten; 
denn  es  werden  dabei  gewisse  Vorstellungen  festgehalten, 
andere  unterdrückt  oder  abgewehrt,  so  dass  die  gewollte 
Vorstellung,  das  geliebte  Bild  im  Bewusstsein  bewahrt  und  durch 
immer  neue  Gedankenverknüpfung  wieder  hervorgerufen  und  fort- 
gesetzt wird.  Alles  dies  ist  Handlung  und  Bewegung,  und  selbst 
die  sogenannte  Lähmung  ist  eine  Folge  der  Bewegung,  da  ent- 
weder die  von  entgegengesetzten  Gefühlen  ausgehenden  Be- 
wegungen sich  äquilibriren,  oder  die  bewegende  Kraft  des  Gefühls, 
z.  B.  des  Schrecks,  so  gross  ist,  dass  sie  durch  ihren  zu  heftigen 
Innervationsschlag  die  abhängigen  kleinen  Agenten  in  den  Muskel- 
fasern alle  zusammengenommen  überwegt  und  wie  ein  Blitz  die 
Telegraphenapparate  ausser  Function  setzen  kann.     Die  feinere 

Telchmäller,  BeUglon.phllo«>phle.  ^.J^^^  by  GoOQIc 


66  befinition  der  Religion. 

Analysis  zeigt  also  auch  hier  überall  die  Goordination  des  Ge- 
fühls mit  der  bewegenden  Thätigkeit,  und  mithin  wird  man  nach 
populärem  Sprachgebrauch,  wenn  man  von  der  Betrachtung  der 
Bewegungen  ausgeht,  dafür  als  Ursache  einen  zugehörigen  be- 
wussten  oder  unbewussten  Trieb,  Willen  oder  irgend  eine  Art 
des  Begehrens  suchen  und  dann  nothwendig  eben  das  Gefühl 
als  den  eigentlichen  Agitator  finden,  dem  man  nur  den  Hut  auf- 
zusetzen braucht,  da  er  in  dieser  seiner  Beziehung  zu  den  Be- 
wegungen gerade  unter  dem  Namen  Wille  oder  Trieb  wohl- 
bekannt ist. 

Als  Resultat  der  synthetischen  Methode  ergiebt 
Reauiut.      gj^j^  ^jg^^  ^^gg  dasjenige,  was  von  dem  gewöhnlichen 

Bewusstsein  als  Wille  angesprochen  und  bezeichnet  wird,  in  dem 
blossen  Geflihl  nicht  kenntlich  genug  hervortritt,  dass  aber  die 
Bezeichnung  des  Gefühls  durch  die  zugehörigen  Vorstellungen 
und  die  Andeutung  der  dem  Gefühl  zugeordneten  Bewegungen 
hinreicht,  um  auch  von  dem  gewöhnlichen  Bewusstsein  die  An- 
erkennung des  Charakters  des  Willens  dafür  zu  gewinnen.  Mit 
den  Combinationen  der  synthetischen  Methode  wollen  wir  nicht 
etwa  das  Gefühl  als  ungenügend  hinstellen,  um  uns  das  Wesen 
des  Willens  zu  zeigen;  nein,  wenn  wir  die  auswärtigen  Be- 
ziehungen einerseits  zur  Vorstellung  oder  Erkenntniss,  anderer- 
seits zu  dem  Bewegungssystem  hervorheben,  so  sollen  damit  nur 
die  Beziehungspunkte  angegeben  werden,  welche  ausserhalb  des 
Gefühls  liegen  und  demselben  also  nicht  wesentlich  sind,  da 
sie  eben  nicht  das  Gefühl  ausmachen,  sondern  mit  demselben 
nur  in  Beziehung  stehen.  Das  Gefühl  selbst  ist  Wille  und  ent- 
hält alles  in  sich,  was  man  aus  der  Vorstellung  vom  Willen 
irgend  herausziehen  kann;  es  steht  aber  in  fester  Goordination 
mit  der  Erkenntniss  von  Objecten  und  giebt  die  Auslösung  von 
zugehörigen  Bewegungen.  Darum  dürfen  wir  jetzt  mit  grösster 
Freiheit  auch  die  Beneficien  der  Sprache  wieder  flir  uns  in 
Anspruch  nehmen,  indem  wir  ganz  nach  Gutdünken  die  Aus- 
drücke Wille  und  Gefühl  vermischt  als  Synonyma  gebrauchen, 
jenachdem  sich  etwa  eine  gewisse  Redewendung  eingebürgert 
hat,  oder  jenachdem  auch  irgend  eine  Nebenbezichung  und  Schat- 
tierung des  Gedankens  durch  das  Eine  oder  das  andere  Wort 
vortheilhafter  zum  Ausdruck  kommen  kann;  denn  da  wir  der 
Tyrannei   der   Sprache   ledig    geworden    sind,     so    können  wir 

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Eintheiiung  der  Definitionen.  ßt 

mit  gutem  Gewissen  ihre  etwaigen  Beneficien  geniessen,  ohne 
uns  darum  zu  kümmern,  ob  nicht  am  Ende  die  vergleichende 
Sprachforschung  auch  die  Wurzeln  von  Fühlen  und  Wille,  deren 
Formen  sehr  anklingen,  wie  vüelen,  vülen  und  velle  u.  s.  w.  auf 
eine  gemeinsame  Grundbedeutung  und  einheitlichen  Ursprung 
zurückführen  wird. 


§  4.     Definition  der  Religion. 

Alles  bis  hierher  Erörterte  würde  bloss  eine  lange  und  un- 
nütze Vorrede  bilden,  um  auf  unseren  eigentlichen  Zweck,  die 
Definition  der  Religion,  zu  kommen,  wenn  es  sich  hier  um  eine 
praktische  Unternehmung  drehte;  da  wir  aber  die  Philosophie 
der  Religion  im  Auge  haben,  so  ist  der  Weg  ebenso  wichtig,  wie 
das  Ziel.  Das  Philosophieren  besteht  eben  in  der  Auffindung 
der  Gedanken wege  und  in  der  Ordnung  aller  Begriffe,  weshalb 
eine  Definition,  die  nicht  in  dem  ihr  zugehörigen  Coordinaten- 
system  ihren  bestimmten  Ort  auf  richtigem  Wege  findet,  für  den 
Philosophen  eine  blosse  Frage  und  keine  befriedigende  Antwort 
ist.  Wir  haben  deshalb  auch  jetzt  noch  gar  keine  Eile,  uns  auf 
die  sogenannten  Resultate  su  stürzen,  sondern  wollen  uns  in  aller 
Müsse  und  Freiheit  erst  über  unsre  Aufgabe  orientiren,  da  wir 
ja  gesehen  haben,  dass  die  früheren  Definitionen  der  Theologen 
und  Philosophen  so  übel  abgelaufen  sind. 

Eintheilung  der  Definitionen. 

Von  den  Definitionen  lassen  wir  diejenigen,  welche 
bloss   den   gebräuchlichen   Namen   flir   die   gesuchte    ^-  systemii- 
Sache  oder  einige  charakteristische  Eigenschaften  und 
Wirkungen  derselben  anführen,   ganz  bei  Seite,   da  sie  es  zwar 
für  die  erste  Orientirung  zu  einer  mehr  oder  weniger  deutlichen 
Distinction   einer  Aufgabe  von   andern  Aufgaben  bringen,   aber 
keine  Erklärung  des  Wesens  der  Sache  darbieten. 

Die  systematische  Definition,  die  wir  suchen,  besteht  in 
der  Auffindung  der  Coordinaten,  wodurch  ein  Begriff  in  derjenigen 
Weise  bestimmt  wird,  wie  der  Astronom  den  Ort  eines  Sterns 
durch  seine  Rectascension  und  Declination  festlegt.  Man  darf 
nicht  meinen,  als  würde  von  dem  Astronomen  das  Wesen  der  Sache 

uiymzfc^  uy  x^j  v-/ v^'pc  l V- 


68  Definition  der  ReligioA. 

nicht  gesucht,  sondern  bloss  eine  Beziehung  angegeben;  denn  es 
handelt  sich  dabei  ja  nicht  um  das  Wesen  des  Sterns,  sondern 
nur  um  seinen  Ort,  dessen  ganzes  Wesen  in  diesen  geometrischen 
Beziehungen  erschöpft  ist.  Bei  den  Begriffen  aber  sind  die 
Coordinaten  auch  Begriffe,  und  jeder  Begriff  hat  in  dem  all- 
gemeinen Coordinatensystem  der  Begriffe  seinen  Ort,  so  dass 
ein  Begriff  nur  durch  seine  Coordinaten  zu  bestimmen  ist,  da 
alles  Begreifen  und  Erkennen  nur  in  Beziehungen  und  den  sich 
dabei  ergebenden  neuen  Gesichtspunkten  und  Beziehungseinheiten 
besteht.  Denn  alles  Erkennen  ist  entweder  specifisch  oder 
semiotisch.  Unter  specifischer  Erkenntniss  verstehe  ich  die- 
jenige, deren  Gegenstand  selbst  Erkenntniss  ist,  wie  z.  B.  die 
Zahlen,  die  Zeit,  die  Kategorien.  Semiotisch  aber  nenne  ich 
diejenige,  deren  Gegenstand  niemals  erkannt  werden  kann,  weil 
er  nicht  als  Theil  zur  Erkenntnissthätigkeit  gehört,  sondern  als 
ein  ausserhalb  der  Erkenntnissfunction  liegendes  Element  durch 
ein  unmittelbares  Bewusstsein  gegeben  sein  muss.  So  ist  z.  B.  „blau, 
grtin,  traurig,  Liebe,  „Ich"  niemals  zu  erkennen,  weil  alle  Demon- 
strationen und  Definitionen  eines  solchen  Objects  der  Forschung 
voraussetzen,  dass  man  durch  unmittelbares  Bewusstsein  den 
Gegenstand  schon  kenne  und  ohne  dieses  Bewusstsein  auch  dureh 
die  gründlichste  Wissenschaft  nicht  zur  Erkenntniss  desselben 
gelangen  werde,  wie  z.  B.  selbst  die  modernste  Wellentheorie 
den  Blinden  nicht  zur  Empfindung  von  blau  oder  grtin  verhilft. 
Über  diese  Unterscheidung  bitte  ich  meine  „Grundlegung  der 
Metaphysik"  zu  vergleichen. 

Während  nun  die  Mathematik  eine  specifische  Wissenschaft 
ist,  sofern  ihr  ganzer  Gegenstand  aus  blossen  Erkenntnisselementen 
besteht,  welchen  kein  andres  Sein  als  in  der  Erkenntnissftinction 
selbst  zukommt,  so  ist  umgekehrt  die  Religionswissenschaft 
semiotisch,  sofern  ihr  Gegenstand,  dieEeligion,  nicht  bloss  ein 
Begriff,  ein  Urtheil  oder  Schluss,  sondern  eine  von  aller  Er- 
kenntniss verschiedene  geistige  Function  ist,  die,  wenn  sie  auch 
eine  gewisse  Erkenntniss  voraussetzt,  doch  nicht  in  dieser  Er- 
kenntniss besteht.  Wenn  wir  daher  die  Religion  definiren  sollen, 
so  kann  es  sich  nur  darum  drehen,  in  semiotischer  Erkenntniss 
die  Beziehungen  aufzufinden,  in  welchen  dieser  uns  durch  un- 
mittelbares Bewusstsein  bekannte  Gegenstand  seine  flir  die  Er- 
kenntniss bestimmbare  und  allgemein  und  fest  geordnete  Stelle  hat. 

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Elntheilung  der  Definitionen.  69 

Allein  diese  Eintheilung  der  Definitionen  ist  noch 

,  .11.  2.  Individuelle, 

nicht  genügend;  wir  müssen  vielmehr  einen  neuen  generiache. 
wichtigen  Unterschied  hinzunehmen.  Der  Gegenstand,  *^«*^®- 
den  wir  definiren  wollen,  bildet  nämlich  keinen  individuellen 
Lebensakt,  sondern  wiederholt  sich  bei  derselben  Persönlichkeit 
sowohl,  als  auch  bei  unendlich  vielen,  oder  allen  Persönlichkeiten 
in  den  verschiedensten  Formen.  Ausserdem  finden  wir  in  uns 
bei  Betrachtung  dieser  verschiedenen  Formen  Äusserungen  unseres 
Gefühls,  wonach  wir  über  die  Wahrheit,  die  Güte  und  die  Schön- 
heit dieser  Gegenstände  urtheilen.  Demgemäss  muss  es  bei  der 
Religion,  wie  bei  den  analogen  Gegenständen,  drei  Arten  von 
Definitionen  geben:  erstens  die  individuelle,  wodurch  der 
singulare  in  der  Geschichte  nur  einmal  vorkommende  Akt  be- 
stimmt wird,  zweitens  diegenerische,  wodurch  wir  alle  die  wirk- 
lichen und  möglichen  Formen  durch  gewisse  Coordinaten  in  einen 
allgemeinen  Ausdruck  zusammenfassen,  und  drittens  die  Definition 
des  Ideals,  wodurch  diejenige  Form  semiotisch  erkannt  wird, 
welche  unser  wissenschaftliches,  sittliches  und  ästhetisches  Ge- 
fühl vollkommen  befriedigt  und  deren  Selbsterfahrung  sich 
zugleich  in  dem  eigenen  Bewusstsein  über  alle  die  andern 
Formen  erhebt. 

Die  individuelle  Definition  im  strengen  Sinne  ist  Sache 
der  individuellen  Selbsterkenntniss;  im  weiteren  Sinne  aber,  wo 
sie  das  gesammte  religiöse  Leben  eines  Individuums  umfasst, 
kann  sie  jenachdem  zur  Aufgabe  der  Biographie,  der  Welt- 
geschichte und  auch,  wenn  die  Persönlichkeit  religionsstiftend 
war,  zum  Hauptgeschäft  der  positiven  Theologie  werden.  Der 
Philosoph  aber  hat  mit  dieser  Aufgabe  zunächst  nichts  zu  thun. 
Ich  sage  zunächst;  denn  ich  habe  ja  in  meiner  Metaphysik 
genügend  gezeigt,  dass  der  Idealismus  in  der  Philosophie,  welcher 
nur  das  sogenannte  Allgemeine  oder  die  Idee  für  das  Wesen  der 
Dinge  hält  und  deshalb  mit  Geringschätzung  auf  das  Individuelle 
sieht  und  es  für  immmer  von  der  Philosophie  ausschliesst, 
nicht  bloss  gar  kein  Verständniss  für  die  Geschichte  hat,  sondern 
auch  überhaupt  eine  falsche  und  ganz  unbefriedigende  Auffassung 
der  Welt  darbietet.  Ich  lasse  es  daher  zunächst  offen,  ob  die 
Erforschutig  der  Religion  uns  nicht  an  einen  Punkt  führt,  wo 
sich  zeigen  könnte,  dass  die  Definition  des  Ideals  der  Religion 
in  der  individuellen  Erkenntniss  des  religiösen  Lebens  einer 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


70  Definition  der  Religion. 

historischen  Persönlichkeit  allein  die  zugehörigen  festen  Grund- 
linien findet  Denn  da  die  Welt  ein  technisches  System  bildet, 
so  ist  in  ihr  auch  alles  in  der  ideellen  Form  der  Geschichte  für 
jeden  perspectivischen  Standpunkt  gegeben,  und  mithin  ist  es 
Yon  vornherein  nicht  unwahrscheinlich,  dass  unter  den  vielen 
Formen  der  Religion  auch  die  ideale  einen  historischen  Vertreter 
hat,  durch  dessen  Leben  allein  die  Auslösung  und  Erweckung 
der  zugehörigen  religiösen  Kräfte  Vielen  und  auch  uns  zu  Theil 
geworden  ist. 

Zunächst  aber  liegt  gar  keine  Veranlassung  vor,  auf  eine 
Betrachtung  der  Geschichte  überzugehen.  Ebensowenig  freilich 
können  wir  sofort  eine  Definition  des  Ideals  der  Religion  zum 
Besten  geben;  denn  wenn  wir  nicht  vorher  alle  die  verschiedenen 
möglichen  Religionsformen  kennen  und  durch  viele  Beweisftlhrungen 
ihren  Werth  oder  ünwerth  ausgemacht  haben,  so  würde  eine 
solche  Definition  eine  blosse  Behauptung  sein,  die  nur  für  einen 
Neugierigen  ein  gewisses  Interesse  hätte.  Wenn  wir  deshalb 
diese  Definition  bis  auf  das  Ende  unserer  Untersuchung  ver- 
schieben, so  wollen  wir  nicht  säumige  Schuldner  sein,  sondern 
die  an  sich  gerechte  Forderung  ist  nur  vor  dem  Termin  nicht  fällig. 

Andrerseits  ist  aber  das  Versprechen  mehrerer  Definitionen 
auch  keine  unnütze  Liberalität,  da  man  meinen  könnte,  auf  eine 
Frage  gehöre  nur  eine  Antwort,  sondern  man  muss  wissenschaft- 
licher Weise  mehr  als  eine  Frage  stellen,  da  es  nicht  genügen 
kann,  z.  B.  alle  Augen,  die  weitsichtigen,  die  kurzsichtigen,  die 
pathologisch  afficirten  und  die  gesunden  bloss  als  Sehwerkzeuge 
zu  definiren,  während  wir  doch  ohne  Zweifel  auch  zu  wissen 
verlangen,  ob  nicht  eine  dieser  Erscheinungsformen  die  bessere 
sei  und  worin  die  Vollkommenheit  des  Auges  bestehe. 

Die  generische  Definition,  die  wir  also  zunächst  zu  finden 
haben,  werden  wir  als  Philosophen  nicht  durch  historische  Ver- 
gleichung  suchen,  auch  nicht  wie  Quetelet  statistisch  durch  Er- 
mittelung des  Durchschnittlichen-,  denn  die  sogenannte  Abstraction, 
wie  sie  von  den  früheren  Logikern,  z.  B.  von  Wundt,  erklärt 
wird,  ist  eine  Illusion,  da  wir  niemals  durch  Elimination 
von  Merkmalen  eines  Gegenstandes  abstrahieren,  sondern  um- 
gekehrt nur  durch  Uinzufügung  neuer  Beziehungspunkte  und 
Gesichtspunkte.  Daher  würden  wir  durch  historische  und  sta- 
tistische Betrachtungsweise    au8    der    Sphäre    der    blossen    Er- 

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Eintbeilung  der  Definitionen.  7 1 

scheinungsformen  nicht  heraustreten.  Wir  müssen  also  die  Kennt- 
niss  der  historischen  Erscheinungen  zwar  voraussetzen,  das  Wesen 
der  Sache  aber,  welches  sich  nur  in  unserem  unmittelbaren  Be- 
wnsstsein  offenbaren  kann,  durch  die  unabhängig  von  allem 
Historischen  gegebenen  apriorischen  Coordinationen  unserer  gei- 
stigen Functionen  zu  bestimmen  suchen.  Wenn  wir  aber  nicht, 
wie  es  in  den  Lehrbüchern  Brauch  ist,  sofort  eine  Definition 
abfeuern,  sondern  wieder  mit  einer  gewissen  Umständlichkeit 
verfahren,  so  werden  wir  uns  erinnern,  dass  wir  keine  Eile  haben, 
sondern  philosophieren  wollten,  und  dass  nur  die  vollkommen 
begründete  Erkenntniss  befriedigend  ist. 

In  meiner  Schrift  „über  das  Wesen  der  Liebe"  3  Anlage.  Akt. 
habe  ich  darauf  aufmerksam  gemacht,  dass  die  lebendige  Kran. 
Definition  der  Liebe  entweder  die  Anlage  und  Fähigkeit  zu  lieben 
in's  Auge  fasst^  oder  den  Akt  und  die  Ausübung  der  Liebe,  oder 
drittens  die  durch  viele  Akte  erworbene  und  bleibende  Gesinnung 
der  Liebe.  Da  wir  also  drei  verschiedene  und  sich  jenachdem 
widersprechende  Definitionen  der  Liebe  gewinnen,  jenachdem 
wir  uns  nämlich  auf  den  einen  oder  den  anderen  dieser  drei 
Gesichtspunkte  stellen,  so  müssen  wir  auch  bei  der  Religion  uns 
fragen,  ob  wir  bloss  die  Anlage  zur  Religion,  wie  sie  schon  der 
Säugling  im  Unterschiede  vom  Thier  besitzt,  studiren  wollen, 
oder  die  Eigenthümlichkeit  der  Akte  des  hervorbrechenden 
religiösen  Lebens,  wie  dies  Schleiermacher  in  einseitiger  Weise 
für  das  religiöse  Gefühl  allein  in's  Auge  fasste,  oder  endlich  die 
erworbene  lebendige  Kraft  und  religiöse  Gesinnung,  die  auch 
im  Schlaf  und  selbst  bei  irreligiöser  Handlung  und  einzelnen 
Sünden  im  Grunde  der  Seele  fortdauert.  Allein  obgleich  diese 
Unterschiede  von  dem  grössten  Interesse  sind  und  unser  Urtheil 
über  viele  Erscheinungen  des  religiösen  Lebens  allein  zurecht- 
iilhren  können,  so  bringt  doch  unsere  nächste  Aufgabe,  eine 
gcnerische  Definition  zu  gewinnen,  einen  Standpunkt  mit  sich, 
von  welchem  aus  jene  drei  Unterschiede  zugleich  berücksichtigt 
werden  und  also  nicht  mehr  in  ihrer  Besonderheit  hervorgehoben 
zu  werden  brauchen;  denn  wenn  wir  die  Religion  als  ein  be- 
stimmtes geistiges  Coordinatensystem  auffassen,  so  ist  durch 
die  apriorische  Construction  desselben  sowohl  die  Anlage  zur 
Religion,  als  der  Akt  und  endlich  auch  die  bleibende  Gesinnung 
mit  bestimmt. 

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72  Definition  der  Religion. 

Durch  die  generische  Definition  wird  zugleich  auch  die 
Frage  nach  dem  Ursprünge  der  Religion  zwar  nicht  beantwortet, 
aber  doch  zur  Beantwoi-tung  vorbereitet,  da  die  befriedigende 
genetische  Erklärung  zwar  erst  durch  die  wahre  Eeligion 
geboten  werden  kann,  die  generische  Definition  aber  doch  schon 
die  Coordinationen  aufzeigt,  welche  eine  unerklärliche  Illusion 
der  Menschheit  bilden  würden,  wenn  der  lebendige  Gott  nicht 
von  Anfang  an  in  dem  menschlichen  Geiste  sich  irgendwie  oflFen- 
barte.  Doch  diese  Frage  gehört  noch  nicht  hierher;'  studieren 
wir  vielmehr  jetzt  die  Elemente  der  Definition. 

Die  Elemente   der  Goordination. 
1.  Der  ereie  Bc-  Indem  wir  an  unserem  Auge  alles  das  vorüber- 

zieht!  DgHpunkt, 

Fuiidamentiim  zlchcn  lasscu,  was  die  Menschen  Religion  oder  re- 
rcuuoni».  ügiösc  Lebensäusscrung  genannt  haben,  so  zeigt  sich 
sofort,  dass  wir  davon  nur  eine  semiotische  Erkenntniss  gewinnen 
können,  d.  h.,  dass  wir  davon  nur  soviel  verstehen,  als  wir  durch 
analoge  eigene  Erfahrung  zu  deuten  vermögen.  Wir  bemerken 
dabei,  dass  es  sich  in  allen  diesen  eigenen  oder  fremden  Akten 
immer  um  eine  Beziehung  zwischen  uns  selbst  und  einem  andern 
Wesen,  dem  sogenannten  Gott,  handelt.  Die  genaue  Feststellung 
dieser  Goordination  ist  die  generische  Definition  der  Religion. 

Was  zunächst  den  ersten  Beziehungspunkt,  den  Menschen 
betrifft,  so  ist  der  Mensch  ein  vielßlltig  zusammengesetztes  Ganzes, 
und  es  kommt  eben  darauf  an,  denjenigen  Punkt  darin  zu  iso- 
liren,  der  flir  die  Religion  die  Coordinate  bildet. 

Zunächst  sind  aus  dem  Ganzen,  welches  wir  Mensch  nennen, 
die  Körperbestandtheile  und  ihre  Functionen  wegzulassen,  weil 
diese  nur  physische  Beziehungen  haben  und  keine  religiöse 
Thätigkeit  ausüben.  Im  geistigen  Leben  jedoch  sind  auch  wieder 
verschiedene  Functionen  zu  unterscheiden  und  zwar  Geflihl 
(=  Wille),  Handlung,  Erkenntniss.  Nun  haben  die  früheren  Ge- 
lehrten häufig  die  Religion  in  eine  dieser  Functionen  eingeordnet 
und  sie  bloss  nach  der  dogmatischen,  ethischen  oder  cultischen 
Seite  aufgefasst.  Wir  müssen  daher  zunächst  fragen,  ob  wirklich 
der   gesuchte  Beziehungspunkt   in  einer  dieser  Functionen  liegt 

Das  erkennende  Vermögen  des  Geistes  und  die  Erkenntniss 
steht  aber,  wie  alle  Wissenschaft  zeigt,  nur  in  Beziehung  zu  den 
sogenannten  Wahrheiten,  also  z.  B.  zu  dem  Pythagoreischen  Lehr- 

uiumzeu  uy  'v_JvyVjVlv^ 


Analysis  der  znsammenge hörigen  Elemente.  73 

Satze,  za  dem  Gesetze  der  Erhaltung  der  Kraft,  zu  den  Gesetzen 
der  Lautverschiebung  u.  s.  w.  Und  wenn  es  auch  in  der  heiligen 
Schrift  heisst,  dass  Gott  die  Wahrheit  ist,  so  bedeutet  dies  doch 
etwas  ganz  anderes,  als  den  Gegenstand  und  Inhalt  der  wissen- 
schaftlichen Thätigkeit,  da  Gott  in  der  Religion  überall  als  ein 
Wesen  aufgefasst  wird,  welches  nicht  wie  die  Wahrheit  blosser 
Inhalt  der  Denkthätigkeit  eines  Forschers  sein  kann.  Wenn  die 
Wahrheit  daher  auch,  wie  wir  später  erforschen  werden,  durch 
Gottes  Wesen  bedingt  ist,  so  geht  sein  metaphysisches  Wesen 
doch  nicht  in  diese  logische  Function  auf.  Darum  können  selbst 
die  Religiösen  theologische  Forschungen  anstellen  und  Gott  seinen 
Eigenschaften  und  seinem  Wesen  nach  bestimmen  und  darüber 
disputieren,  ohne  dass  diese  Thätigkeit  zugleich  eine  religiöse 
wäre,  weil  es  bei  der  Religion,  wie  uns  die  historisch  bekannten 
Religionen  und  unser  deutendes  eigenes  Bewusstsein  bezeugt, 
nicht  auf  die  Wahrheit  und  Falschheit  der  Urtheile  ankommt; 
denn  wir  nennen  selbst  den  Fetischanbeter  religiös  und  zuweilen 
einen  theologischen  Disputax  irreligiös,  obgleich  der  letztere  viel 
richtigere  wissenschaftliche  Begriffe  als  jener  besitzt.  Die  logische 
Erkenntniss  bildet  also  nicht  den  Beziehungspunkt  für  die  Religion. 

Ebensowenig  kann  das  Geftlhl  oder  der  sogenannte  Wille 
allein  ftlr  sich  als  Beziehungsgrund  der  Religion  gelten;  denn 
das  Geftihl  kommt  eben  überhaupt  gar  nicht  isolirt  vor,  sondern 
setzt  schon  immer  einen  Gegenstand  in  dem  Erkenntnissvermögen 
voraus,  durch  dessen  Vorstellung  erst  Gefühle  von  Lust  oder 
Unlust  ausgelöst  werden.  Schleiermacher's  Isolirung  des  Ge- 
fühls ist  also  schon  psychologisch  unhaltbar. 

In  derselben  Weise  lassen  sich  auch  die  Handlungen  nicht 
isoliren,  da  sie  immer  erst  erfolgen,  wenn  vorher  etwas  percipirt 
oder  vorgestellt  und  dann  durch  das  Gefühl  ein  Werthunterschied 
constatirt  ist,  welchem  gemäss  Bewegimg  oder  Handlung  entsteht. 

Also  kann  das  Fundament  der  Religion  in  keiner  der  drei 
geistigen  Functionen  selber  liegen.  Ausser  dieser  Dreiheit  ist 
aber  nichts  Andres  bei  dem  Menschen  mehr  übrig,  als  das  Ich, 
das  Bewusstsein  seiner  selbst  als  Wesen,  d.  h.  das  Selbst- 
bewusstsein  oder  das  persönliche  Bewusstsein.  In  diesem 
Bewusstsein  sind  natürlich  die  geistigen  Functionen  alle  ein- 
geschlossen, aber  alle  bezogen  auf  das  Ich,  welches  zu  sich  sagt: 
„Ich  denke,  Ich  ftlhle,  Ich  handle."    Mithin  müssen  wir  von  den 

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74  Definition  der  Religion 

Functionen  zu  dem  Herrn  derselben  tibergehen,  wenn  wir  das 
Wesen  der  Religion  begreifen  wollen. 

Durch  die  neue  Philosophie,  von  deren  Gestalt  ich  in  meiner 
„Grundlegung  der  Metaphysik^^  den  Umriss  gegeben  habe,  ist  es 
möglich  geworden,  neben  den  drei  Functionen  des  Geistes  noch 
diesen  Herrn  und  Eigenthümer  des  geistigen  Lebens  kennen  zu 
lernen,  der  in  der  früheren  Philosophie  vor  der  zu  nahen  Beachtung 
der  einzelnen  Erscheinungen  des  Geistes,  wie  der  Wald  vor  den 
Bäumen,  nicht  bemerkt  wurde.  Man  hat  bisher  nämlich  immer 
Bewusstsein  mit  Erkenntniss  verwechselt  und  hielt  deshalb 
das  Selbstbewusstsein,  wozu  man  ja  durch  die  Sprache  auch 
berechtigt  war,  für  ein  Wissen  und  Erkennen  oder  Denken,  kurz 
für  einen  Akt  des  erkennenden  geistigen  Vermögens.  Ich  habe 
aber  in  meiner  Metaphysik  schon  darauf  hingewiesen,  dass  man 
die  Leitung  durch  die  Sprache  gänzlich  aufgeben  muss,  wenn 
man  philosophirt;  denn  sie  enthält  bloss  die  populären  ersten 
Unterscheidungen,  die  der  Mensch  bei  dem  Anfange  seiner  Cultur 
macht  und  die  deshalb  jetzt  ebensowenig  brauchbar  oder  gar  mass- 
gebend sind,  als  etwa  seine  steinernen  Aexte  und  seine  Bögen 
und  Pfeile  flir  unsre  moderne  Kriegsflihrung.  Es  ist  darum  hier 
nur  ohne  alle  Verwunderung  anzumerken,  dass  die  Menschen  sich 
schwer  aus  der  Gewohnheit  und  am  Schwersten  aus  der  durch 
die  angelernte  und  eingewöhnte  Sprache  begründeten  geistigen 
Knechtschaft  befreien.     Zum  Philosophieren  aber  gehört  Freiheit. 

Es  wird  deshalb  nöthig  sein,  wenigstens  ganz  kurz  das 
Kecht  zur  Abtrennung  des  Selbstbewusstseins  von  der  erkennenden 
Function  zu  beweisen.  Nun  ist  jedes  Wissen  und  Erkennen  an 
gewisse  vorauszusetzende  Beziehungspunkte  gebunden;  denn  wenn 
wir  z.  B.  erkennen  sollen,  dass  ein  Planet  lichtreicher  ist  als 
die  Fixsterne,  in  deren  Nähe  er  augenblicklich  steht,  so  müssen 
wir  sowohl  den  Planeten,  als  diese  Sterne  sehen  können.  Wenn 
ihn  aber  eine  Wolke  verdeckt,  so  wird  unser  erkennendes  Ver- 
mögen seine  Arbeit  einstellen.  So  sind  die  Beziehungspunkte 
bei  aller  Erkenntniss  entweder,  wie  hier,  unmittelbar,  d.  h.  ohne 
selbst  Producte  der  Erkenntnissfunction  zu  sein,  gegeben,  oder 
sie  können  auch  wieder  aus  solchen  gewonnenen  Producten  be- 
stehen, wie  man  z.  B.  über  das  Verhältniss  von  Staats-  und 
Criminalrecht  forschen  kann,  deren  BegrifiFe  beide  selbst  erst  durch 
einen  Erkenntnissprocess  gefundeii  werden.     Aller  spätereii  Er- 

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Analysis  der  zusammengehörigen  Elemente.  75 

kenntnissarbeit  liegen  aber  immer  zuletzt  einfache  schlechthin 
gegebene  Beziehungspnnkte  zu  Grunde,  die  durch  keine  Erkennt- 
nissthätigkeit  erst  erworben  werden  können,  wie  z.  B.  die  oben 
angeführten  Sinnesempfindungen  von  dem  Planeten  und  den  Fix- 
sternen, oder  wie  die  Kundgebungen  des  inneren  Sinnes,  wodurch 
wir  uns  unserer  Gefühle  und  unseres  Thuns  und  Leidens  unmittelbar 
bewnsst  werden.  Solche  Data  sind  nun  als  einfaches  Bewuss t- 
sein  gegeben,  wobei  wir  das  etymologisch  angedeutete  Wissen 
eben  als  ein  irreführendes  und  mit  dem  Sinn  von  Wissenschaft 
unvereinbares  Wort  hervorheben  und  rechtskräftig  annuUiren 
müssen.  Wir  haben  aber  nicht  die  Leidenschaft,  neue  Wörter  zu 
bilden.  Warum  sollte  man  z.  B.  unseren  Planeten  nicht  mehr 
Erde  nennen,  obwohl  Kinder,  welche  Wasser,  Erde  und  Luft  zu 
unterscheiden  gelernt  haben,  daran  Anstoss  nehmen  könnten,  dass 
der  Planet  Erde  nun  doch  auch  noch  Wasser  und  Luft  mit  ent- 
halte? Darum  wollen  wir  ruhig  das  Wort  Bewusstsein  und 
Selbstbewusstsein  beibehalten,  ohne  flir  die  falschen  Folgerungen 
aus  der  Etymologie  zu  haften,  als  wenn  dadurch  ein  Wissen 
gegeben  würde. 

Wenn  wir  uns  nun  soweit  durch  das  Gestrüpp  durchgearbeitet 
haben,  so  gewinnen  wir  eine  freie  Aussicht  und  sehen  jetzt  ganz 
klar,  wie  unser  Ichbewusstsein  nicht  das  Fichtesche,  Hegeische 
oder  Platonische  Subject  —  Object,  oder  Wissen  vom  Wissen 
ist,  sondern  ein  neuer  einfacher,  als  Bewusstsein  gegebener  Be- 
ziehungspunkt,  der  durch  keine  Erkenntnissarbeit  gefunden  werden 
kann,  sondern  uns  ebenso  gegeben  werden  muss,  wie  der  Planet, 
wenn  wir  ihn  mit  einem  andern  Stern  vergleichen  sollen.  Wenn 
wir  sagen:  Ich  erkenne,  Ich  fUhle,  Ich  handle,  so  meinen  wir 
nicht,  das  Erkennen  erkennt,  das  Erkennen  fühlt  und  das  Er- 
kennen handelt,  sondern  wir  wissen  sehr  wohl,  dass  das  Erkennen 
nicht  fühlen  und  handeln  kann,  dass  aber  das  Ich  alle  drei 
Functionen  ausübt  und  mit  keiner  derselben  identisch  ist.  Wie 
sollten  wir  von  den  Farben  etwas  wissen,  wenn  wir  blind  wären 
und  sie  sich  nicht  selbst  in  unserem  Bewusstsein  offenbar  machten? 
Wie  sollen  wir  den  Aerger,  die  Lust,  die  Scham  u.  s.  w.  kennen 
lernen,  wenn  diese  Geftlhle  nicht  selbst  sich  kundgäben  und 
unmittelbar  bewnsst  würden,  und  also  nicht  durch  Vennittelung 
eines  anderen  Princips,  welches  nichts  von  solcher  Qualität 
besitzt    Ebenso  wird  auch  das  Ich  oder  das  Selbst  sich  selbst 

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J 


76  Definition  der  Religion. 

bewusst  ohne  Erkennissarbeit  und  Schluss.  Denn,  da  wir  sagen : 
Ich  denke,  Ich  sehe,  Ich  freue  mich,  Ich  habe  Schmerz  u.  s.  w., 
so  können  diese  prädicativen  Bewusstseinsqualitäten  das  Ich  nicht 
in  sich  bergen,  welches  vielmehr  dem  Verschiedenen  in  einerlei 
Weise  zukommt,  sich  zu  ihnen  bloss  in  einem  Verhältniss  befindet, 
und  also  durch  ein  eigenes  Bewusstsein  offenbar  werden  muss, 
wenn  wir  überhaupt  etwas  davon  wissen  sollen. 

In  der  Erkenntnisstheorie,  Logik  und  Metaphysik  muss 
diese  Frage  nun  ausfuhrlicher  erörtert  werden;  hier  würde 
uns  bei  weiterer  Beweisführung  nur  ein  Tadel  der  Kritiker 
treflfen,  dass  wir  zu  sehr  abschweiften.  Die  Neuheit  des  meta- 
physischen Lehrsatzes  möge  aber  hier  das  Recht  oder  wohl  auch 
die  Verpflichtung  zu  dieser  kürzeren  Abschweifang  vertheidigen 
oder  erweisen. 

Wenn  wir  nun  das  Ich  als  Ganzes  mit  seinen  zugehörigen 
Functionen  nehmen  und  es  sich  seiner  Beziehung  zu  einem 
anderen  Wesen  ähnlicher  Art  bewusst  werden  lassen,  so  werden 
wir  ihm  eine  Gesinnung  zuschreiben.  Mit  diesem  Worte  darf 
aber  ebensowenig,  wie  mit  dem  Worte  Selbstbewusstsein  ein 
Wissen  gemeint  war,  etwa  an  einen  blossen  Willen  gedacht 
werden.  Die  ganze  frühere  Philosophie  und  also  auch  die  von 
philosophischen  Begriffen  abhängige  theologische  Dogmatik  und 
Ethik  hat  diesen  Punkt  nicht  in^s  Reine  bringen  können,  weil 
der  Begriff  des  Seins  bisher  noch  keine  hinreichende  Erklärung 
gefunden  hatte.  Gleichwohl  haben  die  Theologen  viel  besser  als 
die  Philosophen  immer  für  den  Begriff  der  Religion  unsere  per- 
sönliche Stellung  zu  Gott  in  Anspruch  genommen,  nur  konnten 
sie  diesen  Begriff  des  Persönlichen  nicht  anders  als  durch  den 
Willen  verstehen,  weil  ihnen  die  Philosophie  keinen  anderen 
Begriff  dafür  zur  Verfügung  stellte.  Der  Wille  sollte  eben,  wie 
man  sich  ausdrückte,  das  Centrale,  die  Ganzheit,  die  Persönlich- 
keit, die  Centripetalkraft  u.  s.  w.  vorstellen.  Durch  die  neue 
Metaphysik  wird  es  uns  aber  jetzt  möglich,  das  Ich  von  seinen 
Functionen  zu  unterscheiden  und  demgemäss  auch  den  Willen 
von  der  Persönlichkeit  zu  trennen. 

Die  Frage  hat  eine  so  grosse  Wichtigkeit,  dass  selbst  hier 
wieder  eine  Abschweifung  erlaubt  sein  muss.  Nehmen  wir  also 
zum  Substrat  der  Analyse  zwei  Persönlichkeiten  und  lassen  sie 
durch  Freundschaft  oder  Liebe  verbunden   sein,     Die  Frage  ist 

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Analysis  der  zuoammengehörigeii  Elemente.  77 

jetzt,  ob  sie  bloss  durch  den  Willen  verbunden  sind.  Es  ist  nun  zwar 
richtig,  dass  sie  sich  einander  gefallen  und  sich  an  einander  freuen 
und  also  durch  das  Geflihl  oder  den  Willen  auch  zusammen- 
hängen; wäre  aber  die  VerknUpfiing  möglich,  wenn  wir  bloss  das 
verknüpfende  Band  besässen,  während  die  Wesen,  welche  ver- 
knüpft werden  sollen,  uns  aus  den  Händen  glitten?  Denn  wenn 
der  Wille  die  Persönlichkeit  ist,  so  ist  das  Band  das  zu  Ver- 
bindende, und  man  würde  statt  der  Brautleute  zwei  Ringe  copu- 
lieren  können.  Man  sieht  hieraus  die  Unthunlichkeit,  Wille  und 
Persönlichkeit  zu  identificieren. 

Ausserdem  muss  die  Eine  Persönlichkeit  von  der  andern 
doch  auch  Vorstellung  und  Erkenntniss  haben;  sie  müssen  sich 
ihre  Gedanken  mittheilen,  wenn  sie  sich  lieben  sollen.  Also 
gehört  zur  Freundschaft  und  Liebe  auch  noch  das  Erkenntniss- 
vermögen und  nicht  bloss  der  Wille.  Das  persönliche  Verhältniss 
ist  mithin  kein  einfaches  Willensverhältniss. 

Endlich  müssen  die  Freunde  doch  auch  etwas  thun  in  Be- 
ziehung auf  einander;  sie  müssen  sich  besuchen,  mit  einander 
reden  und  allerlei  zusammen  unternehmen.  Wer  wollte  also 
drittens  das  Vermögen  der  Handlung  oder  Bewegung  aus  der 
Freundschaft  wegnehmen  dürfen  und  dann  noch  von  einem  per- 
sönlichen Verhältniss  sprechen! 

Es  zeigt  sich  daher,  dass  Wille  und  Persönlichkeit  nicht 
identisch  ist  Der  Begriff  der  Persönlichkeit  ist  aber  erst  mög- 
lich durch  die  neue  Metaphysik,  da  man  nun  ein  Ich  hat  mit 
Functionen,  die  es  von  sich  unterscheidet  und  in  denen  es  sich 
ausdrückt  oder  symbolisirt.  Das  Bewusstsein  von  Beiden,  d.  h. 
vom  Ich  und  von  den  Functionen,  fällt  auch  nicht  zusammen; 
denn  jeder  Akt  des  Erkennens,  WoUens  oder  Thuns  hat  sein 
eigenes  Bewusstsein,  wenn  er  überhaupt  zu  Bewusstsein  kommt, 
und  sein  Bewusstsein  kann  nicht  das  Bewusstsein  irgend  eines 
anderen  Aktes  desselben  oder  eines  Aktes  der  anderen  Vermögen 
in  sich  schliessen.  Das  Bewusstsein  des  Ichs  schliesst  aber  so- 
wohl das  Bewusstsein  der  andern  Akte  in  sich,  als  es  auch  weit 
entfernt  ist,  bloss  die  Summe  oder  Totalität  dieser  Bewusstseins- 
akte  zu  sein,  da  das  Ich  sich  selbst  als  selbständiger  und  blei- 
bender eigener  Beziehungspunkt  gegeben  und  bewusst  ist.  Dies 
konnte  alle  frühere  Philosophie  nicht  erkennen,  weil  ihr  dazu  die 
erforderliche  Metaphysik  des  Seins  fehlte. 

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78  Definition  der  Beligion. 

Ich  nehme  nun  für  das  persönliche  Verhalten  den  alten 
Ausdruck  „Gesinnung"  in  Gebrauch,  und  mit  diesem  Worte  können 
wir  daher,  wie  mir  scheint,  am  Zutreffendsten  das  fnndamentum 
relationis  in  der  Beziehung  des  Menschen  zu  Gott  bezeichnen,  weil 
man  bei  dem  Worte  Gesinnung  sowohl  eine  gewisse  Erkenntniss  des 
Gegenstandes,  als  einen  Willen  oder  ein  Gefühl,  und  drittens  auch 
eine  entsprechende  Handlungsweise  einschliesst  und  dies  Alles 
doch  immer  auf  die  Persönlichkeit  selbst  bezieht.  Dies  Wort  „Ge- 
sinnung" ist  auch  besser  als  Gemeinschaft,  weil  der  Fötus  auch 
Gemeinschaft  mit  der  Mutter  hat,  ohne  darum  zu  wissen.  Zar 
Religion  gehört  aber  Bewusstsein.  Die  Bedeutung  des  Wortes 
„Gesinnung"  wird  auch  in  den  verschiedenen  Anwendungen  klar, 
z.  B.  bei  der  politischen  Gesinnung  und  bei  der  Gesinnung  in 
der  Freundschaft  und  Feindschaft  u.  s.  w.  Also  mag  dies  Wort 
als  das  passendste  gelten;  wer  aber  ein  besseres  weiss,  dem  soll 
nicht  präjudicirt  werden  unter  der  Bedingung,  dass  der  zuge- 
hörige Begriff  der  gleiche  bleibt. 

Da  wir  die  Religion  nicht  durch  eine  umfassen- 

2.  Der  zweite    _  i      .  -rx     -i        .  ^         .  n 

Beziohungfl-   dcrc    spcculative    Deduction    bestimmen    wollen,    so 
punkt      haben  wir  auch  den  zweiten   Beziehungspunkt  nicht 
tionte.      a  priori  abzuleiten,  sondern  als  gegeben  in  dem  reli- 
giösen Bewusstsein  anzunehmen,  und  es  kommt  nur 
darauf  an,  flir  die  Definition  im  Gegensatz  gegen  die  Unbestimmt- 
heit und  Verworrenheit  der  uncontroUirten  Meinungen  eine  exacte 
Isolirung  des  gesuchten  Elementes  zu  erreichen. 

Wenn  nun  Gott  als  zweiter  Beziehungspunkt  für  die  Religion 
in  den  Meinungen  erscheint,  so  könnte  man  zunächst  Gott  als 
ein  metaphysisches,  physisches  oder  irgendwie  real  wirksames, 
substantiales  Wesen  in  Betracht  ziehen.  Allein  als  ein  solches 
Wesen  würde  Gott  auch  auf  die  Natur  wirken  und  den  Lauf  der 
Sonne  regeln,  unsere  Knochen  und  Blutge&sse  bilden  u.  s.  w., 
ohne  dass  doch  diese  körperlich  erscheinenden  Dinge,  die  über- 
haupt nur  in  physischen  Beziehungen  stehen,  irgend  eine  re- 
ligiöse Beziehung  zu  Gott  hätten.  Auch  kann  ein  uns  gänzlich 
Unbekannter  in  der  Feme  durch  irgend  einen  Umstand  von  uns 
wissen  und  uns  Gutes  oder  Uebles  erweisen,  ohne  dass  wir 
irgend  eine  freundliche  oder  feindliche  Gesinnung  gegen  ihn 
haben  könnten,  weil  wir  eben  von  seinem  Dasein  und  seiner  Ge- 
sinnung kein  Wissen,   keine   Ahnung  und   überhaupt  kein  Be- 


Analysis  der  ztisammengehörigen  Elemente.  79 

wnsstsein  haben.  Mithin  kann  Eeligion  nicht  eine  Gesinnung 
sein,  die  sich  schlechtweg  auf  Grott  als  metaphysisches  Wesen 
bezieht,  sondern  es  dreht  sich  um  Gott,  sofern  er  auf  irgend 
eine  Weise  in  unserem  eigenen  Bewusstsein  gegeben  ist.  Ich 
sage  auf  irgend  eine  Weise;  denn  ob  Gott  bloss  als  eine  Illusion, 
wie  bei  dem  Fetischismus,  oder  als  eine  falsche  Vorstellung, 
wie  im  Astarte-Cult,  oder  sonst  als  Meinung  und  BegriflF,  durch 
Schlüsse  vermittelt,  gegeben  ist,  oder  sich  selbst  unmittelbar 
im  Bewusstsein  offenbar  macht,  das  muss  hier,  wo  wir  die  gene- 
rische  Definition  suchen,  unerörtert  bleiben.  Deshalb  wollen  wir 
zwar  den  Fehler  vermeiden,  als  Beziehungspunkt  für  die  Eeli- 
gion schlechtweg  Gott  zu  setzen;  müssen  aber  doch  die  Unbe- 
stimmtheit suchen,  die  etwa  in  dem  Ausdruck  Gottesbewusst- 
sein  liegt,  wobei  man  sich  irgend  ein  mittelbares  oder  unmittel- 
bares, wahres  oder  falsches  Erkennen  oder  Meinen  über  Gott 
vorstellen  kann. 

Eine  nähere  Bestimmung  ist  aber  noch  hinzuzuftlgen.  In 
dem  Gottesbewusstsein  muss  Gott  nämlich  immer  als  Wesen 
vorgestellt,  geglaubt  und  angenommen  werden.  Ob  dies  Wesen 
als  persönlich  und  menschenähnlich  gedacht  wird,  wie  bei  den 
Griechen  und  Römern,  ob  als  wir  selbst,  wie  im  Pantheismus, 
ja  ob  Gott  auch,  wie  im  Atheismus,  geläugnet  wird,  ist  dabei 
einerlei;  denn  die  Gesinnung,  selbst  des  Atheisten,  gehört  als 
irreligiöse  dadurch  in  das  Gebiet  der  Religion,  dass  sie  sich 
auf  den  als  Wesen  vorgestellten  und  geläugneten  Gott  bezieht. 
Man  darf  aber  nicht  Persönlichkeit  statt  „Wesen"  fordern, 
weil  im  Pantheismus  der  Begriff  der  Person  verschwindet,  und 
man  doch  nicht  umhin  kann,  pantheistische  Religionen  als  ge- 
geben anzuerkennen.  Deshalb  ist  der  Begriff  Wesen  allein  statt- 
haft, wobei  es  aber  unbestimmt  bleiben  muss,  wie  dies  Wesen 
gedacht  werde,  wenn  man  nur  festhält,  dass  es  den  metaphysi- 
schen, d.  h.  dem  Ich  analogen  Grundbegriff  bezeichnen  soll;  denn 
ob  man  polytheistisch  viele  solcher  Wesen  annehme,  oder  mono- 
theistisch ein  einziges,  oder  ob  man  pantheistisch  Wesen  und 
Ichheit  in  die  Idee  aufhebt,  das  ist  ftlr  den  allgemeinen  (gene- 
rischen)  Begriff  der  Religion  gleichgültig. 

Die  Function  endlich,  welche  die  Gesinnung  des 
Menschen  in  Beziehung  zu  seinem  Gottesbewusstsein 
ausdrückt,  ist  nothwendig,  da  es  sich  um  zwei  Wesen  handelt, 

uiumzeu  uy  x^jvy\J>t  Iv^ 


80  Definition  der  Beligiori. 

ein  persönliches  Verhalten.  Es  kann  dasselbe  daher  nur 
verglichen  werden  mit  unserem  Verhalten  zu  einem  Wesen,  das 
wir  als  einen  Freund  oder  Feind,  als  Vater  oder  Fürsten  oder 
überhaupt  als  irgend  ein  selbstständig  seiendes  Wesen  und 
nicht  als  einen  Gegenstand  der  Einbildungskraft  oder  der  blossen 
Abstraction  betrachten.  Mithin  war  es  ganz  verkehrt,  dass  man 
diese  Function  in  das  Erkennen  oder  Gefühl  oder  Handeln  setzte; 
denn  diese  Functionen  sind  an  sich  keine  persönliche,  da  man 
ja  einen  Lehrsatz  erkennt,  bei  Sonnenschein  sich  freut,  gegen 
die  Winterkälte  sich  schützen  will  und  diese  oder  jene  Vorkeh- 
rungen triflPt.  Die  religiöse  Function,  welche  die  Gesinnung  des 
Menschen  zu  dem  göttlichen  Wesen  angiebt,  kann  deshalb  nur 
eine  persönliche  sein,  wie  sie  z.B.  auch  in  den  sittlichen  und 
rechtlichen  Beziehungen  der  Menschen  untereinander  hervortritt. 
Da  der  Mensch  aber  nur  drei  geistige  Vermögen  besitzt,  so 
kann  er  auch  sein  persönliches  Verhalten  nicht  anders  als  in 
diesen  Formen  ausdrücken,  und  es  ist  nur  der  Unterschied  zu 
machen,  dass  für  die  Religion,  wie  flir  jedes  persönliche  Ver- 
halten diese  Äusdrucksformen  bloss  symbolisch  oder  semiotisch 
sind,  d.  h.  Zeichen,  in  denen  die  persönliche  Beziehung  sich 
offenbart.  Wenn  man  z.  B.  dem  Freunde  die  Hand  drückt,  so 
kommt  es  nicht  auf  die  Handlung  des  Drückens  an,  wozu  man 
auch  einen  Schraubstock  verwenden  könnte,  sondern  symbolisch 
auf  die  Bedeutung  dieser  Handlung,  da  man  das  metaphysische 
Wesen,  die  Persönlichkeit  des  Freundes  nicht  selbst  berühren 
oder  drücken  will  und  kann,  sondern  nur  durch  diese  conven- 
tioneile Behandlungsweise  der  von  ihm  abhängigen  und  mit 
seinem  Sensorium  in  Coordination  stehenden  Glieder  unsere  per- 
sönliche Gesinnung  als  freundliche  bezeichnet.  Ebenso  ist  das 
Gefühl  der  Demuth,  der  Furcht,  der  Hoffnung  u.  s.  w.  nicht  als 
solches  ein  religiöses,  sondern  nur,  sofern  diese  Gefühle  auf  das 
Gottesbewusstsein  bezogen  sind  und  unsere  persönliche  Haltung 
zu  dem  göttlichen  Wesen  offenbaren.  Endlich  sind  auch  die 
theologischen  Beg-riffe,  Auslegungen  und  Deductionen  nicht  schon 
an  und  flir  sich  religiös,  sondern  nur  Symbole  für  die  persön- 
lichen Beziehungen,  die  der  Mensch  zu  Gott  hat  und  als  solche 
erkennt,  da  er  sich  z.  B.  anders  zu  Gott  stellt,  wenn  er  ihn 
flir  feindlich  und  zornig,  als  wenn  er  ihn  flir  gütig  und  liebevoll 
erkennt,  anders  zu  Christus,  wenn  er  ihn  flir  einen  vortreftlichen 

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Analysis  der  zaBammengehÖrigen  fllemente.  gl 

Lehrer,  als  wenn  er  ihn  für  Gott  selber  hält.  Ebensowenig  wie 
meine  Freundschaft  in  der  yorstellungsmässigen  oder  wissen- 
schaftlichen Erkenntniss  meines  Freundes  besteht,  ebensowenig 
kann  auch  die  dogmatische  Erkenntniss  oder  der  philosophische 
GottesbegriflF  die  Religion  selbst  ausmachen,  weshalb  z.  B.  Hegel 
das  Wesen  der  Religion  gar  nicht  traf,  da  er  sie  als  eine  Vor- 
stellungsweise neben  den  philosophischen  Begriff  stellte. 

Zum  Schluss  muss  ich  noch  einmal  auf  die  all- 
gemeinen Betrachtungen  über  die  Definition  zurück-  *'  ^^IJfJg"  *^" 
kommen.  Wir  wollen  versuchen,  in  der  generischen 
Definition  die  drei  Formen  unseres  Gegenstandes  auf  gleiche 
Weise  zu  berücksichtigen,  d.  h.  sowohl  die  Anlage  zur  Religion, 
als  den  religiösen  Akt  und  drittens,  die  lebendige  Kraft.  (Vgl. 
oben  S.  71).  Die  Anlage  oder  Fähigkeit  zur  Religion  be- 
steht nun  darin,  dass  der  Mensch  überhaupt  zu  einem  Selbstbe- 
wusstsein  und  Gottesbewusstsein  gelangen  kann  im  Unterschiede 
vom  Thier,  und  dass  er  demgemäss  auch  seine  Gesinnung  in 
den  ihm  zugehörigen  geistigen  Functionen  irgendwie  einmal  in's 
Spiel  setzen  wird.  Da  hier  nun  keine  weitere  Descendenztheorie 
und  vergleichende  Psychologie  vorgetragen  werden  soll,  so  mag 
nur  daran  erinnert  werden,  dass  der  Säugling  zwar  noch  nicht 
actuell  religiös  ist,  dass  man  aber,  sobald  man  überhaupt  mit 
einem  Menschen  zu  thun  hat,  das  Aufkommen  der  beiden  Go- 
ordinaten  der  Religion  voraussetzen  kann. 

Ein  jeder  Mensch  ist  daher  als  Mensch  fähig  zur  Religion 
und  also  religiöser  Einwirkung  und  Erweckung  in  irgend  einem 
Grade  zugänglich.  Es  ist  eine  eitle  Selbsttäuschung  einiger  Gläu- 
bigen, wenn  sie  meinen,  nicht  alle  Menschen  seien  zur  Religion 
ßihig  oder  „berufen",  sondern  nur  gewisse  „auserwählte",  denen 
durch  übernatürliches  Geschenk  ein  undefinirbares  Organ,  das 
sie  Glauben  nennen,  inoculirt  werde.  Einen  weiteren  Grund  für 
diese  Annahme  können  sie  nicht  angeben;  sie  verweisen  bloss 
auf  ihre  Wahrnehmung,  dass  die  meisten  andern  Menschen  ihre 
eigenen  absonderlichen  Gefühle  und  Vorstellungen  nicht  theilen 
und  dass  sie  nun  einmal  von  diesem  Sachverhalt  überzeugt  wären. 
Das  Befriedigende  und  also  die  Wahrheit,  die  trotzdem  in  dieser 
Annahme  liegt,  besteht  darin,  dass  die  Religion,  wie  alle  Lei- 
stungen des  Menschen,  in  verschiedenen  Graden  der  Begabung  vor- 
kommt und  sich  in  dieser  Beziehung  nicht  anders  verhält,  als  die 

Tcichmüller,  ReUgionsphUoeophie.  u^^n^A  uy  GoOQIc 


82  Definition  der  Religion. 

Fähigkeit  zu  sehen,  zu  hören,  zu  dichten,  zu  denken  n.  s.  w. 
Wenn  es  darum  natürlich  ist,  dass  ein  stark  Musikalischer  einem 
Schwachen  gewissermassen  den  Sinn  für  Musik  ganz  abspricht, 
so  können  auch  die  religiösen  Naturen  sich  gewissermassen 
allein  als  die  „Berufenen"  fühlen,  während  sie  eigentlich  nur 
das  Recht  hätten,  sich  als  „Auserwählte"  zu  betrachten,  da  die 
Berufung  oder  Fähigkeit  allgemein  mit  dem  Charakter  der  Mensch- 
heit verknüpft  ist.  Denn  die  Annahme  eines  besonderen  Organs 
für  die  Religion,  nämlich  des  sogenannten  Glaubens,  ist  natürlich 
fiir  die  Religion  selbst  ganz  unwürdig,  weil  die  Religion  dadurch 
zu  einer  blossen  Specialität  herabgesetzt  und  aus  den  allge- 
meinen Angelegenheiten  der  Menschheit  ausgeschieden  würde. 
Da  es  überhaupt  keine  solche  besondere  Organe  giebt,  könnten 
wir  einen  Vergleich  also  nur  durch  Umkehrung  an  dem  Mangel 
gewisser  allgemeiner  Organe  illustriren  und  die  Blinden  und  die 
Blindeninstitute  als  das  invertirte  -ATnalogon  für  die  Stellung  be- 
zeichnen, welche  sich  diese  Gruppe  von  Religiösen  selbst  an- 
weisen. Zweitens  ist  diese  Annahme  aber  auch  ohne  rechtes 
Einsehen  in  das  religiöse  Leben  aufgestellt,  weil  der  Glauben 
oder  die  Religion,  wenn  sie  ein  besonderes  Organ  wäre,  keine 
Kunde  von  dem  Inhalt  und  der  Thätigkeit  der  übrigen  Organe 
haben  könnte,  wie  das  Ohr  zwar  hört,  aber  nichts  vernimmt  von 
Farben,  Gestalten  und  Gerüchen  und  nichts  vom  Denken  und 
vom  Lieben  und  HoflFen  u.  s.  w.  Der  Glaube  aber  hat  keinen 
abgesonderten  Geschäftskreis,  wie  die  einzelnen  sogenannten  Or- 
gane, sondern  umfasst  das  gesammte  geistige  Leben  des  Men- 
schen, soweit  dasselbe  auf  seine  persönliche  Stellung  zu  Gott 
bezogen  wird.  Darum  ist  die  Fähigkeit  und  der  Beruf  zur  Re- 
ligion mit  der  Anlage  des  Menschen  zugleich  gegeben,  so  dass 
der  Mensch  aufhören  müsste,  Mensch  zu  sein,  wenn  er  nicht  auch 
zu  einer  religiösen  Gesinnung  gelangen  könnte,  da  die  Religion 
auf  den  wesentlich  menschlichen  Eigenschaften  beruht,  auf  seiner 
Persönlichkeit  und  seinem  Gottesbewusstsein. 

Ebenso  eitel  und  unwürdig  wie  diese  aristokratische  An- 
nahme, wonach  die  Religion  als  aus  persönlicher  Zuneigung  ge- 
währtes Geschenk,  Gnadengehalt,  Ordensverleihung  und  dergl. 
einigen  Wenigen  zu  Theil  wird,  ist  die  etwas  plebejischere  an- 
dere, welche  heute  viele  Anhänger  zählt,  wonach  die  Religion 
durch  ein  blosses  historisches  Ereigniss  in  die  Welt  gekommen 


Analysis  der  zusammeiigeliörigen  Elemente.  83 

Bein  soll,  was  sie  mit  Vorliebe  „Offenbarung"  nennen  und  als  ein 
allgemein  zugänglich  gewordenes  Gesammtgut  betrachten.  Sie 
wollen  eben  von  „natürlicher  Religion*^  nichts  mehr  wissen,  son- 
dern sehen  die  Religion  in  der  Art  an,  wie  die  historischen  Ent- 
deckungen, den  Gebrauch  des  Eisens,  das  Herabbringen  des 
Feuers  durch  Prometheus  u,  dergl.  Sie  glauben  der  Religion 
dadurch  eine  Ehre  zu  erweisen,  dass  sie  als  etwas  Menschen- 
unmögliches,  oder  als  eine  ganz  besondere  geschichtliche  Einzelthat 
der  Gottheit  plötzlich  unter  die  Güter  der  Civilisation  eingeführt 
sei.  Auch  ftir  diese  Annahme  lässt  sich  ein  Motiv  finden,  das 
berechtigt  ist,  nämlich  die  Thatsache,  dass  alle  grossen  Ent- 
deckungen in  der  Erkenntniss  und  alle  grossen  Leistungen  in  der 
Kunst  immer  nur  durch  diesen  oder  jenen  einzelnen  Genius  in 
die  Welt  gekonunen  sind  und  sich  erst  durch  Berührung  mit  ihm 
verbreitet  haben.  Allein  diese  richtige  Prämisse  reicht  zu  dem 
Schlüsse  nicht  hin;  denn  alle  diese  grossen  Offenbarungen  aus 
der  höheren  geistigen  Welt  fanden  ja  schon  mindere  Leistungen 
derselben  Art  vor  und  begegneten  der  natürlichen  Empfänglich- 
keit iUr  ihre  Aufnahme,  so  dass  in  dem  Historisch -Neuen  nur 
eine  mehr  oder  weniger  erreichte  Vollkommenheit  in  der  Erfül- 
lung schon  vorhandener  Leistung,  Bestrebung  und  Erwartung  ge- 
boten werden  konnte.  So  ist  alle  Religion,  aucli  die  vollkom- 
mene des  Christenthums,  nicht  aus  der  Art  geschlagen,  sondeni 
nur  Erflillung  der  in  der  menschlichen  Art  gegebenen  Anlage, 
ohne  welche  der  Mensch  keine  Hände  hätte,  um  die  Gaben  des 
Genius  oder  auch  des  Gottes  entgegen  zu  nehmen.  Statt  also 
der  Religion  durch  diesen  Ausschluss  der  Natürlichkeit  und  durch 
diese  Behauptung  der  üebematürlichkeit  oder  des  bloss  Histo- 
rischen des  Ursprungs  einen  besonderen  Werth  zu  verleihen,  ver- 
eitelt man  vielmehr  diesen  Werth;  denn  eine  Schusswaffe  wird 
der  Wilde  zwar  begehrlich  finden,  wenn  er  vorher  schon  Bogen 
und  Pfeile  besass  und  nach  besseren  Waffen  Verlangen  trug; 
der  in  friedlichen  Zuständen  lebende  Ackerbauer  wird  aber  den 
besten  ihm  geschenkten  Lancaster -Vorderlader  mit  allen  Patro- 
nen ungebraucht  in  seinen  Kasten  legen  oder  abweisen,  weil 
seine  Bedürfnisse  nichts  damit  zu  thun  haben.  Darum  hat  das 
Christenthum  die  allein  wahre  und  ganz  befriedigende  Auffassung 
gezeigt,  indem  es  sich,  trotzdem  es  die  grösste  Neuerung  in  die 
Welt  brachte,  doch  nur  als  eine  Erfüllung  einführte,  also  die 

uguzecffi;  Google 


g4  Definition  der  Beligion. 

allgemeine  Anlage  in  der  Menschheit  und   das  zugehörige  Be- 
dürfhiss  voraussetzte. 

Was  zweitens  die  Definition  des  Akts  betrifft, 
b.  Religion  tiB  gQ  ^yA  dieser  in  der  religiösen  Function  berück- 
sichtigt. Da  nun  keine  der  drei  specifisch  ver- 
schiedenen geistigen  Thätigkeiten  für  sich  isolirt  Religion  ent- 
hält oder  religiös  ist,  die  Gesinnung  des  Menschen  sich  vielmehr 
in  ihnen  nur  symbolisiren  kann,  so  muss  der  religiöse  Akt  in 
der  unauflöslichen  Coordination  dieser  drei  Thätigkeiten  liegen, 
so  dass  z.  B.  ein  Gefühl  nur  dann  religiös  ist,  wenn  es  bei 
einer  zugehörigen  Vorstellung  von  Gott  oder  göttlichen  Dingen 
in  Beziehung  auf  den  Menschen  entsteht  und  nur  so  lange  diese 
Vorstellung  fortdauert,  und  wenn  zugleich  eine  Bewegung  aus- 
geübt wird,  die  aber  nicht  bloss  in  sinnenfälligen  Culthandlungen 
zu  bestehen  braucht,  sondern  sich  auch  durch  sogenannte  Vor- 
sätze, Betrachtungen,  Gebete,  oder  in  künstlerischer  Phantasiethätig- 
keit,  z.  B.  in  religiöser  Poesie  oder  Musik  u.  dergl.  äussern  kann.  So- 
bald aber  durch  fortschreitende  Thätigkeit  sich  entweder  die  Vor- 
stellungen und  das  Denken,  oder  die  Bewegungen  und  mit  ihnen  die 
Gefühle  von  der  zugehörigen  an  die  beiden  Coordinaten  der  Ge- 
sinnung und  des  Gottesbewusstseins  gebundenen  Beziehung  in 
ihrer  zusammengehörigen  Function  entfernen,  so  hört  gleich- 
massig  auch  der  religiöse  Charakter  des  zugehörigen 
geistigen  Lebens  auf,  indem  es  einen,  wie  man  sich  ausdrückt, 
weltlichen  Charakter  annimmt. 

Es  ist  ftlr  die  hier  durch  speculative  Analysis  entwickelte 
Definition  der  Religion  von  entscheidender  Wichtigkeit,  dass  die 
drei  specifischen  geistigen  Thätigkeiten  des  Menschen  in  einen  und 
denselben  Akt  des  Bewusstseins  fallen.  Schleiermacher  hat  eine 
Ahnung  von  diesem  Charakter  des  religiösen  Lebens  gehabt;  er 
war  aber  bei  seiner  an  Piaton  und  Spinoza  gebundenen  Auf- 
fassungsweise und  seiner  dadurch  veranlassten  Unselbständigkeit 
und  Unfreiheit  in  philosophischem  Denken  nicht  dazu  geeignet, 
mehr  als  eine  blosse  Anregung  zu  stiften,  da  sein  Stichwort 
„Abhängigkeitsgefühl"  zwar  unzählige  Mal  nachgesprochen  wurde, 
aber  eine  ganz  haltlose  Vorstellung  und  Ausdrucksweise  blieb.  Man 
darf  nun  aber  meine  Definition  nicht  so  deuten,  als  wenn  die  Drei- 
einigkeit der  geistigen  Thätigkeiten  in  der  Religion  etwa  so 
erklärt  werden  sollte,  wie  die  Trinität  Gottes  von  den  Theologen 

uiymzeu  uy  x^j  v^' v^'pt  Iv^ 


Analysis  der  zusammengehörigen  Elemente.  85 

durch  Einheit  der  Natur  und  Dreiheit  der  Personen  ausgelegt 
wird,  da  ich  vielmehr  die  Einheit  der  Natur  der  geistigen  Thätig- 
keiten  entschieden  läugne  und  also  eine  wirkliche  Dreiheit  spe- 
eifisch  verschiedener  Elemente  nachweise.  Ebensowenig  wie  die 
drei  Akte  in  ihrem  Grunde  oder  in  ihrer  Natur  eins  sind,  ebenso- 
wenig bilden  sie  auch  eine  Einheit  des  Products  nach  der  Ana- 
logie einer  chemischen  Verbindung,  indem  sie  etwa  wie  Schwefel 
und  Quecksilber  sich  zu  der  neuen  und  andersartigen  Natur  des 
Zinnobers  vereinigen,  eine  von  ihren  Componenten  verschiedene 
und  neue  Erscheinung,  nämlich  die  des  religiösen  Lebens,  her- 
vorbrächten. Die  Einheit,  welche  unsere  Analysis  verlangt,  ist 
anders,  es  ist  die  Einheit  der  Coordination.  Sind  die  Coordi- 
naten  gegeben,  so  ist  die  Function  gegeben  und  umgekehrt. 
Mithin  sind  die  drei  Thätigkeiten  im  religiösen  Leben  zusammen- 
gehörig und  jede  der  andern  zugeordnet,  so  dass  keine  ohne 
die  anderen  fnnctioniren  kann.  Das  Bewusstsein  des  Menschen 
hat  aber  eine  bestimmte  Grösse  und  umfasst  in  einem  Akt  mehrere 
Theilakte  der  einzelnen  geistigen  Thätigkeiten,  so  dass  dadurch 
der  Schein  entsteht,  als  wäre  das  religiöse  Leben  ein  neues 
von  den  Componenten  verschiedenes  und  einheitliches  Element, 
während  es  doch  nur  das  einheitliche  Bewusstsein  der 
drei  zusammengehörigen  Akte  bildet.  In  meiner  „Grund- 
legung der  Metaphysik^'  habe  ich  durch  eine  analoge  Betrachtung 
auch  das  alte  Problem  der  Bewegung  aufgelöst,  die  einen 
bisher  unauflösbaren  Widerspruch  für  den  Begriff  bildete.  Mithin 
ist  z.  B.  das  Beten  des  Vaterunser  als  Bewegung  kein  religiöser 
Akt,  wenn  es  bloss  mechanisch  gesprochen  wird  und  der  Betende 
die  Vorstellungen,  welche  in  den  Worten  angedeutet  sind,  nicht 
bestimmt  oder  unbestimmt  durch  eine  gewisse  Denkthätig- 
keit  vollzieht  und  wenn  nicht  zugleich  mit  diesen  Vorstellungen 
die  zugehörigen  Geftihle  in  ihm  ausgelöst  werden.  Ebenso- 
wenig braucht  eine  theologische  Disputation  ein  religiöser  Akt 
zu  sein,  sofern  dieses  Denken  sich  nicht  an  die  Goordinaten,  die 
in  unserer  Gesinnung  in  Beziehung  zu  dem  Gottesbewusstsein 
liegen,  anschliesst  und  nicht  zugleich  von  der  zugeordneten 
Stimmung  begleitet  wird. 

Diese  Definition  ist  daher  auch  weit  entfernt  davon,  das 
religiöse  Leben  als  eine  blosse  Summe  von  drei  verschiedenen 
und    an    sich    nicht-religiösen    Akten    aufzufassen.      Gleichwohl 

uiymzeu  uy  V^jOOv  IC 


36  Definition  der  Religion. 

könnte  es  so  scheinen,  als  wollten  wir  das  Religiöse  aus  nicht- 
religiösen Elementen  aufbauen,  da  wir  doch  behaupten,  dass 
jeder  Akt  in  seiner  Isolining  nicht  religiös  sei,  wie  z.  B.  ein 
mechanisches  Gebet  oder  eine  sophistische  Disputation.  Ich  be- 
haupte vielmehr,  dass  jeder  dieser  Gomponenten  au  sich  religiös 
sei.  Dieser  scheinbare  Widerspruch  erklärt  sich  leicht  durch 
das  Coordinatensystem.  Da  nämlich  jeder  Akt  überhaupt  immer 
einem  andern  Akte  zugeordnet  ist,  so  kann  er  auch  nur  in  dieser 
Zusammengehörigkeit  sein  specifisches  Wesen  haben.  Am 
Deutlichsten  sehen  wir  dies  bei  den  sogenannten  organischen 
Geschöpfen,  bei  denen  auch  der  ungeübteste  gesunde  Menschen- 
verstand sofort,  was  wir  im  Sinne  haben,  begreift;  denn  wenn 
z.  B.  die  camivorisch  lebenden  Menschen  auf  ihren  Tisch  eine 
Ochsenzunge  bringen  lassen,  so  weiss  Jeder,  dass  dies  keine 
Zunge  mehr  ist,  da  sie  keine  der  Functionen  mehr  ausübt,  die 
sie  in  Zusammengehörigkeit  mit  dem  lebenden  Thier  früher 
leisten  konnte.  Dagegen  übt  sie  jetzt  in  Zuordnung  zu  den  auf- 
lösenden Yerdauungssäften  und  zu  den  Geschmacksempfindungen 
eine  ganz  neue  und  verschiedene  Function  aus.  Ebenso  wie  dies 
Conglomerat  von  Wesen,  so  hat  auch  jedes  Elementärprincip  und 
jeder  Akt  eines  derselben  in  dem  Ganzen  des  Coordinatensystems 
der  Welt  einen  bestimmten  und  specifisch  verschiedenen  Cha- 
rakter und  darum  sind  auch  die  Gedanken,  die  Geftthle  und  die 
Bewegungen,  welche  zu  dem  religiösen  Leben  zusammengehören, 
an  sich  specifisch  religiös,  sofern  diese  Gedanken,  Gefühle  und 
Bewegungen  eben  nur  für  diese  Coordination  dasind  und  nur  in 
dieser  Zusammengehörigkeit  ihr  Wesen  haben.  Löst  man  daher 
ein  Glied  aus  seiner  Zuordnung,  so  tritt  es  einerseits  in  den 
Zustand,  den  wir  Gcdächtniss  und  Erinnerung  nennen,  anderer- 
seits kann  es  auch  in  neue  Zusammenhänge  geratheu,  in  welchen 
es  den  in  seiner  früheren  Zuordnung  besessenen  specifischen 
Charakter  verliert.  Jeder  Akt  existirt  in  der  ganzen  Welt  nur 
ein  einziges  Mal  und  lässt  sich  nicht  wiederholen,  weil  immer 
die  zugeordneten  Umstände  andere  sind.  Darum  müssen  auch 
die  Gedanken,  die  man  früher  einmal  hatte,  entweder  nur  in 
perspectivischer  Beleuchtung  als  Erinnerungen  auftauchen,  oder 
unter  neuen  Umständen  neu  und  dann  auch  immer  anders  ge- 
dacht werden.  Nur  wegen  der  Aehnlichkeit  bildet  man  sich  in 
der  ßegel  ein,  denselben  Gedanken  in  beliebig  neuen  Beziehungen 

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Analysis  der  zusammengehörigen  Elemente.  87 

wiederholen  za  können.  Der  Professor,  der  nach  seinem  alten 
Hefte  docirt,  reproducirt  nach  dem  Masse  der  Erinnerung  die 
früheren  Gedanken;  sobald  er  neue  literarische  Erzeugnisse  mit 
berücksichtigt,  entwickelt  er  neue  Gedanken,  bei  denen  die  alten 
nur  mitwirken,  und  zwar  meistens  nur  durch  das  Hebelwerk  der 
Sprache.  So  können  auch  die  religiösen  Gedanken  als  religiöse 
aus  ihrer  Coordination  mit  dem  religiösen  Gefühl  und  der 
religiösen  Bewegung  nicht  gelöst  werden;  denn  sie  haben  ihren 
logischen  Ort  und  ihren  Sinn  nur  in  dieser  Zuordnung.  So  ist 
z.  B.  das  Drehen  der  buddhistischen  Gebetsmühle  eine  wenn 
auch  falsch-religiöse,  doch  immerhin  eine  religiöse  Bewegung, 
weil  sie  von  einer  zugehörigen  religiösen  Stimmung  ausgeht,  die 
durch  die  zugehörigen  Vorstellungen  über  den  Gott,  seinen  Cha- 
rakter und  was  auf  seinen  Willen  Einfluss  hat,  ausgelöst  wird. 
Trennt  man  diese  cultische  Handlungsweise  von  den  zugehörigen 
Elementen,  so  wird  sie  völlig  sinnlos  und  kann  durch  keine 
anderen  Gedanken  und  durch  keine  Wissenschaft  sonst  erklärt 
werden.  So  sind  auch  alle  theologischen  Gedanken  an  die  zu- 
gehörigen Geflihle  gebunden  und  nur  insoweit  religiöse  Gedanken. 
Nimmt  man  z.  B.  in  der  unreinen  ßechtsreligion  die  religiöse 
Vorstellung  von  einem  über  unsre  Sünde  zürnenden  Gott  aus  der 
Coordination  mit  dem  Gefühl  der  Sünde  heraus,  so  ist  dieser 
Gedanke  sofort  sinnlos,  ein  blosses  Wort,  und  kann  weder 
naturwissenschaftlich,  noch  metaphysisch,  noch  sonstwie  als  ein 
durch  irgend  eine  andre  Coordination  mit  andern  Dingen  in  der 
Welt  nothwendige  oder  mögliche  Vorstellungsweise  wiederkehren. 
Diejenigen  Gedanken  von  Gott  aber,  die  der  Philosoph  durch 
seine  Untersuchungen  in  dem  Coordinatensystem  der  Begriffe 
findet,  sind  eben  philosophische  Gedanken  und  nicht  religiöse. 
Sobald  sie  aus  ihren  begrifflichen  Zugehörigkeiten  herausgenommen 
werden,  hören  sie  auf,  philosophische  Gedanken  zu  sein.  Wenn. 
z.  B.  die  speculativen  Schlüsse  zu  einem  Begriffe  von  Gott  führen 
und  dieser  Gedanke  nun  in  Coordination  mit  dem  Selbstbewusst- 
sein  des  Menschen  tritt,  so  entstehen  sofort  die  zugehörigen 
religiösen  Geflihle  und  Bewegungen,  der  Gedanke  selbst  wird 
dann  ein  religiöser  Gedanke,  indem  zugleich  seine  wissenschaft- 
lichen Coordinaten  aus  dem  Bcwusstsein  verschwinden. 

Auf  diesem  Gesetze  beruht  die  richtig  gemeinte,    ^'^^"''^  ^^^'^ 
aber  sich   selbst  missverstehende  Behauptung  vieler      uäreaie. 

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gg  Definition  der  Religion. 

Religiösen,  als  liessen  sich  die  theologischen  Wahrheiten  nicht 
beweisen.  Durch  den  Beweis  nämlich  tritt  der  Begriff,  um  den 
es  sich  handelt,  immer  aus  der  religiösen  Stimmung  heraus,  indem 
er  in  die  kältere  Zone  der  allgemeinen,  wissenschaftlichen  Fragen 
versetzt  und  nach  den  allgemeinen  logischen  Methoden  unter- 
sucht wird.  Da  nun  durch  solche  logische  Arbeit  das  Bewusst- 
sein  mit  ganz  andersartigen  Beziehungspunkten,  Gedanken- 
bewegungen und  Stimmungen  angefüllt  wird,  so  kann  der  Re- 
ligiöse weder  diese  Arbeit,  noch  ihr  Resultat  mit  seiner  Stimmung 
und  seinen  Gedanken  in  Einklang  bringen.  Ebensosehr  wie  er 
daher  mit  diesem  seinem  musikalischen  Urtheil  im  Rechte  ist, 
ebenso  irrig  ist  trotzdem  seine  Meinung,  weil  durch  den  philo- 
sophischen Beweis  zwar  die  religiöse  Beleuchtung  des  Objects, 
nicht  aber  das  Object  selbst  verschwindet.  Der  Anatom,  der  die 
Leiche  eines  von  uns  geliebten  Wesens  zergliedert,  kann  wissen- 
schaftlich seine  Aufgabe  befriedigend  lösen,  ohne  dass  er  dabei 
fühlt  und  symbolisch  in  den  Gesichtszügen  angedeutet  findet,  was 
den  Sohn  oder  die  Gattin  bei  dem  Anblick  desselben  Gegen- 
standes so  tief  bewegt.  Wer  deshalb  nicht,  wie  die  Positivisten 
und  die  Anhänger  RitschFs,  seinen  Gott  flir  eine  subjective,  durch 
zufallige  historische  Umstände  in  Umlauf  gesetzte  und  vom  blossen 
Gefiihl  und  Glauben  der  Hörenden  abhängige  Vorstellung  hält, 
sondern  von  Gottes  wirklicher  Existenz  und  von  seinem  wahren, 
die  Welt  bedingenden  Wesen  überzeugt  ist,  der  braucht  auch 
nicht  zu  fürchten,  dass  die  weltliche  Wissenschaft  nirgends  das 
wirkliche  Object  seiner  Gottesvorstellung  antreffen  würde,  sondern 
darf  sicher  sein,  dass  wie  Leverrier  die  Existenz,  das  Gewicht 
und  die  Bahn  des  den  Augen  bisher  verborgenen  Planeten  Neptun 
durch  den  wirklichen  Einfluss,  den  dieser  auf  die  Bewegungen 
der  übrigen  Planeten  übte,  entdecken  konnte,  so  auch  der  Philo- 
.  soph  durch  die  Thatsachen  der  Natur  und  des  Geistes  gezwungen 
sein  wird,  den  wirklichen  und  nicht  bloss  mit  einer  Illusion  und 
historischer  Infection  als  leeren  Glaubensartikel  überlieferten  Gott 
überall  zu  bemerken  und  seine  Wirkungen  überall  zu  spüren. 
Wenn  wir  überzeugt  sind,  dass  der  Gott  wirklich  ist,  so  muss 
er  dem  Philosophen  auch  ebenso  nachweisbar  sein,  wie  von  dem 
Astronomen  die  Existenz  und  Wirksamkeit  der  Sonne  im  Kreise 
ihrer  Planeten  erkannt  und  besiegelt  wird.  Wer  deshalb  die 
weltliche  Wissenschaft  von  der  Theologie  ausschliessen  will  und 


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Analysis  der  zusammengehörigen  Elemente.  89 

seinen  Gott  nur  für  ein  Gebeimniss  seines  Glaubens  bält,  der  ist 
kein  äcbter  Gläubiger,  dem  der  Gott  vielmehr  so  gewiss  und 
offenbar,  wie  die  Sonne,  ist,  sondern  verhält  sich  so,  wie  gewisse 
Schwärmer,  die  mit  ihrer  subjectiven  und  eitlen  Vorliebe  für  eine 
Person  oder  ein  Volk  oder  sonst  etwas  nicht  herausrücken  wollen, 
weil  sie  die  gutbegründete  Furcht  haben,  dass  man  ihre  Illusionen 
und  Eitelkeiten  durch  vernünftige  Ueberlegung  zerstören  würde. 

Um  also  das  Besultat  dieser  Argumentationen  wieder  zu- 
sammenzufassen, so  definirten  wir  die  Religion  als  Akt  durch  die 
zusammengehörige  Function  der  drei  geistigen  Vermögen  in  ihrer 
Zuordnung  zur  Gesinnung  des  Menschen  und  seinem  Gottes- 
bewusstsein. 

Es  bleibt  daher  nur  übrig,  die  Religion  auch  ^  Religion  ais 
als  lebendige  Kraft  zu  berücksichtigen.  Dieser  Be-  lebendige  Kn». 
griff  liegt  nun  in  der  persönlichen  Haltung  und  Gesinnung,  die 
ja  die  nächste  Gattungsbestimmung  in  unserer  Definition  bildet; 
denn  eine  solche  Gesinnung  kann  zwar  auch  als  ein  vorüber- 
gehender einzelner  Akt  aufgefasst  werden,  wie  man  ja  auch  über 
die  veränderte  Gesinnung  eines  Freundes  klagt;  es  ist  aber 
natürlich,  dass  die  Gesinnung  durch  häufige  Auslösung  ähnlicher 
Akte  zu  einer  lebendigen  Kraft  wird,  welche,  wie  die  Tugend, 
die  Kunstfertigkeit  und  die  Wissenschaft,  eine  bleibende  Haltung 
und  Festigkeit  gewinnt  und  ein  Gesammtbewusstsein  mit  sich  ftihrt 

Durch  diese  Begriffe  finden  mehrere  Probleme  ihre  Auflösung. 
Erstens  nämlich  ist  es  bekannt,  dass  auch  Meister  in  der  Musik, 
welche  also  die  Kunst  als  lebendige  Kraft  besitzen,  doch  durch  irgend 
welche  äussere  Umstände  veranlasst  oder  durch  Affekte  und  Zer- 
streutheit zuweilen  Fehler  machen,  die  bei  dem  ungehinderten  Ge- 
brauch ihrer  Kunst  unmöglich  wären;  ebenso  muss  es  auch  möglich 
sein,  dass  der  Religiöse  trotz  seiner  Gesinnung  einiges  denke, 
ftihle  (wolle)  und  thue,  was  mit  seiner  religiösen  Gesinnung  in 
Widerspruch  steht  und  deshalb  als  irrreligiös  gilt.  Wollte  man  ihm 
deswegen  aber  die  Religiosität  absprechen  und  ihn  ftlr  einen 
Heuchler  erklären,  so  müsste  man  auch  einem  Künstler  die  Kunst 
absprechen,  wenn  er  einmal  fehlgreift.  Diese  Thatsachen 
erklären  sich  vielmehr  sehr  einfach  durch  die  allgemeinen 
Quantitätsgesetze  des  Bewusstseins.  Da  derjenige  perspectivische 
Punkt  unseres  zeitlich  aufgefassten  Lebens,  welchen  wir  den 
jedesmal  gegenwärtigen  Augenblick  nennen,  eine  bestimmte  Aus- 

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90  Definition  der  Religion. 

lösung  unserer  psychischen  Thätigkeiten  in  Zuordnung  zu  der 
Aussenwelt  und  unserem  inneren  Zustande  enthält,  so  wird  bald 
diese,  bald  jene  Gruppe  von  Thätigkeiten  in  den  Vordergrund 
treten  und  wegen  der  beschränkten  Grösse  des  Bewusstseins  die 
übrigen  Kräfte  in  Schatten  setzen  oder  lähmen.  Wie  dem  Ge- 
lehrten daher  dies  oder  das,  was  er  sehr  gut  weiss,  im  Augen- 
blick „entfallen"  sein  kann,  so  kann  auch  jede  Thätigkeit  und 
erworbene  Kraft  des  Geistes  vorübergehend  unbewusst  und  an 
einer  angemessenen  und  erwünschten  Ausübung  verhindert  werden. 
Der  Unterschied  zwischen  dem  Nichtvorhandensein  einer  leben- 
digen geistigen  Kraft,  möge  sie  Kunst,  Wissenschaft,  Tugend 
oder  Religion  heissen,  und  der  blossen  „Zur-Disposition- 
Setzung"  nach  den  Quantitätsgesetzen  des  Bewusstseins  lässt 
sich  aber  leicht  nachweisen,  da  der  Nichtbesitzer  der  Kunst  den 
gemachten  Fehler  auch  nachher  nicht  einsieht  und  der  Nicht- 
religiöse auch  nachher  nichts  weiter  empfindet,  während  der 
Künstler  seinen  Fehler  selbst  mit  Verdruss  oder  Humor  bemerkt 
und  der  Religiöse  nach  dem  Akt  die  Dissonanz  seines  Wesens 
schmerzlich  empfindet  und  sich  selbst  beschuldigt. 

Ausser  diesen  bewussten  Akten  des  Menschen,  bei  welchen 
die  religiöse  Gesinnung  mehr  oder  weniger  unbewusst  vorkommt, 
finden  sich  aber  auch  regelmässige  und  unregelmässige  Unter- 
brechungen des  religiösen  Bewusstseins,  z.  B.  täglich  im  Schlaf, 
dann  gelegentlich  in  der  Ohnmacht,  in  Fieberphantasien,  im  Wahn- 
sinn und  in  dergleichen  Zuständen.  Obwohl  dies  nun  ganz  be- 
kannt ist,  so  dürfen  wir  dennoch  diese  Zustände  in  die  Definition 
der  Religion  nicht  mit  einschliessen,  weil  der  Mensch  in  der 
That  bei  solchen  Zuständen  keine  Religion  hat,  sondern  sie  erst 
mit  Rückkehr  seines  Bewusstseins  wiederfindet.  Nur  die  Mög- 
lichkeit solcher  Zustände  wird  durch  den  Ausdruck  „Gesinnung**, 
welcher  sowohl  den  einzelnen  Akt,  als  die  lebendige  Kraft  be- 
deutet, offen  gelassen;  die  Religion  selbst  aber  als  eine  wirkliche 
kann  nur  bei  wirklichem  Bewusstsein  stattfinden,  weshalb  wir  in 
der  Definition  immer  den  Ausdruck  der  Gesinnung  durch  die 
geistigen  Thätigkeiten  des  Menschen  fordern  müssen. 

Man  könnte  mir  zwar  erwidern,  dass  es  auch  eine  Religions- 
ausübung gebe,  wie  z.  B.  bei  den  Derwischen  und  im  Demeter- 
Cult,  wobei  ein  ekstatischer  Zustand  und  entweder  Rausch  oder 
eine  ähnliche  Beraubung  des  Bewusstseins  stattfinde;  allein  wenn 

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Analysis  der  zusammengehörigen  Elemente.  91 

dies  auch  zugegeben  werden  soll,  so  besteht  die  Religion  doch 
nicht  in  dieser  Religionsausübung,  sondern  in  der  Gesinnung  des 
Menschen,  welche  ihn  mit  Rücksicht  auf  sein  Gottesbewusstsein 
veranlasst,  sich  cultisch  in  diesen  Zustand  zu  versetzen  und  seine 
Gesinnung  dadurch  zu  symbolisiren,  weshalb  er  denn  auch  seine 
Religion  nicht  verloren  hat,  wenn  er  wieder  zu  Vernunft  gekommen 
ist,  sondern  sich  dann  nur  der  geschehenen  Ausübung  eines  Cult- 
aktes  erinnert.  Der  Einwand  würde  deshalb  nur  unter  der  Be- 
dingung gültig  sein,  dass  man  solche  Leute,  wie  die  Derwische, 
in  bewusstem  Zustande  ftlr  religionslos  erklärte  und  ihnen  nur  in 
der  Haschisch-Ekstase  Religion  zuschreiben  wollte,  was  doch 
Niemand  thut  Es  ist  merkwürdig,  dass  man  diese  Bemerkung 
auch  gegen  den  grossen  Theologen  Schleiermacher  wenden 
muss;  denn  wenn  er  die  Religion  bloss  in  das  Gefiihl  setzt  und 
beim  Hervortreten  der  vernünftigen  Betrachtungen  und  der  zuge- 
hörigen Handlungen  schon  ein  Erkalten  und  Absterben  der  re- 
ligiösen Innigkeit  und  geradezu  der  Religion  selbst  annimmt,  so 
bekommt  bei  ihm  die  Religion  doch  den  Charakter  eines  Rausches, 
wenn  er  auch  kein  Betäubungsmittel,  wie  Haschisch  oder  Opium, 
dazu  gebraucht  Jedenfalls  sieht  man,  wie  wichtig  das  Merkmal 
in  der  Definition  der  Religion  ist,  dass  die  Gesinnung  sich  immer 
in  allen  geistigen  Funktionen  symbolisiren  muss. 

Aus  diesen  Untersuchungen  erschliessen  wir  als 
generische  Definition:   Religion   ist   diejenige   Gesin-   ^***'*^^"^*°°- 
nung,  welche  sich  dem  Gottesbewusstsein  zugeordnet  in  zusammen- 
gehöriger Function  von  Erkenntniss,  Geftlhl  und  Handlung  sym- 
bolisirt. 

Die  Merkmale,  Momente  oder  Coordinationsglieder  in  dieser 
Definition  sind  Punkt  ftir  Funkt  von  uns  erörtert  und  bewiesen. 
Zu  dem  Merkmal  „Gesinnung^',  welches  das  Fundament  bildet, 
braucht  nicht  hinzugefügt  zu  werden:  „des  Menschen",  weil 
nur  der  Mensch  eine  Gesinnung  in  eigentlicher  Bedeutung  hat. 
Die  Unbestimmtheit  dieser  Definition  aber  ist  gerade  Zweck, 
weil  wir  eine  Gleichung  wie  in  algebraischen  Ausdrücken  suchten, 
durch  welche  alle  wirklichen  und  möglichen  Fälle  und  Arten 
von  Religion  zusammengefasst  werden  sollen.  Deshalb  durfte 
ftir  Erkenntniss,  GefQhl  und  Handlung  kein  bestimmter  dogma- 
tischer, ethischer  und  cultischer  Begriff  an  die  Stelle  rücken. 
Deshalb  wird  auch  das  Irreligiöse  absichtlich  eingeschlossen, 

uiuuizeu  uy  "»fc^j  vy\J>t  Iv^ 


92  Definition  der  Religion. 

weil  es  in  die  Sphäre  der  Religion  gehört;  denn  die  imanente 
Negation y  wie  z.  B.  die  des  Atheismus,  verlässt  den  üoordina- 
tionskreis  nicht,  wie  deshalb  ja  auch  das  Laster  der  Tugend 
entgegengesetzt  und  doch  zu  dem  Sittlichen  gerechnet  wird. 
Sobald  aber  die  Zuordnung  zum  Gottesbewusstsein  wegfallt^  ge- 
rathen  wir  sofort  in  nicht-religiöse  Kreise,  z.  B.  bei  der  Gesin- 
nung als  Kameradschaft,  Freundschaft,  Patriotismus  u.  dgl. 


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Zweites  Capitel. 
Eintheilnng  der  Religionen. 


Viele  halten   es   für  eine  unmögliche  Unterneh- 
mung, die  Religionen  einzutheilen.     Es  gebe  einmal  keu  einer  Ein- 
eine  grosse  Menge  verschiedenartiger  Religionen,  die  *>»«""o«  *«' 
zufällig  hier  und  da  entstanden  wären-,   man   könne 
sie  allenfalls  geographisch  nach  den  Ländern,  wo  man  sie  vor- 
findet, ethnographisch  nach  den  Völkern,  die  sich  zu  ihnen  be- 
kennen, und  historisch  nach  den  Zeiten,  in  denen  sie  aufkamen 
oder  übertragen  wurden,  gmppiren  und  beschreiben,   aber  eine 
wissenschaftliche  Eintheilung  wäre  bei  einem  Dinge,  das  von  so 
vielen  Zufälligkeiten  abhängig  sei,  unthunlich  und  widersinnig. 

Diese  Annahme  ist  aber  leichtfertig  oder  ungebildet;  denn 
da  man  zu  grossem  Vortheil  sogar  die  Formen  der  scheinbar 
zufölligsten  Gebilde,  ich  meine  die  Wolken,  eingetheilt  hat,  so 
ist  es  von  vornherein  wahrscheinlich,  dass  die  schon  Jahrhun- 
derte und  Jahrtausende  hindurch  bestehenden  grossen  und  festen 
Massen  der  Religionen  einer  Ordnung  und  Eintheilung  zugäng- 
lich sind.  Und  wenn  man  eingesehen  hat,  dass  die  Religion 
überhaupt  eine  nothwendige  Erscheinung  im  menschlichen  Leben 
ist  und  dass  sie  dem  Menschen  ebenso  charakteristisch  zugehört 
wie  die  Sprache  (da  man  den  Menschen  als  das  der  Sprache 
oder  der  Religion  fähige  lebendige  Wesen  definiren  und  ihn  da- 
durch sicher  von  allen  übrigen  Wesen  unterscheiden  kann),  so 
folgt,  dass  nur  Mangel  an  Energie  in  der  Forschung  oder  ein 
falsch  und  unglücklich  gewählter  Standpunkt  der  Betrach- 
tung verhindert  hat,  die  natürliche  und  nothwendige  Ordnung 
und  Eintheilung  der  Religionen  zu  entdecken.  Denn  so  gewiss 
die  Dreiecke  und  Parallelogramme  einer  festen  und  ewigen  Ein- 
theilung unterliegen,  so  gewiss  und  ewig,  unveränderlich 
und  erschöpfend  muss   die   Eintheilung  der  Religionen   sein, 

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94  Eintheilungf 

die  an  Noth wendigkeit  ihres  Ursprunges  und  Bestimmtheit  ihres 
Wesens  nicht  im  mindesten  hinter  den  Formen  des  Raumes  oder 
der  Zahlen  zurückstehen.  Gäbe  es  überhaupt  keine  Möglichkeit, 
die  Religionen  wissenschaftlich  einzutheilen  und  zu  ordnen,  so 
wäre  die  Religion  kein  Gegenstand  wissenschaftlicher  Unter- 
suchung; und  da  nichts  in  der  Welt  sich  der  wissenschaftlichen 
Erforschung  entziehen  kann,  so  wäre  folglich  die  Religion  über- 
haupt nichts  in  der  Welt.  Wir  müssen  daher  den  Verzicht  auf 
eine  wissenschaftliche  Eintheilung  nur  als  das  Bewusstsein  man- 
gelnder Einsicht  und  als  eine  daraus  hervorgehende  Bescheiden- 
heit auffassen,  die  mit  der  Natur  der  Sache  und  den  Aufgaben 
der  Wissenschaft  nichts  gemein  hat. 

Nun  ist  man  in  der  neuesten  Zeit  immer  bereit, 
Eintheiiuug.  die  Eutstchung  aller  Dinge  zu  suchen  und  demge- 
mäss  auch  eine  genetische  Erklärung  und  Eintheilung 
der  Religion  zu  fordern. 

Alle  Entstehung  ist  aber  doppelt,  entweder  nämlich  historisch 
und  von  menschlichem  Standpunkt  aus  zufällig,  oder  ewig.  So 
z.  B.  ist  die  Entstehung  unserer  Kenntnisse  von  dem  Saturnringe 
oder  der  Geographie  des  Mondes  historisch  und  zufällig,  da  zuvor 
natürlich  das  Fernrohr  erfunden  werden  musste;  wenn  wir  aber 
die  Kugel  durch  Umdrehung  eines  Halbkreises  um  seine  Axe  ent- 
stehen lassen,  so  ist  dies  eine  ewige  Entstehung,  die  von  allen 
historischen  und  zufUUigen  Umständen  unabhängig  in  allen  Zeiten 
vorgestellt  werden  kann. 

Nun  haben  die  Darwinisten,  weil  sie  philosophisch  unge- 
schult waren,  alle  Naturformen  historisch  durch  zufällige  äussere 
Einflüsse  erklären  wollen.  Diese  Erklärungsweise  kann  aber 
nur  richtig  sein  ftir  solche  Formen,  welche  keinen  Sinn  und  keine 
innere  Ordnung  haben,  wie  z.  B.  für  die  Gebirgsformen;  denn 
in  dem  Kampf  um's  Dasein  werden  etwa  die  krystallinischen 
Steincolosse  durch  Wasser  und  Eis  alhnählich  zersprengt,  durch 
Gletscher  zerstreut,  ihre  durch  Bindemittel  verkitteten  Breccien 
zu  Conglomeraten  in  zufälligen  Formen  zusammengeballt  u.  s.  w. 
Bei  all  solchen  Formen  ist  aber  keine  zweckmässige  Ordnung, 
kein  einheitliches  Zusammenwirken  der  physischen  und  chemi- 
schen Functionen  zur  Erhaltung  eines  organischen  Systems  wahr- 
nehmbar, wie  wir  solche  Ordnungen  doch  in  den  Organismen 
der  Pflanzen   und  Thiere   erkennen,   deren   Theile   eine    innere 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


der  Religionen.  95 

Beziehung  zu  einander  haben.  Wie  es  deswegen  lächerlich  wäre, 
wenn  mau  die  Entstehung  der  Disputa  von  Kafael  oder  des 
Kölner  Domes  darwinistisch  erklären  wollte,  so  muss  es  noch 
viel  mehr  für  unbesonnen  gelten,  wenn  man  die  Organismen  der 
Thiere  und  ihre  Arten  durch  zufällige  äussere  Umstände,  Kampf 
um's  Dasein,  Anpassung,  kleine  Abändemngen,  Vererbung  und 
dergleichen  zu  erklären  versucht.  Ich  habe  dies  schon  in  meiner 
Schrift  „Darwinismus  und  Philosophie"  dargelegt,  und  es  ist  auch 
bisher  nichts  dagegen  eingewandt  worden.*) 

*)  Unter  den  mancherlei  ßecensionen,  die  meine  Schrift  erfahren,  sind 
mir  besonders  zwei  in  der  Erinnerung  geblieben.  Die  eine  rührt  von  einem 
eigentlichen  Philosophen  her,  von  Eucken  in  Jena  (Jenaer  Literaturzeitung 
1878  No.  8),  und  ist  im  Wesentlichen  zustimmend;  die  andere  von  dem  be- 
kannten leidenschaftlichen  Darwinisten  Prof.  Otto  Caspari  (Kosmos  lU.  Jahr- 
gang, lieft  8  und  9).  Dieser  Apologet  des  von  mir  verurtheilten  Stand- 
punktes sagt  S.  82 :  „Bei  dieser  Voreingenommenheit  gegen  den  grossen  Re- 
formator der  Erkenntnisskritik  (Kant)  ist  es  denn  wohl  verstilndlich,  dass 
Teichmüller  nicht  in  vollem  Masse  in  sich  die  Erschütterungen  verspürte, 
die,  einem  Erdbeben  gleich,  durch  die  Schriften  Darwins  erzeugt  wurden." 
Obgleich  dies  ein  Vorwurf  gegen  mich  sein  soll,  räume  ich  die  Thatsache 
gern  ein;  ich  bedurfte  diese  Erschütterung  eben  nicht,  weil  ich  den  natür- 
lichen Tendenzen  der  Untersuchungen,  die  Darwin  ausführte,  nie  einen  blin- 
den Widerstand  entgegengesetzt,  sondern  sie  immer  getheilt  hatte.  Wer 
nicht  schläft,  braucht  also  auch  nicht  geweckt  zu  werden.  —  Gegen  meinen 
Standpunkt,  den  Caspari  als  Eleatismus  und  Dogmatismus  bezeichnet  und 
darum  unannehmbar  findet,  weil  dabei  feste  Gesetze  und  eine  absolute  Te- 
leologie  in  der  Welt  herrschten,  macht  er  nun  seinerseits  den  Darwinismus 
als  einen  Heraklitismus  und  Empirismus  geltend,  weil  er  „eine  real  fortstre- 
bende ewige  Zeit"  (S.  166)  liebe  und  „für  die  grosse  Welttragödie"  (S.  171) 
„tausende  von  kleinen  Missbildungen  und  das  übergrosse  Heer  von  üebeln" 
brauche  und  eine  „Werde-  und  Veränderungslehre"  haben  wolle,  damit  „das 
sogenannte  Ganze  (der  Welt)  niemals  vöUig  abgeschlossen  und  absolut  ganz" 
sei  (S.  173).  Caspari  erkennt  mir  dabei  die  Ehre  zu,  von  allen  Gegnern  des 
Darwinismus  die  consequenteste  Theorie  aufgestellt  zu  haben:  „Es  sind  in 
der  Literatur  seit  zwanzig  Jahren  neben  der  Darwin'schen  Transmutations- 
und Selektionslehre  sehr  viele  Umbildungslehren  aufgetaucht,  die  der  von 
Teichmüller  aufgestellten  mehr  oder  weniger  ähnlich  sind;  dennoch  muss 
zugestanden  werden,  dass  eine  consequentere  Lehre  über  Umformung  auf 
Grrund  von  einigen  Urtypen  und  auf  Grund  einer  ewig  herrschenden  und 
planmässig  lenkenden  Uridee  nicht  erfunden  werden  konnte."  (S.  171).  Auf 
dieses  aufrichtige  Bekenntniss  kann  ich  nur  meinerseits  erwidern,  dass  mir, 
weil  ich  das  Darwinjsche  Erdbeben  nicht  mit  erlebt  habe,  alle  diese  Bestre- 
bungen von  Darwin,  Häckel,  Caspari,  Eauber  u.  A.  durchaus  ei'wünscht  sind 
und  dass  ich  den  ganzen  Standpunkt  vollkommen  anerkenne  als  das  nämlich, 

uiymzeu  uy  "V-j  vyVjpt  Iv^ 


96  Eintheiliiiig 

Wenn  nun  die  Religionen  bloss  aus  irrigen  Meinungen, 
krankhaften  Geftlhlen  und  absurden  Gebräuchen  beständen,  so 
könnte  ireilich  die  darwinistische  Ableitung  aus  zufälligen  äusse- 
ren Umständen  die  allein  berechtigte  sein.  Wenn  wir  aber  sehen, 
dass  die  Formen  der  Religionen  und  ihre  wesentlichen  Charaktere 
sich  bei  allen  Völkern  und  in  allen  Zeiten  und  auch  bei  allen 
einzelnen  Individuen  in  gesetzmässiger  und  constanter  Weise 
wiederholen,  so  ist  von  vornherein  anzunehmen,  dass  ihre  For- 
men auf  den  wesentlichen  und  allgemeinen  Functionen 


woför  er  sich  giebt,  als  Empirismus,  d.  h.  als  Versuch,  möglichst  viel  Er- 
fahrungen zu  machen  und  perspectivisch  die  Linien  der  Naturformen  zu 
Überblicken.  Nur  darf  sich  dieses  durchaus  berechtigte  Streben  nicht  Theorie 
und  Philosophie  nennen,  wovon  es  sich  doch  gerade  abwendet.  Wenn  einer 
auf  Reisen  geht,  kann  er  nicht  zugleich  in  der  Heimath  bleiben.  —  Darum 
kann  von  einer  Widerlegung  meiner  Philosophie  oder  auch  nur  von  einer 
Einwendung  gegen  dieselbe  in  Caspari's  Becension  gar  keine  Rede  sein; 
denn  Begriffe  können  nur  durch  Begriffe  widerlegt  werden;  bei  Caspari  sind 
aber  alle  Begriffe  wie  Zeit,  Gausalität,  Zufall,  Ganzes,  Relativ,  Absolut,  Ge- 
setz u.  8.  w.  nur  nach  dem  Sprachgebrauch  aufgenommen  und  wie  ein  tumul- 
tuarischer  Yolkshaufen  gegen  ein  geordnetes  Heer  bloss  durch  Murren  in 
Bewegung  gesetzt.  Jede  Analyse  jedes  beliebigen  Begriffs,  den  Caspari  ver- 
wendet, würde  aber  sofort  zeigen,  dass  im  Denken  alles  fest  ist,  Identi- 
tätsgesetz, Satz  des  Grundes,  Methode  des  Begreifens  u.  s.  w.  Mithin  ist 
absolute  Veränderung  und  allgemeines  Werden  ein  nicht  zu  denkender  Ge- 
danke, eine  blosse  Einbildung.  Denn  selbst  wenn  das,  was  wir  heute  für 
wahr  halten,  in  hundert  oder  tausend  Jahren  nicht  mehr  wahr  sein  sollte, 
so  bliebe  doch  der  Gegensatz  von  Wahr  und  Falsch  ganz  unveränderlich 
fest  und  ebenso  der  Gegensatz  von  Ruhe  und  Veränderung,  Zweck  und  Zu- 
fall u.  s.  w.  Mit  einem  einzigen  festen  Begriff  sind  aber  sogleich  minde- 
stens zwei  feste  Beziehungspunkte  gegeben,  mit  jedem  von  beiden  wieder  je 
zwei  und  so  fort,  bis  mit  einem  Schlage  fOr  den  Denkenden  das  Ganze  der 
Welt  überhaupt  feststeht.  Wer  aber  ein  so  grosser  Freund  der  Veränderung 
ist,  dass  er  alle  Begriffe  wie  alle  Dinge  in's  Werden  und  Fliessen  bringen 
will,  der  wird  also  auch  den  Begriff  der  Wahrheit  zur  Veränderung  treiben 
mQssen  und  damit  also  nicht  bloss  seine  eigene  bisher  fQr  wahr  gehaltene 
Ueberzeugimg  aufgeben  und  als  falsch  erkennen,  sondern  überhaupt  keinen 
Unterschied  mehr  zwischen  Wahr  und  Falsch  machen,  also  auf  Wissenschaft 
verzichten.  Ebenso  wird  er  die  Veränderung  zur  Veränderung,  d.  h.  zur  Ruhe 
treiben  und  zwar  nicht  bloss  die  Dinge,  bei  denen  das  ja  allerdings  vorüber- 
gehend immer  so  erscheint,  sondern  auch  die  Begriffe,  so  dass  er  sich  also 
mit  der  sich  verändernden  Veränderung  zur  Ruhe  setzt  und  seine  frühere 
Theorie  widerlegt.  Kurz  von  Philosophie  ist  bei  Caspari  und  den  Darwinisten 
keine  Rede;  die  blosse  Empirie  als  ein  Forschungsversuch  wird  aber  von 
jedem  Philosophen  immer  gutgeheissen  und  anerkannt  werden. 

uiymzeu  uy  V^jOOv  IC 


der  Religionen.  97 

der  menschlichen  Seele  beruhen,  und  mithin  mnss  wie  bei 
den  Formen  der  Parallelogramme  und  der  Winkel  eine  transcen- 
dentale  und  apriorische  Eintheilung  nicht  bloss  möglich,  sondern 
auch  nothwendig  sein. 

Eine  mittelbare  Gonfirmation  dieses  Resultates  können  wir 
auch  daraus  entnehmen,  dass  in  der  That  alle  Versuche  einer 
bloss  historischen  Ableitung  und  Eintheilung  der  Seligionen 
euhemeristischer  Art  oder  auf  inductiver  Grundlage  und  nach  den 
Stufen  der  Gulturentwickelung,  oder  wie  man  es  nennen  möchte, 
bisher  verunglttckt  sind.  Die  bloss  geschichtliche  Betrachtung 
kann  eben  nur  die  Thatsachen  constatiren,  aber  weder  ein  Ein- 
theilungsprincip ,  noch  einen  hinreichenden  Grund  für  die  ver- 
schiedenen Arten  der  Religion  und  ihre  Zahl  ausfindig  machen, 
noch  auch  einen  Massstab  darbieten,  um  den  Werth  derselben 
abzumessen.*) 

Alles    dies   muss    eine    speculative  Eintheilung  j^,^  gpecniative 
leisten  oder    als  unreif   und   ungenügend  verurtheilt    Eintheiinng. 
werden,  um  endlich  derjenigen  Speculation  Platz  zu  machen,  die 
ohne  alle  Schwierigkeiten  die  Frage  lösen  kann. 

*)  Den  neuesten  Versuch  einer  Eintheilung  der  Religionen 
hat  0.  Pfleiderer  gemacht.  Er  hebt  in  seiner  „Genetisch-  ü»*»«' 
speculativen  ReUgionsphüosophie"  1884  (ö.  Reimer)  mit  Recht  E,^jf^\^i^''^ 
hervor,  dass  Sagengeschichte,  Sprachvergleichung  und  Ethnologfie 
nicht  im  Stande  sind,  uns  den  Ursprung  der  Religion  zu  erklären,  weil  wir 
einer  Deutung  der  Thatsachen  bedürfen  und  daher  die  Psychologie  und  also 
überhaupt  die  Philosophie  in  erster  Linie  für  dieses  Problem  in  Anspruch 
nehmen  müssen.  Allein  im  weiteren  Fortgang  seines  Werkes  begnügt  sich 
0.  Pfleiderer  doch  mit  einer  nur  historischeu  Gruppirung  der  Religionen,  die 
er  unter  den  Titeln:  1.  Anfänge  der  Religion,  2.  Indogermanische  Religion 
(Inder,  Perser,  Germanen,  Griechen,  Römer),  3.  Semiten  (Juden,  Islam), 
4.  Christenthum  behandelt.  Dabei  liegt  kein  psychologisches  oder  meta- 
physisches Eintheüungsprincip  zu  Grunde,  was  ja  auch  unmöglich  wäre,  da 
die  verschiedenen  Völker  nicht  bestimmten  Oertem  in  dem  Organismus  der 
Seele  oder  in  dem  System  der  Begriffe  entsprechen  können.  Auch  die  Be- 
handlung der  einzelnen  Religionsgruppen  ist  von  Pfleiderer  nicht  so  durch- 
geführt, dass  man  etwa  schliesslich  immer  zu  einem  festformulirten  Religions- 
typus gelangte,  sondern  wir  begegnen  vielmehr  nur  einer  anmuthigen  und 
kritischen  Zusammenfassung  aller  bisherigen  positiven  Forschungsarbeit, 
sowie  an  mehreren  Stellen  sehr  interessanten  eigenen  Forschungsresultaten 
des  Verfassers.  Im  Ganzen  also  ist  diese  jüngste  bedeutende  Arbeit  ein 
Zeichen,  dass  man  bis  jetzt  noch  keine  Eintheilung  der  Religionen  finden  und 
kein  Eintheüungsprincip  aufstellen  konnte,  dass  mithin  eine  grosse  Lücke 
in  der  Religionsphilosophie  besteht  und  ihrer  Ausfüllung  harrt.  ^-^  , 

Teichmüller.  Religlonaphlloaophle.  Digitized  b7V^OOglC 


98  Eintheilung 

Nun  mnss  jede  Eintheilnng  auf  das  Wesen  der  Sache,  welches 
in  der  Definition  formulirt  wird,  zurückgehen,  sofern  nicht  eine 
äusserliche,  also  zufallige  Anordnung,  sondern  eine  wesentliche,  also 
nothwendige  und  naturgemässe  Gliederung  erreicht  werden  soll. 
Wesentlich  für  die  Religion  war  aber  die  Bethätigung  der  dem 
Gottesbewusstsein  zugeordneten  Gesinnung  durch  Handlung,  Ge- 
fUhl  und  Erkenntniss,  und  es  müssen  daher  zuerst  diese  geistigen 
Manifestationen  nach  ihrer  Brauchbarkeit  ftlr  ein  Eintheilungs- 
princip  untersucht  werden. 

Da  nun  die  Handlung  als  religiöse  nur  insofern  erscheint, 
als  sie  aus  einer  gewissen  Vorstellung  von  göttlichen  Dingen 
und  aus  einem  damit  in  Zusammenhang  stehenden  Gefühle  her- 
vorgeht, so  kann  das  Element  der  Handlung  in  der  Seligion  nur 
als  zweiter  Hand  und  abhängig  gelten,  obgleich  es  allerdings 
charakteristisch  (proprium)  und  von  dem  Specifischen  unabtrenn- 
lieh  sein  mag.  Wir  dürfen  daher  zwar  nicht  bestreiten,  dass 
sich  eine  richtige  und  natürliche  Eintheilung  der  Religionen  aus 
dem  Eintheilungsgrunde  der  religiösen  Handlungen  ableiten  lassen 
könne,  müssen  jedoch  behaupten,  dass  eine  solche  Eintheilung, 
wenn  sie  versucht  und  gelungen  wäre,  nur  als  Confirmation  für 
die  Richtigkeit  einer  anderen  vorhergehenden  gelten  könne,  die 
aus  der  ursprünglichen  Coordination  von  Geflihl  und  Gottes- 
erkenntniss  stammt,  wodurch  in  erster  Linie  alle  Religion  be- 
stimmt wird. 

Wenn  wir  aber  nun  wieder  diese  beiden  wesentlichen  Ele- 
mente prüfen,  so  möchte  zunächst  das  Wollen  oder  Gefühl  als 
der  eigentliche  Sitz  der  Religion  erscheinen,  dagegen  das  zuge- 
hörige Wissen,  worin  die  Gotteserkenntniss  liegt,  nur  als  Be- 
ziehungspunkt; denn  Niemand  wird  etwa  blosse  Erkenntnisse 
und  Begriffe,  die  schulmässig  definirt,  discutirt  und  demonstrirt 
werden  können,  auch  wenn  sie  sich  auf  Gott  und  göttliche 
Dinge  beziehen,  flir  Religion  halten.  Dagegen  gilt  das  Geflihl 
überall,  wo  es  auftritt,  sofort  selbst  als  Religion,  wenn  es  sich 
nur  auf  Gott  und  göttliche  Dinge  bezieht,  ohne  dass  diese  Dinge 
einer  schärferen,  schulmässigen  Fassung  bedürften.  Es  scheint 
daher,  als  wenn  die  Eintheilung  der  Religion  am  Wissenschaft- 
lichsten zum  fundamentum  divisionis  das  Gefühl  selbst  nehmen 
müsste.  Allein  zwei  Gründe  stehen  entgegen.  Erstens  nämlich 
ist  das  Geflihl  seinem  Wesen  nach  keine  Erkenntniss  und  kann 

u.quizeauy  Google 


der  Eeligionen.  99 

deshalb  auch  nnr  durch  Zeichen  (semiotisch)  oder  durch  gewisse 
dem  GefUhl  selbst  heterogene  Beziehungen  ftir  die  Erkenntniss 
dargestellt  werden.  Und  zweitens  kann  das  Gefühl  nur  dann 
als  ein  religiöses  gelten,  wenn  es  in  Beziehung  zu  einer  be- 
stimmten Gottesvorstellung  entsprungen  ist.  Lassen  wir  diese 
Beziehung  weg,  so  giebt  es  keinen  Grund  mehr,  die  Gefühle  zu 
unterscheiden,  und  einige  als  weltlich,  andere  als  religiös  zu 
bezeichnen. 

Mithin  bleibt  nichts  übrig  als  das  Element  der  Erkennt- 
niss, welches  zum  richtigen  Eintheilungsprincip  der  Eeligion 
gebraucht  werden  könnte.  Da  diese  Erkenntniss  aber  nicht  selbst 
die  Beligion  ausmacht,  so  muss  ihr  entsprechend  immer  ein  be- 
stimmtes Gefühl  als  zugeordnet  nachgewiesen  werden,  mit 
welchem  zusammengenommen  sie  erst  eine  bestimmt  charakteri- 
sirende  Art  des  religiösen  Geistes  ausmachen  kann,  ebenso  wie 
auch  bestimmt  zugehörige  Handlungen  als  charakteristisch  Air 
jede  gefundene  Eeligionsform  anzugeben  sind. 

Wenn  wir  die  Gotteserkenntniss  selbst  als  Ein- 
theilungsgrund,  der  also  wiederum  eingetheilt  werden  theiiungsgrond 
muss,  betrachten,  so  ist  klar,  dass  die  Frage  zunächst  ^  **«"  oottes- 

_  •  1  bewusstsein. 

an  das  Tnbunal  der  Metaphysik  verwiesen  werden 
muss.  Diese  Bestimmung  des  Forums  für  unsere  Frage  könnte 
vielleicht  bezweifelt  werden;  denn  es  ist  ja  fllr  die  Eintheilung 
selbst  gleichgültig,  ob  das  Gottesbewusstsein  in  der  Form 
strenger  BegriflFe  mit  sicherer  Ableitung  auftritt,  oder  ob  es  in 
dem  wärmeren  und  dunstreicheren  Elemente  des  Volksglaubens 
athmet.  Immer  ist  ftlr  uns  bei  aller  Betrachtung  der  Religion 
nur  das  Specifische  des  theologischen  Bewusstseins  massgebend, 
und  wir  können  aus  dem  Volksglauben  meistens  ohne  grosse 
Schwierigkeit  die  verdunkelnden  Nebenvorstellungen  absondern 
und  die  bildliche  Ausdrucksweise  in  ihren  eigentlichen  Sinn  über- 
setzen; denn  die  speculative  Vernunft,  aus  welcher  alle  Gottes- 
erkenntniss hersl^mmt,  ist  gar  nicht  an  Gelehrsamkeit  gebunden, 
sondern  kann  in  jedem  selbständigen  Kopfe  mit  den  einfachsten 
Ausdrücken  ihre  Schauungen  darlegen,  wenn  sie  fi-eilich  auch 
für  die  Anerkennung  ihres  Werthes  eine  wissenschaftliche  Aus- 
einandersetzung mit  den  bisherigen  metaphysischen  Lehren  be- 
darf. Wenn  wir  deshalb  hier  die  Metaphysik  anrufen,  so  soll 
unsre  Frage  damit  nicht  etwa  aus  der  Region  des  Volksglaubens 

uiymzeu  uy  x^_j  vyVjy  Iv^ 


100  Eintheilung 

weggeführt  und  bloss  den  trockenen  Disputirübungeu  der  Schule 
übergeben  werden,  sondern  ich  will  damit  nur  erklären,  dass  das 
Gottesbewusstsein  in  den  Völkern  überhaupt  ihre  metaphysische 
Vernunft  ist  und  daher  flir  die  Gelehrten  am  Kürzesten  und  Be- 
quemsten in  den  speculativen  Begriffen  der  Metaphysik  aus- 
gedrückt werden  kann. 

Ich  trete  hiermit  natürlich  den  Comte'schen  und  verwandten 
modernen  Auffassungen  entgegen,  die  aber  auch  keine  irgend 
beachtenswerthe  philosophische  Begabung  ihrer  Besitzer  an  den 
Tag  legen;  denn  die  Metaphysik  ist  eine  ebenso  natürliche 
Thätigkeit  der  Vernunft,  wie  das  Sehen  flir  das  Auge  und  das 
Hören  ftir  das  Ohr;  es  kann  deshalb  einem  Philosophen  nur 
wunderlich  vorkommen,  wenn  Jemand  wie  Comte  behauptet,  dass 
es  eine  Zeit  gegeben  habe  vor  der  Metaphysik  und  dass  eine 
Zeit  nach  der  Metaphysik  mit  der  Morgenröthe  des  Positivismus 
angebrochen  sei;  denn  solche  Zeiten  hat  es  nie  gegeben.  Sollte 
aber  der  Positivismus,  der  ein  blosser  Skepticismus,  d.  h.  ein  Be- 
wusstsein  persönlicher  Unfähigkeit  ist,  die  Morgenröthe  der  neuen 
Zeit  bilden,  so  müsste  der  Zeitordnung  entsprechend  bald  die 
Sonne  wieder  aufgehen  und  sich  also  eine  neue  Metaphysik  aus- 
bilden, damit  die  Menschheit  nicht  in  dem  Schatten  einer  geist- 
armen Dämmerungswelt  lichtscheu  verkümmere. 

Der  Positivismus  ist  aber  nicht  etwa  zu  tadeln;  er  bezeugt 
vielmehr  die  Wahrheit,  dass  die  früheren  metaphysischen  Systeme 
in  der  That  vor  der  Kritik  nicht  bestanden  und  noch  keine  neue 
Grundlegung  mit  der  Kraft  überzeugender  Wahrheit  hervorgetreten 
war.  Darum  konnte  auch  die  bisherige  Philosophie  die  richtige 
Eintheilung  des  Gottesbewusstseins  nicht  finden,  weil  sie  über 
die  Natur  des  Seins  sich  nicht  berathen  und  mit  Einschluss  von 
Kant,  Herbart,  Hegel,  Krause,  Lotze  und  wen  man  von  den  Mo- 
dernen noch  nennen  möchte,  sich  immer  an  die  Begriffe  der 
griechischen  Philosophie  bewusst  oder  unbewusst  angeschlossen 
hat.  Es  bleibt  uns  also  nichts  übrig,  als  positivistische  Resi- 
gnation oder  ein  neuer  Versuch.  In  meiner  Grundlegung  der  Meta- 
physik habe  ich  nun  den  einfachen  und  natürlichen  Weg  in 
speculativen  Begriffen  beschrieben,  auf  welchem  die  Idee  des 
Seins  in  der  Menschheit  unbefangen  gewonnen  ist  und  dadurch 
die  Möglichkeit  einer  neuen  Weltbetrachtung  erwiesen,  die  ge- 
rade mit  der  christlichen  überall  zusammentrifft:. 

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der  Religionen.  101 

Ich  lasse  hier  aber  die  kritische  Erörterung  der  früheren 
Auffassungen  bei  Seite  und  gebe,  indem  ich  auf  meine  Meta- 
physik daflLr  verweise,  jetzt  nur  die  positive  Eintheilung  des 
Gottesbewusstseins.  Dieses  darf  jedoch  nicht  allein  auf  die 
wahre  Metaphysik  bezogen  werden,  weil  man  sonst  nur  eine 
einzige  Religion,  nämlich  die  wahre  Religion  des  Christenthums 
erhalten  würde.  Um  die  einseitigen  und  falschen  Religions- 
formen mit  zu  umfassen,  muss  man  auch  die  zugehörige  Meta- 
physik hinzunehmen.  Demgemäss  gehen  wir  von  dem  Gedanken 
aus,  dass  zuerst  unmöglich  in  der  Menschheit  ein  Interesse  vor- 
handen sein  konnte,  das  Sein  und  Wesen  aller  Dinge  wissen- 
schaftlich zu  erkennen  und  Gott  als  das  Seiende  an  sich  zu  be- 
stimmen. Vielmehr  musste  alle  Nachforschung  nach  den  Ur- 
sachen sich  zuerst  auf  die  Gegenstände  unserer  Leidenschaften 
nach  Furcht  und  Hoffnung  und  später  auf  die  sittlichen  Gefühle 
beziehen,  welche  den  Menschen  beseelen,  wenn  er  als  erscheinende 
Persönlichkeit  unter  anderen  seines  Gleichen  handelt  Mithin 
hatte  der  Mensch  zuerst  mit  der  scheinbaren  Welt  zu  thun 
und  musste  deshalb  alle  Ursachen  und  also  auch  den  Gott  als 
Gegenstände  bestimmter  oder  unbestimmter  Art  in  diese  Welt  ver- 
setzen und  von  sich  unterscheiden  und  sich  gegenüberstellen, 
d,  h.  projiciren.  Darum  nenne  ich  die  unterste  Stufe  der  Religion, 
auf  welcher  der  Mensch  den  Gott  (welchen  er  glaubt,  fürchtet 
und  verehrt)  von  sich  dem  Subject  als  ein  äusserliches  Object 
abtrennt,  projectivische  Religion. 

Später  aber  wird  die  Metaphysik  kritisch  und  es  stellt  sich 
heraus,  dass  der  geglaubte  Gott  als  Object  eines  glaubenden 
oder  erkennenden  Subjects  von  diesem  Subject  unabtrennlich  ist 
als  ein  Subject-Object.  Dadurch  entstehen  die  pantheisti- 
schen  Religionen. 

Beide  Formen  des  Gottesbewusstseins  gehören  aber  ein:r 
unreifen  Metaphysik  an,  die  erste  der  naiven,  die  zweite  der  ein- 
seitig subjectiven.  Darum  erhob  sich  siegreich  über  sie  das 
Ghristenthum,  welches  das  ganze  menschliche  Bewusstsein  um- 
fasste  und  dadurch  die  BegriflFe  von  Wesen  (Substanz),  Sein, 
Zeit  und  Ewigkeit,  Erkennen,  Object  und  Subject  in  einer  neuen 
und  wahren  Gestalt  ausprägte,  wodurch  die  Stellung  des  Menschen 
als  selbständiger  Persönlichkeit  Gott  gegenüber  ohne  projectivischen 

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J 


102  Eintheilung 

Schein   and   ohne  pantheistische  Verflüchtigung  mit  einem  Mal 
verständlich  wurde. 

So  haben  wir  ausser  dem  Ghristenthum  nur  zwei  specifisch 
verschiedene  Religionstypen.  Diese  lassen  sich  aber  nach  a  priori 
erkennbaren  Eintheilungsgrtinden  wieder  in  mehrere  Gattungen 
scheiden,  von  denen  eine  jede  ein  specifisch  bestimmtes  System 
von  zusammengehörigen  Elementen  bildet. 

1)  Die  ^*  nämlich  von    dem  Religiösen    das    Gottes- 

projecUTiBche  bcwusstseiu  uicht  in  wissenschaftlichem  Interesse  ans- 
Theologie,  g^bü^gt  wird,  soudem  der  Gott  vielmehr  immer  nur 
die  Goordinate  fUr  die  Gesinnung  des  Menschen  ausmacht,  der 
diesem  Bewusstsein  gemäss  denkt,  ftlhlt  und  handelt,  so  kann  es 
auch  keine  projectivische  Religion  geben,  die  bloss  unserem  Ge- 
fllhl  für  das  Wahre  entspräche,  d,  h,  worin  der  Geist  bloss  als 
Object  schlechthin,  als  das  Sein  und  Wesen  der  Dinge  betrachtet 
würde;  denn  eine  solche  Theologie  würde  gegen  die  Hypothesis 
sein,  sofern  sie  nur  in  Coordination  zu  dem  Erkenntnissvermögen, 
aber  nicht  zu  der  Gesinnung  stände,  die  das  persönliche  Ver- 
halten des  Menschen  zu  einem  solchen  Wesen  ausdrückt.  Also 
giebt  es  keine  projectivische  Theologie,  die  bloss  dem  Gefhhl 
der  Wahrheit  coordinirt  wäre. 

Demgemäss  bleiben,  da  die  Theologie  vielmehr  selbst  die 
dem  Gefühl  der  Wahrheit  entsprechende  Erkenntnissleistung 
bildet,  nur  zwei  Gattungen  von  projectivischer  Religion  möglieh, 
nämlich  erstens  dasjenige  Gottesbewusstsein,  welches  die  Goordi- 
nate für  un^er  der  bewegenden  und  handelnden  Function  zu- 
geordnetes Gefühl  bildet,  und  zweitens  dasjenige,  welches  dem 
Gefühl  als  Gefühl,  d.  h.  dem  der  Ordnung  der  geistigen  Functionen 
selbst  zugeordneten  Gefühle  entspricht. 

Durch  die  Bewegung  und  Handlung  sind  wir  mit  der  Aussen- 
welt  verflochten  und  haben  dadurch  unsere  Existenz  oder  unseren 
Tod,  Gesundheit  oder  Krankheit,  Besitz  oder  Verlust,  Nahrung 
oder  Noth,  Gelingen  oder  Misslingen,  Glück  oder  Unglück,  Ehre 
oder  Schande,  Freiheit  oder  Knechtschaft,  und  alles  dies  auch 
wieder  in  Bezug  auf  jedes  Ding  und  jede  Person,  die  wir  be- 
sitzen. Da  nun  all  dieses  unser  Gefühl  zunächst  nur  nach  der 
negativen  Seite  erregt,  so  entspricht  diesem  Gottesbewusstsein 
die  Furcht,  und  ich  nenne  deshalb  die  zugehörige  Religion  die 
Religion  der  Furcht, 

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der  Religionen.  103 

Wenn  wir  aber  dies  ganze  Gebiet  eliminiren,  so  bleibt  als 
Coordinate  für  das  Gottesbewusstsein  nur  das  Gefühl  als  Gefühl 
schlechthin  übrig,  d.  h.  die  Ordnung  der  geistigen  Functionen 
selbst  abgesehen  von  einem  bestimmten  Inhalt.  Diese  Ordnung 
und  die  entsprechende  Unordnung  hat  sich  coordinirt  immer  den 
Begriff  des  Gesetzes  oder  des  Rechtes,  des  Guten  und  Heiligen 
und  umgekehrt  den  Begriff  der  Sünde  und  Gesetzesübertretung. 
Da  nun  auch  hier  das  Positive  nicht  zum  Bewusstsein  kommt 
ohne  vorherige  Empfindung  des  Negativen,  so  muss  das  Gottes- 
bewusstsein in  seiner  Zuordnung  zur  Gesinnung  des  Menschen 
hier  eine  Religion  der  Sünde  oder  Rechtsreligion  bilden. 
Das  Gesetz  wird  darin  aber  projectivisch  gefasst,  indem  der 
Grund  und  das  Wesen  dieser  Ordnung  mit  seinem  zugehörigen 
Gefbhl  unerkannt  bleibt. 

Eine  dritte  Gattung  ist  nicht  möglich,  weil  der  Mensch  nicht 
mehr  geistige  Functionen  als  drei  besitzt,  welche  durch  die  Ein- 
theilung  erschöpft  sind.  Dieser  apriorischen  Eintheilung  ent- 
spricht aber  die  historische  Wirklichkeit  niemals  völlig,  da  die 
Functionen  zusammenwirken  und  höhere  Stufen  schon  bemerklich 
werden,  wenn  auch  die  Masse  der  Gläubigen  noch  auf  der  nie- 
deren Stufe  steht,  so  dass  die  Wirklichkeit  lauter  unreine 
Formen  enthalten  muss,  deren  Elemente,  Mischungsverhältnisse 
und  Werthbestimmungen  aber  nur  durch  die  a  priori  vollzogene 
Eintheilung  verständlich  werden  können. 

Den  Uebergang  zu  einem  zweiten  Typus  von  Re- 
ligionen bildet  nun  der  Atheismus,  der  den  unge-  theisttBchcn 
bildeten   Gährungszustand   des  Bewusstseins  enthält,    B«i*8ioncn 
in  welchem  die  frühere  Auffassungsweise  der  Welt  sich  zerstört, 
die  neue  aber  noch  nicht  geordnet  ist    Der  Atheist  hat  deshalb 
nur  das  Geschäft  des  Schinders  und  im  besten  Fall  des  Rich- 
ters, der  den  Delinquenten  zum  Tode  verurtheilt    Der  Atheis- 
mus heisst  deshalb  Skepticismus,  Kriticismus,  Positivismus,  Em- 
pirismus, wenn  noch  keine   höhere  Form   eines  gebildeten  Be- 
wusstseins gewonnen  ist;  als  relativer  Atheismus  aber  muss  jeder 
höhere  Standpunkt  dem  niederen  projectivischen  gegenüber  er- 
scheinen, weil  er  die  aussen  stehenden  Götter  wegnimmt,  wes- 
halb die  Kirchenväter  dem  Heidenthum  gegenüber  einen  atheisti- 
schen Anstrich  hatten  nnd  auch  die  allgemeinen  Mittel  des  Atheis- 
mus, z.  B.  Spott  und  Hohn,  anwendeten. 

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104  Eintheilang 

Der  neue  Typus  des  religiösen  Bewusstseins  besteht  aber 
in  der  Ueberftihrung  des  projecti vischen  Objects  in  das  Öubject 
In  dem  Pantheismus  nimmt  der  Geist  seine  Geburt,  den  Gott, 
in  sich  zurück,  und  es  ist  daher  der  Gott  unser  Geist  selbst. 
Da  der  Geist  aber  in  drei  Thätigkeitsformen  sich  offenbart,  so 
lassen  sich  a  priori  drei  Gattungen  der  pantheistischen  Religion 
construiren,  jenachdem  jede  dieser  Thätigkeitsformen  zur  Haupt- 
sache und  die  andern  beiden  entsprechend  zu  Nebensachen  oder 
dienenden  Begleitern  gemacht  werden. 

Der  Pantheismus  der  That  oder  Handlung  erstens  lässt 
sich  aber  wieder  in  verschiedene  Arten  a  priori  zerlegen,  weil 
das  bewegende  Vermögen  des  Geistes  verschiedene  a  priori  er- 
kennbare Gebiete  bildet,  in  welchen  die  Bewegung  einen  spe- 
cifisch  verschiedenen  Charakter  besitzt  Diese  Division  ist  an 
ihrem  Orte  zu  vollziehen. 

Der  Pantheismus  des  Gefühls  dagegen  ist  seiner  Natur 
nach  einartig,  weil  die  Unterschiede  des  Gefühls  sich  nur 
durch  Ausbildung  der  handelnden  Function  oder  der  Erkenntniss 
entwickeln  könnten,  welche  aber  gerade  in  das  Gefühl  ver- 
schwinden sollen. 

Der  Pantheismus  der  Erkenntniss  endlich  ist  auch 
einartig,  weil  es  zwar  mehr  oder  weniger  verschiedene  idealisti- 
sche Auffassungen  Gottes  geben  kann,  das  specifisch  Religiöse 
dabei  aber  immer  das  Geflihl  flir  das  Subject-Object  bleibt, 
welches  durch  die  Denkbewegung  als  gegenwärtiger  göttlicher 
Geist  vorhanden  ist. 

Ausser  diesen  drei  reinen  Gattungen  kann  es  keine  andere 
mehr  geben;  die  bei  den  Menschen  vorgeftmdenen  pantheistischen 
Religionszustände  werden  aber  inmierhin  durch  mancherlei  Mischun- 
gen viele  Nuancen  enthalten,  welche  flir  die  Wissenschaft  von 
wenig,  flir  die  persönliche  Annehmlichkeit  jedoch  von  grosser 
Wichtigkeit  sind. 

In  dem  Pantheismus  ist  mit  Recht  der  projec- 
3.  Dm  ohriaten-  tivischc  Gott  aus  dcu  Wolkcu  abgcholt,  um  in  die 
That,  das  Herz  und  den  denkenden  Geist  des  Men- 
schen einzukehren.  Allein  mit  dem  Object  muss  leider  auch  das 
Subject,  das  Ich,  die  Persönlichkeit  abhanden  kommen  und  trans- 
figurirt  werden,  so  dass  schliesslich  nur  die  Bewusstseins -Er- 
scheinung übrig  bleibt,   d.  h.  die  Reihe  der   einzelnen  Akte,   in 


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der  Beligionen.  105 

welchen  das  menschliche  Bewnsstsein  bald  diesen,  bald  jenen 
ideellen  Inhalt  umfasst.  Das  Verschwinden  des  Ich's,  oder  der 
Persönlichkeit  ist  für  den  Pantheismns  ebenso  specifisch,  wie  das 
Verschwinden  der  projectiven  Aeusserlichkeit  des  Gottes.  Es  zeigt 
sich  also,  dass  dem  Pantheismus  die  Erkenntniss  des  selbstän- 
digen Seins  fehlt;  denn  dem  Pantheisteu  gilt  als  Sein  nur  die 
bestimmte  (concrete)  einzelne  Bewusstseinserscheinung,  oder  die 
unbestimmte  (abstracto  oder  ideelle)  Totalität  des  Inhalts  der  Er- 
scheinungen, welche  wegen  der  absoluten  Unbestimmtheit  einge- 
standenermassen  gleich  Nichts  ist 

Es  muss  daher  eine  neue  Metaphysik  aufgebaut  werden, 
welche  sich  auf  den  Ursprung  unserer  BegriflFe  vom  Sein  wissen- 
schaftlich besinnt  und  nicht  so  rathlos  in  der  Sprache  vorgefun- 
dene Wörter,  wie  Sein  und  Nichts,  ausgiebt,  ohne  die  Aechtheit 
und  Gültigkeit  dieser  cursirenden  Münzen  zu  prüfen.  Diese  neue 
Metaphysik  bedarf  aber  keiner  künstlichen  Apparate  und  ver- 
wickelten Gedanken-Constnictionen,  sondern  sie  ist  die  einfache 
Philosophie  der  Menschheit  von  Anbeginn  bis  auf  den  heutigen 
Tag,  und  Jeder  braucht  sich  nur  selbst  zu  befragen,  so  kann  er 
die  wahre  und  natürliche  Methaphysik  als  Antwort  erhalten. 
Denn  wer  zweifelte  daran,  dass  er  selbst  existirte  und  ein  wirk- 
liches lebendiges  Wesen  wäre!  Welches  Kind  wäre  nicht  ebenso 
wie  jeder  noch  so  kluge  Mann  von  sich  selbst  aus  Entdecker 
und  Bekenner  der  wahren  metaphysischen  Erkenntniss,  dass  seine 
Verwandten,  Freunde  und  alle  Personen,  mit  denen  er  verkehrt, 
wirkliche  lebendige  Wesen,  „Dinge  an  sich"  und  nicht  bloss  Er- 
scheinungen in  seinem  Bewusstsein  sind!  Diese  einfache  Mensch- 
heitsphilosophie wird  nun  unsicher  durch  die  vielen  späteren  Er- 
fahrungen, und  dies  ist  der  einzige  Grund,  weshalb  man  sich  in 
den  philosophischen  Fragen  nicht  auf  das  unbefangene  Urtheil 
von  Jedermann  berufen  kann;  denn  überall,  wo  die  Gegenstände 
zu  mannigfaltig  oder  unabsehbar  und  die  Bedingungen  und  Hülfs- 
mittel  des  Urtheils  zu  verwickelt  werden,  da  tritt  der  einfache 
Mann  vor  dem  Techniker  zurück.  Gleichwohl  müssen  die  letzten 
und  elementaren  Gründe  aller  Urtheile  immer  für  Jedermann 
verständlich  sein  und  ihre  Gewissheit  aus  der  allgemeinen  Ver- 
nunft schöpfen.  Aus  demselben  Grunde,  weshalb  die  Philosophie 
technisch  wird,  stammen  aber  auch  sowohl  die  verschiedenen 
und  entgegengesetzten  Urtheile  der  Techniker,  als  ihre  zahllosen 

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106  Eintheilung 

Irrthümer.  Und  dasjenige  System  wird  immer  siegen,  welches 
die  Quellen  der  Irrthümer  der  anderen  aufdecken  kann,  und 
wird  soweit  die  Wahrheit  treflfen,  als  es  auf  die  einfache  Ver- 
nunft der  Menschheitsmetaphysik  als  auf  seinen  letzten  Grund 
zurückgeht  und  dadurch  die  verwickelten  Phänomene  zu  deuten 
versteht. 

Diesen  Versuch  habe  ich  in  meiner  ,,Neuen  Grundlegung  der 
Metaphysik"  unternehmen  wollen.  Da  aber  eine  neue  Metaphysik 
sich  erst  Bahn  brechen  muss  durch  die  vielen  künstlichen  und 
einseitigen  Theorien,  die  alle  Köpfe  der  mehr  oder  weniger  ge- 
schulten Gelehrten  erftlllen,  so  muss  die  positive  Darstellung 
mit  einem  lebhaften  Gefecht  nach  allen  Seiten,  d.  h.  mit  Kritik 
beginnen.  Deshalb  habe  ich  die  Quellen  der  Irrthümer  der  frü- 
heren Metaphysik  aufgedeckt;  ich  habe  gezeigt,  dass  wir  nicht 
in  der  Weise  von  Xenophanes  und  Piaton  von  dem  BegriflF  der 
Zeit  ausgehen  dürfen,  um  in  dem  ideellen  Inhalte  desBewusst- 
seins  das  Immerbleibende  dem  Wechselnden  gegenüber  als  das 
Wahrhaftseiende  zu  bestimmen;  nicht  in  der  Weise  des  Aristo- 
teles ein  Anschauungsbild  zum  Modell  nehmen  dürfen,  um  an 
ihm,  wie  an  dem  Bilde  vom  Ochsen  und  seiner  Farbe,  Substanz 
und  Accidenz  kennen  zu  lernen;  endlich  auch  nicht  wie  Fichte 
und  Hegel  das  Wissen  und  den  Erkenntnissprocess  als  Grund- 
lage brauchen  dürfen,  um  von  dieser  einseitigen  Function  aus 
das  Allgemeine  (Idee)  als  die  Substanz  und  das  Einzelne  als 
das  Accidentelle  oder  Scheinende  und  Aufzuhebende  zu  begreifen. 
Vielmehr  erwies  sich,  dass  der  natürliche  und  exact  wissen- 
schaftliche Anfang  mit  dem  ganzen  Bewusstsein  zu  machen  ist, 
in  welchem  wir  mit  Zustimmung  der  ganzen  Menschheit  das  Ich 
als  selbständiges  und  zeitloses  Wesen  antreffen,  welches  den 
Typus  aller  Substanzbegriffe  bildet,  und  in  welchem  wir  auch 
die  realen  Acte  in  verschiedenen  Thätigkeitsformen  unterschei- 
den, ebenso  wie  ihren  zugehörigen  ideellen  Inhalt.  Dadurch 
tritt  das  blosse  Wissen  von  dem  Throne  zurück  und  stellt  sich 
zugeordnet  in  die  Reihe  der  drei  geistigen  Thätigkeiten. 

Durch  diese  neue  Metaphysik  ist  der  Boden  gewonnen,  um 
den  Begriff  des  selbständigen  Wesens  (Substanz)  fruchtbar  zu 
machen;  denn  es  ergiebt  sich  nun  die  Möglichkeit,  nicht  bloss 
die  bisher  unlöslichen  Probleme  der  Zeit  und  Bewegung  aufzu- 
lösen und  die  Unendlichkeit  der  Erscheinungen  perspectivisch  zu 

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der  Religionen.  107 

erklären,  sondern  anch  die  volle  Wesenhaf  tigkeit  and  Selbstän- 
digkeit andrer  Persönlichkeiten  und  einer  ausser  dem  Bewusst- 
sein  liegenden  Welt  zu  verstehen,  mit  der  wir,  obwohl  sie  nur 
in  dem  Bewusstsein  erscheint,  verkehren  und  deren  Ordnung  und 
Gesetzmässigkeit  wir  semiotisch  feststellen  können.  Zugleich 
eröffnet  sich  durch  diese  Gemeinschaft  der  Wesen  der  Blick  ftlr 
eine  weitere  Fassung  des  Substanzbegriffes,  da,  wie  die  Akte 
und  ihr  Inhalt  dem  selbständigen  und  zeitlosen  Ich  zugehören, 
alle  Wesen  mit  ihren  Akten  und  ihrem  ideellen  Sein  wiederum 
offenbar  einem  einzigen  Wesen  zugeordnet  sind,  welches  jedes 
Wesen  in  seiner  zeitlosen,  d.  h.  in  aller  Zeit  identischen  Selb- 
ständigkeit lässt  und  sich  doch,  wie  das  Ich  von  seinen  Akten, 
von  allen  diesen  Wesen  unterscheidet,  und  so  mit  eigenem,  nicht 
sunmiirten  Bewusstsein,  Kraft,  Wissen  und  Liebe  sich  in  aller 
Natur  und  in  dem  technischen  System  der  Geschichte  offenbart. 

Diese  neue  Basis  der  Theologie  ist  aber  im  Christenthum 
schon  historisch  gegeben  und  von  den  Philosophen  und  philoso- 
phirenden  Theologen  nur  wegen  ihrer  Abhängigkeit  von  den 
hellenischen  Kategorien  nicht  begriffen.  Die  Philosophie  des 
Ghristenthums  hat  daher  .die  Aufgabe,  diese  falschen  hellenischen 
Auffassungsformen  bei  Seite  zu  lassen,  um  von  dem  neuen  und 
allgemein  menschlichen  Standpunkte  aus  das  specifisch  Christ- 
liche zu  erkennen  und  das  ihm  zugeordnete  dogmatische,  ethische 
und  cultische  System  zu  construiren,  speculativ  aus  den  tiber- 
lieferten Grundgedanken  der  Lehre,  und  philologisch  und  histo- 
risch aus  den  überlieferten  Schriften  und  der  Geschichte  der 
Kirche.  Die  Philosophie  des  Ghristenthums  braucht  daher  nicht 
mehr  bloss  apologetisch  zu  sein,  weil  die  philosophischen  Schulen, 
von  welchen  bisher  die  Angriffe  gegen  das  Christenthum  aus- 
gingen, selbst  in  ihrer  principiellen  Unrichtigkeit  sich  ausgewie- 
sen und  durch  ihr  historisches  Resultat,  den  Positivismus,  sich 
ein  Armuthszeugniss  ausgestellt  haben;  es  dreht  sich  vielmehr 
um  einen  positiven  Aufbau  in  wissenschaftlicher  Form. 

Es  ist  die  Frage,  ob  die  gegebene  Eintheilung  E^t^ekeiunge. 
nicht  dadurch  zu  verbessern  sei ,  dass  man  sie  zu  lehro.  Topik 
einer  Entwickelungsgeschichte  im  Darwinisti-  '""^  »«»cwchte. 
sehen  oder  HegePschen  Sinne  umarbeitete.  Gegen  solches  Vor- 
haben muss  man  sich  aber  im  Interesse  der  Wissenschaft  ener- 
gisch verwahren.     Die   Darwinistische   von   der  Zeitillusion 

uiymzeu  uy  "V-j  vyVjVt  Iv^ 


108  Eintheilung 

beherrschte  EntwickeluDgslehre  zwar  würde  ich  gleich  annehmen, 
sobald  man  vorher  bewiesen  hätte,  wie  die  Richtungen  nach 
Oben  und  Unten  sich  allmählich  aus  den  Richtungen  nach  Rechts 
und  Links  entwickelt  hätten  und  welche  Art  der  Parallelogramme 
zuerst  vorhanden  gewesen  sei  und  die  anderen  Arten  durch  An- 
passung und  Vererbung  hervorgebracht  hätte.  Da  aber  selbst 
die  philosophisch  nicht  besonders  geschulten  Gelehrten  einsehen, 
dass  alles  dies  als  sogenannte  ewige  Wahrheit  zeitlos  ist,  so 
könnte  überhaupt  nur  Hegers  Entwickelungstheorie  in  Betracht 
kommen,  wonach  die  Formen  als  ideelle  Entwickelungsstufen 
zwar  ewige  Momente  des  dialektischen  Processes  bilden,  wegen 
der  Identität  des  Realen  und  Idealen  jedoch  eine  der  logischen 
Ordnung  entsprechende  geschichtliche  Abfolge  beobachten,  da 
der  historische  und  der  logische  Process  nach  Hegel  zusammen- 
fällt Doch  diesen  Irrthum  HegeFs  haben  die  Empiriker  der 
Natur-  und  Geschichts-Forschung  ja  schon  überall  widerlegen 
können.  Auch  ich  habe  in  meinen  Arbeiten  zur  Geschichte  der  Be- 
griffe an  vielen  Punkten  im  Einzelnen  nachgewiesen,  dass  die 
sich  einander  logisch  folgenden  Erkenntnissstufen  in  der  Ge- 
schichte gleichzeitig  nebeneinander  stehen  bleiben,  weil  der  zur 
Geburt  gelangende  Mensch  die  Producte  der  früheren  Geistes- 
entwickelung  nicht  erbt  und  mit  in  die  Wiege  bringt,  sondern 
immer  von  vom  anfängt,  und  auch  die  Seelen  der  kommenden 
Geschlechter  den  Seelen  der  verflossenen  Welt  nicht  tiberlegen 
an  natürlicher  Begabung  sind.  Aus  diesem  Grunde  ist  der 
Hegersche  Versuch  zu  oberflächlich  und  kann  mit  der  wirklichen 
Weltgeschichte  nicht  übereinstimmen,  die  sich  auch  durch  die 
künstlichsten  dialektischen  Operationen  nicht  in  den  logischen 
Process  eingliedern  lässt 

Darum  lege  ich  Werth  darauf,  nicht  eine  solche  Darwinisti- 
sche oder  Hegel'sche  Entwickelungsgeschichte ,  sondern  eine 
Topik  aufzustellen.  Denn  einerseits  sind  die  durch  die  Defi- 
nition und  die  Eintheilung  gegebenen  Begriffe  fest  bestimmte 
Oerter  in  dem  Goordinatensystem  der  religiösen  Sphäre  und  an- 
dererseits wird  durch  alle  Jahrhunderte  jeder  Mensch  nach  seinen 
Anlagen  und  seiner  geistigen  Entwickelung  immer  eine  religiöse 
Gesinnung  haben,  die  durch  den  einen  oder  den  andern  dieser 
Oerter  zu  bestimmen  ist,  wie  jedes  mögliche  Parallelogramm, 
welches    gezeichnet    oder    vorgestellt   wird,    immer    zu    Einer 

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der  Religionen.  109 

der  vier  Arten  gehören  muss.  Es  ist  mir  deshalb  gar  nicht 
verwunderlich,  dass  mitten  im  neunzehnten  Jahrhundert  eine 
Menge  Christen  eigentlich  Gläubige  der  Furchtreligion  und  selbst 
Fetisch-Anbeter  sind,  wie  andererseits  dass  mitten  im  Heiden- 
thum  umgeben  von  Götzendienern  einzelne  fieligiöse  lebten,  die 
so  ziemlich  den  Standpunkt  des  modernsten  Pantheismus  inne- 
hatten, wie  deshalb  ja  z.  B.  Schelling,  Hegel  und  Schopenhauer 
ihre  eigentlichen  Grundgedanken  bei  den  alten  Griechen  oder 
den  Indern  wiederfanden,  oder  z.  B,  die  modernen  Positivisten, 
wie  Laas,  ihr  Ebenbild  in  Protagoras  anlachten. 

Gleichwohl  will  ich  den  Gedanken  einer  Entwickelung 
nicht  verwerfen,  sondern  vielmehr  befestigen.  Es  ist  durchaus 
richtig,  dass  die  Arten  der  Pflanzen  und  Thiere  auseinander 
stufenweise  zu  erklären  sind  und  dass  die  grösseren  Zahlen,  ob- 
wohl sie  zeitlos  zusammen  mit  den  kleineren  in  das  Zahlensystem 
gehören,  dennoch  logisch  aus  den  kleineren  abfolgen,  ebenso  dass 
alle  individuellen  Organismen  sich  in  einer  Stufenfolge  ihrer 
Processe  entwickeln.  Gleichwohl  sind  nicht  alle  Formen  Stufen, 
sondern  es  giebt  auch  mehrere  nebeneinanderstehende  Formen 
derselben  Stufe,  wie  ich  dies  in  meiner  Schrift  „Darwinismus 
und  Philosophie^'  bewiesen  habe.  Darum  ist  zwar  die  Rechts- 
religion eine  höhere  Stufe,  als  die  Furchtreligion,  der  Pantheis- 
mus höher  als  die  projectivische  Religion  und  das  Christenthum 
die  höchste  Stufe  überhaupt;  aber  z.  B.  innerhalb  des  Pantheismus 
giebt  es  mehrere  Formen,  die  sich  nicht  auseinander  entwickeln, 
sondern  gleichzeitig  und  gleichwerthig  nebeneinander  ordnen. 

Es  ergiebt  sich  hieraus,  dass  unsre  Theorie  sowohl  als  Ent- 
wickelungslehre,  als  auch  als  Topik  aufzufassen  ist,  da  sie,  was 
an  der  Entwickelungslehre  richtig  ist,  durchaus  nicht  verschmäht 
und  nicht  entbehren  kann.  Das  Richtige  kann  von  der  Wissen- 
schaft niemals  entbehrt  werden.  Zu  diesen  beiden  Auffassungs- 
weisen wird  dann  aber  noch  ein  dritter  Gesichtspunkt  hinzu- 
kommen, nämlich  die  geschichtliche  Betrachtung.  Soweit 
freilich  als  sich  die  Entwickelungslehre  mit  der  Geschichte  ver- 
quickt, verwerfe  ich  solche  Geschichte  als  ungeschichtlich,  da  es 
sich  zeigt,  dass  alle  die  Oerter  oder  systematisch  bestimmten 
Grundformen  der  religiösen  Gesinnung  sich  in  allen  Jahrhunderten 
wiederholen,  ebenso  wie  die  blonden  und  brünetten  Menschen, 
die  Kurzsichtigen  und  Weitsichtigen,   die  Phlegmatiker  und  die 

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110  Eintheilang  der  Religionen. 

Choleriker  u.  s.  w.  Was  die  positivistische  Culturgeschichte  be- 
triflft,  so  ist  das  Statistische  darin  von  Interesse,  und  gewisse 
Gleichförmigkeiten  der  Stimmungen  und  Vorstellungsweisen  in 
den  verschiedenen  Jahrhunderten  sind  ja  beachtenswerth;  aber 
es  fehlt  allen  diesen  Geisteshistorikern  eine  philosophische  Schulung, 
da  sie  mit  lauter  unbestimmten  Begriffen  arbeiten  und  deshalb 
die  gröbsten  Fehler  machen.  Es  giebt  auch  weder  eine  Volks- 
seele, noch  nur  einmal  eine  Familienseele  und  keine  Kirchen- 
seele. Trotz  aller  Bedingungen,  die  wie  Schule,  Kirche,  Zeitungen 
und  Geselligkeit  eine  gewisse  Gleichförmigkeit  des  Seelenlebens 
hervorbringen,  bleibt  immer  constant  die  individuelle  Differenz 
der  Anlage  und  die  individuelle  Verschiedenheit  der  Arbeit.  Man 
vergisst  eben, .  dass  die  Seelen  nicht  Producte  von  Producten  und 
Erscheinungen  von  Erscheinungen  sind,  sondern  die  wirklichen, 
selbständigen  Wesen  und  zeitlosen  Träger  aller  Erscheinungen. 
Darum  muss  an  die  Stelle  dieser  eitlen  und  phänomeno- 
logischen Geschichtsbetrachtung  die  ächte  Geschichte  treten,  wie 
sie  das  Ghristenthum  zuerst  erkannt  hat,  wonach  das  Ganze  in 
einen  providentiellen  Blick  zusammengefasst  und  als  ein  tech- 
nisches System  betrachtet  wird.  In  diesem  System  oder  Drama, 
wie  der  Alexandriner  Clemens  es  nennt,  hat  jede  Seele  als  Actor 
eine  bleibende  Bolle,  ist  von  Ewigkeit  ersehen  und  wird  bis  in 
Ewigkeit  mitspielen.  Die  Geschichtsbetrachtung  wird  aber  nicht 
munkeln  von  Dingen,  die  verborgen  sind,  sondern  nur  das  Offen- 
bare hervorheben  und  die  Gesetze  zu  finden  suchen;  das  Uebrige 
aber,  was  von  unserem  perspectivischen  Standpunkt  aus  noth- 
wendig  unübersehbar  und  verborgen  bleibt,  wird  sie  nicht  ver- 
rathen;  denn  nur  ein  Narr  sagt,  was  er  nicht  weiss.  Die  Be- 
deutung der  geschichtlichen  Betrachtung  ist  aber  erst  durch  das 
Christenthum  erkannt,  in  welchem  der  Gott  selbst  geschichtlich 
wird  und  durch  welches  zuerst,  als  durch  eine  neue  und  wahre 
Metaphysik,  die  Persönlichkeiten  als  die  wirklichen  Wesen  und 
als  die  Träger  des  geschichtlichen  Lebens  offenbar  geworden  sind. 


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Zweiter  Theil. 

Projectivische  Religionen. 


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I 


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Die  projectivischen  Religionen. 


Der  Mensch  gelangt  sehr  früh  zum  Bewnsstsein  seines 
Ichs,  so  frtth,  dass  wir  keine  Zeit  anzugeben  wüssten,  wann 
dies  Bewnsstsein  nicht  vorhanden  wäre.  Alles,  was  wir  über 
diese  metaphysische  Erkenntniss  in  Bezug  auf  die  Zeit  ihres 
Ursprungs  zu  sagen  wissen,  kann  sich  nur  um  die  Klarheit 
und  Wissenschaftlichkeit  dieser  Erkenntniss  drehen,  nicht  aber 
um  das  Bewusstsein  selbst.  Darum  giebt  es  auch,  wenn  wir 
vom  Einzelnen  absehen  und  in  die  Urgeschichte  der  Mensch- 
heit blicken  oder  die  jetzt  noch  uncivilisirten  Völker  berück- 
sichtigen, keine  Epoche  und  keinen  Zustand,  in  denen  der 
Mensch  ohne  Selbstbewusstsein,  ohne  Erkenntniss  seines  Ichs  an- 
getroffen würde. 

Coordinirt  mit  diesem  Bewusstsein  läuft  dann  auch  die  zweite 
metaphysische  Erkenntniss  des  Menschen,  dass  es  andre  Menschen 
und  andre  Wesen  ausser  ihm  giebt,  die  er  von  sich  unterscheidet 
und  mit  denen  er  irgendwie  in  einen  wirklichen  Verkehr  tritt. 

In  diesem  Verkehr  mit  den  Wesen  ausser  ihm  dreht 
sich  Alles  um  zwei  Angeln,  nämlich  um  das  persönliche  In- 
teresse und  um  das  Recht.  Zunächst  nämlich  ist  durch  die 
Thatsache  der  Ichheit  oder  Persönlichkeit  ein  individueller  Mittel- 
punkt gegeben,  auf  welchen  die  ganze  Welt  ausser  ihm  be- 
zogen wird;  denn  da  die  einzelne  Person  nicht  in  völliger 
Selbstgenügsamkeit  und  Bedür&isslosigkeit  ftlr  sich  dasteht, 
sondern  durch  Hunger,  Durst,  Liebe,  Neugier,  Herrschsucht  und 
Thätigkeitstrieb  überhaupt  als  ein  blosses  Glied  auf  den  Zusammen- 
hang mit  der  übrigen  Welt  angewiesen  ist,  so  entsteht  sofort 

Teichmüller,  ReligionsphUoBophie.  uiumzlu  uy  ^jOOQIC 


114  Frojectivisclie  Eeligionen. 

eine  perspectiyische  Auffassung  derselben,  indem  alle  Dinge 
und  Menschen  flir  uns  als  nützlich  oder  schädlich,  als  Gutes 
oder  Uebel  erscheinen. 

Wenn  die  gesellige  Entwickelung  der  Menschen  fortschreitet, 
so  bildet  sich  denn  auch  allmählich  das  Bewnsstsein  des  Rechtes 
aus.  Da  dieses  moralische  Bewnsstsein  den  höheren  Bang  ein- 
nimmt und  später  in  den  Mittelpunkt  der  Lebensauffassung  rückt, 
wollen  wir  hier  davon  nicht  weiter  reden. 

So  lange  nun  das  Bewnsstsein  keine  andren  Beziehungs- 
punkte verknüpft,  als  die  unseres  Ichs  und  der  übrigen  Menschen 
und  Naturwesen  nach  den  Gesichtspunkten  des  individuellen 
Interesses  und  des  Rechts,  so  lange  giebt  es  auch  keine  Spur 
von  Religion.  Sobald  aber  wegen  der  Vernunftanlage  des 
Menschen  als  neuer  Beziehungspunkt  noch  der  Gott  auftritt,  so 
entspringt  sofort  eine  religiöse  Stinmiung,  ein  religiöses  Handeln, 
kurz  die  Religion. 

Ein  Gott  aber  kann  nicht  als  einzelnes  Wesen  dem  Menschen 
als  einzelnem  Wesen  sinnenfällig  gegenübertreten,  sondern  muss 
zunächst  nur  als  eine  Vorstellung  oder  Auffassungsweise  in  dem 
Bewnsstsein  des  Menschen  vorkommen.  Wie  der  ungebildete 
Mansch  aber  seine  Bilder  von  Erde  und  Meer,  von  Hinmiel  und 
Wolken,  von  Menschen,  Thieren  und  Pflanzen  ohne  Umstände 
nach  Aussen  wirft  und  sich  von  allen  diesen  Dingen  wirklich 
umgeben  glaubt,  obgleich  alle  diese  Bilder  nur  in  seinem  Be- 
wnsstsein vorhanden  sind  und  sonst  nirgends,  so  projicirt  er 
auch  seine  Gottesvorstellung  nach  Aussen  und  erschafft  sich 
dadurch  einen  Gott  ausserhalb  der  übrigen  Welt  der  einzelnen 
Wesen.  Aus  diesem  Grunde  nenne  ich  diese  erste  Stufe  der 
Religion  und  Theologie  projectivisch,  weil  bei  derselben  noch 
keine  Kritik  der  Vernunft  und  Erkenntniss  vorhanden  ist, 
sondern  das  ganze  Seelenleben  nur  nach  den  unmittelbaren 
und  natürlichen  Beziehungsweisen  der  Vorstellungen,  Thätig- 
keiten  und  Gefühle  abläuft. 

Da  es  sich  auf  dieser  Vorstufe  nun  nothwendig  um  zwei 
Mittelpunkte  dreht,  um  das  Interesse  und  das  Recht,  so  werden 
wir  auch  zwei  verschiedene  Religionen  zu  studiren  haben.  Ich 
will  aber  gleich  nachdrücklich  hervorheben,  dass  wir  Höher- 
gebildete uns  nicht  etwa  in  den  Sinn  kommen  lassen  dürfen, 
diese  beiden  projectivischen  Religionen  wären  bloss  eine  Antiquität 

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Projectiviache  Religionen.  115 

und  gehörten  nur  der  Urzeit  oder  den  mehr  oder  weniger  rohen 
Anfängen  der  Cultur  an,  ohne  für  uns  ein  anderes  Interesse  als 
das  der  Curiosität  hervorzurufen;  nein  jeder  von  uns  ist  auch 
ein  solcher  Urmensch  und  hat  in  sich  auch  die  rohen  Anlange 
der  Cultur  behalten.  Wie  wir  das  Alterthum  nur  begreifen, 
sofern  wir  das  Aehnliche  in  uns  selber  erkennen,  so  soll  auch 
jeder  von  uns  sich  nur  sagen:  de  te  fabula  narrat;  denn  nach 
Abzug  der  alterthümlichen  Vorstellungen  von  Natur  und  Himmel 
bleibt  als  Best  und  Essenz  immer  dasjenige  übrig,  was  jeder 
in's  Leben  kommende  Mensch  immer  von  Neuem  in  seinem  Busen 
findet,  weil  es  das  Herz  des  Menschen  selber  ist. 


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1.    Die  Religion  der  Furcht. 

Erstes  Kapitel. 
Die  Ethik  der  Religion  der  Furcht. 


Wenn  wir  nun  die  erste  und  älteste  Religion  der 
■Chi  Methode.  Menschen  erforschen  wollen,  so  wird  es  uns  nicht  mehr 
einfallen,  womöglich  die  prähistorischen  Denkmäler 
zu  untersuchen-,  wir  werden  auch  nicht  mehr  zu  den  Hottentotten 
und  Malaien  gehen,  um  ihre  sonderbaren  Gebete  aufzuzeichnen 
und  ihre  seltsamen  Gottesdienste  zu  beschreiben:  dieser  Weg 
würde  wegen  der  endlosen  Details  scheinbar  zu  reicher  Weide 
ftihren,  uns  aber  in  Wahrheit  blosse  Thatsachen  liefern,  die  erst 
nach  einer  andern  schon  vorausgesetzten  Erkenntniss  gedeutet 
werden  müssten,  und  wir  würden  daher  keine  Sicherheit  über 
das  Wesen  der  gesuchten  Religion  gewinnen;  wir  müssen  einen 
sicherem  und  fruchtbarem  Weg  nehmen.  Da  die  Religion  näm- 
lich immer  in  gewissen  Handlungen  erscheint,  die  veranlasst 
werden  durch  gewisse  Gefühle  oder  Willensbestimmungen  bei 
gewissen  Vorstellungen  über  göttliche  Dinge,  so  zeigt  sich, 
dass  die  Gottesvorstellung  immer  in  Goordiuation  zu  dem  Ge- 
fühle steht.  Das  Gefühl  ist  die  Coordinate  der  Theologie  und 
mithin  ist  es  specifisch,  d.  h.  artbildend,  ebenso  wie  die  reli- 
giösen Handlungen  eigenthümlich,  d.  h.  charakteristisch  sein 
müssen.  Wegen  dieser  Coordination  nenne  ich  das  zugeordnete 
Gefühl  das  Motiv  der  Religion,  weil  die  Gottesvorstellungen 
ohne  dieses  Gefühl  blosse  theoretische  Betrachtungen,  aber  keine 
religiöse  Gedanken  sein  würden,  und  weil  nur  wegen  dieses  Ge- 
Alhls  der  Mensch  auf  die  Vorstellungen  in  Handlungen  reagirt 
Mithin  verlangt  die  Methode,  die  Motive  der  Religion  psycholo- 
gisch darzulegen,  damit  man  sowohl  die  Arten,   als  die  Zahl 

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Ethik.  117 

derselben  a  priori  erkennen  könne.  Erst  wenn  wir  anf  diese 
Weise  die  Arten  der  Religion  bestimmt  haben,  werden  wir  ohne 
Bedenken  die  erfahrungsmässig  bekannten  Religionen  zur  Ver- 
deatlichnng  der  Begriflfe  als  Beispiele  anführen  dürfen. 

Um  nun  diese  religiösen  Motive  zu  finden,  brauchen  ^  ^  Bedacwo» 
wir  uns  nicht  in  das  induetive  Studium  aller  mög-  «•■  Einthei- 
lichen  Affeete  psychologisch  zu  vertiefen,  um  dabei  ^■■»■p'*"*'*!»"- 
den  Zweck  unserer  Untersuchung  schliesslich  aus  den  Augen  zu 
verlieren.  Nein,  wir  deduciren  das  Gefühl.  Alle  Gefühle  näm- 
lich, die  der  Mensch  haben  kann,  müssen  nothwendig  von  zweierlei 
Art  sein.  Entweder  betrachtet  er  die  Welt  perspectivisch 
nach  sich  als  ihrem  Mittelpunkt,  oder  er  betrachtet  sie  objectiv 
und  ordnet  sich  selbst  in  das  Ganze  ein  nach  einer  von  ihm 
selbst  unabhängigen  Ordnung.  Die  erste  Stellung  heisst  im  All- 
gemeinen Selbstsucht,  die  zweite  aber  Sittlichkeit.  Mithin 
müssen  alle  Gefühle,  welche  der  einen  oder  der  andern  Stellung 
entsprechen,  ihrem  Wesen  nach  jedesmal  von  einem  und  dem- 
selben Gattungscharakter  sein,  und  wir  sind  der  Arbeit  über- 
hoben, erst  die  ganze  Psychologie  der  Affeete  abzuhandeln;  da 
es  sich  für  unsere  Frage  eben  nur  um  den  Gattungscharakter 
dieses  Gefühls  dreht,  und  nicht  um  seine  Modificationen  und 
Nuancen.  Dass  die  selbstsüchtige  Stellung  des  Menschen 
aber  die  erste  und  älteste  ist  und  war,  versteht  sich  von  selbst, 
da  schon  eine  höhere,  viele  perspectivische  Lebenskreise  umfas- 
sende Intelligenz  dazu  gehört,  um  der  sittlichen  Gesichtspunkte 
und  Gefühle  fähig  zu  werden. 

Die  Selbstsucht  ist  also  das  allgemeine  Wesen  ^  „  Dednction 
der  Geffthle,  die  auf  dem  perspectivischen  Standpunkt  d«  %num  r». 
der  Weltbetrachtung  möglich  sind.  Demgemäss  igt"»*^*""*»"" 
unsere  Aufgabe  jetzt,  unter  allen  dahin  gehörigen  Gefühlen  das- 
jenige zu  deduciren,  welches  als  Motiv  der  ersten  Religion  an- 
zusehen ist 

Nun  bezeugt  sich    das    Gefühl   oder   der  Wille   AUopewön- 
ursprünglich  und    nothwendig  immer   im  Annehmen  ucuen  Gefühle 
oder  Verwerfen,  Beifall  oder  Missfallen  in  Bezug  auf  ^^^J^^"^^^^^^ 
alle   Objecte,  die   auf  der  Fläche  des  Bewusstseins  die  Zukunft. 
auftauchen.    Da  der  Mensch  aber  die  Welt  als   ein 
zeitlich  geordnetes    Ganzes  auffassen  muss,   so   folgt,   dass   die 
Goordination  seiner  eigenen  Functionen  immer   derart  ist,   dass 

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118  Religion  der  Furcht. 

die  dem  persönlichen  Gefühl  coordinirte  handelnde  Function 
auf  das  Zukünftige  geht  and  nicht  auf  das  Gegenwärtige  oder 
Vergangene.  Niemand  kann  den  Willen  haben,  etwas  in  der 
Vergangenheit  herzustellen  oder  umzuändern.  Ebensowenig  ist 
die  Gegenwart  Object  des  persönlichen  Willens  oder  Gefühls, 
da  das  Gegenwärtige,  sobald  es  wahrgenommen  ist,  schon  der 
vergangenen  Ordnung  angehört.  Mithin  hat  der  auf  die  Persön- 
lichkeit bezogene  Wille  nur  mit  der  Zukunft  zu  thun.  Gleich- 
wohl glauben  die  Psychologen,  dass  es  Gefühle  geben  könne, 
die  bloss  der  Vergangenheit  gelten,  z.  B.  die  Wehmuth,  die  man 
als  süssschmerzliche  Erinnerung  an  vergangenes  Glück  auffasst. 
Hierbei  wird  vergessen,  dass  erstens  die  Vorstellung  von  Glück 
nur  angenehm  sein  kann  und  nichts  Wehmüthiges  an  sich  hat, 
und  dass  nur  durch  einen  zweiten  Beziehungspunkt ,  nämlich 
durch  den  Blick  in  die  Zukunft,  wo  wir  das  Wiederauftreten 
der  schönen  Dinge  leider  versagt  finden,  die  Hemmung  unserer 
Thätigkeit  ein  schmerzliches  Geftlhl  mit  sich  flihrt.  Also  geht  das 
Gefühl  der  Wehmuth  nicht  bloss  auf  die  Vergangenheit.  Ebenso- 
wenig bezieht  sich  z.  B.  die  Dankbarkeit  etwa  bloss  auf  die 
Vergangenheit,  sondern  sie  ist  ein  allgemeiner  Wille,  dem  Wohl- 
thäter  künftig  Gutes  zu  erweisen.  Auch  die  Reue  kehrt  der 
schmerzlichen  Erinnerung  nur  den  Bücken  zu,  wendet  aber  ihr 
Antlitz  immer  in  die  Zukunft,  um  sich  ein  andermal  vor  der- 
gleichen zu  hüten.  Ohne  diese  zweite  Beziehung  ist  das  Gefühl 
im  Organismus  des  Seelenlebens  unmöglich.  Kurz  alle  Gefühle, 
welche  an  die  Persönlichkeit  anknüpfen,  müssen  ihrer  Natur 
nach  wegen  der  Goordination  mit  dem  handelnden  Vermögen 
nothwendig  auf  die  Zukunft  bezogen  sein;  denn  auch  die  soge- 
nannte gegenwärtige  Lust  und  Unlust  muss  sofort  die  Bewe- 
gungstendenz auslösen,  die  Fortdauer  der  lustverursachenden 
Objecte  zu  erhalten  oder  das  Schmerzliche  abzuwenden,  wie  ja 
Jeder  weiss,  dass  Thier  und  Mensch  sich  sofort  dem  Lustbrin- 
genden entgegenstrecken,  wie  z.  B.  die  Katze  ihren  gesträubten 
Rücken  an  die  krauende  Hand  des  Menschen  andrängt 

Mithin  wird  sich  in  allen  Arten  der  Selbstsucht 
^"^r^t!*"^  nothwendig  ein  Element  von  Hoffnung  und  Furcht 
finden,  d.  h.  eine  Beziehung  auf  die  Zukunft   durch 
die  Goordination  mit  unserer  handelnden  Function. 


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Ethik.  119 

Hofinung  und  Furcht  sind  aber  nur  zwei  Ausdrücke  für 
einen  und  denselben  Willen;  denn  man  fürchtet  nur  die  Ver- 
wirklichung dessen,  was  man  nicht  liebt,  und  hofft  nur  auf  das, 
was  man  liebt.  Der  Unterschied  beider  Gefühle  liegt  also  darin, 
dass  der  Gegenstand  der  Liebe  unter  verschiedenen  Umständen 
vorgestellt  wird,  wobei  aber  zugleich,  was  die  Psychologen  nicht 
beachtet  haben,  nothwendig  eine  Mischung  des  Vertrauen- 
erweckenden und  Misstrauenswerthen  in  beiden  Gefühlen  vor- 
handen sein  muss.  Denn  die  Zukunft  ist  allemal  ungewiss  und 
bietet  ftlr  jeden  nicht  völlig  Gedankenlosen  immer  verschiedene 
Chancen.  Die  eine  Chance  begünstigt,  die  andere  hindert  die 
Verwirklichung  des  Gegenstandes  unserer  Liebe;  wir  hoffen  aber, 
wenn  das  Günstige  im  üebergewichte  ist,  wir  fürchten,  wenn 
wir  die  feindlichen  Ursachen  vorherrschend  finden.  Hofinung 
und  Furcht  durchlaufen  deshalb  alle  Grade  der  Mischung  von 
dem  Zustande  des  Gleichgewichts  bis  zur  vollen  Verzweifelung 
und  zur  vollen  Zuversicht. 

Die  Frage  ist  nun,  welches  von  beiden  Gefühlen   ^*®  ^"'>* 
den  Ursprung  der  Religion  bildet,  ob  die  Hoffnung,  reugiöse  oe- 
oder  die  Furcht?    Je  vollkommener  die  Religion  ist,       ^" 
desto  mehr  sehen  wir  die  Furcht  schwinden,  da  die  Liebe  und 
das  Vertrauen  zu  dem  als  gut  erkannten  Gotte  die  Furcht  aus- 
treibt   Es   wäre  deshalb    schon   der  mathematischen   Analogie 
nach  zu  erwarten,  dass  auf  der  tiefsten  Stufe  der  Religion  sich 
auch  die  meiste  Furcht  vorfände.     Allein  solche  Betrachtungen, 
bei  denen  wir  schon  ohne  Beweis  klug  zu  sein  glauben,   sind 
für   Andersgesinnte   nicht    zwingend;    wir    müssen  daher  ohne 
blinde  Voraussetzungen  über  Werth  und   Stufe   der  Religionen 
die  Frage  durch  apriorische  Deduction  beantworten. 

Zu  diesem  Zwecke  muss  untersucht  werden,  welches  Motiv 
zuerst  den  Gedanken  an  einen  Gott  hervorgerufen  hat?  Nun  ist 
die  Lust  und  die  Erwartung  von  lauter  angenehmen  Dingen 
nicht  geeignet,  überhaupt  eine  Thätigkeit  hervorzurufen,  es  sei 
denn  die,  den  Mund  aufzumachen,  um  die  gebratene  Taube  zu 
empfangen.  Was  Mensch  und  Thier  zuerst  in  Bewegung  setzt, 
ist  umgekehrt  der  Schmerz  und  die  Aussicht  auf  verderbenbrin- 
gende Ereignisse,  weshalb  die  Lotophagen  von  Odysseus  nur 
durch  Prügel  und  Zwang  weggeführt  werden  konnten.  Denn 
wollte  man  einwenden,  dass  Hoffnung  auf  Vortheile  und  Genüsse 

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120  Beligion  der  Furcht. 

doch  auch  Thätigkeit  hervorrufe,  so  ist  zu  bemerken,  dass  der 
Hoffende  das,  was  er  hofft,  noch  nicht  besitzt,  also  im  Zustande 
des  Entbehrens  ist  und  zugleich  fürchten  muss,  ohne  seine 
Anstrengung  das  Erwünschte  nicht  zu  erreichen.  Mithin  ist  die 
verneinende  Seite  der  Grund  der  Bewegung  und  Thätigkeit. 

So  lange  wir  nun  in  dem  ganzen  Vorstellungskreise  von 
Lust  und  Schmerz,  Gütern  und  liebeln  nur  die  jedesmal  coordi- 
nirten  Beziehungspunkte  als  Ursachen  anerkennen,  die  uns  flir 
Sinn  und  Anschauung  gegeben  werden  und  bekannt  sind,  so 
lange  wird  von  Beligion  keine  Bede  sein;  denn  wir  fUhren  ja 
bei  jeder  Lust  und  jedem  Schmerz  dieses  oder  jenes  bekannte 
Ding,  diese  Frucht  und  Speise,  dieses  Thier,  diesen  Pfeil,  diesen 
Menschen  als  Ursache  von  Leid  und  Lust  an.  Mithin  ist  die 
ganze  Gegenwart,  welche  immer  den  Zusammenhang  mit  ein- 
zelnen Dingen  der  Sinnenwelt  zur  Vorstellung  bringt,  als  Ursache 
der  Beligion  zu  eliminiren.  Ebenso  die  Vergangenheit,  weil 
sie  nur  den  in  Erinnerung  gebliebenen  Bodensatz  der  Gegenwart 
enthält.  Also  bleibt  allein  die  Zukunft  übrig  und  ihr  coordinirt 
das  Gefühl  der  Furcht. 

Die  Furcht  hat  die  Ehre,  der  religiösen  Entwickelung  der 
Menschheit  das  Thor  zu  öffnen;  denn  da  sie  den  Menschen  an 
allem,  was  ihm  lieb  und  werth  ist,  packt  und  ihn  dadurch  in 
alle  seine  vorsorgende  Thätigkeit  hinüberleitet,  so  erregt  sie 
zugleich  für  seine  Phantasie  und  seine  Beflection  die  Vorstellung 
eines  unbestimmten  Etwas,  das  als  mögliche  zukünftige  Ursache 
von  Schaden  und  Leid  aufgefasst  wird,  dem  auch  die  irüher 
erlittenen  Schädigungen  und  Schmerzen  zuzuschreiben  wären. 
Die  Furcht  erzeugt  die  erste  rohe  Theologie;  denn  wir  müssen 
hier  mit  einem  Punkte  beginnen,  der  die  Gränzscheide  von  Thier 
und  Menschheit  ist.  Wenn  ein  Hund  sich  vor  einem  Wolf,  einem 
Menschen  oder  sonst  einem  Gegenstande  fürchtet,  so  liegt  darin 
nichts  der  Beligion  Aehnliches;  wenn  aber  etwa  ein  Pferd  in 
der  Abenddämmerung  bald  nach  rechts,  bald  nach  links  angst- 
voll blickt  und  vor  Schauder  über  unbestimmte,  nicht  wirkliche, 
sondern  nur  in  seiner  Einbildungskraft  erzeugte  Gefahren  zittert 
und  bebt,  so  ist  eine  gewisse  äusserliche  Aehnlichkeit  mit  der 
Beligion  des  Wilden  nicht  abzuweisen,  der  bei  dem  Anblick 
eines  links  fliegenden  Vogels  erschrickt,  oder  vor  einem  für  un- 
heilvoll gehaltenen,  ganz  unschädlichen  Buf  erzittert,   oder  tau- 

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Ethik.  121 

senderlei  andre  Dinge  des  Aberglaubens  fUr  todtbringend  hält 
und  demgemäss  in  Gemüthsbewegung  geräth.  Der  specifische 
Unterschied  liegt  jedoch  darin,  dass  das  Thier  bei  den  Gemttths- 
bewegangen  und  den  daraus  folgenden  blinden  Beflexthätigkeiten 
stehen  bleibt,  der  Mensch  aber  wegen  seines  dem  Thiere  fehlenden 
Ichbewasstseins  im  Stande  ist,  das  unbestimmte  Etwas  weiter 
auszudenken,  eine  Theologie  daraus  zu  machen,  und  gemäss 
diesen  Vorstellungen  eine  Reihe  von  Handlungen  zu  yollziehen, 
die  keine  weitere  praktische  Bedeutung  haben,  sondern  als 
religiöse  Handlungen  sich  bloss  auf  die  Vorstellung  seines  Ichs 
im  Verhältniss  zu  jenem  zuerst  unbestimmten  und  später  immer 
bestimmter  ausgedachten  Gotte  beziehen. 

Da  die  Ursprünge  aller  Begriffe  von  der  grössten 
Wichtigkeit  sind,  um  die  Bahnen  des  Denkens  in  der  zugehörigen 
den  späteren  complicirteren  Formen  wiederzuerkennen,  coordiii»tionen. 
so  möge  es  gestattet  sein,  noch  einmal  genau  das  gewonnene 
Ergebniss  zu  formuliren.  Die  Furcht  der  Thiere  ist  also  niemals 
religiös,  weil  sie  immer  entweder  bloss  einen  sinnenfälligen 
Gegenstand  (z.  B.  die  Peitsche  oder  den  Wolf)  fürchten,  sofern 
sie  bei  diesem  in  ihrer  Erinnerung  gebliebenen  Bilde  einst 
Schmerz  empfanden,  oder,  wenn  kein  vollständiges  Erinnerungs- 
bild reproducirt  wird,  sondern  blosse  Theile  oder  Accidenzen 
eines  solchen  ihre  Einbildungskraft  erregen,  doch  immer  mit 
einem  gegenwärtigen  bestimmten  oder  unbestimmten  Etwas  der 
Sinnenwelt  zu  thun  haben  und  weder  dieses  Etwas  theologisch 
ausbilden  können,  noch  irgendwelche  Handlungen,  religiöse  Cere- 
monien  und  dergl.  in  Bezug  auf  dieses  Etwas  vollbringen.  Die 
Furcht  des  Menschen  aber  wird  religiös,  wenn  sie  von  den  be- 
stimmten sinnlichen  Veranlassungen  auf  eine  allgemeine  un- 
bestimmte Ursache  tibergeht  und  diese  durch  das  Selbst- 
bewusstsein  und  Vernunftvermögen  vermittelt  werden  kann. 
Der  Vernunft  gehört  eben  die  Fähigkeit  zu,  die  Seelenzustände, 
welche  verflossen  sind,  in  der  Erinnerung  zurückzurufen  und  vor 
dem  betrachtenden  Blicke  festzuhalten.  Dadurch  können  die 
Thätigkeiten  und  Affecte  der  Seele  selbst  zu  Beziehungspunkten 
einer  neuen  Thätigkeit,  des  sogenannten  Denkens  werden. 
Durch  das  Denken  entspringt  dann  sowohl  die  Verallgemeinerung, 
als  die  Verknüpfung  der  Beziehungspunkte  nach  dem  Gesichts- 
punkte  einer  Ordnung,  d.  h.  nach  der  sogenannten  Causalität 

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122  Religion  der  Fuixsht 

Somit  kann  eine  vermeinte  Ursache  von  Schaden  und  Leid  als 
anbestimmtes  Object  der  Furcht  allgemein  festgehalten  and  näher 
bestimmt  werden  und  zweitens  lassen  sich  nun  im  Hinblick  auf 
einen  wirklich  in  der  Seele  vorhandenen  theologischen  Gedanken 
und  in  Beziehung  auf  unser  Ich  auch  irgendwelche  specifische, 
d.  h.  religiöse  Handlungen  ausüben,  die,  wie  z.  B.  Gebet,  Opfer 
und  dergl.,  mit  dem  ursprünglich  erlittenen  Leid  und  Schaden 
und  seiner  sinnen&lligen  Ursache  nichts  zu  thun  haben,  sondern 
in  dieser  Rücksicht  schlechterdings  unnütz  sind  und  sich  bloss 
auf  das  in  dem  religiösen  Gedanken  befindliche  Object  beziehen. 


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Zweites  Capitel. 
Die  zugehörige  Dogmatlk. 


Wie  bei  allen  zusammengehörigen  Dingen  die  |i.  Binthei- 
Beziehungspunkte  nicht  ohne  einander  denkbar  sind,  uagendMOn. 
so  konnten  wir  auch  bei  dem  Motiv  der  Religion  {Ji^  Mwlltebl! 
nicht  von  dem  Gegenstande  oder  der  Ursache  der  ▼«rmogea. 
Furcht  absehen.  Was  wir  aber  fürchten,  das  sind  zunächst 
immer  sinnenfällige  Dinge,  welche  uns  entweder  selbst  früher 
Schmerz  oder  Schaden  brachten,  oder  welche  solchen  Leid- 
ursachen ähnlich  sind,  z.  B.  einen  bissigen  Hund,  von  dem  man 
schon  eine  Narbe  hat,  oder  einen  andern  ihm  ähnlichen.  Nun 
fragt  sich,  wie  wir  von  solchen  Furchtursachen  zum  Gott  kommen, 
und  diese  Frage  ist  ebenso  grundlegend  als  anziehend. 

Wir  nennen  die  Thiere  nicht  religiös,  obwohl  sie  sich 
fürchten.  Kleine  Kinder  sind  auch  nicht  religiös.  Es  wäre  aber 
falsch,  wenn  man  die  Säuglinge  irreligiös  neimen  wollte,  wie 
Heinrich  Heine  witzig  zu  sein  glaubte,  weim  er  sagte:  „unschul- 
diger Atheist  in  derWiege^^!  Denn  man  könnte  den  Hund  und 
den  Ochsen  ebensogut  unschuldige  Atheisten  nennen,  was  aber 
ebenso  falsch  wäre,  da  sie  weder  eine  religiöse  Ueberzeugung 
haben,  noch  gegen  eine  solche  in  unreligiöser  Weise  sich  auf- 
lehnen; der  Säugling  und  das  kleine  Kind  ist  vielmehr  in  einem 
Zustande  vor  der  Entwickelung  des  religiösen  und  theologischen 
Bewusstseins,  kann  aber,  was  die  Thiere  nicht  können,  zu  einem 
solchen  Bewusstsein  fortschreiten. 

Die  Furcht  ist  nun  allemal  ein  Zeugniss  dafür, 
dass  wir  die  Macht  des  geftlrchteten  Gegenstandes  l^^l^^^ 
anerkennen.      Bei    genauer   Durchmusterung    dieser    punkte  d« 
psychischen  Vorgänge  können  wir  aber  zwei  Arten       *^'**' 
derselben  unterscheiden.    Bei  einigen  furchtbaren  Dingen  nämlich 
erkennen  wir  den  ganzen  Hergang,  wie  sie  Schaden  und  Schmerz 

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124  Religion  der  Furcht. 

hervorbringen,  weshalb  wir  die  Grösse  ihrer  Macht  hinreichend 
ermessen  können  und  den  Entschluss  fassen,  ihrer  Machtäusserung 
Widerstand  zu  leisten,  sie  zu  bekämpfen  und  auszutilgen;  bei 
andern  aber  nehmen  wir  eine  solche  Grösse  der  Machtentfaltung 
wahr,  dass  an  einen  Widerstand  gar  nicht  zu  denken  ist,  wie 
z,  B.  bei  dem  Blitz,  dem  sturmbewegten  Meere  und  dergl^  wes- 
halb wir  ganz  rathlos  sind  und  uns  waffenlos  ihren  Wirkungen 
ergeben.  Obgleich  das  Eintheilungsprinzip  hier  nur  das  Mehr 
und  Weniger  der  Macht  ist^  so  liegt  doch  ein  festes  Princip  der 
Messung  vor,  da  der  Mensch  mit  seiner  Macht  zum  Massstab 
dient  und  nach  diesem  Massstab  alles  Andre  entweder  sich  unter- 
ordnet, oder  es  sich  gleichstellt,  oder  es  als  eine  tibergeordnete 
höhere  Macht  anerkennt.  Das  erstere  wird  ohne  Furcht  gering- 
geschätzt oder  verachtet,  das  zweite  kann  wohl  Furcht  erregen, 
aber  man  kämpft  dagegen,  das  dritte  aber  entwaffnet  uns  von 
vornherein  und  wir  empfinden  nicht  bloss  Furcht,  sondern 
erkennen  es  zugleich  als  übermenschlich  an. 

zweiteoB  nach  Zu  dicscr  crstcu  Einthcilung  kommt  eine  zweite 

puiSto  d!lr*Er.  ^^^^    einem    anderen  Eintheilungsgrunde,    die   aber 

konnbarkeit.  dcunoch  mit  der  ersten  zusammengehört.  Die  Welt 
ausser  uns  wird  nämlich  von  dem  Menschen  ursprünglich  nach 
der  Analogie  mit  dem  einzigen  metaphysischen  Wesen,  welches 
wir  unmittelbar  kennen*),  d.  h.  mit  uns  selbst,  als  aus  geistigen 
und  persönlichen  Wesen  bestehend  aufgefasst^  die  in  den  Natur- 
erscheinungen sich  äussern.  Nun  mögen  immerhin  im  Laufe  der 
Zeit  schon  manche  sogenannte  Dinge  als  leblos  und  seelenlos 
betrachtet  werden;  gleichwohl  blieb  für  die  ursprüngliche  Mensch- 
heit immer  der  grössere  Theil  der  Natur  als  Verkörperung 
seelischer  Naturen  übrig.  Unter  dieser  Voraussetzung  können 
wir  nun  eine  zweite  Eintheilung  der  Gegenstände  der  Furcht 
machen.  Zwischen  Ursache  und  Wirkung  liegt  nämlich  immer 
eine  grössere  oder  kleinere  Kette  von  Zwischengliedern.  Man 
fallt  z.  B.  auf  einen  Stein  und  verwundet  sich  am  Knie;  der 
Fall  ist  die  Ursache,  und  die  Wirkung  liegt  nahe  dabei.  Der 
Wilde  aber  stellt  den  Thieren  mit  Netzen  nach,  oder  trifft  sie 
mit  dem  weithin  fliegenden  Pfeile.  Hier  ist  zwar  Netz  und  Pfeil 
die  nächste  Ursache,  aber  nicht  die  letzte  eigentliche,   die  man 


*)  Vergl.  meine  „Wirkl.  und  scheinbare  Welt'*  S.  129  ff. 

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Dogmatik.  •    125 

selber  wohl  erkennt;  es  liegen  also  eine  Menge  verborgener 
Kettenglieder  zwischen  der  endlichen  Wirkung  und  dem  ursäch- 
lichen Plane  des  Jägers.  Auch  lernt  der  Mensch  bald  die 
lauernde  Hinterlist  des  Nächsten  kennen,  der  nicht  unmittelbar 
angreift,  sondern  von  weiter  Hand  durch  Gifte,  abgeschickte 
Mörder  und  dergleichen  seinen  Willen  ausftlhrt.  Mithin  muss  die 
Furcht  in  zwei  Arten  auseinander  gehen.  Die  erste  Art  bezieht 
sich  auf  Dinge  oder  Personen,  bei  denen  wir  die  Ursachen  un- 
mittelbar in  Wirkung  zu  sehen  glauben  und  nichts  weiter  dahinter 
vermuthen;  bei  der  zweiten  Art  der  Furcht  aber  wird  das  gegen- 
wärtige Object  für  einen  blossen  Boten  gehalten,  der  von  einer 
unsichtbaren,  gefahrlichen  Macht  geschickt  ist.  Weim  z.  B. 
plötzlich  ein  Gewitter  losbricht,  oder  die  Sonne  sich  verfinstert, 
oder  ein  Heuschreckenschwarm  sich  auf  die  Saaten  wirft  u.  dergl., 
so  weiss  man  die  nächste  Ursache  dieser  schlimmen  Ereignisse 
nicht  zu  erkennen,  setzt  aber  voraus,  dass  Jematid  diese  Uebel 
geschickt  hat,  indem  man  einen  geheimen  Urheber  der  sonst 
ganz  unerklärlichen  Ereignisse  annimmt,  ebenso  wie  man  innere 
Krankheiten,  plötzliche  TodesßUle  u.  dergl.  als  Schickungen  be- 
trachtet und  auf  eine  entfernte  und  verborgene  Macht  zu- 
rttckftLhrt. 

Beide  Eintheilungen  treffen  nun  das  ganze  Ge- 
d«  enteB  biet  aller  Dinge,  die  wir  ftirchten,  und  mithin  können 
Gotteibegriiik.  gj^  combiuirt  werdcu.  Demgemäss  erhalten  wir 
erstens  solche  Schaden-  und  Schmerz-verursachende  Dinge,  die 
wir  uns  an  Macht  mehr  oder  weniger  gleich  stellen  und  deshalb 
allein,  oder  mit  Htilfe  Mehrerer  bekämpfen  können  und  wollen. 
Bei  diesen  Dingen  liegen  Ursache  und  Wirkung  nahe  bei  einander. 
Zweitens  aber  ftirchtet  der  Mensch  Dinge,  die  weit  über  seine 
Kräfte  hinausgehende  Wirkungen  hervorbringen  und  also  als 
übermenschliche  Mächte  betrachtet  werden.  Die  Wirkungen 
werden  dabei  zugleich  als  geschickt  von  einer  verborgenen, 
in  unbekannter  und  unerreichbarer  Region  wohnhaften  Ursache 
aufgefasst  Die  Ursache  aber  muss  drittens  nach  der  psycho- 
logischen Metaphysik  projicirt  und  personificirt  werden. 
Es  ist  ersichtlich,  dass  hierdurch  die  psychologische  Geburt  des 
Gottes  vollbracht  ist;  denn  die  erste  Theologie  der  Menschen 
kennt  nur  einen  übermenschlichen,  verborgenen  und  gefilhrlichen 
Geist  als  Gott. 

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126  *  Religion  der  Furcht. 

Da  wir   auf  den  höheren   Stufen   der  Religion 

Gott  ein  böser      ^         -,■,     ^         r^  >ii-»t  -itwi 

Geist  ohne  aue  Überall  dcu  Gott  auch  als  Vertreter  des  Rechts  und 
Moraiitit.  ^QY  Moralität  antreffen,  so  ist  die  Frage  natürlich, 
ob  nicht  die  ursprüngliche  Gottheit  der  Menschen  schon  irgend- 
welche moralische  Eigenschaft  besessen  habe.  Allein  auch  der 
schnellste  Blick  auf  die  Geburtsstätte  dieses  Gottes  genügt,  um 
uns  schon  hinreichend  zu  überzeugen,  dass  es  nur  Schmerz  und 
Schaden  gewesen  sind,  welche  uns  einen  verborgenen,  macht- 
vollen Beziehungsgrund  dafür  in  das  Unbekannte  projiciren  Hessen. 
Genauer  betrachtet  zeigt  sich  der  Gott  dementsprechend  als 
böse,  aber  nicht  als  moralisch  böse,  weil  von  Moralität  ursprüng- 
lich überhaupt  nicht  die  Rede  sein  kann,  sondern  bloss  als  Ur- 
heber von  Uebeln.  Wenn  es  dem  Menschen  gut  geht,  so 
nunmt  er  alles  gedankenlos  hin,  wie  er  es  findet;  wenn  er  sich 
aber  in  Gefahr  und  Unglück  verwickelt  sieht,  so  spürt  er  nach 
den  Ursachen,  um  sich  zu  wehren,  oder  muss  dafllr,  wenn  er 
keinen  sinnenfälligen  Urheber  entdecken  kann,  eine  geheimniss- 
volle ihm  ungünstige  Macht  annehmen,  welche  ihm  das  Unheil 
schickt  und  ihn  mit  unsichtbaren  Mittelgliedern  umgarnt  Die 
Religion  der  Furcht  hat  nothwendig  einen  bösen  Gott.*) 

Man  ist  immer  für  die  Frage   sehr  interessirt 

fS^BieZahi  gewcscu,  ob  die  ursprüngliche  Religion  sich  als 
polytheistisch  oder  monotheistisch  erweisen  würde. 
Nach  unserer  Ableitung  dieser  Theologie  ist  die  Frage  nicht  sehr 
wichtig;  denn  es  liegt  auf  der  Hand,  dass  die  Göttererzeugung 
des  Menschen  sich  zunächst  nach  den  Verschiedenheiten  der 
Wirkungen,  also  der  Gefahren  und  Uebel  richten  werde,  welche 
der  Mensch  zu  fürchten  hat.  Es  ist  darum  natürlich,  dass  er 
für  die  furchtbare  Hitze  und  Dürre  als  X  in  seiner  Gleichung 
einen  anderen  Gott  ansetzen  wird,  als  für  den  Hagel  und  Schnee 
und  Frost  Wie  er,  wenn  er  im  Walde  Stimmen  hört,  für  diese 
akustischen  Erscheinungen  sofort  durch  Reproduction   die  ent- 


*)  Auch  wo  der  gute  Gott  später  daneben  tritt,  spielt  doch  in  der  Religion 
der  böse  nothwendig  die  Hauptrolle.  So  schreibt  jüngst  Freiherr  von  Bülow 
aus  Ost- Afrika  über  seine  Wahrnehmungen  an  seine  Schwester  (vergl.  Berl. 
Tagebl.  1885):  „Es  giebt  hier  (in  Mrokoro)  einen  guten  und  einen  bösen 
Geist.  Der  gute  ist  und  bleibt  gut;  um  den  braucht  man  sich  gar  nicht  zu 
bekümmern.  Der  böse  Geist  dagegen  muss  durch  Zauberer  und  Medicinen 
beschworen  werden." 

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Dogmatik.  127 

sprechenden  optischen  Bilder  als  yermeinte  Ursachen  heranzieht, 
and  die  eine  Stimme  auf  einen  Löwen,  die  andere  auf  einen 
Schakal  oder  einen  Geier  zurtickftlhrt,  so  wird  er  fär  die  ver- 
schiedenen gefährlichen  und  unerklärlichen  Naturerscheinungen 
auch  verschiedene  Götter  in  das  Unbekannte  hinein  projiciren 
und  darum  Polytheist  sein.  Von  einer  bestimmten  Zahl  der 
Götter  und  einer  bestimmten  Ordnung  derselben  kann  aber  selbst- 
vertändlich  keine  Bede  sein,  da  nichts  im  Wege  steht,  immerfort 
neue  Götter  zu  schaffen  und  die  Götter  anderer  Völker  und  ein- 
zelner Menschen,  die  man  kennen  lernt,  auch  anzunehmen  und 
zu  fürchten. 

Da  nun  die  ganze  Theogonie  von  der  Erfahrung  von  Leid 
und  Schaden  anhebt  und  von  der  Furcht  inspirirt  wird,  so  muss, 
wenn  die  Naturerscheinungen  sich  verändern  und  entweder  mit 
ihrem  Schrecken  nachlassen  oder  umgekehrt  Lust  und  Segen 
aus  ihrem  Füllhorn  giessen,  auch  in  dem  projectivischen  Gott 
eine  Wandlung  vorgehen,  d.  h.  er  muss  entweder  nicht  mehr 
böse  oder  umgekehrt  freundlich  geworden  sein.  Da  der  Mensch 
von  jeher  social  lebte,  so  hat  er  in  sich  oder  in  anderen,  be- 
sonders in  den  herrischen  und  gefährlichen  Menschen  seiner  Um- 
gebung immer  die  genügenden  Vorbilder  vor  Augen  gehabt,  um 
seinen  Gott  darnach  auszumalen.  Statt  aber  dem  Gotte  ver- 
schiedene Stimmungen  zu  geben,  könnte  er  ihm  auch  einen  an- 
dern Gott  im  Kampfe  entgegensetzen;  denn  Kampf  und  Krieg 
war  doch  das  allergewöhnlichste  Erlebniss  der  Urzeit.  Wie 
z.  B.  ein  mächtiger  Mensch  allein  oder  mit  seinen  Stammgenossen 
einen  gefährlichen  Ueberfall  macht  und  Wunden,  Tod  und  Zer- 
störung des  Eigenthums  hervorbringt,  dann  jedoch,  wenn  Hülfe 
kommt,  etwa  von  einem  noch  stärkeren  und  zahlreicheren  Geg- 
ner vertrieben  und  überwunden  wird,  so  konnten  in  der  Phantasie 
der  religiösen  Urahnen  sehr  wohl  auch  die  Götter  dualistisch 
auseinander  treten  und  verschiedene  Heerlager  bilden.  Und  diese 
Theologie  ist  psychologisch  die  nächstliegende;  denn  jeder  Wechsel 
der  Erscheinung  bedingt  schon  einen  Dualismus,  und  alles  Natür- 
liche lässt  sich  immer  irgendwie  in  einen  Gegensatz  stellen,  wie 
Himmel  und  Erde,  Tag  und  Nacht,  Frost  und  Hitze,  Sturm  und 
Buhe,  Wachen  und  Schlafen,  Leben  und  Sterben,  Wasser  und 
Feuer  u.  s.  w.  Da  nun  die  Erzeugung  der  Götter  nicht  eine 
müssige  Spielerei  zur  Classification   der  Naturerscheinungen  ist, 

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128  Religion  der  Furcht. 

sondern  lediglich  aus  einer  unwillkürlichen  Nöthigung  der  Furcht 
hervorgeht,  so  lag  es  nahe,  dass  für  den  massgebenden  und 
grundlegenden  Gegensatz  von  Furcht  und  Hoffnung,  Schaden  und 
Yortheil,  Schmerz  und  Lust  auch  eine  dualistische  Ursache  ge- 
sucht wurde. 

Bs  wäre  aber  ungenügend,  wollte  man  hier  nur  Eine  Äuf- 
lösungsweise  der  durch  die  Thatsachen  gegebenen  Gleichung  zu- 
lassen. Vielmehr  ist  das  Gegebene  so  wenig  bestimmt,  dass  die 
Phantasie  sehr  wohl  yerschiedene  Lösungen  des  Problems 
liefern  kann.  Darum  mag  auch  inmier  in  Völkern,  bei  denen 
leicht  Einer  vor  Allen  gewaltig  wurde  und,  soweit  der  Blick 
des  Einzelnen  reichte,  überall  despotisch,  zu  herrschen  schien, 
die  Ueberzeugung  aufgekommen  sein,  dass  ein  Gott  die  Ober- 
gewalt über  alle  anderen  Dämonen  habe.  Ein  solcher  Mon- 
archismus ist  immer  ein  Zeichen  grösserer  socialer  Entwicke- 
lung,  indem  die  Götter,  die  ursprünglich  jeder  Mensch  für  sich 
und  seine  Familie,  später  auch  gemeinsam  für  Gau  und  Stamm 
hat,  sich  im  Kampf  der  Stämme  durch  hergestellte  Friedensge- 
meinschaft zu  einem  monarchischen  Despotismus  ausgeglichen 
haben.  Der  Dualismus  liegt  dann  entweder  noch  in  dem  Ge- 
gensatz des  Nationalgottes  gegen  die  Götter  des  auswärtigen 
Feindes  oder  in  den  Stimmungen  und  Launen  des  despotischen 
Götterherm  selbst. 

Jedenfalls  sieht  man,  dass  die  Frage,  ob  die  Urzeit  und 
unterste  Stufe  menschlicher  Religion  polytheistisch  war,  zwar 
keine  grosse  Wichtigkeit  hat,  weil  die  Theologie  dieser  Religion 
der  Furcht  überhaupt  zu  keiner  höheren  Entwickelung  gelangen 
konnte,  aber  dennoch  entschieden  bejaht  werden  muss,  da  ein 
streng  genommener  Dualismus  und  Monotheismus  schon  eine 
weiter  fortschreitende  Arbeit  des  Denkens  fordern.  Wir  werden 
sehen,  dass  es  noch  besonderer  Veranlassungen  bedarf,  damit 
die  verschiedenen  göttlichen  Ursachen  zu  einem  grossen  Gegen- 
satz gruppirt  und  alle  Götter  schliesslich  zur  Einheit  des  Allge- 
meinen der  Macht  zusammengefasst  werden  können. 
§4.DieeoBsti-  Wcuu  wir  uuu  die  Dogmatik  dieser  Theologie 
utiTeB  8«ue  gtudircu  wollen,  so  könnten  wir  zwar  empirisch  aus 

der  Dognatlk   _  .       .  -r^   ,.    .  >•.         .         ,         ^ 

dieser  Bell-  dcu  zugchöngcn  Rchgionen  die  emzelnen  Gottesvor- 
»*•■•       Stellungen  sammeln,  wir  thun  aber  besser,  nach  un- 
serer Methode  die  Dogmatik  aus   derselben    Erkenntnisstheorie 


uiymzeu  uy  x^jv^'v^' 


ö'" 


Dogmatik.  129 

specnlatiy  abzuleiten,  nach  welcher  sie  sich  psychologisch  bei 
den  verschiedenen  Völkern  gebildet  hat  Denn  da  Niemand  diese 
Baals  und  Qiva's,  diese  Schu's  und  Setis  und  all  die  obscuren 
Götter  der  Wilden  gesehen  hat,  so  ist  klar,  dass  sie  sich  durch 
einen  allgemein,  also  speculativ,  nachweislichen  Gedankenprocess 
gebildet  haben.  Da  sie  blosse  Gedanken  waren,  so  müssen  sie 
durch's  Denken  jederzeit  neu  erzeugt  werden  können,  wenn  wir 
nur  die  Beziehungspunkte  combiniren,  deren  Beziehungseinheit 
sie  bildeten.  Dadurch  muss  auch  ihre  ganze  Qualification  und 
also  ihre  Dogmatik  sich  ergeben. 

Es  giebt  zwar  einige  Schriftsteller,  die  ihren  Blick  u,chtcUePh»n- 
besonders  auf  die  Abbildungen  der  Götzen  und  die  dich-  taaie,  sondern 
terischen  Schilderungen  der  Götter  in  Mythen  ^»d 'Jj^'^^*"!^^^  *^ 
Hymnen  gerichtet  haben  und  deshalb  die  ganze  Theo-  m»tik. 
logie  und  Dogmatik  für  ein  Werk  der  Phantasie  halten;  allein 
bei  solcher  Annahme  kommt  der  Verstand  etwas  zu  kurz;  denn 
in  der  Religion  ist  das  Bild  der  Phantasie,  welches  sinnenfällig 
durch  die  Kunst  dargestellt  werden  kann,  von  geringer  Bedeu- 
tung; alles  aber  kommt  darauf  an,  was  der  Gläubige  bei  solchen 
Bildern  denkt  und  fflhlt  Das  Denken,  z.  B.  dass  der  Gott 
über  unsere  Handlungen  zürnt  oder  sich  durch  Opfer  versöhnen 
lassen  wird,  kann  nicht  sinnenfällig  dargestellt  werden  und  ist 
deshalb  keine  Phantasie,  sondern  eine  Beziehung,  die  wir  so  zu 
sagen  zwischen  die  Phantasiebilder  stellen,  d.  h.  wodurch  wir 
dieselben  auf  nicht-sinnliche  Weise  verknüpfen.  Weil  nun 
diese  Gedanken  und  die  zugehörigen  Gefühle  sich  unmittelbar 
an  die  Phantasiebilder  anschliessen,  ohne  selbst  Bilder  zu  sein, 
so  gerathen  diejenigen  Schriftsteller,  die  bloss  ihre  Sinne  be- 
nutzen und  auf  den  Verstand  nicht  viel  Werth  legen,  zu  der 
Täuschung,  es  drehe  sich  in  der  Beligion  bloss  um  Phantasie- 
bilder. Sie  haben  eben  nur  die  Schale  vor  Augen,  den  Saft  und 
die  Kraft  in  der  Sache  lassen  sie  ungebraucht.  Alle  Phantasie- 
bilder der  Mythologie  aber  müssen  gedeutet  werden,  und  diese 
Deutung  ist  eine  Enträthselung  dessen,  was  die  Gläubigen  bei 
jenen  Bildern  dachten  und  fühlten.  So  ist  das  Denken  nicht 
zu  vermeiden  und  wenn  dieses  in  der  ältesten  Religion  auch 
noch  so  primitiv  und  fehlerhaft  ist,  so  muss  es  sich  doch  durch 
eine  richtige  Methode  aufdecken  lassen. 


Telctamüller,  Beligionsptailoaopbie. 


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130  Religion  der  Furcht. 

Wenn  z.  B.  die  Athener  einen  Stein  oder  ein  Beil,  durch 
welche  ein  Bürger  umgekommen  war,  vor  Gericht  ziehen,  das 
leblose  Ding  aburtheilen  und  es  dann  in  gerichtlicher  Procession 
bis  an  die  Oränzen  des  Landes  tragen,  um  es  mit  Flüchen  weg- 
zuwerfen, so  giebt  uns  die  blosse  Phantasievorstellung  dieser 
Dinge  und  Personen  keinen  Aufschluss  über  die  Religion.  Erst 
wenn  wir  uns  znm  Bewusstsein  bringen,  dass  sie  den  Stein  und 
den  getödteten  Bürger  unter  der  Kategorie  von  Schuld  und  Ver- 
brechen auf  einander  beziehen,  also,  wie  man  sich  ausdrückt, 
„etwas  dabei  denken^^,  was  man  nicht  sehen  und  hören  und 
in  der  Phantasie  vorstellen  kann,  erst  dann  verstehen  wir  den 
religiösen  Akt.  Es  ist  dabei  ganz  einerlei,  ob  wir  jetzt  mit 
richtiger  Welterkenntniss  den  Stein  fQr  leblos  und  unschuldig 
halten  und  uns  darüber  wundem,  dass  solche  gerichtliche  Pro- 
ceduren  noch  bei  dem  aufgeklärten  Athenischen  Volke  nach  der 
Zeit  seiner  grossen  Tragiker,  Bedner  und  Philosphen  vorkamen; 
wichtig  für  unsere  Frage  ist  nur,  ob  hier  bloss  Phantasie  im 
Spiele  war,  oder  ob  vielmehr  gewisse  Beziehungen,  die  nicht 
sinnlich,  sondern  nur  mit  dem  Verstände  aufgefasst  werden  kön- 
nen, den  Erklärungsgrund  bilden.  Nun  werden  durch  die  Erin- 
nerung bloss  zwei  sinnliche  oder  in  der  Phantasie  gegebene 
Bilder,  Stein  und  Leiche,  vorgestellt;  die  Verknüpfting  oder  Be- 
ziehung derselben  aber  ist  nicht  sinnlich,  sondern  ein  Gedanke, 
eine  unrichtig  angewendete  Kategorie.  Also  kann  ohne  Denken» 
ohne  Speculation  die  Religion  nicht  erklärt  werden. 

Wenn  daher  alle  diejenigen  näheren  Ausmalungen  und  Er- 
zählungen, welche  die  einzelnen  Völker  über  ihre  Götter  und 
deren  Handlungen  und  Leiden  liefern  und  durch  welche  sich  die 
verschiedenen  Formen  der  Furchtreligion  als  geographisch  und 
national  charakteristisch  von  einander  absondern,  der  Phantasie 
angehören  und  mithin  als  accidentell  betrachtet  werden  müssen 
weshalb  die  wissenschaftliche  Untersuchung  darüber  Sache  des 
Ethnologen,  Philologen  und  Historikers,  d.  h.  mit  einem  Worte 
Aufgabe  der  Empirie  ist:  so  kann  es  unsere  Sache  hier  nur  sein, 
die  allgemeinen  und  nothwendigen  Folgesätze  zu  finden, 
welche  sich  speculativ  ans  der  Erkenntnisstheorie  dieser  Religion 
und  den  fest  gegebenen  Beziehungspunkten  des  Motivs  der  Re- 
ligion einerseits  und  des  zugehörigen  Gottesbewusstseins  anderer- 
seits  ableiten  lassen.    Diese    Sätze   constituiren   die  Dogmatik 


Dogmatik.  131 

der  Furchtreligion,  sind  aber  ftlr  die  zugehörige  Theologie  nur 
consecutiv,  da  sie  den  Gottesbegriff  in  seiner  allgemeinen  Coor- 
dination  zum  Motiv  schon  voraussetzen. 

Wie  nun  erstens  der  Gott  selbst  als  Wesen  aus 
der  Furcht  und  den  Furcht  erregenden  Ereignissen  nchkeit  Gotic«. 
sich  mit  psychologischer  Logik  bildete,  so  müssen 
diese  Ereignisse,  da  sie  (wie  Gewitter,  finstere  Nacht,  Seuchen, 
plötzliche  Todesfillle,  unerklärliche  Krankheiten,  Dürre,  Stürme, 
schreckliche  Kälte,  giftige  und  reissende,  in  Menge  oder  unüber- 
windlich auftretende  Thiere  u.  dergl.)  immer  einem  natürlichen 
Wechsel  unterworfen  sind,  auch  den  Gott  als  wandelbar  er- 
scheinen lassen.  Erstes  logisches  Dogma  der  Religion  ist  also: 
Gott  ist  zwar  böse,  aber  veränderlich. 

Da  zweitens  jede  Veränderung  immer  ftir  den 

_.  ,  -rr      .1     .>!       A.        1  *      1  .  -•.▼      1      2.  Gemeinschaft 

Emen  einen  Vortheil ,  für  den  Andern  emen  Nach-  awi«chen  oott 
theil  bedeutet,  so  muss  die  Projection  auf  den  Gott  "°^  Mensch. 
zu  dem  Dogma  flihren,  dass  Gott  in  Beziehung  zu  den  Menschen 
stehe  und  sowohl  zornig  als  gnädig,  günstig  und  feindlich 
sein  könne.  Und  weil  die  Religion  ja  eine  Stimmung  und  Vor- 
stellung in  den  Menschen  ist,  die  entsprechend  ihrer  Stimmung 
und  Vorstellung  zu  bestimmten  Handlungen  in  ihrer  Angst  und 
Freude  getrieben  werden,  während  inzwischen  auch  die  bedroh- 
lichen Ereignisse  sich  irgendwie  verändern,  so  liegt  die  Logik  auf 
der  Hand,  dass  die  Handlungen  der  Menschen  im  Zusammenhang 
mit  den  göttlichen  Gemüthsstimmungen  und  deren  Veränderungen 
stehen,  dass  die  Menschen  also  durch  ihre  Handlungen  einen 
gewissen  Einfluss  auf  Gott  haben  und  mit  ihm  in  einer  gewissen 
geheimnissvollen  Gemeinschaft  stehen. 

Da  drittens  der  Gott  nach  dem  Bilde  des  Men- 

1  1     »•        •    .  i*i.Ai«i  3-  SUmmxingen 

sehen  geschaffen  ist,  wobei  die  Analogie  aber  nur  ootte«  von  den 
auf  das   geistige  Wesen  des  Menschen  führt  Handlungen 
und  nicht  etwa  auf  menschliche  Erscheinungsform,  so     abh&ngig. 
muss  bei  den  Göttern,  wie  bei  den  gefilhrlichen  Men- 
schen,  ein  bestimmter  Wille   angenommen  werden.     Obgleich 
nun  dieser  Wille  von  der  Laune  eines  Despoten  nicht  verschie- 
den ist,   so  muss   der   gottesfürchtige  Mensch  ihn  dennoch  als 
Zorn  oder  Gnade  aus   den  jedesmaligen   schädlichen   oder  vor- 
theilhaften  Naturereignissen  zu   erkennen  glauben.     Aber  nicht 
diese  aus  Zeichen  geschöpfte  Erkenntniss  der  Stimmungen  der 

uiymzeu  uy  VwJv^\JVt  Iv^ 


132  Beligion  der  Furcht, 

Götter,  sondern  die  Erforschung  der  Ursachen  ihrer  gütigen 
und  zornigen  Stimmungen  ist  von  ganz  besonderer  Wichtigkeit, 
weil  der  Mensch  sich  selbst  in  die  natürliche  Causalreihe  der 
Motivation  der  göttlichen  Stimmungen  einschieben  muss.  Denn 
da  der  Gott  für  ihn  und  von  ihm  erzeugt  ist,  so  muss  auch  jede 
geglaubte  Stimmungsveränderung  des  göttlichen  Beziehungspunktes 
auf  die  eigenen  Handlungen  des  Menschen  und  die  glücklichen 
oder  traurigen  Ereignisse  bezogen  sein  und  demgemäss  müssen 
göttliches  Leben  und  menschliches  als  zwei  variable  Beziehungs- 
punkte mit  einander  in  Coordination  stehen.  So  bildet  sich  der 
Begriff  Schuld  (culpa)  nicht  im  Sinne  der  Moralität,  sondern 
im  Sinne  von  Veranlassung  oder  Ursache  von  Uebeln,  da  der 
Mensch  ja  die  abhängigen  Variationen  von  X  =  Gott  aus  den 
ihm  bekannten  Variationen  seiner  selbst  ableiten  muss.  In  un- 
vermeidlicher Zugehörigkeit  steht  damit  zugleich  bei  glücklicher 
Wendung  der  Dinge  die  Ueberzeugung,  angenehm  vor  dem 
Auge  des  Herrn  zu  sein,  seiner  Gnade  sich  zu  erfreuen,  oder 
anders  ausgedrückt,  dass  das  Wohlgefallen  des  Herrn  auf  dem 
Menschen  ruhe.  Dass  die  Beligiösen  in  dieser  Weise  schliessen 
und  sich  demgemäss  ihrer  Schuld,  ihres  Verdienstes,  ihres  Gnaden- 
standes  und  ihrer  Gottesfeindschaft  und  ihres  Verfolgtseins  be- 
wusst  werden,  ist  eine  unbestreitbare  Thatsache.  Die  Logik  des 
religiösen  Paralogismus  ist  aber  nicht  so  leicht  durchsichtig  und 
erfordert  eine  subtile  Analyse,  weil  man  mit  vielen  Beziehnngs- 
gruppen  zu  thun  hat,  die  zwar  mit  einem  Schlage  zusammen- 
wirken, aber  dennoch  in  die  einzelnen  wirksamen  Fäden  aufge- 
löst werden  können.  Als  Ausgangspunkt  nehmen  wir  die  Er- 
eignisse in  der  Sinnenwelt.  Setzen  wir  diese  erstens  in  Corre- 
lation  zu  unserem  Gefühl,  so  erscheinen  sie  als  Glück  oder  Un- 
glück; in  Correlation  mit  dem  Erkenntniss vermögen  zweitens  er- 
zeugen wir  für  sie  als  Ursache  einen  Gott.  Fassen  wir  nun 
diese  beiden  Correlationen  combinatorisch  zusammen  und  be- 
ziehen sie  drittens  auf  unser  Ich,  so  erhält  der  Gott  in  Beziehung 
auf  uns  eine  Gesinnung,  Zorn  oder  Gnade.  Da  viertens  dieser 
Gott  aber  kein  objectiv  gegebenes  Wesen,  sondern  nur  unser 
Gottesbewusstsein  ist,  welches  genau  nach  der  Analogie  mit 
dem  Ich  gebildet  wird,  so  muss  das  Gottesbewusstsein  in  die 
Coordinationsform  der  drei  Functionen  unseres  Geistes  eingehen 
und  folglich  einzig  und  allein  von  unserem  handelnden  Vermögen 


/Goog^v 


Dogmatik.  133 

abhängig  werden,  welches  Realität  schafft  nnd  demgemäss  so- 
wohl die  zugehörigen  Gefühle  als  die  zugehörigen  Gedanken  be- 
stimmt. Mithin  ist  auf  dem  Grunde  des  gegebenen  Paralogismus 
die  übrige  Dogmatik  ganz  logisch  vermittelt,  indem  die  Stim- 
mungen Gottes  nun  nothwendig  von  den  Handlungen  des  Men- 
schen hergeleitet  werden  und  ihnen  coordinirt  sind. 

Da  aber  die  objectiven  Ereignisse  in  der  Sinnen-  ^  j^^  ^^^ 
weit,   welche  auf  Gott   bezogen   werden,  unmöglich  und  d»a  mter- 
einen    stetig    harmonischen   Zusammenhang  mit  den  enl^ckeUBteh 
subjectiven  Zuständen  des  Einzelmenschen  haben  kön-  mit  dem  Men- 
nen,   so   muss   sich  die  Erklärung   der   Stimmungen      ^^'^^' 
Gottes  aus  den  Handlungen  des  Menschen  nothwendig  als  unzu- 
länglich herausstellen.     Mithin  muss  der  Wille  Gottes,   obwohl 
die  eben  dargelegte  Motivationsweise  niemals  verlassen  werden 
kann,  doch  zugleich  auch   noch  als   uner forschlich   oder  als 
launenhaft  oder  als  aus  übermenschlichen  anderen  Einflüssen  be- 
stimmt erscheinen.    Jedenfalls  aber  wird  er  immer  post  eventum, 
d.  h.  durch  die  zu  unserem  Gefühl  in  Beziehung  stehenden  objec- 
tiven Ereignisse  enthüllt. 

Da  nun  das  Gottesbewusstsein  in  die  Coordination  mit  un- 
serem Gefühl  und  also  mit  unseren  Lebensinteressen  gestellt  ist, 
so  muss  es  nothwendiger  Weise  variabel  und  historisch  wer- 
den, weil  seine  Goordinaten  in  Handlungen  und  den  zugehörigen 
Gefühlen  bestehen.  Das  Wohl  und  Wehe  des  Menschen  ist  aber 
nicht  auf  die  Gränzen  seines  Leibes  eingeschlossen,  sondern  steht 
in  nächster  Beziehung  zu  seinem  Eigenthum,  seiner  Hütte, 
seinem  Nahrungsgebiet,  seinem  Jagdglück  in  Wald  und  Meer 
u.  8.  w.  Da  nun  an  dergleichen  Glück  oder  Unglück  seine  Fa- 
milie theilnimmt,  so  muss  der  Gott  Hausgott  werden,  demnächst 
Dorfgott  und  so  weiterhin  Nationalgott.  Der  Gott  bildet 
sich  also  mit  dem  Menschen,  und  je  umfassender  dieser  seinen 
Willen  ausstreckt,  desto  bestimmter  und  objectiv  gewisser  wird 
im  Allgemeinen  der  Wille  'des  schützenden  und  zürnenden  Gottes. 
Es  kann  daher  nicht  fehlen,  dass  diese  Religion  mit  der  socialen 
Entwickelung  des  Menschen  nothwendig  einen  moralischen  Bei- 
geschmack bekommen  muss,  von  dem  sie  ursprünglich  ganz  frei 
war.  Doch  diese  zweite  Form  der  Religion  lassen  wir  hier  noch 
bei  Seite  und  betrachten  den  Gott  bloss  als  mit  den  egoistischen 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


134  Religioxi  der  Furcht. 

Interessen  des  Menschen  und  seiner  Fandlie,  seines  Standes  und 
Volkes  verwachsen. 

5.  Der  Mensch  Sofcm  nun  Dorf  gegen  Dorf,  Volk  gegen  Volk 
ein  MitBtreiter  kämpft,  80  wird  der  Gott  nothwendig  Kriegs-  und 
Gotte«.  Kampfgott,  da  wir  ihm  ja  nach  dem  vierten  Dogma 
unsere  egoistischen  Lebensinteressen  attribuirt  haben.  Mithin 
sind  wir  die  Mitstreiter  Gottes,  seine  Knechte  und  haben 
ihm  zu  helfen  bei  seinem  Werke.  Feigheit  in  der  Schlacht, 
Weglaufen  u.  dergl.  ist  Verrath  an  dem  Gotte.  Da  das  Volk 
aber  andere  Völker  und  also  der  Gott  auch  andere  Götter  sich 
gegenüber  hat,  so  wird  sich  dies  nothwendig  zuweilen  in  den 
Naturerscheinungen,  welche  dem  Gotte  zugehören,  zeigen.  Es 
ist  darum  in  der  Ordnung,  dass  wir  auch  bei  solchen  Gelegen- 
heiten, die  gewissermassen  den  Gott  in  seinem  Privatinteresse 
betreffen  und  uns  zunächst  nichts  angehen,  zur  Hülfe  verpflichtet 
sind,  um  unseren  Herrn  und  Helfer  nicht  schwächen  zu  lassen. 
Verfinstert  daher  der  Mond  die  Sonne,  so  haben  die  Gottesstreiter 
mit  Paucken  und  Trommeln  und  Geschrei  den  bösen  dunkeln 
Dämon  zu  erschrecken  und  zu  verscheuchen,  um  den  segnenden 
Lichtgott  zu  befreien.  Wenn  jedoch  0.  Pfleiderer  in  seiner 
genetisch-speculativen  Religionsphilosophie  U  S.  27  im  Anschluss 
an  Schwartz  „Ursprung  der  Mythologie"  diese  Unterstützung 
der  Götter  „allem  Kultus  von  Anfang  als  Motiv  zu  Grunde"  legt 
und  „die  allerältesten  religiösen  Gebräuche  ftlr  eine  Nachahmung 
des  Thuns  der  höheren  Mächte"  erklärt,  so  fehlt  mir  eine  Er- 
klärung ftlr  das  religiöse  Motiv;  denn  die  blosse  Nach- 
ahmung ist  schon  längst  als  dem  Gebiete  der  Kunst  angehörig 
erkannt  Diese  Annahme  von  Schwartz  kann  daher  auch  gar 
nicht  bewiesen  werden;  denn  die  Anftthrung  gewisser  Gebräuche 
bei  wilden  Völkern  verschlägt  nichts,  da  auf  diese  Weise  nicht 
das  Ursprüngliche  von  dem  allmählich  Hinzugekommenen  unter- 
schieden wird.  Der  Gegenbeweis  aber  liegt  auf  der  Hand;  denn 
jedes  Kind  macht  den  psychologischen  Entwickelungsprocess  der 
Menschheit  durch,  und  nie  wird  man  Kinder  finden,  die  von 
sich  aus  durch  Beobachtung  oder  Nachahmung  der  Himmels- 
erscheinungen eine  Theologie  ausbildeten.  Vielmehr  wurzelt  ihr 
erstes  religiöses  Geffthl,  ebenso  wie  bei  allen  rohen  Völkern,  in 
der  Furcht,  und  Gespenster  sind  ihre  ersten  Götter.  Nicht  was 
den  Göttern  begegnet,  ist  der  erste  Gegenstand  der  Gedanken, 

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Dogmaidk.  135 

sondern  was  uns  begegnet,  unser  Wohl  und  Wehe,  und  die 
Götter  werden  in  unser  Interesse  verflochten,  nicht  wir  in  das 
ihrige;  diese  letzte  Wendung  ist  vielmehr  eine  spätere  secundäre 
Entwickelung,  d^  die  Interessen  und  das  Wohl  und  Wehe  der 
Götter  erst  von  unserem  perspectivischen  Gesichtspunkt  aus  be- 
stimmt werden  können. 

Die  Götter  sind  aber  von  jeher  nie  etwas  an-  ^'^  AnimitmuB 
deres  als  geistige  Wesen,  Personen  wie  wir  gewesen.  einMine^Fom* 
Ich  habe  diesen  Satz  schon  in  meiner  Grundlegung  <*«'  Beiigioii. 
der  Metaphysik  bewiesen.  Steine,  Bäume,  Winde,  Thiere  u.  s.  w. 
sind  niemals  Götter  gewesen,  sondern  nur  Erscheinungsformen 
hinter  ihnen  verborgener  Personen;  denn  der  Mensch  kennt  ur- 
sprünglich durch  sein  Selbstbewusstsein  nur  sich  und  personificirt 
alle  Dinge  nach  Analogie  mit  sich.  Niemals  haben  darum  die 
Menschen  Sterne  verehrt,  niemals  die  Sonne  und  den  Mond,  son- 
dern immer  nur  geistige,  persönliche  Wesen,  deren  Auge  oder 
Erscheinung  die  Sonne  war.  Und  dies  ist  so  natürlich,  dass 
selbst  der  grosse  Philosoph  Aristoteles,  der  über  die  Theologie 
des  Volksglaubens  nicht  hinaus  konnte,  hinter  der  Sonne  und 
den  übrigen  Sternen  göttliche  Geister  mit  fester  Ueberzeugung 
annahm.  Wenn  ich  nun  dieses  Dogma  nicht  als  eine  blosse 
Hypothese  zur  Erklärung  aller  Beligionsgebräuche  hinstelle,  son- 
dern es  als  einen  logisch  nothwendigen  und  völlig  sicheren 
Schlusssatz  aus  psychologisch  gewissen  und  unzweifelhaften  Prä- 
missen ableite,  so  fragt  sich,  wie  zu  meiner  Theorie  der  soge- 
nannte Animismus  steht,  der  die  Beligion  aus  dem  Ahnencultus 
herausziehen  will.  Die  Frage  ist  leicht  beantwortet;  denn  die 
Väter  sterben  uns  ja  niemals  mit  ihrem  Tode.  Ob  aber  Menschen 
überhaupt  im  Leben  oder  Tode  ausser  uns  und  unabhängig  von 
uns  ein  selbständiges  Leben  ftlr  sich  ftlhren,  das  ist  jedem  an- 
dern Menschen  von  Natur  gleichgültig  und  höchstens  ein  Gegen- 
stand seiner  Neugierde,  wie  z.  B.  ob  es  Menschen  auf  dem 
Monde  giebt;  für  uns  kommt  immer  nur  in  Betracht,  was  für 
uns  ist.  Die  Väter  aber  waren  etwas  ftlr  uns.  Wir  sahen  sie, 
wir  hörten  sie,  wir  hatten  Hülfe  und  Freude,  Schrecken  und 
Schmerz  von  ihnen.  Für  uns  waren  sie  da,  so  lange  sie  lebten. 
Nach  ihrem  Tode  sitzen  sie  noch  ebenso  fest  in  unserem  Be- 
wusstsein  wie  vorher;  denn  ihre  Bilder,  ihre  Stimmen,  die  Erin- 
nerung an  ihre  Thaten  und  an  ihr  Wesen,  all  dieses,  was  sie 

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136  Religion  der  Furcht. 

für  uns  waren,  das  kann  ja  nicht  mit  der  äusseren  Erscheinung 
ihres  Leibes  verschwinden.  Mithin  müssen  sie  für  uns  noth- 
wendig  weiter  existiren,  auch  wenn  wir  sie  nicht  mehr  in  ge- 
wohnter Weise  sehen  und  hören.  So  werden  sie  zu  Gespenstern, 
zu  Laren  und  Larven.  Es  kann  darum  gar  keinem  Zweifel 
unterliegen,  dass  die  Penaten  zur  ursprünglichen  Religion  ge- 
hörten, dass  sie  in  vielen  Visionen  erschienen,  und  dass  man 
namentlich  nach  dem  Tode  von  schlimmen  und  gestrengen  Herren 
vieles  Unerklärliche  und  Schlimme  auf  die  Einwirkung  des  Haus- 
gespenstes zurückführte.  Allein  dieser  Animismus  bildet  nur 
eine  einzelne  Form,  eine  besondere  Veranlassungsweise  der  ur- 
sprünglichen Religion,  die,  wie  ich  gezeigt  habe,  einen  allgemei- 
neren Ursprung  hat  Wir  können  deshalb  den  Animismus  gelten 
lassen^  geben  ihm  aber  nur  eine  Provinz  in  dem  grossen  Reiche 
der  Religion  der  Furcht 

Unsere  speculative  Ableitung  der  Religion  wird 
•tiMMbarkeit  s^bcr  uicht  ftLr  das  sicher  erkannte  Motiv  der  Religion 
dM  theoioffi-  nim  einen  ebenso  fest  bestimmten  theologischen  Gegen- 
'  stand  ausmalen  wollen,  als  müsse  der  zugehörige  Gott 
schlechterdings  bei  allen  Völkern  die  gleiche  Phantasie  auslösen. 
Diese  Thorheit  folgt  nicht  aus  unseren  Prämissen.    Vielmehr  liegt 
umgekehrt   die  Unbestimmbarkeit  und  Zufälligkeit    der  theolo- 
gischen Vorstellung  in  der  Consequenz  unserer  Gedanken;  denn 
alles  und   jedes,   was   Furcht   erregt  und   zugleich  das 
Mass    unseres    Verstandes    und    unserer    Kräfte    über- 
schreitet, muss  in  die  theolologische  Sphäre  rücken,  d.  h.  als 
etwas  Dämonisches  und  Göttliches  betrachtet  werden. 

Bchiangencnit  ^^  ^'  ^*  ^r^ählte  mir  hier  in  Dorpat  ein  Arme- 
nnd  Tbienmit  nicr,  dass  in  seiner  Heimath  noch  jetzt  auf  dem  Lande 
überhaupt,  gehlaugcncultus  herrsche.  An  jedem  Morgen  und 
Abend  bringt  unter  Murmeln  und  Singen  von  Zauberformeln  der 
Landmann  dem  Schlangenkönig  ein  Opfer  in  einer  Schale  Milch 
dar,  und  der  König  kommt,  schlürft  sie  aus  und  beschützt  dafür 
das  Haus.  Dies  ist  mir  völlig  verständlich;  denn  die  giftigen 
Schlangen  sind  dort,  wie  ich  von  dem  Armenier  hörte,  wegen 
ihrer  grossen  Menge  häufig  eine  Veranlassung  des  Todes  von 
Menschen  und  Vieh,  also  eine  beständig  das  Leben  umringende 
Gefahr,  die  durch  keine  menschliche  Kraft  besiegt,  durch  keinen 

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Dogmatik.  137 

Verstand  ihrem  Ursprung  nach  erklärt  werden  kann.  Wenn  wir 
aber  dem  Schlangenkönig,  d.  h.  einer  einzelnen  Schlange,  opfern, 
80  bewahrt  sie  Hans  and  nächste  Umgebung  yor  dem  Zugang 
der  übrigen,  wie  ein  Hahn  und  Hund  keinen  andern  auf  dem 
Hofe  duldet  Sie  beweist  sich  also  als  König  und  Herr,  sie 
yerschafit  ruhigen  Schlaf,  Freiheit  von  Angst  und  Sorge  beim 
Anbruche  der  Nacht;  sie  ist  ein  gegenwärtiger  Gott,  unverletzlich, 
unbegreiflich  mächtig  und  doch  nur  eine  Schlange.  Dies  Bei- 
spiel mag  uns  verdeutlichen,  wie  auch  ein  einzelnes  Individuum 
aus  dem  Thierreich  in  den  Bang  der  Gottheit  rücken  kann  und 
wie  der  bei  den  südlichen  Völkern  fast  allgemeine  Schlangen- 
cultus  wenigstens  nach  einer  Seite  hin  zu  deuten  ist  Die  andre 
Seite  aber,  um  derentwillen  Thiergattungen,  wie  Tiger,  Krokodil 
und  andre  zu  göttlicher  Ehre  gelangten,  liegt  wohl  erstens  darin, 
dass  sie  böse  und  gefährlich  genug  waren,  um  ein  Gott  zu 
werden,  und  zweitens  darin,  dass  sie  ihrem  Ursprung  und  ihrer 
Zahl  nach  so  verborgen  sind  und  sich  untereinander  so  sehr 
ähneln,  dass  in  jedem  einzelnen  keine  Individualität,  sondern  nur 
die  ganze  Gattung  vorgestellt  wird,  weshalb  die  Tödtung  eines 
Individuums  ganz  unnütz  erscheint,  da  immer  dasselbe  Princip 
mit  demselben  Charakter  wieder  vorhanden  ist  und  die  Gefahr 
und  Angst  also  kein  Ende  nimmt 

Interessant  ist,  dasa  der  Gott  darum  an  seiner  göttlichen 
Natur  Einbusse  erleidet,  wenn  er  intelligenter,  gutmüthiger  und 
bekannter  ist;  denn  er  nähert  sich  dadurch  dem  Mittelschlage 
der  Menschen,  und  mithin  muss  die  Theologie  eine  sonderbare 
Mischung  zeigen  und  der  zugehörige  Gultus  humoristisch  werden. 
Man  sieht  dies  bei  dem  Bären-Gult  in  Sibirien,  wo  man  dem 
zottigen  Gk)tte  zwar  als  einem  immerhin  gefährlichen  Teufel  mit 
obligatem  Bespecte  begegnet,  dennoch  aber  mit  ihm,  da  er  kein 
reiner  Fleischfresser,  also  weniger  böse  ist  und  von  stärkeren 
Männern  auch  besiegt  und  gebunden  werden  kann,  allerlei  possir- 
liehen  Gottesdienst  treibt 

Nicht  ganz  nach  demselben  Gesichtspunkte  darf  man  die 
humoristischen  Seiten  in  dem  christlichen  Gottesdienste  erklären; 
denn  wenn  man,  wie  ich  dies  z.  B.  in  den  Weihnachtstagen  in 
Malaga  sah,  der  Jungfrau  ein  lebendiges  Lamm,  welches  heimlich 
zum  Blöken  gereizt  wird,  auf  die  Bühne  bringt  und  die  zart  und 
sittig  dasitzende  Andalusierin  dann  mit  Höflichkeit  „muchisima 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


138  Religion  der  Furcht. 

gracia  Senor^'  („besten  Dank^  mein  Herr^O  sagt,  so  amüsirt  sich 
zwar  Jung  und  Alt  und  das  religiöse  Schauspiel  wird  mit  eben- 
soviel Grandezza  als  Heiterkeit  durchgeführt;  gleichwohl  wäre 
dieser  Humor  nur  einseitig  yerstanden,  wenn  man  bloss  die 
mangelnde  Gefährlichkeit  des  Gottes  und  die  Abwesenheit  des 
Butzemanns,  vor  dem  man  sich  ängstigt,  hier  in  Bechnung  ziehen 
wollte.  Es  liegt  vielmehr  in  dem  christlichen  Humor  noch  ein 
viel  tieferer  Sinn  verborgen,  den  wir  aber  erst  bei  der  Philo- 
sophie des  Christenthums  zu  erforschen  haben. 

Wie  die  Thiere,  so  können  auch  die  Menschen 
Henschencait.  ^^  Dämoncn  wcrdcu,  wenn  sie  recht  scheusslich  und 
boshaft  sind  und  durch  irgend  einen  Zufall  flir  die  geheimniss- 
volle und  übernatürliche  (magische)  Ursache  von  Schaden  und 
Leid  gehalten  werden.  Wenn  wir  die  Beisebeschreibungen, 
namentlich  die  aus  den  letzten  zwanzig  Jahren,  über  die  Wilden 
im  inneren  Afrika  lesen,  so  müsste  man  glauben,  es  gäbe  nichts 
Dümmeres  in  der  Welt  als  den  Menschen,  solche  wahnwitzige 
Vorstellungen  und  Gebräuche  sind  dort  an  der  Tagesordnung, 
die  alle  Augenblick  einem  Unglücklichen  das  Leben  kosten. 
Gleichwohl  ist  die  dort  herrschende  Theologie  für  den  Philo- 
sophen völlig  verständlich,  da  die  Furcht  das  Motiv  abgiebt  und 
die  Gottesvorstellungen  ohne  alle  wissenschaftliche  Einsicht  durch 
das  unwillkürliche  Spiel  niechanischer^Ideenassociation  gebildet 
werden.  Es  ist  darum  in  der  Ordnung,  dass  es  Hexen  und 
Zauberer  giebt  und  dass  diese  theils  Opfer  empfangen  und  ehr- 
erbietig behandelt  werden,  wenn  man  sich  vor  ihnen  fürchtet, 
theils  todtgeschlagen  und  verbrannt  werden,  wenn  man  dies  un- 
gestraft thun  zu  können  vermeint  Wie  viele  Götter  werden 
nicht  geprügelt  I  Ich  sah  selbst  in  Spanien,  dass  der  Gekreuzigte 
an  seinem  Kreuze  von  seinen  gläubigen  Verehrern  mit  faulen 
Orangen  geworfen  wurde,  weil  er  keinen  Begen  gegeben  hatta 
Wenn  das  im  Kreise  der  höchsten  und  vollkommensten  Beligion 
vorkommt,  was  soll  man  von  den  Wilden  erwarten! 

Es  ist  wohl  natürlich,  dass  auch  die  Könige  zu  Göttern 
wurden,  nicht  etwa  bloss  nach  ihrem  Tode,  sondern  schon  zu 
Lebzeiten,  und  zwar  oft  um  so  mehr,  je  scheusslicher  und  grau- 
samer sie  ihre  unermessliche  Macht  ausübten.  Die  Macht  scheint 
zwar  natürlich  zu  sein  und  durch  Soldaten  ausgeübt  zu  werden, 
das  Königskind  kommt  aber  durch  Schicksalsfügung  ohne  Ver- 

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Dogmatik.  139 

dienst  zur  Gebart  und  in  den  Besitz  dieser  unübersehbar  ver- 
ketteten und  gleichsam  magischen  MachtfllUe.  Ein  Gott,  sagten 
die  Inder,  kann  mit  dem  Blitz  einen  Menschen  tödten,  ein  König 
aber  tödtet  ein  ganzes  Dorf  und  verheert  ein  ganzes  Land,  er 
ist  mächtiger  als  die  Götter,  er  ist  selbst  ein  gegenwärtiger  Gott 

Im  zweiten  Bande  meiner  ,,Neuen  Studien  zur 
Geschichte  der  Begriffe"  habe  ich  namentlich  die  «^^^•»•^ 
ägyptische  Religion  ihrem  Ursprünge  nach  genauer  untersucht 
Es  zeigte  sich  dabei  mit  völliger  Evidenz,  von  wie  massgebender 
Bedeutung  die  astronomischen  Vorstellungen  auf  die  Dogmatik 
und  die  Formen  des  Cultus  gewesen  sind.  Dass  die  Sonne  vor 
allen  andern  Sternen  sowohl  als  Ursache  von  Licht  und  Wärme 
und  damit  von  Fruchtbarkeit  des  Bodens,  Nahrungsfblle  und 
Lebensannehmlichkeit,  wie  auch  im  Winter,  wenn  sie  in  den  süd- 
lichen Zeichen  des  Thierkreises  steht,  durch  ihre  Abwesenheit 
als  Veranlassung  von  Kälte  und  Dunkel  und  Feuchtigkeit  u.  s.  w. 
die  grösste  Bolle  im  Leben  des  Naturmenschen  spielen  muss, 
liegt  auf  der  Hand.  Der  von  der  Dunkelheit  und  den  unerkenn- 
baren Gefahren  der  Nacht  geängstigte  Wilde  sehnt  sich  nach 
dem  Lichtauge  des  Himmels  und  begrüsst  den  Horus-£a  oder 
Helios  als  segnenden  Gott,  der  freilich  auch  im  August  durch 
seine  versengenden  Strahlen  wieder  als  böses  Princip,  als  Seti 
oder  Schu  betrachtet  werden  muss.  Dass  aber  auch  der  Mond 
für  vieles  Unglückliche  und  Glückliche  dem  armen  Menschen  An- 
zeichen bringt,  nach  denen  ängstlich  gespähet  wird,  ist  z.  B.  noch 
aus  des  Aratos  gelehrtem  Werke  über  die  Wetterzeichen  v. 
772  —  817  deutlich  zu  erkennen. 

Bedenkt  man  noch,  dass  die  Sonne  auf  ihrem  Wege  durch 
den  Thierkreis,  jenachdem  sie  in  diesem  oder  jenem  Hause  des 
Himmels  steht,  eine  glückliche  oder  unglückliche  Lage  des  vom 
Klima  abhängigen  Menschen  herbeiführt  und  dass  ihre  Stellung 
nothwendig  jedesmal  das  Verschwinden  oder  Auftreten  gewisser 
anderer  Sterne  coordinirt  mit  sich  bringt,  so  erklärt  sich  leicht, 
wie  auch  den  sonst  so  unschuldigen  Fixsternen  eine  enge  Be- 
ziehung zu  menschlichem  Glück  oder  Unglück  zuwachsen  musste. 
In  analoger  Weise  konnten  auch  gewisse  periodische  für  Wohl 
und  Wehe  des  Menschen  entscheidende  Ereignisse,  wie  z.  B.  das 
regelmässige  Austreten  des  Nils  in  Aegypten,  durch  das  Wieder- 
erscheinen gewisser  Sterne,  wie  hier  z.  B.  des  Sirius,  der  lange 

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140  Beligion  der  Furcht 

in  den  Strahlen  der  Sonne  verborgen  bleibt,  verkündigt  werden, 
so  dass  nach  psychologischer  Logik  dadurch  ein  innerer  Zu- 
sammenhang zwischen  diesem  Fixstern  and  jenem  localen  Er- 
eigniss  mit  seinen  Folgen  für  die  Menschenwelt  zu  constatiren  war. 
Dass  man  deshalb  überall  in  der  Furchtreligion 
Gott  niB  Kind  j^^^jj  Sounencult  und  Sterndienst  überhaupt  vorfindet, 

und  LeiohnAm. 

ist  ganz  selbstverständlich;  dass  man  aber  auf  dieser 
ersten  Stufe  religiösen  Denkens  auch  der  Vorstellung  vom  Gott- 
kinde und  der  Verehrung  des  Oottleichnams  begegnet,  das  bedarf 
einer  Untersuchung.  Zu  einer  exacten  Beweisführung  wird  man 
es  dabei  schwerlich  bringen,  doch  verlangt  dies  die  richtige  Me- 
thode hier  auch  nicht,  da  die  Dogmatik  der  hierher  gehörigen 
Beligionen  durch  blosse  Ideenassociation  gebildet  wurde.  Mithin 
kommt  es  nur  darauf  an,  solche  natürliche  Vorstellungsver- 
knttpfungen  anzuzeigen.  Nun  ist  aber  principiell  schon  fest- 
gestellt, dass  die  Gottesidee  immer  nach  dem  Bilde  des  Menschen 
geschaffen  wurde;  also  sind  auch  die  Sterne  Himmelsherren 
männlichen  und  weiblichen  Geschlechtes.  Da  nun  dem  Menschen 
Geburt  und  Tod  zukommt,  so  entspricht  es  der  Analogie,  auch 
den  himmlischen  Herrschaften  Aehnliches  anzudichten.  Es  dreht 
sich  daher  vor  Allem  um  das  Mittelglied  der  Lebensdauer. 
Allein  diese  war  ja  leicht  durch  Analogie  zu  bestimmen,  da  die 
Sonne  von  ihrem  Aufgange  bis  zu  ihrem  Untergange  täglich  und 
vom  Frühling  bis  Winter  jährlich  eine  gewisse  Lebensdauer  hat. 
So  ist  es  denn  auch  verständlich,  dass  man  den  täglichen  Auf- 
gang und  den  Frühlingsanfang  der  Sonne  als  ihre  Geburt  und 
den  täglichen  Untergang  und  den  Winteranfang  als  ihren  Tod 
betrachtete  und  beide  Ereignisse  mit  diesen  Bildern  in  vielen 
Liedern  besang.  Mithin  ist  die  Sonne  in  beiderlei  Anfängen  der 
Analogie  entsprechend  ein  Kind  und  in  der  Nacht  wie  im  Winter 
ein  Leichnam.  Da  aber  beides  zu  dem  eigentlichen  Leben  und 
Wesen  des  Gottes  hinzugehört  und  sich  auch  periodisch  wieder- 
holt, so  muss  Kind  und  Leichnam  des  Gottes  schliesslich  eben 
so  wichtig  für  die  Vorstellung  werden,  wie  die  ursprüngliche 
Hauptidee.  Daher  kommt  es,  dass  bei  Aegyptem,  Griechen  und 
wohl  den  meisten  hierher  gehörenden  Völkern  auch  Geburts-  und 
Todesfeste  der  Götter  gefeiert  werden  und  dass  man  ftir  den 
Cultus  auch  eine  bestimmte  tägliche  und  jährliche  Periode  ein- 
führte.   Obgleich  nun  die  allein  wahre  und  vollkommene  christ- 

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Dogmatik  141 

liehe  Religion  mit  ihrer  seligen  Botschaft  himmelhoch  über  diese 
rohen  AniUnge  religiösen  Lebens  hinansragt,  so  scheint  sie  sich 
doch  mit  ihrem  Kirchenjahr  an  diese  heidnischen  Galtformen 
angeschlossen  und  auch  das  Gott-Kind  (il  bambino,  Dios  nino), 
wie  z.  B.  bei  Homs^  und  den  Gottleichnam,  wie  z.  B.  bei  Osiris 
und  Adonisy  angenommen  zu  haben.  Wollte  man  dies  nach  der 
Aristotelischen  Kegel:  ,Les  extremes  se  touchent^  erklären,  so 
hätte  man  ganz  ohne  Verstand  geurtheilt,  erstens  weil  das  Christen- 
thum  kein  Extrem  ist  und  zweitens  weil  auch  bei  den  ver- 
schiedenen Religionen  nicht  ein  Mehr  und  Minder,  d.  h. 
kein  blosses  Quantitätsyerhältniss  artbildend  werden  kann. 
Vielmehr  liegt  der  Grund  erstens  in  der  Geschichte,  sofern  das 
sich  ausbreitende  und  Völkern  und  Zeiten  anpassende  Christen- 
thum  wirklich  fremde  Elemente  aufnahm,  die  nicht  zu  seinem 
constitutiven  Wesen  gehören  und  zum  Theil  geradezu  wider  sein 
eigen  Wesen  streiten,  zum  Theil  aber  durch  Allegorie  assimilirt 
und  in  symbolische  Darstellungsformen  umgesetzt  werden  können. 
Der  zweite  Grund  ist  aber  merkwürdiger  und  eigenthümlicher; 
da  nämlich  die  älteste  Religion  von  projectivischer  Personification 
ausging,  indem  der  wirkliche  Sinn  und  Ursprung  des  Wesens- 
und  Substanz-Begriffs  bei  dem  ersten  Denken  der  Menschheit 
naiv  und  ungeschult  angewandt  wurde,  so  gelangte  im  Ghristen- 
thum  nach  der  Niederlage  der  falschen  materialistischen  und 
idealistischen  Metaphysik  das  wahre  und  reife  Denken  zum 
Durchbruch,  und  es  wurde  daher  die  Weltauffassung  historisch, 
und  der  Gott  erschien  wirklich  als  Mensch,  was  für  die  neue 
Metaphysik  ebenso  unentbehrlich,  wie  es  fQr  die  alte  wider- 
spruchsvoll ist.  Aus  diesem  Grunde  erklären  sich  nun  viele 
Analogien  zwischen  allen  den  ältesten  Mythologien  und  der  ein- 
zigen rein  geschichtlichen  Religion  des  Ghristenthums,  soweit 
nicht  blosse  Aufsaugung  und  Assimilation  stattfand.  Es  ist  hier 
aber  nicht  der  Ort,  dies  näher  auseinander  zu  setzen.  Ich  kehre 
deshalb  zur  Betrachtung  der  Furchtreligion  zurück;  denn  es 
kam  uns  nur  darauf  an  zu  verstehen,  wie  mit  psychologischer 
Nothwendigkeit  die  Analogie  mit  dem  Menschenleben  auch  für 
die  Dogmatik  dei'  Naturgötter  solche  Freudenfeste  der  als  Kind 
zu  Weihnachten  wiedergeborenen  Sonne  und  solche  leidenschaft- 
liche Trauerfeierlichkeiten  bei  dem  Tode  der  Götter  und  Göttinnen 
und  ähnliche  jährliche  auf  Emdte  von  Korn  und  Früchten  und 
Wein  bezügliche  Feste  mit  sich  bringen  musste.      ^     ^^^  GoOqIc 


142  Religion  der  Furcht. 

Da  diese  ganze  Religion,  von  der  wir  handeln, 

JDIg  Symbole« 

auf  die  Gefühle  von  Furcht  und  Hoffnung  aufgebaut 
ist,  so  kann  als  theologisches  Object  eigentlich  nur  die  lebendige 
mächtige  Persönlichkeit  gelten,  welche  als  Ursache  aller  uns 
treffenden  Wohl-  und  Wehethaten  angenommen  wird.  Da  diese 
Ursache  aber  nicht  durch  einen  wissenschaftlichen  Schluss  mit 
naturwissenschaftlicher  Methode,  wie  es  erforderlich  wäre,  rein- 
lich erbaut,  sondern  durch  blinde  und  uncontroUirte  Ideenassocia- 
tion  und  Phantasie  ausgestattet  wird,  so  mtlssen  viele  zufällige 
Umstände,  die  an  sich  gar  nicht  zu  den  Bedingungen  des  uns 
treffenden  Gltlcks  oder  üngltlcks  gehören,  nothwendig  zu  einer 
mit  Angst  geftlhlten  Bedeutung  anwachsen  und  nach  den  psycho- 
logischen Gesetzen  der  Erinnerung  mit  der  Vorstellung  von  Glück 
und  Unglttck  und  deshalb  auch  mit  der  theologischen  Annahme 
verschmelzen.  Es  ist  daher  ganz  in  der  Ordnung,  dass  sich 
allerlei  Symbole  der  Gottheit  bilden  werden,  indem  entweder 
die  Erscheinungsform  des  Gottes,  wie  der  Sonnendiskus,  oder 
das  Phantasiebild,  womit  wir  es  vergleichen,  wie  das  Auge,  oder 
irgend  eine  zufällige  Form,  die  uns  ängstigt,  wegen  der  Erin- 
nerung mit  dem  Gott  selbst  so  eng  verknüpft  wird,  dass  wir 
keinen  Unterschied  mehr  machen.  Es  ist  überhaupt  nicht  die 
Sache  der  Religion,  auf  deutliche  Unterscheidungen  und  klare 
Begriffe  auszugehen,  da  sie  nicht  Wissenschaft  zu  ihrem  Ziele 
hat,  sondern  dieselbe  nur  zur  Bezeichnung  der  persönlichen  Ge- 
sinnung benutzt.  Mithin  schiebt  sich  leicht  die  blinde  Ideen- 
association  an  die  Stelle  der  Erkenntniss,  und  so  wird  Götzen- 
dienst und  Bilderverehrung  eine  ihr  immer  nahe  liegende 
Gefahr,  und  es  ist  darum  z.  B.  ganz  erklärlich,  dass  noch  jetzt 
der  Leichnam  des  heiligen  Antonius  in  Padua  Wunder  thut  und 
dass  der  Stein  in  Mekka  göttliche  Kräfte  hat,  denn  wie  der 
Magnet  einen  Nagel  trägt,  der  wieder  durch  Mittheilung  der  ge- 
wonnenen Kraft  andere  und  wieder  andere  Eisentheile  anzieht, 
so  wird  auch  die  religiöse  Stimmung  durch  Ideenassociation  weit 
über  ihr  eigentliches  Object  fortgeftlhrt.  Wie  die  Thiere  mit 
einer  gewissen  Angst  oder  Freude  Kleidungsstücke  ihrer  Herren, 
den  Hut  oder  das  Halstuch  des  Jägers  beschnuppem  und  dann  mit 
dem  Schwänze  wedeln,  wie  die  Spatzen  den  Strohmann  fürchten 
und  wie  der  Verliebte  den  Handschuh  der  Geliebten  ktisst,  so 
wird   dem  Religiösen  alles  zum  Fetisch,    was    durch    Ideen- 

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Dogmatik.  143 

association  mit  dem  Gegenstande  seines  Glaubens  sieh  verknüpfen 
lässt,  und  es  ist  daher  natürlich,  dass  die  Menschen  sich  mit 
Apotropäen,  Talismanen,  Beliquien,  Götzenbildern  und 
allerlei  dahin  gehörigen  Schutzmitteln  umgeben  und  behängen. 
Statt  des  Blitzableiters  der  wissenschaftlichen  Menschen  dient 
hier  ein  Gmcifix  oder  ein  Bild  der  Jungfrau  Maria,  statt  Guano 
zu  streuen,  richten  sie  zu  unserm  Erstaunen  den  Priapus  in  den 
Feldern  auf  und  statt  die  wirthschaftlichen  Bedingungen  des 
Beichthums  zu  pflegen,  bewahren  sie  angstyoU  den  Heckerling 
im  Beutel 

Zusammenfassend  können  wir  also  sagen,  dass  das  theolo- 
gische Object  in  der  Beligion  der  Furcht  unmöglich  deutlich  be- 
stimmt werden  kann.  Es  wird  aber  immer  nach  der  Analogie 
mit  dem  persönlichen  Geist  des  Gläubigen  aufgefasst, 
und  wenn  der  Gott  auch,  wie  z.  B.  bei  den  Griechen,  als  Mensch, 
oder  wie  bei  den  Egyptem  oft  als  Thier,  oder  wie  bei  den  In- 
dem oft  gemischt  aus  Thier  und  Mensch  erscheint,  so  sind  diese 
Gestalten  doch  immer  nur  Erscheinungsformen;  denn  auch  hinter 
dem  Fetisch  muss  stets  das  eigentlich  Wirksame  als  ein  seiner 
Natur  nach  unbestimmbarer,  unsichtbarer  aber  mächtiger  Geist 
nach  Analogie  mit  dem  unsrigen  gedacht  werden. 


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Drittes  Capitel. 
Der  zngehörige  Cnltns. 


Mit  dem  Namen  Cnltiis  fassen  wir  alle  Handinngen  nnd  Be- 
wegungen, alles  psychische  und  physische  Thun  in  einem  Worte 
zusammen,  um  damit  die  specifische  Beaction  zu  bezeichnen, 
welche  das  religiöse  GeftLhl  (Ethik)  nnd  die  religiöse  Erkennt- 
niss  (Dogmatik)  in  der  dritten  Function  des  menschlichen  Geistes 
auslöst 

§  1.    Deduction  der  Princlpien  des  religiösen 
Handelns. 

Um  nun  diese  religiösen  Handlungen  zu  verstehen,  müssen 
wir  die  zugehörigen  Beweggründe  ableiten.  Wenn  wir  dem 
Menschen  die  Lage  geben,  dass  er  Schmerz  und  Schaden  bloss 
hinzunehmen  hätte,  ohne  dabei  an  eine  Ursache  zu  denken,  so 
könnte  er  zwar  convulsiyische  Bewegungen  und  allerlei  unver- 
nünftige Beactionen  in  Folge  des  in  ihm  erregten  Affekts  zur 
Aeusserung  bringen,  aber  keine  von  Vorstellungen '  geleiteten 
Handlungen  vollziehen.  Ebenso  würde  es  sich  verhalten,  wenn 
er  zwar  eine  Ursache,  also  einen  Bösen,  voraussetzte,  sich  jedoch 
vollständig  unfähig  ftlhlte,  die  Ursache  abzuändern  und  die 
Stimmung  des  Bösen  zu  wenden.  Diese  Lähmung  zur  That 
würde  natürlich  noch  vollständiger  sein,  wenn  der  leidende  und 
von  Gefahr  bedrohte  Mensch  die  Ursache  für  leblos  hielte  und 
sie  auf  allgemeine  Naturereignisse  zurückführte,  die  mit  ihm  und 
seinem  Schicksale  in  keinem  Zusammenhang  ständen,  so  dass 
das  Uebel  nicht  einmal  für  ihn  selbst  bestimmt  wäre. 

Nehmen  wir  nun  das  Gegentheil  dieser  Voraussetzungen  an, 
so  erhalten  wir  die  Principien  der  religiösen  Handlungen;  denn 
jede  Handlung  setzt  erstens  eine  Willensbestimmung,  d.  h.  ein 

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Der  zugehörige  Gultus.  145 

Gefühl  von  Leid  und  Lust,  voraus  und  zweitens  eine  Vorstellung, 
worin  die  Mittel,  dem  Leid  zu  steuern  oder  die  Lust  hervor- 
zubringen, vor  das  Bewusstsein  treten.  Da  nun  das  Gefühl  der 
Furcht  und  HofiEhung  uns  als  das  ethische  Motiv  der  Religion 
schon  gegeben  ist,  so  bleibt  bloss  die  Vorstellung  zu  be- 
stimmen. Für  diese  ist  aber  die  erste  Bedingung,  dass  wir 
unser  Leiden  auf  eine  Ursache  zurückführen,  die  uns  Leid  zu- 
fügen will.  Diese  Voraussetzung  ist  aber  die  natürlichste;  denn 
wie  das  Kind  und  jeder  unverständige  Mensch,  wenn  er  sich  ver- 
letzt oder  irgendwie  Schaden  leidet,  immer  anderen  Dingen  oder 
Menschen  die  Schuld  beimisst  und  gegen  sie  leicht  in  Groll, 
Hass  und  thätlichen  Zorn  tibergeht,  wie  schon  vorbildlich  der 
Hund  den  Stock  beisst,  den  man  ihm  entgegen  hält,  so  ist  es 
überhaupt  psychologisch  nothwendig,  dass  vor  der  wissenschaft- 
lichen Erkenntniss  der  Ursachen  immer  nach  mechanischer  Vor- 
stellungsverknüpfung das  erfahrene  Leid  mit  seinen  näheren  Um- 
ständen in  Beziehung  gesetzt  und  nach  der  natürlichen  Analogie 
mit  unserer  eigenen  Handlungsweise  auf  eine  bewusste  Ab- 
sicht uns  zu  verletzen,  zurückgeführt  wird. 

Die  zweite  Bedingung,  damit  Handlung  entstehe,  liegt  in 
der  Vorstellung  von  gewissen  Mitteln,  wodurch  wir  unserem 
Leide  abhelfen  können.  So  tödten  wir  die  Mücke,  die  uns  sticht, 
weil  wir  sie  erstens  als  Ursache  des  Schmerzes  erkennen  und 
zweitens  uns  auch  vorstellen,  dass  ein  Druck  oder  Schlag  mit 
der  Hand  geeignet  sei,  diese  Ursache  zu  vernichten. 

Wenn  dieses  nun  allgemeine  Principien  des  Handelns  sind, 
so  doch  noch  nicht  die  des  religiösen  Handelns;  denn  die  theo- 
logische Vorstellung  muss  uns  ja  eine  Ursache  zeigen,  die  an 
Macht  über  unsere  Kräfte  und  unsere  Erkenntniss  hinausgeht, 
derart,  dass  wir  sie  nicht  wie  unseres  Gleichen  betrachten  und 
uns  mit  ihr  nicht  in  einen  Ringkampf  einlassen  könnten.  Soll 
nun  dennoch  die  Möglichkeit  einer  Handlung  von  unserer  Seite 
vorgestellt  werden,  so  muss  sich  die  übermenschliche  Ursache  in 
einer  anderen  Weise  als  veränderlich  und  umstimmbar  denken 
lassen.  Hierfür  haben  wir  wieder  die  Analogie  in  uns,  da  wir 
uns  sehr  wohl  dessen  bewusst  sind,  was  in  unserem  Gemüthe 
vorgeht,  wenn  wir  einem  weit  unter  uns  Stehenden,  z.  B.  einem 
Kinde,  einem  Knechte,  einem  Bettler  und  dergL,  gegenüber  treten. 
Mithin  müssen  die  Principien  des  religiösen  Handelns,  d.  h.  des 

Telobmüller,  BeUglontplillosopbie.  10        C^OOqIc 


146  Religion  der  Furcht. 

Cultus,  nothwendig  von  demjenigen  Verhältniss  der  Menschen 
entlehnt  werden,  welches  am  Typischsten  in  dem  Verhältniss  des 
Knechtes  dem  Herrn  gegenüber  und  der  Unterthanen  und  der  Höf- 
linge dem  Despoten  und  Tyrannen  gegenüber  offenbar  wird. 


§  2.    Eintheilung  der  Arten  des  religiösea  Handelns. 

Die  Handlungen  des  Höflings  und  des  Religiösen  zielen  auf 
Zweierlei,  erstens  den  Zorn  des  gestrengen  oder  bösen  Herrn  zu 
besänftigen  und  zweitens  ihn  zur  Gewährung  gewisser  Güter, 
über  die  er  verfügt,  geneigt  zu  machen.  Das  erste  Ziel  wird 
uns  durch  die  Furcht,  das  zweite  durch  die  Hoflfeung  an  die 
Hand  gegeben. 

Das  erste  Ziel  suchen  die  Menschen  bei  Despoten 

dM  zomii  des  ^D^  Göttcm  dadurch  zu  erreichen,  dass  sie  entweder 

GotteR.      die  Eitelkeit  oder  das  Interesse  des  Herrn  in*8 

Spiel    bringen;    denn   beide   Gefühle  vertragen   sich    nicht    mit 

dem  Zorn. 

Die  Eitelkeit  wird  dadurch  erregt,  dass  die  aus- 
regung  Beiner  bündigstcu  Schmeicheleien  vorgetragen  werden;  also 
Eitelkeit,  durch  Preisen  (Hymnen)  aller  Vortrefflichkeiten  des 
Herrn,  durch  Hervorhebung  seiner  alles  übertreffenden  Macht, 
durch  Erzählen  seiner  grossen  Thaten,  durch  Anführung  aller 
Titel  seiner  Herrschaft,  seiner  Tempel,  seines  Keichthums.  Dieser 
auf  den  Herrn  bezogenen  Lobpreisung  ist  dann  zugeordnet  die 
Heruntersetzung  des  eigenen  Werthes  (7cpo(;x6v7]at(;).  Der  Höf- 
ling und  der  Gläubige  bezeichnet  sich  als  Gebundenen,' als 
Knecht  und  Sclaven,  als  einen  Schatten  und  ein  Nichts  dem  Herrn 
gegenüber;  er  wirft  sich  wie  ein  Gefangener  auf  die  Kniee;  er 
beugt,  wie  ein  ganz  Unwürdiger,  der  den  Herrn  nicht  ansehen 
darf,  ohne  zu  sterben,  das  Haupt;  er  wirft  sich  in  den  Staub 
und  berührt  mit  der  Stirne  die  Erde,  um  seine  gänzliche  Be- 
siegtheit und  Nichtigkeit,  seine  völlige  Niedergeschlagenheit  und 
Demuth  zu  bezeugen  u.  s.  w.  Es  ist  natürlich,  dass  man  einem 
Menschen  gegenüber,  der  unsre  Macht  so  bedingungslos  anerkennt 
und  seine  eigene  Widerstandslosigkeit  so  augenfällig  bekennt, 
keinen  Zorn  mehr  hegen  kann.  Der  Höfling  mag,  wenn  er  schlau 
ist,  diese  Mittel  als  List  anwenden,  ursprünglich  aber  ist  mit 
dieser  Handlungsweise   nur  das   wirkliche  Verhältniss   und   die 

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Der  zugehörige  Coltus.  147 

durch  Schicksalsschläge  in  Wahrheit  hervorgebrachte  Stimmung 
des  Leidenden  und  Besiegten  ausgedrückt,  dem  die  Furcht  ganz 
von  selbst  dieses  nützliche  und  erfolgreiche  Benehmen  an  die 
Hand  giebt  Dasselbe  Benehmen  dem  Gotte  gegenüber  hat  für 
den  Gläubigen  noch  den  weiteren  Vortheil,  dass  in  ihm  selbst 
dadurch  die  Furcht  allmählich  verschwindet,  weil  er  nach  der 
Analogie  eigener  Erfahrungen  die  Annehmlichkeit  seiner  Lob- 
preisungen und  Selbstdemüthigungen  nothwendig  fbhien  muss 
und  daher  eine  Beschwichtigung  des  Zorns  des  Herrn  hoffen  kann. 

Das  zweite  Mittel,  den  Zorn  des  Gottes  zu  be- 
sänftigen, besteht  in  der  Erregung  des  Interesses,  Erregung  seine« 
d.  h.  es  müssen  dem  Herrn  Vortheile  zugewendet  i»*«'«««»- 
werden,  an  denen  er  sich  freut,  weshalb  er  dann  von  seiner  Un- 
gnade zurückkommt  Denn  da  der  Gläubige  sich  den  Gott  nur 
nach  seiner  eigenen  Gemtlthsart  vorstellen  kann,  so  muss  er 
überzeugt  sein,  dass  der  Gott  auch  an  gewissen  Geschenken 
oder  Opfern  seine  Freude  habe.  Daher  werden  im  Allgemeinen 
als  Opfer  dergleichen  Dinge  dargebracht,  die  für  die  Gläubigen 
selbst  von  Werth  sind,  als  Hühner,  Tauben,  Schafe,  Binder,  oder 
auch  Früchte  und  Sclaven,  auch  die  eigenen  Kinder  und  dergl. 
Diese  Dinge  werden  in  der  Regel  verbrannt  oder  in  den  Fluss 
geworfen,  jenachdem  man  sich  den  Wohnort  des  Gottes  denkt, 
damit  er  an  dieselben  kommen  könne.  Wenn  sie  von  den  Gläu- 
bigen mit  verzehrt  werden,  so  liegt  offenbar  die  Vorstellung  zu 
Grunde,  dass  der  Gott  versöhnt  sei  und  wie  bei  Versöhnung  der 
menschliehen  Feinde  zu  einer  gemeinschaftlichen  Friedensmahl- 
zeit komme.  Alle  diese  Opfer  sind  nicht  nur  bei  dem  Cultus 
der  Wilden  bekannt,  wo  oft  Hunderte  von  Sclaven  für  den  Gott 
geschlachtet  werden,  sondern  es  ist  auch  aus  den  Sagen  der 
Hebräer  von  Abraham  und  Isaak  ersichtlich,  dass  die  Opferung 
der  Kinder  auch  bei  diesem  Volke  die  älteste  und  später  von 
ihrem  sittlichen  Bewusstsein  verworfene  Versöhnungsweise  des 
Gottes  war.  Bei  den  Phöniciem  aber  dauerte  die  Opferung  der 
Kinder  noch  in  der  römischen  Zeit  fort. 

Im  Allgemeinen  ist  anzunehmen,  dass  das  Interesse,  auf 
welches  der  Gläubige  rechnet,  wenn  er  sein  Opfer  darbringt, 
nicht  die  Habsucht  des  Gottes  ist,  sondern  die  Ess- oder  Fress- 
lust Aus  dem  ägjrptischen  Todtenbuch  kennen  wir  den  ftlr 
uns  nicht  sehr  anmuthenden  Ehrentitel   des  Gottes  „Fresser  von 

10*     CooctIp 

uiymzeu  uy  V^JV^V^pt  IV^ 


148  Religion  der  Furcht. 

Millionen^',  aber  aach  der  althebräische  Gott,  der  nicht  Todten- 
gott  ist,  mass  doch  ,,den  lieblichen  Gerach  vom  Brandopfer  des 
Noah  erst  riechen",  ehe  er  sich  entschliesst,  von  seiner  Ver- 
flnchung  der  Erde  und  Ton  seinem  Zorne  abzulassen.  So  sind 
auch  die  griechischen  Götter  sehr  ftlr  ihre  Mahlzeiten  interessirt 
und  der  Mensch  ist  ihnen  wichtig,  weil  er  durch  seine  Opfer 
ihnen  dergleichen  Geruchs-  und  Geschmacksgenüsse  verschafft.  In 
Greta  und  bei  einigen  andern  Culten  tritt  zwar  auch  die  Ge- 
schlechtslust des  Gottes  auf,  und  die  Götter  stellen  den  schönen 
Jungfrauen  und  Knaben  vielfältig  nach;  doch  darf  man  solche  Ge- 
schichten, die  wie  z.  B.  bei  Jo  und  Zeus  und  wie  bei  der  Jung- 
frau Maria  auch  in  höhere  und  in  die  höchste  und  wahre  Religion 
Eingang  gefunden  haben,  nicht  so  einfach  und  roh  abfertigen, 
sondern  muss  mit  höheren  Motiven  und  complicirteren  Vorstel- 
lungen rechnen,  auf  die  wir  weiter  unten  zurückkommen;  die  Lust 
an  dem  Essen  ist  aber  flir  den  Wilden  am  Natürlichsten.  Für 
den  Himmelsgott  ist  aus  diesem  Grunde  die  Verbrennung  der 
Opfer  angezeigt;  für  den  Wassergott  die  Ersäufung,  wie  z.  B. 
im  Ganges. 

Wenn  der  Gott  nun  durch  Loben  und  Schmeicheln 

'ävsere^Hoff-'  *^  sciucr  Eitelkeit  gefasst  und  durch  Opfer  in  seiner 

iioB«eii  s«  er-  Gcfrässigkeit  befriedigt  ist,  so  kann,  nach  Beseitigung 

reich«.!.      der  Furcht,  fllr  den  Gläubigen  die  Hoffnung  an  die 

Reihe  konunen. 

Um  die  Gegenstände  seiner  Wünsche  und  Be- 
•  ^*®  Gebete,  gj^^^^jj  y^^  j^^j  Qotte  ZU  erhalten,  wendet  der 
Gläubige  zwei  Mittel  an,  die  überall  bei  Menschen  im  Gebrauch 
stehen.  Das  erste  sind  die  Bitten.  Die  Selbstbeobachtung  und 
die  psychologische  Analyse  zeigen  nämlich,  dass  der  Mensch, 
wenn  er  satt,  zufrieden  und  ohne  Zorn  ist,  einem  Bittenden  gegen- 
über in  eine  unangenehme  Stimmung  kommt,  wenn  er  die  Bitte 
nicht  erfUUt,  während  umgekehrt  die  Gewährung  ein  angenehmes 
Gefahl  mit  sich  führt  Darum  ist  es  natürlich,  dass  der  Gläu- 
bige, wenn  er  den  Zorn  des  Gottes  beseitigt  und  ihn  durch  Fett- 
dämpfe und  andere  Genüsse  im  eine  behagliche  Stimmung 
gebracht  hat,  seine  Bitten  vorzutragen  den  Muth  findet  Dies 
ist  so  bekannt  und  so  allgemein  im  Gebrauch,  dass  ich 
gleich  zu  dem  etwas  verständlicheren  zweiten  Mittel  über- 
gehen kann. 

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Der  zugehörige  Gultus.  149 

Da  der  Gläubige  in  der  Religion  der  Furcht  mit 
einer  göttlichen  Persönlichkeit  zu  thun  hat,  die  ohne*''^**^^*''***- 
alle  Moralität  ist,  ebenso  wie  der  Gläubige  selbst  noch  zu  keinem 
sittlichen  und  gerechten  Leben  fortgeschritten  sein  kann,   so  ist 
es  natürlich,  dass  der  Mensch  auch  dem  Gott  gegenüber  gewisse 
Kniffe  anzuwenden  geneigt  ist    Nicht  bloss,  dass  er  versuchen 
wird,  ihn  bei  den  Opfern  zu  betrügen,  wie  dies  so  ausserordent- 
lich anschaulich  in  der  Prometheussage  überliefert  ist,   wie  es 
die    unzähligen   Contracte   mit  dem    Teufel  zeigen,    bei   denen 
dieser  geprellt  werden  soll,  und  wie  es  sich  noch  bei  den  Natural- 
lieferungen  der  Bauern  an  die  Kirche  findet,  wo  sicherlich  nie- 
mals das  Beste  geliefert  wird;   sondern  es  versteht  sich   auch, 
dass  jedes  Thier,  jeder  Mensch  und  also  auch  jeder  Gott  seine 
schwache  Seite  hat,  an  der  man  ihn  packen  kann.    Ein  Ele- 
phant  soll  sich  vor  der  Maus  fürchten,  ein  Löwe  vor  dem  Hahn*, 
viele  Thiere  fürchten  gewisse  Gerüche,   gewisse  Töne,   gewisse 
Bewegungen.    Da  nun  die  Aufinerksamkeit  im  natürlichen  Zu- 
stande der  Menschen  und  Thiere  niemals  allumfassend  ist,  son- 
dern immer  nur  die  auffallenden  Züge  eines  Objectes  berück- 
sichtigt,  so  müssen  sich  von  selbst  auch  für  den  Verkehr  der 
Personen  und  überhaupt  der  belebten  Wesen  untereinander  Ab- 
kürzungen  bilden,  indem   nach    ungefährer   Aehnlichkeit  mit 
gewissen  Merkmalen   des  Objects  Töne  nachgeahmt   oder  Ge- 
berden vorgezeigt  werden,  die  für  das  unbefangene  Bewnsstsein 
sofort  das  ganze  zugehörige  Object  in  die  Erinnerung  rufen  und 
die  zugehörigen  AflFekte  hervorbringen.    So  ruft*  der  Jäger  durch 
seinen  Lockton  den  Auerhahn  herbei,  der  nach  dem  blossen  un- 
gefähren Ton  schon  das  Weibchen  erwartet  und  wegen  seines 
Affekts   erlegt  wird.    Ebenso  können  namentlich  die  südlichen 
Völker  durch  Stellung  der  Finger,   indem  sie  in  der  rohesten 
Weise  gewisse  Theile  des  Körpers  nachbilden,  ein  Weib,  einen 
Mann  und  ganze  Handlungen  darstellen.    Es  ist  auch  bekannt, 
dass  Menschen,    indem    sie  ihr  Gesicht    fratzenhaft  verstellen, 
Kinder,   Weiber  und  viele  Männer  bis   zum    Tode   erschrecken 
können.    Es  zeigt  sich  daher,   dass  der  Mensch  durch   gewisse 
Zeichen  (Symbole)  eine  nicht  unbeträchtliche  Kraft  über  andere 
Menschen,  über  Thiere  und  also  nach  der  Analogie  auch  über 
die  Götter  hat.    Diese  Mittel  oder  Kniffe  heissen  nun  Zauber, 
und  sie  unterscheiden  sich  von  den  natürlichen  Ursachen  (caussae 


150  Eeligion  der  Furcfat 

efficientes)  dadurch,  dass  man  die  Wirkungsweise  des  Mittels 
nicht  einsehen  kann.  So  muss  man  ^^Sesam,  Sesam,  öffne  Dich^' 
rufen,  damit  der  Berg  gehorcht  und  sich  öffnet.  Wer  das  Wort 
des  Zauberers  vergessen  hat,  bringt  die  verzauberten  Besen  nicht 
wieder  zum  Stehen.  Jeder  Gott  liebt  bei  einem  bestimmten 
Namen  gerufen  zu  werden,  und  es  ist  gefährlich,  ihn  anders  zu 
nennen.  Ein  Dämon  kann  in  ein  Baumloch,  eine  Flasche  und 
dergleichen  gebannt  werden,  wenn  man  nur  drei  Kreuze  auf  den 
Pfropf  kritzelt.  Auf  bestimmte  Worte  oder  Formeln  oder  bei 
gewissen  Zeichen  muss  ein  Gott  erscheinen,  beim  Beiben  einer 
Lampe  uns  dienstwillig  werden,  beim  Drehen  eines  Binges  uns 
unsichtbar  machen  und  so  noch  tausenderlei. 

Aus  all  diesem  ergiebt  sich,  dass  der  Mensch  in  seinem  Ver- 
halten zu  Gott  auf  die  schwache  Seite  desselben  immer  ein 
Augenmerk  gerichtet  hat,  um  das  mächtige  und  übermenschliche 
Wesen  auf  irgend  eine  Weise  sich  unterthänig  und  willig  zu 
machen.  Man  nennt  diese  ganze  Gattung  von  Handlungsweisen 
Theurgie,  und  sie  findet  sich  deshalb  in  allen  Beligionen  der 
Furcht  und  als  grösseres  oder  geringeres  Element  auch  in  den 
höheren  Beligionen,  sofern  theils  Budimente  der  alten  Beligion 
darin  vorkommen,  theils  Bückfälle  in  dieselbe  geschehen,  was 
bei  der  Plebs  unter  den  Gläubigen  überall  eintreten  wird.  Je- 
nachdem  nun  der  Gott  als  bloss  in  einer  bestimmten  Beziehung 
mächtig,  oder  in  vielen  oder  in  allen  Gebieten  der  Natur  und 
des  Menschenlebens  gebietend  vorgestellt  wird,  kann  begreiflicher 
Weise  auch  die  theurgische  Praxis  verschiedene  Formen  an- 
nehmen. So  wird  der  Gott  Glaukos  im  Netz  gefangen  und  muss 
dann  weissagen  und  Schätze  zeigen,  ähnlich  wie  der  goldene 
Fisch  im  Volksmärchen,  durch  welches  die  alte  Beligion  noch 
abgespiegelt  wird.  Auch  im  alten  Testament  ist  das  Bingen 
Jacobs  mit  dem  Herrn  noch  ein  Echo  aus  dieser  Urzeit,  und 
das:  „ich  lasse  Dich  nicht,  Du  segnest  nuch  denn'',  muss  auf 
erhofften  Beichthum  gedeutet  werden,  obgleich  man  ja  diese  ein- 
fachen und  rohen  Verkehrsformen  des  Menschen  mit  Gott  für 
eine  höhere  Stufe  des  religiösen  Bewusstseins  auch  sehr  geist- 
reich allegorisch  umdeuten  und  befriedigend  benutzen  kann.  So 
lange  Moses  die  Hände  erhebt,  siegen  die  Kinder  Israel;  wenn 
er  sie  sinken  lässt,  die  Feinde.  Er  lässt  sich  deshalb,  um  Gott 
theurgisch  zu  leiten,  von  Anderen  unterstützen,  weil  seine  Muskel- 

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Der  sugehörige  Cultus.  151 

kraft  nicht  ausreicht,  die  zur  Bewältigung  des  Gottes  erforder- 
liche Manipulation  mit  den  Armen  allein  auszuführen.  Auch  im 
neuen  Testament  ist  von  der  Plebs  unter  den  Gläubigen  die 
Stelle:  ,,was  Ihr  bitten  werdet  in  meinem  Namen'^  u.  s.  w.  so 
missverstanden,  als  wenn  die  Anwendimg  des  Namens  Jesus  eine 
Zaubermacht  wäre,  ebenso  wie  später  auch  die  schöne  Sitte  der 
Bekreuzigung  vielfach  zu  einem  Zaubermittel  herabsank,  wo- 
durch man  sich  oder  andere  werthvolle  Dinge  vor  bösem  Ein- 
fluss  schützen  wollte.  In  unserem  Jahrhundert,  und  zwar  in  dem 
letzten  Jahrzehnt,  ist  die  Theurgie  besonders  in  einer  zeitge- 
mässen  Art  des  Gebets  wieder  lebendig  geworden.  Die  sogenannte 
Heilsarmee  nämlich  ordnet  bestimmte  Stunden  an  bestimmten 
Tagen  an,  in  welchen  womöglich  in  allen  Welttheilen  zu  gleicher 
Zeit  von  möglichst  Vielen  ein  und  dasselbe  Gebet  an  Gott  ge- 
richtet wird,  um  ihn  wie  einen  weltlichen  Fürsten  durch  ein 
Monstremeeting  zu  erschüttern  und  zur  Gewährung  willig  zu 
machen.  Diese  allzu  schlauen  Gläubigen  merken  nicht,  dass  sie 
einen  Kniff  des  rohesten  Aberglaubens,  der  in  das  tiefste  Heiden- 
thum  gehört,  gegen  ihren  allwissenden  Gott  in  Anwendung  bringen. 


§  3.    Das  Priesterthum. 

Die  Religion  hat  jeder  zunächst  für  sich,  weil  er  seine  Furcht 
für  sich  hat.  Es  ist  daher  die  Religion  und  die  Theologie  zu- 
nächst keine  Sache,  die  man  wie  ein  Phänomen  am  Himmel  oder 
auf  der  Erde  astronomisch  oder  physikalisch  allgemeinverständ- 
lich jedermann  zeigen  und  erklären  kann,  sondern  sie  ist  ihrer 
Natur  nach  subjectiv  wie  die  Gegenstände,  die  man  im  Traume 
selber  zwar  deutlich  sieht,  ohne  dass  man  sie  jedoch  einem 
anderen  zur  Anschauung  bringen  könnte.  Obgleich  aber  jeder 
seine  eigenen  Träume  hat,  so  ist  das  Träumen  selbst  doch  allen 
geroeinsam,  und  so  stellt  sieh  auch  bei  der  Religion  heraus,  dass 
trotz  aller  subjectiven  Verschiedenheiten  der  Veranlassung  und 
des  Inhalts  das  Geftlhl  der  Furcht  und  die  Beziehung  auf  eine 
übernatürliche  Ursache  doch  allgemein  ist.  Daher  ist  es  mög- 
lich, dass  die  Religion  (wie  oben  S.  133  erwähnt)  zunächst  auf 
die  ganze  Familie  übergeht  und  Hausreligion  wird,  dann  aber 
auch  einen  mehr  socialen  Charakter  gewinnt  und  auf  ein  ganzes 
Volk  ausgedehnt  werden  kann.    Eine  bestimmte  einzelne  Form 

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152  Religion  der  Furcht. 

der  Religion  der  Farcht  könnte  aber  niemals  Weltreligion  wer- 
den, weil  sich  überall  schon  Local-  und  Nationalreligionen  finden 
müssen,  die  sich  nur  von  einer  höheren,  nicht  aber  von  einer 
gleich  niedrig  stehenden  Beligion  überwinden  lassen. 

Da  es  nun  bei  der  Beligion  der  Furcht  ganz  besonders 
darauf  ankommt,  den  bösen  und  gefährlichen  Geist  zu  versöhnen 
oder  zu  bannen  oder  ihn  geneigt  zu  machen,  so  gehört  dazu 
erstens,  um  sich  die  Natur  und  die  Stimmung  und  Wirkungs- 
weise des  Gottes  vorzustellen,  eine  mehr  oder  weniger  beweg- 
liche Phantasie  und  Denkkraft  und  zweitens,  um  die  theurgische 
Praxis  auszuüben,  ein  mehr  oder  weniger  verschlagener  Geist 
Sobald  es  sich  aber  um  Unterschiede  der  Begabung  han- 
delt, so  werden  sofort  einige  Menschen  bemerkbar  werden,  welche 
die  zugehörigen  Eigenschaften  in  höherem  Grade,  als  die  übri- 
gen, besitzen,  und  darum  finden  sich  auch  überall  anerkannt 
die  Begenmacher,  Zauberer  und  Priester  vor. 

Die  auswärtige  ^^  ^^  Verstehen,  was  das  Priesterthum  in  der 
Angeiegenbeit  Meuschheit  bedeuten  will,  muss  man  sich  einmal  vor- 
inderReugion.g^^jj^j^  die  Beligiou  wärc  bloss,  wie  heute  die  be- 
schränkten Köpfe,  die  Bationalisten  und  Positivisten  annehmen, 
ein  moralisches  Verhältniss  in  uns  zwischen  unserer  Sinnlichkeit 
und  unserer  Vernunft  Dann  könnte  natürlich  ein  Priester  dabei 
keine  andere  Bolle  spielen,  als  wie  der  Arzt;  denn  wie  dieser 
unsere  körperlichen  Störungen  beseitigt  und  die  Functionen  zur 
Gesundheit  znrückflihrt,  so  würde  der  Priester  die  Furcht  und 
die  Leidenschaften  uns  ausreden  müssen,  um  wieder  ein  rahiges 
und  vernünftiges  Gleichgewicht  der  Seele  herzustellen.  Das  Thun 
des  Priesters  wäre  dann  also  nur  auf  den  Menschen  gerichtet 
als  auf  seinen  Patienten.  Damit  wäre  aber  nur  die  eine  Seite 
der  Beligion  verständlich  gemacht,  während  die  ganze  Geschichte 
der  Beligionen  uns  noch  auf  eine  andere  Seite  hinweist;  denn 
wie  der  Beligiöse  als  solcher  nicht  bloss  mit  sich  zu  thun  hat, 
sondern  mit  Gott,  so  sollte  auch  der  Priester  vor  allen  Dingen 
auf  den  Gott  wirken  und  diesen  befriedigen  und  versöhnen  oder 
zum  Dienste  willig  machen,  um  dementsprechend  dann  erst  das 
Gemüth  des  Menschen  zu  beruhigen.  Es  giebt  keine  Beligion, 
die  sich  bloss  auf  Moralität  zurückführen  liesse;  in  allen,  auch 
im  Christenthum,  ist  die  auswärtige  Angelegenheit,  das  Verhält- 

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Der  zugehörige  Cultus.  153 

nisB  zu  Gott  die  Hauptsache.     Wer   dies  nicht  versteht,  kann 
auch  die  Function  des  Priesters  nicht  begreifen. 

In  der  Religion  der  Furcht  tritt  natürlich  die  j^.^  Reugion 
Aufgabe  des  Priesters  auch  deutlich  hervor,  allein  bezieht  «ich  auf 
wegen  der  niedrigen  Stufe  dieser  Religion  nur  in  ^^^^Xt^^t 
einer  fratzenhaften  Erscheinung.  Denn  da  man  nur  auf  d»  Aiige- 
mit  Furcht  und  Hoffnung  hinblickt  auf  die  Gttter  "''*°** 
und  Uebel  des  Lebens,  auf  seine  Heerden,  ihre  Vermehrung,  ihre 
Milch,  auf  das  Wetter  und  den  Blitz,  auf  Krankheiten,  gefähr- 
liche Thiere,  auf  die  Feinde  u.  s.  w.,  so  wird  ein  Gott  unbe- 
stimmt als  Ursache  aller  gtlnstigen  oder  ungünstigen  Umstände 
in  diesem  grossen  Gebiete  des  menschlichen  Interesses  voraus- 
gesetzt. Dieser  Gott  aber  kann,  weil  jene  Umstände  nur  acci- 
dentell  mit  dem  Weltlauf  zusammenhängen,  in  seinem  Wesen 
nicht  bestimmt  werden;  denn  das  Einzelne,  z.  B.  dass  jetzt 
Dieser  oder  Jener  krank  wird  oder  stirbt,  lässt  sich  nicht  auf 
ein  allgemeines  Gesetz  des  Charakters  Gottes  zurückführen.  Nur 
das  Allgemeine  geht  auf  ein  Allgemeines  zurück,  und  mithin 
löst  die  Naturwissenschaft,  welche  die  allgemeinen  Gesetze  findet, 
nur  die  Frage,  wie  es  im  Allgemeinen  oder  durchschnittlich  in 
der  sinnlichen  Welt  zugeht.  Die  Religion  hat  aber  mit  dem 
Einzelnen  zu  thun,  warum  dieser  oder  Jener  jetzt  von  einer 
Seuche  befallen  wird  und  sterben  muss  und  nicht  ein  Anderer. 
Dies  kann  deshalb  auch  nur  auf  etwas  Einzelnes  und  Acciden- 
telles  in  der  Ursache  zurückgeführt  werden;  es  hat  einen 
historischen  und  keinen  allgemein  wissenschaftlichen  Grund,  da 
das  Einzelne  wegen  der  unübersehbaren  Gomplication  von  der 
Wissenschaft  nicht  berücksichtigt  werden  kann,  sondern  nur  als 
eine  zufällige  Anwendung  der  allgemeinen  Ordnung  erscheint. 
Denn  wenn  man  auch  weiss,  dass  der  Blitz  tödten  kann,  so  folgt 
daraus  doch  nicht  die  Einsicht,  dass  und  warum  jetzt  gerade 
dieser  Mensch,  der  mein  Sohn,  mein  Vater,  oder  mein  Freund 
oder  Feind  ist,  getroffen  und  getödtet  wird.  Für  die  reifgewor- 
dene Philosophie  liegt  die  Erklärung  in  einer  alles  Individuelle 
verwerthenden  Weltökonomie,  die  ich  das  technische  System 
der  Welt  nenne ;  in  dem  früheren  Idealismus  Hegers  und  Platon's 
und  in  dem  Materialismus  aber  musste  man,  wegen  der  unwissen- 
schaftlichen Auffassung  der  Materie  und  des  Geschehens,  daftlr 
den  Zufall  der  Verkettung  der  Dinge  in  Anspruch  nehmen;  die 

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154  Beligion  der  Furclit. 

primitive  Religion  der  Furcht  aber  kann  die  Ursache  nur  in  der 
Laune,  d.  h.  in  der  unberechenbaren  Willensbestimmung  eines 
Gottes  suchen. 

Hierdurch  lassen  sich  die  ^beiden  Aufgaben  des 

des  Priestern:  Pricsters  bestimmen,  die  wir  jetzt  festzustellen  haben. 

die  Erkennt-  Von  ciucr  Thcologic  in  wissenschaftlichem  Sinne  kann 
in  der  Religion  der  Furcht  nicht  die  Rede  sein,  son- 
dern es  dreht  sich  alles  um  die  Erforschung  der  zeitweiligen 
Launen  und  zufälligen  Absichten  des  Gottes.  Da  das  Einzelne 
aber  immer  durch  das  Allgemeine  erkannt  wird,  so  konnten  nur 
diejenigen  zu  Priestern  werden,  welche  die  grösste  Erfahr ungs- 
erkenntniss  besassen  und  aus  der  Beobachtung  der  Sterne  und 
Wolken,  aus  dem  Vogelflug  und  dem  Verhalten  der  Thiere  zu 
einer  Voraussagung  der  nächsten  Zukunft  in  Bezug  auf  das 
Wetter  befähigt  waren,  d.  h,  die  angehenden  Meteorologen  und 
Astrologen-,  nur  diese  konnten  weissagen  und  wurden  Wetter- 
macher.  Ebenso  konnten  nur  durch  Erfahrungen  im  Gebiete 
der  Heilkräfte  der  Pflanzen  und  der  Gifte  die  sogenannten  Me- 
dicinmänner  hervorgehen.  Da  diese  Erfahrungserkenntniss 
aber  ohne  Einsicht  in  den  Zusammenhang,  der  ja  noch  nicht 
wissenschaftlich  festgestellt  war,  nothwendig  allerlei  Accidentelles^ 
d.  h.  zufällige  Umstände  bei  der  Beobachtung  der  Thatsachen 
mit  aufnehmen  musste,  so  war  es  ganz  in  der  Ordnung,  dass 
die  Priester  dieser  Religion  eine  so  grosse  und  mannigfaltige 
Summe  von  Albernheiten  und  Hokus-Pokus  in  ihre  Erkenntniss 
sowohl,  als  in  die  Mittheilung  derselben  einmischten.  Denn 
weder  war  ihre  Erkenntniss  ihnen  selbst  rein  und  gewiss,  noch 
durften  sie  hoffen,  ohne  solche  geheimnissvolle  und  unverständ- 
liche Einhüllung  mit  ihren  geringen  und  unsicheren  Beobachtung 
gen  grossen  Eindruck  bei  den  Gläubigen  zu  machen. 

Die  Erklärung  der  abergläubischen  Gebräuche  in  dieser  Re- 
ligion kann  speculativ  nicht  auf  die  Einzelheiten  ausgedehnt 
werden;  diese  entziehen  sich  sogar  auch  fast  überall  der  empiri- 
schen Erklärung,  da  ihre  Entstehung  in  die  ersten  Anfänge 
menschlicher  Cultur  zurückgeht,  wo  weder  Bewusstsein  des 
Thuns,  noch  bestimmte  Absicht  vorausgesetzt  werden  darf.  Gleich- 
wohl kann  und  muss  das  Princip  für  b1\^  diese  Dinge  einer  spe- 
culativen  Ableitung  fähig  sein.  Und  zwar  liegt  das  Princip  in 
zwei  Coordinationssystemen,  welche  die  Aufgabe  des  Priesters 

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Der  zugehörige  Coltus.  155 

bestimmen  und  von  denen  das  Eine  die  Entstehung  der  Er- 
kenntniss  in  dem  Priester,  das  zweite  die  Mittfaeilung  an 
die  Gläubigen  betrifft. 

Die  Frage  nach  der  Entstehung  der  religiösen  Erkenntniss 
führt  uns  den  besser  begabten  Gläubigen  vor,  der  die  für  die 
Menschen  wichtigen  Lebensereignisse,  bei  denen  sich  Furcht  und 
Hoffnung  stärker  regen,  klug  beobachtet  und  in  Erinnerung  be- 
hält Er  konnte  als  wissenschaftlich  Ungebildeter  den  Zusam- 
menhang Ton  Ursache  und  Wirkung,  von  Naturgesetz  und  An- 
wendung nicht  erkennen;  er  beobachtete  aber  das  zeitliche  Nach- 
einander der  Vorgänge.  Darum  musste  er  das  blosse  Vorher 
mit  der  Ursache  verwechseln  und  konnte  die  nebensächlichen 
Umstände  nicht  eliminiren.  Flog  deshalb  gerade  ein  Adler  auf, 
als  kurz  nachher  eine  Kriegsthat  glücklich  ablief,  so  war  es 
natürlich,  dass  an  diesen  nebensächlichen  Umstand  des  Anblicks 
eines  in  der  Segel  siegreichen  und  starken  Raubvogels  nun  später 
das  Gelingen  eines  Unternehmens  geknüpft  wurde.  Denn  da 
nicht  bloss  objectiv  die  Thatsachen  in  die  Augen  traten,  sondern 
mit  ihnen  sofort  wegen  des  Motivs  der  Furcht  die  Vorstellungen 
von  Göttern  sich  verflochten,  deren  Absichten,  Launen,  Zorn, 
Hass  und  Neid  in  die  zui&lligen  Nebenerscheinungen  durch  die 
Phantasie  verwoben  wurden,  so  musste  bei  der  Erinnerung  nun 
die  subjective  Zuthat  einerseits  und  das  Wesentliche  und  Neben- 
sächliche des  Geschehens  andererseits  in  einem  unentwirrbaren 
Durcheinander  sich  dem  Bewusstsein  darbieten,  wie  dies  heut- 
zutage noch  ebenso  die  psychologische  Analyse  bei  Kindern  und 
Ungebildeten  überall  und  immer  nachweisen  kann,  weshalb  diese 
Erklärung  wissenschaftliche  Gewissheit  besitzt. 

Das    zweite    Goordinationssystem    betrifft    den  zweiie  Aufgabe 
Priester  und  den  Gläubigen.    Der  Gläubige  ist  von  ^^  Prieete«: 
Furcht  erfüllt  über  die  Ereignisse  seines  Lebens  oder  ».  verkehr  mit 
die  Schicksale  seines  Stammes  und  hat  mithin  das     ^®™  ^°"- 
Bedürfhiss,  von   seiner  Furcht  befreit  oder  erlöst  zu   werden. 
Da  er  aber  den  Grund  seines  Unglücks  in  den  erzürnten   Göt- 
tern sieht,  so  verlangt  er  eine  Beschwichtigung  und  Versöhnung 
der  Götter.     Zweitens  steht  der  Gläubige  vorwärtsblickend  vor 
der  Zukunft,  in  welcher  er  dies  oder  das,   was  flir  ihn  von  der 
grössten  Wichtigkeit  ist,  zu  thun  oder  zu  leiden  hat.     Er  ver- 
langt von  dem   kundigen  Priester  eine  Berathung   und  Weis- 

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156  Religion  der  Furcht. 

sagung,  damit  er  möglichst  ohne  Besorgniss  oder  mit  froher  und 
stärkender  Hofihung  an's  Werk  gehen  könne.  Da  aber  das  Zu- 
künftige von  dem  Einflasse  der  geheimen  und  viel  mächtigeren 
Gespenster  und  Götter  abhängt,  so  verlangt  er  vom  Priester, 
dass  dieser  durch  seine  Künste  die  Götter  banne  oder  geneigt 
und  hülfreich  mache.  Mithin  ist  die  Einwirkung  des  Priesters 
auf  den  Gläubigen  inmier  an  einen  Umweg  gebunden,  da  es  sich 
in  beiden  Fällen  immer  zunächst  um  eine  auswärtige  Angelegen- 
heit, um  einen  Verkehr  mit  dem  Gotte  dreht,  welcher  pacificirt, 
befragt  und  herbeigerufen  werden  muss.  Weil  dieser  Gott  aber 
nicht  bestimmt  erkannt  werden  kann,  sondern  nur,  wie  gezeigt, 
durch  eine  ungeordnete  Ideenassociation  mit  allerhand  zufalligen 
Erscheinungen  verwoben  ist,  so  folgt,  dass  der  Gläubige  von  dem 
Priester  nur  richtig  behandelt  wird,  wenn  er  durch  allerhand  ge- 
heime und  abenteuerliche  Gebräuche,  die  er  nicht  begreift,  aber 
auf  einen  Verkehr  desselben  mit  der  gegenwärtigen  Gottheit  be- 
zieht, zuerst  selbst  in  Schrecken  versetzt  wird,  um  dann  später 
die  Entscheidung  des  Priesters,  die  er  ftlr  das  Resultat  des 
Kampfes,  der  Beschwörung  oder  Bestechung  des  Gottes  ansieht, 
willig  anzunehmen.  Wenn  unseren  modernen  Reisenden  die 
immer  grässlichen  Verunstaltungen  des  Gesichtes  der  Priester 
der  Wilden  und  ihre  abenteuerliche  Kleidung,  sowie  ihre  grotes- 
ken Tänze  und  wilden  Bewegungen  lächerlich  erscheinen,  so 
haben  sie  den  wahren  Zusammenhang  nicht  verstanden  und  sich 
nicht  recht  in  das  Gemüth  der  wilden  Gläubigen  hineinversetzt; 
denn  fllr  diese  ist  es  durchaus  nothwendig,  einen  Vorgang  an- 
zusehen, der  sich  auf  einen  unsichtbar  gegenwärtigen  Partner 
bezieht  und  deshalb  einerseits  ihnen  immer  unverständlich  sein 
muss,  andererseits  ihnen  Furcht  oder  Vertrauen  erweckt,  da  sie 
aus  den  Bewegungen  des  Priesters  und  dem  endlichen  Ausgang 
seines  Ritus  inunerfort  auf  die  jeweilige  Stellung,  das  Vorwärts- 
dringen oder  Zurückweichen  des  bösen  Geistes  schliessen  müssen. 
Ohne  die  heftigsten  Zuckungen,  Seh  weiss  und  Zittern,  Stöhnen 
und  Ringen  konnte  selbst  bei  den  klugen  Griechen  die  Sibylle 
keine  OflFenbarung  von  dem  Gotte  erlangen,  der  von  ihr  Besitz 
nahm.  Die  Rudimente  dieser  Vorstellung  vom  Priester  sind  noch 
in  imseren  civilisirten  Religionen  darin  zu  erkennen,  dass  der 
Priester  in  der  Regel  ein  von  der  herrschenden  Tracht  des  Volkes 
völlig  abweichendes  Costüm  anziehen  und  verschiedene  symbo- 

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Der  Zugehörige  Cultus.  157 

lische  Bewegungen  ausführen  muss,  in  denen,  wie  oft  auch  in 
dem  Gebrauch  einer  fremden  Sprache  (lateinisch  oder  hebräisch) 
eine  geheimnissvoUe  Bedeutung  geachtet  und  ein  auswärtiger 
£influss  geglaubt  wird. 

Kommen  die  Menschen  aber  selbst  durch  weitere  Cultur- 
entwickelung  in  eine  ruhigere  und  friedlichere  Stimmung,  so 
brauchen  sie  nicht  mehr  in  einen  Ringkampf  mit  dem  herbeige- 
rufenen Gotte  sich  einzulassen,  und  er  verlangt  von  ihnen 
auch  keine  wilden  Metzeleien  der  Gefangenen  mehr  und  ver- 
schmäht die  Verbrennung  ihrer  Kinder  und  anderes  Grässliche. 
Durch  ruhige  Darbringung  ihrer  Geschenke,  die  sie  als  Tribut 
dem  anerkannten  Herrscher  zahlen  müssen,  und  durch  Beobach- 
tung der  geheimen  Zeichen,  woran  der  Priester  das  Wohlgefallen 
oder  Missfallen  des  Herrn  über  die  Gabe  erkennt,  wird  der  Gott 
versöhnt  und  befragt,  indem  dem  Priester  nur  die  Herbeirufung 
des  Gottes  und  seine  Beschwörung  durch  feierliche  Hymnen  oder 
geheime  Worte  zukommt,  wie  auch  die  Deutung  des  Erfolges 
und  die  Prognose  der  Zukunft.  Da  ihm  vor  Allem  die  Ueber- 
mittelung  des  Opfers  an  den  Gott  zukommt,  so  hat  er  auch  über 
die  den  Andern  nicht  erkennbare  Stimmung  und  Gesinnung  des 
Gottes  zu  orakeln. 

Wir  sahen,  dass  in  erster  Linie  der  Priester  nicht 
mit  den  Gläubigen,   sondern  mit  dem  Gotte  zu  thun  sehe  ßThMä- 
hat.    In  zweiter  Linie  aber  steht  dieser  Verkehr  mit  '"°8  ^^^  ^'"- 
den  unsichtbaren  Geistern  doch  immer  auch  in  Coor- 
dination  mit  den  Gemüthem  und  Vorstellungen   der  Gläubigen. 
Es  fragt  sich  darum,  was  die  Gläubigen  durch   die  Kunst  der 
Priester  gewinnen  sollen.    Dies  ist  leicht  einzutheilen;   denn  es 
dreht  sich  nothwendig  um  eine  Beschwörung  ihrer  Affekte   und 
um  eine  Erkenntniss  der  Zukunft  zur  Leitung  ihrer  Handlungen. 

Was  zunächst  die  Beruhigung  der  Affekte  betrifft, 

,,.T^,         ,  .         1  T^.   ,.  ^  ,.«•  DieBemhi- 

80  habe  ich  darüber  m  dem  Bishengen  schon  die  gang. 
nöthigen  Beziehungspunkte  hervorgehoben;  denn  der 
Priester  muss,  da  die  Affekte,  d.  h.  Furcht  und  Hoffnung,  von 
den  Vorstellungen  über  die  göttlichen  Geister  und  ihre  Stim- 
mung abhängen,  nothwendig  eine  Psychagogie  verstehen  und 
ausüben.  Wenn  es  ihm  gelingt,  durch  seine  gottesdienstliche 
Kunst  dem  Gläubigen  gewissermassen  vor  Augen  zu  stellen,  wie 
der  herbeigerufene  Gott  zuerst  wild  auftritt  und  dem  ringenden 

uiyiiizeu  uy  V^jOOv  IC 


158  Religion  der  Fiircht. 

Priester  die  grösste  Mühe  und  Angst  macht,  nachher  aber  sich 
bannen  lässt  oder  freundlich  wird,  so  geht  der  Gläubige  in  fort- 
währender Sympathie  mit  dem  Cultus  von  seinen  Angstgeftlhlen 
zur  Ruhe  über,  und  die  Beruhigung  des  Gottes  ist  auch  seine 
eigene  Beruhigung.  Wird  von  dem  Priester,  der  sich  selbst  nicht 
vergisst,  ein  bestimmtes  Opfer,  zu  hinterlegende  Geschenke» 
Speise,  Opferung  von  Menschen  und  Thieren  u.  dergl.  verlangt, 
so  beruhigt  sich  der  Gläubige,  wenn  er  diese  Opfer  gebracht 
hat.  Der  kluge  Priester  wird  es  den  Gläubigen  niemals  zu 
leicht  machen,  zum  Frieden  zu  kommen;  denn  da  der  Gott  in 
genauem  Spiegelbild  alle  die  Gemtithseigenschaften  der  Menschen, 
und  zwar  besonders  der  in  der  Gesellschaft  vorherrschenden  be- 
sitzt, so  wird  der  Gott  auch  noth wendig  mit  keiner  anderen 
Versöhnungsweise  zufrieden  sein,  als  wodurch  die  Gläubigen 
selbst  zufrieden  sein  würden.  Indem  der  Gläubige  dies  vollkom- 
men einsieht  und  zuversichtlich  anninunt,  so  wird  er  auch  (wenn 
der  Gott  nicht  hintergangen  werden  kann,  was  natürlich  lieber 
gesehen  wird)  mit  den  darzubringenden  Opfern  sich  selber  be- 
ruhigen. Darum  kann  man  aus  der  Grösse  oder  Kleinheit  der 
Opfer,  wie  wir  dies  z.  B.  noch  so  deutlich  und  bestimmt  in  dem 
Leviticus  verzeichnet  sehen,  einen  sicheren  Schluss  auf  die  Ge- 
müthsart  der  Menschen  machen  und  erkennen,  wie  leicht  oder 
wie  schwer  sie  die  ihnen  widerfahrenen  Unbilden  ertrugen,  da 
diese  an  den  coordinirten  Opfergaben,  wie  Tauben,  Lamm,  Ochs 
u.  s.  w.,  ihr  Mass  finden,  das  sich  schliesslich  auf  einen  bestimmten 
Geldwerth  zurückflihren  lässt. 

Der  Gläubige  will  aber  nicht  bloss  beruhigt  wer- 
p.  Dt»  Orakel.  ^^^^  sondcm  auch  einen  bestimmten  Rath  empfangen. 
Die  drohenden  Ereignisse  des  Lebens  haben  ihn  erschreckt;  er 
erkennt  die  Gefährlichkeit  Gottes  und  vermuthet,  dass  demselben 
gewiss  diese  oder  jene  Thaten  missfiillig  gewesen  sind.  Davor 
muss  man  sich  also  in  Zukunft  hüten,  um  nicht  seinen  Zorn  zu 
erregen,  und  es  ist  vor  Allem  wichtig  zu  wissen,  welche  Hand- 
lungsweise seinen  Beifall  oder  seine  Unterstützung  und  daher 
eine  glückliche  Vollendung  finden  könnte. 

Es  dreht  sich  also  vor  Allem  um  die  Unterscheidung 
unseres  Thuns  in  gottwohlgefälliges  und  gottmissfäl- 
liges.  Nun  ist  aber  dieser  Unterschied  durch  keine  Wissenschaft 
en'cichbar ;  denn  die  Wissenschaft  stellt  Allgemeines  fest  und  kommt 

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Der  zugehörige  Cultus.  159 

auf  überall  und  immer  gültige  Gesetze.  Davon  kann  hier  keine 
Kede  sein,  einmal,  weil  es  im  Anfange  der  Cultur  keine  ausge- 
bildete und  sichere  Naturwissenschaft  gab,  und  zweitens,  weil, 
auch  wenn  es  dergleichen  gegeben  hätte,  dadurch  doch  das  ein- 
zelne Ereigniss  nicht  hätte  festgestellt  werden  können.  Der 
Gläubige  will  wissen,  ob  dies  oder  das  den  Göttern  gefallen, 
ob  sein  Fischfang  gerathen,  ob  es  ihm  gelingen  wird,  seinen 
Feind  zu  überfallen  und  zu  tödten,  ob  die  Krankheit  seiner  Kuh 
Yon  dem  bucklichten  Kerl  mit  den  bösen  Augen  herrührt,  ob  sein 
Stamm  in  diesem  Kriegszuge  siegen  wird  u.  s.  w.  Für  solche 
Einzelheiten  giebt  es  keine  Wissenschaft;  der  Mensch  hat  aber 
nothwendig  das  Bedürfniss,  eine  Antwort  auf  solche  für  ihn  prak- 
tische Fragen  zu  erlangen.  Wenn  es  nun  schon  eine  Ethik 
und  Rechtslehre  gäbe,  so  könnte  der  Gläubige  sein  Thun  aus 
allgemeinen  Gesetzen  regeln.  Da  dergleichen  aber  noch  nicht 
vorhanden  ist,  so  kann  die  Antwort  auch  nur  durch  ein  Einzel- 
urtheil  abgegeben  werden,  und  dies  ist  das  Wesen  des  Orakels. 
Es  fragt  sich  nun,  woher  der  Priester  sein  Orakel  schöpfen 
könne,  d.  h.  woher  er  wisse,  welche  Handlungen  dem  gefähr- 
lichen Dämon  gefallen,  und  welche  ihm  missfallen  Verden,  oder 
was  dasselbe  ist,  welche  Ereignisse  nach  Wunsch  ausfallen  und 
welche  missrathen  werden.  Die  Frage  scheint  schwierig  zu  lösen, 
und  es  ist  auch  so,  wenn  man  nämlich  voraussetzt',  dass  der 
Orakelnde  wirklich  die  Erkenntniss  und  Wissenschaft  des  Ver- 
borgenen und  Zukünftigen  besässe.  Wenn  man  aber  diese  Vor- 
aussetzung als  den  Thatsachen  widersprechend  fallen  lässt,  so 
ist  es  schon  leichter  zu  sagen,  woher  er  zu  einem  Resultat  über- 
haupt kommen  kann.  Bei  allen  Einzeldingen  dreht  es  sich  näm- 
lich um  Verkettung  des  Geschehens  nach  der  wirkenden  Ur- 
sache. In  diesem  Gebiete  hat  derjenige,  welcher  der  Schlauste 
und  Scharfsinnigste  ist  und  die  meiste  Erfahrung  besitzt,  den 
Vorzug  vor  allen  Andern.  Wenn  einer  also  z.  B.  durch  eigene 
Anschauung  oder  durch  Bericht  von  Kundigen  genau  weiss,  wie 
gross  die  Zahl  der  Feinde  ist,  wer  sie  ftlhrt,  ob  sie  gute  Waffen 
und  Nahrungsmittel  haben^  ob  sie  von  Muth  oder  Furcht  erfüllt 
sind  u.  s.  w.,  und  andererseits  dieselbe  Kenntniss  von  seinen 
Stammgenossen  hat,  so  kann  er  schon  ein  ziemlich  sicheres  Orakel 
abgeben.  Kennt  einer  auch  die  sämmtlichen  Zugehörigen  eines 
Gaues,  so  kann  er  mit  einer  gewissen  Menschenkenntniss,  vor- 

uiumzeu  uy  V^J  v^\J>t  l^ 


160  Religion  der  Fm-cht. 

Züglich  wenn  er  noch  manche  Einzelnheiten  erfahren  hat,  etwa 
80  sicher,  wie  unsere  Geschworenen  sagen,  dass  Dieser  oder 
Jener  den  fraglichen  Mord  oder  Diebstahl  verübt  habe.  Das 
Orakel  beruht  also  auf  Analogien  der  Erfahrung  und  Con- 
jecturen. 

Es  ist  daher  natürlich,  dass  in  den  Religionen  der  Furcht 
überall  die  Priester  in  Ansehen  kommen;  obgleich  es  sich  auch 
ebenso  erklären  lässt,  dass  sie  oft  nicht  bloss  gehasst,  sondern 
auch  verachtet  und  misshandelt  werden.  Es  muss  sich  nämlich 
herausstellen,  dass  ihre  Weissagungen  oft  nicht  eintreffen,  und  dass 
sie  Unschuldige,  die  ihnen  feind  sind,  beschuldigen,  um  sich 
ihrer  zu  entledigen,  dass  sie  bestochen  werden,  dass  sie,  um  den 
Schein  der  Erfüllung  ihrer  Orakel  zu  erzeugen,  eine  Menge  Be- 
trügereien ausüben  u.  dergl.  Mithin  ist  es  unmöglich,  dass  das 
Friesterthum  der  Religion  der  Furcht  jemals  eine  ungetheilte 
Achtung  geniesst.  Gleichwohl  konnten  und  können  die  rohen 
Völker  auch  niemals  diesen  Stand  der  Wettermacher  und  Zau- 
berer entbehren,  weil  nothwendig  die  Erfahrung  und  die  Schlau- 
heit da  geschätzt  sein  muss,  wo  sich  alles  um  Furcht  und  Hoff- 
nung dreht  und  das  höchste  Interesse  in  dem  glücklichen  oder 
unglücklichen  Ausgange  der  Dinge  liegt 

Wollte  man  gegen  meine  Deductionen  einwenden,  dass  doch 
bei  den  hochgebildeten  Völkern  in  Aegypten,  Kleinasien,  Hellas 
und  Italien  die  Orakel  eine  grossartige  und  selbst  von  fremden 
Völkern  befragte  und  reich  beschenkte  Autorität  bildeten,  die 
einen  Vergleich  mit  dem  Fabst  in  Rom  gestatte,  so  muss  ich 
auf  eine  Täuschung  des  Urtheils  aufmerksam  machen.  Jene 
Orakel  gehören  nämlich  zur  Hälfte  nur  der  reinen  Religion  der 
Furcht  an,  der  andern  Hälfte  nach  aber  schon  der  folgenden 
Religion  des  Rechts,  da  sie  eine  Menge  sittlicher  Gedanken  auf- 
nehmen. Sofern  sie  aber  ihre  Antworten  nicht  bloss  aus  allge- 
mein sittlichen  Motiven  ableiten,  sondern  auch  das  Zukünftige 
und  Verborgene  errathen  wollen,  soweit  haben  sie  das  zugehörige 
Element  aus  der  Religion  der  Furcht  eingemischt;  und  dieses 
eingemischte  Element  ist  es,  welches  ihnen  den  Todesstoss  ver- 
setzte, als  die  Völker  gebildeter  und  sittlicher  wurden. 


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Der  zugehörige  Gultus.  161 

§  4.  Die  Inspiration. 
Wenn  ich  nun  als  Erkenntnissquellen  flir  die  Orakel  der 
Priester  Erfahrung  und  Schlauheit  angegeben  habe,  so  könnte 
man  mir  entgegnen,  dass  doch  in  der  That  diese  Quellen  nie- 
mals als  Gründe  von  den  Priestern  angeführt  werden  und  dass 
auch  die  Gläubigen  in  den  Priestern  eine  höhere  Autorität  an- 
erkennen, als  sie  bloss  verständigen  Conjecturen  zukommen  dtlrfte; 
denn  sonst  würden  die  Gläubigen  sich  über  die  Gründe  der  Con- 
jecturen Bechenschaft  geben  lassen  und  mit  den  Priestern  deli- 
beriren  und  debattiren;  kurz,  es  würde  auch  nicht  entfernt  so 
etwas,  wie  ein  Orakel,  herauskommen. 

Dieser  Einwand  wäre  sehr  überzeugend,  wenn  ^  unbewnB8t- 
nicht  dabei  zwei  der  wichtigsten  Umstände  vergessen  heitdeaseeien- 
wären,  nämlich  erstens,  dass  unser  Seelenleben  im  ^''^^"''* 
Anfang  seiner  Entwickelung  (noch  heute  und  also  auch  im  Alter- 
thum  der  Völker)  immer  unbewusst  functionirt  Die  Priester  so 
wenig,  wie  die  Gläubigen,  waren  sich  darüber  klar,  vrie  ihre 
Seele  zu  ihren  Annahmen  und  Ueberzeugungen  kam.  Wenn  wir 
deshalb  jetzt  mit  ausgebildeter  Psychologie  und  Logik  den  Er- 
kenntnissprocess  wissenschaftlich  classificiren  können,  so  folgt 
daraus  nicht,  dass  auch  die  Urzeit  darüber  ein  Bewusstsein  ge- 
habt hätte.  Uebrigens  sehen  wir,  dass,  wo  in  politischen  und 
militärischen  Unternehmungen  irgend  ein  Anderer,  z.  B.  ein  Fürst, 
selbst  Erfahrungen,  Kundschaft  und  Scharfsinn  besass,  seine 
Autorität  sofort  neben  oder  über  die  des  Priesters  trat,  den  man 
dann  nur  bei  zweifelhaften  Dingen  befragte. 

Der  zweite  Umstand  aber  liegt  darin,  dass   ur- 2.  Kein  specw- 
sprünglich    die    Priester  auch   Gläubige  waren    und  *^^^^^^l' 
dass  sich  in  ihre  Yorstellungsoperationen  überall  die  scheD  Priester 
Phantasie    der  Dämonen    und   deren  Absichten   und  '^^^  öiauw. 

gen, 

Wirkungen  einmischte,  so  dass  ihr  schliessliches  Ur- 
theil  gar  nicht  aus  einer  mit  Besonnenheit  angeordneten  Schluss- 
folge hervorging,  sondern  ein  instinctives  Resultat  war.  Es  ist 
zwar  nicht  zu  läugnen,  dass  sehr  bald  in  das  Geschäft  des  Prie- 
sters eine  Masse  von  Lüge  und  Betrug  sich  einmischen  musste; 
dennoch  aber  konnte  kein  klarer  und  bewusster  Gedankengang 
herrschen,  da  bei  allen  solchen  nicht  wissenschaftlich  geschulten 
Menschen   die  schliessliche  Meinung   oder  Vermuthung,   die   sie 

Teiohmüller,  Religionsphilosophie.  11  r^ ,-^r^r^Jr-^ 

uiyiiized  by  VjOOQ  ivL 


162  Beligion  der  Furcht. 

haben,  aus  einer  nnübersebbaren  Menge  kleiner  Beobachtungen 
und  Erfahrungen  einerseits,  und  andererseits  aus  allerlei  eigenen 
Absichten,  die  mit  den  Absichten  der  Gläubigen  zusammen  dunkel 
vorgestellt  wurden,  hervorgehen  mussten,  wie  dij  Resultirende, 
welche  in  dem  Parallelogramm  der  Kräfte  aus  vielen  Seiten- 
kräften bestimmt  wird.  Der  Mensch  ist  dabei  gewissermassen 
nur  der  Schauplatz,  auf  welchem  ihm  unbekannte  Mächte  ihr 
Spiel  treiben,  und  da  hier  nun  die  eingemischten  theologischen 
Vorstellungen  immer  für  das  Gefühl  die  mächtigsten  sind,  so 
musste  es  sich  von  selbst  zu  ergeben  scheinen,  dass  die  Priester 
von  den  Göttern,  mit  denen  sie  im  Cultus  verkehrten,  ohne  dass 
die  Gläubigen  diese  tibersinnlichen  Wesen  wahrnehmen  konnten, 
inspirirt  wurden. 

weeeu  der  Die  Inspirationslehrc  setzt  daher  eine  Besessen- 

inspiration.  jj^j^  voraus  odcr  wenigstens  einen  geglaubten  wirk- 
lichen Verkehr  mit  den  Göttern,  die  zwar  hier  und  da  allen 
Gläubigen,  besonders  aber  dem  Priester  in  wunderbarer  Weise 
erscheinen,  so  dass  er  ihre  Gestalten  sieht,  ihre  Stimme  hört 
und  ihre  Absichten  und  Leidenschaften  gewissermassen  unmittel- 
bar wahrnimmt.  Wie  der  aufgeregte  Mensch  laut  mit  sich 
spricht,  so  kamen  auch  die  in  der  aufgeregten  Seele  des  Prie- 
sters gewaltig  wogenden  Bilder  und  Vorstellungen  zur  eigenen 
Sprache,  und  dies  ist  wohl  der  Ursprung  des  InspirationsbegrifFs, 
dass  der  in  uns  angeschaute  und  vorgestellte  Dämon 
oder  Gott  selbst  spricht.  Wer  die  ungekünstelte  Weise  un- 
gebildeter oder  aufgeregter  Menschen  beachtet,  wird  denselben 
Vorgang  immer  von  Neuem  zur  Erfahrung  bringen  können,  und 
so  erklärt  es  sich  auch,  dass  den  Träumen  so  viel  Bedeutung 
beigelegt  wird,  deren  Nichtigkeit  Kinder,  Ungebildete  und  Wilde 
nicht  so  bald  einsehen  können,  und  dass  man  gewisse  Stimmen 
in  sich  ertönen  hört  und  bestimmte  Worte  und  Aufforderungen 
veminunt.  Kurz,  das  selbständige  Leben  der  Vorstellun- 
gen ist  das  ursprüngliche  und  darum  die  Inspirations- 
lehre hiervon  eine  natürliche  und  nothwendige  Folge. 
Erst  die  später  erlangte  Oberherrschaft  des  Ichs  und  die 
logische  Ausbildung  des  Verstandes  setzen  die  Vorstelhmgen  zu 
blossen  Kechenelementen  herab  und  verdrängen  die  Annahme 
und  Macht  der  Inspiration,   die  hier  in  der  Religion  der  Furcht 


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Der  zugehörige  Cultus.  163 

noch  in  der  rohesten  Form  auftritt,  dagegen  erst  in  den  höheren 
Religionen  zu  ihrer  wahren  Bedeutung  gelangt. 

Wenn  man  nun  fragt,  ob  also  wirklich  eine  In- 

«       ,  ,     ,  ,       ,  1         ,    .   1  Die  Inspiration 

spiration  stattgefunden  habe  und  ob  es  dergleichen  m  em  wirk- 
noch  giebt  und  geben  wird,  so  muss  man  zunächst  "^'^^^  ^''«*«"*"- 
den  Gegensatz  feststellen.  Der  Gegensatz  aber  wird  durch 
Unterscheidung  des  Ichs  von  anderen  Wesen  und  Mächten  ge- 
funden; denn  was  ich  selbst  thue  mit  Bewusstsein  meiner  Mittel, 
Gründe  und  Zwecke,  das  halte  ich  niemals  fllr  inspirirt.  Mithin 
bedeutet  Inspiration,  dass  andere  Wesen  oder  Mächte  in  mir 
und  durch  mich  ohne  meine  Erlaubniss  und  Anstrengung  reden 
und  handeln.  Darum  inspirirt  der  Souffleur  den  Schauspieler 
nicht,  weil  dieser  auf  die  Worte  wartet  und  sie  in  seinem  eigenen 
Interesse  und  mit  seiner  eigenen  bewussten  Betonung  wiederholt. 
Was  aber  die  Inspirirten  sagen  und  thun,  das  geht  von  einer 
fremden  Macht  aus,  die  sie  bloss  zum  Instrumente  macht.  Eine 
solche  Inspiration  ist  nun  eine  einfache  Thatsache;  sie  findet 
wirklich  statt,  und  es  kommt  nur  darauf  an,  festzustellen,  wer 
der  eigentliche  Thäter  ist 

Diejenigen,  welche  alle  Inspiration  läugnen  und  damit  also 
bekennen,  dass  sie  das  Wesen  derselben  überhaupt  nicht  ver- 
stehen, das  sind  schlechte  Beobachter  und  wenn  auch  ver- 
ständige Naturen,  doch  mit  engem  Horizonte,  die  weder  selbst 
jemals  etwas  Grosses  hervorbringen,  noch  zum  Genüsse  der 
höheren  Dinge  in  der  Menschheit  fähig  sind.  Es  sind  die  Klein- 
krämer im  Leben  und  in  der  Gelehrsamkeit 

Wir  wollen  also  den  Urheber  der  Inspiration  suchen.  Zu- 
nächst ist  die  inspirirte  Persönlichkeit  selbst  zu  eliminiren; 
denn  sie  ist  sich  nicht  bewusst,  die  nöthige  Wissenschaft  und 
Kunst  zu  besitzen,  um  ihre  inspirirten  Dichtungen,  Weissagungen 
und  Aussprüche  absichtlich  hervorzubringen.  Zweitens  könnte 
man  auch  keine  andere  Persönlichkeit  nennen,  die  sich  gasartig 
verflüchtigte  und  eingeathmet  von  dem  Inspirirten  nun  die  Seele 
desselben  regierte  und  zu  Schöpftmgen  triebe.  Ebensowenig 
giebt  es  einen  Baum  oder  ein  Thier  oder  einen  Stein  und  dergl., 
der  in  die  Seele  zu  dringen,  zu  sprechen  und  dergleichen  Wunder- 
kraft auszuüben  vermöchte.  Mithin  bleibt  nichts  übrig,  als  die 
allgemeinen  Kräfte  der  Natur,  die  in  allen  Dingen  und  also 
auch  im  Menschen  wirken  und  die  von  der  ganzen  Menschheit 

11* 

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164  Religion  der  Furcht. 

als  das  Göttliche  bezeichnet,  oder  auf  Gott  zurückgeführt 
werden.  Wer  daher  inspirirt  ist,  der  wird  nothwendig  und  mit 
Recht  seine  Thätigkeit  nicht  auf  sich  oder  eine  andere  Creatur, 
sondern  auf  die  ausser  ihm  liegende  göttliche  Kraft  be- 
ziehen, und  dies  haben  alle  Inspirirte  von  jeher  gethan.  Wenn 
die  Gegner  der  Inspirationslehre  aber  hervorheben,  dass  die 
Leistung  des  Inspirirten  doch  nicht  über  seine  Kräfte  hinaus- 
ginge, dass  er  vielmehr  in  seiner  eigenen  Sprache  und  nach 
seinen  Kenntnissen  und  nach  seiner  besonderen  Eigenthümlich- 
keit  wirkte  und  dass  also  das  Eingegebene  vielmehr  sein  eigenes 
Werk  sei,  so  ist  dieser  Einwand  ganz  kurzsichtig;  denn  wie  der 
Baumeister  allerdings  nur  mit  den  vorhandenen  Balken  und 
Steinen  bauen  kann  und  nicht  mit  Dingen,  die  nicht  vorhanden 
sind,  so  wird  die  göttliche  Kraft  auch  nur  mit  dem  in  der  Seele 
des  Inspirirten  gegebenen  Material  wirken  und  nichts  hervor- 
bringen, was  nicht  aus  dem  Vorhandenen  erklärlich  wäre;  trotz- 
dem flihrt  man  das  Haus  auf  den  Baumeister  zurUck  und  nicht 
auf  das  Material,  aus  dem  es  gebaut  ist,  und  ebenso  ^eiss  sich 
der  Inspirirte  unschuldig  an  seiner  Leistung,  die  über  seine 
erworbene  Kunst  hinausgeht  und  die  er  ebensowenig  wie  seine 
Träume  mit  Absicht  hervorbrachte,  weshalb  er  sie  mit  Recht 
Gott  oder  den  Musen  oder  anderen  Dämonen  zuschreibt. 

Um  nun  zu  entscheiden,  ob  wir  schon  in  der 
cbarakter  dipaer  niedrigen  Religiou  der  Furcht  den  Opferschauern, 
Inspiration.  Zaubercm,  Regenmachern,  Auguren  und  Sibyllen  eine 
Inspiration,  zugestehen  sollen,  müssen  wir  erwägen,  ob  wir  ihren 
Versicherungen  soweit  trauen  können,  dass  wir  nicht  Alles  auf 
Betrug  zurückführen.  Sicherlich  aber  wären  überhaupt  keine 
Auguren  aufgekommen,  wenn  sie  sich  von  Anfang  schon  einander 
angelacht  hätten.  Da  aber,  wie  wir  oben  sahen,  ihre  Erfahrungen 
und  ihr  Scharfsinn  ihnen  den  möglichen  oder  wahrscheinlichen 
Zusammenhang  der  Dinge  zeigten  und  auch  eine  Prognose  ge- 
statteten, so  mischten  sie  frühzeitig  ihr  Interesse,  ihren  Hass  und 
Ehrgeiz  in  ihren  Beruf  und  wurden  dadurch  zu  Betrügern. 
Gleichwohl  ging  das  Gelingen  und  glückliche  Treffen  ihrer  Aus- 
sprüche nicht  ursprünglich  von  ihrer  eigenen  schlauen  Bewerk- 
stelligung aus,  sondern  war  die  Resultante  der  in  ihnen  unbe- 
wusst  arbeitenden  geistigen  Kräfte.  Es  ist  darum  nicht  un- 
richtig,  wenn   die  Kirchenväter   ihre  Leistungen   auf  Dämonen 

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Der  zugehörige  Cultu».  165 

zurückführten,  wenn  man  nur  darunter  die  Selbständigkeit  der 
in  ihnen  arbeitenden  Aflfckte,  Vorstellungen  und  Denkoperationen 
versteht.  Denn  da  keine  höheren  sittlichen  Mächte  dabei  in 
Wirksamkeit  kommen,  so  konnte  auch  von  einem  die  Weltordnung 
bestimmenden  Gotte,  der  sie  inspirirt  hätte,  nicht  die  Eede  sein, 
und  sie  selbst  wissen  auch  von  einer  solchen  Ofifenbarung  nichts; 
dagegen  kann  man  als  dämonisch  diejenige  Macht  bezeichnen, 
die  den  Elementen  unseres  Seelenlebens  zukommt,  wenn  sie 
selbständig,  d.  h.  ohne  bewusste  Leitung  und  Absicht 
der  Persönlichkeit  thätig  sind  und  an  Kraft  die  bewusste 
Sphäre  des  persönlichen  Lebens  überragen,  so  dass  sich  der 
Mensch  von  ihnen  fortgerissen  und  unfreiwillig  bestimmt  fühlt. 
Daher  hat  die  Inspiration  auf  der  Stufe  der  Religion  der  Furcht 
mit  der  Leidenschaft  die  grösste  Aehnüchkeit;  denn  wie  die 
selbständig  auftretenden  Erinnerungen  der  Wollust,  des  Zorns 
und  Hasses  und  dergl.  mit  ihren  Bildern  allerlei  Einflüsterungen 
und  heftige,  ja  angeblich  unwiderstehliche  Bewegungen  hervor- 
bringen und  den  Menschen  zu  vielen  thörichten  und  verderb- 
lichen Handlungen  fortreissen,  so  sind  auch  auf  dem  Gebiete  der 
Conjectur  die  selbständig  wirkenden  Elemente  des  Seelenlebens 
bestimmend  und  machen  den  Menschen  klüger  als  er  sich  selbst 
weiss,  da  ohne  seine  bewusste  Arbeit  die  glücklichen  Treffer  ihm 
eingegeben  werden.  Mithin  kann  die  Inspiration  auf  dieser  Stufe 
als  dämonisch  bezeichnet  werden. 


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Viertes  CapiteL 
Allgemeinere  Fragen. 


Nachdem  wir  nun  die  drei  Sondergebiete,  in  welche  das 
religiöse  Leben  sich  nothwendig  gliedern  muss,  einzeln  betrachtet 
haben,  bleiben  einige  Fragen  übrig,  welche  alle  drei  Gebiete  in 
ziemlich  gleichem  Masse  betreffen.  Unter  diesen  wähle  ich  die 
wichtigsten  aus  und  behandle  sie  unter  den  Ueberschriften: 
Wunder,  Schicksal,  Mythologie  und  Islam.  Der  Islam  kommt 
mir  nämlich  hier  zur  Untersuchung,  weil  eine  Religion  charakteri- 
sirt  werden  muss,  welche  den  Typus  der  hier  behandelten  Gat- 
tung von  Religionen  am  Yollkonunensten  und  Reinsten  heraus- 
stellt Die  Lehre  vom  Wunder  aber  hätte  auch  bei  dem  Cultus 
abgehandelt  werden  können;  doch  kommen  so  viele  dogmatische 
und  ethische  Gesichtspunkte  dabei  zur  Anwendung,  dass  es  mir 
richtiger  schien,  es  unter  die  allgemeineren  Fragen  zu  stellen. 
Das  Schicksal  gehört  zwar  auch  zum  Ressort  des  Priester- 
thums,  kann  aber  seiner  Idee  nach  nicht  ohne  die  andern  beiden 
Gebiete  begi-iffen  werden.  Die  Mythologie  betrifft  näher  die 
Dogmatik,  doch  musste  der  perspectivische  Standpunkt,  der  zur 
Ethik  flihrt,  stärker  betont  werden,  als  dies  bisher  üblich  war, 
da  man  gern  nur  die  Speculation  und  die  Phantasie  als  Geburts- 
stätte der  Mythen  betrachtet. 

§  1.     Das  Wunder. 

Wenn  man  die  Abhandlungen  der  Theologen  und  Philosophen 
liest,  die  noch  heute  über  das  Wunder  geschrieben  werden,  so 
findet  man  zu  seiner  Ueberraschung  blosse  Disputationen  über 
die  Thesis,  dass  die  Naturgesetze  durchbrochen  werden  können. 
Die  Opponenten  läugnen  dies  und  verwerfen  deshalb  die  Wunder, 
die  Dcfendenten  aber  räumen  entweder  dem  allmächtigen  Hcitu 
selbstverständlich  das  Recht  ein,  nach  seinem  Gutdünken  zu  ver- 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  167 

fahren,  da  er  sich  keine  Gesetze  vorschreiben  lassen  könne,  oder 
sie  suchen  zu  zeigen,  dass  die  Durchbrechung  seiner  eigenen 
Gesetze  zwar  nur  ein  Schein  sei,  dass  der  all  weise  Schöpfer 
aber  durch  höhere  und  deshalb  noch  mehr  oder  weniger  ver- 
borgene Naturgesetze  die  niedrigeren  und  deshalb  bekannteren 
Gesetze  aufhebe,  dass  die  sogenannten  Wunder  also  nicht  bloss 
keinen  Widerspruch  gegen  die  allgemeine  göttliche  Naturordnung 
enthielten,  sondern  zugleich  als  Wunder,  d.  h.  als  „aus  den  bisher 
wirksamen  Natnrursachen  unerklärliche  Erscheinungen'^  anzu- 
erkennen wären. 

Diese  ganze  Behandlungsweise  der  Wunder  von  Seiten  der 
Gelehrten  muss  überraschen,  weil  man  nach  den  allgemeinen 
Forderungen  der  Wissenschaft  zunächst  ein  Studium  des  Begriffs 
des  Wunders  selbst  erwarten  sollte;  denn  es  dreht  sich  ja  flir 
den  Mann  der  Wissenschaft  zunächst  nicht  um  praktische  Fragen, 
wie  in  der  Politik  und  in  der  Heilkunst,  sondern  um  die  Er- 
kenntniss  selbst  Nun  ist  aber  weder  der  Begriff  des  AVunders 
schon  sicher  festgestellt,  noch  ist  es  an  sich  selbstverständlich, 
dass  es  überhaupt  einen  Begriff  vom  Wunder  geben  müsse. 
Folglich  ist  es  doch  wohl  unvorsichtig  oder  unbesonnen,  wenn 
man  so  aufs  Gerathewohl  das  Verhältniss  der  Wunder  zu  den 
Naturgesetzen  bestimmt  oder  die  pädagogische  Nothwendigkeit 
und  Herrlichkeit  der  Wunder  bestreitet  oder  feiert.  Denn  wie 
kann  man  die  Menschen  auf  dem  Monde  loben  oder  tadeln,  wenn 
man  gar  nicht  weiss,  ob  sie  existiren.  Dass  es  aber  nicht  von 
jedem  Worte  auch  einen  Begriff  zu  geben  braucht,  ist  doch 
wohl  nicht  schwer  zu  beweisen.  Ich  erinnere  nur  an  die  be- 
rühmte Seeschlange,  oder  an  die  vielbesungene  Lorelei:  wer  wäre 
im  Stande,  einen  Begriff  für  irgendwelche  diesen  Namen  ent- 
sprechende reale  Wesen  zu  finden!  Da  es  sich  also  möglicher 
Weise  bei  den  Wundem  nur  um  eine  leere  Einbildung,  um  eine 
flüchtig  und  unbestimmt  malende  Phantasie  handelt,  so  muss  die 
erste  Pflicht  sein,  den  Vorstellungskreis  der  sogenannten  Wunder 
zu  Studiren,  um  zu  sehen,  ob  man  überhaupt  auf  einen  festen 
Begriff  kommt.  Und  wenn  ein  solcher  hervortritt,  so  darf  man 
nicht  die  nächsten  Veranlassungsbilder  mit  in  die  Region  des 
Denkens  hinübernehmen;  denn  wenn  die  Pythagoreer  auch  den 
gerechten  Mann  einen  quadratischen  nannten,  so  gehört  der  geo- 
metrische Ansatz  ihres  Denkens  doch  nicht  mehr  in  den  Begriff 


jiyiii2eu"uy  VdOOV  IC 


168  Beligion  der  Furcht 

der  Gerechtigkeit  Es  scbeint  mir  daher,  dass  über  das  Wander 
eine  wissenschaftliche  Untersuchung  erforderlich  ist,  die  nur  des- 
halb nicht  als  neu  bezeichnet  werden  darf,  weil  es  noch  keine 
frühere  giebt 

Meine  Methode  ist  die  heuristische,  welche  ich 
^Mcthodk»!"*  schon  in  meiner  „Neuen  Grundlegung  der  Metaphysik" 
und  für  historische  Fragen  im  zweiten  Bande  meines 
Buches  „Literarische  Fehden  im  vierten  Jahrhundert  vor  Christo" 
an  mehreren  Beispielen  dargelegt  habe.  Es  kommt  nämlich  für 
alle  Erkenntniss  nicht  auf  das  Monstrum  an,  welches  jetzt  in  der 
Logik  ein  Begriff  heisst  und  welches  von  Wund t  als  eine  „kate- 
goriale  Verschiebung"  verherrlicht  wird,  da  aus  Eigenschaften 
und  Verben  ein  GegenstandsbegriflF  und  eine  sogenannte  „Ver- 
dichtung des  Denkens"  entstehen  soll.  Diese  „kategoriale  Ver- 
schiebung" ist  aber  eine  blosse  grammatische  Erscheinung  und  hat 
mit  der  Logik  nichts  zu  thun,  da  sich  Begriffe  nicht  verschieben 
lassen;  eine  „Verdichtung  des  Denkens"  als  Resultat  solcher 
Vorstellungsgewebe  ist  allerdings  zuzugeben,  doch  leider  nicht, 
wie  man  präconisirt,  in  bonam  partem,  sondern  als  eine  Ver- 
dunkelung und  Verfilzüng  der  Vorstellungen,  wobei  das  ver- 
nünftige Denken  Luft  und  Licht  verliert  Mit  erbarmungsloser 
Strenge  müssen  diese  „Verdichtungen"  und  „Verschiebungen"  aus 
der  Logik  ausgekehrt  werden,  da  sie  nur  als  blinde  Passagiere 
durch  die  ungezügelte  Ideenassociation  rechtlos  und  passlos  in 
den  Bewegungsorganismus  des  Denkens  abgesetzt  sind. 

Unsere  Aufgabe  ist,  das  Coordinationssystem  zu  finden,    in 

dem  die  Wunder  ihre  feste  und  gesetzlich  geordnete  Stelle  haben. 

Die  Erkenntniss  dieser  Goordination  ist  der  Begriff  des  Wunders. 

Als  Beligionsphilosophen  müssen  wir  nun  zunächst 

heuristische    fragen,  ob  die  Wunder,  wie  die  Sprache,  sich  sowohl  in 

ForderuDg.    ^Is  ausscr  dcr  Beligion,  oder  ob  sie,  wie  die  Kirchen, 

sich  nur  im  Herrschaftskreise  religiöser  Vorstellungen  finden.    Es 

zeigt  sich  dann  gleich,   dass  das  Wunderbare  auch  ausser,   die 

sogenannten  Wunder  aber  nur  in  der  Religion  vorkommen,  dass 

sie  also  eine  specielle  Frage  der  Religionsphilosophie  bilden. 

Gehören  die  Wunder  aber  zum  Wesen  der  Religion?  Vocale 
und  Consonanten  z.  B.  finden  sich  in  allen  Sprachen;  der 
trochäische  Anlaut  sämmtlicher  Wörter  aber  nur  in  der  finnischen 
Sprachgruppe.    Giebt  es  also  nicht  auch  Religionen  ohne  Wunder? 


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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  169 

Ja  freilich,  den  Atheismus,  Positiyismus  und  Pantheismus.  Folgt 
daraus  nun,  dass  Wunder  nur  eine  Absonderlichkeit  gewisser 
Beligionsgruppen  bildeten?  Aber  es  giebt  doch  auch  patho- 
logische Erscheinungen,  blindgeborene,  bucklichte  und  verstüm- 
melte Menschen;  soll  darum  das  sehende  Auge,  die  regelmässige 
Wirbelsäule  und  überhaupt  die  normale  Bildung  der  Organe  nicht 
zum  Wesen  des  Menschen  gehören?  Und  könnten  also  dem- 
gemäss  nicht  auch  die  Keligionen  ohne  Wunder  zu  den  patho- 
logischen Erscheinungen  gerechnet  werden?  Diese  Frage  ist  so 
von  der  Schwelle  der  Untersuchung  ab  nicht  wohl  zu  ent- 
scheiden. Doch  hilft  gleich  die  Auffindung  einer  Goordinate  zu 
einer  vorläufigen  Orientirung;  denn  das  Normale  wird  sich  doch 
in  den  meisten  Fällen  durchsetzen,  während  das  Pathologische 
als  Störung  accidentelle  und  also  particuläre  Ursachen  hat 
Die  Religion,  die  sich  in  den  meisten  Fällen  durchsetzt,  ist  aber 
Volksreligion,  und  keine  Yolksreligion  ist  ohne  Wunder;  also 
wäre  vorläufig  wenigstens  der  Atheismus,  Positivismus  und 
Pantheismus  als  eine  Yerkrtippelung  des  religiösen  Bewusstseins 
zu  betrachten  und  bildete  keine  Instanz  gegen  die  Universalität 
und  Wesentlichkeit  des  Wunders  für  die  Religion. 

Bei  Annahme  dieses  präliminarischen  Resultates  würden  wir 
dann  gleich  diejenigen  theologischen  Apologeten  abweisen  müssen, 
welche  die  Wunder  durch  den  christlichen  GottesbegriflF  ver- 
theidigen ;  denn  sie  argumentiren,  als  wenn  sie  die  Nothwendig- 
keit  von  Steuern  aus  dem  Wesen  der  Preussischen  Monarchie 
und  nicht  aus  dem  allgemeinen  Wesen  des  Staates  ableiten 
müssten.  Es  ist  aber  sehr  wichtig  zu  wissen,  wohin  ein  Begriff 
gehört,  und  es  ist  die  Sache  der  logischen  Bildung,  die  zuge- 
hörigen Coordinaten  jedes  Begriffs  zu  kennen;  oder  man  soll 
keinen  Anspruch  auf  Wissenschaft  erheben;  denn  es  dreht  sich 
hier  nicht  um  einen  privatrechtlichen  Process,  den  das  Christen- 
thum  für  sich  allein  zu  gewinnen  oder  zu  verlieren  hätte,  sondern 
um  eine  allgemeine  Angelegenheit  der  Religion. 

Wollten  wir  nun,  durch  diese  heuristischen  Finger- 
zeige geleitet,  zur  Analysis  der  Religion  übergehen,  zweite  heurisu. 
um  die  Coordinationen  festzustellen,   so  würden  wir 
eines  grossen  Httlfsmittels  entbehren,  das  uns  erst  noch  zu  Gute 
kommen   soll.     Zum   allgemeinen  Wesen  jeder   Sache  gehören 
nämlich   immer  Bestimmungen  von  verschiedener  Herkunft,  und 

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170  Religion  der  Furcht. 

wenn  man  diese  principiell  scheiden  kann,  so  hat  man  das  beste 
Licht  zur  Arbeit.  Nehmen  wir  z.  ß.  den  Menschen,  so  ist  Ver- 
nunft sowohl,  wie  Durchblutung  des  Körpers,  allgemeine  Wesens- 
bestimmung. Aber  diese  letztere  sogenannte  generische  Be* 
Stimmung  geht  nicht  auf  ein  fabelhaftes  genas  zurück,  sondern 
vielmehr  auf  einen  realen,  uralten  und  sehr  unansehnlichen  Vor- 
fahren, dessen  Abkömmlinge  sich  durch  viele  neue  Verbindungen 
specificirt  und  veredelt  haben. 

Wenn  ich  die  gemeinsame  Grundlage,  das  genus  proximum 
in  der  Definition,  auf  die  unterste  Art  form  zurUckftlhre,  so 
bedarf  diese  Neuerung  in  der  Logik  einer  Erklärung.  Die  alte 
Logik  nahm  nämlich  seit  Aristoteles  das  Generische  und  die 
Notae  communes  als  eine  Natura  secunda  an,  deren  Substanz 
und  Existenz  Niemand  ausfinden  konnte  und  worüber  man  sich 
namentlich  im  Mittelalter  ohne  allen  Nutzen  und  endgültigen 
Erfolg  herumstritt.  Die  moderne  Logik  hat  durch  den  ganz 
falschen  Begriff  der  Ab str actio n  zu  helfen  gesucht  und  dabei 
zugleich  den  Boden  der  Kealität  verloren  und  das  alte  Unding 
behalten.  Eine  richtige  Logik  muss  zeigen,  dass  in  dem  Ge- 
biete des  technischen  Systems  die  untersten  Entwickelungsstufen 
ihren  Typus  vererben,  der  durch  neu  hinzutretende  Coordinationen, 
aber  nicht  in  darwinistischer  Weise,  specificirt  wird.  Ich  habe 
die  Grundlage  dieser  neuen  Auffassung  in  meiner  Schrift  über 
Darwinismus  und  Philosophie  gegeben;  in  der  ausführlichen 
Logik  muss  dies  genauer  gezeigt  werden.  Hier  genügt  es  ein- 
zusehen, dass  man  von  der  untersten  Religionsstufe  ausgehen 
muss,  da  sich  erst,  wenn  man  den  Begriff  des  Wunders  in  der 
Furchtreligion  kennt,  beurtheilen  lässt,  ob  die  Wunder  in  den 
übrigen  Keligionen  von  einer  anderen  Beschaffenheit  sind,  oder 
vielmehr  den  Typus  ihres  Ursprunges  beibehalten. 

Zu   ieder  Arbeit  muss   man   aber  Muth   haben. 

Dritte 

iiouriKtische  Ehe  wir  deshalb  die  ausführliche  Analyse  des  Be- 
Forderuiig.  g^ffg  unternehmen,  ist  es  angezeigt,  eine  prälimi- 
narische  Topik  des  Begriffs  zu  versuchen;  denn  wenn  uns  nicht 
die  allgemeine  Möglichkeit  oder  besser  auch  die  Richtigkeit  des 
vorweggenommenen  Resultates  schon  einleuchtet,  so  wtisste  ich 
nicht,  wie  man  Lust  zur  Forschung  haben  sollte. 

Wer  nun  in  speculativer  Behandlung  der  Begriffe  etwas 
geübt  ist,   wird   in  dem   durch  vielfache  Erfahrung  gegebenen 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  171 

Vorstellungsmaterial  der  Wunder  sofort  gewisse  Bestimmungs- 
stücke herausfinden,  die  in  die  Augen  fallen  und  ihre  Zuord- 
nung zu  den  Grundbegriffen  einer  der  verschiedenen  Religionen  an 
den  Tag  legen.  So  ist  hier  z.  B.  auf  den  ersten  Blick  klar,  dass 
die  Wunder  zwar  nur  selten  eine  erstaunliche  und  gefährliche 
Macht  über  die  Natur,  immer  aber  durch  gewisse  Ereignisse  etwas 
bekunden,  was  mit  unseren  persönlichen  Interessen  zusammen- 
hängt und  daher  unsere  Furcht  oder  unsere  Hoffnung  in's  Spiel 
setzt.  Mögen  die  Wunder  daher  in  gefährlichen  oder  gewöhn- 
lichen Ereignissen  zum  Ausdruck  kommen,  immer  dreht  es  sich 
dabei  um  unser  Wohl  und  Wehe,  und  mithin  ist  die  Coordinate 
zu  diesem  Begriff  in  keiner  anderen  Religion  zu  finden,  als  nur 
in  der  Religion  der  Furcht.  Wegen  der  Wichtigkeit  des  Begriffs 
des  Wunders  und  wegen  der  Neuheit  der  Untersuchungsmethode 
und  der  Resultate  möge  man  die  Länge  der  Darlegungen  ent- 
schuldigen, da  ich  gewissermassen  die  früheren  Arbeiten  als  nicht 
zur  Sache  gehörig  und   das  Problem  als  terra  virgo  betrachte. 

a.  Der  Begriff  des  Wunders  in  der  Furchtreligion. 
Fangen  wir  der  Ordnung  gemäss  mit  dem  Bekannten  an. 
Das  Wunderbare  steht  immer  im  Gegensatz  zu  dem  Gewöhn- 
lichen und  Alltäglichen.  Beide  entgegengesetzten  Begriffe  be- 
zeichnen aber  keinen  Gegenstand,  kein  Ereigniss,  keine  Er- 
scheinungen, sondern  als  Kategorien  der  Modalität  nur  eine 
Auffassungs weise,  d.  h.  wie  wir  uns  in  unserer  Erkenntniss- 
thätigkeit  zu  den  Erscheinungen  verhalten.  Diejenigen  Erschei- 
nungen, die  wir  alle  Tage  sehen,  begegnen,  wenn  sie  zur  Per- 
ception  kommen,  sofort  unserer  Erinnerung  (Apperception)  an 
frühere  Wahrnehmungen  ebensolcher  oder  verwandter  Erschei- 
nungen und  werden  daher  ohne  Weiteres,  d.  h.  ohne  Aufre- 
gung des  GefUhls  hingenommen.  Wenn  wir  z.  B.  die  Sonne  am 
Himmel  stehen  sehen,  so  wundern  wir  uns  nicht,  weil  wir  diese 
Feuerscheibe  ja  unzählige  Male  schon  gesehen  haben  und  unser 
Wille  sich  dadurch  also  nicht  in  Aufregung  versetzen  lässt,  son- 
dern sich  längst  darin  gefunden  hat,  dass  es  so  ist  in  der  Welt. 
Sobald  aber  eine  gewöhnliche  oder  ungewöhnliche  Erscheinung 
durch  irgend  einen  Umstand  eine  neue  Beziehimg  fordert,  um 
ihren  Zusammenhang  begreifen  zu  lassen,  so  geräth  das  Gefiihl 
in  Unruhe  und   setzt  das   Denken  in  Bewegung.    Das  Nicht- 

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172  Religion  der  Furcht. 

gelingen  des  Erklärungsversuches  versetzt  uns  in  das  GeftLhl  des 
Staunens,  welches  wir  auf  das  Object  als  auf  die  Ursache  des 
ganzen  psychischen  Vorganges  projiciren,  indem  wir  dies  Object 
wunderbar  nennen.  So  wunderte  man  sich  schon  über  viele 
Handlungen Bismarck's  und  z.B.  jüngst  noch  allgemein  darüber, 
dass  er  den  Papst  zum  Vermittler  zwischen  Deutschland  und 
Spanien  erkor,  weil  diese  Handlung  eine  verborgene  Beziehung 
zu  ihrer  Erklärung  forderte,  die  man  nicht  gleich  fand,  indem 
man  an  das  Mittelalter  erinnert  wurde  und  doch  die  Coordi- 
nationen  der  politischen  Kräfte  im  neunzehnten  Jahrhundert  be- 
stimmen sollte. 

Allein  das  Wunderbare  in  diesem  Sinne  ist  kein  Wunder 
und  hat  gar  keinen  religiösen  Charakter.  Dazu  gehört  viel- 
mehr umgekehrt  das  Gelingen  der  Denkbewegung,  die  gelun- 
gene Deutung.  Da  nämlich  unsere  ganze  Erkenntniss  ihrem 
Wesen  nach  ein  durchgängiges  Beziehen  aller  ihrer  Elemente 
aufeinander,  und  das  Bewusstsein  dieser  beziehenden  Thätigkeit 
das  sogenannte  Gesetz  des  Grundes  ist,  so  verlangt  der  Mensch 
als  erkennendes  Wesen,  er  möge  wissen,  was  er  verlangt,  oder 
davon  noch  keine  Ahnung  haben,  durchaus  eine  Befriedigung 
dieses  Gesetzes,  also  eine  Erklärung  oder  Deutung. 

Die  Deutungen  sind  aber  von  zweifacher  Art;  durch  die 
Eine  Art  verschwindet,  durch  die  andere  entsteht  das  Wunder. 
Wenn  z.  B.  ein  Erdbeben  eintritt  und  die  Gebildeten  sich  dies 
dadurch  erklären,  dass  grössere  Wassermassen  bis  auf  die  feurig- 
flüssigen Schichten  des  Erdinnem  durchgedrungen  wären  und 
nun  bei  ihrer  Verwandlung  in  Dampf  die  oberflächlicheren 
Schichten  der  Erdrinde  erschütterten  oder  durchbrächen,  so  ist 
dem  auffallenden  und  ungewöhnlichen  Ereigniss  durch  eine  ge- 
lingende physikalische  Deutung  der  Charakter  des  Wunderbaren 
schlechthin  und  also  auch  in  religiösem  Sinne  entzogen.  Wenn 
dagegen  die  Gläubigen  das  Ereigniss  auf  die  Stimmung  eines 
unsichtbaren  Dämons  beziehen,  der  dadurch  seinen  Zorn  an  den 
Tag  lege  und  das  Leben  der  Menschen  bedrohe,  so  gerathen  sie 
in  eine  religiöse  Furcht  und  betrachten  das  Ereigniss  als  Wun- 
der, als  eine  für  ihr  Wohl  oder  Wehe  wichtige  Kundgebung  ihres 
gefährlichen  Herrn.  Durch  solche  Erklärung  oder  Deutung  ver- 
schwindet das  Wunder  also  nicht  nur  nicht,  sondern  es  entsteht 
erst   dadurch.     Hieraus   ergiebt   sich,    dass  Wunder  überhaupt 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  173 

nicht  als  Objectives  oder  Wirkliches  in  der  Sinnenwelt  vorkommen 
können,  da  es  sich  immer  nur  am  wirkliche  Naturerschei- 
nungen, also  um  etwas  Natürliches  handelt.  Der  Sitz  des 
Wunders  beruht  in  der  religiösen  Deutung,  also  in  dem  Ver- 
stände des  Gläubigen.  Da  nun  das  specifische  Wesen  des  Gläu- 
bigen am  Stärksten  und  typisch  in  dem  Priester  heraustritt,  so 
gehört  die  Lehre  vom  Wunder  in  erster  Linie  zur  Lehre  vom 
Priester,  d.  h.  zu  seiner  Erkenntniss  der  religiösen  Dinge  und 
zu  seinem  Amte,  die  Seelen  der  Gläubigen  zu  leiten. 

1.  Die  Erkenntniss  der  Wunder.  Unsere  erste  Auf- 
gabe ist  also,  genauer  zu  erforschen,  wie  Wunder  entstehen? 
Obgleich  sie  in  der  Erkenntnissthätigkeit  des  Gläubigen  ihren 
Sitz  haben  und  ihrem  objectiven  Beziehungspunkte  nach  Er- 
scheinungen der  sogenannten  äusseren  Natur  oder  der  Seelen 
enthalten,  so  können  wir  doch  nicht  mehr  vermuthen,  dass  die 
Wunder  durch  einen  objectiven  Erklärungsversuch,  also  durch 
naturwissenschaftliche  oder  psychologische  Hypothesen  entstän- 
den. Wir  müssen  vielmehr  finden,  dass  seit  Spinoza,  Leibnitz, 
Schleiermacher,  Hegel  u.  A.  die  Frage  am  unrechten  Orte  ange- 
fasst  wird,  und  ich  kann  auch  die  neuesten  Betrachtungen  von 
Otto  Pfleiderer  in  seiner  Religionsphilosophie  (H  S.  435)  von 
diesem  Vorwurfe  nicht  ganz  ausnehmen.  Denn  seine  Polemik 
gegen  die  Wunder  setzt  eben  voraus,  dass  der  Wundergläubige 
,,die  Lebendigkeit  und  Freiheit  Gottes"  wahren  und  demselben 
„eine  gesetzwidrige  Durchbrechung  der  Naturordnung" 
gestatten  wolle,  indem  er  dabei  „der  Natur  Elasticität"  zutraue 
und  sie  „höherer  Eingriffe  für  fähig  und  bedürftig"  halte.  Ich 
sehe  wohl,  dass  Pfleiderer's  Kritik  am  Platze  ist  den  modernen 
Apologeten   gegenüber*),  aber  ich  finde  nicht,   dass   er  nöthig 


*)  Das  Neueste,  was  ich  in  Zeitschriften  über  unsere  Frage  gesehen, 
steht  in  den  „Theolog.  Studien  und  Kritiken  vom  Jahre  1886,  Heft  3,  S.  403 
bis  646  unter  dem  Titel  »Wunder  und  Naturgesetz«".  Von  dem  Verfasser 
Paul  Gloatz,  Lic.  theol. ,  habe  ich  schon  oben  S.  167  die  DeJBnition  des 
Wunders  angef&hrt  und  bemerke,  dass  ich  mit  grosser  Befriedigung  S.  527 
auch  von  ihm  den  Standpunkt  RitschTs  als  unphilosophischen  und  leeren 
„religiösen  Illusionismus"  charakterisirt  fand.  In  dem  systematischen  Theile 
aber,  wo  er  (z.  B.  S.  643)  wieder  die  „neu  hervortretende  Causalitat  Gottes" 
bei  dem  Wunder  gegen  die  Naturgesetze  ausspielt,  arbeitet  der  Verfasser, 
wie  die  übrigen  Philosophen  und  Theologen,  noch  mit  den  Kategorien 
früherer  Metaphysik  und  bringt  die  Frage  daher  nicht  vom  Fleck. 


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174  Religion  der  Furcht. 

hätte,  solche  Kücksichten  zu  nehmen,  und  fordere  deshalb  eine 
strengere  Topik  des  l^griflFs  des  Wunders.  Denn  der  wirklich 
Wundergläubige  fühlt  ja  nicht  das  mindeste  Bedürfhiss,  sich  auf 
die  Naturgesetze  einzulassen,  und  besitzt  auch  keine  physikali- 
sche oder  psychologische  Erkenntniss  des  natürlichen  Verlaufes 
der  Ereignisse,  wie  er  auch  im  Traume  nicht  an  eine  feste 
Naturordnung  oder  an  eine  Elasticität  der  Natur  u.  dergl.  denkt. 
Die  Erkenntniss  eines  Widerspruchs  ist  nur  möglich,  wenn  man  die 
als  eins  gesetzten  sich  widersprechenden  Begriffe  beide  beherrscht. 
Darum  können  zwar  die  modernen  Kritiker  Änstoss  an  den 
Wundergeschichten  nehmen,  weil  ihre  Seele  zugleich  von  ße- 
spect  vor  den  sogenannten  Naturgesetzen  erflillt  ist;  das  Be* 
wusstsein  der  Gläubigen  kann  aber  solchen  Begriff  von  einem 
Wunder  gar  nicht  fassen,  da  sie  ja  in  allen  Naturereignissen 
freies  Schalten  und  Walten  von  Göttern  und  Dämonen  sehen  und 
ohne  alle  naturwissenschaftliche  Scrupel  Zeus  donnern,  Garm 
heulen  und  Wertra  mit  Indra  Krieg  in  den  Wolken  führen  lassen. 
Die  Wunder  geschahen  aber  lange  in  der  Menschheit,  ehe  die 
modernen  Kritiker  sich  darüber  wunderten,  und  mithin  mnss 
der  Begriff  des  Wunders  etwas  anderes  enthalten,  als  den  mo- 
dernen Widerspruch,  der  erst  seit  Beginn  exacter  Naturwissen- 
schaft im  Bewusstsein  entspringen  konnte.  Also  hat  man  die 
Frage,  wie  zu  beweisen  war,  am  unrechten  Orte  angefasst;  denn 
alle  Religionen,  welche  ja  voll  von  Wundern  sind,  wissen  nichts 
von  dem  Widerspruche  zwischen  unsem  naturwissenschaftlichen 
Hypothesen  und  den  wunderbaren  Handlungen  ihrer  Götter. 
Folglich  entsteht  der  moderne  Wunderbegriff  erst  durch  die  mo- 
derne Kritik*)  und  kann  uns  also  ziemlich  gleichgültig  sein,  da 
wir  von  den  Wundem  zu  handeln  haben,  die  in  dem  religiösen 
Glauben  der  Menschheit  eine  Rolle  spielen. 


'*')  Ich  sehe,  dass  auch  z.  B.  Adolf  Haruack  in  seinem  Lehrbuch  der 
Dogmengeschichte  l  S.  TiO  A.  4  nur  die  herkömmliche  Vorstellung  von 
einem  Wunder  hat  und  deshalb  einerseits  die  Wunder  aus  dem  Gebiete  der 
geschichtlichen  Forschung  ausschliessen  will ,  andererseits«  sich  auch,  wie  er 
sogt,  einen  starken  religiösen  Glauben  denken  kann,  der  koiner  Wunder  mehr 
bedürfe.  Wer  möchte  es  ihm  verargen,  dass  er  die  Wunder  satt  hat,  wenn 
er  sie  durchaus  in  der  herkömmlichen  Weise  auffassen  müsste;  aber 
warum  verlilsst  er  diese  ungenügende  Auffassung  nicht? 


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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  175 

Daher  hat  die  moderne  ungenügende  Analyse  des  Wunder- 
begriffs noch  einen  zweiten  Fehler.  In  diesem  BegriflFe  fehlt  ein 
constituirendes  Merkmal,  die  Bedeutung  oder  Erkenntniss  des 
Wunders.  Das  erste  Misslingen  der  Verstandesthätigkeit  in  der 
Ausdeutung  der  Wundererscheinung  löst  nämlich,  wie  oben  (S.  172) 
schon  angegeben,  eine  unbestimmte  Furcht  aus,  welche  den 
zweiten  Beziehungspunkt  bildet;  denn  kaum  ist  diese  Furcht  im 
Gemttthe  hervorgebrochen,  so  kommt  die  Verstandesthätigkeit 
wieder  in  Fluss,  weil  sie  nun  die  zugeordneten  Beziehungspunkte 
finden  kann.  Die  Furcht  setzt  ja  eine  zu  fllrchtende  mächtige 
Ursache  voraus.  Der  dem  Gläubigen  immer  wohl  bekannte,  die 
Natur  beseelende  Dämon  ist  also  in  Zorn  und  zwar  sicherlich 
über  uns,  weil  wir  ja  Furcht  haben  und  von  unserer  Furcht 
aus  das  Ereigniss  perspectivisch  deuten.  Mithin  hat 
das  Ereigniss  etwas  zu  bedeuten;  es  ist  zu  einem  reli- 
giösen Ereigniss,  zu  einem  Wunder  geworden.  In  der  Be- 
deutung eben  besteht  die  Erkenntniss  des  Wunders  und 
zwar  in  der  Bedeutung  für  uns;  denn  es  ist  ein  einzel- 
nes Ereigniss  und  bezieht  sich  auf  einen  in  der  Zeit  gege- 
benen einzelnen  Gemüthszustand  des  Gläubigen,  und  es  dreht 
sich  niemals  um  Bezeugung  der  abstracten  dogmatischen  Wahr- 
heit, dass  die  Götter  mächtig  sind  und  die  modernen  Natur- 
gesetze durchbrechen  können.  Der  Gläubige  und  vor  Allen  der 
Priester  hat  daher  in  dem  Ereigniss  ein  Wunder  zu  erkennen, 
indem  er  in  der  Handlungsweise  der  Gläubigen  etwas  heraus- 
findet, was  in  Beziehung  zu  ihrem  Gott  steht  und  seinen  Zorn 
erregen  konnte,  wodurch  das,  was  das  Ereigniss  von  Gottes 
Seite  her  bedeutet,  sofort  befriedigend  zu  erklären  ist.  So  star- 
ben z.  B.  die  Maulthiere  und  nachher  auch  die  argivischen  Krieger 
vor  Troja  massenhaft  an  der  Pest  Die  Todesursache  kommt 
geheimnissvoll.  Staunend  sieht  man  die  starken  Helden  ohne 
greifbare  Veranlassung  ins  Grab  sinken,  und  ein  Schrecken  er- 
fasst  die  Argiver.  Nun  tritt  der  Seher  Kalchas  auf  und  erklärt 
ihnen  das  Ereigniss;  denn  sie  haben  mit  Chryscs,  dem  Priester 
des  Apollo,  auch  den  Gott  selbst  beleidigt,  und  der  Gott  ist  es, 
der  sie  durch  seine  unsichtbaren  Pfeile  tödtet.  Das  Ereigniss 
ist  jetzt  befriedigend  erklärt,  es  hat  etwas  zu  bedeuten  und  ist 
als  Wunder,  als  eine  Offenbarung  Gottes  erkannt. 


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176  Religion  der  Furcht. 

Die  moderne  Kritik  ist  daher  an  dem  Problem  des  Wunders 
vorbeigegangen.  Denn  die  Wahmehmang  eines  Phänomens,  das 
man  nicht  gleich  erklären  kann  und  das  daher  die  Aufmerksam- 
keit und  das  Nachdenken  hervorruft,  braucht  ja  gar  nicht 
immer  die  armen  Naturgesetze  zu  beunruhigen.  Wir  könnten 
vielmehr  die  als  Wunder  bezeichneten  Phänomene  in  zwei  Grup- 
pen scheiden.  Die  eine  enthielte  dann  lauter  ganz  bekannte  und 
gewöhnliche  Erscheinungen,  die  nur  für  die  bestimmte  Lage  des 
Menschen  etwas  Ueberraschendes  haben,  z.  B.  wenn  bei  einem 
gefährlichen  Unternehmen  ein  Adler  aufsteigt  oder  der  Feldherr 
zur  Erde  föllt,  oder  wenn,  wie  Aristoteles  erzählt,  eine  Bildsäule, 
während  sie  einmal  betrachtet  wird,  zulUllig  umfallt,  und  gerade 
den  Mörder  des  Dargestellten  erschlägt.  Bei  allen  diesen  und 
ähnlichen  Vorgängen  werden  die  Naturgesetze  nicht  aufgehoben, 
obwohl  man  solche  Phänomene  als  Wunderzeichen  betrachtete. 
Die  zweite  Gruppe  enthielte  allerdings  Phänomene,  die  heute  als 
unmöglich  gelten,  z.  B.  einen  brennenden  Busch,  der  nicht  ver- 
brennt, Auferstehung  Gestorbener,  hungrige  Löwen,  die  den  Daniel 
nicht  fressen,  u.  s.  w.  Wenn  man  aber  aus  Rücksicht  auf  die 
moderne  Kritik  eine  solche  Eintheilung  der  Wunder  machte, 
würde  sich  zugleich  der  Fehler  zeigen,  dass  der  Eintheilungs- 
grund  transscendent  ist  und  mit  dem  Wesen  der  Sache  nichts  zu 
thun  hat,  ebensowenig,  wie  wenn  man  die  Vögel  darnach  ein- 
theilen  wollte,  ob  sie  auf  den  Hüten  der  Damen  zur  Decoration 
dienen  könnten  oder  nicht.  Vielmehr  wurden  die  Phänomene, 
welche  in  den  Wundergeschichten  vorkommen,  alle  für  natür- 
lich und  wenn  auch  fUr  ungewöhnlich,  doch  immer  für  möglich 
gehalten,  weshalb  es  ja  auch  nach  dem  Volksglauben  beständige 
und  regelmässig  wiederkehrende  Wunderzeichen  gab,  wie  z.  B. 
AratoB  in  volksthümlicher  Weise  die  Himmelserscheinungen  als 
Wunderzeichen  des  Zeus  beschreibt,  der  offenkundig  durch  die 
regelmässigen  Aufgänge  der  mit  den  furchtbaren  Elementen  coor- 
dinirten  Gestirne  dem  Geschlechte  der  Menschen  heilsame  Winke 
gebe  und  zu  ihnen  spreche  ()i7ei).  Darum  ftllt  bei  jedem  Wun- 
der der  Accent  immer  auf  die  Deutung  und  nicht  auf  die  Er- 
eignisse, welche  zur  Deutung  Veranlassung  bieten.  Nicht  wie 
es  zuging,  dass  die  Löwen  den  Daniel  nicht  frassen,  wird  von 
den  Gläubigen  hervorgehoben  und  gepriesen,  sondern  dass  seine 
Unschuld  und   seine  Wohlgefillligkeit  vor  Gott   oflfenbar  werden 

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Allgemeinere  Fragen.     Daa  Wunder.  177 

sollte;  nicht  woher  die  Heuschrecken  überEgypteri  kamen,  son- 
dern dass  die  Egypter  wegen  der  Bedrückung  der  Juden  ge- 
straft werden  sollten ;  nicht  wie  der  materielle  Leichnam  Christi 
verschwinden  und  sich  in  einen  unverweslichen  neuen  Leib  ver- 
wandeln konnte,  sondern  dass  unsere  zukünftige  Auferstehung 
und  die  jenseitige  Welt  der  Geister  dadurch  in's  Bewusstsein 
träte  und  zu  Hofhung  und  Glaube  würde.  Eben  weil  die  auf- 
fallenden Phänomene  der  Natur  nur  den  Anlass  bilden,  um  auf 
das  eigentlich  Religiöse,  auf  die  ftir  das  persönliche  Leben  allein 
wichtige  Deutung  der  Sprache  Gottes,  tiberzugehen,  darum  wer- 
den jene  wunderbaren  Umstände  auch  nirgends  mit  einer  solchen 
Genauigkeit  erzählt,  dass  ftir  eine  gerichtliche  oder  natur- 
wissenschaftliche Untersuchung  genügendes  Material  darge- 
boten würde.  Das  Interesse  des  religiösen  Menschen  besteht  ja 
zunächst  gar  nicht  in  einer  Vergleichung  von  Dogmatik  und 
Naturwissenschaft.  Vielmehr  nehmen  diejenigen,  welchen  die 
Zeichen  gedeutet  werden,  mit  den  gegebenen  Erzählungen  immer 
vorlieb,  und  wer  den  ftir  das  Wunder  erforderlichen  Gemüths- 
znstand  nicht  besitzt,  auf  den  können  dieselben  keinen  Eindruck 
machen.  Man  darf  den  historischen  Standpunkt,  die  perspec- 
tivische  Betrachtungsweise  nicht  vergessen.  Die  Gänse 
auf  dem  Capitol  wurden  nicht  für  Moltke  geflittert,  und  die  Auf- 
erstehungsgeschichte wurde  nicht  für  Langenbeck  erzählt.  Die 
moderne  Kritik  ist  deshalb  mehr  als  einseitig,  weil  sie  von  den 
vielen  und  verschiedenen  Momenten  der  Sache  nur  ein  einziges 
berücksichtigt  und  dieses  nur  nach  derjenigen  Seite  auffasst,  die 
nicht  zur  Sache  gehört,  sondern  eine  transscendente  Beziehung 
enthält,  d.  h.  eine  Beziehung  auf  Menschen  einer  anderen  Zeit 
und  einer  anderen  Bildungsstufe.  Das  Wunder  aber  ist  bestimmt 
zu  wirken  und  so  kommen  wir  auf  die  Psychagogie. 

2.  Die  Psychagogie.  Ist  die  Idee  des  Wunders  in  der 
Erkenntniss  der  Gläubigen  erst  einmal  geboren,  so  muss  sie 
sich  auch  fi-uchtbar  vermehren;  denn  wenn  durch  das  Wunder 
eine  Sprache  Gottes  erkannt  und  ein  Verkehr  mit  dem  Gotte 
hergestellt  ist,  so  kann  der  Gläubige  sich  auch  dem  Willen  des 
Gottes  entsprechend  verhalten  und  sein  Diener  und  Mitkämpfer 
werden,  und  so  ist  es  ganz  in  der  Ordnung,  dass  man  von  dem 
Gotte  bei  jeder  wichtigen  Unternehmung  ein  Wunderzeichen  ver- 
langt, damit  man  der  göttlichen  Leitung,  der  Ermuthigung  oder 

Telchmüller.  BeligloiiBphllawphle.  ^12^^      GoOQIc 


178  Religion  der  Furcht. 

der  Abmahnung  nicht  entbehre.  Die  Wander  in  den  Eingeweiden 
der  geschlachteten  Thiere,  die  plötzlich  erschallenden  ünheilstöne 
eines  Vogels,  die  plötzlichen  Verfinsteningen  der  Sonne  u.  s.  w. 
haben  deshalb  als  ebenso  viele  Willenserkläningen  Gottes  viele 
Unternehmungen  plötzlich  gehemmt,  wie  umgekehrt  die  siegver- 
heissenden  Zeichen,  der  rechtsfliegende  Adler,  der  Blitz  u.  dergl. 
den  göttlichen  Beistand  versprachen  und  die  Seelen  der  Gläu- 
bigen mit  unbezwinglichem  Muth  erfüllten. 

Hieraus  ergiebt  sich,  dass  die  Wunder  nicht  bloss  zu  er- 
kennen, sondern  auch  zur  Psychagogie  zu  gebrauchen  Sache 
des  Priesters  ist,  der  den  Willen  Gottes  deuten  und  verkünden 
muss.  Darum  entwickelt  sich  in  allen  Religionen  der  Furcht 
eine  sehr  umfangreiche  Augurenwissensehaft,  eine  Geheimlehre 
über  die  Sprache  der  Götter,  und  wie  unwissenschaftlich  und 
lächerlich  uns  auch  eine  solche  Gelehrsamkeit  erscheinen  möge, 
so  musste  sie  nun  doch  einmal  sich  bilden;  denn  die  Gläubigen 
wandten  sich  in  grösster  Bathlosigkeit  und  tiefer  Angst  des  Ge- 
müthes  an  den  Priester  als  den  Interpreten  der  Götter,  der  aus 
sicheren  Zeichen  ihren  Willen  erkannte.  Mit  erstaunlicher  Kraft 
hat  uns  Sophokles  z.  B.  in  seiner  Antigene  und  in  seinem  Oedi- 
pus  diese  Rolle  des  Priesters  vor  Augen  gefllhrt  Dem  aufge- 
regten Volke  und  dem  rathlosen  Könige  tritt  mit  einer  feierlich 
festen  Autorität  der  greise  Tiresias  gegenüber  und  verkündigt 
mit  hinreissender  Gewalt,  was  er  allein  weiss  und  offenbaren 
kann,  den  Grund  des  göttlichen  Zorns.  Und  vor  dieser  Verkün- 
digung bricht  das  Königthum  zusammen;  denn  die  Gottesfurcht 
beherrscht  die  Welt. 

Die  Psychagogie  des  Priesters  hat  darum  zwei  Aufgaben. 
Zunächst  die  natürlichen  Ereignisse  so  zu  deuten,  dass  die  Furcht 
erweckt,  verstärkt  und  rege  erhalten  wird.  Der  Priester  muss 
daher  die  vergangenen  und  gegenwärtigen  gesellschaftlichen  und 
persönlichen  Verhältnisse,  Handlungen  und  Lebens-Ereignisse  der 
Gläubigen  genau  kennen,  um,  wenn  er  weiss,  was  sie  mit  Leiden- 
schaft begehren,  demgemäss  die  Furcht  in  ihren  Gemüthem  er- 
regen zu  können;  denn  die  Deutung  der  Götterzeichen  und  Wun- 
der muss  ja  nach  dem  subjectiven  Beziehungspunkte,  d.  h.  nach 
den  persönlichen  Sorgen  und  Leidenschaften  der  Menschen  geleitet 
werden  und  daher  immer  individuelle  Gestalt  annehmen.  „Wenn  Du 
über  den  Halys  gehst,  wirst  Du  ein  grosses  Reich  zerstören^'.   Der 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Wunder.  179 

Gott  weiss  genau  von  den  politischen  Verhältnissen  Bescheid 
und  kennt  die  ehrgeizigen  Absichten.  Zugleich  rührt  hierher  die 
berüchtigte  Vieldeutigkeit  der  Orakel,  die,  wie  Aristoteles  mit 
Recht  hervorhebt,  den  Priestern  zur  Nothwendigkeit  wurde-,  denn 
da  sie  doch  nur  durch  Conjectur  die  Zukunft  bestimmten,  so 
mussten  sie  oft  durch  Unbestimmtheit  und  Zweideutigkeit  (Am- 
phibolie)  ihre  Verkündigungen  sicherstellen,  damit  der  Gott,  wie 
bei  Kroisos,  inuner  Recht  behielte.  Entsprechend  der  Furcht  hat 
der  Priester  aber  auch  die  zugehörige  Hoffnung,  das  Ver- 
trauen, den  Muth  zu  heben,  damit  die  Gläubigen  durch  die 
günstigen  Wunderzeichen  gestärkt  mit  Energie  ihre  Unterneh- 
mungen ausführten  und  nicht  sich,  sondern  den  helfenden  und 
rettenden  Göttern  den  Erfolg  verdankten. 

Die  zweite  Aufgabe  des  Priesters  besteht  in  der  Anordnung 
von  Handlungen,  wodurch  der  Verkehr  mit  der  Gottheit  einen 
sichtbaren  Ausdruck  empföngt.  Davon  ist  schon  oben  gesprochen,* 
und  ich  erwähne  nur,  welche  Wichtigkeit  die  Pflege  dieser 
Handlungen  für  den  Priester  hat;  denn  durch  diese  Handlungen 
bekommt  die  innerliche  Frömmigkeit  erst  das  Bewusstsein 
über  sich  und  die  Wirklichkeit  der  Gemeinschaft  mit  den  Göt- 
tern. Mithin  kann  dadurch  allein  auch  eine  sociale  Religion 
und  eine  Infection  der  Gottesfurcht  stattfinden,  so  dass  im  guten 
wie  im  schlimmen  Sinne  dadurch  die  Macht  und  der  Einfluss  des 
Priesters  wie  des  Glaubens  und  Aberglaubens  anwächst.  Darum 
müssen  die  Wunderzeichen  und  ihre  Deutungen  möglichst  mit 
den  Opferhandlungen  und  dem  ganzen  Gottesdienste  verwoben 
werden;  denn  auf  die  vorher  erfolgten  Gaben  und  Demüthigungen 
ergiebt  dann  erst  die  Opferschau,  ob  der  Gott  gnädig  den  Büssen- 
den  annehme  und  ihm  die  Erfüllung  seiner  Wünsche  verheisse. 
So  muss  schon  die  Annäherung  an  die  heiligen  Stätten,  wo  des 
Gottes  Kraft  für  gegenwärtig  und  wirksam  geglaubt  wird,  durch 
Gaben  erkauft  werden;  denn  nicht  ohne  Hingebung  an  die  Ma- 
jestät und  Anerkennung  ihrer  Autorität  kann  der  Gläubige  in 
Gemeinschaft  mit  Gott  treten.  Naiv  sagt  Jon  bei  Euripides  v.  221: 
„Sobald  Ihr  im  Vorhof  Opfer  gebracht  und  von  Phöbos  ein  Wort 
zu  vernehmen  begehrt,  dann  schreitet  hinein;  doch,  schlachtetet 
Ihr  kein  Lamm,  dann  meidet  den  heiligen  Raum."  In  den  höheren 
Religionen  fällt  nun  zwar  das  Blut  der  Opferthiere  weg,  aber 
was   an   sinnlicher  Wirklichkeit  verloren   geht,    muss   doch   im 

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180  Beligion  der  Furcht. 

Symbol  und  wenigstens  in  der  Allegorie  der  Sprache  erhalten 
bleiben,  weil  wir  auch  bei  höherer  geistiger  Entwickelung  doch 
immer  nur  als  Menschen,  welche  fürchten  und  hoffen,  in  Fleisch 
und  Blut  dasein  können.  Darum  hat  man  vernünftiger  Weise 
die  Pflicht,  die  oft  seltsamen  Gebräuche  der  Kirche  zu  verthei- 
digen,  indem  man  sie  erklärt.  So  erfolgt  z.  B.  auch  in  unserem 
christlichen  Cult  erst  nach  der  in  sichtbarer  Handlung  symbo- 
lisch dargelegten  Busse  und  Demüthigung  die  Verkiindung  der 
Gnade,  indem  in  der  katholischen  Kirche  noch  das  Wunder- 
zeichen der  Messe  durch  die  Glocke  gemeldet  wird. 

b.  Die  Kritik  der  Wunder. 
Nachdem  wir  die  Entstehung  und  das  Wesen  der  Wunder 
in  der  Furchtreligion  erkannt  haben,  ist  es  erforderlich,  auch 
einen  Blick  auf  die  höheren  Religionen  zu  werfen.  Es  zeigt  sich 
dann  sofort,  dass  auch  das  Jndenthum,  der  Islam  und  selbst  das 
Christenthum  eine  unzählbare  Menge  von  Wundem  aufzuweisen 
haben,  und  zwar  gerade  auch  von  Wundem  in  dem  alten  ächten 
Sinne  der  Furchtreligion.  Wie  soll  man  sich  dies  erklären? 
Offenbar  doch  nur  dadurch,  dass  wir  die  Furchtreligion  auch  bei 
allem  Fortschritt  sittlicher  und  intellectueller  Bildung  nicht  los 
werden  können.  Und  waram  nicht?  Weil  diese  alte  Religion 
auf  Furcht  und  Hoffnung  aufgebaut  ist,  d.  h.  auf  die  allgemein- 
sten Affekte  der  Selbstsucht,  die  alle  leiblichen,  persönlichen  und 
socialen  Interessen  der  Menschen  umfassen  und  deren  der  Mensch 
nicht  ledig  wird,  so  lange  er  „er  selbst"  bleibt.  Folglich  wird 
sich  in  jede  höhere  Religion  entweder  rechtmässig  oder  unrecht- 
mässig auch  ein  aus  der  Religion  der  Furcht  stammendes  Ele- 
ment einmischen,  und  mithin  ist  a  priori  einzusehen,  dass  und 
wamm  die  dahin  gehörenden  Wunder  eine  so  allgemeine  Ver- 
breitung finden  müssen.  In  jeder  höheren  Religion  sind  sie  aber 
ein  dem  specifischen  Charakter  derselben  fremdes  Element,  da 
sie,  wie  oben  nachgewiesen,  nur  der  Religion  der  Furcht  eigeu- 
thümlich  zukommen.  Solche  fremde  Elemente  werden  nun 
entweder  mit  dem  eigenen  Gewebe  der  höheren  Religion  durch 
eine  besondere  Gedankenfolge  vereinigt,  oder  sie  mischen  sich 
ganz  unorganisch  ein.  In  der  unreinen  Rechtsreligion,  z.  B.  im 
Judenthum,  werden  sie  als  Strafen  oder  Belohnungen  für  Bundes- 
treue oder  Bundesbmch  angesehen  und  in  die  Nationalgeschichte, 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  181 

wenn  auch  theilweise  von  sehr  engem  Gesichtspunkte  aus,  doch 
im  Ganzen  mit  einem  grossartigen  und  nur  den  Juden  eigenen 
Sinn  ftlr  eine  religiöse  Weltgeschichte  so  wirksam  verwerthet, 
dass  sie  aus  dem  Gewebe  der  ganzen  religiösen  Gesinnung  gar 
nicht  abzulösen  sind.  Im  Islam  dreht  es  sich  meist  um  blosse 
Spektakelstücke,  da  diese  Keligion  ja  ihrem  Wesen  nach  Furcht- 
religion ist  und  die  höheren  Ideen  bloss  als  unorganische  Ele- 
mente eingeschoben  enthält.  Im  Christenthum  als  Volksreligion, 
wenn  man  darunter  alle  die  verschiedenen  Gonfessionen  zusam- 
menfasst,  welche  überhaupt  den  Namen  von  Christus  angenommen 
haben,  findet  man  auch  alle  die  verschiedenen  Formen  der 
Wunder  vertreten. 

Da  wir  nun  als  Beligionsphilosophen  auf  alle  Formen  der 
Religion  hinblicken,  so  werden  wir  auch  die  Frage  nicht  um- 
gehen können,  ob  die  Wunder  wahr  gewesen  sind,  d.  h.  wie  wir 
uns  von  christlichem  oder  von  philosophischem  Standpunkte  zu 
den  früheren  Wundergeschichten  kritisch  verhalten  sollen.  Das 
Wunder  ist  aber,  wie  wir  sahen,  keine  einfache  Sache;  es  ist 
deshalb  ganz  in  der  Ordnung,  dass  die  Kritiker  bald  auf  dieses, 
bald  auf  jenes  Element  ihr  Auge  gerichtet  und  auch  nach  dem 
Locus  de  pluribus  interrogationibus  die  Gesichtspunkte  durch- 
einandergemischt und  verwechselt  haben.  Unsere  nächste  Auf- 
gabe ist  daher,  das  Verschiedene  auch  fttr  die  Betrachtung  zu 
scheiden.  Nun  geht  das  Wunder  als  Deutung  der  Sprache  Gottes 
immer  von  gewissen  äusseren  Erscheinungen  als  Zeichen  aus, 
und  mithin  werden  wir  zwei  Aufgaben  zu  lösen  haben,  die  Kritik 
der  Zeichen  und  die  Kritik  der  Deutungen. 

Ueber  die  Zeichen  möchte  ich  rasch  hinweg-  ^^^  ^^"^  **«' 
gehen;  denn  es  sind  ja  nur  die  geringeren  Kritiker, 
die  sich  an  dies  Aeusserliche  machen.  Da  aber  auch  der  grössere 
Theil  der  Religiösen  immer  mehr  oder  weniger  ungebildet  blei- 
ben muss,  so  ist  es  ganz .  natürlich,  dass  man  in  der  Regel, 
wenn  vom  Wunder  gehandelt  wird,  die  leidenschaftlichsten  Reden 
ftir  oder  gegen  die  Annahme  der  Zeichen  zu  vernehmen  hat,  und 
die  Apologeten,  wie  ihre  Kritiker,  überbieten  sich  dabei  in  Ge- 
schmacklosigkeit und  in  Unkenntniss  der  Sache,  um  die  es  sich 
eigentlich  dreht. 

Die  Apologeten  einerseits  pflegen  den  grössten  Werth  darauf 
zu  legen,  dass  die  Zeichen  so  absurd  wie  möglich  sind,  damit 


182  .   Religion  der  Furcht. 

die  gefahrliche  and  erstaunliche  Macht  ihres  Dämons  recht  haar- 
sträubend werde.  So  mtissen  Menschen  von  einem  Orte  zu 
einem  tausende  von  Meilen  entfernten  anderen  in  einem  Augen- 
blicke versetzt,  der  Mond  muss  vom  Himmel  hemiedergezogen 
werden,  das  Meer  muss,  wie  bei  Anepu,  um  einer  Haarlocke 
willen  bis  auf  die  Berge  laufen,  die  Leute  müssen  im  Magen 
eines  Fisches,  den  es  nicht  giebt,  einige  Tage  residiren,  die 
Erde  muss  zittern,  die  Sonne  stillstehen,  die  trockenen  Zweige 
müssen  in  einer  Nacht  Blätter  treiben  u.  s.  w.,  kurz  es  fehlte 
nur,  dass  sie  die  Sonne  und  den  Mond  Mazurka  tanzen  Hessen, 
um  so  recht  ihren  Mangel  an  Sinn  für  die  Wahrheit,  ihre  Un- 
kenntniss  der  Natur  und  ihren  niedrigen  religiösen  Standpunkt 
an  den  Tag  zu  legen. 

Die  Kritiker  aber  machen  es  nicht  eben  besser,  indem  sie 
wie  die  Aasfliegen  bloss  um  diese  armselige  Speise  herumsum- 
men; denn  was  lohnt  es  sich,  das  noch  weitläufig  zu  beweisen, 
dass  man  heut  zu  Tage  in  der  Zeit  einer  reichen  naturwissen- 
schaftlichen Bildung  und  einer  grossen  Uebung  in  historischer 
Kritik  uns  durch. alte  Wundergeschichten  nicht  mehr  imponiren 
kann.  Was  gehen  uns  jetzt  die  gestauten  Wellen  des  rothen 
Meeres  an  und  die  redenden  Esel  und  die  Himmelfahrten  u.  dergl. 
Es  ist  nicht  eben  klug,  durch  solche  Antiquitäten,  in  die  sich 
der  moderne  Mensch  nur  mit  Mühe  hineindenkt,  die  Gemtither 
unserer  Zeit  bewegen  zu  wollen,  gerade  als  wollte  man  in  die 
Rüstkammern  laufen  und  die  alte  Lanze  eines  Ritters  oder  eine 
verstaubte  Armbrust  holen,  um  damit  gegen  die  Krupp' sehen 
Kanonen  zu  kämpfen.  Die  Wunder  wirken  ja  nicht,  wenn  die 
Hörer  nicht  vorher  in  Furcht  waren  und  das  Bedürfhiss  fühlten, 
einen  Seher  zu  befragen  oder  das  Orakel  eines  apokalyptischen 
Propheten  zu  vernehmen.  Und  selbst  wenn  dies  der  Fall  wäre, 
so  würden  doch  nur  gegenwärtige  Ereignisse  Eindruck  machen 
und  nicht  unbeglaubigte  Geschichten  aus  einer  Culturstufe,  die 
uns  als  kindlich  und  unmündig  ersc&einen  muss. 

Da  nun  jeder  Gebildete  hierüber  im  Reinen  ist,  so  müssen 
die  Apologeten  mit  ihren  Kritikern,  wie  der  Jude  und  der  Mönch 
bei  Heinrich  Heine,  ziemlich  denselben  Eindruck  machen;  denn 
sie  verstehen  beide  das  Wesen  des  Wunders  nicht,  behandeln 
die  Zeichen  als  Dinge,  die  in  die  Naturwissenschaft  und  Welt- 
geschichte  gehörten,   und  reissen  sie  so  aus  ihrem  natürlichen 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  183 

Zusammenhange  heraus.  Es  muss  eben  mit  dem  Wunder  noch 
eine  andere  Bewandniss  haben,  denn  wo  man  nur  in  das  reli- 
giöse Leben  der  Menschheit  hinblickt,  überall  findet  man  Wunder 
in  Menge,  und  sie  haben  grosse  Wirkungen  gethan,  ganze  Völker 
ermuthigt,  mächtige  Fürsten  vom  Throne  geworfen,  Recht  und 
Unrecht  geschieden  oder  geschützt  und  die  Politik  getragen; 
immer  aber  streckten  sie  ihre  Wurzeln  in  den  mütterlichen  Boden 
des  Glaubens,  in  die  Angst  der  Herzen,  in  die  Rathlosigkeit  der 
Köpfe.  Wer  sie  ohne  diese  zugehörigen  perspectivischen  Um- 
stände betrachtet,  verfährt  so  klug,  wie  Jemand,  der  die  östliche 
und  westliche  Seite  des  Himmels  bestimmen  wollte,  ohne  auf 
die  Erde  Rücksicht  zu  nehmen. 

Wir  sahen  oben,  dass  das  Wesen  des  Wunders    ^^"^  **' 

Deuttmg. 

in  der  Deutung  liegt,  durch  welche  irgendeine  ge- 
wöhnliche oder  ungewöhnliche  Erscheinung,  welche  eine  unbe- 
stiminte  Furcht  und  demgemäss  ein  religiöses  OefQhl  erregte, 
als  Zeichen  Gottes  oder  als  Wunder  erkannt  wird.  Der  tiefer- 
blickende Scharfsinn  muss  sich  deshalb  mit  der  Kritik  der  reli- 
giösen Deutungen  beschäftigen;  denn  nur  aus  dieser  neuen  Defi- 
nition des  Wunders  erklärt  sich  auch  der  alte  Satz,  dass  Wunder 
bloss  geschehen,  wo  sie  geglaubt  werden,  dass  Wunder  des 
Glaubens  liebstes  Kind  sind,  dass  die  Propheten  in  ihrer  Heimath 
keine  Zeichen  thun  u.  s.  w.,  was  ja  alles  gar  nicht  wahr  sein 
könnte,  wenn  die  Wunder  an  und  für  sich  ausserordentliche  Er- 
eignisse wären,  während  sie  vielmehr  an  und  für  sich  irgend- 
welche natürliche  Ereignisse  sind,  die  nur  durch  die  Deutung, 
d.  h.  durch  den  Glauben,  als  Zeichen  oder  Sprache  Gottes,  zu 
einer  Besonderheit  gelangen  und  als  Wunder  betrachtet  werden. 
Da  nun  die  Wunder  Deutungen  sind  und  vom  Priester  zur 
Belebung  der  Gottesftircht  und  zur  Leitung  der  Gläubigen  be- 
nutzt werden,  so  erklärt  es  sich  auch  leicht,  dass  selbst  in  der 
Furchtreligion  sehr  häufig  die  Kritik  gegen  sie  aufsteht  Denn 
wenn  das  Wunder,  d.  h.  die  Auslegung  eines  Ereignisses,  etwa 
einem  Mächtigen  zu  nachtheilig  ist,  so  empört  er  sich  gegen  den 
Priester  und  erkennt  die  Auslegung  und  also  das  Wunder  nicht 
als  wahr  an,  wie  z.  B.  Agamemnon  und  Oedipus  und  Kreon  \l  A. 
Dann  hört  man:  „Nach  Gelde  giert  das  Volk  der  Priester  nur^*, 
oder  „Um  des  Thrones  willen  schleicht  mir  Kreon  nach,  der  mich 
aus  der  Stadt  zu   treiben  strebt,  anstellend  diesen  Zaubermann 


184  Religion  der  Furcht. 

(Teiresias),  den  Ränkeschmied,  den  listenvollen  Gaukler,  der  im 
Wucher  bloss  scharfsichtig  und  in  seiner  Kunst  ein  Blinder  ist," 
oder  man  lässt  die  Gänse,  die  nicht  fressen  wollen,  ersäufen. 
Darum  gelten  auch  die  Wunder  der  Einen  Religion  in  einer 
andern  nichts,  was  ja  natürlich  ist,  da  sie  alle  vom  perspectiv 
vischen  Standpunkte  Wohl  und  Wehe  für  den  Einzelnen  oder 
für  den  Stamm  bedeuten  und  deshalb  niemals  eine  allgemeine 
Bedeutung  haben  können. 

Wenn  wir  nun  als  Philosophen  über  die  Wahrheit  der 
Wunder  urtheilen  sollen,  so  haben  wir  die  Frage  zu  stellen,  ob 
die  gegebenen  Zeichen  zu  der  perspectivischen  Deutung  derselben 
zwingen  und  ob  also  die  Wundergeschichte  insofern  eine  rich- 
tige religiöse  Interpretation  ist.  Dass  diese  Art  der 
Stellung  des  Problems  nicht  so  paradox  ist,  wie  sie  scheinen 
könnte,  da  man  bisher  über  die  Wunder  ganz  anders  zu  raison- 
nieren  pflegte,  lässt  sich  leicht  beweisen,  wenn  man  sich  in 
die  Religionsgeschichte  näher  einlässt.  Denn  man  weiss  doch, 
dass  reiche  Leute  unter  den  Hellenen  und  Barbaren  häufig  meh- 
rere Orakel  mit  vielen  Geschenken  befragten,  um  eine  Deutung 
zu  finden,  die  ihrem  Gemüthszustande,  ihren  Meinungen  von  den 
Göttern  und  den  bezüglichen  Ereignissen  am  Besten  entspräche. 
So  fragte  auch  der  biblische  Pharao  die  egyptischen  Priester, 
alle  Wahrsager  des  Landes  und  den  Joseph,  um  eine  seinem 
ganzen  Zustande  entsprechende,  perspectivisch  richtige  Inter- 
pretation seiner  Träume  zu  erhalten.  Es  ist  daher  nicht  paradox, 
sondern  gerade  der  Sache  und  der  religiösen  Ueberzeugung  an- 
gemessen, wenn  ich  die  Kritik  der  Wunder  in  dieser  Weise  for- 
muliere. 

Freilich  ist  guter  Rath  theuer,  wenn  wir  jetzt  eine  gescheidte 
Antwort  auf  eine  so  schwierige  Frage  geben  sollen;  denn  wir 
haben,  wenn  wir  die  Gleichung  ansetzen,  lauter  x,  y,  z,  da  die 
bekannten  Grössen,  nämlich  die  Träume,  die  Blitze,  die  Adler  u.  s.  w. 
ja  nicht  nach  ihrer  naturwissenschaftlichen  Qualification  in  Frage 
kommen,  sondern  nach  ihrer  Bedeutung  in  der  Sprache  der 
Götter,  flir  welche  es  weder  Lexikon,  noch  Grammatik  giebt. 
Glücklicher  Weise  ist  aber  die  Welt  so  eingerichtet,  dass  die 
Noth  die  Mutter  der  Erfindungen  ist,  und  so  führt  uns  auch  die 
peinliche  Verlegenheit  unserem  Problem  gegenüber  sehr  bald  zu 
der    Entdeckung,    dass    die    Interpretationsgesetze    der  Wunder 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  185 

durchatis  nicht  in  irgend  einer  theoretischen  Sphäre  liegen.  Mit 
bloss  didaktischem  Vortrage  kann  man  keinen  Hund  vom  Ofen 
locken  und  weder  die  Völker  und  Könige  leiten,  noch  das  ge- 
ängstete  Herz  der  Gläubigen  befriedigen;  dazu  gehört  vielmehr 
eine  grosse  und  mächtige  Kunst,  die  hier  in  ihr  Recht  eingesetzt 
werden  muss,  die  unbeschränkte  Herrin  über  alle  Entschlüsse 
der  Menschen,  die  Beredtsamkeit,  und  folglich  geht  die  Frage 
in  eine  neue  Fassung  über,  nämlich  in  die  Kritik  der  religiösen 
Rhetorik. 

So  ganz  handlich  und  spruchreif  ist  uns  übrigens 
hiermit  die  Sache  doch  noch  nicht  zurechtgemacht;  ^*  Wirkung. 
denn  die  Kritik  der  Rhetorik  hat  wieder  ihre  zwei  Seiten,  die 
nicht  mit  einem  Worte  erledigt  werden  können.  Zunächst  sehen 
wir  aber  sofort,  dass  alle  Redner  den  Werth  ihrer  Leistung  nach 
dem  Erfolge  beurtheilt  wissen  wollen.  Hätte  deshalb  Kalchas 
bei  Homer  seine  Rede,  worin  er  die  religiöse  Interpretation  der 
Pest  gab,  flir  Brettschneider,  R^nan  u.  A.  plausibel  machen 
wollen,  so  wäre  seine  Rhetorik  verfehlt  gewesen;  denn  diese 
Kritiker  würden  nicht  tiberzeugt  worden  sein;  es  genügte  ihm 
aber,  dass  er,  der  alte  schwache  Mann,  den  gössen  König 
Agamemnon  und  das  gewaltige  Heer  der  Griechen  zum  Gehorsam 
zwang  und  sie  durch  die  in  ihnen  erregte  eigene  Ueberzeugung 
von  der  Richtigkeit  seiner  Interpretation  dazu  nöthigte,  eine  sehr 
kostspielige  und  zeitraubende  Expedition  zur  Versöhnung  eines 
entfernt  wohnenden  Priesterkönigs  auszusenden.  Für  die  Medicin 
ist  hierdurch  zur  Diagnose  der  Pest  nichts  gewonnen  und  nichts 
für  die  Therapie;  die  vielen  Generationen  der  Griechen  aber, 
die  sich  an  solchen  alten  Wundergeschichten  berauschten,  be- 
urtheilten  die  Leistung  des  Kalchas  offenbar  nach  dem  Erfolge. 
Mithin  müssen  wir  von  dieser  Seite  der  Beredtsamkeit  aus- 
gehend die  Kritik  der  Wunder  zu  der  Entscheidung  führen,  dass 
nur  diejenigen  Wunder  anzuerkennen  sind,  welche  Glauben  ge- 
funden haben,  und  dass  nur  diejenigen  Wunder  noch  jetzt  er- 
zählt und  irgendwie  benutzt  werden  dürfen,  welche  noch  jetzt 
in  dem  jedesmal  zugehörigen  Kreise  Glauben  finden  oder  eine 
gemüthbewegende  Wirkung  ausüben  können.  Wenn  sich  deshalb 
die  Griechen,  die  Inder,  die  Israeliten  und  auch  die  Christen 
viele  Jahrhunderte  lang  ihrer  alten  Wunder  bedienten  und  sie 
in  ihre  Gesänge,  Tragödien  und  Reden  verflochten,  so  ist  nichts 

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186  Religion  der  Furcht. 

dagegen  einzuwenden,  weil  vom  Standpunkt  der  Beredtsamkeit 
dieses  Mittel  brauchbar  und  erfolgreich  war;  wenn  man  aber 
heutzutage  bei  modern  Gebildeten  damit  Fiasco  macht,  so  ver- 
urtheilt  die  Ehetorik  mit  Recht  einen  so  ungeschickten  Gebrauch. 
Jede  fiede  ist  ungeschickt  und  verfehlt,  die  durch  Argumente 
wirken  will,  welche  nicht  wirken  und  nicht  mehr  wirken  können. 
Deshalb  würde  auch  heutzutage  das  Christenthum  keinen  Schuss 
Pulver  mehr  werth  sein,  wenn  seine  Macht  bloss  auf  Verwandeln 
von  Wasser  in  Wein,  auf  Todtenerweckungen,  Himmelfahrten 
und  Auferstehungen  gestützt  werden  müsste;  denn  die  Religion 
ist  keine  Antiquität,  sondern  eine  lebendige  Macht,  und  sie 
müsste  für  unwahr  gelten,  wenn  sie  nicht  auf  gegenwärtig 
wirkenden  Kräften  ruhte.  Der  Redner  und  also  auch  der  Prediger 
hat  seine  Zuhörer  nicht  überzeugen  zu  wollen  mit  Argumenten, 
die  vor  zweitausend  Jahren  Eindruck  machten,  sondern  mit 
solchen,  die  jetzt  unser  Herz  bewegen.  Nirgends  auch  haben 
die  grossen  Redner  und  Propheten  ihre  Beredtsamkeit  auf  Er- 
zählung alter  Geschichten  begründet,  sondern  immer  auf  gegen- 
wärtige Ereignisse,  die  sie  als  Wunder  deuteten,  und  sie  haben 
das  Alte  nur  als  eine  Bestätigung  mit  erwähnt,  sofern  sie  auf 
die  geeignete  Glauben^tmosphäre  rechnen  konnten. 

Obgleich  nun  die  grossen  Meister  der  Beredt- 
2.  Die  Wahrheit,  g^mkeit  als  höchstes  Gesetz  und  Kriterium  ihrer 
Kunst  immer  nur  die  Wirkung  und  den  Erfolg  hinstellen  und 
also  bloss  die  Macht  über  die  Gemüther  in's  Auge  fassen,  so 
werden  wir  Philosophen  dennoch  der  warnenden  Stimme  des 
göttlichen  Piaton  folgen,  der  eine  solche  Kunst  für  gesinnungslos 
und  staatsgefahrlich  erklärt  und  auch  ihr  gegenüber  eine  noch 
höhere  Norm,  die  Wahrheit,  geltend  macht 

Die  Frage  nach  der  Wahrheit  wirft  uns  aber  nicht  etwa  in 
die  schon  oben  erledigten  Schwierigkeiten  zurück,  sondern  thürmt 
uns  vielmehr  Berge  von  neuen  und  grösseren  Schwierigkeiten 
auf,  die  nicht  so  leicht  zu  überwinden  sind.  Deshalb  ist  es  gut, 
die  Arbeit  zu  theilen,  und  zwar  wollen  wir  zunächst  als  Kritiker 
die  religiösen  Redner  nach  diesem  Gesichtspunkte  der  Wahrheit 
beurtheilen  und  dann  erst  in  speculativer  Forschung  den  philo- 
sophischen Begriff  des  Wunders  zu  finden  suchen. 

Wenn  es  sich  nun  um  die  Wahrheit  des  Wunders  dreht,  so 
müssen  sowohl  die  angeführten  Zeichen,   als  auch  die  darauf 

uiuuizeu  uy  V^J  vJVJ V  In- 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  187 

begründeten  Deutungen  wahr  sein,  beides  aber  darf  nicht  vom 
Standpunkte  der  Naturwissenschaft  oder  der  Geschichte,  sondern 
nur  nach  dem  populären  Bewusstsein  beurtheilt  werden,  weil  es 
sich  um  Beredtsamkeit  und  um  Lebensfragen  handelt  und  nicht 
um  Erörterungen  theoretischer  Wissenschaft;  denn  Jeder  richtet 
sich  im  Leben  nach  dem,  wovon  er  tiberzeugt  ist,  und  nur  in 
den  seltensten  Fällen  hat  man  Zeit  und  Veranlassung,  vor  seiner 
Entscheidung  noch  Theoretiker  zu  befragen  und  Experimente 
anzustellen.  Auch  beziehen  sich  die  Handlungen  auf  das  individuelle 
Gebiet,  von  dem  der  Theoretiker  nichts  wissen  kann,  wie  z.  B. 
kein  Naturforscher  mit  aller  seiner  Wissenschaft  zu  ergründen 
im  Stande  ist,  warum  mein  Pferd  John  heisst  und  von  wem  ich 
es  gekauft  habe.  Ebenso  sind  die  Werthabschätzungen  aller  der- 
jenigen Dinge,  die  wir  in  jedem  Augenblicke  erstreben,  per- 
spectivischer  Art,  und  der  Nationalökonom  wird  den  Werth  eines 
Ringes  immer  anders  taxieren,  als  die  glückliche  Braut.  Aus 
diesem  Grunde  ist  der  logische  Satz  vom  Widerspruch  nur  mit 
Vorsicht  zu  gebrauchen,  da  widersprechende  Urtheile  sehr  wohl 
zu  gleicher  Zeit  wahr  sein  können,  wenn  man  nur  die  perspec- 
tivisch  gegebenen  Umstände  hinzunimmt.  Ebendarum  befindet 
man  sich  den  alten  Wundern  gegenüber  meistens  in  einer  ftlr 
dieselben  sehr  ungünstigen  Lage,  da  man  die  damalige  augen- 
blickliche Gemüthsaufregung  nicht  theilt  und  da  auch  die  augen- 
blicklichen Hoffiiungen  und  Befürchtungen,  auf  welche  damals 
die  Deutung  begründet  wurde,  ausser  unserem  Gesichtsfelde 
liegen.  Wie  man  um  Mittagszeit  keine  Gespenstergeschichten 
erzählen  wird,  sondern  erst  am  späten  Abend,  so  sind  wir  auch 
den  Wundergeschichten  gegenüber  in  einer  meistentheils  ganz 
ungeeigneten  Gemüthsverfassung.  Nun  bekennen  wir  uns  aber 
zum  Christenthum  und  haben  mithin  ein  Interesse  daran,  über 
die  Wahrheit  der  in  den  christlichen  Schriften  erzählten  Wunder 
ein  festes  Bewusstsein  zu  gewinnen.  Da  es  aber  hier  unsere 
Aufgabe  nicht  sein  kann,  alle  die  Einzelheiten  durchzugehen  und 
zu  prüfen,  so  muss  es  uns  genügen,  ein  Princip  zu  gewinnen, 
nach  dem  wir  über  alle  die  Einzelheiten  zu  urtheilcn  haben. 

Zunächst  ist  darum  aus  dem  früher  Bewiesenen  in  Erinne- 
rung zu  bringen,  dass  die  Zeichen  für  die  Wunder  immer  nur 
Anlass  und  Nebensache  sind,  da  das  Wunder  in  der  Deutung 
besteht     Mithin  muss   uns  als  Princip  gelten,   die  Nebensache 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


188  Beligion  der  Furcht. 

für  die  Nebensache  zu  halten  und  die  Hauptsache  für  die  Haupt- 
sache. Es  dreht  sich  daher  um  die  Deutungen  und  diese  zer- 
fallen in  zwei  grosse  Gnippen.  Die  erste  Gruppe  gehört  der 
Furchtreligion  und  umfasst  alle  diejenigen  Deutungen,  die  nur 
für  die  Damaligen  ein  perspectivisches  Interesse  hatten,  z.  B.  ob 
sie  siegen  oder  unterliegen  würden,  ob  ein  Kind  ihnen  vom  Tode 
gerettet  oder  sterben  werde  u.  s.  w.  Die  zweite  Gruppe  aber 
findet  sich  in  den  höheren  Religionen  und  bietet  Deutungen,  die 
ein  sittliches  oder  allgemein  menschliches  Interesse  berühren. 
Für  unsere  Kritik  kommt  natürlich  nur  diese  zweite  Gruppe  in 
Betracht  und  wir  können  als  Princip  aufstellen,  dass  der 
Glaube  an  die  sogenannten  Wunder  nur  von  dem  Werthe 
ihrer  Deutung  abhängt.  Je  tiefer  die  sittlichen  Ideen  sind, 
die  der  Prophet  dabei  erschliesst,  je  wichtiger  das  allgemein 
menschliche  Interesse  der  Furcht  und  der  Hoflhung  ist,  das  dabei 
erregt  wird,  je  schöner  und  geistvoller  die  Allegorie  erscheint, 
welche  sich  an  die  Wundergeschichte  anschliesst,  desto  lieber, 
desto  wichtiger,  desto  überzeugender  werden  uns  auch  die  Wunder; 
denn  nicht  der  Glaube  an  die  angeblichen  wunderbaren  That- 
sachen  trägt  den  Inhalt  und  Sinn  des  Wunders,  sondern  die 
geraüthbewegende  Macht  dieses  geistigen  Werthes  verklärt  auch 
die  oft  trivialen  und  für  die  moderne  Auffassung  unerträglichen 
Zaubergeschichten  und  wirft  den  Glanz  der  Poesie,  den  warmen 
Hauch  des  Herzens  und  den  tiefen  Ernst  des  Gedankens  wie 
einen  schützenden  Mantel  über  sie. 

Um  diese  Principien  für  die  Kritik  der  Wunder  zu  erläutern, 
wollen  wir  ein  paar  Beispiele  analysieren.  Savonarola  befand 
sich  1496  in  Florenz  mit  seinen  Gläubigen  in  der  äussersten 
Bedrängniss;  die  Hungersnoth  war  so  gross,  dass  die  Landleute 
nach  Brot  in  die  Stadt  kommen  mussten  und  dort  elend  in  den 
Strassen  lagen;  die  Pest  wüthete;  der  Hafen  war  von  den 
Feinden  fest  blockirt;  die  Franzosen  kamen  nicht  zu  Hilfe; 
nirgends  Hoffnung.  Da  lässt  Savonarola  eine  ungeheure  Pro- 
cession  durch  die  Strassen  ziehen  und  plötzlich  sprengte  ein 
Reiter  mit  grünem  Zweige,  den  er  schwenkte,  durch  das  Ge- 
dränge der  Menschen  und  verkündete  jubelnd  die  Landung  eines 
Getreideschiffes.  Die  Noth  war  zu  Ende;  Gott  hatte  durch  ein 
Wunder  geholfen  und  sich  seinem  Propheten  Savonarola  zu- 
geneigt. —  Hier  ist  gegen  das  Zeichen  nichts  einzuwenden,  und 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wnnder.  189 

die  Deutung  ist  perspectivisch  richtig;  aber  das  ganze  Wunder 
wirkte  nur  auf  die  Betheiligten,  stärkte  sie  in  ihrer  Ueberzeugung 
und  ihrem  Muthe,  und  gehOrt,  weil  es  sich  bloss  um  Furcht  und 
Hoffnung  in  Bezug  auf  äusserliche  Dinge  dreht,  wesentlich  in 
die  Furchtreligion. 

Betrachten  wir  jetzt  das  Wunder,  ohne  welches,  wie  der 
Apostel  Paulus  sagt,  die  Predigt  des  Evangeliums  eitel  sein 
soll.  Was  sind  die  Zeichen?  Er  und  viele  Gläubige  haben  den 
Auferstandenen  gesehen.  Man  braucht  aber  kaum  von  den 
juridischen  Schwierigkeiten,  Indicien  und  Gautelen  etwas  zu 
wissen,  die  bei  jeder  Frage  der  Identification  einer  Person  auf- 
tauchen, um  sofort  darüber  im  Beinen  zu  sein,  dass  auch  nicht  der 
Schatten  eines  gerichtlich  oder  wissenschaftlich  gültigen  Beweises 
ftr  die  Auferstehungs-Thatsache  zu  erkennen  ist  Denn  da 
Paulus  jenen  Jesus,  so  lange  er  lebte,  niemals  gesehen  oder  ge- 
hört hatte,  so  konnte  er  auch  nicht  darüber  urtheilen,  ob  das 
Bild  in  seinem  Gesichtssinne  und  die  Stimme  in  seinem  Gehörs- 
sinne dem  ihm  Unbekannten  angehörten.  Um  über  Aehnlichkeit 
oder  Identität  zu  urtheilen,  muss  man  das  zu  Vergleichende 
kennen.  Allein  gerade  an  diesem  Beispiele  kann  man  sehen, 
wie  nebensächlich  die  Zeichen  sind,  und  wie  verkehrt  die 
modernen  Apologeten  verfahren,  die  daraus  eine  Zänkerei  mit 
den  Naturforschern  machen  und  die  Kanzeln  mit  leeren  Dispu- 
tationen entweihen;  denn  der  religiöse  Beweis  gehört  in  die 
Beredtsamkeit,  und  was  dem  Gemüthe  genügt,  das  genügt 
schlechthin.  Des  Paulus  Beweis  war  deshalb  bloss  eine  kurze 
Appellation  an  die  Glaubwürdigkeit  derer,  welche  das  Ereigniss 
verkündeten:  „Ich,  dem  ihr  glaubt,  hab'  ihn  gesehen;  viele,  die 
ihr  kennt  und  denen  ihr  glaubt,  haben  ihn  gesehen.^^  Kein  Wort 
von  gerichtlicher  oder  naturwissenschaftlicher  Beweisftlhrung;  es 
genügt,  wenn  Paulus  selbst  überzeugt  war  und  als  Meister  der 
Beredtsamkeit  seine  hohe  religiöse  Begeisterung  den  Gläubigen 
mitzutheilen  verstand.  Diese  Begeisterung  entsprang  aber  aus 
der  Deutung,  in  welcher  das  Wesen  des  Wunders  liegt;  denn 
Gott  eröffnete  damit  den  Blick  in  die  jenseitige  Welt,  in  die 
Welt,  wo  wir  unverweslich  weiter  leben  sollen,  wo  die  Macht 
und  die  Tyrannei  der  Menschen  aufhört  und  Gott  in  seinem 
Königreiche  herrlich  und  beseligend  regiert. 


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190  Religion  der  Furcht. 

Sollen  wir  uns  nun  an  die  Kritik  der  Zeichen  hängen? 
Sollen  wir  eine  Frage,  die  der  Beredtsamkeit  und  der  unmittel- 
baren Ueberzeugung  angehört,  vor  das  gerichtliche  und  natur- 
wissenschaftliche Forum  bringen,  oder  gar  durch  die  Analogien 
des  albernen  Spiritismus  die  Sache  herabziehen?  Ich  denke, 
wir  überlassen  diese  Geschmacklosigkeiten  solchen  Leuten,  die 
weder  der  Wissenschaft,  noch  der  Religion  zu  dienen  fähig  sind 
und  der  Schulung  der  Methodik  entbehren 5  denn  wir  können  ja 
gleich  a  priori  erkennen,  dass  nach  allem  Für  und  Wider  sich 
nur  ergeben  wird,  dass  die  angeftihrten  Beweise  der  Auf- 
erstehung für  einen  gerichtlichen  Urtheilsspruch  und  für  eine 
naturwissenschaftliche  Erkenntniss  nicht  ausreichen,  und  dies 
wussten  wir  ja  schon,  da  es  sich  um  ein  Wunder  dreht,  also 
um  eine  Deutung,  bei  welcher  die  Zeichen  als  blosse  Veran- 
lassung nur  nebenbei  mit  weiser  Beschränkung  angeftihrt  werden 
dürfen,  da  jedes  Vordrängen  dieser  Nebensachen  den  Eindruck 
des  Wesentlichen,  die  Erftilluug  der  Seele  mit  dem  Inhalte  der 
Deutung  beeinträchtigen  muss.  Und  welches  Urtheil  hat  die 
Geschichte  über  die  Beredtsandteit  des  Paulus  gefällt?  Wir 
könnten  daraus  ein  neues  Wunder  machen;  denn  mit  einem 
Strohhalm  von  Beweis  hat  seine  eigene  Ueberzeugung  Tausende 
seiner  Zeitgenossen  überwältigt,  hat  die  christliche  Kirche  be- 
gründet und  schon  Jahrhunderte,  ja  ein  paar  Jahrtausende  hin- 
durch die  ganze  höher  gebildete  Menschheit  ergriffen,  getröstet 
und  zu  der  schönsten  und  kräftigsten  Hofihung  begeistert. 
Spricht  daraus  nicht  Gott,  der  mit  den  schwächsten  Mitteln  die 
grössten  und  theuersten  Wahrheiten  zur  Anerkennung  bringt  und 
mit  seinen  gering  beglaubigten,  aber  mit  unmittelbarer  Kraft 
überzeugenden  Geheimnissen  ein  die  Welt  überwindendes  und  be- 
seligendes Leben  begründet? 

Wir  können  deshalb  als  Princip  der  Kritik  aufstellen,  dass 
die  Richtigkeit  der  religiösen  Interpretation  eines  Zeichens  und 
mithin  das  Wunder  anzuerkennen  ist,  wenn  erstens  die  Zeichen 
für  den  Zweck  der  Beredtsamkeit  genügen  und  das  mehr  oder 
weniger  gebildete  gläubige  Publikum  nicht  abschrecken  und 
nicht  zu  nicht- religiösen  Reflexionen  veranlassen  und  zweitens 
wenn  die  Deutung  den  perspectivisch  gegebenen  Umständen  ent- 
spricht und  zugleich  auch  eine  ftir  uns  werthvolle  religiöse  Wahr- 
heit enthüllt.     So  z.  B.  sind  bei  dem  Paulinischen  Auferstehungs- 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  191 

wunder  die  Zeichen  in  der  Art  angegeben,  wie  sie  für  Leute, 
die  nicht  erkenntnisstheoretisch  und  kritisch  geschult  sind,  in  der 
Regel  genügen.  Es  bleibt  nämlich  die  Gränzlinie  zwischen  der 
Subjectivität  und  Objectivität  des  Phänomens  unbestimmt,  da  der 
blosse  Eindruck  und  die  unmittelbare  Ueberzeugung  entscheiden, 
ohne  dass  ein  naturwissenschaftliches  Interesse  zu  kritischer 
Nachforschung  wachgerufen  würde.  Mithin  wird  durch  die  zweck- 
entsprechende Kürze  in  der  beredten  Mittheilung  der  Zeichen 
unsere  moderne  Kritik  entwaffnet,  weil  der  Apostel  sogar  auch 
etwa  die  Subjectivität  der  Erscheinung  zugeben  und  dennoch 
daraus  seine  Deutung  ableiten  könnte.  Die  Deutung  aber  ent- 
hüllt ein  Geheimniss,  das  viel  grösser  und  merkwürdiger  als  das 
Zeichen  ist,  nämlich  die  ewige  Bedeutung  der  Persönlichkeit, 
die  neue  Metaphysik  des  Christenthums,  welche  die  sinnlichen, 
sogenannten  Gegenstände  oder  Erscheinungen  als  bloss  vergäng- 
liche Beziehungen  hinstellt  und  die  ewige  Welt  der  wahrhaften 
Wesen  zu  einer  entzückenden  Anschauung  bringt.  Wegen  der 
Wahrheit  dieser  Deutung  hat  Paulus  mit  seinem  Wunder  gesiegt; 
diese  Wahrheit,  welche  von  einer  wirklich  exacten  Philosophie 
anerkannt  wird,  muss  das  offenbare  Geheimniss  und  die  geheim- 
nissvolle Offenbarung  des  Evangeliums  bleiben,  und  mit  diesem 
Wunder  steht  und  fällt,  wie  der  Apostel  sagt,  die  Wahrheit  des 
Christenthums. 

c.  Philosophischer  Begriff  des  Wunders. 
Nachdem  wir  den  Begriff  des  Wunders  in  der  Furchtreligion 
bestimmt  und  die  allgemeinen  Grundsätze  der  Kritik  der  Wunder- 
geschichten abgeleitet  haben,  bleibt  uns  die  Frage  übrig,  ob  wir 
uns  auch  eine  Beligion  ohne  Wunder  denken  können.  Es  giebt 
ja  unter  den  sogenannten  Gebildeten  immer  noth wendig  eine 
grosse  Masse  von  Plebejern,  wie  sie  Cicero  nennt,  die  fiir  die 
höchsten  Gesichtspunkte  der  Menschheit  kein  Auge  haben  und 
die  deshalb  auch  die  Beligion  auf  blosse  Moralität  zurückftihren 
möchten,  weil,  der  unmittelbare  und  tageshelle  Verkehr  des 
Menschen  mit  Gott,  den  jede  Beligion  fordert,  ihnen  eine  Schatten- 
welt bleibt,  während  sie,  wie  die  Fledermäuse  nach  Aristoteles 
Metapher,  in  dem  Dämmerlicht  der  Sinnlichkeit  sich  mit  ihrem 
Gesichte  wohl  zurechtfinden  können.  Da  nun  die  Wunder  noth- 
wendig   und  immer   einen  vermeinten   oder  wirklichen  Verkehr 

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192  Religion  der  Furcht. 

mit  dem  göttlichen  Wesen  bedeuten,  das  durch  Menschen  oder 
Naturerscheinungen  zu  uns  spricht,  und  ohne  solchen  Verkehr 
zwar  ein  achtbares  Verhalten  der  Menschen  untereinander  und 
eine  verständige  Erkenntniss  der  Naturerscheinungen,  aber  keine 
religiöse  Stimmung  möglich  ist,  so  dürfen  wir  die  Mühe  nicht 
scheuen,  noch  den  philosophischen  Begriff  des  Wunders  zu  er- 
örtern, mit  welchem  die  Religion  unzertrennlich  verknüpft  ist. 
1.  DicThat-  Erörtern  wir  zunächst  die  Thatsachen-Frage,  ob 

Mcben-Fragc.  in  uuscrcr  aufgeklärten  Zeit  und  zwar  nicht  etwa 
bloss  bei  den  verschrieenen  Gläubigen,  sondern  auch  bei  den  so- 
genannten Ungläubigen  noch  Wunder  geschehen.  Das  oberfläch- 
liche Urtheil  wird  zwar  sofort  bereit  sein,  das  Aufhören  der 
Wunder  zu  constatiren,  weil  die  kindliche  Form  der  Auffassung 
und  Mittheilung  von  Wundem  im  Grossen  und  Ganzen  aufgehört 
hat;  der  Philosoph  aber,  dem  die  Urtheile  der  Presse  und  über- 
haupt alle  die  Tagesmeinungen,  welcher  Art  sie  auch  sein 
mögen,  vollständig  gleichgültig  sind,  wird  gerade,  weil  er  seine 
Schlusssätze  auf  besseres,  nämlich  auf  ewiges  Fundament  zu  legen 
hat,  die  allgemeinen  und  unveränderlichen  Goordinationeu  in  dem 
menschlichen  Geiste  selbst  studiren,  um  dann  zu  erkennen,  dass 
Wunder  geschehen  werden,  so  lange  Menschen  vorhanden  sind, 
für  die  sie  sich  ereignen  können,  ganz  einerlei,  in  welcher  Zeit 
sie  leben  mögen,  und  ob  sie  gebildet  oder  ungebildet,  Natur- 
forscher oder  was  auch  immer  sind.  Ehe  ich  diesen  Satz  be- 
weise, will  ich  an  die  äusseren  Thatsachen  erinnern.  Als  Philo- 
soph wird  man  natürlich  für  die  Constatirung  einer  Wunder- 
geschichte nicht  den  ganzen  scenischen  Apparat  der  verschie- 
denen einzelnen  Religionen  mit  ihren  zugehörigen  Götter-  und 
Dämonen-Vorstellungen  fordern,  sondern  nur  die  allgemeinen  Be- 
dingungen, die  in  der  Definition  des  Wunders  liegen. 

Da  wir  aber  Wundergeschichten  bei  ganz  Ungläubigen  nach- 
weisen sollen,  so  müssen  wir  natürlich  die  Gottesvorstellung 
durch  die  dem  Unglauben  zugehörige  Coordinate  ersetzen,  weil 
die  Gleichung  sonst  fehlerhaft  würde.  An  die  Stelle  des  per- 
sönlichen Gottes  tritt  also  bei  dem  trivialen  Ungläubigen  als 
homologes  Glied  der  Zufall.  Sobald  man  diese  noth wendige 
Correctur  angebracht  hat,  kann  nun  Jedermann  auch  heute  noch 
überall  die  Wunder  mit  Händen  greifen,  wohin  er  nur  auch  mit 
geschlossenen  Augen  seine  Finger  ausstrecken  möge.    Denn  ganz 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  193 

abgesehen  von  solchen  bedeutenden  Natnren,  die,  wie  Göthe,  von 
der  Bildung  vieler  Jahrhunderte  berührt,  doch  zu  keinem  streng 
wissenschaftlichen  Abschluss  ihrer  Ueberzeugung  gelangt  sind, 
weshalb  bei  den  wunderbaren  Fügungen  in  ihrem  Leben, 
die  sie  zu  erzählen  pflegen,  der  eigentliche  Agent  unklar  bleibt, 
so  kann  man  auch  tagtäglich  auf  der  Strasse  hören,  wie  Crethi 
und  Plethi  sich  über  irgend  einen  wunderbaren  Zufall  unter- 
hält. Bald  dreht  es  sich  um  grosse  und  wichtige  Ereignisse, 
wie  eine  gewonnene  oder  verlorene  Schlacht,  deren  Entscheidung 
an  einem  Haare  hing,  durch  einen  wunderbaren  Zufall  zu  Gun- 
sten des  Einen,  zum  Unglück  des  Andern  gewendet  wurde; 
bald  aber  betrifft  der  wunderbare  Zufall  auch  nur  die  kleineren 
Privatangelegenheiten,  z.  B.  wie  seltsam  es  sich  fügte,  dass  der 
Hans  seine  Grethe  fand,  oder  wie  der  sich  schon  verloren  Ge- 
bende durch  zufölliges  Vorbeikommen  eines  Andern  aus  den  Hän- 
den eines  Banditen  gerettet  wurde,  oder  wie  es  sich  fügte,  dass 
ein  Reicher  plötzlich  sein  Vermögen  verlor  und  ein  Armer  zu 
Gelde  kam  u.  s.  w. 

Um  nun  den  Schluss  zu  begründen,  dass  diese  Zufalls -Ge- 
schichten der  Ungläubigen  ächte  Wundergeschichten  sind,  müssen 
wir  den  terminus  medius,  d.  h.  die  in  der  Definition  des  Wun- 
ders gegebenen  constitutiven  Beziehungspunkte  herausheben.  Nun 
dreht  es  sich  in  allen  diesen  imd  unzähligen  anderen  Fällen  um 
Ereignisse,  die  für  uns  ein  Unglück  oder  Glück  in  sich  sdiliessen 
und  also  auf  Furcht  und  Hoffnung  bezogen  sindj  zugleich 
wird  hier  trotz  der  völligen  Natürlichkeit  der  Vorgänge  das 
Ereigniss  dennoch  überall  wunderbar  genannt,  d.  h.  also  als 
ein  Wunder  betrachtet,  weil  die  Vorgänge  nicht  nach  ihrer  natur- 
wissenschaftlichen Seite  in  Frage  kommen,  sondern  nach  der 
perspectivischen  Beziehung,  sofern  sie  flir  unser  persönliches 
Wohl  oder  Wehe  etwas  bedeuten.  Und  es  wird  die  Ursache 
des  Ereignisses  auch  ganz  wie  bei  den  angeblich  prähistorischen 
Wundem  nicht  in  den  physischen  Agentien  gesucht,  weil  diese 
ja  nach  allgemeinen  Naturgesetzen  wirken,  gleichgültig  gegen 
das  Individuelle  sind  und  also  mit  unserem  Wohl  und  Wehe 
nichts  zu  thun  haben,  sondern  in  dem  Zufall,  der  hier  die  Stelle 
des  Gottes  vertritt.  Die  Zweifler  und  Spötter  thun  also  gut, 
sich  stille  zu  verhalten  und  zu  beruhigen;  denn  die  Gläubigen 
könnten  ihnen  den  Spott  reichlich  zurückgeben,  da  die  wunder- 

Teichxnüllor,  RellgionsphlloBophie.  13         C^ r\r\rs}r> 

uiyiiizeu  uy  Vj  WvJV  IC 


194  Keligion  der  Furcht 

barcii  Zufiille  als  triviale  Wundergeschicliten  heute  noch  ebenso 
dicht  gesäet  sind,  wie  einst  die  poetischen  und  gemüthvolleren 
Wunder. 

Um  nun  unserer  zweiten  Aufgabe  zu  genügen, 
nämlich  die  unentbehrlichkeit  der  Wunder  für  den 
religi()8en  Menschen  schlechthin  mit  mathematischer  Gewissheit 
zu  beweisen,  so  gehen  wir  am  besten  von  dem  Begriflf  aus,  der 
bei  dieser  Constatirung  der  Thatsachen  hervorsprang,  nämlich 
von  dem  Begriflf  des  Zufalls. 

a  Die  zusam-  ^^^  Mcusch  ist  durch  seine  Fähigkeit  zu  denken 
nienhauge  und  in  vicl  höherem  Grade  als  das  Thier  darauf  ange- 
^^Grimdc^"^  legt,  den  Zusammenhängen  von  Allem,  was  ge- 
schieht, nachzuspüren;  denn  wenn  schon  das  Thier  in 
seinem  beschränkten  Lebenskreise  sich  unbewusst  dazu  getrieben 
fühlt,  so  geht  bei  dem  Menschen  dieser  Trieb  in's  Unendliche, 
da  der  Mensch  seinen  Lebenskreis  mit  dem  Universum  in  Con- 
gruenz  setzt  und  alle  Zusammenhänge  in  der  ganzen  Welt  zu 
erforschen  sucht,  wie  er  selbst  die  entfernten  Nebelflecke  jeiiseit 
der  Milchstrasse  dazu  benutzt,  um  sich  die  Vorgänge  bei  der 
Bildung  unseres  Sonnensystems  und  überhatipt  den  physischen 
Bau  der  Welt  zu  erklären.  Im  Anfang  der  Cultur  freilich  wird 
nur,  was  nützt  oder  schadet,  beachtet,  und  die  Furchtreligion 
steht  deshalb  noch  hart  an  der  Gränze  der  Thierheit,  da  sie  auf 
die  selbstsüchtigen  AflTecte  von  Furcht  und  Hoflfnung  aufgebaut 
ist,  wenn  auch  die  Erhebung  zur  Gottesvorstellung  schon  eine 
tiefe  Kluft  an  dieser  Gränzregion  reisst,  über  welche  das  Thier 
nie  in  das  Gebiet  des  Menschen  hinübergelangen  kann.  Bei 
höherer  Bildung  aber  kommt  der  Mensch  dazu,  alles  Geschehen 
auf  Gesetze  zurückzuführen,  und  so  hält  er  sich  für  klug,  wenn 
es  ihm  gelingt,  darin  die  sogenannten  Gründe  zu  erkennen. 
b  Die  zweite  Unübertrefflich  wäre  nun  diese  Klugheit  und  viel- 

präiiiiwe.  leicht  sogar  hinreichend,  die  Religion  auf  den  Aiis- 
trTffeuTc"  Sterbeetat  zu  setzen,  wenn  die  empirischen  Schlüsse 
Einzelnen,  uicht  dic  unglticklichc  Mitgift  von  zwei  Prämissen 
besässen,  von  denen  bloss  der  Obersatz  den  Gesetzen  eingeräumt 
wird,  während  der  Untersatz  immer  durch  die  nicht  erschliess- 
bare  Oflfenbarung  der  Sinne  gegeben  werden  muss.  So  weiss 
ich  z.  B.  durch  den  Obersatz  nur,  dass  brennbare  Körper  ver- 
brennen können;   dass  aber  im  Jahre  1G92  gerade  in   der  Ab- 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  195 

Wesenheit  Newton's  ein  Leuchter  umfallen  und  sein  fertiges  Manu- 
seript  über  Optik  Feuer  fangen  musste,  das  kann  in  keinem 
Lehrbuche  der  Physik  jemals  bewiesen  werden.  Wenn  nun  aber 
schon  die  Nothwendigkeit  des  Untersatzes,  d.  h.  die  Kenntniss 
der  Thatsaehen  und  der  unerschliessbaren  einzelnen  Existenz 
und  des  wirklichen  Zustandes  der  Dinge,  der  Wissenschaft  eine 
untibersteigliche  Gränze  setzt,  so  noch  mehr  der  leidige  Umstand, 
dass  die  einzelnen  Dinge  sich  nicht  bloss  in  ihrem  Gebiete  halten, 
sondern  in  das  Gebiet  der  anderen  Dinge  irgendwo,  irgendwann 
und  irgendwie  hinübergreifen  und  so  die  Erscheinungen  hervor- 
rufen, die  wir  zufällige  zu  nennen  gewöhnt  sind.  Was  hat 
das  Feuer  seiner  Natur  nach  mit  Newton  und  seinem  Manuscript 
zu  thun?  Und  wenn  aucli,  dass  die  Hunde  beissen  können,  in 
jeder  Naturgeschichte  steht,  so  kann  doch,  dass  Euripides  bei 
seinem  Aufenthalt  am  macedonischen  Hofe  von  Hunden  zerrissen 
werden  musste,  keine  Wissenschaft  auf  Naturgesetze  zurückführen 
und  aus  einem  einleuchtenden  Grunde  erklären,  weil  die  Gründe 
immer  nur  das  Allgemeine,  aber  weder  das  Einzelne,  noch 
die  unübersehbaren  Möglichkeiten  des  Zusammentreffens  der 
einzelnen  Dinge  darzulegen  vermögen.  Wenn  dies  gelingen 
könnte,  so  würde  sofort  der  Begriff  des  Zufalls  aus  der  Welt 
verschwinden,  und  der  Name  Zufall  würde  nur  als  eine  cultur- 
geschichtliche  Antiquität  schwerverständlicher  Art  überliefert 
werden,  wie  etwa  seit  Torricelli  der  „Abscheu  der  Natur  vor 
dem  leeren  Kaum"  nicht  mehr  bei  der  Anlage  von  Brunnen  im 
Munde  gefiihrt  wird.  Wenn  aber  die  Wahrscheinlichkeit  des 
Nichtgewinnens  bei  einer  Prämienanleihe  für  ein  oder  mehrere 
Loose  und  ebenso  die  wahrscheinliche  Sicherheit  vor  dem  Blitz- 
strahl leicht  auszurechnen  ist,  so  ist  damit  auch  nicht  entfernt 
der  Zufall  erklärt,  und  kein  Statistiker  und  kein  Physiker  hat 
jemals  ergründet,  warum  gerade  Hinz  und  nicht  Kunz  das  grosse 
Loos  gewann  und  warum  gerade  Melanchthon  vom  Blitz  nieder- 
geworfen wurde. 

Wir  stehen  hier  vor  einer  sehr  wichtigen  Frage 

^  °       c.    Der  Satz 

der  Beligionsphilosophie,   vor   einer   Frage,   die   den  vom  orunde 
Schlüssel  des  Wunderlandes  des  Glaubens  in  Gewahr-  ™^  ^**  ^"" 

fällige. 

sam  hält,  und  müssen  daher  mit  Vorsicht  und  exacter 
Wissenschaftlichkeit  die  Untersuchung  führen.    Besinnen  wir  uns 
also   auf  den  Ausgangspunkt.     Es  handelte  sich  dort   um   die 

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196  Religion  der  Furcht. 

Privilegien  der  Menschheit,  alle  Zusammenhänge  aller  Dinge  zu  er- 
forschen und  den  unbedingten  Gebrauch  vom  Satze  des  zureichen- 
den Grundes  zu  fordern.  Demgemäss  verlangen  wir  zunächst 
die  mechanische  Erklärung  alles  Geschehens  nach  den  Gesetzen 
der  Physik  und  Chemie  und  nach  allen  erreichbaren  Wissen- 
schaften. Nun  kommt  aber  die  Thatsache  der  einzelnen  Dinge 
und  ihres  ZusammentreflFens.  Sollen  wir  hier  die  Waffen  strecken? 
d.  h.  sollen  wir  die  Forderung  des  Gebrauchs  unseres  Verstandes 
und  unserer  Vernunft  hier  fallen  lassen  und  auf  Gründe  ver- 
zichten? 

Der  Gläubige  der  Furchtreligion  hält  nun  die  Forderung  des 
Vernunftgebrauchs  aufrecht-,  aber  er  erlaubt  seiner  schweifenden 
Phantasie,  die  Ursachen  durch  uncontroUirbare  Vorstellungen  zu 
bestimmen,  indem  er  z.  B.  den  Schiffbruch  des  Odysseus,  der 
durch  das  ZusammeAtreffen  von  Meer  und  Sturm  und  Schiff  ent- 
stand, auf  den  .Zorn  Poseidons  als  auf  seinen  hinreichenden 
Grund  zurückführt,  weil  dieser  ja  zürnte  und  ein  Zürnender 
seinem  Feinde  immer  Gram,  Noth  und  Schaden  zu  bereiten 
sucht.  Wir  können  daher  in  der  Furchtreligion  nur  das  Geltend- 
machen der  Vemunftforderung  loben,  müssen  aber  die  naive 
Methode  ihrer  theologischen  Interpretation  der  Naturerscheinungen 
aufgeben. 

Was  sagt  jedoch  der  Klügling  unserer  Zeit?  Was  weiss  er 
Wissenschaftlicheres  an  die  Stelle  zu  setzen?  Es  ist  zum  Lachen 
und  zum  Spotten;  denn  er  weiss  Nichts  als  ein  Wort  auf  den 
Markt  zu  bringen,  den  Zufall.  Dass  alle  Ereignisse,  die  uns 
Wohl  oder  Wehe  verursachen,  das  Resultat  mechanischer  oder 
chemischer  Kräfte  und  nach  allgemeinen  Gesetzen  aus  den  Eigen- 
schaften der  zusammentreffenden  einzelnen  Stoffe  oder  Dinge 
möglich  sind,  das  wussten  wir  ja  freilich;  aber  weshalb  dies  Er- 
eigniss  uns  oder  unseren  Freunden  und  Feinden  jetzt  gerade  hier 
und  unter  diesen  Umständen  nützen  oder  schaden  musste,  das 
wollten  wir  gern  erfragen.  „Das  war  zufällig  und  hat  weiter 
keinen  Grund",  lautet  die  Antwort.  Da  sind  wir  also  an  die 
Rechten  gekommen,  d.  h.  an  die  Schlechten,  die  nicht  den  Muth 
haben,  die  Forderungen  der  Vernunft  unbedingt  geltend  zu 
machen.  Wir  werfen  sie  daher  bei  Seite  zu  den  Uebrigen;  denn 
sie  erklären  bloss,  was  unserer  Frage  vorher  geht,  und  halten 
sich  bei  der  weiter  vorwärts  drängenden  Frage  ausser  Schussweite. 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  197 

Giebt  es  denn   aber  eine  Möglichkeit  und  ein 

d.    Deduction 

Recht,  den  Satz  des  Grundes  wirklich  auch  auf  das    der  Gültigkeit 
Gebiet    des   Zufillligen  zu   erstrecken,   und   ist  der  «^o«  »•t.e«  vom 

TT  iT^,  .  -ii-i.  *  rw  Grunde  für  dafi 

Hunger  nach  Erkenntniss,  d.  h.  hier  einen  Zusammen-  oebict  den  zu. 
hang  von  Grund  und  Folge,  Ursache  und  Wirkung,       ftiüRen. 
Zweck  und  Mittel  einsehen  zu  wollen,  nicht  vielleicht        Gottes. 
eine  durch  übertriebene  Wissenschaftlichkeit  entstan- 
dene krankhafte  üeberreizung  der  Nerven?    Das  ist  jedoch  nur 
die  Frage  und  das  Bedenken  der  Denkmatten  und  Yemunftlah- 
men;  Vernünftige  aber  können  ein  für  alle  Mal  nicht  ohne  Ver- 
nunft auskommen,  und  dies  Bedürfniss  ist  ihre  Stärke  und  giebt 
ihnen  auch  das  Gefühl  ihrer  Stärke.     Vernunft  aber  ohne  Gründe, 
ohne  Zusammenhang  der  Erkenntnisse  ist  ein  Eunuch,   der  als 
Sclave  im  Harem  dient.     Also  wollen  wir   die  Zufallsgläubigen 
dorthin  senden  und  unsererseits  die  Forderungen   der  Vernunft 
unbekümmert  weiter  durchftihren. 

Alles  also,  was  die  Menschen  Zufall  nennen,  müssen  wir, 
wenn  Vernunft  gebraucht  werden  soll,  als  ein  vernünftig  Geord- 
netes betrachten.  Wie  in  einer  grossen  Fabrik  alle  einzelnen 
Functionen  der  Arbeiter  und  alle  Maschinen  ineinandergreifen, 
indem  z.  B.  die  Spannkraft  der  Dämpfe  bei  einem  gewissen 
Drucke  das  Ventil  öfihet  und  dadurch  die  Wände  des  Kessels 
entlastet,  so  muss  auch,  wenn  wir  unsere  Vernunft  nicht  bekom- 
men haben,  um  sie  nicht  zu  gebrauchen,  angenommen  werden, 
dass  alles  naturgesetzlich  nothwendige  Zusammentreffen  der 
Dinge  mit  allem  Wohl  oder  Weh,  was  dadurch  auf  die  einzelnen 
Betheiligten  zurUckfliesst ,  einen  vernünftigen  Zusammenhang 
habe  und  sich  mithin  für  die  vollendete  Erkenntniss  in  der  Ord- 
nung von  Grund  und  Folge  darstellen  lasse.  Da  nun  der  Grund 
des  Zusammenhangs  nicht  in  dem  einen  und  nicht  in  dem  an- 
deren der  zusammentreffenden  Dinge  oder  Ereignisse  liegen  kann, 
weil  dabei  ein  jeder  Theil  bloss  mechanisch  sein  Werk  thut, 
ohne  im  Mindesten  verantwortlich  zu  sein  für  die  zufälligen 
Nebenerfolge,  die  dadurch  fiir  Drittß  entstehen,  so  muss  eine  über 
den  Theilen  und  vor  ihnen  vorauszusetzende  Ursache  von  der 
Vernunft  gefordert  werden,  welche  die  Gemeinschaft  und  Zu- 
sammenhänge der  Theilwirkungen  geordnet  hat.  Ein  Baum  z.  B. 
entwickelt  sich  nach  seinem  Gesetz,  ohne  als  Ursache  daftir  in 
Anspruch  genommen  zu  werden,  dass  ein  Fink  sein  Nest  darin 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


198  Religion  der  Furcht. 

baut  oder  ein  Unglücklicher  sich  an  einem  seiner  Aeste  erhängt. 
So  lebt  das  Mädchen  ahnungslos  flir  sich,  ohne  durch  ihr  Wissen 
und  Wollen  die  Ursache  zu  sein,  dass  ihr  Anblick  flir  schön  ge- 
halten wird  und  bei  den  Männern  Liebe  erregt,  wie  auch  die 
Männer  ursprünglich  nicht  im  Traum  daran  gedacht  haben  wür- 
den, flir  Nachkommenschaft;  zu  sorgen,  wenn  nicht  dieser  zu- 
fallige Nebenerfolg  der  Coordination  der  Geschlechter  zur  Er- 
fahrung gekommen  wäre,  worauf  er  dann  auch  mit  Absicht  gesucht 
werden  kann.  Wie  aber  die  Coordination  des  Geschlechts  im  Allge- 
meinen und  die  einzelnen  zugehörigen  Thatsachen  von  Jedermann 
als  nach  Grund  und  Folge  zusammenhängende  Ereignisse  beur- 
theilt  und  von  jedem  Unbefangenen  auf  einen  Zweck  der  Natur 
zurückgeführt  werden,  so  müssen  wir  auch  jene  anderen  Zufällig- 
keiten, deren  zweckmässiger  Zusammenhang  nicht  ersichtlich  ist, 
ohne  Zögern  auf  die  ganze  Einheit  der  Natur  beziehen  und  nach 
der  Analogie  aus  dem  Ganzen  und  der  darin  waltenden  Vernunft 
alle  Coordinationen  aller  Dinge  mit  allen  zuföUigen  Nebener- 
folgen und  allem  perspectivischen  Wohl  und  Wehe  ebenso  ab- 
fliessen  lassen,  so  lange  wir  nur  im  Besitze  unserer  Vernunft; 
bleiben.  Denn  die  Vernunft  besteht  ja  in  der  Beachtung  der 
Zusammenhänge  und  also  in  der  Ausübung  des  Satzes  vom  zu- 
reichenden Grunde  und  fordert  mithin  eine  Anerkennung  der 
Vernünftigkeit  der  Welt,  weil  jeder  Punkt,  den  wir  davon 
ausnehmen  möchten,  sofort  die  Vernunft  zur  Unthätigkeit  und 
Ungültigkeit  verurtheilen  würde.  So  lange  Jemand  aber  bei 
Vernunft  ist,  lässt  er  sie  auch  nicht  um  ihr  Recht  kommen. 

Der  vernünftige  Zusammenhang  der  Welt  ist  aber  nicht  die 
Summe  ihrer  einzelnen  Theile,  da  diese  ja  gerade  durch  den 
Zusammenhang  erst  ihre  Existenz  und  ihren  Platz  und  ihre  den 
anderen  Theilen  entsprechende  Coordination  erhalten.  .  Mithin 
muss  der  Grund  des  Zusammenhanges  noch  über  und  ausser  den 
Theilen  vorhanden  sein,  und  die  Vernunft  hat  flir  diesen  allge- 
meinen Beziehungsgrund  aller  Dinge  früh  den  Begriff  Gottes  ge- 
funden und  deshalb  alles  Zufilllige  auf  die  Weltteclmik  Gottes, 
auf  seine  Oeconomie  oder  Regierung  zurückgeführt, 
e  Bc  riff  des  ^^   '^*   darum   schlechterdings  vernünftig,    nicht 

Wunder«,  bloss  cineu  vernünftigen  Zusammenhang  zwischen  der 
Sonne  und  dem  Thier-  und  Pflanzenleben,  zwischen  Auge  und 
Hand,   zwischen   Ohr    und    Sprache   und   zwischen   dergleichen 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  199 

oflFenkundigen  Coordinaten  anzunehmen,  sondern  wir  müssen,  so 
lange  wir  bei  Vernunft  sind,  auch  bei  den  vielversehlungetien 
Fäden  des  Gewebes  unseres  Lebens,  deren  Woher  und  Wohin  wir 
nicht  enträthseln  können,  immer  als  letzten  Beziehungsgrund  Gott 
setzen,  durch  dessen  Vorsehung  alle  individuellen  Verkettungen 
der  Dinge  mit  ihrer  perspectivischen  Beziehung  auf  unser  Wohl 
und  Wehe  bestimmt  sind,  und  mit  dem  wir  durch  diese  Auf- 
fassung unsererseits  in  einen  persönlichen  und  lebensvollen  Ver- 
kehr treten,  da  andererseits  alles  was  geschieht,  Zeichen  und 
Sprache  Gottes  ist,  die  wir  zu  deuten  und  in  Beziehimg  worauf 
wir  Stellung  zu  nehmen  haben.  Da  wir  nun  in  solcher  Sprache 
des  Gottes  und  ihrer  Deutung  für  unser  persönliches 
Leben  das  Wesen  des  Wunders  erkannten,  so  befinden  wir  uns 
bei  aller  nüchternen  naturwissenschaftlichen  Erklärung  der  Phä- 
nomene doch  durch  die  tiberall  gegebenen  zufälligen  Neben- 
erfolge der  Dinge,  welche  weder  heute  noch  jemals  zur  Natur- 
wissenschaft gehören,  in  einem  übernatürlichen  Verkehr  mit  Gott, 
sofern  wir  als  metaphysische  Wesen  zu  ihm  als  metaphysischem 
Wesen  Stellung  nehmen,  seine  physisch  wahrnehmbaren  Zeichen 
deuten  und  perspectivisch  in  die  objectiven  Phänomene  der 
Natur  und  Geschichte  auch  noch  einen  für  uns  bestimmten  gött- 
lichen Sinn  hineinlegen. 

Ich  will  dies  noch  an  dem  Beispiele  des  Dichters  erläutern; 
denn  dass  z.  B.  Kraniche  zuweilen  über  unseren  Köpfen  hin- 
ziehen, ist  ein  natürliches  Ereigniss,  dessen  Erklärung  keine  be- 
sondere Mühe  erfordert;  damit  ist  aber  nicht  ausgeschlossen, 
dass  vom  perspectivischen  Standpunkte  Timotheus  sich  dabei 
seines  Mordes  erinnerte  und  diese  Erscheinung  darum  mit  dem 
Hilferuf  des  Ibikus  in  Verbindung  setzen  musste.  Da  er  nun 
an  Götter  glaubte,  musste  er  auch  in  dieser  für  die  übrigen  Zu- 
schauer ganz  gleichgültigen  und  gewöhnlichen  Erscheinung  ein 
Wunderzeichen,  eine  Fügung  des  rächenden  Gottes  erkennen, 
was  in  seiner  durch  die  Tragödie  erschütterten  Seele  die  Furcht 
mächtig  auslöste,  ihn  zum  Bekenntniss  der  Schuld  trieb  und  so 
einen  Wendepunkt  in  seinem  Leben  herbeiführte.  Wer  weiss 
nicht,  dass  in  dem  Leben  der  bedeutenden  wie  der  unbedeuten- 
den Menschen  immer  einmal  Zeiten  äusserster  Bedrängniss  oder 
Beklemmung  eintreten;  wenn  dann  durch  ganz  natürliche,  aber 
nicht  vorgesehene  und   nicht   allgemein   bestimmbare  Umstände, 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


200  Religion  der  Furcht. 

die  wir  zufällig  nennen,  ein  Mensch  erscheint,  der  nns  beiläufig 
Rettung  bringt,  so  wird  derselbe  vom  perspectivischen  Stand- 
punkte aus  immer  als  ein  Engel  Gottes  angesehen  werden.  Und 
diese  Auffassung  widerspricht  nicht  der  natürlichen  Erklärung 
durch  die  näheren  Umstände,  bleibt  vielmehr  neben  derselben  zu 
Recht  bestehend,  weil  ja  nur  die  Beschränkung  des  Blicks  auf 
die  einzelnen  Theile  und  Umstände  der  Sache  den  Begriff  des 
Zufälligen  erzeugt,  während  diese  scheinbaren  Zufälligkeiten, 
wie  alles  Einzelne  mit  einem  Plane  und  einer  Regierung  des 
Ganzen  zu  verknüpfen  sind. 

So  scheint  es,  wenn  wir  nur  das  Einzelne,  z.  B.  die  Zähne 
betrachten,  zufallig  zu  sein,  dass  unter  dem  Zwerchfell  sich  ein 
Magen  befindet  und  dass  auf  dem  Felde  ein  Bauer  Korn  mäht  und 
dass  der  Wind  eine  Mühle  treibt  u.  s.  w.,  gleichwohl  gehören 
alle  diese  Zu&Uigkeiten  zu  einem  technischen  Systeme  zusammen 
und  sind  nothwendige  Schlusssätze  zwingender  Prämissen  für 
eine  das  Ganze  und  das  Einzelne  ordnende  Intelligenz.  Darum 
kommen  wir  zu  dem  mit  streng  philosophischer  Methode  gefun- 
denen Resultate,  dass  die  Wunder  unentbehrlich  sind  in  jeder, 
auch  der  höchsten  Religion,  weil  Religion  immer  den  Vernunft- 
gebrauch  voraussetzt  und  weil  nur  die  Bomirtheit  auf  freien 
Vemunftgebrauch  verzichtet,  indem  sie  Wunder  läugnet  und 
dafür  den  hirnlosen  Gott,  ich  meine  den  Zufall,  walten  lässt. 

Wenn  in  einem  Staate  Gesetze  gegeben  werden, 
der  Anwendung  80  kommcn  die  Wirkungen  derselben  bei  tausend  Ge- 
dea  Satzes  vom  legcnheitcn  jedem  Einzelnen  einmal  zu  Gute;  gleich- 
de«™afÄi»gen.  wohl  wird  sich  kein  einzelner  Bürger  einbilden  dürfen, 
dass  der  Gesetzgeber  ihn  gekannt,  seine  zukünftigen 
Wünsche  bei  dieser  oder  jener  Gelegenheit  vorgesehen  und  in 
seinem  Interesse  berücksichtigt  hätte.  Deshalb  wird  er  es  auch 
nur  einen  glücklichen  Zufall  nennen  können,  wenn  er  bei 
solchen  Gelegenheiten  aus  dem  Zusammentreffen  der  Institutionen 
und  Gesetze  mit  seinen  Lebensverhältnissen  einen  Vortheil  zieht, 
und  es  wäre  lächerlich,  wenn  er  darin  ein  politisches  Wunder 
sehen  wollte,  d.  h.  eine  über  die  natürlich  erkennbaren  Gesetze 
des  Staates  hinausgehende  geheime  Kundgebung  der  souveränen 
Staatsgewalt,  die  mit  ihm  in  einem  übernatürlichen  persönlichen 
Zusammenhange  stände  und  durch  solche  Zeichen  ihre  Gunst 
ihm  offenbaren  wollte;  denn  der  Souverän  und   die  Gesetzgeber 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Wunder.  201 

haben  auch  im  Traume  nicht  an  Hans  und  Peter  gedacht,  die 
bei  der  Zolterhöhung  nun  etwa  gerade  ihre  gr<5sseren  Yorräthe 
mit  Glück  absetzen  können.  Wenn  hier  also  der  Begriff  des 
Zufalls  und  des  Glücks  und  Unglücks  am  rechten  Platze 
ist,  so  folgt  dies  aus  der  unendlichen  Mangelhaftigkeit  des  mensch- 
liehen  Staates,  der  nur  das  Allgemeine  nothdürftig  berücksich- 
tigen kann,  weil  das  Individuelle  gänzlich  über  den  Bereich 
seiner  Intelligenz  hinausgeht  Die  Vernunft  darf  hier  darum 
nicht  bloss,  sondern  muss  auf  die  Geltendmachung  der  Vernunft- 
forderung  verzichten,  weil  sie  die  natürliche  Schwäche  und  die 
Schranken  der  Vernunft  in  dem  Gesetzgeber  erkennt,  der  das 
Leben  der  Einzelnen  nujr  nach  wenigen  gemeinsamen  Beziehun- 
gen mühsam  und  oft  recht  misslungen  zu  ordnen  versucht. 

In  der  grossen  Natur  der  Welt  ist  die  Sache  aber  Gottlob  1 
anders  bestellt,  und  es  ist  noch  Niemand  aufgetreten,  der  die  Welt 
hätte  besser  einrichten  können.  Die  erste  Handlung  eines  solchen 
klügeren  Weltschöpfers  hätte  auch  sein  müssen,  die  Vernunft  in 
dem  Menschen  abzuschaffen,  um  zu  verhindern,  dass  der  Satz 
vom  Grunde  •  überall  geltend  gemacht  und  eine  durchgehende 
Vemünftigkeit  alles  Geschehens  in  der  Welt  verlangt  würde; 
denn  dann  wären  die  Wunder  und  das  Bedürfniss  nach  Wun- 
dem verschwunden  und  dafür  der  Zufall  und  die  Dummheit  zur 
Anerkennung  gekonunen  und  somit  das  Becht,  den  Weltverbes- 
serer zu  kritisiren  und  auch  eine  individuelle  Berücksichtigung 
und  Leitung  von  ihm  zu  erwarten,  beseitigt  Wir  werden  daher 
jenem  grossen  Menschenkenner  und  klugen  Staatsmanne  zwar 
nicht  widersprechen,  wenn  er  sagt,  „es  sei  erstaunlich,  mit  wie 
wenig  Verstand  die  Welt  (d.  h.  der  Staat  oder  die  Menschen- 
welt) regiert  werde";  da  wir  aber  durch  die  Ordnung  der  Natur 
selbst  unsere  Vernunft  mit  ihren  logischen  Forderungen  erhalten 
haben,  so  können  wir  der  Natur  der  Welt  gegenüber,  die  nicht 
von  Menschen  regiert  wird,  auf  unsere  Vemunftforderung  nicht 
verzichten.  Es  ist  darum  zweifellos,  dass  wir  den  Zufall  als  ein 
unwissenschaftliches  Erklärungsprincip  der  Ereignisse  verwerfen 
müssen,  da  er  bloss  aus  dem  Gebiete  menschlicher  und 
mangelhafter  Vernunftthätigkeit  seinen  Ursprung  genommen 
und  nur  aus  Unwissenheit  über  die  Coordinationen  der  Begriffe 
und  nach  uuberechtigter  Analogie  auf  die  Natur  übertra- 
gen ist 

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202  Religion  der  Furcht. 

Die  Naturforscher,  welche  so  gern  die  menschlichen  Vorur- 
theile  und  Illusionen  verspotten,  sind  deshalb,  weil  ihnen  die 
philosophische  Schulung  fehlt,  und  weil  sie  die  Geschichte  der- 
jenigen Begriffe,  die  sie  arglos  gebrauchen,  nicht  studiren,  selbst 
in  eine  solche  Illusion  geratheu  und  haben,  mit  Ausnahme  natür- 
lich der  grossen,  philosophisch  gebildeten  Forscher,  den  perspec- 
tivischen  und  subjectiven  Begriff  des  Zufalls  harmlos  auf  die 
ganze  Natur  ausgedehnt,  obwohl  sie  den  zugeordneten  Begriff 
des  Zweckes  und  der  Absichten  bei  der  Erklärung  der  Natur- 
erscheinungen nicht  geltend  machen,  was  ebenso  lächerlich  ist, 
als  wenn  ein  Schulmeister  zwar  Fehler  constatiren,  aber  die 
zugeordnete  Regel  über  das  Richtige  verleugnen  wollte.  Wie 
wir  aber  in  der  Natur  tiberall  die  strengste  Ordnung  nach  den 
Gesetzen  antreffen  ohne  das  mindeste  Versehen,  ohne  die  min- 
deste Beschränktheit  der  Kraft  und  der  Wirkung,  so  haben  wir 
auch  keinen  Grund,  um  auf  die  natürliche  Vemunftforderung 
ihr  gegenüber  zu  verzichten.  Streichen  wir  aber  den  nach  dem 
Vorbilde  menschlicher  Verhältnisse  in  die  Natur  hineingedichteten 
Begriff  des  Zufalls,  so  verschwindet  sofort  die  Bomirtheit  der 
Naturordnung  und  mithin  die  sinnlose  Blindheit  des  Zusammen- 
treffens der  Körper  und  der  Ereignisse,  und  wir  stehen  staunend 
vor  dem  Riesenwerke  göttlicher  Technik,  welches  wir  die  Welt 
nennen  und  in  welchem,  wie  in  einer  klug  organisirten  Fabrik, 
alle  Vorgänge  in  sinnvollem  Zusammenhange  stehen  und  für 
einander  etwas  wirklich  und  wahrhaft  bedeuten,  weil  sie  alle 
auf  einander  berechnet  und  durcheinander  vermittelt  sind.  Der 
Ausdruck  Znfall  bedeutet  dann,  wenn  wir  ihn  im  Gebiete  der 
Natur  gebrauchen,  nicht  mehr  einen  Tadel  der  Weltordnung,  son- 
dern weist  nur  auf  die  Schranken  der  menschlichen  Erkenntniss 
hin,  welche  allerdings  nicht  hinreicht,  dies  grösste  Kunstwerk 
ganz  zu  durchschauen  und  zu  erklären;  denn  wir  müssen,  indem 
wir  einige  Ereignisse  als  zufallig  bezeichnen,  mit  diesem  Aus- 
druck bloss  die  Gränze  unserer  Fassungskraft  angeben,  da  es 
uns  nicht  mehr  geziemt,  was  unser  menschliches  Können  über- 
steigt, auch  der  Natur  abzusprechen. 

Diese  Normirung  der  Anwendbarkeit  des  Begriffes  des  Zu- 
fälligen und  die  Begränzung  des  subjectiven  und  objectiven  Ge- 
brauches können  wir  aber  nur  finden,  sofern  wir  eine  unbedingte 
Anwendung  vom   Satze  des  Grundes   machen,   d.  h.  sofern  wir 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  203 

denken;  denn  wir  müssen  immer  einen  hinreichenden  Grund 
haben,  um  auf  einen  hinreichenden  Grund  Verzicht  leisten  zu 
wollen.  Dem  Denken  aber  entspricht  das  Denkbare  und  das 
Denkbare  ist  die  Welt;  mithin  ist  die  absolute  Vemtinftigkeit 
der  Welt  ebenso  sicher,  wie  die  Vemünftigkeit  der  Vernunft,  da 
das  Denkbare  als  Denkbares  nur  im  Denken  vorhanden  ist.  Wie 
aber  alles  Sichtbare  unbedingt  den  Gesetzen  des  Auges  unter- 
liegt, obgleich  nicht  alles  von  uns  gesehen  wird,  so  braucht 
auch  die  Vemtinftigkeit  aller  Dinge  nicht  von  unserer  Vernunft 
überall  erkannt  zu  werden.  Die  Vernunft  kann  deshalb  ihre 
eigenen  Gränzen  abmessen,  da  sie  einen  absolut  gültigen  Mass- 
Stab  besitzt,  und  kann  mit  derselben  unfehlbaren  Sicherheit  sich 
zur  Bescheidenheit  verweisen,  wie  sie  mit  schrankenloser  Kühn- 
heit den  Begriff  der  absoluten  göttlichen  Welttechnik  aufbaut. 

Speculative  Erörterung  der  Principien   dieser 
Deduction. 

Ich  will  das  Neue  in  dieser  Argumentation  exact 
hervorheben.  Früher  hatte  man  mit  Kant  das  Zu-  der  Neuheit 
fällige  als  dasjenige  definirt,  was  durch  keine  Ur-  «»ieae« Beweises. 
Sachen  bestimmt  wird,  und  dagegen  die  apriorische  Gausali- 
tätsforderung  geltend  gemacht,  um  eine  allgemeine  mechanische 
Noth wendigkeit  alles  Geschehens  anzunehmen,  wonach  bei  ge- 
nügender Kenntniss  der  Daten  alle  Ereignisse  wie  eine  Sonnen- 
und  Mondfinstemiss  im  Voraus  bestimmt  werden  konnten.  Man 
hatte  zweitens  auch  ausser  dem  Gegensatz  des  Zufälligen  gegen 
die  mechanische  Ursache  noch  den  Gegensatz  gegen  die  Zweck- 
ursache gefunden  und  gestützt  auf  die  organischen  Erscheinungen 
und  einige  in  der  Natur  wahrgenommene  Zweckmässigkeiten 
die  empirische  Hypothese  gewagt,  dass  alle  Dinge  nach 
einem  Zwecke  könnten  hervorgebracht  sein,  weshalb  auch  die 
Nachforschung  nach  Zwecken  in  der  Natur  als  regulatives 
Princip  für  den  Gebrauch  der  Vernunft  zulässig  sein  sollte. 
Ich  erkenne  nun  erstens  einen  Fehler  Kant's  darin,  dass  er  das 
Zufällige  in  Gegensatz  zu  dem  mechanisch  Nothwendigen  stellte, 
während  der  Begriff  des  Zufalligen  nur  und  ausschliesslich  in 
Coordination  zu  dem  Begriff  des  Beabsichtigten,  d.  h.  des  nach 
einem    Zweck   Bestimmten   gedacht  werden   kann.      Denn   was 

uiymzeu  uy  V^nOOy  IC 


204  Religion  der  Furcht. 

nicht  verursacht  ist,  das  ist  auch  überhaupt  nicht  geschehen  und 
nichts  Wirkliches;  was  aber  nicht  beabsichtigt  war,  das  ist  zu- 
fallig. Zweitens  erkläre  ich  den  apriorischen  Satz  vom  zu- 
reichenden Grunde  als  zugeordnet  nicht  der  mechanischen  Ur- 
sache, sondern  der  Vernünftigkeit  überhaupt,  d.h.  der  Ein- 
heit des  in  jeder  Beziehung  zusammenstimmenden  und  geordneten 
Ganzen,  wobei  der  mechanische  Zusammenhang  nur  eine  zwar 
selbstverständliche,  aber«  doch  nur  abhängige  und  untergeordnete 
Folgerung  bildet  Ich  kann  daher  das  Resultat  meiner  Beweise 
auch  so  ausdrücken,  dass  statt  der  früher  angenommenen  pro- 
blematischen Behauptung  einer  Teleologie,  di&auf  eine  empi- 
rische Hypothese  gestützt  war,  jetzt  eine  apodiktische  For- 
derung der  Teleologie  tritt,  gestützt  auf  eine  apriorische  Er- 
kenntniss  der  Vernunft.  Die  Nothwendigkeit  des  mechanischen 
Zusammenhangs  der  Dinge,  die  für  Kant  schon  befriedigend  er- 
schien, erweise  ich  als  dreifach  zufällig,  erstens  wegen  des  bloss 
thatsächlichen  und  also  zufälligen  Charakters  jedes  Naturge- 
setzes an  sich  selbst  betrachtet,  zweitens  wegen  der  im  Unter- 
satze zu  liefernden  bloss  thatsächlichen  und  also  zufälligen  Um- 
stände, bei  denen  das  Naturgesetz  erst  zur  Anwendung  kommen 
kann;  drittens  wegen  des  bloss  thatsächlichen  und  also  zufälligen 
Vorhandenseins  der  Kategorie  selbst,  auf  welche  Kant  das 
Gausalitätsgesetz  begründete. 

Es  ist  aber  nicht  nur  interessant  zu  erforschen,  warum  eine 
gewonnene  Erkenntniss  nicht  schon  früher  gefunden  wurde,  son- 
dern es  ist  auch  die  Pflicht  ftir  denjenigen,  der  die  Neuheit  einer 
Erkenntniss  behauptet,  zu  beweisen,  weshalb  dieselbe  früher  nicht 
gewonnen  werden  konnte.  Ein  solcher  Beweis  erscheint  nun  für 
Nichteingeweihte  ausserordentlich  schwer,  da  sie  glauben,  es 
müssten  unzählige  literarhistorische  Untersuchungen  angestellt 
werden;  die  Sache  ist  aber  für  Dialektiker  leichter  anzufassen, 
weil  sie  wissen,  dass  jeder  Begriff  seine  zugehörigen  Coordinaten 
hat,  und  man  daher  durch  Hervorhebung  derjenigen  Begriffe, 
welche  mit  unserem  Satze  unverträglich  sind,  die  Frage  sofort 
entscheidet,  ebenso  wie  die  Unschuld  eines  Angeklagten  sofort 
feststeht,  sobald  sein  Alibi  erkannt  ist. 

Nun  kann  Jedermann  einsehen,  dass  der  apriorische  Cha- 
rakter des  Beweises  alle  diejenigen  Schulen  unverzüglich  von 
der  Concurrenz  ausschliesst,  die  der  empirischen  und  positivisti- 
schen Richtung  huldigen.  ^,^,  .^^^  ^^  GoOqIc 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  205 

Es  bleiben  also  nur  die  speculativen  Systeme  übrig.  Diese 
lassen  sich  darnach  scheiden,  ob  sie  das  Unendliche  und  mithin 
Zeit  and,  Baum  und  Nichts  in  den  Begriff  des  Seins  aufnehmen 
oder  nicht  Die  erste  Richtung  ist  durch  den  antiken  und  auch 
den  modernen  Idealismus  von  Fichte,  Schelling,  Hegel, 
Lotze  u.  A.  vertreten,  und  alle  diese  Philosophen  können  von 
vornherein  für  eine  etwaige  Concurrenz  nicht  in  Frage  kom- 
men, da  sie  durch  den  Begriff  der  Sealität  von  Zeit,  Baum,*) 
Unendlichkeit  und  Negativität  immerfort  ein  verschwindendes, 
unnützes  und  zufalliges  Sein  gebrauchen,  das  durch  seinen  nicht 
bloss  perspectivischen,  sondern  realen  Contrast  diö  Idee  in  ihrer 
Lebendigkeit  und  Würde  erhalten  muss.  Die  Unendlichkeit  ist 
der  Todfeind  des  Zwecks  und  die  Negativität  im  Sein  tödtlich 
jeder  bleibenden  Bedeutung  des  Individuellen  und  jeder  Provi- 
denz  des  individuellen  Geschehens  im  Sein,  weshalb  die  idealisti- 
sche Welt  ja  auch  wie  von  der  Tarantel  gestochen  in  rasender 
Bewegung  ist  und  immerfort  in  die  nichtseiende  Vergangenheit 
zerstiebt,  wie  sie  sich  athemlos  in  die  nichtseiende  Zukunft 
stürzt  und  dort  umsonst  zu  retten  sucht 

Ausser  diesen  auf  solche  Art  sich  selbst  eliminirenden  Nega- 
tivitäts-  oder  Unendlichkeitssystemen  bleibt  nur  das  Herbarti- 
sche übrig,  welches  vernünftiger  Weise  das  Seiende  individuell 
fixirte,  dagegen  Zeit  und  Baum  und  Unendlichkeit  idealisirte. 
Allein  dieses  System,  welches  nun  allein  noch  concurriren  könnte, 
wird  dadurch  sofort  ausgeschlossen,  dass  es  den  Ursprung  des 
Seinsbegriffs  nicht  entdeckte  und  darum  die  realen  Wesen  wie 
sinnenföUige  Körper  in  bloss  mechanische  Zusammenhänge  brachte 
und  überhaupt  wegen  speculativer  Schwäche  des  Urhebers  in 
nackten  Mechanismus  und  mathematische  Spielerei  verfiel,  wo- 
durch eine  apriorische  und  apodictische  Forderung  der  Teleologie 
für  alles  individuelle  Dasein  unmöglich  wurde,  was  Herbart  ja 
selbst  erkannt  und  offen  bekannt  hat,  indem  er  Kant's  regula- 
tives Princip  bloss  in  eine  ästhetische  Auffassungsform  umwandelte. 


*)  Lotze  giebt  in  seiner  Metaphysik  zwar  den  Raum  auf,  behält  aber 
die  Zeit  und  das  Nichts  als  Ingredienzen  des  Seins  zurück  und  rechnet  sich 
daher  selbst  unter  diese  Idealisten,  die  es  ihm  freilich  verdenken  werden, 
dass  er  den  schönen  unendlichen  Raum  sich  hat  rauben  lassen. 


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206  Religion  der  Furcht. 

Somit  glaube  ich  hinreichend  gezeigt  zu  haben,  weshalb 
weder  die  antike  noch  die  moderne  Philosophie  den  Gedanken- 
gang finden  konnte,  der  in  dem  obigen  Beweise  eingeschlagen 
ist.  Für  denjenigen,  der  meine  „Neue  Grundlegung  der  Meta- 
physik" kennt,  war  dieser  Beweis  nicht  erforderlich;  denn  die 
neue  Erkenntniss  des  Seins,  die  dem  individuellen  Wesen  einen 
ewigen  Platz  in  Gottes  technischem  Weltsystem  einräumt  und 
die  neue  Auffassung  des  Denkens,  das  nicht  mehr  die  übrigen 
Functionen  des  Geistes  zu  verschlucken  sucht,  sondern  sich  be- 
scheiden als  eine  Function  neben  den  beiden  andern  der  Ein- 
heit der  Persönlichkeit  unterordnet,  verbürgen  von  selbst  einen 
nach  allen  Seiten  gerichteten  Neubau  der  Philosophie. 

Die  Religion  erfordert  das  Wunder:  das  Wunder 
erfordert  den  schrankenlosen  Gebrauch  der  Vernunft; 
dieser  erfordert  als  Voraussetzung  die  Vemünfkigkeit  der  Welt; 
die  Vemünftigkeit  der  Welt  erfordert  die  Abhängigkeit  aller 
mechanischen  Ursachen  von  einem  letzten  Zweck.  Die  Frage 
ist  daher:  wie  lässt  sich  die  schrankenlose  Zweckmässigkeit 
alles  Seins  und  Geschehens  in  der  Welt  erweisen?  Wir  haben 
die  Antwort  darauf  gefunden;  denn  die  Vernunft  ist  der  Mittel- 
begriflf  (terminus  mcdius)  aller  hierzu  erforderlichen  Schlüsse. 
Die  Vernunft  ist  uns  thatsächlich  gegeben  und  hat  als  zuge- 
hörig den  Satz  vom  Grunde,  der  nur  durch  unbedingte  Zweck- 
mässigkeit der  Welt  befriedigt  werden  kann;  andererseits  ist  die 
Keligion  nur  wahr,  wenn  sie  mit  der  Vernunft  übereinstimmt,  so 
dass  nichts  Religiöses  gegen  die  Vernunft  streitet  und  nichts 
Vernünftiges  gegen  die  Religion. 

Was  also  die  früheren  Philosophen  zu  Gunsten  des  Glau- 
bens an  die  unbeschränkte  göttliche  Weltregierung,  d.  h.  an  die 
unbedingte  Zweckmässigkeit  der  Welt,  angeführt  haben,  das 
haben  wir  als  noch  ungenügend  erkannt.  Kant's  Spiel  zwischen 
Einbildungskraft  und  Verstand  und  seine  subjective  Maxime  zur 
Beurthcilung  der  in  der  Sinnlichkeit  gegebenen  organischen  Formen 
ist  ebenso  wie  Herbart's  ästhetische  Auffassung  gewissermassen 
eine  pneumatische  Exegese  des  allegorischen  Platonischen  Mythus, 
wonach  Gott  die  Materie  zu  überreden  sucht,  sich  der  Idee  zu 
fiigen;  denn  die  Materie  bedeutet  Philonisch  und  Kantisch  die 
Sinnlichkeit  oder  die  Einbildungskraft,  die  Idee  aber  die  Ver- 
nunft, und  die  Ueberredung  bedeutet  den  Mangel  der  Nothwendig- 

*  uiyiiizedby  VjOOQIC 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  207 

keit  oder  das  Spiel  und  die  Subjectivität.  Ebenso  unbefriedigend 
war  uns  die  moderne  Ausdrucksweise,  wonach  in  Gott  die  Idee 
der  Güte  und  Liebe  den  Vorzug  haben  sollte  vor  der  Idee  des 
Gesetzes  und  der  Nothwendigkeit;  denn  obwohl  man  demgemäss 
wohl  auch  mit  Güte  und  Liebe  den  bei  solchen  Versicherungen 
her\^ortretenden  Mangel  an  einem  gesetzlich  zwingenden  und 
nothwendigcn  Beweise  zudecken  müsste,  so  geht  uns  dies  doch 
gegen  das  Gewissen  und  widerstreitet  unserer  Neigung  zur  reinen 
Wissenschaft 

Mithin  bleibt  als  einzig  genügend  nur  der  oben  ausgeführte 
neue  Beweis  übrig,  dass  vernünftige  Wesen  sich  nur  als  solche 
benehmen  können,  wenn  sie  gemäss  dem  Satz  vom  zureichenden 
Grunde  eine  unbedingte  Zweckmässigkeit  alles  Denkbaren  fordern, 
weil  dieser  Satz  vom  Vemunftgebrauch  unabtrennbar  ist;  mithin 
ist  jeder  Verzicht  auf  einen  Zweckznsammenhang,  d.  h.  jede  An- 
nahme eines  Zufalls,  unvernünftig  und  beleidigend  fbf  Jeden,  der 
Vernunft  besitzt;  mithin  sind  Wunder  nothwendig  flir  vernünftige 
Welt-  und  Geschichtsauffassung;  Leugnung  der  Wunder  aber  ist 
ein  Zeichen  unreifer  Vernunft. 

Diese  Wiederholung  der  obigen  Argumentation 
soll  die  Frage  einleiten,  die  wir  nun  als  das  schwie-         Kritik 
rige  speculative  Problem  zu  erörtern  haben,  ob  sich  ifneAi&rulhkei" 
nicht  auch  über  den  Urspnmg  dieses  so  ungeheuer     nnd  vorau«- 
weit   gebietenden  Satzes  vom  zureichenden  Grunde  ^^^eH^principa!^*^ 
eine   Bechenschaft    geben   lasse.     Logiker  von   ge- 
wöhnlichem Schlage  werden  nun  zwar  glauben,  dass  jetzt  an  sie 
die  Reihe  zum  Lachen  gekonmien  sei,  da  die  Frage  nach  dem 
Ursprung   oder    dem   Grunde   des   Satzes    vom   Grunde  ja  die 
Gültigkeit   dieses  Satzes  schon  voraussetze.     Allein  die   selbst- 
ständigeren Köpfe   werden   sehen,    dass   uns   solche    schon  von 
Aristoteles  her  ererbten  Einwendungen*)  natürlich  nicht  .fremd 
sind  und  dass  es  sich  um  ein  neues  Problem  handelt,  das  nicht 
einmal    leicht    aufzufassen,    geschweige   denn   zu   lösen   ist    ftir 
Jemand,  der  bloss  die  bisherige  Philosophie  beherrscht. 

Denn  um  zunächst  den  alten  Einwand  des  Aristoteles  zu 
beseitigen,  als  könne  man  über  ein  Princip,  nach  dem  man  sich 


*)  Aristot.  Metaphysicorum  lib,   IV  C,  1011   a  13  a::oo*i|s(i>;  y«P  ^VJi 

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208  Religion  der  Furcht 

immer  richtet,  nicht  hinausgehen  and  als  wäre  deshalb  der  Satz 
vom  Grunde  ein  voraussetzungsloses  und  unerklärliches 
Princip,  welches  erklären  zu  wollen,  widersinnig  sei:  so  ist  der 
Gedankengang  dieser  Instanz  nach  beiden  Seiten  sehr  mangel- 
haft. Erstens  nämlich  steht  nichts  im  Wege,  das  Princip,  nach 
dem  man  sich  richtet,  zu  studieren,  es  in  eine  Reihe  von 
Gleichungen  aufzulösen  und  es  dadurch  zu  erklären,  so  dass 
es  zwar  noch  voraussetzungslos  bliebe,  aber  nicht  mehr  uner- 
klärlich heissen  könnte.  Was  zweitens  die  Yoraussetzungs- 
losigkeit  betrifft,  so  konnte  sie  von  Aristoteles  natürlich  nur 
indirect  bewiesen  werden,  nämlich  nur  dadurch,  dass  Jeder,  der 
einen  Grund  (eine  Voraussetzung)  daftLr  giebt  oder  fordert,  das 
Princip  selbst  schon  voraussetzt.  Dieser  Beweis  vernichtet  sich 
aber  selbst,  weil  wir  uns  dadurch  nur  jau  eine  Kette  angeschmiedet 
fUhlen  würden,  ohne  zu  begreifen,  weshalb  wir  gefangen  sind, 
d.  h.  ohne  den  Satz  vom  Grande  anzuwenden,  der  ja  als  Gesetz 
keine  Ausnahme  gestattet.  Der  Satz  vom  Grunde  verlangt  des- 
halb gerade  begründet  zu  werden,  wenn  er  ein  Gesetz  ist  und 
befolgt  werden  soll. 

Unsere  neue  Philosophie  kann  nun  diese  Schwierig- 
1.  Erkiiran^  keitcu  leicht  aus  dem  Wege  räumen;  denn  erstens 
Tom  Grunde.  ^*®^*  ®^^^  ^^®  Priucip  durch  Glcichung  vollkommen 
erklären.  Bei  einiger  Besinnung  muss  man  nämlich 
darüber  bald  in's  Beine  kommen,  dass  kein  Denkender  sich. im 
Denken  durch  irgendwelche  Gesetze  einschränken  lassen  wird; 
das  Denken  ist  ja  eine  freie  Thätigkeit,  wie  das  Sehen  und 
Hören.  Wenn  jenes  Gesetz  also  angeblich  über  alles  Denken 
herrschen  soll,  so  kann  dies  nur  bedeuten,  dass  es  das  freie 
Denken  selbst  beschreibt  und  fremdartige  Elemente  ab- 
wehrt. Solche  fremde  Elemente  sind  aber  die  gedankenlos  ein- 
gemisphten  Producte  der  mechanischen  Ideenassociation  und  der 
schaffenden  Phantasie.  Das  Gesetz  *  gilt  also  nur  fllr  seine  Ueber- 
treter,  oder  für  die  Fremden,  die  nicht  zu  den  Kindern  des 
Hauses  gehören.  Das  Denken  selbst  kennt  kein  Gesetz,  sondern 
seine  eigene  Natur  ist  das,  was  dem  Fremden  als  das  Gesetz 
erscheint.  Das  Denken  besteht  in  Vergleichung  von  Beziehungs- 
punkten (minor  und  major),  die  nach  einem  Gesichtspunkte 
(medius)  vereinigt  oder  getrennt  werden.  Diesen  Gesichtspunkt 
nennt  man  den  Grund,  und  weil  wir  auf  diese  Weise  denken 

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AllgemeineFe  Fragen.     Das  Wunder.  209 

im  Unterschiedo  von  blinden  Associationen  und  Phantasien^  so 
sagt  man,  es  sei  ein  logisches  Gesetz  anzuerkennen,  das  Gesetz 
des  Grundes.  Mithin  ist  uns  jetzt  dies  Gesetz  durch  eine 
Gleichung  vollkommen  erklärt,  und  wir  begreifen  seine  ausnahms- 
lose Allgemeingültigkeit,  weil  es  ja  nur  ein  anderer  Ausdruck 
ftir  das  Denken  selbst  ist.  Ich  will  es  erläutern  an  einem  Bei- 
spiel concreten  Denkens. 

Wenn  der  Arzt  an  das  Krankenlager  tritt,  nach  dem  Puls 
flihlt,  nach  dem  Athem  horcht,  die  Wärme  misst,  die  Muskel- 
reactionen  prüft  und  dann  zu  den  Kindern  sagt:  „Euer  Vater 
ist  todt",  so  hat  er  zwei  Beziehungspunkte  verglichen,  die  An- 
schauung von  dem  Menschen  dort  und  die  Begriffe  von  Leben 
und  Tod.  Der  Satz,  den  er  ausspricht,  wäre  aber  kein  Urtheil, 
wenn  er  nicht  den  Gesichtspunkt  oder  Grund  (medius),  nach 
welchem  er  das  Subject  mit  dem  Prädicat  verknüpft,  in  dem 
selbigen  Bewusstsein  vereinigte.  Ebenso  verhielte  es  sich,  wenn 
der  Arzt  sagte:  „er  ist  nicht  todt,  er  lebt"  Denn  immer  musste 
er  die  beiden  Beziehungspunkte  nach  dem  Gesichtspunkte  ver- 
gleichen, ob  ein  Puls  merkbar,  ob  der  Athem  hörbar  oder  irgend- 
wie wahrnehmbar,  ob  die  erforderliche  Wärme  vorhanden  wäre 
u.  8.  w.  Lässt  man  den  Gesichtspunkt  unausgesprochen,  so 
nennt  man  den  Satz  ein  Urtheil,  fligt  man  ihn  durch  einen  cau- 
salen  Satz  hinzu,  so  heisst  das  Ganze  ein  Schluss.  Ein  Denk- 
act  aber  ist  das  Urtheil  nicht,  wenn  der  Gesichtspunkt  oder 
Grund  dem  Urtheilenden  nicht  gegenwärtig  war.  Deshalb  ist 
jeder  Denkact  ein  Schluss.  Da  er  aber  als  Ganzes  mehrere 
Beziehungspunkte  enthält,  so  kann  man  seinen  Blick  auch  bloss 
auf  einen  Punkt  richten  und  diesen  dann  in  Beziehung  zu  dem 
Ganzen  nach  dem  Gesichtspunkt  der  Theilung  einen  terminus 
nennen,  wie  man  auch  auf  die  Verknüpfung  und  Trennung  von 
zwei  termini  blicken  mag,  um  diese  Beziehung  in  ihrer  Isolirung 
in  Hinsicht  auf  das  Ganze  ein  Urtheil  zu  nennen.  Folglich  ist 
das  Denken  ein  Schliessen  und  mithin  gehört  zum  Denken  immer 
ein  Grund.  Also  ist  das  Gesetz  vom  zureichenden  Grunde  bloss 
eine  Beschreibung  des  freien  Denkens  selbst. 

Um  aber  nicht  den  Schein  zu  erregen,  als  ob 
wir  bloss  aus  Neigung  neue  Wege  suchten,  müssen  ^»^"^  «^«^  ^o«*"^ 
wir  erst  darlegen,  weshalb  die  jetzt  betretenen  und 
üblichen  Wege  nicht  an's  Ziel  flihren  können.     Wir  vergleichen 

Teicbmäller»  Religiouspbilosopbie.  uiymzelAjy  ^^.jOOQIC 


210  Religion  der  Furcht. 

dazu  das  Compendium  von  Wundt  Da  werden  ¥jir  nun  sofort 
nicht  begreifen,  wie  Wundt  (Logik  S.  515)  sagen  konnte:  «Der 
Satz  des  Grundes  als  allgemeines  Gesetz  der  Abhängigkeit  der 
Begriffe  beherrscht  dieser  seiner  Bedeutung  gemäss  insbesondere 
auch  diejenige  Denkform,  in  welcher  die  Abhängigkeit  der 
Urtheile  von  einander  ihren  Ausdruck  findet,  den  Schlüsse  Denn 
es  müsste  darnach  doch  erstens  Denkformen  geben,  die  keinen 
Schluss  in  sich  enthielten,  also  nicht  gedacht  wären.  Und 
zweitens  scheint  nach  Wundt  der  Schluss  unter  der  Herrschaft 
jenes  Gesetzes  zu  stehen,  also  nicht  vollkommen  frei  zu  sein  und 
bloss  seinen  Ausdruck  oder  seine  Beschreibung  in  demselben  zu 
finden.  Auf  die  Freiheit  wollen  wir  aber  nicht  verzichten  und 
bedürfen  beim  Denken  auch  keines  Parlamentes,  um  uns  eigenen 
Zwangsgesetzen  zu  unterwerfen. 

Wir  wollen  aber  genauer  auf  die  herrschenden  Gedanken- 
gänge eingehen,  um  sie  erst  nach  vollständiger  Erkenntniss  ihrer 
Unzugänglichkeit  zu  verlassen.  Sehen  wir  also  zunächst,  wie 
Wundt  (Logik  L  S.  517)  den  „Satz  vom  Grunde"  definirt:  „er 
ist  das  Grundgesetz  der  Abhängigkeit  unserer  Denkakte  von 
einander^^  Bei  dieser  Definition  kann  ich  nicht  vermeiden,  an 
zwei  Punkten  Anstoss  zu  nehmen;  denn  erstens  bedeutet  das 
Wort  „Abhängigkeit"  doch  die  Bedingtheit  durch  eine  Ursache, 
die,  wenn  sie  von  einem  Denkenden  geltend  gemacht  wird,  einen 
Grund  bildet,  weshalb  ein  circulus  in  definiendo  vorliegt; 
zweitens  werden  in  der  Definition  „Denkakte"  genannt,  die  von 
„Denkakten"  abhängig  sein  sollen,  so  dass  es  also,  wie  Wundt 
auch  sonst  annimmt,  Urtheile  ohne  Grund  gicbt,  d.  h.  Denkakte 
vor  dem  Schluss,  also  Denkakte  ohne  Denken.  Er  zerlegt 
das  Denken  in  Denkakte,  wie  einen  äusseren  Gegenstand  in 
seine  Theile,  die  auch  äussere  Gegenstände  sind.  Nun  ist  jeder 
Theil  eines  Körpers  von  den  anderen  Theilen  physikalisch  und 
chemisch  abhängig,  und  so  soll  auch  jeder  Denkakt  von  einem 
anderen  abhängig  sein.  Es  giebt  aber  keinen  Denkakt  ohne 
Grund,  und  dieser  Grund  liegt  nicht  draussen,  wie  im  Raum  der 
andere  Körper,  der  etwa  weit  entfernt  als  Sonne  die  Bahn  der 
Erde  bestimmt,  sondern  der  Grund  gehört  in  den  Denkakt  selbst 
hinein. 

Wenn  darum  Wundt  sagt  (I  S.  516):  „Der  Satz  vom  Grunde 
drückt  aus:  Mit  dem  Grund  ist  die  Folge  gegeben;  mit  der  Folge 

uiyiiized  by  VjOOQ  i^ 


Allgemeinere  tVagen.     Baa  Wunder.  211 

ist  der  Grund  aufgehoben;  aber  nicht:  mit  der  Folge  ist  der 
Grund  gegeben^',  so  ist  dies  ebenfalls  gar  zu  ungenau  ausgedrückt, 
wie  schon  der  Indicienbeweis  zeigt.  Es  wird  bei  all  diesen 
Lehrsätzen  immer  das  Sprachliche  mit  dem  Logischen  ver- 
mischt Denn  man  kann  bei  complicirten  Denkakten  allerdings 
mit  blossen  Worten  einen  Theil  als  eine  Folge  bezeichnen  und 
allein  für  sich  aussprechen,  ohne  dass  man  damit  sofort  die 
Gründe  wüsste.  Man  hat  dann  zwar  zwei  Wörter,  die  zu  einem 
Satze  verknüpft  sind;  aber  man  weiss  darum  diesen  aus  einem 
Gedankenzusammenhang  sprachlich  abgelösten  Theil  nicht  als 
Folge,  sondern  kann  ihn  These  oder  Problem  nennen  und 
muss,  um  etwas  dabei  zu  denken,  durch  Hypothesen  die  er- 
forderlichen Gesichtspunkte  oder  Gründe  suppliren,  sofern  dies 
thunlich  ist  Sagt  Jemand :  „also  ist  der  Kreis  viereckig*',  so  hat 
er  keine  Folge  (conclusio),  d.  h..  keinen  Gedanken,  sondern  nur 
einen  grammatischen  Folgesatz  ausgesprochen,  weil  man  wegen 
der  Natur  des  Denkens  nichts  isolirt,  d.  h.  ohne  Coordination, 
denken  kann.  Soll  die  Folge  als  Folge  gelten,  so  muss  der 
die  Coordination  bestimmende  Gesichtspunkt  mit  angegeben  oder 
supplirt  werden. 

Wenn  man  z.  B.  hört:  „Die  Freiheit  ist  Nothwendigkeit",  so 
supplirt  man,  dass  diese  Leute  dabei  an  die  Motivation  aller  so- 
genannten freien  Entschlüsse  denken.  Daher  kommt  es  auch, 
dass  bei  einer  seltsamen  Behauptung  geäussert  wird:  „Du  denkst 
wohl,  dass  u.  s.  w.",  oder  „er  denkt  da1)ei  an  u.  s.  w."  weil 
man  immer  voraussetzen  muss,  dass  zu  einem  Denkakt  auch  ein 
Gesichtspunkt  oder  Grund  gehört,  wenn  man  nicht  sagen  soll: 
„es  sind  leere  Worte". 

Um  aber  zu  zeigen,  wie  Wundt's  Auffassungsweise  auch 
tiberall  Selbstwiderspruch  hervorbringen  muss,  will  ich  an 
den  Abschnitt  über  „die  logische  Evidenz*'  erinnern.  Dort  er- 
klärt Wundt  (I  S.  72  ff.):  „Da  die  logische  Evidenz  nicht  in  den 
Processen  des  Denkens  liegt,  so  kann  sie  nur  auf  dessen  Re- 
sultaten beruhen.  In  der  That  zeigt  es  sich  uns  an  jedem 
beliebigen  Beispiel,  dass  die  Sicherheit  der  Resultate  des 
Denkens  die  einzige  Quelle  dessen  ist,  was  wir  logische  Ge- 
wissheit nennen."  Hier  wird  jeder  denkende  Leser  einen  kleinen 
Schreck  zu  überwinden  haben,  weil  er  früher,  wie  z.  B.  beim 
Lesen   dieser   Argumentation   bei   Wundt,    die  Resultate    seines 


212  Religion  der  Furcht. 

Denkens  arglos  in  seinem  Denken  selbst  zn  besitzen  glaubte, 
während  nun  plötzlich  wie  mit  einem  Ruck  „die  logische  Evi- 
denz'^ und  „Sicherheit^'  aus  seinem  Gedankenzusammenhang  her- 
ausgerissen und  wer  weiss  wohin  geschleudert  wird.  Es  ist  aber 
wichtig  zu  wissen,  wohin  diese  Sicherheit  fliegt.  Wir  lesen  des- 
halb weiter  S.  75:  „Die  unmittelbare  Evidenz  dieses  Denkens 
hat  ihre  Quelle  stets  in  der  unmittelbaren  Anschauung.^' 
„Die  äussere  und  innere  Erfahrung  ist  die  einzige  Quelle  der 
unmittelbaren  Evidenz."  —  Also  in  die  Anschauung  und  Erfah- 
rung soll  die  Sicherheit  versetzt  werden,  d.  h.  in  diejenige 
Region,  welche  die  Thiere  bewohnen.  Wir  wollen  gewiss  auf 
diese  breite  Grundlage  der  menschlichen  Entwickelung  nicht  ver- 
zichten, legen  auch  hohen  Werth  auf  Anschauung  und  Erfahrung 
und  glauben,  dass  Wundt  gewiss  an  etwas  Vernünftiges  bei 
Formulirung  seiner  Thesis  gedacht  hat  Wenn  aber  die  empi- 
rischen Forscher  ihm  gleich  zustimmen  werden,  so  hat  der  Philo- 
soph leider  die  üble  Rolle,  sein  Veto  geltend  zu  machen,  weil 
alle  seine  Begriffe  in  keiner  Anschauung  anzutreffen  sind.  Mit 
welchem  Sinne  könnte  das  Gute,  Schöne,  die  Freiheit,  Noth- 
wendigkeit,  die  Beziehung,  Eigenschaft,  das  Sein  u.  s.  w.  an- 
geschaut werden,  da  alle  diese  Ideen  oder  Begriffe  ohne  Farbe, 
geruchlos,  unfassbar,  unhörbar  u.  s.  w.  sind  und  auch  durch 
keine  innere  Erfahrung  gegeben  werden!  Wenn  Wundt  aber 
unter  „innerer  Erfahrung"  etwa  das  Denken  meinte,  so  würden 
die  Philosophen  freilich  ihm  auch  zustimmen,  dann  jedoch  nicht 
mehr  begreifen,  weshalb  die  Sicherheit  der  Resultate  des  Denkens 
nun  noch  ausserhalb  des  Denkens  liegen  könnte.  —  Bei  der 
ersteren  Interpretation  ist  also  Wundt's  Behauptung  für  alle  Ver- 
nunftwissenschaft zu  cassiren;  bei  der  zweiten  Interpretation  ent- 
hält sie  einen  Selbstwiderspruch. 

Machen  wir  einmal  die  Probe  der  Wundf  sehen  Behauptung 
bei  seinem  Axiom  oder  Satz  vom  Grunde !  An  der  äusseren  Er- 
fahrung lässt  er  sich  nicht  prüfen,  weil  „Gründe"  weder  als 
Elemente  oder  Processc  der  Chemie,  noch  als  Pflanzen  oder 
Thiere  bekannt  sind;  ebensowenig  aber  reicht  die  innere  Erfah- 
rung Hülfe,  denn  wer  hätte  jemals  „Gründe"  erfahren,  ich  meine 
solche  Zustände,  die  weder  Zorn,  noch  Neid  u.  s.  w.  sind,  sondern 
keine  andere  Eigenschaft  besässen,  als  nur  „Gründe"  zu  sein. 
In   der  Erfahrung   ist   der  Satz   vom  Grunde   also   nicht   anzn- 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


Allgemeinere  Fragen.     Dos  Wunder.  213 

treffen;  aber  gesetzt,  er  wäre  es,  d.  h.  wir  hätten  die  nöthigen 
Exemplare  der  Species  Grund  im  Hinterlande  von  Zanzibar  oder 
irgendwo  aufgefunden,  so  würde  daraus  der  Satz  vom  Grunde 
durch  Induetion  abzuleiten  sein,  dann  aber  zugleich  aufhören 
ein  Axiom  zu  bilden  und  unbedingte  Gültigkeit  zu  besitzen;  er 
würde  nur  problematische  oder  inductive  Gewissheit  beanspruchen 
können.  Mit  welchem  Recht  hätten  wir  dann  aber  die  Induetion 
als  Beweisverfahren  anwenden  dürfen,  da  der  Begriff  „Beweis" 
schon  den  Satz  vom  Grunde  voraussetzt?  Auch  hier  also  läuft 
die  Auffassung  Wundt's  in  einem  Cirkel. 

Wir  legen  Wundt's  Auffassung  daher  vernünftiger  Weise  nur 
die  gute  Schulung  des  ausgezeichneten  Physiologen  zu  Grunde, 
der  dabei  an  die  vielen  Hypothesen  der  Physiologie  dachte  und 
natürlich  Beweise  dafür  ad  oculos  oder  durch's  Mikroskop  oder 
durch's  Experiment  forderte.  Allein  bei  allen  Gedankenprocessen 
zur  Erklärung  der  Naturerscheinungen  werden  die  philosophischen 
Fragen  schon  als  abgemacht  Yorausgesetzt,  und  so  hat  Wundt's 
Behauptung  nur  eine  praktische,  aber  keine  logische  Bedeutung. 
Denn  eine  Anschauung  oder  eine  äussere  und  innere  Erfahrung 
hat  ja  an  und  fUr  sich  genommen  niemals  Evidenz,  da  sie  eben- 
sowohl Hallucination  und  Traumvision  sein  kann,  und  da  erst 
das  Denken  Sicherheit  und  Evidenz  der  Erkenntniss 
verleiht.  Evidenz  ist  kein  Prädicat  der  unmittelbaren  Anschauung, 
wie  Wundt  behauptet,  sondern  des  Denkens  in  seiner  Coordi- 
nation  mit  dem  Gefühl.  (Vgl.  oben  S.  39.)  Die  Thiere  haben 
auch  Anschauungen,  aber  wissen  nichts  von  Evidenz  und  Er- 
kenntnisssicherheit, weil  dergleichen  dem  Denken  zugehört. 
Wundt's  Logik  ist  deshalb  zwar  flir  angehende  Naturforscher 
ausserordentlich  schätzbar,  weil  er  sie  mit  den  Methoden  und 
der  Anwendung  vieler  philosophischen  Begriffe  auf  die  Erfah- 
rungswissenschaft bekannt  macht;  die  Philosophie  selbst  aber 
findet  ihr  eigenes  Gebiet  darin  nicht  bearbeitet.  Für  den  Philo- 
sophen können  die  sogenannten  Resultate  des  Denkens  nicht  in 
sogenannten  Anschauungen  und  Erfahrungen  zur  Evidenz  ge- 
bracht werden,  weil  Anschauungen  und  Erfahrungen,  wenn  man 
sie  auch  dem  Thier  zugesteht,  nur  blinde  und  mechanische  Ver- 
einigungen von  Empfindungen  sind;  wenn  man  sie  dem  Thier 
abspricht  und  nur  dem  Menschen  vindicirt,  selbst  durch  Denk- 
akte  zu  Stande   kommen   und  jedenfalls   in   den  Denkakt   als 

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214  Religion  der  Furcht. 

Beziehnngspuukte  mit  hineingehören.  Denn  wenn  man  auch 
dem  Bauer  das  Kesultat  des  Experiments  zeigt,  so  gewährt  ihm 
die  Anschauung  doch  keine  Evidenz,  weil  er  sie  nicht  als  Mo- 
ment in  den  ganzen  complicirten  Denkakt,  der  z.  B.  das  Gesetz 
des  Falls  betrifft,  einschliessen  kann.  Dass  ich  Wundt  so  aus- 
führlich berücksichtige,  möchte  ich  als  ein  Zeichen  der  Achtung 
und  als  Anerkennung  seiner  durch  lange  Schulung  in  der  Natur- 
forschung erworbenen  Umsicht  und  Sorgfalt  angesehen  wissen; 
denn  z.  B.  solche  ungeschulte  und  stammelnde  Versuche  in  der 
Logik,  wie  die  eines  Lange,  halte  ich  der  Erwähnung  flir  un- 
werth. 

Es  fragt  sich  nun,  weshalb  das  Princip  des  zu- 
2.  Begründung  reichenden  Grundes  flir  voraussetzungslos  ge- 
vom"G^ndo.  ^^^^^^  wird.  Die  Frage  scheint  schnell  abgemacht, 
weil  es  nämlich  bei  jeder  weiteren  Erforschung  seines 
Grundes  schon  selbst  vorausgesetzt  wird.  Es  ist  darum  zwar 
keine  Frage  mehr,  dass  es  wirUich  für  unser  Denken  all- 
gemeingültig ist;  voraussetzungslos  braucht  es  darum  aber  noch 
nicht  zu  sein,  und  nur  der  falsche  Idealismus,  der  schliesslich 
alles  Sein  und  Geschehen  auf  das  Denken  oder  auf  die  Idee 
zurückflihrt,  ist  daran  schuld,  dass  man  nicht  einmal  den  Ver- 
such machte,  das  Princip  auf  eine  höhere  Instanz  zurückzuführen. 
Wie  hätte  man  auch  an  einen  solchen  Versuch  denken  können, 
da  man  bisher  zwischen  der  Sphäre  des  Wissens  und  Erkennens 
einerseits  und  der  Sphäre  des  Bewusstseins  andererseits  noch 
nicht  zu  scheiden  vermochte,  sondern  das  Bewusstsein  auch  als 
einen  Erkenntnissprocess  auffasste. 

Für  die  neue  Philosophie  aber  liegt  die  Lösung  der  Frage 
auf  der  Hand;  denn  das  Princip  vom  Grunde  ist  das  blosse  Be- 
wusstsein der  Function  des  Denkens  überhaupt,  welches  in  der 
Wahrnehmung  und  Auffindung  von  Coordinationssystemen  beruht, 
wodurch  immer  zwei  Punkte  durch  einen  Gesichtspunkt  einander 
zugeordnet  werden,  wie  Sohn  und  Vater  durch  die  Erzeugung. 
Mithin  gilt  das  Princip  flir  alles  Denken.  Da  aber  auch  Ge- 
dankenlosigkeit, Confiision  und  allerlei  Vermengung  von  Gedanken 
mit  den  Einschiebseln  mechanischer  Reproduction  stattfindet,  so 
fehlt  dem  Princip  der  autoritative  Charakter,  wenn  nicht  noch 
etwas  hinzukommt;  denn  an  sich  genommen  bildet  das  richtige 
Denken  nur  Eine  Gruppe  unter  den  verschiedenen  Formen  von 

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Allgeraeinere  Fragen.     Das  Wunder.  215 

Vorstellungsverknüpfungen  und  hat  an  sich  keinen  Vorzug  vor 
den  anderen,  da  es  nur  anders,  aber  nicht  besser  ist,  als  das 
Uebrige.  Diese  Quelle  der  Autorität  kann  unsere  neue  Philo- 
sophie nun  angeben,  während  der  Idealismus,  der  bisher  in  dieser 
Frage  allein  das  Wort  führte,  dies  nicht  vermag;  denn  die  kriti- 
sche und  empirische  Richtung  in  der  Philosophie  brauche  ich 
nicht  zu  erwähnen,  da  sie  entweder  überhaupt  nicht  mehr  zur 
Philosophie  gerechnet  werden  darf  oder  sich  der  BegriflFe  des 
früheren  Idealismus  bedient.  Der  Grund  der  Autorität  oder 
Geltung  des  Satzes  vom  Grunde,  d.  h.  des  Vorzugs  des  Den- 
kens vor  dem  bloss  thierischen  Beproductionsmechanismus  und 
seiner  Einschiebung  in  die  Denkarbeit,  liegt  einfach  in  der 
Coordination  der  Functionen  unseres  Geistes,  da  sich  je  nach 
dem  ideellen  Inhalt  und  nach  den  realen  Bewegungen  ein  zu- 
gehöriges Gefühl  auslöst  und  das  dem  Denken  zugeordnete  Ge- 
fühl befriedigender  und  stärker  ist,  als  alle  die  übrigen,  so 
dass  dieselben  vor  ihm  verschwinden.  Demgemäss  erkennen  wir 
das  dem  mächtigeren  und  allein  befriedigenden  Gefühle  zu- 
geordnete Denken  als  das  Wert h vollere  an  und  nennen  seinen 
Inhalt  wahr  oder  die  Wahrheit.  (Vergl.  oben  S.  40).  Hier- 
durch ist  die  Autorität  des  logischen  Princips  erklärt.  Es  ist 
zwar  voraussetzungslos  für  das  Gebiet  der  Erkenntniss,  weit  es 
nichts  anderes  bedeutet,  als  eine  Beschreibung  des  Denkens  und 
Erkennens  selbst;  es  ist  aber  nicht  voraussetzmigslos  seiner 
Autorität  nach;  für  diese  bildet  vielmehr  die  Voraussetzung  eine 
andere  geistige  Function,  das  Gefühl,  welches  allein  den  Begriff 
von  Werth  und  Autorität  begründet. 

Durch  diese  AuflFassung  wird  uns  nun  auch  das 
Causalitätsgesetz  verständlich;  denn  durch  die  dMCauHaiuäte- 
Coordination  der  bewegenden  Function  mit  dem  prfncip. 
ideellen  Inhalt  ist  das  Bewusstsein  von  Ursache  und  Wirkung 
gegeben,  da  die  Veränderung  als  ideelles  Sein  in's  Bewusstsein 
tritt  und  in  Zuordnung  zu  unserer  Bewegungsfunction,  welche 
Ursache  heisst,  Wirkung  genannt  wird.  Indem  wir  aber  durch 
unsere  Bewegung  jetzt  dieses,  jetzt  jenes  Phänomen  unseres  Be- 
wusstseins  auslösen,  nennen  wir  uns  jedesmal  die  Ursache  und 
jenes  die  Wirkung  und  projiciren  die  Wirkungen  in  die  soge- 
nannte Aussenwelt.  Wenn  nun  die  Bewegung  durch  das  Er- 
kenntnissvermögen unter  Leitung  des  Gefühls  auf  eine  bestimmte 


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216  B«ligion  der  Furcht. 

Wirkung  als  Zweck  gerichtet  ist,  die  das  Gefühl  befriedigt,  aber 
nicht  durch  eine  einfache  Bewegung  erreicht  wird,  so  sind  wir 
genöthigt,  mehrere  Bewegungen  auszuflihren,  welche  die  ge- 
wünschte Wirkung  vermitteln.  Es  sei  z.  B.  der  Apfel  am  Baum 
Zweck;  nun  müssen  erst  die  Bewegungen  des  Gehens  und  Klet- 
terns  ausgeführt  werden,  dann  das  Greifen  und  Brechen  des 
Zweiges,  und  endlich  ist  das  Ziel  erreicht.  Diese  Vermitte- 
lung  zwischen  Zweck  und  Bewegung  giebt  die  Idee  des  Nütz- 
lichen, und  die  Zugehörigkeit  jeder  Veränderung  zu  jeder  Be- 
wegung die  Idee  des  Nothwendigen  und  Mechanischen,  die 
aber  nicht  so  einfach  entspringt,  sondern  durch  eine  Reihe  an- 
derer Coordinationen  fest  bestimmt  wird.  Alles  Nothwendige 
und  Mechanische  muss  sich  aber  wegen  der  Goordination  unserer 
Functionen  als  dem  Zweck  untergeordnet  darstellen,  weil  es  nur 
dadurch  begriffen  wird;  denn  ohne  das  dem  Zweck  zugeordnete 
befriedigende  Geflihl  und  die  vorhergehende  Unlust  würde  keine 
einzige  Bewegung  ausgelöst  werden.  Mithin  verstehen  wir  zwar 
präliminarisch  die  mechanische  Causalität  ohne  den  Zweck- 
begriff, nämlich  als  die  blosse  Goordination  zwischen  unserer  be- 
wegenden Function  und  der  im  Bewusstsein  auftretenden  Ver- 
änderung des  ideellen  Inhalts;  aber  wir  begreifen  sie  nur  voll- 
ständig, wenn  wir  den  vollständigen  Inhalt  des  Bewusstseins 
vergleichen  und  die  bewegende  Function  als  ausgelöst  erkennen 
in  jedesmaliger  Zuordnung  zu  einem  Gefühl,  so  dass  der  Zweck 
den  ganzen  Zusammenhang  des  in  uns  vorhandenen  Goordinaten- 
systems  ausdrückt. 

Diese  ftlr  unsere  perspectivische  Auffassung  nothwendigen 
Begriffe  wenden  wir  aber  ohne  Bedenken  auf  die  wirklichen 
Wesen  ausser  uns  und  also  auf  die  ganze  Welt  an,  weil  ja  der 
Verkehr  mit  diesen  wirklichen  Wesen  erst  unsere  Functionen  in's 
Spiel  setzt,  und  die  auswärtige  Ordnung  also  mit  unserer  indivi- 
duellen Ordnung  tibereinstimmt;  denn  jedes  Nichtübereinstimmen, 
z.  B.  das  Nichterreichen  eines  Zieles,  bestätigt  uns  ja  die  Rich- 
tigkeit unserer  Begriffe,  z.  B.  den  Begriff  der  Nothwendigkcit 
und  des  Mechanischen.  Es  ist  daher  undenkbar,  dass  in  der 
äusseren  Welt  eine  andere  Ordnung  herrsche,  als  die  Begriffe 
anzeigen,  welche  uns  durch  unseren  Verkehr  mit  der  äusseren 
Welt  entsprungen  sind. 


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AJIgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  217 

Wir  suchten    also   den  Satz   vom   aOireichenden 

_,_.  __,  _  •_  TT-.       RecapituUUoir. 

Grunde,  wie  er  selbst  es  verlangt,  zu  begründen.  Da 
nämlich  dieses  Gesetz  für  das  Denken  gilt,  das  Denken  aber 
semiotisch  die  ganze  Wirklichkeit  umfasst,  so  kann  das  Denken 
nur  dann  eine  Erkenntniss  der  Wirklichkeit  enthalten,  wenn  es 
in  seiner  Form  die  Foim  der  Wirklichkeit  ausdrückt.  Die  Form 
der  Wirklichkeit  ist  aber,  wie  wir  gesehen  haben,  die  Coordi- 
nation,  indem  eine  jede  Coordinate  ihre  Function  in  Zuordnung 
zu  ihrer  zugehörigen  Coordinate  hat  Folglich  müssten  die  ein- 
zelnen Elemente  des  Erkenntnissvermögens  sinnlos,  also  keine 
Erkenntnisse,  sein,  wenn  sie,  wie  einzelne  Farbenempfindungen 
oder  Töne,  für  sich  sollten  gedacht  werden  und  nicht  mit  ein- 
ander durch  einen  Gesichtspunkt  in  Coordination  träten.  Die 
durch  Coordination  begründende  Forüi  des  Denkens  ist  deshalb 
die  Zeichensprache  der  Wirklichkeit  und  wiederholt  in  seiner 
specifischen  Natur,  als  ideelles  Sein,  die  in  Wirklichkeit  gege- 
bene Coordination  aller  Functionen,  wie  die  Schriftzeichen  in 
ihrem  eigenthümlichen  Wesen  dennoch  das  eigenthümliche  Wesen 
der  Töne  oder  der  Gedanken  zu  einem  entsprechenden  Ausdruck 
bringen.  Da  nun  in  dem  jedesmal  zugehörigen  Gesichtspunkte 
der  sogenannte  Grund  angegeben  wird,  so  kann  nichts  ohne  zu- 
reichenden Grund  gedacht  werden,  was  als  Denken  und  Erkennen 
gelten  soll,  und  mithin  ist  das  Gesetz  zureichend  begründet 

d.    Gebrauch  des  Wunders  in  der  wahren  Religion. 

Durch  diese  Untersuchung  des  Begriffs  des  Zufalls  wird  nun 
der  Religion,  was  ihr  gehört,  zurückgegeben,  der  Begriff  und  der 
Gißbrauch  des  Wunders.  Die  Philosophie  übt  damit  nicht  bloss 
einen  Akt  der  Gerechtigkeit  aus,  indem  sie  die  Ucbergriflfe  kurz- 
sichtiger und  beschränkter  Köpfe  abweist,  sondern  sie  befriedigt 
zugleich  ihren  eigenen  Trieb,  der  auf  unbedingte  Forschung  aus- 
geht und  also  unbedingt  und  überall  Gründe  und  Zusammenhänge 
in  dem  technischen  System  der  Welt  fordert  Es  bleibt  uns  des- 
halb hier  zum  Schluss  wieder  die  doppelte  Aufgabe  übrig,  die 
schon  bei  dem  Ursprung  der  Wunder  in  der  Furchtreligion  ge- 
stellt wurde,  nämlich  erstens  die  Erkenntniss  der  Wunder  und 
zweitens  die  Psychagogie  für  den  Gebrauch  in  der  höchsten,  der 
christlichen  Religion,  wenigstens  im  Umriss  anzudeuten. 

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218  Religion  der  Furcht. 

1.  Die  Erkennt-  ^^  ^^  ^^^^  gczcigt  hat,  dass  clic  Wunder  wesent- 
niua  der  wun-  lich  ZUF  Rcligion  gchörcD,  80  kanu  kein  religiöser 
*^®'*  Mensch  gedacht  werden,  der  nicht  Wunder  erlebt 
und  erkannt  hätte,  weil  er  sonst  überhaupt  keinen  Glauben  an 
die  lebendige  Wirksamkeit  Gottes  in  der  Welt  haben  könnte. 
Zugleich  aber  ist  auch  einleuchtend,  dass  die  Erkenntniss  der 
Wunder  auf  einer  individuellen  und  also  perspectivischen 
Interpretation  beruht.  Ein  jeder  christlich  gebildete  Mensch 
wird,  wenn  er  auf  sein  Leben  zurückblickt,  hier  und  da  Knoten- 
punkte seiner  inneren  Entwickelung  wahrnehmen,  wo  es,  wie 
mit  den  Sternen,  entweder  abwärts  oder  aufvfärts  mit  ihm  ge- 
gangen ist.  An  diesen  Punkten  wird  er  zwar  nicht  die  Constel- 
lationen  der  Planeten  beachten,  aber  doch  immer  in  dem  natür- 
lichen und  doch  wunderbaren  Zusammentreffen  der  Ereignisse 
die  Zeichen  göttlicher  Fügung  und  Leitung  ausgestellt  sehen, 
denen  er  folgte,  oder  deren  Weisung  er  zu  widerstehen  suchte, 
und  deren  Spuren  in  dem  Wohl  und  Wehe  seines  inneren  Le- 
bens eingegraben  sind,  bis  er  endlich  zum  Frieden  mit  Gott  ge- 
langte und  sein  Leben  als  von  Gottes  Hand  geleitet  sich  selber 
im  Gebet  oder  seinen  Kindern  darlegt.  Eine  solche  Interpretation 
ist  nothwendig  perspectivisch,  weil  sie  erstens  die  volle  Kennt- 
niss  des  individuellen  Seelenlebens  voraussetzt  und  zweitens  anch 
die  individuelle  Persönlichkeit  zum  Gesichtspunkt  nimmt,  sofern 
alle  übrigen  Menschen  und  alle  Ereignisse  der  grossen  Welt  nur 
als  dienende  Mittel  flir  die  individuelle  Entwickelung  und  für 
das  Heil  der  Einzelpersönlichkeit  zur  Geltung  kommen.  Wer 
nun  nach  seinem  kleinen  geistigen  Horizonte  eine  solche  Be- 
trachtungsweise für  logisch  falsch  und  lächerlich  erklärt,  weil 
der  Einzelne  ja  in  dem  grossen  Ganzen  nur  eine  verschwindende 
Rolle  spiele  und  kaum  der  Rede  werth  sei,  der  spricht  eben, 
wie  er's  versteht,  und  kann  eine  gute  ehrliche  Haut  sein,  bleibt 
aber  natürlich  weit  von  wahrer  Philosophie  und  Christenthum 
entfernt  und  muss  noch  viel  lernen,  um  einzusehen,  dass  in  dem 
vollendeten  technischen  System  jeder  Theil  als  unentbehrliches 
Glied  das  Dasein  des  Ganzen  mitbedingt  und  dass  jeder  Theil, 
wie  er  dem  andern  dient,  auch  selbst  Zweck  der  übrigen  ist. 
Dieses  souveräne  Recht  der  individuellen  Wesen  ist  das 
Geheimniss  der  wahren  Philosophie  und  nur  deswegen  Geheim- 
niss,   weil  die   philosophischen   Sekten,   der  Naturalismus,    der 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Wunder.  219 

Idealismus  und  der  Positivismus  von  den  oberflächlicheren  An- 
schauungsbildern der  Sinne  oder  den  verständigen  Abstractionen 
des  Denkens  ausgehen,  um  sich  darnach  eine  Vorstellung  von  • 
der  Substanz  zu  machen,  während  die  wahre  Philosophie  den 
Ursprung  aller  SeinsbegrifiFe  in  dem  den  Sinnen  und  dem  Ver- 
stände verborgenen  und  doch  so  einfachen  und  offenkundigen 
Selbstbewusstsein  erkennt  und  daher  dem  individuellen  Wesen 
die  zeitlose  Ewigkeit  und  mithin  auch  das  Recht  und  die  Gtiltig- 
keit  seiner  perspectivischen  Auffassung  der  Welt  verbürgt.  Die 
perspectivische  Auffassung  aber  vermittelt  die  Zeichensprache 
des  einheitlichen  Ganzen  durch  die  natürlichen  Lettern  der  ein- 
zelnen Ereignisse,  die  nicht  bloss  nach  dem  äusserlichen  und  ge- 
meinsamen Resultat  und  den  allgemeinen  Gesetzen,  sondern  auch 
nach  dem  Reflex  auf  das  innere  Leben  der  einzelnen  Seele  ge- 
deutet werden  dürfen  und  sollen.  So  ist  durch  eine  umfassen- 
dere metaphysische  Topik  der  Sitz  und  das  Recht  des  Wunders 
und  seiner  Literpretation  begründet  und  gegen  alle  Kritik  der 
beschränkteren  philosophischen  Confessionen  sicher  gestellt. 

Da  nun  die  Wunder  in  der  Leitung  der  Seele  durch  die 
weltregierende  Hand  Gottes  der  individuellen  Interpretation  über- 
lassen sind,  so  ist  es  auch  angezeigt,  sie  nicht  an  die  grosse 
Glocke  zu  hängen;  denn  durch  solche  eitle  und  äusserliche 
Schaustellung  würde  ja  das  innere  Leben  der  Seele  selbst  pro- 
fanirt.  Der  Vater  mag  daher  in  vertrautem  Gespräch  seinem 
Kinde  die  wunderbare  Hand  Gottes,  die  ihn  geleitet,  zeigen,  um 
die  junge  Seele  zu  höherem  Sinne  und  tieferem  Verständniss  des 
Lebens  zu  entwickeln.  Die  öffentliche  Mittheilung  aber  mag 
bloss  den  grossen  Genien  der  Menschheit  zugestanden  werden, 
die,  wie  ein  Augustin  und  ein  Göthe,  es  verstanden,  ihr  inneres 
Leben  wie  ein  sichtbares  Kunstwerk  vor  Augen  zu  stellen,  wo 
denn  auch  die  Fügungen  Gottes  Anderen  ebenfalls  verständlich 
werden  können.  Das  ist  aber  nicht  Jedermanns  Sache,  sondern 
die  Meisten  sind  wegen  ihres  unreifen  Verstandes  und  wegen 
der  Unreinheit  ihres  Herzens,  das  noch  von  den  niederen  Motiven 
der  Furchtreligion  befangen  ist,  nicht  im  Stande,  eine  richtige 
Interpretation  ihres  Lebens  zu  liefern,  und  bringen  daher  Wunder- 
geschichten zu  Markte,  fiir  die  sie  bloss  Spott  und  Züchtigung 
verdienen.  Darum  werden  von  solchen  sogenannten  Christen, 
die  aber  eigentlich  Gläubige  der  Furchtreligion  sind,  die  Wunder, 

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220  Beligion  der  Furcht 

welche  sich  bei  der  Deutung  unseres  Lebens  von  selbst  finden 
müssen 7  absichtlich  gesucht  und,  wie  einst  die  Auguren  nach 
Wunderzeichen  forschen  mussten,  so  schlagen  diese  rathlosen 
Köpfe  und  friedlosen  Herzen  irgend  ein  ihnen  heiliges  Kalender- 
buch oder  die  Bibel  auf  und  meinen  in  dem  ersten  besten  Vers 
oder  Wort,  das  ihnen  in  die  Augen  ßllli  und  sich  irgendwie  zu 
einem  für  sie  passenden  Sinne  deuten  lässt,  ein  wunderbares 
Losungswort  aus  göttlicher  Höhe  erhalten  zu  haben. 

Wie  für  den  Einzelnen,  so  ist  wegen  der  Gemeinschaft  des 
Lebens  auch  für  die  Familie,  die  Nation  und  die  Menschheit 
eine  perspe(!tivische  Deutung  der  Weltgeschichte  erlaubt.  Allein 
hier  liegt  die  Gefahr  nahe,  zu  der  jüdischen  Philosophie  der  Ge- 
schichte (S.  w.  u.)  zurückzukehren,  oder  die  äusserlichen  und  für 
das  Leben  der  Seele  geringwerthigen  sogenannten  Fortschritte 
der  Civilisation  zum  Massstab  zu  nehmen.  Diese  Frage  erfor- 
dert deshalb  eine  grössere  Untersuchung,  die  erst  bei  der  Philo- 
sophie des  Christenthums  geliefert  werden  soll-,  ich  bemerke 
daher  hier  nur,  dass  die  christlichen  Theologen  mit  Recht  die 
adäquate  Auffassung  der  Wunder  mit  dem  Namen  „Heilsgeschichte" 
abgränzen,  dass  sie  aber  mit  grossem  Unrecht  das  Heil  an  die 
Kirch thürme  hängen,  als  wäre  die  äusserliche  Institution  der 
Kirche  nicht  ebensoviel  Eitelkeiten  und  pathologischen  Verderb- 
nissen ausgesetzt  wie  die  übrigen  natürlichen  Mittel,  wodurch 
Gott  sein  Reich  regiert.  Es  ist  ohne  Zweifel  ein  unzerstörbar 
gesunder  Saft  in  der  Kirche,  aber  die  jeweiligen  Gärtner  thun 
gut,  sich  nicht  einzubilden,  dass  sie  selbst  die  süsse  Wurzel 
Josse  wären  und  dass  die  Heilsgeschichte  sich  nur  innerhalb  der 
ihnen  bekannten  kleinen  Gartenzäune  abspielte. 

Da  nun  auch  in  der  höchsten  Form  der  Religion 

2.  Die  Phycha- 

gogie.  das  Wesen  des  Wunders  erhalten  bleibt,  indem  es, 
wie  aus  den  Windeln  der  Furchtreligion  entlassen, 
ohne  die  kindischen  Illusionen  und  ohne  die  abergläubischen 
Ammenlieder  zu  edler  Freiheit  und  kraftvoller  Männlichkeit  im 
Umgang  mit  wissenschaftlicher  Einsicht  sich  erhebt:  so  muss 
auch  neben  der  Erkenntniss  des  Wunders  sein  psychagogischer 
Gebrauch  geregelt  werden.  Für  die  selbsterlebten  Wunder  ver- 
steht sich  dieser  auch  von  selbst;  die  Schwierigkeit  liegt  nur 
darin,  wie  die  in  den  kanonischen  Schriften  unserer  allein  wahren 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Wunder.  221 

christlichen  Religion  überlieferten  Wunder  wahrheitsgemäss  und 
heilsam  gebraucht  werden  können. 

Nun  giebt  man  den  Kindern  unbedenklich  die  Grimmischen 
Märchen  und  die  Odyssee  und  Ilias  in  die  Hände,  und  es  gilt 
mit  Recht  für  abgeschmackt,  statt  sich  an  dem  Sinn  dieser  Er- 
zählungen zu  erfreuen,  mit  altkluger  Kritik  auf  die  Fabelhaftig- 
keit  derselben  aufinerksam  zu  machen.  Man  soll  aber  nicht 
meinen,  als  müssten  die  heiligen  Schriften,  welche  die  christliche 
Gemeinschaft  tragen  und  erleuchten,  in  dieselbe  Linie  rücken. 
Vielmehr  wird  Kind  und  Gemeinde  den  mächtigen  Unterschied 
sofort  in  ihrem  Gefühl  und  Gewissen  empfinden,  da  sich  sowohl 
beim  Lesen  selbst,  als  auch  durch  die  Autorität,  welche  die  Lehrer 
der  Kirche  diesen  Schriften  beilegen,  der  Werth  und  Sinn  und 
die  Gültigkeit  derselben  mit  unzweifelhafter  Deutlichkeit  heraus- 
stellt. Wenn  gleichwohl  bei  einigen  Geschichten  die  Aehnlich- 
keit  heidnischer  und  christlicher  Wunderberichte  zum  Vorschein 
kommt  und  die  Kritik  sich  regt,  so  scheint  es  mir  im  Allge- 
meinen pädagogisch  richtig  zu  sein,  die  vorzeitige  Aufinerk- 
samkeit  der  Kinder  von  dieser  Seite  der  Sache  abzulenken,  da 
sie  kein  sittliches  und  religiöses  Interesse  bietet,  sondern  in 
naturhistorische ,  astronomische ,  physikalische  und  chemische 
Fragen  hinüberführt.  Der  junge  religiöse  Mensch  hat  genug  zu 
thun,  mit  sich  selbst  in  Ordnung  zu  kommen,  und  braucht  diese 
höchste  Angelegenheit  nicht  von  Erörterungen  weltlicher  Wissen- 
schaft, deren  Arbeit  noch  lange  nicht  abgeschlossen  ist  und  die 
er  auch  selbst  noch  nicht  in  competenter  Weise  beherrscht,  ab- 
hängig zu  machen.  Sollten  aber  wegwerfende  Aeusserungen 
competenter  Naturforscher  gerade  die  Oeflfentlichkeit  beschäftigen, 
so  hat  man  der  Jugend  gegenüber  wohl  das  Recht,  auf  die 
Nichtigkeit  solcher  Autorität  hinzuweisen,  da  immer  nach  ein 
paar  Menschenaltem  alle  früheren  Naturforscher  den  späteren 
als  unwissend*)  erschienen  sind,  während  die  heilige  Schrift  ihr 
Haupt  ruhig  über  Jahrtausende  erhebt  und  das  heilige  Feuer 
der  religiösen  Gesinnung  unerloschen  und  unverlöschlich  erhält 
Auf  diesen  Sinn  und  diese  unendliche  und  zeitlose  Grösse  des 


*)  Auch  als  lächerlich,  wenn  sie  inzwischen  das  Richtige  genauer 
erkannt  zu  haben  glauben,  wie  denn  z.  B.  des  Cartesius  Zirbeldnlse  und 
Wirbel  und  esprits  animaux  und  Swammerdamms  Samenthierchen- Männlein 
nur  mit  einer  komischen  Sauce  in  den  akademischen  Vorlesungen  servirt  zu 
werden  pflegen.  ^^  GoOqIc 


222  Religion  der  Furcht. 

inneren  Werthes  hat  man   den  Ton  zu  legen  und  die  kritische 
Untersuchung  dem  Streite  der  Gelehrten  zu  tiberlassen. 

Den  Erwachsenen  und  höher  Gebildeten  oder  den  Gelehrten 
muss  man  aber  natürlich  Rede  stehen  tiber  alles,  was  sie  fragen 
wollen.  Unsere  erste  Pflicht  wird  demgemäss  sein,  dem  preussi- 
schen  Könige  Friedrich  Wilhelm  nachzuahmen,  der  1713  bei 
seinem  Regierungsantritt  die  Etatliste  aller  bisher  bestehenden 
Hofbeamten  von  Anfang  bis  zu  Ende  durchstrich,  indem  wir 
unsererseits  die  bisherigen  Apologeten  verabschieden,  meinet- 
wegen auf  gnädige  Art  mit  Pension  und  Uniform.  Wie  jene 
Hofschranzen  durch  die  kostspieligen  Würzen  des  Hofjargons 
das  Unwahre  mundgerecht  und  das  Ueberflüssige  unentbehrlich 
zu  machen  verstanden,  so  suchen  diese  mehr  einfältigen  als  ge- 
sinnungslosen Apologeten  das  fromme  Publikum  zu  überreden, 
dass  die  Wundererzählungen  und  der  ganze  Bericht,  den  wir  von 
Leuten  einer  längst  überwundenen,  unreifen  und  volksmässigen 
Bildungsstufe  überkommen  haben,  alle  Ansprüche  der  Wissen- 
schaft überbiete  imd  neben  Newton's  Gesetze,  wie  neben  die 
officiellen  Berichte  des  preussischen  Generalstabes  gestellt  werden 
könne.  Solche  höfische  Apologeten  brauchen  wir  nicht  mehr. 
Wir  werden  uns  vielmehr  der  königlichen  Worte  erinnern:  „aus 
dem  Munde  der  Unmündigen  und  Säuglinge  hast  Du  Dir  ein  Lob 
zubereitet",  und  werden  deshalb  auch  die  ungeschulten  und  un- 
kritischen Wundererzählungen  nur  fttr  das  nehmen,  was  sie  sind, 
für  Auffassungen  der  Dinge,  wie  sie  noch  heute  bei  Kindern 
und  im  Volke  erzählt  werden  und  Glauben  finden.  Statt  mit 
der  unvertilgbaren  Missbilligung  des  Gewissens  diese  Berichte 
für  baare  Münze  auszugeben,  werden  wir  den  Ursprung  und  Sinn 
derselben  beachten  und  statt  eines  unerfreulichen  und  im  Grunde 
verlogenen  Gezänkes  mit  den  Vertretern  der  exacten  Wissen- 
schaften in  die  sittliche  und  religiöse  Sphäre  übertreten,  wo 
sofort  die  Naturforscher  und  Historiker  ehrerbietig  zurückweichen, 
und  wo  das  Leben  und  die  unbestrittene  Wahrheit  dieser  Ge- 
schichten wohnt.  Nur  dadurch  kann  auch  verhütet  werden,  dass 
die  Christen  bloss  als  eine  Sekte  bomirter  und  von  der  geschicht- 
lichen Entwickelung  der  Menschheit  losgelöster  Leute  erscheinen, 
während  das  Christenthum  vielmehr  die  offenkundige  Macht  sein 
will,  die  bei  der  hellsten  Beleuchtung  nur  immer  werthvoUer  und 
mächtiger  heiTortritt. 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Wunder.  223 

Mithin  werden  die  höher  Gebildeten,  wenn  sie  sehen,  dass 
man  ihre  Gesichtspunkte  theilt  und  als  Gleichgebildete  theilen 
muss,  auch  von  der  Geschmacklosigkeit  abstehen,  die  naive 
Aussenseite  der  Wunder  immer  wieder  der  Kritik  zu  unterwerfen 
und  mit  den  Thürhütem  zu  zanken,  statt  in  die  Wohnung  zum 
Gespräch  mit  dem  Herrn  des  Hauses  einzutreten.  Die  Prediger, 
denen  die  Benutzung  der  Wunder  zur  Psychagogie  anvertraut 
ist,  haben  also  die  Pflicht,  den  Sinn  und  Geist  derselben  zum 
Zwecke  der  Erbauung  herauszuheben  und  mithin  nur  die.  sitt- 
liche und  religiöse  Bedeutung  zu  betonen.  Ich  muss  gestehen, 
dass  die  katholische  Kirche  darin  zuweilen  der  protestantischen 
überlegen  erscheint,  und  bitte  um  die  Erlaubniss,  eine  kleine 
persönliche  Erfahrung  zu  erzählen.  Ich  trat  in  die  Katheclrale 
zu  Schwyz,  wo  ein  Kapuziner  die  Kanzel  bestieg  und  die  drei 
Wundergeschichten  von  der  Erweckung  von  Jairi  Töchterlein, 
vom  Jüngling  zu  Nain  und  vom  Lazarus  verlas.  Während  ich 
mich  nun  schon  darauf  gefasst  machte,  die  abgedroschenen  und 
gewissenlosen  Phrasen  über  Gottes  Durchbrechung  der  Natur- 
gesetze und  dergleichen  unerbauliche  Sophistik  anhören  zu  müssen, 
wurde  ich  aufs  Höchste  überrascht,  weil  dieser  Mann  im.  ein- 
fachen wollenen  Hemd,  ohne  eine  Silbe  über  alle  nicht  in  das 
Gebiet  der  Religion  gehörige  Streitfragen  zu  verlieren,  die  Ge- 
schichten ganz  unerörtert  stehen  liess  und  aus  ihnen,  wie  aus 
Parabeln,  nur  die  tieferregende  Schilderung  zog,  wie  der  Mensch 
in  die  Sünde  und  den  Tod  der  Sünde  in  drei  Stufen  verfällt, 
was  er  an  den  Lebensaltem  deutlich  machte,  wie  aber  die 
wiedererweckende  Kraft  Gottes  auch  den  schon  in  stinkende 
Verwesung  tibergehenden  Verbrecher  noch  erreichen  und  zum 
Leben  der  Liebe  und  des  seligen  Friedens  zurückführen  könnte. 
Mit  sichtlicher  Aufinerksamkeit  und  innerlicher  Erregung  folgte 
die  Gemeinde  seinen  Worten,  die  als  Frucht  nicht  den  Stoff  zu 
einem  werthlosen  theoretischen  Salon -Geschwätz  hinterliessen, 
sondern  eine  dem  Worte  der  Wahrheit  zukommende  lebendige 
Kraft  bildeten  zur  Leitung  des  Lebens  und  zur  Einreihung 
unserer  Persönlichkeit  in  den  Dienst  des  Reiches  Gottes.  Dies  Bei- 
spiel möge  hier  genügen;  die  genauere  Anweisung,  wie  die  Wunder- 
geschichten der  heiligen  Schrift  zur  Psychagogie  zu  benutzen  sind, 
gehört  in  die  christliche  Homiletik,  wo  noch  einige  andere  Wege 
des  Gebrauchs  ausser  dem  parabolischen  gezeigt  werden  müssen. 

uiuuizeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


224  Beligion  der  Furcht. 

Ich  liebe  nicht  das  Yersteckspielen,  welches  sowohl  Kant 
als  Hegel  mit  den  Theologen  trieben,  indem  sie  die  dogmatische 
Ausdrucksweise  gebrauchten  und  doch  etwas  Anderes  dabei  im 
Sinne  behielten.  Deshalb  erlaube  ich  mir  immer  an  deutlichen 
Beispielen  die  Begriflfe  zu  illustrieren,  und  möchte  auch  hier 
noch  gern  ein  Beispiel  ausfllhren.  Da  nämlich  z.  B.  bei  jenen 
Todtenerweckungen  gar  nichts  Geschichtliches  herauskommt,  da 
weder  das  Mägdlein,  noch  der  Jüngling,  noch  der  Lazarus  nach- 
her irgend  etwas  leisten,  was  in  der  Geschichte  ruchbar  und 
von  Einfluss  geworden  wäre,  so  haben  diese  Erzählungen  auch 
nur  eine  allgemeine,  d.  h.  parabolische  Bedeutung  und  können 
nicht  als  Wunder  in  achtem  und  strengem  Sinne  der  Heils- 
geschichte angehören.  Wenn  dagegen  Paulus  durch  ein  Wunder 
vom  Verfolger  zum  Anhänger  Jesu  wird  und  durch  seine  mächtige 
Persönlichkeit  das  Christenthum  durch  die  ganze  griechische 
Welt  trägt,  so  darf  ein  solches  Wunder,  auf  welchem  gewisser- 
massen  noch  die  heutige  Christenheit  steht,  nicht  als  Parabel 
oder  Illusion  abgethan  werden.  Vielmehr  liegen  hier  alle  Ele- 
mente eines  wahren  und  grossartigen  heilsgeschichtlichen  Wunders 
zu  Tage,  das  sich  deshalb  offen  besehen  lassen  kann.  Zunächst 
haben  wir  gewisse  zwar  natürliche,  aber  für  die  individuelle 
Lage  des  Saulus  überraschende  und  erstaunliche  Phänomene  oder 
Gesichte  zu  constatiren.  Da  er  durch  dieselben  in  Furcht  und 
in  eine  tiefe  Erschütterung  des  Gemüthes  gerieth  und  dieselben 
perspectivisch  als  Zeichen  und  als  Kede  Gottes  an  ihn  deutete, 
wodurch  sein  Leben  geleitet  und  er  aus  einem  Verfolger  zu 
einem  Bekenncr  und  Apostel  gemacht  werden  sollte,  so  kommt 
hier  das  ganze  Wesen  des  Wunders  in  volles  Licht  Dieses 
Wunder  ist  aber  nicht  blos  für  die  individuelle  Lebensentwicke- 
lung des  Paulus  ein  Knotenpunkt  gewesen,  sondern  ein  Wende- 
punkt der  Weltgeschichte,  da  wir  ohne  die  Persönlichkeit  und 
die  Apostelschaft  des  Paulus  weder  die  christliche  Kirche,  noch 
die  ganze  christliche  Cultur  in  der  Weltgeschichte  besässen. 
Obgleich  nun  die  von  Paulus  erlebten  Erscheinungen  und  Ge- 
sichte an  sich  ganz  mögliche  und  natürliche  Ereignisse  sind 
und  deshalb  einer  mechanischen  Erklärung  nichts  in  den  Weglegen, 
so  sind  sie  doch  nach  den  obigen  Auseinandersetzungen  ftir  die  per- 
spcctivische  Auffassung  als  zufällige  zu  bezeichnen  und  müssen 
uns  doshalb,  soweit  wir  unsere  Vernunft  gebrauchen  und  jetzt  den 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Wunder.  225 

grossen  historischen  Zusammenhang  übersehen,  als  zweckmässig 
und  beabsichtigt,  als  wahre  Wunder,  als  Sprache  und  Verkehr 
Gottes  mit  der  Menschheit  erscheinen.  Wir  werden  aber  freilich 
nicht,  wie  Kinder  und  Pöbel,  die  natürlichen  meteorologischen 
und  die  pathologischen  Phänomene  anstaunen,  nämlich  Blitz  und 
Donner,  Blendung,  Ohrensausen,  Ohnmacht  u.  dergl.,  sondern  die 
Fügung  und  ihre  Interpretation,  worin  die  religiöse  und  welt- 
geschichtliche Bedeutung  dieses  Wunders  besteht.  Denn  wie  das 
jungfräulich-majestätische  Himmelsbild  der  Sixtinischen  nicht  in 
den  Oelflecken  besteht,  die  der  Bafaelische  Pinsel  auf  der  Lein- 
wand zurückliess,  sondern  in  der  enthusiastischen  Phantasie  des 
Künstlers,  der  das  Licht,  das  ihn  erleuchtete,  auszustrahlen  ver- 
mochte, und  in  unserer  nachschaffenden  Phantasie,  welche  die 
Strahlen  wieder  zu  der  Himmelserscheinung  zusammenfügt:  so 
ist  auch  das  ßuchstabenmaterial,  durch  welches  die  Gottheit 
spricht,  ganz  gewöhnlicher  Art;  die  Deutung  aber  verlangte 
einen,  so  grossen  Mann,  wie  Paulas,  den  sich  Gott  auserlesen 
hatte,  und  der  nun  in  der  ganzen  Weltgeschichte  einzig  dasteht, 
weil  er  den  Sinn  der  Sprache  Gottes  vernahm,  das  ausströmende 
Licht  der  Heilswahrheit  fasste  und  sie  in  zündenden  Worten 
und  mit  kräftiger,  durch  die  Jahrhunderte  reichender  Stimme 
auslegen  und  verkünden  konnte. 

Solche  Wunderthaten  Gottes,  in  denen  sich  das,  was  wir 
mit  beschränktem  Sinne  Zufall  und  Fügung  nennen,  zu  einer 
welthistorischen  Bedeutsamkeit  erhebt  und  eine  über  das  indi- 
viduelle Seelenleben  hinausgehende,  die  Menschheit  umfassende 
Regierung  Gottes  offenbart,  muss  der  Homiletiker  aussondern 
aus  dem  übrigen  Haufen  und  so  überhaupt  eine  jede  Art  der 
als  Wunder  bezeichneten  Erzählungen  der  heiligen  Schrift  mit 
wahrhaft  christlichem  Sinne  studiren,  um  die  verschiedenen  Wege 
ihres  richtigen  Gebrauches  aufzufinden.  Blitz,  Donner,  Erdbeben 
u.  dergl.  können  auch  einen  Hund  und  einen  Ochsen  in  Schrecken 
versetzen;  für  den  Christen  aber  wird  nur  das  als  Wunder  gelten, 
was  uns  das  Wort  Gottes  in  dem  specifisch  christlichen  Sinne 
offenbart;  denn  nicht  der  alte  heidnische  Furchtgott  und  nicht 
der  jüdische  Rechtsgott  mit  seiner  Rp,che  und  seinen  Ver- 
heissungen  thun  christliche  Wunder,  sondern  nur  der  Gott  der 
•Erfüllung,  der  Liebe,  des  Friedens,  der  Wahrheit,  der  Gott,  der 

Teichmüller,  Religionfiphilosophle.  15 

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226  Religion  der  Furcht. 

Mensch   geworden  ist,    die   Welt  tibewunden  hat  und  in    der 
Geschichte  lebendig  regiert 

Ich  schliesse  diese  Betrachtungen,  indem  ich  die 
Epüogni.  Regiiitate  zusammenfasse,  mit  einer  Warnung  an  die 
christlichen  Prediger,  nicht  durch  unaufrichtige  Apologetik  zum 
Judenthum  und  Heidenthum  zurückzukehren;  denn  dem  Sohne 
des  Menschen  waren  die  Wunder  der  Furchtreligion  verhasst, 
und  er  forderte  keine  Legionen  Engel  zu  seiner  Befreiung  vom 
Sclaventode  und  schalt  die  Juden  wegen  ihres  Verlangens  nach 
Zeichen  und  Wundern.  Wenn  das  Christenthum  gebunden  wäre 
an  die  Auffassung  des  Paulus  und  seine  Erwartung  einer  un- 
mittelbar bevorstehenden  Rückkunft  Christi  zur  äusserlichen  Auf- 
richtung des  Messiasreiches  in  dieser  Welt,  so  würden  wir,  da 
fast  zwei  Jahrtausende  jetzt  seit  diesen  jüdischen  Illusionen  ver- 
gangen sind,  keinen  Gebrauch  mehr  von  solch  einer  Beligion 
machen  können.  Das  ist  aber  das  Grosse  in  dieser  Reli^on, 
dass  sie  nicht  wie  die  mohamedanische  in  directen  Aufzeich- 
nungen des  Meisters  überliefert  ist,  sondern  als  ungeschriebener 
lebendiger  Geist  in  der  persönlichen  Gemeinschaft  da  ist  und 
wirkt,  unabhängig  selbst  von  dem  ältesten  Kanon,  da  auch  die 
kanonischen  Schriftsteller,  Evangelisten  und  Apostel,  wie  Körper 
von  verschiedener  inneren  Structur  das  von  ihnen  nur  auf- 
genommene göttliche  Licht  zum  Theil  absorbiren  und  es  in  ver- 
schiedenen Brechungsexponenten  durch  sich  durchgehen  lassen, 
wobei  ihre  eigene  individuelle,  nationale  und  zeitgemässe  Be- 
sonderheit mit  zu  Tage  kommt.  So  ist  uns  hierdurch  die  Mög- 
lichkeit gegeben,  das  Christenthum  nicht  als  eine  todte  und 
stereotype  Edition  zu  betrachten,  sondern  mit  historischer  Kritik 
und  liebevoller  Vertiefung  den  ursprünglichen  und  ftlr  alle  Zeiten 
gültigen  Sinn  divinatorisch  zu  erfassen  und  alle  die  im  Laufe 
der  Geschichte  entstandenen  bloss  zeitgemässen  und  unreifen 
Auffassungen  und  Formulirungen  als  entbehrliche,  vergängliche 
und  zum  Theil  unwürdige  Hüllen  abzustreifen.  Das  Christkind 
wird  ja  in  einer  Krippe  geboren,  und  Bauern  und  Hirten,  Ochs 
und  Esel  stehen  in  seiner  nächsten  Umgebung,  und  dennoch 
war  es  der  Herr  der  Welt.  Unter  Juden,  die  von  allen  ihren 
Yorurtheilen  und  nationalen  Leidenschaften  besessen  sind,  muss 
sich  zeitlebens  der  Gottmensch  zerren  und  quälen  und  endlich 
hängen  lassen,  und   doch  war  er  flir  alle  Welt  gekommen  und 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Schicksal.  227 

wird  als  König  der  Wahrheit  in  allen  Völkern  und  Zeiten  re- 
gieren. Darum  verschone  man  uns  mit  den  Zeichen  und  Wundem 
der  Furchtreligion,  die  ftlr  die  Juden  eine  grosse  Bedeutung 
hatten,  aber  nicht  ftir  Christen;  man  trete  auch  nicht  über  auf 
den  Standpunkt  der  Gegner  des  Christenthums,  welche  in  den 
Wundem  nur  Durchbrechungen  der  modernen  Naturgesetze  sehen, 
und  suche  nicht  in  diesem  von  den  Feinden  herübergenommenen 
Sinne  die  Wunder  zu  verherrlichen,  die  doch  nur  nach  der  da- 
maligen Naturauflfassung  für  möglich  galten  und  beachtenswerth 
waren,  aber  nichts  für  die  Weltgeschichte  im  Ganzen  und  für 
die  unermessliche  Zukunft  der  Religion  bedeuten  können.  Das 
Reich  Gottes  besteht  nicht  in  solchen  Wundem  und  Zeichen, 
sondem  in  einem  umgewandelten  Geiste,  in  Leben,  .Wahrheit 
und  Kraft.  Viele  Wunder,  welche  die  dem  Volke  angehörigen 
Berichterstatter  der  heiligen  Schrift  erzählen,  stammen  nicht  aus 
dem  Geiste  Christi,  sondem  aus  dem  Munde  von  Unmündigen 
und  Säuglingen,  die  seinen  Geist  nicht  anders  als  in  dieser  ihnen 
angemessenen  Form  erfassen  konnten.  Geben  wir  einem  Jeden, 
was  ihm  gebührt,  dem  darin  geoffenbarten  ewig  wahren  Geiste 
Gottes  das  Lob,  das  er  sich  aus  ihrem  Munde  zubereitet  hat, 
die  Wundergeschichten  aber  der  Furchtreligion,  der  sie  gehören. 


§  2.  Das  Schicksal. 
Da  die  sogenannte  Schicksalsidee  sich  in  vielen 
Religionen  und  auch  in  der  Form  der  Prädestination  ^^'  ^°^^  ^^^ 
in  einigen  christlichen  Confessionen  findet,  so  ist  es 
eine  Frage  der  Logik,  ob  diese  Idee  bei  jeder  dieser  Religionen 
aus  der  Art  schlage  und  deshalb  wegen  ihrer  specifischen  Diffe- 
renz jedesmal  besonders  behandelt  werden  solle,  oder  ob  sie 
etwa  in  ihrer  identischen  Allgemeinheit  abgesehen  von  aller 
Religion  vorher  für  sich  erörtert  werden  könne.  Nun  ist  nach 
der  Dialektik,  die  ich  zuerst  in  meiner  Metaphysik  ausführte, 
jeder  Begriff  durch  seine  Beziehungspunkte  festzulegen,  wodurch 
ihm  ein  bestimmter  Ort  in  dem  System  aller  Begriffe  zukommt. 
Ich  meine  dies  nicht  in  dem  Sinne  der  Aristotelischen  Topik, 
nach  welcher  die  Oerter  die  Gemeinplätze  sind,  auf  denen  das 
logisch  Einzelne  und  Particuläre  sich  sammelt,  sondem  ich  will 
hier  ohne  Rücksicht  auf  die  Kategorie  der  Quantität  die  Orts- 

uiumzeu  uy  V^J v^WV  i^ 


228  Religion  der  Furcht. 

bestimmang  in  einem  Goordinatensystem  logisch  zur  Geltung 
bringen.  Denn  wie  z.  B.  die  Reetascension  nur  in  Beziehung 
auf  den  Himmelsäquator  der  Declination  zugeordnet  ist,  so  kann 
man  auch  keinen  Begriff  genügend  verstehen,  bis  man  seine  zu- 
gehörigen Goordinaten  aufgefunden  hat  Leider  lässt  sich  nun 
nicht  behaupten,  dass  die  Schicksalsidee  nach  dieser  Methode 
bisher  schon  von  den  Theologen  oder  den  Philosophen  bestimmt 
sei,  und  wir  mtlssen  daher  die  Frage  von  vom  an  erörtern. 

Bei  den  früheren  Gelehrten  finde  ich  drei  Punkte  zur  Gharak- 
terisirung  der  Schicksalsidee  bemerkt  und  hervorgehoben,  erstens 
die  Nothwendigkeit,  zweitens  die  Vorherbestimmung  aller 
Ereignisse,  drittens  die  Blindheit  dieser  nicht  von  Vemunfk 
oder  Liebe  geleiteten  Vorherbestimmung.  Allein  hiermit  sind 
blosse  Gharakterisirungen  gegeben,  d.  h.  consecutive  und  viel- 
leicht auch  eigenthümliche  Merkmale;  aber  das  Wesen  des  Be- 
griffs ist  dadurch  ebensowenig  bestimmt,  als  wenn  man  den 
Löwen  als  gelbhaarig,  grossmüthig  und  sehr  stark  definiren 
wollte,  ohne  zu  melden,  was  wir  zuerst  wissen  müssen,  dass  er 
eine  Katzenart  bildet.  So  verlangen  wir  auch  die  Schicksals- 
idee zuerst  an  ihrem  systematischen  Orte  durch  die  zugehörigen 
Beziehungspunkte  festgelegt  zu  sehen. 

Nun  zeigt  die  analytische  Behandlung  des  Schicksalsglaubens 
in  der  Menschheit  sofort,  dass  diese  Idee  nicht  etwa  unabhängig 
von  aller  Eeligion  als  ein  metaphysischer  oder  naturphiloso- 
phischer Begriff  festgestellt  und  den  religiösen  Meinungen  etwa 
wie  das  Causalitätsgesetz,  oder  wie  der  Begriff  des  Seins  vor- 
angeschickt werden  müsste,  sondern  dass  dieser  Glaube,  den 
man  eine  Idee  nennt  und  recht  gut  auch  eine  Meinung  nennen 
könnte,  sich  nur  im  Kreise  der  Beligion  findet  und  daher  zur 
religiösen  Dogmatik  gehört,  da  von  Schicksal  nur  die  Rede 
ist,  wenn,  der  Mensch  sein  Leben  in  Beziehung  auf  sein  Gottes- 
bewusstsein  betrachtet  und  zu  dem  irgendwie  aufgefassten  gött- 
lichen Wesen  Stellung  nimmt. 

Zugleich  aber  ist  klar,  das  die  Schicksalsidee  nicht  in  allen 
Religionen  vorkommt  und  folglich  kein  zur  Definition  der  Religion 
gehöriger  Begriff  ist  Daraus  aber  ergiebt  sich,  dass  diese  Idee 
einer  bestimmten  Religion  allein  angehört;  denn  die  Religionen 
wären  nicht  wissenschaftlich  scharf  unterschieden,  wenn  ihre 
Goordinationssysteme  sich  einander  nicht  ausschlössen.    Wie  kein 

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Allgemeinere  Fragen.     Das  Schicksal.  229 

Dreieck  zu  den  Vierecken  oder  Fünfecken  gerechnet  werden 
kann,  so  müssen  auch  die  fieligionen  durch  ihre  zugehörigen 
Coordinaten  als  bestimmte  Formen  erkannt  werden,  wenn  auch 
immerhin  in  dem  einzelnen  Gläubigen  alle  Vorstellungen  und 
Gefühle  in  einander  überfliessen  und  sich  mischen  können;  denn 
diese  Nichtunterscheidung  des  subjectiven  Seelenlebens  von  den 
sich  darin  verwirklichenden  objectiven  Formen  ist  die  Ursache, 
weshalb  bisher  in  der  Religionsforschung  keine  Klarheit  und  Be- 
stimmtheit herrschte,  sondern  immer  nur  fliessende  Unterschiede, 
gewisse  hervorstechende  Charaktere  und  durchschnittliche  Züge 
angegeben  wurden,  wodurch  alle  reine  Wissenschaft  unmöglich 
und  die  Philosophie  in  eine  mehr  oder  weniger  geistreiche,  im 
Ganzen  aber  zuchtlose  Culturgeschichte  verwandelt  wird.  Wer 
Wissenschaft,  also  feste  Begriffe  liebt,  wird  die  Geometrie  ab- 
sondern von  dem  Mischmasch  der  empirisch  gegebenen  Formen 
und  ebenso  eine  reine  Keligionsphilosophie  begehren,  die  endlich 
einmal  der  in  lauter  unbestimmten  Begriffen  lallenden  Cultur- 
geschichte die  Thüre  weist. 

Die  Einwendungen,  welche  hiergegen  von  der 
Hegel'schen  Dialektik  und  von  dem  Darwinismus  Äriuuoher 
gemacht  werden  könnten,  wird  man  nur  mit  Ironie  Hegei'schc  nia- 
zu  erörtern  haben.  Denn  erstens  werden  die  Hege-  ^^^^^  ^"^  ^®^ 
lianer,  da  sie  alle  Begriffe  undlormen  ausemander 
entwickeln  und  ineinander  tiberflihren  wollen,  auch  wissen,  welcher 
Negativitätstrieb  in  dem  Dreieck  steckt,  so  dass  es  sich  aufhebt 
und  zur  höheren  Wahrheit  des  Vierecks  übergeht,  welches  durch 
die  Diagonale  ja  die  in  ihm  enthaltene  und  aufgehobene  Natur 
des  Dreiecks  offenbart.  Die  Begriffe  haben  aber  keine  Beine 
und  gehen  nicht  von  der  Stelle,  an  die  sie  gehören.  Nur  durch 
Hinzunahme  neuer  Beziehungspunkte  kommt  man  zu  einer  be- 
stimmt zugeordneten  neuen  Form;  die  Formen  selbst  aber  stehen 
so  fest  wie  die  Zahlen,  von  denen  auch  keine  in  die  andere 
überzugehen  die  Gewohnheit  hat;  denn  die  Welt  der  Wahrheit 
ist  kein  hin  und  her  wackelnder  Trunkenbold,  womit  Hegel,  ohne 
die  Selbstironie  zu  bemerken,  seine  Welt  verglichen  hat 

Die  Darwinisten  aber  hängen  sich  an  das  Princip  der 
Continuität,  das  eine  unfertige  Philosophie  ihnen  geliefert  hat, 
und  füllen,  da  die  Erfahrung  nirgends  Continuität  zeigt,  die 
Lücken  durch  den  Unverstand  unendlicher  Zeiträume  aus.    AVären 

uiumzeu  uy  x^j  vy\J>t  Lv^ 


230  Religion  der  Furcht. 

sie  etwas  geübt  im  Philosophieren,  so  würden  sie  gleich  sehen, 
dass  ein  Gesetz  des  Sprungs  ebenso  nothwendig  zur  Conti- 
nuität  hinzugehört,  wie  das  Links  zum  Rechts  und  das  Unten 
zum  Oben.  Denn  wenn  auch  eine  grosse  Latitude  quantitativer 
Unterschiede  in  den  einzelnen  Lebensformen  zulässig  ist,  so  er- 
fordert doch  jede  qualitative  organische  Neubildung  einen  neuen 
Beziehungspunkt  draussen  und  damit  zugleich  eine  coordinirte 
Abänderung  in  dem  ganzen  Lebenssystem.  Wenn  die  Gattungen 
der  Thiere  auch  gewiss  auseinander  entsprungen  sind,  so  musste 
bei  jeder  neuen  Form  doch  eine  neue  äussere  Lebensbedingung 
die  zugehörige  organische  Umformung  auslösen.  Wenn  man  erst 
zeigen  wird,  dass  die  Farbenempfindungen  nur  quantitativ  ab- 
geänderte Tonempfindungen  und  diese  wieder  Geschmacks- 
empfindungen u.  s.  w.  sind  und  die  Musik  im  Grunde  nur  quan- 
titativ von  der  Malerei  verschieden  ist,  wenn  erst  das  Denken 
auf  gewisse  quantitative  Verhältnisse  von  Lust  und  Unlust  zurück- 
geführt ist  und  das  Gehirn  auf  den  Herzmuskel  u.  s.  w.,  dann 
wird  man  glücklich  am  Ende  alle  Qualitäten  abschaffen,  um  bloss 
Quantitäten  übrig  zu  behalten,  und  dann  zugleich  mit  Lachen 
bemerken,  dass  man  auch  mit  ihrem  Gegensatze  die  Quantität 
selber  verloren  hat;  denn  ohne  Unten  giebt  es  halt  kein  Oben, 
ohne  Links  kein  Rechts,  ohne  Sprung  keine  Gontinuität  und  ohne 
Qualität  keine  Quantität  Wer  also  die  Wahrheit  lieb  hat,  der 
wird  bescheiden  jedem  Begriff  seine  zugehörige  Sphäre  anweisen 
und  sich  nicht  lächerlich  machen  durch  Selbstvemichtung. 

Die  Darwinisten  haben  vollkommen  Recht,  wenn  sie  eine 
Entwickelung  aller  Dinge  und  auch  der  Begriffe  zu  erforschen 
suchen,  und  sie  haben  deshalb  viele  neue  Einsichten  verbreitet 
und  viele  alte  Vorurtheile  zum  Verschwinden  gebracht.*)  Gleich- 
wohl  fehlt  ihnen   an   zwei  cardinalen  Punkten  die  rechte  Auf- 


*)  Mir  selbst  ist  dies  sehr  merklieb  geworden,  und  ich  bitte  um  £r- 
laubniss,  Persönliches  zu  erzählen.  Als  ich,  es  war  etwa  1852  oder  1853, 
den  Professor  der  Zoologie  Blasius  in  Braunschweig  besuchte  und  als  be- 
scheidener Student  ihn  fragte,  wie  er  sich  die  Entstehung  der  Säugethier- 
species  dächte,  die  doch  nicht  von  Ewigkeit  vorhanden  gewesen  wären,  da 
antwortete  er  mit  Emphase,  die  exacte  Wissenschatt  kümmere  sich  um  solche 
Fragen  gar  nicht,  und  es  sei  ungehörig  und  unwissenschaftlich,  sie  aufzu- 
werfen;  die  Naturwissenschaft  hätte  genug  zu  thun,  das  wirklich  vorliegende 
Material  zu  erforschen  und  zu  bestimmen,  und  die  Arten  würden  durch  die 
Zeugungsmöglichkeit  nachweislich  von  einander  abgegränzt;  es  sei  aber  nicht 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  231 

fassuDg.  Erstens  haben  sie  keinen  Begriff  von  dem  Wesen  der 
Zeit  und  tragen  sieh  noch  mit  der  alten  Auffassung  des  Aristo- 
teles, wonach  die  Zeit  ein  wirksames ,  veränderndes  und  zer- 
störendes Princip  ist,  das  nach  Anfang  und  Ende  hin  in's  Un- 
begränzte  sich  verliert.  Sie  wissen  nicht,  dass  die  Zeit  bloss 
eine  Auffassnngsform,  eine  ideelle  Ordnung  ist,  die  an  den  Dingen 
gar  nichts  verändert,  und  dass,  weil  keine  Zeit  zwischen  Ursache 
und  Wirkung  verfliesst,  die  Welt  als  technisches  System  voll- 
kommen fertig  und  abgeschlossen  ist.  (Vergl.  hierüber  meine 
Neue  Grundlegung  der  Metaphysik.)  Zweitens  fehlt  den  Dar- 
winisten die  Erkenntniss  desjenigen  Princips,  welches  Piaton  die 
Ideen  nannte.  Wir  werden  zwar  bei  der  Kritik  des  idealistischen 
Pantheismus  sehen,  dass  Piaton  das  Wesen  der  Idee  noch  nicht 
befriedigend  bestimmen  konnte,  da  er  mit  dem  Begriff  der  Materie 
nicht  in's  Beine  kam,  die  bloss  theoretische  Idee  deshalb  als 
Formelement  und  Wesen  der  sinnlichen,  fliessenden  Welt  dachte 
und  das  Ich  und  die  individuellen  Wesen  nicht  erkannte.  Gleich- 
wohl hat  Piaton  das  unbestreitbare  Verdienst,  zuerst  auf  die 
Natur  der  Ideen  aufmerksam  gemacht  zu  haben.  Um  den  Dar- 
winisten gegenüber  dies  ideale  Element  geltend  zu  machen, 
wollen  wir  zunächst  die  allmähliche  Entwickelung  alier  Begriffe 
in  der  Menschheit  voraussetzen.  Es  gab  also  eine  Zeit,  wo  man 
noch  nicht  zählen  konnte;  allmählich  kamen  die  Zahlen  und  die 
Operationsformen  des  Rechnens  auf,  und  bei  den  höchsten  und 
letzten  Stufen  mathematischer  Erkenntniss  weiss  man  auch  genau, 
wer  sie  aufbrachte  und  welche  ähnliche,  aber  geringere  Leistungen 
und  Versuche  vorhergingen.  Was  sollen  also  nun  die  ewig  fest- 
stehenden Ideen  bedeuten,  wenn  doch  Alles  fliesst  und  sich  all- 
mählich entwickelt?  Das  ist  aber  dennoch  nicht  schwer  zu 
sagen;  denn  die  Erkenntniss  der  Zweiheit  war  zwar  früher,  als 


Sache  der  Naturforschung  zu  fragen,  wie  die  Formen  entstanden  wären;  mit 
solchen  unnützen  und  nebelhaften  Fragen  und  Hypothesen,  so  fügte  er  in 
etwas  bitterem  Spotte  hinzu,  möchte  sich  vielleicht  die  Naturphilosophie  ab- 
geben. Kurz,  mein  vordarwinistischer  Darwinismus,  der  jedem  Denkenden 
im  Blute  liegt,  wurde  im  Namen  der  exacten  Naturwissenschaft  schroff  ab- 
gewiesen. Und  heutzutage!  welcher  Contrast!  Was  in  aller  Welt  soll  sich 
jetzt  nicht  entwickelt  haben?  Aus  den  Stasioten  sind  die  Fliessenden  ge- 
worden, so  dass  man  wegen  der  continuirlichen  Liquidationen  nur  mit 
energiachem  Kampf  sich  noch  einen  festen  Punkt  erobern  kann. 

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232  Religion  der  Furcht. 

der  Begriff  der  Drei  und  Vier,  und  es  konnten  sich  zwar  die 
Vorstellungen  grösserer  Zahlen  erst  bilden,  nachdem  vorher  die 
kleineren  erkannt  waren;  lächerlich  aber  würde  es  doch  jedem 
Mathematiker  sein,  wenn  man  ihm  erzählen  wollte,  die  Drei 
selbst  sei  aus  der  Zwei  entstanden.  Er  weiss  zu  gut,  dass 
die  Zwei  immer  und  ewig  Zwei  bleibt  und  nicht  den  geringsten 
Kitzel  verspürt,  sich  zu  verändern  und  zu  entwickeln;  er  weiss 
ebenfalls  zu  gut,  dass  die  ganze  Zahlenreihe  zu  gleicher  Zeit, 
d.  h.  unzeitlich,  fertig  ist,  weil  die  Zahlen  in  der  Natur  des 
menschlichen  Verstandes  liegen,  so  dass  an  ihrem  Wesen  da- 
durch gar  nichts  geändert  wird,  ob  sie  von  den  Menschen  ge- 
funden werden  oder  nicht.  Wie  Amerika  ganz  ruhig  dalag,  auch 
ehe  es  Golumbus  fand  und  während  man  noch  über  die  Möglich- 
keit seines  Vorhandenseins  disputirte,  so  liegen  die  Ideen  in  den 
allgemeinen  Bedingungen  des  Denkens,  und  es  ist  ganz  gleich- 
gültig dabei,  ob  im  Laufe  der  Zeit  ein  Mensch  einmal  dazu 
kommt,  die  zugehörigen  Beziehungspunkte  aufzufassen  und  die 
Idee  zu  finden,  um  einen  sogenannten  Begriff  von  der  Sache  zu 
gewinnen.  Die  Auffindung  einer  Idee  ist,  wie  wenn  ein  Opera- 
teur einem  angeblich  Blinden  durch  einen  kleinen  Schnitt  das 
Auge  öffnet  Der  Chirurg  kann  die  Sehkraft  und  die  innere 
Organisation  des  Auges  nicht  schaffen;  er  vermittelt  nur  den 
Gebrauch  des  Vorhandenen.  So  wird  durch  alles  Lernen  nur 
die  Function  der  ewig  in  ihren  Bedingungen  vorhandenen  Denk- 
formen ausgelöst,  und  alles,  was  man  von  Entwickelung  und 
Fortschritt  und  Culturerbschaft  u.  dergl.  zu  erzählen  pflegt,  ist 
eine  blosse  Fabel,  ein  Kindermärchen,  wenn  man  es  auf  die 
Ideen  selbst  bezieht,  da  es  nur  Sinn  hat,  wenn  man  dabei 
an  die  Individuen  denkt,  die  allmählich  im  Lauf  der  Geschichte 
dazu  konmien,  die  zeitlos  vorhandenen,  in  der  Natur  des  Ver- 
standes liegenden  Zahlen,  Figuren  und  Ideen  aufzufinden. 
Diese  sogenannten  angeborenen  Ideen  mit  Locke  zu  bestreiten, 
weil  sie  nicht  von  Haus  aus  von  Kindern  und  Wilden  erkannt 
würden,  ist  ein  Zeichen  derselben  Verwechselung,  welche  die 
Darwinisten  sich  zu  Schulden  kommen  lassen;  denn  es  handelt 
sich  nicht  um  Begriffe,  welche  im  Bewusstsein  der  Erkennenden 
vorkommen  oder  nicht  vorkommen,  sondern  um  Ideen,  d,  h.  um 
die  allgemeinen  Formen  der  Acte  des  Denkens  selbst,  abgesehen 
von  ihrem  empirischen  Inhalt;  diese  Formen  bilden,  zu  Bewusst- 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  233 

sein  gekommen,  die  immer  feststehenden  Begriffe,  wie  Sein, 
Denken,  Zahl,  Ursache,  Gegenstand,  Zweck,  Mittel  u.  s.  w.,  und 
es  wäre  lächerlich,  diese  Ideen  auch  einer  Entwickelung  zu  unter- 
werfen, wobei  die  Zweihcit  allmählich  im  Laufe  der  Jahrtausende 
zur  Dreiheit  werden  mtlsste  u.  s.  w.  Die  Geschichte  der  Be- 
griffe zeigt  bloss,  durch  welche  Personen  und  unter  welchen  Be- 
dingungen diese  oder  jene  Idee  so  oder  so  zur  Erkenntniss  ge- 
kommen, nebelhaft  oder  falsch  bestimmt  und  in  ungenügendem 
Begriffe  formulirt  ist,  bis  wieder  Der  und  Der  die  Fehler  ge- 
sehen und  theilweise  verbessert  oder  vielleicht  endgültig  die 
Idee  durch  einen  Begriff  ausgedrückt  hat.  Eine  solche  Geschichte 
der  Wissenschaft  ist  nothwendig,  und  sie  zeigt  das  allmähliche 
Werden,  Wachsen,  Sichreinigen  und  Sichbefestigen  unseres 
Denkens;  der  zu  erkennende  Gegenstand  ist  aber  zeitlos  fest 
und  unterliegt  keiner  Veränderung  und  keiner  Geschichte,  eben- 
sowenig wie  die  Naturgesetze  dann  erst  entstehen,  wenn  sie  von 
einem  Forscher  gefunden  werden. 

Wenn  die  neuere  Naturwissenschaft  das  Bestreben  zeigt, 
über  die  engen  Gränzen,  welche  ihr  Kant  setzte,  hinauszugehen 
und  in  der  Natur  vielmehr  eine  mit  dem  Seelenleben  identische  oder 
nah  verwandte  Welt  nachzuweisen,  so  kann  ich  dies  vom  Stand- 
punkt meiner  Metaphysik  aus  nur  anerkennen  und  die  reichsten 
Aufschlüsse  davon  erwarten,  da  es  mir  zweifellos  ist,  dass  die 
der  sogenannten  Natur  zu  Grunde  liegenden  Wesen,  die  sich 
uns  durch  die  Sinneserscheinungen  wie  durch  eine  Zeichensprache 
kundgeben,  von  derselben  Art  wie  unsere  Seelen  sind  und  dass 
deshalb  die  Psychologie  die  Grundlage  der  höheren  Functionen, 
die  sie  erforscht,  von  den  Naturforschem  entlehnen  muss,  diie 
wiederum  die  Deutung  der  Zeichen  von  dem  Psychologen  zu 
lernen  haben.  Allein  gerade  an  diesem  Verhältniss  wird  es  auch 
einleuchtend,  dass  ebenso  in  der  Natur,  wie  im  Geiste  gewisse 
allgemeine  Formen  in  dem  inneren  Leben  und  in  den  Beziehun- 
gen der  Naturwesen  untereinander  ein  für  alle  mal  feststehen, 
während  die  einzelnen  Naturwesen  sich  allmählich  verändern  und 
entwickeln  und  zu  diesen  Formen  hingelangen,  dass  sie  aber  zu 
gewissen  anderen  Formen,  die  man  sich  etwa  einbilden  möchte, 
überhaupt  nicht  gelangen  können,  weil  dieselben  nach  dem  Sinn 
und  Zusammenhange  des  Ganzen  ein  flkr  alle  mal  unmöglich 
sind,  und  alle  Veränderungen  überhaupt  in  den  ewigen  Gränzen 

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234  Religion  der  Furcht. 

der  gesetzlich  feststehenden  allgemeinen  Coordinationselemente 
verlaufen.  Der  Fehler  der  Darwinisten  besteht  also  darin,  dass 
sie  dieses  immer  feststehende  Element,  welches  als  Gesetz  in 
der  Natur  und  als  Idee  im  Geiste  gilt,  nicht  genügend  beachten 
und  in  einem  gewissen  Entwickelungsiieber  auch  die  Gesetze 
und  die  Ideen  selbst  der  Veränderung  und  Entstehung  preis- 
geben wollen,  da  sie  zwischen  den  einzelnen  Dingen,  welche  all- 
mählich gewisse  Formen  annehmen,  und  den  Formen  oder  Ge- 
setzen selbst  in  ihrem  Eifer  nicht  mehr  unterscheiden  können. 
Anwendung  auf  Gcgcu  dic  HegeVschc  Dialektik  und  gegen  die 

die  Schicksal»-  Darwiu'sche  Entwickelungstheorie  muss  deshalb  die 
Idee.  Philosophie  geschützt  werden.  Die  wahre  Dialektik 
besteht  in  der  Auffindung  der  Coordinationssysteme,  in  welchen 
jeder  Begriff  seinen  festen  Ort  hat;  denn  die  Welt  wartet  nicht 
darauf,  durch  irgend  einen  Zufall  von  der  Stelle  gestossen  oder 
durch  inneren  Widerspruch  vorwärts  getrieben  zu  werden,  um 
mit  gutem  Glück  zu  etwas  zu  kommen;  nein,  die  Welt  ist  von 
Ewigkeit  fertig  und  braucht  nichts  mehr  zu  werden;  der  Schein 
des  Werdens  stammt  aus  der  Lebendigkeit  und  Realität  der 
Wesen,  die  zwar  ihren  festen  Sitz  im  Ganzen  haben,  die  Ord- 
nung des  Ganzen  aber  perspectivisch  und  also  immer  wechselnd 
zur  Erfahrung  bringen.  Doch  dies  gehört  in  die  Metaphysik 
und  soll  hier  nicht  bewiesen  werden.  Unsere  Sache  ist  hier 
bloss,  die  Formen  der  Religion  in  ihrer  specifischen  Reinheit  zu 
halten,  damit  sie  sich  nicht  einfallen  lassen,  mit  der  im  Trüben 
fischenden  Hegerschen  Sophistik  in  einander  überzugehen,  oder 
sich  gar  durch  Darwin'sche  Anpassungen  allmählich  zu  verän- 
dern. Jede  Form  ist  ein  ewiger  Typus,  eine  unveränderliche 
Idee;  zu  jeder  neuen  Form  gehört  aber  ein  neuer  Beziehungs- 
punkt, der  in  der  vorhergehenden  Form  fehlte.  Jede  Religions- 
form hat  daher  ihr  eigenes  Goordinatensystem  und  eine  bestimmte 
Ordnung  von  Beziehungspunkten.  So  gehört  auch  die  Schicksalsidee 
als  dogmatischer  Begriff  nur  in  eine  einzige  bestimmte  Religions- 
form. Wo  deshalb  angeblich  andere  Religionen  ebenfalls  diese 
Idee  in  sich  aufnehmen,  hat  man  mit  Mischformen  zu  thun,  die 
in  dem  Seelenleben  der  Gläubigen  sich  beliebig  zusammenfinden, 
ohne  dass  die  Formen  selbst  ineinander  übergingen.  Man  hat 
z.  B.  oft  gesagt,  es  sei  Jemand  mit  dem  Kopfe  Atheist  und  mit 
dem  Herzen  Christ.    Dergleichen  kann  man   sagen,  aber  nicht 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  235 

denken;  denn  zum  Christen  gehört  auch  ein  Kopf  und  zu  dem 
Atheisten  auch  ein  atheistisches  Herz.  Solchen  Leuten  darf  man 
deshalb  zugestehen,  dass  in  ihrem  Seelenleben  ein  Mischmasch 
von  allerlei  widerstreitenden  Gefilhlen  und  Gedanken  vorhanden 
sei  und  dass  sie  also  keine  genügende  Durchbildung  besitzen; 
damit  ist  aber  keine  Gemeinschaft  von  Atheismus  und  Christcn- 
thum  bewiesen  und  überhaupt  kein  Uebergang  einer  Form  in 
die  andre  illustrirt. 

Die  Analyse  der  in  der  Menschheit  verbreiteten  Schicksals- 
idee zeigt  nun  sofort,  dass  es  sich  dabei  immer  um  zukünftige 
Ereignisse  dreht,  die  ftir  den  Menschen  Glück  oder  Unglück 
bedeuten,  also  pcrspectivisch  auf  den  Willen  in  seiner  Form  von 
Furcht  und  Hoffnung  bezogen  sind.  Da  diese  Gefühle  aber 
(wie  oben  S.  228  erinnert  ist)  bei  dem  Schicksalsglauben  nur 
ausgelöst  werden,  sofern  der  Mensch  in  seiner  Gesinnung  eine 
bestimmte  Stellung  zu  dem  göttlichen  Wesen  einnimmt,  so  sym- 
bolisirt  sich  in  ihnen  eine  bestimmte  Art  der  Religion,  und  es 
kann  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  demgemäss  die  Schicksals- 
idee ihren  einzigen  festbestimmten  Ort  nur  in  der  Religion 
der  Furcht  hat,  und  dass  alle  übrigen  Religionen  nur  insoweit 
auch  vom  Schicksal  und  von  der  Prädestination  Gebrauch  machen, 
als  sie  unreine  Formen  bilden  und  die  Furchtreligion  als  ein 
Element  in  sich  aufnehmen,  während  sie  durch  die  ihnen  eigen- 
thümlich  und  wesentlich  zukommenden  Elemente  keine  Be- 
ziehung zu  dieser  Idee  haben  können.  Mithin  fordert  die 
Methode,  die  Schicksalsidee  hier  bei  der  untersten  Religion  zu 
erörtern  und  bei  den  höheren  Religionen  nur  allenfalls  die  Modi- 
ficationen  zu  erwähnen,  die  durch  Hinzutritt  der  neuen  und  eigen - 
thümlichen  Elemente  derselben  in  den  unreinen  Religionsformen 
erfolgen  müssen. 

Um  das  Wesen    der   Schicksalsidee    aus    dem  ^„te  Form 
Grunde,    d.   h.    aus    ihren    natürlichen    Beziehungs-         *«■* 
punkten,  zu  verstehen,  müssen  wir  uns  in  die  ersten        i^^e. 
Anfänge  der  Religion  zurückversetzen;  denn  die  civi-   »«rFineh. 
lisirten  Verhältnisse  des  Menschen  sind  so  verwickelt,  dass  man 
schwer  die    einfachen    Coordinationselemente   herausfindet.     Da 
nun  der  Wilde,  ebenso  wie  das  Kind,  in  der  Welt  ausser  sich 
nur  geistige  Wesen  kennt,  die  ebenso,  wie  unser  eigener  Geist 
in  unseren  Körper,  in  die  Naturerscheinung  versteckt  sind  und 

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236  Religion  der  Furcht. 

sich  dadurch  zeigen:  so  ist  a  priori  einzusehen,  dass  in  den  Ur- 
zeiten von  keiner  abstracten  Naturnothwendigkeit,  von  keiner 
Weltordnung  u.  dergl.  späteren  Ideen  die  Eede  sein  konnte. 
Vielmehr  wird  der  Mensch  alles,  was  geschieht  und  was  dem- 
nächst geschehen  wird,  auf  die  vermutheten  Absichten  und 
Willenszustände  der  anderen  Menschen  und  der  Dämonen  zurück- 
führen. 

Da  nun  der  Mensch  der  alten  Zeit  und  auch  noch  das  Kind 
unserer  Zeit  von  den  gegenwärtigen  Dingen  und  Ereignissen  nur 
das  beachten,  was  angenehm  oder  unangenehm  ist,  so  kann  auch 
das  Zukünftige,  soweit  sie  daran  denken  mögen,  nur  in  der 
Hinsicht  ihre  Aufmerksamkeit  erregen,  als  sie  Glück  oder  Un- 
glück, Gutes  oder  Böses,  Vortheil  oder  Schaden  zu  erwarten 
haben,  d.  h.  als  ihre  Furcht  oder  Hoffnung  in's  Spiel  kommt; 
denn  ein  objectives  Geschichtsinteresse  ist  auf  der  ersten  Stufe 
der  Cultur  und  Religion  nicht  vorhanden.  Und  da  der  Wille 
überhaupt  nicht  mit  der  Vergangenheit,  sondern  nur  mit  der 
nächsten  oder  der  nicht  zu  weit  entfernten  Zukunft  zu  thun  hat, 
so  kann  auch  die  Schicksalsidee  sich  nur  auf  die  perspectivisch 
aufgefasste,  d.  h.  auf  unsere  Furcht  und  HoflFnung  bezogene  Zu- 
kunft erstrecken.  Die  Atropos  niuss  die  erste  Parce  sein,  nicht 
Lachesis  und  Klotho. 

Weil  aber  die  Furcht  in  der  Religion  den  Vorrang  vor  der 
Hoffnung  hat,  wie  oben  nachgewiesen,  haben  wir  jetzt  die  er- 
forderlichen Beziehungspunkte  in  der  Hand,  um  den  Ursprung 
des  Schicksals  psychologisch  zu  construiren.  Denn  es  kann 
nicht  fehlen,  dass  der  Mensch  im  Verkehr  mit  Anderen  sehr 
bald  dem  Zorn,  der  Habsucht,  Wollust  u.  dergl.  Leidenschaften 
verfallt  und  daher,  wenn  sein  schwächerer  Gegner  ihm  nicht 
gleich  widerstehen  kann,  von  demselben  eine  Drohung,  eine 
Unheilsverkttndigung,  eine  Racheverheissung,  d.  h.  einen 
Fluch  anzuhören  hat.  Dies  ist  das  Schicksal  in  der  ursprüng- 
lichsten Form;  denn  der  bedrohte  Mensch  wird  von  nun  an, 
weil  er  sich  an  das  Geschehene  erinnert  und  sich  selbst  als 
Ursache  des  Leides,  der  Wunden,  Qualen,  oder  des  Todes  des 
Andern  weiss,  bei  jedem  Blick  in  die  Zukunft  die  Drohung  seines 
Feindes  oder  die  UnheilsverkUndigung  und  den  Fluch  der  von 
ihm  Gekränkten  nicht  vergessen  können,  da  die  Furcht  die  Er- 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  237 

innerung  lebendig  erhält.  Endlich  erAlllt  sich  dann  einmal  die 
Drohung  und  diese  Erfüllung  bleibt  in  der  Erinnerung, 
während  die  vielen  Fälle  eitler  Drohung  vergessen  werden.  Die 
ErfllUung  ist  die  Nemesis  (Zutheilung),  welche  dem  Bedrohten 
seinen  Theil  giebt,  d.  h.  dasjenige,  was  ihm  nach  dem  Fluche 
zukommt.  So  ist  die  ursprünglichste  Schicksalsidee  verständlich 
durch  die  Verknüpfung  der  zugehörigen  Beziehungspunkte;  denn 
die  Verschuldung  ist  da,  welche  den  Fluch  hervorruft;  die  Furcht, 
welche  die  Erinnerung  lebendig  erhält  und  die  Erwartung  spannt; 
endlich  die  Nemesis,  welche  die  erftillte  Rache  mit  der  anfäng- 
lichen Schuld  verknüpft. 

Es  ist  nun  wohl  möglich,  dass  die  Menschen  in  vielen  Fällen 
die  in  der  Zukunft  eingetretene  Rache  einfach  auf  die  sich 
rächende  Person  als  Ursache  zurückftihrten.  Da  aber  diese  Fälle 
doch  verschwindend  klein  sind  gegen  die  grosse  Menge  der- 
jenigen Fälle,  in  welchen  die  Beschädigten  sich  selber  nicht 
rächen  können,  während  ihre  Flüche  und  Unheilsanwünschnngen 
doch  durch  andere  Ursachen  in  Erfüllung  gehen,  so  wird  der 
Mensch  die  Ursache  des  ihn  treffenden  Leides,  weil  er  es  nicht 
auf  den  Fluchenden  persönlich,  und  gewöhnlich  auch  nicht  auf 
die  nächsten  Umstände,  zurückführen  kann,  auf  keine  andere 
Sache  so  sehr  beziehen,  als  auf  den  gehörten  Fluch  selbst, 
weil  ihm  dieser  wegen  der  Furcht  in  der  Erinnerung  fest  ein- 
geschrieben ist  und  diese  Erinnerung  sofort  in's  Bewusstsein 
tritt,  sobald  die  Unheilsanwünschung  zur  Erfüllung  kommt.  Mit- 
hin muss  der  Fluch  nun  zu  einem  lebendigen  und  personenartigen 
Wesen  werden,  und  was  uns  jetzt  als  eine  seltsame  Abstraction 
und  Allegorie  erscheint,  das  ist  vielmehr  nach  richtiger  Psycho- 
logie der  natürlichste  Vorgang;  denn  der  Fluch  lebt  ja  in  der 
Erinnerung,  und  da  er  wirkliches  Unheil  hervorzubringen  scheint, 
so  ist  nichts  natürlicher,  als  dass  der  Mensch  ihn  nach  Aussen 
in  die  wirkliche  Welt  als  eine  geheinmissvoUe,  geistige,  von 
Entsetzen  umgebene  Macht  projicirt.  Dieser  Thatsache  begegnen 
wir  überall  in  den  Religionen,  bei  den  Germanen,  den  Indern, 
den  Juden,  den  Griechen  und  Römern,  und  diese  Idee  war  so 
stark,  dass  man  selbst  durch  die  ganze  Zeit  des  gebildeten 
klassischen  Alterthums  die  höchste  Angst  vor  einem  Fluche  und 
vor  jedem  unheilvollen  Worte  empfand.  Ja  wir  lassen  noch 
jetzt  im  Katechismus  die  Kinder  lernen,  dass  des  Vaters  Segen 

uiumzeu  uy  x^jvy\J>t  Iv^ 


238  BeÜKion  der  Furcht. 

den  Kindern  Häuser  baut,  aber  der  Fluch  der  Mutter  sie  nieder- 
reisst. 

Wie  der  Polytheismus  nun   den  Anfang  der  Theologie  zu 
bilden  scheint,   so  sind  wohl  auch   die  Fltlche   ursprünglich  in 
der  Vielheit  gedacht  worden;   denn  es  gehört  eine   gebildetere 
Denkthätigkeit  dazu,  um  diese  vielen  und  einzelnen  Aussprüche, 
mit  denen  man  in  der  Wirklichkeit  zu  thun  hat  und  die  sich  in 
die  Erinnerung  eingraben,  auf  die  Einheit  einer  Idee  zurückzu- 
fahren.    Es  könnte   daher   als   zweifellos   gelten,   dass   die   im 
Singular  gebrauchte  Idee  der  Parce,  der  Erinnys,  der  Nemesis 
eine  spätere  Schöpfung  wäre,  und  dass  vielmehr  der  Plural  die 
Nornen,  die  Parcen,  die  Mören,  die  Erinnyen,  die  Flüche  (apai), 
die  Keren  u.  s.  w.   die  ältere  Vorstellung  bildeten.     Denn   die 
Flüche  hatten  ja  immer  einen  bestimmten  einzelnen  Vorstellungs- 
inhalt  vom  Unglück,  wie  Todesarten,  die  man  anwünschte,  Seuchen, 
Gift,  Misswachs  u.  s.  w.    Diese  Vorstellungen  konnten  von  den 
Aussprüchen  nicht  getrennt  werden,  weil  sie  deren  Inhalt  bildeten, 
und   so  scheint   die  Mehrzahl   ftlr   die  Flüche   das  Natürlichste 
und  Erste   zu  sein.    Man  darf  aber,   wie   schon   oben   erinnert, 
keinen  grossen  Werth  auf  die  Frage  legen,  ob  die  polytheistische 
Phantasie  den  Anfang  des  religiösen  Bewusstseins  gebildet  habe. 
Denn  der  einfache  Mann  schiebt  überall  das  Gleichartige  in  die 
Einheit   der  Auffassung  und  Bezeichnung   zusammen,   da   es  ja 
nicht  auf  das  einzelne  Object  ankommt,   sondern  auf  das  Be- 
wusstsein   des  von   uns   vollzogenen   Auffassungsactes, 
der  in  seiner  Form  und   in   seinen  Beziehungspunkten 
einheitlich  ist.    Darum  sagt  das  Volk  bei  uns,  „der  Franzose^ 
fiel  in's  Land,  „der  Russe"  will  Konstantinopel,  undVirgil  sagt: 
„Römer",  denke  daran,  die  Völker  zu  beherrschen  u.  s.  w.     So 
werden  auch  die  in  einer  Vielheit  wahrgenommenen  Thiere  durch 
den  Singular  eines  Appellativs  bezeichnet,  und  mithin  ist  es  nicht 
wohl  festzustellen,  ob  nicht  sofort  auch  die  Mehrheit  der  Flüche 
wegen   der  Gleichartigkeit   der  Beziehungspunkte  und   der  zu- 
gehörigen Stimmung  als  Einheit  der  Vorstellungsweise  zu  Be- 
wusstsein  gekommen  ist. 

Es   ist   eine  interessante  Frage,   wie   es   zuge- 
dM  o^u^^m"  ga^ngen  sei,  dass  man  so  fest  an  die  Macht  und  das 
udieHMhtder  Eintreffen  der  Flüche  glaubte.    Ich  finde  drei  Gründe 
''^'''''       hierfür. 


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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  239 

Erstens  ist  bei  allen  Wilden  und  Kindern  der 
Unterschied  zwischen  Vorstellung  und  Wahrnehmung  ^ Ji^'^^^uunK 
nicht  beträchtlich.  Was  einem*  angewünscht  wurde,  un<x 
das  stellte  man  sich  leibhaftig  vor,  erschrak  darüber  ^**»™«'»™°°8- 
und  hatte  es  überhaupt  gewissermassen  an  sich  und  bei  sich, 
Weil  es  im  Bewusstsein  lebte  und  auch  von  Andern  gehört  und 
gewusst  war,  wodurch  es  schon  eine  äusserlich  vorhandene  Macht 
wurde.  Um  sich  dies  ganz  deutlich  zu  machen,  was  der  modernen 
Sinnesart  nicht  so  leicht  gelingt,  muss  man  an  die  in  unserer 
Gesellschaft  noch  so  bedeutsamen  Wortinjurien  denken.  Wenn 
selbst  in  unserem  neunzehnten  Jahrhundert  ein  Mensch  einen 
anderen  schimpft;,  so  hat  er  Prügel  zu  erwarten.  Warum?  Die 
unwahre  Auffassung  eines  Anderen  könnte  demjenigen  doch  ganz 
gleichgültig  sein,  der  zu  wissen  glaubt,  wie  die  Sache  sich  ver- 
hält Ausserdem  würden  Prügel  die  Sache  ja  nicht  ändern, 
wenn  der  Beleidiger  die  Wahrheit  gesagt  hätte.  Sagt  Jemand: 
„Du  schielst,  Du  liinkst,  Du  hast  einen  Wasserkopf"  u.  dergl., 
so  sollte  man  denken,  dass  durch  solche  Unwahrheiten  ein  Ge- 
sunder gar  nicht  berührt  werden  könnte.  Aber  es  verhält  sich 
anders;  denn  kein  Mensch  bleibt  dabei  ganz  gleichgültig;  viel- 
mehr ist  bei  Kindern  und  Ungebildeten  der  Uebergang  zu  Thät- 
lichkeiten  der  nächste  Erfolg.    Wie  ist  das  zu  erklären? 

Es  ist  eine  Täuschung,  wenn  man  glaubt,  bei  den  Ehren- 
händeln und  Duellen  verhalte  es  sich  anders.  Der  an  seiner 
Ehre  Gekränkte  versucht,  wie  die  Rittergeschichten  zeigen,  möge 
er  mit  dem  Beleidiger  allein  im  Walde  sein  oder  sich  in  Ge- 
sellschaft befinden,  durch  einen  Waffengang  die  Beschmutzung 
mit  Blut  abzuwaschen.  Ist  er  denn  aber  wirklich  beschmutzt? 
Wozu  braucht  er  vor  der  Herstellung  der  Ehre  an  einem  tiefen 
Schmerze  zu  leiden  und  sich  zu  schämen  vor  den  Augen  anderer 
Menschen?  Er  ist  ja  ganz  unverändert  geblieben,  ebenso  wie 
eine  Tanne  nicht  zur  Birke  wird,  wenn  Jemand  sie  auch  hundert 
mal  so  nennen  wollte. 

Man  sieht  hieraus,  dass  die  Worte  wegen  ihres  Inhalts,  den 
man  sich  zu  Herzen  nimmt,  eine  reale  Macht  ausüben.  Wahr- 
genommene Wirklichkeit  und  blosse  Vorstellung  oder  Einbildung 
werden  nicht  recht  unterschieden,  und  die  gleich  gesinnte  Ge- 
sellschaft, die  auf  derselben  Stufe  des  Bewusstseins  steht,  unter- 
stützt und  ti'ägt  diese  Macht.     Es  ist  aber  ganz  unhistorisch  und 

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240  Religion  der  Furcht. 

unpsychologisch,  wenn  man  seit  Aristoteles  in  abstractem  Rä- 
sonnement  bloss  die  Rücksicht  auf  die  gesellschaftliche  Meinung 
der  Ehre  zu  Grunde  legt;  denn  erst  muss  in  dem  eigenen 
Bewusstsein  die  Sache  gelten;  hernach  beachtet  man  auch, 
dass  die  Anderen  in  demselben  Sinne  gestimmt  sind,  und  ftihlt 
dadurch  in  sich  selbst  die  Sache  um  desto  nachdrücklicher.  In- 
teressant ist  es  deshalb,  dass  die  Kinder  in  dem  Alter,  wo  sie 
illr  gesellschaftliche  Ehre  noch  nicht  empfänglich  sind,  nicht  nur 
alles,  was  sie  hören,  glauben,  sondern  auch  durch  das,  was  über 
sie  gesagt  wird,  wie  durch  etwas  Schreckliches  in  Aufregung 
gerathen.  Mithin  wirkt  der  Inhalt  des  Gedachten,  als  wäre  es 
ein  wirkliches  Ereigniss.  Daher  muss  die  Thatsache,  dass  man 
den  Schimpfenden  schlägt,  nicht  auf  die  verletzte  gesellschaft- 
liche Ehre  zurückgeführt  werden,  sondern  auf  den  Glauben, 
beschädigt  zu  sein;  weshalb  man  den  Beleidiger  zwingen 
will,  seine  Incantation  zurück  zu  nehmen.  Hielte  man  die  Worte 
für  Luft  und  den  Inhalt  der  Worte  flir  blosse  Gedanken,  so 
würde  man  nicht  in  Aufregung  gerathen.  Das  von  dem  Beleidiger 
Gedachte  wird  aber  auch  von  dem  Beleidigten  gedacht  und 
wegen  der  Anschaulichkeit  der  Vorstellung  sofort  wie  etwas 
Wirkliches  empftinden;  also  ist  man  geschädigt  und  beschmutzt 
und  versinkt  entweder  in  Traurigkeit  und  Angst,  oder  man  raffi 
sich  auf,  die  Verzauberung  durch  Schläge  zu  entfernen,  indem 
der  Beleidiger  nun  alles  durch  eine  Recantation  wieder  wegsingen 
muss.  Ich  habe  diesen  psychologischen  Hergang  am  Deutlichsten 
in  der  Kalewala  (B.  III.  v.  285  flf.)  erhalten  gefunden,  wo  der 
Lappenjüngling  Joukahainen  durch  den  alten  finnischen  Zauber- 
sprecher Wäinä^nöinen  mitsammt  seinem  Schlitten  verzaubert  wird, 
indem  der  Alte  Wagen,  Pferde,  Mütze  und  Mann  durch  lauter 
Vergleichungen  in  Zweige,  Stroh,  Wolken  und  Sumpf  verwandelt 
und  erst  für  kräftiges  Lösgeld  den  Unglücklichen  wieder  durch 
eine  Recantation  befreit.  Der  ganze  Zauber  bestand  aber  offenbar 
nur  in  den  Worten,  deren  ideeller  Inhalt  das  Bewusstsein  des 
jungen  Lappen  in  eine  Erstarrung  versetzte.  Weil  man  diesen 
psychologischen  Process  nicht  beachtete,  konnte  man  auch  bisher, 
soviel  ich  sehe,  bei  dem  Duell  die  Ehrenrettung  durch  Kampf 
und  Sieg  nicht  begreifen;  denn  es  ist  ja  freilich  unsinnig,  dass 
der  Sieger  in  seiner  Ehre  wiederhergestellt  werden  soll  durch 
irgendwelche   Wunden,    die    sein   Gegner   erhält.      Bezöge    sich 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  241 

daher,  wie  man  meint,  die  Ehrverletzung  nur  auf  das  Urtheil 
der  Gesellschaft,  so  könnte  auch  nur  ein  Ehrengericht  etwas 
helfen.  Wenn  die  gesellschaftliche  Ehre  aber,  wie  ich  hier 
zeige,  schon  eine  spätere  Entwickelungsstufe  ausdrückt,  so 
ist  es  nothwendig  und  natürlich,  dass  sie  die  Rudimente  der 
früheren  Entwickelung  in  sich  behält,  die  nun  unverständlich 
geworden  sind.  Diese  Rudimente  im  Ehrenhandel  bildet 
die  Vorstellung  der  Ehrverletzung  durch  Incantation,  und  diese 
wird  natürlicher  Weise  am  schnellsten  durch  Prügel  beseitigt, 
wenn  man  dadurch  die  Recantation,  d.  h.  die  Herstellung 
seiner  persönlichen  Integrität  erreichen  kann.  Die  Ehren- 
erklärung ist  deshalb  aus  der  Recantation  entsprungen,  wo- 
durch die  Verzauberung  weggesungen  wird.  Und  alle  diese 
Vorgänge  werden  durch  die  Psychologie  begreiflich,  welche  es 
zu  erklärend  hat,  wie  das  bloss  Vorgestellte  ebenso  stark  auf 
das  Gefühl  wirken  kann,  wie  etwas  mit  den  Sinnen  Wahr- 
genommenes, weil  bei  einfachen  Menschen  eine  Verwechselung 
beider  Elemente,  des  Sinnlichen  und  des  Eingebildeten,  wie  im 
Theater,  ganz  natürlich  ist.  Darum  lassen  sich  noch  heute  Viele 
auch  sofort  z.  B.  eine  ihnen  gut  schmeckende  Speise  verleiden 
und  zum  Ekel  verkehren,  wenn  man  etwas  darüber  sagt,  etwa 
dass  Würmer  darin  seien,  oder  dass  die  Wurst  so  und  so  be- 
reitet werde  u.  s.  w.  Der  in  dieser  Weise  Verzaubernde  ist 
aber  auch  nicht  immer  vor  Prügeln  sicher. 

Diese  Analogien  werden  das  Verständniss  ftir  den  Glauben 
der  Menschen  an  die  Macht  der  Flüche  dem  modernen  Bewusst- 
sein  näher  bringen;  denn  man  sieht  daraus,  dass  der  Fluch  sich 
in  gewisser  Weise  sofort  erfüllt  durch  die  Belastung  der  Seele 
des  Verfluchten. 

Der  zweite  Grund  liegt  darin,  dass  dem  Fluch 
doch  immer  wirkliche  Beschaffenheiten  des  Ver-  üchkeit 
fluchten  zum  Anlass  dienen.  Dieser  wird  grausam,  ^^  Eintreffena. 
treulos,  neidisch,  roh,  wüthend  und  überhaupt  leidenschaftlich 
sein  und  mithin  im  Verkehr  mit  seines  Gleichen  und  der  Welt 
tausend  Gelegenheiten  bieten,  bei  denen  das  ihm  Angewünschte 
in  ErftlUung  gehen  kann,  so  dass  des  Fluches  Eintreffen  recht 
wahrscheinlich  ist. 

Der  dritte  Grund  scheint  mir  aus  der  Auffassung  3.  dic  Sicherheit 
von  Leben  und  Tod  hervorzugehen.     Das  Leben  ist     ^^  ^**^**- 

TeichmüUer,  BeliglonBphUoeoplxie.  16    C^ r\r\rs}r> 

uiyiiizeu  uy  VJvJvJV  IC 


242  Religion  der  Furcht 

nämlich  dem  Lebenden  immer  gewiss;  der  Tod  aber  ist  etwas 
Unnatürliches  und  Räthselhaftes,  das  eigentlich  nur  durch  ein 
Verbrechen  oder  eine  Schuld  eintritt.  Keissende  Thiere,  giftige 
Schlangen,  böse  Menschen,  oder  Blitz  und  Fluth  und  andere  Un- 
fälle ftihren  den  Tod  herbei;  dass  er  aber  nichts  als  ein  natür- 
licher Process  der  Functionen  und  Reibungswiderstände  des 
physiologischen  Lebens  wäre,  das  kann  dem  Wilden  und  dem 
Kinde  nicht  einleuchten.  Da  nun  in  der  ältesten  Beligion  auch 
alle  Naturursachen  belebt  und  persönlich  gedacht  wurden,  so  be- 
greift man  leicht,  dass  der  Tod  immer  auf  menschliche  oder 
dämonische  Gewalten  zurückgeftlhrt  werden  musste,  und  dass 
man  für  deren  böse  Gesinnung  nur  eine  Schuld  des  Menschen 
voraussetzen  konnte.  So  wird  ja  auch  z.  B.  in  der  Genesis  der 
Tod  an  eine  Schuld  und  an  einen  Fluch  angeknüpft.  Da  nun 
Verschuldungen  einerseits  und  Zorn  und  Furcht  andererseits  in 
der  ältesten  menschlichen  Gesellschaft  immerfort  vorkommen 
mussten,  so  konnte  sich  auch  der  Glaube  an  die  Macht  und  Er- 
füllung des  Fluches  sicher  befestigen,  weil  kein  Mensch  in  der 
That  dem  Tode  und  mithin  der  Erfüllung  eines  Fluches  entrann. 
Die  Keren  ereilten  Jeden. 

Die  älteste  Form,  in  welcher  die  Schicksalsidee 
^^^'''  auftrat,  waren  also  die  Flüche.  Da  diesen  der  mäch- 
tigste Affect,  die  Furcht,  entspricht,  so  konnte  die  Hoffnung  mit 
dem  ihr  zugeordneten  Segen  nicht  zu  gleicher  Bedeutung  ge- 
langen. Was  der  Segen  aufbaut,  wird  vom  Fluch  niedergerissen; 
der  Fluch  ist  das  mächtigere  Element.  Es  ist  aber  immerhin 
a  priori  vorauszusetzen  und  wird  auch  durch  die  Thatsachen 
überall  belegt,  dass  der  Segen  und  die  Segenssprüche  ebenfalls 
als  dämonische  Mächte,  jedoch  als  solche,  die  Schutz  verleihen  und 
Glück  bringen,  betrachtet  wurden.  Man  sieht  dies  z.  B.  sehr 
deutlich  an  dem  vor  Betrug  nicht  zurückscheuenden  Eifer,  mit 
dem  sich  Jacob  um  den  Segen  des  Alten  bemüht.  Dement- 
sprechend wurden  denn  auch  die  blossen  Gebärden  des  Segens 
von  magischer  Bedeutung,  und  es  hat  sich  aus  dieser  alten  Zeit 
auch  noch  heute  das  Einsegnen  der  Kinder,  der  Hostie  und  selbst 
das  Gratuliren  erhalten.  Denn  dieses  Glückanwünschen  sollte 
vor  Schaden  bewahren,  weitere  Wohlfahrt  bringen  und  überhaupt 
als  eine  gewisse  Schicksalsmacht  das  Leben  leiten.  Die  Gratu- 
lationen bieten  negativ  ein  Zeugniss  daftir,  dass  kein  Neid  ent- 
sprungen und  also  die  häufigste  Ursache  zukünftigen  Unglücks 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Schicksal.  243 

beseitigt  ist;  positiv  aber  versichern  sie  Wohlwollen  und  also 
Hülfe  in  der  Noth.  Daher  ist  auch  die  Wtinschelruthe  und  der 
Caduceus  des  Hermes  u.  dergL  in  die  Menschheit  gekommen,  da 
irgendwelche  Gebärden "  und  irgendwelche  Werkzeuge  zur  Dar- 
reichung erwünschter  Dinge  gebraucht  werden  mussten,  die  dann 
in  abgekürzter  Zeichensprache  zu  Symbolen  oder  in  abgekürztem 
Gedankengang  zu  Segensworten  übergingen. 

Man  könnte  sich  leicht  einbilden,  als  ob  Fluch  ^^^^  ^j^^,^  ^^^ 
und  Segen  nur  eine  ganz  vereinzelte  Erscheinung  im  der  Ursprung 
Leben  des  Menschen  wäre  und  nicht  für  das  Be-  ^^'^«"8*°°- 
wusstsein  zu  einer  allgemeinen,  das  Leben  regierenden  Macht 
erhoben  und  zur  Religionssache  gemacht  werden  dürfte.  Allein 
nach  der  psychologischen  Analyse,  die  wir  an  der  Furcht  vor 
dem  Fluche  übten,  zeigt  sich  doch  sofort,  dass  mit  Fluch  und 
Segen  erst  überhaupt  die  Sinnenwelt,  die  dem  Thier  und  dem 
thierischen  Menschen  die  einzige  ist,  übersprungen  und  in  eine 
höhere,  von  dem  Gefühl  und  der  Phantasie  eröffnete,  der  Weg 
bereitet  wird.  Durch  Fluch  und  Segen  wird  die  Zukunft  an 
die  Vergangenheit  geknüpft  und  mithin  das  Land  der  Ver- 
nunft, wenn  auch  anfangs  noch  tastend  und  blind,  betreten. 
Der  Mensch  erhebt  sich  über  die  blosse  Gegenwart  durch  Er- 
innerung, indem  er,  von  Furcht  und  Hoffnung  geleitet,  in  Ge- 
danken sein  Schicksal  erzeugt.  Während  der  Urmensch  thierisch 
in  die  beständige  Sorge  für  Nahrung  und  in  die  brutale  Be- 
friedigung augenblicklicher  Leidenschaft  versunken  ist,  wie  sollte 
sich  da  anders  Religion  erheben,  als  durch  Wachrufen  von  Er- 
innerungen, in  denen  die  Flüche  und  später  dann  auch  Segens- 
sprüche laut  wurden?  Diese  geistigen  Mächte,  die  in  den  Ge- 
danken und  Geftlhlen  des  Menschen  lebten,  projicirte  er  aus  sich 
heraus,  und  so  vermischten  sich  die  Fluchgötter  mit  den  dunklen 
Gewalten,  die  er  sonst  noch  ftlrchtete.  Die  Psychologie  muss 
hier  die  Wiege  der  Religion  finden.  Da  aber  bei  allen  dogma- 
tischen Formen  dieser  untersten  Stufe  des  Lebens  die  Furcht 
massgebend  ist,  welche  immer  über  die  Zukunft,  also  über  das 
Schicksal  brütet,  so  kann  auch  die  Verschmelzung  der  Fluch- 
idee mit  der  sonstigen  Theologie  der  Furchtreligion  nicht  als 
schwierig  betrachtet  werden.  Ich  sage  „Verschmelzung",  weil 
es  sich  hier  nur  um  psychischen  Mechanismus  und  nicht  um 
logische  Begriffe  handelt 

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244  Religion  der  Furcht. 

Um  diese  psychologische  Analyse  historisch  zu  confir- 
miren,  will  ich  zu  den  oben  beigebrachten  Erinnerungen  nur 
noch  ein  paar  Belege  für  die  Verschmelzung  der  theo- 
logischen Vorstellungen  hinzufügen  und  zwar  aus  der  bekannten 
hebräischen  Religion.  So  wird  gleich  im  dritten  Capitel  der 
Genesis  die  Bestrafung  der  Schlange  und  der  Menschen  von 
Gott  nicht  anders,  als  durch  einen  Fluch  vollzogen:  ^jWeil  Du 
solches  gethan,  seiest  Du  verflucht  vor  allem  Vieh,  auf  Deinem 
Bauche  sollst  Du  gehen"  u.  s.  w.  „Verflucht  sei  der  Acker 
um  Deinetwillen!  mit  Kummer  sollst  Du  Dich  darauf  nähren 
Dein  Leben  lang".  Ebenso  im  vierten  Capitel  über  Eain:  „Was 
hast  Du  gethan?  Die  Stimme  Deines  Bruders  Bluts  schreiet  zu 
mir  von  der  Erde.  Und  nun  verflucht  seiest  Du  auf  der  Erde, 
die  ihr  Maul  hat  aufgethan  und  Deines  Bruders  Blut  von  Deinen 
Händen  empfangen."  So  mag  man  die  mythischen  Ueberbleibsel 
weiter  verfolgen  bis  in  die  historischen  Zeiten  hinein,  ja  bis  zur 
Verfluchung  des  Feigenbaumes  im  neuen  Testamente  und  bis  zu 
solchon  auch  uns  geläufigen  Sentenzen,  wie  z.  B.  „an  Gottes 
Segen  ist  alles  gelegen"  u.  s.  w.  —  tiberall  wird  man  finden, 
dass  das  Gottesbewusstsein  sich  derartig  mit  der  untersten 
Schicksalsidee,  die  in  Vorstellung  von  Flüchen  und  Segens- 
sprüchen besteht,  verschmolzen  hat,  dass  die  Wirksamkeit  des 
Gottes  an  ihre  Vermittelung  gewissermassen  gebunden  ist,  oder 
dass  die  Macht  des  Gottes  überhaupt  in  seinem  Fluch  und 
Segen  besteht. 

Es  wäre  eine  thörichte  Empfindlichkeit,  wenn  man  sich  dieser 
Kudünente  der  Urzeit  schämen  und  sie  durch  sophistischen  Plunder 
beschönigen  wollte,  als  wenn  nämlich  das  Segnen  imd  Fluchen 
in  der  höheren  Religion  nur  eine  Ausdrucksweise  sei,  wie  sie 
die  Sprache  nun  einmal  zur  Benutzung  darbiete;  denn  darum 
gerade  handelt  es  sich,  dass  die  sonst  so  reiche  Sprache  nur 
diese  Ausdrucksweise  bewilligt,  und  dass  man  also  durch  die 
Natur  der  Sache  und  die  geschichtliche  Entwickelung  gezwungen 
ist,  die  uralten  Religionsvorstellungen,  wenn  auch  nur  in  rudi- 
mentärer Form,  beizubehalten  und  sie  sich  gefallen  zu  lassen. 
Zweite  Form  ^^^®  ^^^^  Form,   sci  CS  im  physischen,  sei  es 

der  Schicksals-  im  gcistigcn  Gebiete,   kann  sich  immer  nur  durch 
*"***'         Hinzunahme  eines  neuen  Beziehungspunktes  bilden, 
nach  welchem   eine   andere  Coordination  erfolgt.    Da  nun   die 

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Allgememere  Fragen.    Das  Schicksal.  245 

historisch  gegebenen  Schicksalsvorstellungen  durch  die  archaische 
Fluchidee  nicht  erschöpft  werden,  so  kommt  es  darauf  an,  den 
neuen  Beziehungspunkt  herauszufinden,  der  die  zweite  Form  der 
SchicksalsYorstellung  nach  sich  zieht. 

Wir  werden  uns  aber  nicht  auf  rathloses  Suchen 
legen,  sondern  nach  einer  Methode  den  gesuchten  Bori^un^punkt. 
Punkt  citiren  und  zum  Erscheinen  zwingen.  Da 
die  Flüche  nämlich  in  das  rein  individuelle  Leben  verwoben  sind 
und  eine  bloss  perspectivische  Auffassung  des  Geschehens 
aller  Dinge  voraussetzen,  so  muss  der  nächste  Beziehungspunkt 
in  der  objectiven  Auffassung  der  Wirklichkeit  liegen,  weil  die 
fortschreitende  Welterfahrung  des  Menschen  nothwendig  immer 
mehr  Beachtung  des  Lebens  und  der  Schicksale  Anderer  mit 
sich  bringt  und  also  allmählich  ein  von  unserem  persönlichen 
Interesse  unabhängiges  Weltbild  erzeugt.  Es  dreht  sich  zwar 
nicht  sofort  um  exacte  Naturforschung  und  kritische  Weltgeschichte, 
welche  überhaupt  niemals  als  lebendige  Kräfte  eines  Volkes, 
sondern  immer  als  die  Prärogative  einer  Minderzahl  von  Begab- 
teren auftreten-,  vielmehr  handelt  es  sich  überhaupt  nur  um  die 
Befreiung  aus  der  tiefen  Knechtschaft  der  blos  perspectivischen 
und  selbstsüchtigen  Auffassung  und  Gesinnung.  Eine  solche 
Emancipation  des  armen  Naturmenschen  wird  aber  allmählich 
durch  die  Erweiterung  seines  Interesses  auf  seine  Familie  und 
die  Gesellschaft  herbeigeftlhrt,  sobald  die  Nothdurft  des  Lebens 
leichter  zu  befriedigen  ist,  und  der  beständige  Kampf  um  das 
nackte  Dasein  durch  die  Theilung  der  Arbeit  und  durch  andere 
glückliche  Folgen  der  Geselligkeit  aufhören  kann,  und  mit  einer 
verhältnissmässigen  Müsse  auch  das  Auge  ftlr  die  uninteressirte 
Beachtung  der  Wirklichkeit  geöflßaet  wird. 

Nachdem  wir  nun  psychologisch  das  Gebiet  bestimmt  haben, 
auf  welchem  der  neue  Beziehungspunkt  zu  suchen  ist,  so  kann 
es  nicht  fehlen,  dass  er  uns  von  selbst  entgegenkommt;  denn 
die  objective  Beachtung  des  wirklichen  Geschehens  zeigt  überall 
die  causa  efficicns,  die  mechanische  Verkettung  der  Dinge. 
Es  entsteht  der  Begriff  der  Zeit,  und  der  Mensch  vergleicht  das 
Vergangene,  das  er  in  Erinnerung  behielt,  mit  dem  Gegenwärtigen, 
das  ihm  die  Sinne  darbieten,  und  mit  dem  Zukünftigen,  über 
welches  er  nach  Analogien  seine  Vermuthungcn  hat.  Da  das 
Zukünftige  in  kurzer  Zeit  auch  vergeht  und  zur  Erinnerung  wird, 

uiumzeu  uy  x^jvyVjVlv^ 


246  Religion  der  Furcht 

80  kann  der  aufinerksaine  Mensch  bald  eine  gewisse  Ordnung 
der  Dinge  erkennen,  in  welcher  alles  Geschehene  zusammenhängt, 
so  dass  der  Kluge  flir  jede  Lebenslage  immer  frühere  Beispiele  in 
Erinnerung  hat,  wie  dies  besonders  anschaulich  die  Hitopadesa  zeigt 
Wenn  wir  diesen  neuen  Beziehungspunkt  mit  dem 
cJ^dtolutn.  früheren,  der  unser  persönliches  Interesse  vor  Augen 
stellt,  verknüpfen,  so  muss  sich  eine  neue  Idee  bilden. 
Durch  unser  Interesse  ist  nämlich  der  Lauf  der  Dinge  anders 
zu  bestimmen,  als  die  Erfahiiing  ihn  vermuthen  lässt  Der  leiden- 
schaftliche Mensch  wirft  sich  deshalb  mit  äusserster  Energie  in 
den  Kampf  mit  den  Dingen,  um  sie  nach  seinem  Willen  zu 
gestalten.  Gleichwohl  erreicht  er  sehr  oft  das  Gewollte  nicht 
Die  Erfahreneren  kommen  deshalb  zu  der  Einsicht,  dass  der 
Wille  des  Menschen,  seine  Wuth,  seine  Wollust,  sein  Ehrgeiz, 
sein  Hass,  seine  Hab-  und  Herrschsucht  selbst  zu  den  wirkenden 
Ursachen  alles  Geschehens  gehören  und  von  dem  einzelnen 
Menschen  unabhängig  sind.  Da  vdr  nun  eine  religiöse  Welt- 
anschauung vorauszusetzen  haben,  so  ist  es  natürlich,  dass  der 
Gläubige  nicht  materialistisch  und  positivistisch  bloss  die  Er- 
scheinungen betrachtet,  sondern  überall  die  göttliche  Einwirkung 
hinzudenkt  Also  wird  Paris  von  der  dämonischen  Macht  der 
Aphrodite  zur  Entführung  der  Helena  verleitet,  Ajax  wird  von 
einem  Dämon  zur  Raserei  gebracht  und  so  wird  überhaupt  der 
Wille  und  die  Handlung  des  Menschen  immer  auf  einen  Gott 
oder  einen  Dämon  zurückgeführt,  wie  dies  Piaton,  der  den 
Standpunkt  theilte,  so  wunderbar  anschaulich  darstellte,  indem 
er  die  Menschen  mit  Drahtpuppen  verglich,  welche  von  den 
Göttern  bald  an  erzenen,  bald  an  silbernen  Drähten  gezogen 
werden,  nämlich  bald  durch  gemeinere,  bald  durch  edlere  Leiden- 
schaften und  Geftlhle. 

Indem  nun  der  sogenannte  freie  Wille  nicht  mehr  gegen  die 
Ordnung  der  Dinge  auftreten  kann,  sondern  selbst  nur  ein  Glied 
in  der  allgemeinen  Ordnung  des  Ganzen  ist,  so  muss  der  Mensch 
die  Vorstellung  gewinnen,  dass  von  den  dunklen  Mächten  über 
ihn  verfügt  werde,  und  dies  ist  die  religiöse  Idee  des 
Schicksals. 

Bei  den  Hebräern  ist  diese  Idee  nicht  so  deutlich  nach- 
weisbar, obwohl  ihr  Gott  den  Menschen  auch  bald  dies,  bald 
jenes  in's  Herz  giebt,   sie  verstockt,   mit  Blindheit  des  Geistes 

uiymzeu  uy  x^jv^' v^'pc  iv^ 


Allgemeinere  Fragen.     Das  Schicksal.  247 

schlägt,  sie  mit  Feigheit  oder  Uebermnth  erfüllt  n.  s.  w.,  damit 
ihr  Wille  in  diejenige  Ordnung  des  Geschehens  sich  füge,  die  er 
beschlossen  hat.  Dennoch  wird  überall  auch  noch  die  ältere 
Form  der  Schicksalsidee  eingemischt,  da  die  Flüche  über  viele 
Geschlechter  Verderben  bringen  und  der  Segen  einige  Gott- 
geliebte zu  besonderem  Wohlsein  bringt  oder  rettet  Ebenso 
wird  die  zweite  Form  des  Schicksals  bei  den  Hebräern  durch 
moralische  Elemente  yerunreinigt,  die  schon  der  höheren  Rechts- 
religion angehören  und  das  Schicksal  dem  Maasstabe  der  Sünde  und 
des  Gesetzes  unterwerfen.  Dagegen  findet  sich  die  hier  definirte 
zweite^  Form  der  Schicksalsidee  in  grösserer  Reinheit  bei  den 
Indern,  in  deren  Sagen  die  wunderbarsten  Zufillle  schliesslich 
doch  das  herbeifbhren ,  was  durch  irgend  eine  Vorhersagung 
bekannt  war,  aber  von  den  Betheiligten  mit  der  grössten  Energie 
des  Willens  und  mit  Ehrlichkeit  oder  Schlauheit  yermieden  werden 
sollte.  Ebenso  zeigen  die  sogenannten  arabischen  Märchen 
durchaus  diese  religiöse  Auffassung  des  Schicksals,  wobei  nur 
selten  eine  geringe  Verunreinigung  der  Idee  durch  moralische 
Auslegung  vorkommt,  in  den  meisten  Fällen  aber  die  blosse,  von 
Dämonen  geleitete,  ein  für  allemal  feststehende  Verkettung  der 
Dinge  den  Menschen  mit  seinem  Willen  nur  zu  einem  Gliede 
der  Kette  macht  und  über  ihn  völlig  ohne  absehbare  Zwecke 
verfugt  Auch  bei  den  Hellenen  ist  diese  Schicksalsidee  in 
grosser  Reinheit  anzutreffen;  ich  erinnere  nur  kurz  an  den  Mann 
mit  einem  Schuh,  als  einzige  Rettung  von  der  Sphinx,  an  das 
brennende  Holzscheit  Meleager's,  an  Philoktet's  Pfeile,  die  über 
Troja  entscheiden,  u.  s.  w.  In  späterer  historischen  Zeit  blieb 
dieselbe  religiöse  Auffassung  stehen,  wie  am  deutlichsten  Herodot 
an  den  Tag  legt;  aber  auch  die  grossen  Tragiker  huldigen  im 
Ganzen  dieser  Idee,  obwohl  sie,  von  der  Philosophie  gebildet, 
durch  ethische  Auslegungen  die  archaische  Form  verunreinigen, 
ohne  eine  höhere  Religion  finden  zu  können.  Dass  die  Edda 
von  derselben  Stufe  des  religiösen  Bewusstseins  Kunde  giebt, 
braucht  nicht  bewiesen  zu  werden;  wer  erinnert  sich  nicht  an 
den  blinden  Schützen  und  sein  harmloses  Geschoss,  das  allein 
den  Tod  Baldur's  verursachen  kann. 

Unser  Interesse  ist  aber  nicht ,   ansprechendes      j^^j,  ^.^^^ 
Material   zu  sammeln  und   den  Leser   zu   den  ver-  ohanikt«r  dieser 
schiedenen  Völkern  zu  führen,   um  ihn  dort  in  das    «*'»"^^^"<'^^- 

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248  Religion  der  Furcht. 

Dickicht  der  seltsamen  Schicksalsvorstellangen  hineinschauen 
zu  lassen,  sondern  diese  lobenswerthe  Anfgabe  und  Leistung 
setzen  wir  voraus,  um  dann  über  das  Geschaute  zu  philo- 
sophiren.  Es  fragt  sich  also^  wiefern  die  Schicksalsidee  nicht 
bloss  eine  historische  oder  naturphilosophische  Auffassung  sei, 
sondern  einen  religiösen  Charakter  habe;  denn  wenn  der  Mensch 
bloss  theoretisch  überzeugt  wäre,  dass  Alles  in  der  Welt 
nothwendig,  vorherbestimmt  und  ohne  leitenden  Zweck  geordnet 
sei,  so  läge  darin  ebensowenig  eine  religiöse  Auffassung,  wie 
wenn  er  über  die  arithmetischen  Reihen,  über  die  endlichen,  die 
unendlichen,  "die  periodischen  u.  s.  w.  eine  Einsicht  gewonnen 
hätte.  Das  Religiöse  liegt  in  der  Stellung  unserer  Persönlichkeit 
zu  dem  göttlichen  Wesen.  Es  darf  also  das  Schicksal  nicht  als 
eine  Abstraction,  als  eine  allgemeine  Charakterisirung  des  Welt- 
laufs betrachtet  werden,  sondern  ein  Gläubiger  muss  dem  Schicksal 
als  einem  metaphysischen  Wesen  gegenüber  in  seinen  Gedanken, 
seinen  Gefühlen  und  Handlungen  Stellung  nehmen.  Es  ist  freilich 
nicht  nothwendig,  dass  das  Schicksal  von  dem  Gläubigen  als 
eine  Persönlichkeit  aufgefasst  werde,  aber  es  muss  zunächst  mit 
den  sonst  schon  geglaubten  Göttern  in  einen  wenn  auch  dunklen 
Zusammenhang  treten,  in  der  Art,  dass  der  Gläubige  die  ihm 
bevorstehende  und  dann  ihn  erreichende  Zukunft  auf  eine  Ver- 
anstaltung und  Fügung  der  göttlichen  Wesen  zurückfuhrt,  wie 
er  selbst  bei  dem  Fallen  der  Loose  und  der  Würfel  auf  eine 
göttliche  Lenkung  hinblickt.  Es  ist  aber  wahrscheinlich,  dass 
viele  Menschen  nicht  die  erforderliche  religiöse  Phantasie  haben, 
um  alles  Geschehene  immer  gleich  an  die  unsichtbaren  Götter, 
deren  Stimmung,  Gunst  und  Ungunst  sie  zu  kennen  glauben,  mit 
Zuversicht  anzuknüpfen ;  da  man  vielmehr  die  Tragweite  des 
Geschehenen  in  Bezug  auf  zukünftiges  Glück  und  Unglück  nicht 
leicht  durchschauen  und  es  auch  in  sehr  vielen  Fällen  nicht  wohl 
auf  den  specifischen  Vorstellungskreis  der  besonderen  Götter  deuten 
kann,  so  fehlt  für  die  Phantasie  auch  die  Möglichkeit,  einen 
Beziehungsgrund  zu  entdecken,  und  sie  kommt  daher  nicht  in 
Gang.  Also  bleibt  nur  eine  allgemeine  Beziehung  auf  die  un- 
sichtbaren und  in  ihrem  Vorhaben  unerforschlichen  Mächte  übrig. 
Da  somit  das  Persönliche,  welches  nur  durch  bestimmte  Willens- 
zustände vorstellbar  wird,  mehr  und  mehr  wegfiillt:  so  bleibt 
nur    die   Idee    eines    gewissermassen    unpersönlichen   göttlichen 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  249 

Princips,  das  man  Dicht  definiren  und  nicht  aus  Gründen  erklären 
kann,  im  Bewusstsein  zurück.  Und  dies  ist  die  ei(jLap(jivir),  das 
Fatum,  das  Schicksal.  Die  Etymologie  verräth  jedesmal  einen 
bestimmten  Gedankengang.  So  deutet  die  sliiapiievr^  auf  die 
Theile  hin,  die  einem  Jeden  von  dem  in  der  Welt  ausgespielten 
Wohl  oder  Wehe  „zu  Theil  werden",  oder  wie  beim  Würfelspielen 
und  bei  den  Loosen  „zufallen".  Daher  stimmt  der  griechische 
Ausdruck  so  ziemlich  mit  dem  deutschen  „Zufall".  Das  Wort 
„Schicksal"  bedeutet  wohl  nicht  das  Geschickte  oder  Gesendete 
sondern  vielmehr  „was  sich  schickt",  d.  h.  was  sich  zusammen- 
fügt, und  ist  also  der  „Fügung"  verwandt.  Das  Fa tum  aber 
erinnert  bei  dem  Eintreten  der  Wirklichkeit  an  die  früheren 
Aussprüche  der  prophetischen  Spinnerinnen,  welche  die  schon 
damals  fest  beschlossene  Zukunft  voraussagten. 

Blicken  wir  also,  um  den  religiösen  Charakter  der  zweiten 
Schicksalsform  zu  bestimmen,  auf  die  Entwickelung  des  religiösen 
Bewusstseins  der  Gläubigen  hin,  so  geht  in  allmählichem  Fort- 
schritte die  Beachtung  der  Zukunft  in  ihrem  Zusammenhange  mit 
der  Vergangenheit  von  der  Fluchidee  weiter  zu  einer  immer 
unbestimmteren  Anknüpfung  an  die  Götter  in  der  Art,  dass  zuerst 
die  einzelnen  Götter  das  Schicksal  herbeifuhren,  nachher  nur  der 
höchste  Gott,  etwa  Zeus,  über  das  allgemeine  Geschehen  in 
der  Welt  verfügt,  bis  auch  dieser  selbst  von  der  Phantasie  nicht 
mehr  recht  in  Zusammenhang  mit  der  Weltgeschichte  gebracht 
werden  kann,  und  das  Schicksal  sich  über  ihn  und  über  die  ganze 
Götterwelt  erhebt,  wie  es  z.B.  in  der  Prometheussage  den  Zeus 
ängstigt  und  wie  es  offenkundig  und  mit  furchtbarer  Grösse  in 
der  Edda  die  germanischen  Götter  zum  Untergange  treibt. 

Diese  psychologische  Entwickelung  des  religiösen  Bewusstseins 
kann  aber  a  priori  construirt  werden,  da  wir  die  speculativen 
Beziehungspunkte  in  der  Hand  haben,  um  die  Coordinationen 
festzustellen.  Denn  sobald  der  perspectivische  Standpunkt,  der 
bei  der  Fluchidee  Beziehungsgrund  war,  wegfallt  und  die  objective 
Beachtung  der  Welterscheinungen  an  die  Stelle  tritt,  so  müssen 
die  Beziehungen  auf  die  perspectivisch  bestimmten  Götter  noth- 
wendig  verschwinden  und  zwar  in  strenger  Proportion  zunehmend 
mit  der  wachsenden  Objectivität  der  Auffassung.  Die  Schicksals- 
idee in  dieser  zweiten  Form  gehört  aber  noch  der  Religion  der 
Furcht  an,   erstens  weil  und  sofern  der  Gläubige  das  Schicksal 


250  Religion  der  Furcht. 

noch  als  ein  dunkles  einheitliches  göttliches  Wesen  ansieht, 
welches  Handlungen  ausübt  und  einen  wenn  auch  unerforsch- 
lichen  Willen  hat,  und  zweitens,  weil  und  sofern  der  Gläubige 
diesem  geheimnissvollen  Wesen  gegenüber  in  Bezug  auf  die  zur 
Sphäre  der  Furcht  und  Hoflfhung  gehörigen  Güter  und  ücbel 
eine  gewisse  Gesinnung  hat,  die  Ergebenheit  oder  Resignation, 
je  nachdem  auch  göttlicher  Schauder  oder  allgemeine  Gottes- 
furcht genannt  werden  kann. 

Nachdem  wir  den  dogmatischen  Inhalt  der 
der^iltter.  S<ibi<5ksal8idee  und  die  zugehörigen  ethischen  Gefühle 
betrachtet,  bleibt  die  Function  des  Cultus  zu  unter- 
suchen, bei  welchem  sich  nothwendig  die  Erhebung  der  Schicksals- 
idee deutlich  abspiegeln  muss,  da  die  Priester  immer  die  Auf- 
gabe vertreten,  welche  zwar  jedem  Gläubigen  zukommt,  aber 
doch  nur  von  den  höher  Begabten  wirklich  erfüllt  werden  kann. 

Nun  ist  sofort  klar,  dass  in  den  Flüchen  und  Segenssprtichen, 
also  in  den  ältesten  Schicksalsraächten,  zwei  Elemente  stecken, 
erstens  die  Intelligenz,  da  es  sich  um  die  nur  durch  eine  ge- 
wisse Vernunft  und  Besonnenheit  zu  erkennende  oder  zu  be- 
stimmende Zukunft  handelt,  und  zweitens  das  Gefühl,  da  der 
Grund,  um  fluchend  oder  segnend  über  die  Zukunft  etwas  aus- 
zusagen, in  einer  Erregung  des  Gemüthes  liegt.  Mithin  müssen 
sich  die  Priester,  welche  überhaupt  in  Schicksalsfragen  Ansehen 
erhalten  sollen,  durch  Intelligenz  und  feines  und  starkes  Gefühl 
auszeichnen. 

Es  ist  nun  gewiss  merkwürdig,  dass  für  dieses  Amt  in  den 
ältesten  Zeiten  besonders  die  Frauen  hervortraten.  Ich  erinnere 
an  die  Pythia  und  die  Sibyllen,  femer  an  die  Feen  und  Parcen 
und  Nornen  und  Walkyrien  und  an  die  Aurinia  und  Veleda  im 
alten  Germanien,  ebenso  wie  an  die  bösen  Zauberinnen  und 
Hexen  des  Mittelalters.  Der  Grund  liegt  wohl  darin,  dass  die 
Männer  in  der  ältesten  Zeit  weniger  Müsse  zum  Nachsinnen  hatten, 
sondern  im  Kampfe  um's  Dasein  mit  Kraft  und  Leidenschaft 
ringen  mussten,  während  das  Weib  an  den  Webstuhl  gebannt 
war  und  das  Schicksal  der  Männer  zu  tragen  hatte.  Die 
Spinnerinnen  bildeten  also  das  Echo  des  grossen  Lebens  draussen, 
und  alle  Freude  und  besonders  alles  Leid  klang  in  ihnen  wieder. 
Da  sie  nun  die  Männer,  welche  zum  Streit  auszogen,  am  ge- 
nauesten kannten,   so  wusst^i  sie  auch  um  ihre  Stimmung,   die 


Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal,  251 

in  der  Regel  schon  über  den  Ausgang  des  Kampfes  entscheidet ; 
denn  wer  sich  schwach  flihlt,  wer  zweifelt,  fürchtet  oder  unbe- 
sonnen prahlt,  der  ist  schon  halb  besiegt.  Es  ist  darum  natür- 
lich, dass  tausend  kleine  Zeichen  der  äusseren  Umstände  und 
der  Natur  des  Menschen  das  Gemüth  der  Frau  in  Erregung 
setzten  und  in  ihrem  Geiste  Ahnungen  und  Gesichte  des  Zu- 
künftigen aufsteigen  liessen.  Da  nun  ihre  Aussprüche  (fata 
von  fari)  häufig,  je  begabter  die  Frauen  waren,  in  Erfüllung 
gingen,  so  musste  die  Spindel  zu  Ehren  kommen,  und  es  ist 
daher  ganz  in  der  Ordnung,  dass  Clotho,  Lachesis  und  Atropos 
und  auch  die  Nornen  spinnen;  denn  es  ist  willkürlich  und  ober- 
flächlich, dass  man  in  dieser  Spinnerei  des  Schicksals  nur  einen 
zufälligen  Vergleich  der  Dichter  sieht,  während  gerade  mit 
natürlicher  Nothwendigkeit  durch  die  Frau  auch  der  Webstuhl 
in  die  Allegorie  kam. 

Ebenso  natürlich  aber  ist  es,  dass  in  den  späteren  Zeiten, 
wo  die  Orakel  zu  Instituten  wurden  und  das  Yölkerleben  im 
Grossen  in's  Auge  fassten,  die  Sibyllen  bloss  die  Rolle  der 
Geflihlserregung  behielten,  während  kluge  und  weltkundige 
Männer  als  Priester  die  sinnlosen  Aussprüche  der  Besessenen 
zu  formiren  und  mit  Vernunft  zu  deuten  hatten. 

Wenn  nun  auch  im  Allgemeinen  jeder  Erregte  seinem  Gefühl 
entsprechend  fluchen  oder  segnen  und  die  Zukunft  irgendwie 
verkünden  mag,  so  ist  es  doch  in  der  Ordnung,  dass  auch  diese 
Function  allmählich  ofBciell  wurde  und  theils  einzelnen  von  Gott 
unmittelbar  Designirten,  theils  einem  bestimmten  Stande  zukam. 
Dass  die  Frauen  im  Anfang  vorzugsweise  mit  dem  Fluchen  oder 
mit  den  Unheilsworten  zu  thun  hatten,  bezeugen  die  bösen  Feen, 
die,  wenn  auch  vorher  viel  Gutes  angewünscht  war,  hinterher 
kommen  und  plötzlich  durch  ein  böses  Wort  die  ganze  Zukunft 
in's  Schlimme  kehren.  Aber  auch  die  Besprechungen,  wozu  man 
Hexen  brauchte,  sind  wohl  als  fluchabwendende  oder  segenbringende 
Worte  zu  deuten.  Durch  die  ganze  Geschichte  der  Religionen 
erhält  sich  dann  das  Rudiment  des  Fluchens  und  Segnens,  auch 
wo  das  Schicksal  schon  objectiv  gefasst  oder  selbst  schon  als 
göttliche  Providenz  erkannt  ist.  Ich  erinnere  z.  B.  an  die  furcht- 
baren officiellen  Flüche,  mit  denen  Spinoza  aus  der  Synagoge 
ausgestossen  wurde,  und  an  den  noch  bei  unserer  Abendmahls- 
feier üblichen  Fluch  über  den  unwürdigen  Genuss,  wie  auch,  an 

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252  Religion  der  Furcht. 

den  allein  vom  Priester  zu  sprechenden  Segen  über  die  Gemeinde, 
und  endlich  auch  noch  an  die  fast  regelmässigen  jährlichen 
Flüche  und  Segnungen  des  heiligen  Vaters  zu  Rom,  wodurch 
das  Schicksal  der  Völker  gelenkt  wird. 

Es  ist  sehr  interessant,  die  Gränzlinien  zu  ver- 
scwc^ta^wdl?  folgen,  die  eine  dritte  Form  der  Schicksalsidee  um- 
Anfiosans  schliesscn.  Bei  der  Fluchidee  waren  die  Flüche 
***'  FMcht!  ^^'^  selbst  dämonische  Wesen,  und  die  perspectivische 
Betrachtung  bezog  die  Zukunft  auf  den  engen  Kreis 
der  persönlichen  Furcht  und  Hoffnung;  bei  der  objectiven  Schicksals- 
idee dagegen  verlor  das  göttliche  Wesen  jedes  akustische  und 
optische  Zeichen,  es  zog  sich  in' s  Dunkel  zurück;  aber  trotz  der 
Dunkelheit  des  theologischen  Begriffes  war  ein  religiöses  Gefühl 
und  ein  Cultus  möglich  und  wirklich.  Die  Mören,  welche  über 
Geburt  und  Tod  verfügen,  wurden  überall  verehrt  und  empfingen 
reichliche  Opfer,  weil  man  auf  irgend  eine  Weise  durch  Hin- 
gebung oder  durch  geheime  Zeichen  das  GefUrchtete  abwenden 
zu  können  hoffte.  Denn  wenn  auch  nicht  mehr  göttlicher  Zorn  und 
menschliche  Verschuldung  als  Ursache  der  Schicksale  geglaubt, 
wenn  das  Schicksal  auch  als  ein  Despot,  den  man  nicht  mehr 
sicher  mit  Hymnen  und  Opfern  gewinnen  kann,  gefürchtet  wurde: 
so  nahm  man  doch  wenigstens  an  (und  dies  ist  der  Rest  des 
Bewusstseins  der  Willensfreiheit,  die  zum  Schicksal  beitragen 
muss),  dass  durch  Gulthandlungen  gewisser  Art  die  Zukunft  ab- 
geändert werden  könne.  Daher  findet  sich  das  Nägeleinschlagen, 
die  Befestigung  eines  Hufeisens  an  den  Thüren  und  tausenderlei 
Zeichen,  wodurch  der  Mensch  in  religiöser  Gesinnung  dem  Schicksal 
gegenüber  Stellung  nimmt.  Selbst  die  Vermeidung  der  Dreizehn 
bei  den  Mahlzeiten  (in  Erinnerung  an  das  Abendmahl  Christi  mit 
dreizehn  Personen,  von  denen  Einer  sterben  musste)  bildet  noch 
heute  einen  Cultakt  für  das  Schicksal,  der  natürlich  jetzt  als 
Aberglaube  bezeichnet  wird. 

Damit  nun  eine  neue  Form  auftrete,  muss  ein  neuer  Be- 
ziehungspunkt das  Auge  treffen.  Dieser  zeigt  sich  aber,  sobald 
der  Mensch  die  Beziehungen  der  Ereignisse  untereinander  nicht 
mehr  als  planmässige  auffasst.  Die  anfangliche  perspectivische 
Betrachtung  hatte  bei  allem  Geschehen  die  Beziehung  auf  die 
Zwecke  des  Eigenlebens  vorausgesetzt,  bei  der  objectiven 
Schicksalsidee  war  zwar  die  individuelle  Teleologie  mehr  und 

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Allgemeinere  Fragen.    Das  Schicksal.  253 

mehr  verschwunden,  weil  der  Blick  in's  Grosse  schweifte  und 
das  Völkerleben,  wie  die  Naturereignisse  weit  über  die  Bahnen 
des  individuellen  Kreises  unerforschlich  hinausreichten,  dennoch 
aber  hatte  sich  die  Vemunftforderung  eines  einheitlichen  Zu- 
sammenhanges erhalten  und  das  Schicksal  war  ein  Dämon  ge- 
blieben, dem  gegenüber  man  eine  religiöse  Gesinnung  haben 
kann.  Sobald  nun  diese  stille  Vemunftforderung  fallt  und  die 
einheitliche  Ordnung  des  Ganzen  verschwindet,  so  tritt  der  so- 
genannte Zufall  auf,  d.  h.  die  Meinung,  dass  die  Ereignisse  ftlr 
einander  nichts  zu  bedeuten  und  mit  den  Interessen  des  Menschen 
keinen  von  göttlicher  Hand  geleiteten  Zusammenhang  haben. 

Wenn  sich  aber  dieser  neue  Beziehungspunkt  durch  die 
Ohnmacht  des  Geistes,  den  Gang  der  Welt  und  der  eigenen 
Erlebnisse  zu  deuten,  im  Bewusstsein  befestigt  hat,  so  entspringt 
die  dritte  Form  der  Schicksalsidee.  Mit  dem  Zweck  und  dem 
bedeutungsvollen  Zusammenhang  in  der  Welt  verschwindet  noth- 
wendig  der  coordinirte  Begriff  des  göttlichen  Wesens  in  dem 
Gottesbewusstsein;  mit  diesem  föUt  die  Möglichkeit  der  zugeord- 
neten Gesinnung  des  Menschen,  A  h.  die  Religion,  da  ohne  Ge- 
sinnung nun  die  theoretischen  Vorstellungen,  die  Gefühle  und 
Handlungen  nichts  Religiöses  mehr  symbolisiren  können.  Also 
ist  mit  der  dritten  Form  der  Schicksalsidee  die  Religion  der 
Furcht  aufgelöst. 

Das  Coordinatensystem,  welches  dem  Zufallsglauben  ent- 
spricht, lässt  sich  aber  leicht  feststellen.  Statt  des  Gottes  treten 
nun  die  einzelnen  Weltdinge  auf,  mögen  sie  grob  sinnlich  oder 
feiner  atomistisch  gedacht  werden,  und  mit  mehr  oder  weniger 
deutlich  ausgebildetem  Bewusstsein  lässt  man  sie  nach  blinden, 
d.  h.  auch  zuiUlligen  Naturgesetzen  auf  einander  wirken.  Dieser 
Vorstellung  gemäss  ist  der  Schaden  oder  Nutzen,  den  die  Dinge 
in  unserem  Interessenkreise  stiften,  ebenfalls  zufällig,  und  der 
Wille  des  Menschen  reagirt  deshalb  zwar  auf  die  Ereignisse  in 
denselben  Gefühlen  von  Schmerz  und  Lust,  Furcht  und  Hoffnung, 
wie  bisher,  ohne  aber  zugleich  ein  religiöses  Geftihl  zu  bilden. 
Dementsprechend  .sind  auch  die  Handlungen  nicht  mehr  cultiseh, 
sondern  bloss  praktisch  und  technisch,  um  die  Uebel  abzuwehren, 
soweit  es  der  Zufall  zulässt,  und  Güter  zu  schaffen,  soweit  die 
Kräfte  reichen.  Dieser  Standpunkt  wird  nun  mit  Erinnerung 
an    die  Mhere   Gottesvorstellung   Atheismus    genannt,    mit 

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254  Religion  der  Furcht. 

Erinnernng  an  die  Vernunftforderung  von  Gründen  und  also  von 
Werthen,  Pessimismuß. 

Um  zu  zeigen,  wie  die  dritte  Form  der  Schicksalsidee,  der 
Zufallsglaube,  entsteht,  mag  eine  auschauliche  Stelle  aus  der  von 
A.  F.  V.  Schack  tibersetzten  Sage  vom  Königssohn  („Stimmen 
vom  Ganges'^  S.  176)  dienen.  Der  König  hat  seinen  einzigen 
Sohn  verloren  trotz  aller  Opfer  an  die  Götter.  Sein  Weib  Kri- 
tadjuti  kniet  mit  Händeringen  neben  ihm  und  „Thränenströme 
rannen  ihr  vom  Auge,  und  auf  die  Brahmanen  bald,  die  voll 
von  Trauer  sie  umstanden,  bald  auf  den  verzweifelnden  Gatten 
blickend,  bald  den  todten  Sohn  umklammernd,  rief  sie:  0,  wie 
sinnlos,  Gott,  ist  all  Dein  Handeln!  Thoren  Jene,  welche  Dich 
den  weisen  Weltenschöpfer  und  Erhalter  nennen;  denn  dem  Zu- 
fall giebst  Du  Macht,  die  Erde  zu  beherrschen  und  nach  seinen 
Launen  Tod  und  Leben  zu  vertheilen.  Blindlings  lassest  Du  aus 
Deiner  Hand  die  Loos'e  von  Geburt  und  Sterben  nun  auf  Diesen, 
nun  auf  Jenen  fallen  und  zerreissest  selbst  das  Band  der  Liebe 
und  Verwandschaft,  das  doch  Du  geknüpft  hast!  Wehe!  Wehe! 
Nur  in  wtistem  Taumel  kreis't  das  Weltall  und  in  stetem  schwindel- 
erregendem Wirbel  werden  wir  mit  ihm  umhergetrieben." 

Da  die  Religion  der  Furcht  in  jeder  Beziehung 
Beurtheuung  j^^  AnftLugeu  meuschUcher  Entwickelung  angehört, 
zufaiiBgiaubens.  SO  ist  CS  natürlich,  dass  ihre  Götter  und  ihr  Schicksal 
für  die  Erkenntniss  völlig  unbestimmte  und  unbe- 
stinmibare  Wesen  bleiben  müssen;  auch  ihre  zugehörigen  reli- 
giösen Gefühle  sind  von  der  niedrigsten  Stufe  und  von  der 
Selbstsucht  nicht  verschieden;  endlich  muss  auch  der  zugehörige 
Cult  als  thöricht  und  theils  abscheulich,  theils  abgeschmackt 
gelten.  Trotzdem  liegt  in  dieser  Religion  ein  tiefer  Sinn  und 
sie  entspricht  überall  der  vernünftigen  Natur  des  Menschen,  wenn 
man  nur  die  rohe  Ausdrucksweise  auf  die  höheren  Formen  geistiger 
Entwickelung  zu  beziehen  versteht  Wie  der  Tischler  schon  mit 
gutem  Verstände  den  Tisch  rundet,  indem  er  den  Kreis  mit  Stift 
und  Faden  zieht,  ohne  die  Zahl  it  berechnen  zu  können,  so 
werden  wir  auch  in  der  Religion  der  Furcht  und.  in  dem  Schicksals- 
glauben die  rohen  Umrisslinien  einer  vernünftigen  Weltauftassung 
anerkennen  dürfen. 

Um  dies  deutlicher  einzusehen,  vergleichen  wir  damit  den 
Zufallsglauben.    Hier  sind  nicht  nur  die  Götter  mit  ihren  kleinen 

u.quizeauy  Google 


AUgemeiBere  Fragen.    Das  Schicksal.  255 

örtlichen  und  gelegentlichen  Ftigungen  verschwunden,  sondern  es 
ist  auch  das  Schicksal  als  allgemeine,  die  Welt  umspannende 
Idee  im  Bewusstsein  erloschen.  Der  Zufallsgläubige  steht  nun 
vor  einem  blinden  Mechanismus,  dessen  Uhrwerk  er  nicht  erkennt 
und  von  dessen  Schlägen  er  ohne  Sinn  und  Zweck  zermalmt 
wird.  Dieser  Zufallsglaube  bildet  aber  keine  höhere  Vorstellung 
als  die  Keligion,  sondern  ist  eine  Erschlaffung  des  Denkens,  in- 
sofern als  der  Mensch  dabei  nur  auf  die  Verkettung  der  einzelnen, 
mechanisch  wirkenden  Dinge  seinen  Blick  richtet,  also  nur  auf 
die  Theile  und  Mittel  der  Welt  und  ihres  Geschehens,  während 
der  fieligiöse  mit  seiner  Vernunft  das  Ganze  und  den  Zweck 
erfasst  und  eine  gewisse  Vemtinftigkeit  des  Geschehens  fordert 
und  voraussetzt.  Somit  ist  z.  B.  die  Weltanschauung  von  Strauss 
in  seinem  „Alten  und  neuen  Glauben"  unvernünftiger  und  geist- 
loser als  selbst  die  Religion  der  Wilden,  weil  diese  doch  die 
natürlichen  Forderungen  der  Vernunft,  die  uns  nun  einmal  inne- 
wohnt, auf  eine  Vemünftigkeit  der  Welt  nicht  aufgeben,  sondern 
mehr  oder  weniger  sinnreich  einen  zweckvollen  Zusammenhang 
des  Ganzen  zu  erforschen  und  zu  enträthseln  suchen,  während 
Strauss  die  Vernunft  ausser  Thätigkeit  setzt  und  nur  mit  dem 
Verstände,  als  dem  niedrigeren  und  dienenden  Erkenntniss ver- 
mögen, die  mechanische  Vermittelung  der  Erscheinungen  der  Welt 
zum  Gegenstande  nimmt  Dabei  nimmt  er  denn  auch  mit  blindem 
Glauben  die  Hypothesen  und  jeweiligen  Resultate  der  modernen 
Naturwissenschaft  an  und  vergisst  ganz,  dass  die  Naturwissen- 
schaften in  raschem  Fortschritt  begriffen  sind  und  fast  nach  jeder 
neuen  Generation  neue  Hypothesen  aufstellen  und  ihre  früheren 
Resultate  lächerlich  finden.  So  z.  B.  wäre  zu  Newton's  und 
Goethe^s  Zeit  nichts  lächerlicher  gewesen,  als  die  Annahme,  die 
Sonne  könnte  an  Licht  und  Wärme  einbüssen  und  bedürfte  einer 
Heizung  und  Speisung;  heute  aber  findet  man  die  Annahme  der 
Unveränderlichkeit  der  Sonne  lächerlich  und  lässt  sie  sich  con- 
trahiren  oder  wenigstens  Sternschnuppen  verschlucken,  um  die 
nöthige  Wärme,  die  sonst  verloren  ginge,  wieder  zu  erhalten. 
So  fest  auch  die  exacten  Einzelbeobachtungen  der  Naturforscher 
stehen  mögen,  so  schwankend  und  wandelbar  sind  die  allgemeinen 
Hypothesen,  und  je  höher  ein  Naturforscher  steht,  um  so  mehr 
ist  er  sich  dieses  hypothetischen  Charakters  bewusst.  Strauss 
setzt  deshalb  einen  geistlosen  Köhlerglauben  an  die  Stelle  der 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


256  Religion  der  Furcht. 

Religion,  da  für  ihn  die  Hypothesen  der  Naturforscher  nicht 
Hypothesen,  sondern  Glaubensartikel  sind,  während  die  wahre 
Religion  vielmehr  auf  jeder  Culturstufe  erst  zu  Worte  kommen 
soll,  wenn  man  die  jeweilige  exacte  Verstandes- Wissenschaft  schon 
vernommen  hat  und  darüber  hinaus  noch  die  weitergehenden  For- 
derungen der  Vernunft  nach  einem  allgemeinen  zweckmässigen 
Zusammenhange  aller  Dinge  befriedigen  will.  Die  Religion  kann 
man  nur  fallen  lassen,  wenn  man  auf  Vernunft  verzichtet,  und 
Strauss  will  dem  Menschen  rathen,  seine  Augen  auszureissen,  um 
bloss  mit  den  Händen  zu  tasten. 


§  3.    Die  zugehörige  mythologische  Weltanschauung. 
Obgleich  die  Religion  der  Furcht  ursprünglich 

WeltansctuiUunK.  x  o 

im  kleinsten  Kreise  des  Einzellebens  geboren  wird 
und  deshalb  roh  und  ganz  ungebildet  erscheint,  so  muss  sie  sich 
doch,  wie  alles,  was  in  unserem  Bewusstsein  entsteht,  allmählich 
in  Zusammenhang  mit  allen  anderen  Functionen  des  Seelenlebens 
setzen  und  dadurch  eine  gewisse  Vemttnftigkeit  erlangen.  Dieser 
Charakter  der  Vemtinftigkeit  nimmt  zu,  wenn  die  Beziehungen 
zwischen  allen  Elementen  des  Seelenlebens  zum  Bewusstsein 
kommen  und  Cregenstand  der  Erkenntniss  werden,  wodurch  das 
Ganze  unseres  Bewusstseinsinhalts  eine  gewisse  ideelle  Ordnung 
erhält.  Eine  mechanische  und  natürliche  Ordnung  entsteht  ja 
von  selbst  immer;  wenn  uns  aber  erst  das  Bedürfiiiss  des  Denkens 
geweckt  ist,  so  wird  auch  der  Versuch  gemacht,  möglichst  alles 
im  Bewusstsein  Gegebene  imter  einen  umfassenden  Gesichtspunkt 
zu  bringen  und  dadurch  eine  ideelle  oder  logische  Ordnung  her- 
zustellen, d.  h.  eine  Weltanschauung  zu  bilden.  Es  ist  daher 
nothwendig,  dass  bei  unserer  Religion  der  Furcht  die  Gläubigen, 
wenn  sie  sich  durch  weiter  gehende  sociale  und  politische  Fort- 
schritte zu  einem  höheren  Bewusstsein  und  grösserer  Weltkenntniss 
erhoben  haben,  auch  zu  einer  ihrer  Religion  entsprechenden  Welt- 
anschauung gelangen. 

Das  Nächste,  was  sich  ganz  allgemein  über  diese 
^'standpunkt!*''  Weltanschauung  sagen  lässt,  ist  ihr  perspectivischer 

Standpunkt;  denn  da  diese  ganze  Religion  alle  Dinge 
als  Uebel  und  Güter  auf  den  Menschen  bezieht  und  noch  keiner 
objectiven  Betrachtung  fähig  ist,  so  muss  auch  die  logisch  weiter- 

uiyuizeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Allgemeinere  Fragen.    Mythologie.  257 

gesponnene  Weltanschauung  einen  perspectivischen  Charakter 
haben,  jedoch  mit  der  Erweiterung,  die  durch  Fortschritt  des 
Menschen  aus  seiner  Einzelheit  zur  Familie,  zum  Gau,  Stamm 
und  Volk  sich  von  selbst  ergiebt.  Wenn  der  Einzelne  zunächst 
glaubt,  dass  alle  Dinge  seinetwegen  daseien  oder  wenigstens  in 
Beziehung  zu  ihm  allein  aufgefasst  werden,  wie  er  z.  B.  sagt, 
dass  Gott  ihm  diese  Krankheit  geschickt  und  ihn  mit  dieser 
Dürre  oder  diesem  Frost  heimgesucht  habe,  oder  dass  der  Gott 
ihn  für  seine  Opfer  und  frommen  Anbetungen  und  gottwohl- 
gef&lligen  Handlungen  mit  reicher  Emdte  gesegnet,  ihm  Sieg  über 
seinen  Feind  gegeben  habe,  so  versteht  sich,  dass  wenn  sich  erst 
Familien-  und  Stammbewusstsein  entwickelt  hat,  dieselbe  Denk- 
weise auch  auf  die  Familie  und  das  ganze  Volk  ausgedehnt 
wird.  Demgemäss  werden  alle  Uebel,  die  das  Volk  treflFen,  als 
Strafe  und  Zorn  Gottes  betrachtet,  alles  Gute  und  Glück  als 
Belohnung  und  Gnade  des  Herrn.  Und  mithin  muss  die  Kunst 
und  Methode  dieser  religiösen  Logik  darin  bestehen,  alle  Dinge 
und  Ereignisse,  die  irgendwie  in's  Bewusstsein  der  Menschen 
treten,  unter  einen  Gesichtspunkt  zu  stellen,  wodurch  sie  mit  den 
beiden  alles  beherrschenden  Beziehungspunkten,  nämlich  der 
Selbstsucht  des  Ichs  und  dem  zugehörigen  Gott  des  Zornes  oder 
der  Gnade  vermittelt  werden  können.  Stirbt  z.  B.  das  Vieh  an 
einer  Seuche,  so  ist  dies  ein  Uebel.  Dem  Uebel  entspricht  aber 
subjectiv  die  Furcht,  also  die  Schuld  (culpa);  objectiv  der  Zorn. 
Also  war  Gott  in  Zorn  und  sendete  dem  schuldigen  Menschen 
die  Strafe,  und  das  Ereigniss  ist  so  von  der  religiösen  Per- 
spective aus  erklärt. 

Der  Mensch  hat  im  Anfang  nur  mit  lebenden 
Wesen,  wie  er  selbst  ist,  zu  thun.  Trotzdem  wird 
er,  wie  die  alten  Religionen  tiberall  bezeugen,  die  Welt  alsbald 
in  zwei  Gebiete  trennen.  Das  erste  Gebiet  umfasst  ausser  den 
Menschen  auch  die  Thiere,  die  er  als  seines  gleichen  im  engeren 
Sinne  betrachtet,  da  er  mit  ihnen  zusammen  lebt  und  sie  leicht 
versteht,  wie  Kinder,  die  nicht  zu  voller  Vernunft  kommen.  Das 
zweite  Gebiet  umfasst  die  übrigen  Dinge.  Diese  theilen  sich 
wieder  in  Himmel  und  Erde,  die  Erde  in  Land  und  Wasser,  der 
Himmel  in  Luft  und  Sterne.  Jedes  von  diesen  aber  kann  wieder 
in  viele  verschiedene  Erscheinungen  unterschieden  werden.  Im 
Anfang  wird  der  Mensch  nun  seine  Aufmerksamkeit  nur  dem  zu- 

Telcbmnller.  BellgionaphikMophie.  u  g  ,zdl7üy  GoOQIc 


258  Religion  der  Furcht. 

wenden,  was  ihm  gefahrlich  oder  erfreulich  wird,  und  das  Uebrige 
als  gleichgültig  Gegebenes  ausser  Acht  lassen.  Welches  Element 
aber  gerade  die  Aufmerksamkeit  in  seinen  Wandlungen  beschäftigt, 
das  wird  zu  einem  Dämon,  der  mit  ihm  in  näherer  Lebens- 
beziehnng  steht.  So  ist  es  natürlich,  dass  ilir  Menschen  an 
grossen  Strömen  oder  am  Meere  der  Wassergott  die  Hauptrolle 
spielt,  für  andere,  die  etwa  durch  Gewitter  besonders  leiden  oder 
durch  Waldbrände  und  entsetzliche  Petroleumquellen  mit  ihren 
Entzündungen  geängstigt  werden,  der  Feuergott,  Agni,  Indra 
oder  Surtur  oder  wie  er  genannnt  werden  möge,  der  wich- 
tigste sein.  Wo  Erdbeben  häufiger  sind  und  in  der  Nähe  der 
Vulkane,  da  muss  Pluton  oder  Hades  obenan  stehen.  Für  alle 
Völker  aber  wurde  ursprünglich  nothwendig  Sonne  und  Mond 
ein  Gegenstand  grösster  Aufmerksamkeit  und  Verehrung,  weil 
die  Nacht  und  die  Kälte  ftir  den  Menschen  schrecklich  ist  und 
das  Licht  und  die  Wärme  die  wichtigsten  Lebensbedingungen 
sind.  Daher  ist  f^onnencult  bei  allen  Naturvölkern  ohne  Weiteres 
vorauszusetzen;  denn  auch  wo  die  Sonne  wegen  ihrer  Gluth  Ver- 
derben bringt,  ist  sie  grade  als  der  gefährliche  und  böse  Gott 
verehrt.  Damit  steht  dann  in  Zusammenhang,  dass  die  täglichen 
und  jährlichen  Schicksale  der  Sonne  und  die  monatlichen  des 
Mondes  überall  die  religiöse  Aufmerksamkeit  erregt  und  überall 
die  Mythologien  mit  mehr  oder  weniger  hübschen  Geschichten 
überschwemmt  haben. 

Enutohnn  Obgleich  nun  alle  kosmischen  Phänomene  noth- 

und  Wesen  der    wcudig  pcrspccti visch  auf  dcu  Mcnschcu  bezogen 

Mythologie,     ^^„j.^^^jj^  g^,  ^^^^^^^^  ^^j^  obcu  S.  134  ausgcftlhrt,  die 

Elemente  doch  in  Kampf  gegeneinander,  so  dass  oft  erst  aus 
dem  Sieg  des  einen  oder  des  anderen  der  glückliche  oder  un- 
glückliche Ausgang  für  den  Menschen  sich  ergab.  Dadurch  allein 
wurde  es  miiglich,  dass  sich  eigentliche  Göttergeschichten,  d.  h. 
eine  objective  Vorstellung  von  dem  Charakter,  dem  Leben  und 
den  Schicksalen  der  Götter,  bilden  konnten,  wie  z.  B.  der  Kampf 
des  Indra  mit  Wertra  oder  in  der  Edda  der  Kampf  Thor's  mit 
Thrym;  denn  da  der  Mensch  häufig  nicht  unmittelbar  mit  leidet, 
sondern  nur  mit  Aengsten  und  Schauder  die  Naturereignisse  be- 
trachtet, 80  musstc  sich  ihm  nach  der  Analogie  mit  menschlichen 
Vorgängen,  welches  die  einzig  mögliche  Analogie  für  seine  Logik 
war,  eine  Göttergeschichte  ergeben. 

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Allgemeinere  Fragen.    Mythologie.  250 

Zu  diesen  Göttern  aber  kamen  noch  andere,  die  man  fiilsch- 
lich  flir  Abstractionen  einer  späteren  Zeit  hält.  Da  das  Leben 
nämlich  durch  die  reichere  Zahl  der  Familicnglieder  gefördert 
und  widerstandsfähiger  wurde,  so  war  die  Sorge  für  Nach- 
kommenschaft eine  der  wichtigsten.  Es  zeigte  sich  aber,  dass 
die  Fruchtbarkeit  durchaus  nicht  von  dem  Menschen  allein  abhing. 
Bei  dem  Menschen  wie  bei  dem  Vieh  traten  Versagungen  der 
Wünsche  ein ;  also  war  eine  unsichtbare  Macht  im  Spiele.  Darum 
erhalten  die  Götter  und  Göttinnen  der  Geburt,  und  zwar  meist 
in  rohen  Symbolen  vorgestellt,  in  vielen  Culten  eine  hervor- 
ragende Rolle.  Ebenso  geheimnissvoll,  wie  die  Geburt,  kam  der 
Tod.  Da  nun  das  Sterben  flir  die  Zuschauer  schreckensvoll  ist, 
so  wurde  der  Tod  auch  von  Jedem  gefürchtet  und  als  ein  grosses 
oder  das  grösste  Uebel  betrachtet,  und  mithin  die  verborgene 
Ursache  als  Gott  verehrt.  Der  Todesgott  als  Jama  oder  als  die 
Keren  musste  dann  nothwendig  in  der  Erde  seinen  Sitz  erhalten, 
wo  er  als  Hei  oder  Hades  alles  empfing,  weil  die  Ideenasso- 
ciation  mit  dem  Grab  den  Beziehungsfaden  knüpfte.  Wo  die 
Leichen  regelmässig  von  Geieni  gefressen  ^vurden,  konnte  der 
Tod  nicht  unter  der  Erde  thronen,  sondern  musste  im  Unbe- 
stimmten hausen.  Ueberall  hier  ist  aber  nicht,  wie  man  wähnt, 
eine  bloss  logische  Abstraction  vorgenommen,  indem  man  etwa 
die  vielen  vorkommenden  Geburten  und  Todesfiille  zu  der  allge- 
meinen Vorstellung  Tod  und  Geburt  vereinigt  und  personificirt 
hätte,  sondern  der  Gedankengang  war  von  der  Furcht  getrieben 
und  spürte  den  Ursachen  nach,  um  sie  in  ganz  lebendigen  Göttern 
zu  finden,*  die  ihre  Eigenschaften,  Sitten  und,  was  sie  lieben  oder 
hassen,  ganz  natürlich  aus  den  näheren  Umständen  der  Phänomene 
selbst  und  aus  den  zugehörigen  Gefühlen  des  Menschen  erhalten 
mussten.  Ich  kann  nicht  umhin,  auch  solche  Götter  und  Dämonen, 
wie  die  Wuth  (Lyssa)  und  die  Eris  nicht  ftir  Abstractionen  zu 
halten;  denn  wer  das  verzerrte  Gesicht,  die  rothen  Augen,  das 
wilde  Haar,  die  grässlichc  Stimme  des  Wüthenden  zuerst  mit 
Schrecken  erblickte,  der  konnte  das  Phänomen  nicht  aus  dem 
sonst  wohlbekannten  früheren  Gesichte,  das  ja  ganz  anders  war, 
erklären;  ebenso  also  wie  für  den  plötzlich  eintretenden  Sturm 
ein  Gott  gefordert  wurde,  weil  das  Phänomen  aus  der  früher 
ruhigen  Luft  nicht  erklärt  werden  konnte,  so  musste  sich  auch 
die  Wuth   als  ein  Dämon   ergeben,    der  plötzlich  den  Menschen 


260  Religion  der  Furcht. 

ergreift  und  seine  eigenen  grässlichen  Züge  in  dem  Wüthenden 
zum  Ausdruck  bringt.  Und  es  ist  ja  auch  von  heute  bekannt, 
dass  die  Jähzornigen  ihre  Anfälle  fürchten  und  das  Gefühl  haben, 
von  einer  fremden  dämonischen  Macht  besessen  zu  werden,  da 
sie,  zur  Vernunft  gekommen,  die  Verwüstungen  und  Verletzungen, 
die  sie  angerichtet,  mit  Schmerz  betrachten  und  nicht  auf  sich 
beziehen  können,  weil  sie  „nicht  bei  sich"  oder  weil  sie  „ausser 
sich"  waren. 

Wenn  wir  nun  diese  verschiedenen  Götterentstehungen  zu- 
sammenfassen und  als  zweiten  Beziehungspunkt  hinzunehmen, 
dass  sich,  wie  oben  S.  131  gezeigt,  die  Vorstellungen  im  Bewusst- 
sein  immer  nach  der  Ideenassociation  und  hier  im  Besonderen 
nach  der  Analogie  mit  dem  menschlichen  Leben  verknüpfen,  so 
ist  einleuchtend,  dass  sich  die  Götterlehre  in  der  Religion  der 
Furcht  zu  einer  Mythologie  ausbilden  musste,  d.  h.  zu  einer 
phantastischen  Welt,  in  welcher  Götter  und  Dämonen  die  Helden 
waren,  Himmel,  Erde  und  Unterwelt  den  Schauplatz  bildeten  und 
Menschen  und  Vieh  theils  als  Zuschauer,  theils  als  Mitagenten 
erschienen. 

Man  hat  nun  früher  häufig  geglaubt,  dass  die 
^**^ to  ^^^^°'  Erforschung  dieser  verschiedenen  Mythologien  ein 
ein  Gogenaund  Gcgeustaud  dcr  Philosophic  wäre.  Dafür  gäbe  es 
phuosopwe  ist  *^^^  keinen  anderen  Grund,  als  dass  die  exacten 
Specialwissenschaften  sich  früher  mit  diesem  Gegen- 
stande noch  nicht  abgegeben  hatten  und  man  gewohnt  war,  das 
allgemeine  Interesse  an  der  Erforschung  aller  Dinge  Philosophie 
zu  nennen.  Darum  bildete  man  sich  auch  ein,  es  hätten  all- 
mählich die  Specialwissenschaften,  wie  die  Medicin,  Astronomie, 
Mathematik  u.  s.  w.  der  Philosophie,  die  früher  Alles  in  sich 
gefasst  hätte,  ihren  Inhalt  weggenommen.  Das  ist  aber  eine  un- 
gebildete Auffassung,  denn  wenn  auch  ursprünglich  die  soge- 
nannten Weisen  oder  Philosophen  allen  Wissensstoff  umfassten, 
so  thaten  sie  dies  doch  nicht  durch  Philosophieren  oder  durch 
Philosophie,  sondern  durch  die  jedesmal  zugehörigen  Erkenntniss- 
quellen, nach  denen  sich  damals,  wie  jetzt,  ein  specielles  Gebiet 
des  Wissens  erforschen  Hess.  Darum  könnte  man  die  ersten 
Philosophen  ebenso  gut  Aerztc  und  Musiker  und  Astronomen 
nennen  und  behaupten,  die  Medicin  oder  die  Astronomie  hätte 
alle  übrigen  Wissenschaften  früher  mit  umfasst    Es  wäre  dies 

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Allgemeinere  Fragen.     Mythologie.  261 

ebenso  falsch^  wie  wenn  man  dies  jetzt  von  der  Philosophie  be- 
hauptet. Die  Philosophie  ist  nur  das  Bewusstsein  des  Geistes 
über  sich  selbst,  seine  Thätigkeiten  und  ihre  Formen;  hat  aber 
nichts  zu  thun  mit  irgend  einem  durch  die  Sinne  gegebenen  be- 
sonderen Gegenstande,  der  phänomenologisch  neben  anderen 
Gegenständen  aufgefasst  und  erkannt  wird.  Ebenso  wenig  wie 
die  Mathematik  mit  den  Bewegungen  der  Sterne  zu  thun  hat, 
(obwohl  früher  allein  die  Mathematiker  sich  mit  diesen  Fragen 
beschäftigten,  und  die  Astronomen  sogar  schlechtweg  die  „Mathe- 
matiker** genannt  wurden,)  ebenso  wenig  hat  die  Philosophie  mit 
Medicin,  Philologie  u.  s.  w.  zu  thun.  Und  ebenso  wenig  wie 
jemals  der  Mathematik  ihr  Wissensgebiet  entrissen  werden  könnte, 
so  kann  auch  der  Philosophie  niemals  das  kleinste  Stück  ihres 
Gebietes  entzogen  werden,  da  eine  Annexion  nur  möglich  wäre, 
wenn  der  Annectirende  die  Gegenstände  der  Philosophie  betriebe 
und  die  philosophische  Erkenntnissquelle  und  Methode  benutzte, 
d.  h.  wenn  er  die  Philosophie  in  ihrer  Integrität  anerkannte* 
Es  ist  aber  ungebildet,  zwischen  Philosophie  und  Philosophen 
nicht  unterscheiden  zu  können  und  das,  was  die  Philosophen 
thun  und  lassen,  der  Philosophie  zuzuschreiben.  Darum  war  es 
ein  logischer  Fehler,  die  Philosophie  mit  der  Erforschung  der 
Mythologien  zu  belasten.  Die  Philosophie  allein  von  allen  Wissen- 
schaften kann  sagen,  was  Mythologie  ist  und  wie  sie  entsteht, 
sie  hat  aber  mit  keiner  einzelnen  Mythologie  zu  thun,  sondern 
diese  gehört  den  Specialgebieten  der  Wissenschaften  an,  und  ihre 
Erforschung  hängt  von  den  speciellen  Kenntnissen  der  Sprachen, 
der  Litteratur,  der  Geschichte,  der  Archäologie  und  Ethnologie 
ab.  Die  Philosophie  hat  in  diesen  Fachuntersuchungen  nicht 
mitzusprechen.  Auch  die  Eintheilungen,  nach  denen  man  diese 
mythologischen  Religionen  ordnet,  indem  man  sie  ethnographisch 
oder  geschichtlich  oder  sprachlich  oder  archäologisch  gruppirt, 
gehen  die  Philosophie  nicht  an.  Wenn  aber  über  den  Werth 
und  Sinn  der  Mythologien  gesprochen  werden  soll,  so  ist  dies 
sofort  die  Sache  der  Philosophie,  da  die  kritischen  Gesichts- 
punkte im  Gebiete  des  reinen  Geistes  liegen.  Die  Philosophie 
kann  darum  keine  Classification  der  Religionen  nach  ihrem  Werthe 
oder  ihrer  Wahrheit  irgend  einer  Specialwissenschaft  jemals 
überlassen,  sofern  die  Specialwisscnschaft  nicht  vorher  die  Ge- 
sichtspunkte  der  Kritik   von  der  Philosophie  entlehnt  hat,   was 

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262  Religion  der  Furcht. 

80  viel  heisst,   als   dass   diese  Ordnung  eine  Sache   der  Philo- 
sophie ist 

Q^j^jj  Ich  will  hier  nun   die  Eintheilungen  der  Reli- 

der  griechitfcben  gioueu  uicht  wcitcr  vcrfolgcu,  da  sie  unserem  spe- 
Mythoiogie.  cujativcn  Interesse  fern  liegen.  Es  sind  nur  zwei 
Punkte,  welche  unsere  Aufmerksamkeit  verdienen.  Zunächst  die 
merkwürdige  Bewunderung,  welche  man  seit  dem  Wiederei'wachen 
der  schönen  Künste  und  in  der  Philosophie  besonders  seit  Schelling 
und  Hegel  deq  Griechen  und  ihrer  Mythologie  gewidmet  hat. 
Der  Grund  liegt  auf  der  Hand;  man  berauschte  sich  nämlich  in 
den  griechischen  Dichtungen  und  in  der  Schönheit  der  plastischen 
Kunstwerke  und  schrieb  nun  seine  Genüsse  den  Göttern  unter 
ihr  Guthaben.  Die  Kunst  und  ihre  Gesetze  wurden  dadurch 
zum  Kriterium,  um  den  Werth  einer  Religion  zu  messen,  und 
man  eilte,  die  unförmlichen  Götzenbilder  und  die  vielköpfigen, 
vielarmigen,  elephantenrüsseligen  und  thierartigen  Götter  der 
Aegypter,  Inder  und  der  ganz  barbarischen  Völker  herabzusetzen. 
Allein  es  ist  völlig  unphilosophisch,  die  griechische  Religion,  wie 
Hegel  thut,  eine  Religion  der  Schönheit  zu  nennen  und  den  Brah- 
manismus  und  Buddhismus  als  Religion  der  Zauberei  herunter- 
zusetzen, da  die  eigenthümliche  Form  der  Frömmigkeit  und  die 
zugehörige  Dogmatik  mit  der  Entwickelung  der  Kunst  nicht 
wesentlich  zusammengehören.  Bei  Homer  werden  uns  durch  die 
Poesie  die  Götter  als  menschlich  schön  dargestellt,  wie  später 
in  der  Bildhauerkunst;  die  Vorstellungen  von  den  Göttern  blieben 
aber,  wie  bei  Homer,  noch  viele  Jahrhunderte  lang  so  roh,  dass 
die  Seele  der  Götter  mit  allen  Leidenschaften  und  Verbrechen 
beladen  wurde,  wie  bei  den  verworfensten  Menschen,  und  dass 
die  Zauberei  bei  der  Wirksamkeit  der  Götter  und  im  Cultus  immer 
eine  grosse  Rolle  spielte.  Hegel  sagt:  „Im  Zeus  des  Phidias 
schauten  die  Griechen  ihren  Gott  an.  Was  für  die  Phantasie 
manifcstirt  und  hingestellt  wird,  ist  die  Gestalt  eines  Gedankens. 
Dadurch  ist  die  griechische  Religion  die  Religion  der  Schönheit*' 
(S.  103 II).  Dies  Räsonnemcnt  ist  unglaublich  leichtfertig;  man 
könnte  darnach  ebenso  schliessen,  dass  das  Christenthum,  weil 
Michel  Angelo  den  Christus  und  die  Maria  nackt  dargestellt  habe, 
die  Religion  der  Nacktheit  sei.  Aber  nicht  nur  die  Folgerichtig- 
keit fehlt  dem  Heger  sehen  Schluss,  sondern  er  ist  auch  materiell 
unrichtig;  denn  es  gab  Jahrhunderte  lang  vor  Phidias  und  vor 

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Allgemeinere  Fragen.    Mythologie.  263 

aller  schönen  Bildhauerkunst  eine  griechische  Religion,  die  also 
damals  keine  Religion  der  Schönheit  hätte  sein  können.  Auch 
waren  die  eigentlichen  Cultgötter,  wie  der  vom  Himmel  gefallene 
Pallasklotz,  keine  schönen  menschlichen  Gestalten.  Auch  kann 
man  seinen  Gott  in  einer  schönen  Bildsäule  anschauen  und  doch 
in  seinen  Gedanken  sehr  hässliche  Dinge  von  ihm  fürchten,  wie 
dies  die  griechische  Religion  überall  an  den  Tag  legt.  Die  Bild- 
hauerkunst hat  sich  darum  zwar  an  die  Religion  angeschlossen, 
aber  insofern  auch  Medusen  und  Gorgonen  hervorgebracht,  Zeus 
als  Schwan  und  Stier  dargestellt  u.  dcrgl.,  und  man  thut  gewiss 
besser,  anzunehmen,  dass  die  Bildhauerkunst  sich  nicht  unmittel- 
bar und  nicht  allein  durch  die  Religion,  sondern  ndttelbar  durch 
die  Dichtkunst  und  fremde  Kunsteinflüsse  entwickelt  hat.  Wer 
Pindar  und  Platon's  Staat  gelesen,  wird  unmöglich  der  griechischen 
Religion  die  Schönheit  des  Gottes  zuschreiben,  und  wer  des 
Aristoteles  Absagebrief  an  die  griechische  Religion  kennt,  der 
kann  Hegel's  Classificinmg  nicht  mehr  anYiehmen.  Im  Grunde 
ist  bei  Hegel  ja  auch  nur  das  Bedtirfniss  vorhanden,  der  Religion 
des  Erhabenen,  wie  er  die  Jehovahreligion  nennt,  eine  Religion 
der  Schönheit  gegenüberzustellen,  und  da  fielen  ihm  die  schönen 
Bildsäulen  der  Griechen  ein;  in  der  Ausführung  im  Einzelnen, 
die  ausserdem  sehr  dilettantisch  ist,  merkt  man  bei  Hegel  nichts 
von  der  Schönheit  des  Gottes. 

Geht  man  aber  wirklich  auf  den  Geist  des  griechischen 
Cultus  ein,  so  erkennt  man  gleich,  dass  er  im  Wesentlichen  aus 
einer  Religion  der  Furcht  stammt,  obgleich  sich  später  allerdings 
auch  sittliche  Elemente  einmischten.  Die  Griechen  selbst  wurden 
aber  früher  gesittet  als  ihre  Götter,  die  nur  die  Widerspiegelung 
davon  abbekamen.  Wenn  die  Götter  sittliche  Gesetze  vertreten 
hätten,  so  wäre  z.  B.  der  Witz  des  Euripides  im  Jon  (v.  442) 
nicht  möglich  gewesen.  Er  sagt:  „Wenn  Ihr  Götter  flir  jede 
Nothzucht  Busse  gäbt  den  Sterblichen,  Du  Phöbos,  wie  Poseidon, 
oder  Zeus,  des  Himmels  Herr:  so  müsstet  Ihr,  um  Euer  Unrecht 
zu  bezahlen,  die  Schätze  Eurer  Tempel  ausleeren!"  Und  an 
einer  anderen  Stelle  (v.  1290)  drückt  er  sehr  deutlich  die  traurige 
Lage  aus,  in  der  sich  der  Fromme  in  Griechenland  befand,  der 
keine  göttlichen  Gebote  vom  Sinai  erhalten  hatte :  „Schlimm,  dass 
ein  Gott  den  Menschen  nicht,  wie's  billig  ist,  und  nicht  in  weis- 
heitsvollem Sinn,  Gesetze  gab."     Wir    können   daher   über  die 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


264  Religion  der  Furcht. 

griechische  Religion  kaum  anders  als  die  Kirchenväter  urtheilen, 
die  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  des  heidnischen  Gultus 
standen  und  daher  den  wirklichen  Zustand  des  religiösen  Gemüthes 
des  Volkes  wohl  erkannten.  Deshalb  müssen  wir  die  abenteuer- 
liche Bewunderung  dieser  „Religion  der  Schönheit^^  aufgeben  und 
uns  nicht  durch  die  nebenherlaufende  Kunstentwickelung  irre 
machen  lassen.  Die  Götler  der  Griechen  sind  ursprünglich  ohne 
Sittlichkeit,  ihr  Verhältniss  zu  dem  Froumien  ist  durch  Dienst 
und  Opfer  oder  durch  Vernachlässigung  ihrer  angeblichen  Interessen 
entstandene  Gunst  oder  Missgnnst,  Freundschaft  und  Gefälligkeit 
oder  Hass  und  Rache.  Die  Götter  sind  bestechlich  und  neidisch, 
untereinander  feindselig,  zu  Betrug  geneigt  und  gegen  die  Menschen 
unzuverlässig.  Was  wir  an  Adel  der  Gesinnung,  an  Ehrwürdig- 
keit von  Gesetz  und  Recht,  an  Weisheit  und  Schönheit  bei  der 
griechischen  Götterlehre  anerkennen,  das  stammt  grösstentheils 
aus  der  Philosophie,  sofern  es  nicht  vom  Auslande  entlehnt  ist. 


§  4.    Der  Islam. 

i)a  es,  wie  gesagt,  unsere  Aufgabe  nicht  ist,  die  einzelnen 
in  der  Geschichte  aufgetretenen  Religionen  der  Furcht  zu  studiren 
und  einzutheilen,  so  bleibt  uns  nur  ein  letzter  Punkt  zur  Er- 
örterung ül)rig.  Ich  möchte  nämlich  gern  die  höchste  und 
historisch  bedeutsamste  Religion  namhaft  machen,  an  welcher 
wir  die  EigenthUmlichkciten,  welche  allen  Religionen  der  Furcht 
zukommen,  in  der  reinsten  und  gebildetsten  Form  vor  Augen 
haben.  Von  den  grossen  Religionen,  die  noch  heute  leben,  nämlich 
der  christlichen,  brahmanischen,  buddhistischen,  jüdischen  und 
arabischen,  ist  es  aber  nur  die  letztere,  welche  das  ganze  Wesen 
der  Furchtreligion  in  typischer  Reinheit  und  grundsätzlich  enthält. 
Um  unser  Urtheil  darüber  zu  befestigen,  betrachten  wir  den 
Islam  nach  seiner  Gottesvorstellung,  nach  der  ethischen  Seite 
und  nach  dem  Cultus. 

1.  Dogmatil  Dass  der  Islam  die  höchste  Furchtreligion 
ist,  sieht  man  daraus,  dass  die  unklaren  Vorstellungen  der  einzel- 
neu Götter  alle  verschwunden  sind  und  das  Object  des  frommen 
Gemtiths  zu  einem  einzigen  in  der  ganzen  Welt  und  über  sie 
gebietenden  Gotte,   zu  Allah,  geworden  ist    Dieser  Gott  blieb 

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AUgemeinere  Fragen.    Der  Islam.  265 

aber  der  alte  Furchtgott,  weil  das  einzige  Motiv,  auf  welches  alle 
religiöse  Vorstellungen  im  Koran  begründet  werden,  die  Macht  ist. 
Es  werden  zwar  manche  wohlmeinende  Menschen,  die  vor  jedem 
strengen  und  herben  Urtheil  erschrecken  und  überall  auch  etwas 
Gutes  anerkennen  möchten,  im  Koran  viele  auf  die  Weisheit  und 
Gerechtigkeit  und  Güte  Allahs  hindeutende  Sprüche  hervorheben; 
allein  wir  können  ihnen  nicht  willfahren;  denn  diese  schönen 
Beigaben  sind  aus  den  reichen  Schatzkammern  der  jüdischen  und 
christlichen  Keligion  geholt  und  gehören  nicht  wesentlich  zum 
Islam,  da  der  Moslem  seinen  Allah  nicht  deswegen  verehrt,  weil 
er  gütig  und  weise  ist,  sondern  weil  er  die  höchste  Macht  hat 
Deshalb  wird  die  völlige  Unbegreiflichkeit  der  Rathschläge 
Gottes,  seine  völlige  despotische  Willkür,  die  durch  kein 
erkennbares  sittliches  Gesetz  und  durch  keine  ideale  Wahrheit 
motivirt  ist,  überall  in  den  Vordergrund  gestellt.  Gäbe  es  im 
Islam  noch  irgend  ein  anderes  Princip  ausser  der  Macht,  so 
müsste  eine  vernünftige  Weltordnung  und  Weltökonomie  hervor- 
treten; wir  finden  aber  bloss  das  starre  Schicksal,  d.  h.  die 
dem  Zufall  und  der  Laune  gleichende  Machtäusserung  Allahs. 
Ich  habe  hierüber  schon  in  einer  Abhandlung  (Charakteristik  der 
Araber,  in  der  Baltischen  Monatsschrift,  Bd.  XXVI,  Heft  1)  ge- 
nauere Rechenschaft  gegeben  und  verweise  darauf  zurück. 

Es  ist  aber  interessant  zu  erforschen,  wie  dieser  immerhin 
grossartige  Monotheismus  entstehen  konnte;  denn  die  Furcht- 
religion fordert  eigentlich  einen  Polytheismus,  da  die  ganze  pro- 
jectivische  Theologie  immer  den  Inhalt  des  projicirenden  Geistes 
mitnehmen  muss  und  also  der  Gott  nothwendig  die  ganze  phan- 
tasievolle Umgebung  der  Furcht  als  Ausstattung  und  Mitgift 
empfangt,  wie  dies  auch  alle  die  verschiedenen  Religionen  dieser 
Stufe  bei  •  ihrer  Gottesbijdung  offen  zeigen.  Ich  kann  daher  nicht 
ftlr  möglich  halten,  dass  Allah  sich  hätte  durch  blosse  Denkkraft 
eines  gut  abstrahirenden  Arabers  bilden  können,  da  selbst,  wenn 
Mohammed  erobernd  vordrang  und  sich  vornahm,  alle  Völker  zu 
unterwerfen  und  sie  entweder  zu  bekehren  oder  zu  vernichten, 
oder  tributär  zu  machen,  dabei  etwas  anderes,  als  ein  Mon- 
archismus nach  der  Art  des  Zeus  entstehen  konnte,  vor  dem 
die  übrigen  Götter  zittern.  Es  fehlt  also  durchaus  ein  hin- 
reichender Erklärungsgrund  ftlr  die  Abschaffung  des  Götzen- 
dienstes und  die  Einführung  des  reinen  Monotheismus  bei  einem 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


266  Religion  der  Furcht. 

Propheten,  der  wie  sein  Volk  gänzlich  auf  dem  Standpunkte  der 
Religion  der  Furcht  stehen  blieb. 

Da  nun  keine  Psychologie  und  Logik  unser  Problem  lösen 
kann,  so  mtissten  wir  einen  weiteren  Schritt  thun;  denn  nur  die 
zweite  Stufe  der  Religion  ist  fähig,  die  Götzen  zu  vernichten 
und  eine  monotheistische  Theologie  zu  schaffen.  Allein  dieses 
Lösungsmittel,  welches  allerdings  sehr  einfach  und  zwingend  wäre, 
könnte  uns  dennoch  nicht  dienen,  da  im  Islam  das  Rechtsbewusst- 
sein  und  die  Sünde  nirgends  hervortritt  und  mit  dem  Wesen 
dieser  Religion  überhaupt  nichts  zu  thun  hat.  Also  versagt  uns 
auch  dieser  Versuch. 

So  bleibt  nur  die  historische  Erklärung  übrig,  die  aber  auch 
Alles  leistet,  was  wir  hier  verlangen  müssen.  Der  Prophet 
wurde  nämlich  durch  das  Juden thum,  also  durch  eine 
moralische  Religion,  mit  der  Einheit  Gottes  bekannt  und 
konnte  daher  den  Polytheismus  abschütteln.  Da  ihm  aber  das 
Christenthum  nur  in  ganz  verrotteter  Gestalt,  in  Legenden  und 
Mariacult,  entgegentrat,  und  er  auch  nicht  die  Bildung  besass, 
eine  höhere  Einsicht  in  die  Lehre  der  Kirchenväter  zu  nehmen, 
so  blieb  ihm  der  Sinn  des  Christenthums  verschlossen.  Da  er 
zugleich  in  seiner  ganzen  Persönlichkeit  und  durch  die  Instincte 
seines  Volkes  nur  auf  Macht  und  Herrschaft  ausging  und  die 
sittlichen  Motive  nicht  die  Quelle  seiner  religiösen  Ueberzeugung 
gewesen  waren,  so  konnte  es  gar  nicht  anders  kommen,  als  dass 
sich  in  strenger  Coordination  mit  diesen  gegebenen  Beziehungs- 
punkten der  kahle  und  despotische  Monotheismus  des  Islam  aus- 
bildete, der  hierdurch  vollständig  erklärt  ist. 

Dieser  Ursprung  Allahs  wird  nun  auch  dadurch  confirmirt, 
dass  es  weder  Mohammed  noch  seinen  späteren  theologischen 
Interpreten  je  gelingen  konnte,  ein  denkbares  Wesen  aus  ihrem 
Gottc  zu  machen,  der  bloss  die  Abstraction  der  Macht  und  des 
Despotismus  in  sich  enthält,  ohne  dass  irgend  eine  gebildete 
Metaphysik  oder  sinnige  Naturbetrachtung  ihn  zu  einem  wirk- 
lichen Wesen  und  zu  einer  gewissen  Natürlichkeit  hätte  erziehen 
können.  Er  bleibt  vielmehr  ein  von  einer  fremden,,  höheren 
Religion  erborgter  Begriff,  der  mithin  völlig  undurchdring- 
lich und  unverständlich  ist  und  über  dessen  Zusammenhang 
mit  der  uns  bekannten  Welt,  sowie  über  seinen  Wohnort,  seine 

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Allgemeinero  Fragen.    Der  Islam.  267 

Natur  und  Eigenschaften  sich  kein  yernünftiges  Wort  sagen 
lässt,  da  er  mit  der  alten  Religion  der  Furcht  nur  insofern  ver- 
knüpft wurde,  als  man  den  geforderten  Grund  der  Furcht  in  ihn 
projiciren  konnte.  Mithin  muss  nun  Alles  vor  ihm  zittern,  wie 
er  andrerseits  auch  alle  die  Belohnungen  verleiht,  die  man  sonst 
von  den  Götzen  erhielt. 

2.  Ethik.  Dementsprechend  ist  der  Gemtithszustand  des 
Gläubigen  nur  durch  die  beiden  Gefühle  der  Furcht  und  der 
Hoffnung  zu  charakterisiren.  Der  Macht  gegenüber  giebt  es 
eben  keine  andere  zugehörige  Empfindung  als  Furcht,  und  diese 
Furcht  muss  vor  der  unbedingten,  durch  keine  Ueberredung  zu 
leitenden  Macht  zur  stumpfen  Resignation  werden.  Allah  ist 
gross,  es  giebt  keinen  Gott  ausser  Gott;,  er  straft  seine  Feinde 
hier,  er  macht  ihre  Gesichter  gleich  dem  Hintern  (d.  h.  er  lässt 
ihnen  Nase  und  Ohren  abschneiden);  er  bedroht  sie  mit  dem 
Tage,  wo  die  Herzen  und  Augen  der  Menschen  unruhig  werden, 
wo  sie  in  brennendem  Winde  und  siedend  heisscm  Wasser  sitzen 
müssen.  Er  verlangt  unbedingte  Unterwerfung,  indem  die  Gläu- 
bigen, d.h.  die  in  Furcht  Versetzten,  ihre  Selbstsucht  zu  Rathe 
ziehen  und  sich  überzeugen,  dass  es  am  Vortheilhaftesten  ist, 
sich  diesem  Einen  allermächtigsten  Wesen  ganz  zu  ftigen.  Darum 
werden  ihnen  für  ihre  Unterwerfung  dann  auch  irdische  und 
himmlische  Belohnungen  in  Aussicht  gestellt,  um  sie  durch  die 
zugehörige  Hoffnung  zu  reizen;  denn  die  Frommen  werden  im 
Paradiese  Schalen  fliessenden  Weines  trinken,  der  den  Kopf 
nicht  schmerzen  und  den  Verstand  nicht  trüben  wird;  sie  werden 
Jungfrauen,  die  immer  Jungfrauen  bleiben,  erhalten  mit  grossen 
schwarzen  Augen,  und  werden  ruhen  auf  weichen  Kissen  und 
mit  Seide  und  Gold  bekleidet  sein  u.  s.  w. 

Es  ist  also  in  dieser  grossen  Religion  der  Furcht  keine  Spur 
sittlichen  Geistes,  sondern  nur  die  Selbstsucht  massgebend  mit 
der  Berechnung  von  Lohn  und  Strafe  nach  den  Affekten  von 
Furcht  und  HoflFnung. 

3.  C  u  1 1  u  8.  Dass  wir  nicht  mit  einer  moralischen  Religion 
zu  thun  haben,  sieht  man  aus  dem  Verkehr  des  Menschen  mit 
Gott;  denn  es  dreht  sich  dabei  nirgends  um  die  Sünde  und  die 
Schmerzen  des  Gewissens,  sondern  nur  um  den  Willen  eines 
Despoten,  dem  man  blind  gehorchen  muss,  und  den  man,  wenn 

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268  Religion  der  Furcht. 

sein  Gebot  tibertreten,  durch  gewisse  Opfer  an  Geld  und  Gut 
leicht  wieder  versöhnt,  da  es  ihm  bloss  darauf  ankommt,  dass 
seine  unbedingte  Macht  und  öouveränetät  anerkannt  wird.  Dem- 
gemäss  ist  der  Cultus  nur  Lobpreisung  des  Einen  allerhöchsten 
Herrn  und  cynische  Selbsterniedrigung,  indem  die  Gläubigen  sich 
in  den  Staub  werfen  vor  Allah,  dem  einzigen  Herrn.  Es  kann 
nicht  fehlen,  dass  bei  der  Abwesenheit  von  allem  Verständniss 
Gottes  auch  die  Zauberei  in  dieser  Religion  wuchern  musste. 
Darum  sind  diese  Verächter  des  Götzendienstes  selbst  in  die 
Knechtschaft  von  allen  möglichen  rituellen  Vorschriften  gekommen, 
die  sie  ängstlich  beobachten.  Beschneidung,  Richtung  beim  Gebet, 
die  Zeiten  des  Gebetes,  die  KoransprUche,  die  heiligen  Oerter 
u.  s.  w.,  alles  dies  hat  Zauberkraft,  und  die  Zauberei  wird  von 
ihren  Derwischen  öffentlich  ausgeübt.  Von  einem  reinen  Herzen 
und  sittlicher  Gesinnung  ist  im  Lande  der  Moslemin  nicht  die 
Rede;  wie  ihr  Gott,  so  sind  sie  selbst  unverantwortliche  Despoten 
im  Hause  und  über  ihre  Sclaven  und  unterwerfen  sich  selbst  als 
Sclaven  ihren  Kalifen  und  ihrer  hohen  Pforte.  Ein  Freistaat  ist 
für  Mohamedaner  undenkbar. 

Der  Islam  ist  der  reinste  Typus  für  die  Religion  der  Furcht, 
die  wir  als  die  unterste  Stufe  des  religiösen  Lebens  erkannten, 
und  er  ist  die  höchste  Form  desselben,  weil  er  mit  der  von 
einer  höhern  Religion  erborgten  zwingenden  Logik  die  Phantasie- 
figuren der  Götzen  und  Götter  beseitigte  und  den  Einen  und 
allgemeinen  BegriflF  des  Mächtigen,  d.  h.  Allahs,  an  die  Spitze 
stellte  und  demgemäss  nüchtern  und  klar  die  Motive  der  Furcht 
und  Hoffnung  als  Grund  der  Religion  offenbarte. 

Dieser  ganzen  Art  der  Religion  entspricht  auch  die  zugehörige 
Beschaffenheit  des  Propheten,  der  sie  offenbart  und  verkündigt. 
Es  dreht  sich  nämlich  nirgends  um  eine  höhere  Natur,  die  sich 
gesetzgebend  an  Menschen  niedrigerer  Sinnesart  wendete  und  die 
durch  Umgang  mit  Gott  zu  einer  aus  dem  Gemeinen  empor- 
gehobenen Form  heiligen  und  vergöttlichten  Daseins  gelangte; 
nein,  der  Gesandte  verkündigte  nachdrücklich,  dass  er  ein  ganz 
gewöhnlicher  Mensch  wäre,  was  wir  ihm  auch  glauben  können. 
Er  lässt  deshalb  seinen  Allah  sagen:  „auch  vor  Dir  (Mohammed) 
haben  wir  (Allah)  keine  anderen  Gesandten  geschickt,  als  nur 
solche,  die  Speise  zu  sich  nahmen  und  in  den  Strassen  einher- 
gingen."    So   macht   er  au^h  in   keiner  Beziehung  höhere  An- 

uiuiiizeu  uy  V^J  v^\J>t  Iv^ 


Allgemeinere  l^Vageii.    Der  Islam.  269 

Sprüche ;  er  stellt  sich  überall  als  ungelehrt  hin,  als  leichtgläubig, 
und  er  will  nicht  einmal,  wie  ein  Zauberer,  die  Schätze  Gottes 
in  seiner  Gewalt  haben  und  bekennt,  dass  er  Gottes  Geheimnisse 
nicht  wisse  und  dass  er  kein  Engel  sei  u.  s.  w.  Kurz  es  ist 
von  einer  aus  höherer  Natur  stammenden  Offenbarung  und  In- 
spiration gar  nicht  die  Rede,  sondern  nur  von  der  Trivialität, 
dass  Gott  sehr  mächtig  und  sehr  fürchterlich  sei,  so  dass  man 
ihm  gehorchen  müsse,  um  Furcht  und  Trauer  los  zu  werden,  und 
dass  man  durch  Almosen  und  andere  äusserliche  Opfer  sich 
den  Schutz  dieses  Herrn  leicht  verschaffen  könne.  Um  Lohn  und 
Strafe,  sinnliche  Lust  und  sinnlichen  Schmerz,  Macht  und  Herr- 
schaft, Furcht  und  Hoffnung  dreht  sich  der  Islam. 


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2.  Die  Religion  der  Sünde  oder 
die  Rechtsreligion. 

Erstes  Capitel. 
Die  zugehörige  Ethili. 


§  1.     Das  Eintheilungsprincip  der  GefQhle. 

Da  wir  sehen,  dass  alle  Geflihle  immer  gewissen  Vorstellungen 
zugeordnet  sind  und  dass  aus  beiden  wieder  zugehörige  Hand- 
lungen hervorgehen:  so  muss  es  unsere  Aufgabe  sein,  die  Gefühle 
in  solcher  Weise  einzutheilen,  wie  sie  ihrer  Natur  nach  wirklich 
von  einander  verschieden  sind,  um  ihnen  entsprechend  dann  die 
zugehörige  Gottesvorstellung  zu  bestimmen. 

Nun  haben  wir  schon  (oben  S.  117)  erkannt,  dass  der  Mensch 
ursprünglich  der  Welt  gegenüber  auf  dem  perspectivischen  Stand- 
punkte steht,  d.  h.  dass  er  alle  Dinge  nur  so  weit  beachtet,  als 
sie  fllr  ihn  da  sind.  Er  ist  nicht  von  Anfang  an  Zoolog  und 
Botaniker,  sondern  Thiere  und  Pflanzen  und  so  auch  alles 
Uebrige  erfasst  er  nur  nach  der  Seite,  wie  er  daraus  Vergnügen 
oder  Schmerz,  Nutzen  oder  Schaden  gewinnt.  Er  selbst  steht 
in  dem  Mittelpunkte  und  bezieht  alles  auf  sich.  Dieser  Auf- 
fassungsweise entspricht  als  Gefühl  die  Selbstsucht,  wozu  wir 
die  ganze  grosse  Gruppe  von  Gefühlen  rechnen  wollen,  die  wie 
Zorn  und  Hass,  Schadenfreude,  Neid,  Furcht  und  Hofl'nung, 
Wehmuth,  Sehnsucht  u.  s.  w.  bloss  auf  Förderung  oder  Hinde- 
rung unseres  Eigenlebens  Bezug  haben.  Denn  da  das  Gefühl 
oder  der  Wille  seinem  Wesen  nach  eine  Beifalls-  oder  Miss- 
fallensbezeugung  ist  zu  dem,  was  wir  wahrnehmen  oder  vor- 
stellen, so  ist  dieser  Wille  als  selbstsüchtig  zu  charakterisiren, 


uiymzeu  uy  x^jv^'v^'^ 


Ethik.  271 

wenn  er  bloss  die  Beziehung  zwischen  dem  Vorgestellten  und 
dem  Ich  ausdruckt,  und  das  Ich  also  nicht  mit  in  den  vor- 
gestellten objectiven  Zusammenhang  aufgenommen  wird,  sondern 
von  einem  solchen  Zusammenhange  noch  keine  Rede  ist  Auf 
diese  Weise  muss  nämlich  das  letzthin  Massgebende  die  körper- 
liehe Lust  und  Unlust  sein,  sofern  das  Ich  in  einer  sinnenfälligen 
Persönlichkeit  erscheint,  und  alle  Gegenstände  in  Beziehung  auf 
dieselbe  als  Gutes  oder  Uebel  charakterisirt  werden.  Wie  der 
Hund,  so  wird  auch  der  bloss  selbstsüchtige  Mensch  Zorn  em- 
pfinden und  Uass,  wenn  man  ihm  die  Nahrung  wegnimmt  oder 
ihn  verletzt.  Auch  die  häufig  als  geistig  betrachteten  Gefühle 
der  Habsucht  schliessen  sich  zunächst  an  die  sinnliche  Ursache 
an,  da  das  Habenwollen  sich  doch  zunächst  nur  auf  solche 
sichtbare  oder  tastbare  Dinge  bezieht,  die  in  unserem  körper- 
lichen Organismus  einen  Genuss  hervorbringen,  wie  der  Hamster 
und  das  Eichhörnchen  ja  ohne  astronomische  Bildung  und  Kalender- 
kenntniss  ihr  Futter  anhäufen.  Denn  es  ist  wohl  eine  recht  fabel- 
hafte Auffassung,  wenn  man  fUr  diese  Anhäufung  von  Mitteln 
zukünftiger  Nahrung  jetzt  in  den  Kreisen  der  Naturforscher  immer 
den  Verstand  und  die  Klugheit  jener  Thiere  verantwortlich  macht, 
während  die  Thatsachen  sich  viel  einfacher  erklären,  wenn  man 
bedenkt,  dass  die  Augen  immer  einen  grösseren  Appetit  haben, 
als  der  Magen.  Der  Anblick  der  Eicheln  und  dergleichen  Nah- 
rangsmittel associirt  sich  mit  dem  zugehörigen  Gefühl  des  Genusses, 
und  mithin  wird  durch  blinde  Ideenassociation  die  occupirende 
und  sammelnde  Thätigkeit  des  Thieres  ausgelöst,  sobald  es  nur 
ein  zugehöriges  Object  sieht,  wenn  demselben  auch  im  Augen- 
blick kein  Genuss  entspricht.  Auch  die  Herrschsucht  beruht 
zunächst  auf  dem  unangenehmen  Geflihle,  dass  durch  Andere 
unser  Vorstellungslauf  gehindert  und  unterbrochen  wird,  und  wir 
zu  anderen  Auffassungen  als  den  unsrigen  genöthigt  werden; 
denn  wer  recht  herrschsüchtig  ist,  der  will,  dass  alles  so  ge- 
schieht, wie  er  es  sich  gedacht  hat,  und  er  zürnt  selbst  dem 
Diener,  der  es  in  des  Herrn  Interesse  besser,  als  befohlen  war, 
machen  wollte.  Die  Art,  wie  wir  alles  denken  und  auffassen, 
ist  eben  unser  eigen,  und  der  Vorstellungslauf  hat  eine  mechanische 
Seite,  weil  er  mit  den  ImieiTationeu  im  Gehirn  zusammenhängt 
und  darum  eine  sinnliche  Lust  bei  bequemem,  ungehinderten 
Lauf,  eine  sinnliche  Unlust  bei  allen  Stockungen  und  erzwungenen 

uiuuizeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


272  Religion  der  Sünde. 

Abänderungen  hervorbringt.  So  ist  auch  bei  Habsucht  und 
Herrschsucht  die  nächste  Ursache  sinnlich,  obwohl  diese  Leiden- 
schafken bei  weiterer  Ausbildung  des  Bewusstseins  von  der  Welt 
natürlich  auch  durch  nicht  sinnliche  Vorstellungen  und  Begriffe 
vermittelt  werden  können. 

Es  muss  sich  demgemäss  eine  ganz  neue  Art  von  Gefßhl 
bilden,  wenn  der  Mensch  den  perspectivischen  Standpunkt  der 
Selbstsucht  verlässt  und  sich  selbst  mit  all  seinem  Eigenthum 
ebenso  betrachten  kann,  wie  er  andere  Menschen  betrachtet.  Wir 
nennen  diese  neue  Betrachtungsweise  in  der  Wisserfschaft  vom 
Räume  die  geometrische,  flir  die  allgemeine  Wissenschaft  aber 
können  wir  siedle  objective  nennen,  da  der  Mensch  auf  diesem 
Standpunkte  sich  selbst  mit  zu  den  Objecten  rechnet.  Eine 
solche  Auffassungsweise  kann  nur  bei  vorgeschrittener  Bildung 
stattfinden  und  tritt  deshalb  auch  bei  unsem  Kindern  erst  später 
ein,  wenn  sie  sich  als  Glied  der  Schule  anderen  Schulen  gegen- 
über, oder  als  Glied  des  Hauses  und  der  Nation  andern  Familien 
oder  Nationen  gegenüber  fühlen.  Es  ist  aber  nur  möglich,  von 
der  perspectivischen  zu  der  objectiven  Weltbetrachtung  über- 
zugehen, wenn  wir  an  der  Stelle  der  Beziehung  der  Dinge  auf 
uns  die  Beziehung  der  Dinge  untereinander  beachten. 
Diese  Beziehungen  haben  nur  Sinn,  wenn  es  gewisse  Zusammen- 
hänge giebt,  die  wir  unter  den  Gesichtspunkt  des  Zweckes 
stellen.  Da  es  nämlich  für  die  Ethik  nicht  auf  naturwissen- 
schaftliche Erkenntniss  der  Welt  ankommt,  sondern  auf  die 
Sphäre  des  Menschen,  so  zeigt  sich  die  objective  Betrachtungs- 
weise, wenn  der  Mensch  zuerst  im  Stande  ist,  die  Zwecke  und 
Interessen  der  Familie,  des  Dorfes,  des  Stammes,  der  Nation, 
des  Staates  oder  eines  Standes  in  der  Gesellschaft  aufzufassen 
und  sich  bloss  als  eingeschlossenen  Theil  mitzunehmen,  indem 
er  sich  nur  so,  wie  auch  die  übrigen  Einzelnen,  miteinrechnet. 

Die  Geftlhle,  welche  der  Mensch  bei  dieser  Betrachtungs- 
weise hat,  nenne  ich  die  moralischen  oder  Rechtsgefühle, 
weil  wir  sie  sprachlich  immer  durch  Recht  und  Unrecht  bezeichnen 
und  sie  durch  unsere  Zugehörigkeit  zum  Ganzen  ausdrücken; 
denn  moralisch  bedeutet,  was  der  Sitte  (mos,  mores)  entspricht, 
d.  h.  wobei  der  Einzelne  von  dem  Geist  und  dem  Gefühl  des 
Ganzen  getragen  und  getrieben  wird. 


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Ethik.  '      273 

§  2.    Ursprung  der  Moralität  und  des  Rechts. 

Da  der  Gegensatz  dieser  Geflihle  gegen  die  selbstsüchtigen 
nun  klar  zu  erkennen  und  auch  das  Eintheilungsprincip,  wonach 
wir  die  Gefühle  in  die  beiden  Gruppen  scheiden  konnten,  dar- 
gelegt ist;  so  wird  unsere  nächste  Aufgabe  sein,  den  Ursprung 
der  moralischen  Gefühle  abzuleiten. 

Man  hat  diesen  Ursprung  mit  gutem  Grunde  in 
der  Vernunft  gesucht,  aber  auf  verkehrtem  Wege;  vcningiäckter 
denn  wenn  Kant  das  Moralische  darin  sieht,  dass  »pwirimg»- 
man  bei  jedem  Vorhaben  generalisiren  solle  und 
fragen,  ob  das,  was  wir  eben  wollen,  auch  Alle  thun  dürften, 
wodurch  unsere  Maxime  zu  einem  Gesetze  würde,  so  ist  mit 
dieser  Kategorie  der  Universalität  nur  eine  Beziehungsweise  des 
Denkens  bezeichnet,  die  äusserliche  der  Quantität.  Diese  Seite 
ist  aber  so  ungenügend  zur  Bestimmung  des  Moralischen,  dass 
vielmehr  oft  gerade  das  Particuläre  und  Individuelle  den  Charakter 
der  Moralität  ausmacht  Denn  ein  Fürst  z.  B.  muss  vieles  thun, 
was  nicht  alle  Menschen  thun  dürfen  (also  nicht  nach  der  Norm 
der  Universalität),  zuweilen  auch,  was  den  übrigen  Fürsten  nicht 
erlaubt  ist  (also  nicht  einmal  nach  particulärer  Totalität),  sondern 
was  gerade  nur  ihm  allein  geziemt  (also  Individualität).  Wollte 
man  einwenden,  dass  es  sich  nur  um  die  Maximen  und  nicht  um 
die  Handlungen  drehte,  so  können  wir  leicht  zeigen,  dass  die 
meisten  moralischen  Menschen  gar  nicht  nach  Maximen  handeln, 
da  es  zu  den  allerschwierigsten  Denkoperationen  gehört,  die 
Motive  zu  einer  Handlung  in  einer  Maxime  auszudrücken.  Es 
wären  sonst  nur  die  geübtesten  Dialektiker  moralisch.  Stellte 
man  aber  wirklich  seine  Motivation  in  einer  Maxime  dar,  so 
würde  das  lächerliche  Gesetz  durch  Universalisirung  heraus- 
kommen, dass  ein  jedes  vernünftige  Wesen,  welches  meine 
Stellung  in  der  Gesellschaft,  mein  Lebensalter,  meinen  angebore- 
nen Charakter,  meine  Vergangenheit  und  meine  Beziehungen  zu 
allen  übrigen  Menschen  hat,  so  oder  so  handeln  muss,  d.  h.  es 
würde  die  Universalität  eben  die  Individualität  sein,  weil  ohne 
Rücksicht  auf  alle  diese  individuellen  Bedingungen  die  Handlung 
unrichtig  würde.  Zweitens  aber  liegt  auch  darin  eine  gränzen- 
lose  Unbesonnenheit  von  Kant,  dass  er  die  blosse  Quantität  zur 
Norm  des  Denkens  macht;  denn  woher  weiss  ich,  ob  Alle  so 
oder  so  handeln  sollen?    Der  eigentliche  Massstab,  wonach  die 

TeiohmüUep.  ReUgioMphUoBophle.  ^18^^      GoOQIc 


274  Religion  der  Sünde. 

Maxime  als  richtig  oder  falsch  erkannt  wird,  liegt  ja  in  der 
Auffassung  der  objectiven  Lebenszwecke  und  nicht  in  irgend 
einer  Generalisiruug.  Denn  auch  die  allgemeine  Uebereinstimmung 
aller  Gesetze  kann  ja  nicht  durch  die  Allgemeinheit,  sondern 
nur  durch  den  Begriff  und  Inhalt  des  Gedachten  eingesehen 
werden.  Es  ist  ja  durch  die  Universalität  des  Princips,  dass 
jeder,  wo  er  kann,  ein  Depositum  behalten  sollte,  nicht  bewiesen, 
dass  dies  Princip  falsch  ist  Und  Kant's  naiver  Einwurf,  weil 
sonst  Niemand  mehr  ein  Depositum  einem  Andern  anvertrauen 
würde,  geht  gerade  auf  die  Gefühle  und  auf  die  sachlichen 
Zwecke  des  Lebens  zurück,  um  danach  erst  die  Gesetze  zu 
prüfen.    Kant's  Versuch  ist  also  völlig  missglttckt. 

Ausserdem  würde  dadurch  auch  der  Ursprung 
""  wwer!e^°'''  dcr  MoraUtät  in  der  Menschheit  nicht  eingesehen 
werden.  Darum  ist  die  Erklärung  von  Lessing, 
Schopenhauer  und  ihren  englischen  Autoritäten  fast  vorzuziehen, 
wonach  der  mitleidigste  Mensch  der  beste  Mensch  und  das  Mit- 
leid der  Ursprung  und  Mittelpunkt  aller  MoraUtät  sein  soll 
(1)  Allein  so  empfehlenswerth  das  Mitleid  auch  im  Allgemeinen 
sein  mag,  so  kann  es  doch  als  natürlicher  Affekt,  der  bei 
einigen  Menschen  stärker,  bei  anderen  schwächer  auftritt,  un- 
möglich das  Princip  der  MoraUtät  bilden.  (2)  Das  Mitleid  ist  ja 
ein  Princip,  das  sich  selbst  ura's  Leben  bringt;  denn  wenn  das 
Mitleiden  Erfolg  hätte  und  alles  Uebel  verhütet  würde,  so  gäbe 
es  kein  Mitleid  und  also  keine  MoraUtät  mehr;  das  Gute  aber 
muss  doch  gerade  dann  herrschen,  wenn  das  Böse  beseitigt  ist. 
(3)  Das  Mitleid  muss  auch  erst  moralisch  gebildet  werden,  um 
zu  unterscheiden,  was  man  bedauern  soU  und  was  nicht;  denn 
wenn  das  Mitleiden  allein  herrschte,  so  könnten  die  schönsten 
Thaten  des  Heldenmuthes  nicht  geschehen,  bei  denen  man  ja 
mitleidswürdige  Wunden  und  Schmerzen  und  zuweilen  das  Leben 
selbst  einsetzt  Also  kann  das  Mitleiden  nicht  Erklärungsgrund 
und  Quelle  der  MoraUtät  sein.  Mitleiden  mit  sich  bringt  Ver- 
weichlichung, Feigheit  u.  dergl.  moralische  Schwächen  hervor; 
Mitleiden  mit  Andern  als  alleiniges  Princip  verhindert  alle  Er- 
ziehung, aUe  Strafe,  aUe  Gesetzgebung,  jede  Anstrengung.  Mitleid 
ist  darum  ein  Affekt,  der  wie  jeder  andere  der  Vernunft  zu 
unterwerfen  ist,  aber  ihr  nichts  vorzuschreiben  hat,  oder  gar  an 
ihre  Stelle  zu  setzen  ist 

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Ethik.  275 

Ich  will  die  Kritik  nicht  gegen  alle  weniger  u^pruDg  de« 
wichtigen  modernen  Theorien  wenden,  sondern  lieber  Rechu  und  der 
kurz  von  meinem  Standpunkte  den  Ursprung  des  ^0»^»^»^- 
Rechts  darlegen.  Der  Mensch,  der  zuerst  die  Welt  ausschliesslich 
nach  ihrer  Wirkung  auf  ihn  selbst  betrachten  musste  und  noch 
heute  als  Kind  ebenso  zur  Welt  steht,  kommt  allmählich  zur 
Vernunft,  d.  h.  er  lernt,  sich  auf  den  Standpunkt  der  Andern  zu 
stellen  und  nach  Analogie  mit  sich  zu  beurtheilen,  was  ftlr  jeden 
Andern  ein  Glück  und  ein  Unglück,  ein  Gut  und  ein  Uebel  sein 
muss.  Dadurch  wird  er  allmählich  eine  objective  Ordnung 
erkennen,  nicht  indem  er  mit  Kant  universalisirt,  sondern  indem 
er  die  Zusammenhänge  der  Handlungen  der  Menschen  in  den 
Goordinationen  von  Zwecken  und  Mitteln  versteht,  da  den 
Vorstellungen  von  den  Ereignissen  jedesmal  Gefühle  von  Freud 
und  Leid,  Wünsche  und  Beängstigungen  und  diesen  wieder 
psychische  und  physische  Anstrengungen  und  Bemühungen  zu- 
geordnet sind. 

Diese  Erkenntniss  ist  die  natürliche  Folge  der  Vernünftigkeit 
des  Menschen,  wonach  er  homo  sapiens  im  Gegensatze  zum  Thiere 
genannt  wird,  welches  niemals  seinen  perspectivischen  Stand- 
punkt aufgeben  und  sich  niemals  auf  den  Standpunkt  der  anderen 
Wesen  versetzen  und  die  für  sie  gegebenen  Goordinationen  er- 
kennen kann.  Allein  diese  Klugheit  des  Menschen  ist  weder  das 
Kecht,  noch  die  Moralität 

Nun  entspricht  aber  dem  erkennenden  Vermögen  in  uns  das 
Gefühl  oder  der  Wille  und  diesem  die  Bewegung,  wodurch  alles 
geschieht,  was  geschieht.  Daher  wird  der  Mensch  zwar  im  An- 
fang  die  Dinge  nach  der  Selbstsucht  auffassen,  wie  wir  dies  bei 
der  Religion  der  Furcht  gesehen  haben;  wenn  er  aber  bei  fremden 
Menschen  Ereignisse  anschauen  muss,  die  ihn  nichts  angehen, 
die  aber  seinen  schon  gewonnenen  Vorstellungen  von  der  objec- 
tiven  Ordnung  zuwider  laufen,  so  kann  sein  Gefühl  dabei  keinen 
Beifall  äussern,  sondern  er  muss  wegen  der  Zugehörigkeit  von 
Erkenntniss  und  Wille  ein  Miss  fallen  empfinden.  Er  hat  noth- 
wendig  die  Stimmung  des  unbefangenen  Zuschauers  und  Richters, 
der  bei  den  Vorgängen  nicht  selber  mit  seinem  Interesse  be- 
theiligt ist,  und  muss  jede  Störung  der  Ordnung  mit  einem  nicht 
egoistischen  Missfallen  betrachten.  Sieht  er  einen  Mord  an,  so  weiss 
er,  dass  der  Ermordete  leben  wollte  und  um  sein  Dasein  als  ein 

uiumzeu  uy  V^J  W\J>t  l^ 


276  Religion  der  Sünde. 

hohes  Gut  rang,  dass  seine  Glieder  nicht  zur  Zerfleischnng  da  sind, 
dass  sein  Blut  im  Körper  und  nicht  dranssen  fliessen  soll,  dass 
die  schreienden  und  händeringenden  Angehörigen  in  ihrem  Gefbhl 
und  Leben  beeinträchtigt  werden  durch  den  Tod  ihres  Vaters 
u.  s.  w.  Kurz,  er  sieht  eine  Störung  derjenigen  Ordnung,  die  in 
der  Natur  des  Menschen  liegt,  und  muss  dabei  ein  mehr  oder 
weniger  grosses  Missfallen  empfinden.  Die  Empfindung  wird 
stärker  werden,  wenn  seine  Vernunft  hinreicht  einzusehen,  dass 
der  Mörder  ein  ander  Mal  ihn  selbst  zum  Ziele  nehmen  könnte 
und  dass  dann  Andere  die  Zuschauer  sein  wtlrden,  die  mit  Miss- 
fallen darauf  blickten.  Die  natttrliche  Uebertragung  auf  sich,  die 
durch  die  nachahmenden  Triebe  im  Menschen  begünstigt  wird, 
giebt  dieser  Erkenntniss  der  Analogie  den  kräftigsten  Eindruck, 
indem  das  Geftlhl  der  Selbstsucht  .seine  erworbene  Kraft  hinzu- 
ftlgt,  so  dass  jenachdem  Entrüstung,  Entsetzen,  Abscheu  und 
dergleichen  Geftlhle  entstehen  können.  Es  befestigen  sich  all- 
mählich dadurch  aber  eine  ganze  Reihe  von  zusammengehörigen 
Erkenntnissen  und  Geftihlen  und  auf  dieser  Goordination  beruht 
Recht  und  Moralität 

Wenn  wir  die  natttrliche  Entwickelung  dieser 
^  ^°Xtlig°**  8^**^^^®°  Geflihle  und  Ideen  verfolgen,  so  ergeben 
sich  zwei  Stufen.  Zuerst  nämlich  ist  ersichtlich, 
dass  die  meisten  Menschen  auf  der  unteren  Stufe  der  Cultur 
bleiben  und  alles,  was  geschieht,  perspectivisch  mit  dem  Auge 
ihrer  Selbstsucht  betrachten  werden.  Mithin  können  nur  wenige, 
feiner  begabte  Naturen  die  Dinge,  sich  selber  eingeschlossen, 
objectiv  betrachten  und  eine  gewisse  Ordnung  derselben  nach 
natürlichen  Zwecken  erkennen.  Da  diese  Ordnung  aber  noch 
nicht  in  dem  Zusammenleben  der  Menschen  staatlich  verwirklicht 
ist,  so  werden  sie  auch  keine  deutlichen  Begriffe  davon  haben 
können,  sondern  die  Ordnung  nur  durch  Verletzungen  der  Ordnung, 
also  durch  das  angeschaute  Unrecht  erkennen.  Das  Unrecht 
ist  daher  der  erste  moralische  Begriff  in  der  Menschheit 
und  ihm  zugehörig  das  Geftlhl  des  Absehens  und  der  Ent- 
rüstung. Es  darf  dies  Geftlhl  nicht  aus  gekränkter  Selbstsucht 
oder  aus  Mitleid  abgeleitet  werden,  weil  es  sonst  über  die  untere 
Sphäre  des  Lebens  nicht  hinausgehen  würde,  sondern  aus  der 
Vorstellung  von  einer  gestörten  Ordnung,  die  man  wegen  der 
natürlichen  Gewöhnung  mit  Liebe  und  Beifall  bisher  genossen 

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Ethik.  277 

und  angeschaut  hat  nnd  die  udb  nnn  erst  bei  ihrer  Dnrch- 
brechnng  zum  Bewusstsein  kommt.  Es  entwickelt  sich 
zwar  natürlich  der  Begriff  yom  Rechten  zu  gleicher  Zeit  in  un- 
trennbarem Acte  mit  dem  Begriff  des  Unrechts;  dennoch  hat  man 
die  Veranlassung  zur  Geburt  dieser  beiden  Begriffe  in  der  nega- 
tiven Seite  zu  suchen.  Daher  bleibt  der  positive  Begriff  zunächst 
unbestimmt;  der  negative  aber  tritt  klar  und  deutlich  heraus: 
„er  hat  ihn  geschlagen,  beraubt,  ermordet,  seine  Felder  verwüstet, 
seine  Hütte  verbrannt^^  u.  s.  w.  Darum  sind  auch  nothwendig 
alle  sittlichen  Gebote,  welche  die  positive  Seite  vertreten,  zuerst 
negativ  gefasst:  „Du  sollst  nicht  stehlen,  nicht  todten,  nicht  ehe- 
brechen" u.  s.  w. 


Die  zweite  Stufe  des  sittlichen  Lebens  entsteht, 

bewDBBtaelo. 


wenn  durch  die  Störungen  der  natürlichen  Ordnung     ^'  ^^^'^ 


ein  Bewusstsein  von  dem  positiven  Inhalt  der  Ord- 
nung, d.  h.  ein  Rechtsbewusstsein  sich  ausbildet.  Es  wird 
allmählich  klar,  was  das  ist,  was  nicht,  ohne  Entrüstung  hervor- 
zurufen, durchbrochen  werden  darf.  So  entsteht  eine  deutliche 
Erkenntniss  von  dem,  was  sein  soll  und  was  man  darf.  Was 
daher  auf  der  ersten  Stufe  als  Brauch  und  Sitte  unbewusst 
in  Geltung  war,  das  wird  nun  in  bestimmten  Ideen  als  die  rechte 
Ordnung  oder  als  Recht  erkannt. 

Dieser  Erkenntniss  zugehörig  entwickelt  sich  der  Wille  oder 
das  GeHlhl.  Wir  können  diese  Seite  das  Rechtsgefühl  oder 
die  Moralität  nennen.  Sobald  dieses  Gefühl  eine  gewisse  Stärke 
gewonnen  hat,  wird  es  sich  nicht  bloss  in  rechtmässigen  oder 
sittlichen  Handlungen  und  in  der  Vermeidung  von  Rechtsver- 
letzungen äussern,  sondern,  da  diese  ganze  ethische  Sphäre  den 
perspectivischen  Standpunkt  überschritten  und  die  Ordnung  als 
eine  objective  gefunden  bat,  die  Nachachtung  von  Seiten  der 
ganzen  Gesellschaft  fordern  und  erzwingen,  d.  h.  dies  Rechts- 
bewusstsein und  Recbtsgeflihl  treibt  nothwendig  zu  einer  socialen 
Rechtsordnung  oder  zum  Staat,  zur  Gesetzgebung,  Verwaltung 
und  Executive. 

Wo  aber  in  dem  Einzelnen  die  frühere  Stufe  der 
Selbstsucht  noch   so  mächtig  wirkte,   dass  er  eine 
Verletzung  des  Rechts  und  Gesetzes  beging,  während  doch  zu- 
gleich  in   ihm  das   Rechtsbewusstsein    und   Rechtsgeflihl   schon 

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278  EeligioD  der  Sünde. 

lebendig  war,  da  mnss  als  zugehörig  ein  früher  unbekanntes  Ge- 
fühl, nämlich  das  der  Sünde  auftreten.  Dies  (xefühl  hat  schein- 
bar mit  dem  Schuldgefühl  der  ersten  Stufe  eine  Verwandtschaft 
und  ftlhrt  daher  auch  denselben  Namen  der  Beue;  allein  die 
Aehnlichkeit  beruht  bloss  auf  der  Proportionalität  und  nicht  auf 
der  Qualität  Was  dort  der  mächtige  Wille  und  das  Gefallen 
des  Herrn  ist,  das  ist  hier  das  Recht;  was  dort  die  uns  Schaden 
brmgende  Uebertretung  ist,  das  ist  hier  Bechtsverletzung;  was 
dort  Furcht  vor  Rache  und  Nachtheil  ist  das  ist  hier,  auch  wenn 
kein  Nachtheil  entsteht,  das  schmerzliche  Bewusstsein,  das  von 
uns  selbst  anerkannte  Gesetz  durch  ein  von  uns  selbst  ver- 
worfenes und  verabscheutes  Begehren  verletzt  zu  haben.  Also 
ist  hier  eine  qualitative  Verschiedenheit  anzuerkennen  und  nur 
die  Gleichheit  der  Stellung  in  der  Proportion  veranlasst,  die 
homologen  Glieder  für  gleich  zu  nehmen.  Freilich  wird  die 
wissenschaftliche  Unterscheidung  der  Begriffe  dadurch  erschwert 
und  umgekehrt  die  falsche  Identification  dadurch  unterstützt,  dass 
in  der  historischen  Entwickelung  der  Menschheit  Macht  und 
Recht  selten  rein  geschieden  waren,  so  dass  auch  alle  die  zu- 
gehörigen Vorstellungen  in  der  Regel  unrein  vorkommen.  Da 
wir  aber  hier  nicht  Empirisches  und  Historisches  erforschen  wollen, 
sondern  mit  philosophischer  Strenge  die  Gliederung  des  geistigen 
Lebens  speculativ  bestimmen,  so  haben  wir  auch  mit  aller  Schärfe 
die  qualitativ  gesonderten  Functionen  von  einander  zu  trennen. 
Dies  Gefühl  der  sittlichen  Reue  oder  das  Bewusstsein  der  Sünde 
ist  aber  seiner  Quantität  (Intensität)  nach  schwach  und  stark, 
jenachdem  die  Moralität  oder  das  Rechtsgeftlhl  schwach  oder 
stark  entwickelt  war. 
,,     ,    ,      ,,  Man  könnte  nun  den  Beweis  fordern,  dass  die 

Bewetim,  dass  die  ' 

aittiiobe  Stufe  sittUchc'  Stufc  dcs  Bcwusstscins  wirklich  die  höhere 
die  höhere  tat.  ^^j  ^^^  Sclbstsucht  gegenüber;  denn  es  giebt  ja 
Selbstsüchtige  genug,  welche  die  Sittlichkeit  nur  für  eine  zu- 
filllige  Eigenthümlichkeit  einiger  Menschen  erklären  und  den 
Unterschied  der  Sittlichen  und  Selbstsüchtigen  in  gleiche  Linie 
stellen  mit  dem  Unterschiede  der  Blonden  und  Brünetten,  von 
denen  doch  keiner  besser  als  der  andere  sei. 

Der  Beweis  muss  von  dem  Begriff  des  Höheren  und  Besseren 
ausgehen.  Wir  treten  deshalb  auf  den  Standpunkt  der  Selbst- 
süchtigen hinüber  und  setzen  zunächst  erst  beide  Stufen  gleich, 
indem  wir   nur   eine  Ordnung   der  Begehrungen   und   der  Güter 

uiymzeu  uy  x^_j\^  v^pc  iv^ 


Ethik.  279 

überhaupt  fordern,  wonach  ein  niederes  Gut  flftr  ein  höheres  auf- 
gegeben wird,  ein  Huhn  für  eine  Kuh,  eine  Kuh  flir  ein  Kind 
u.  s.  w.  Diese  Ordnung  muss  Jeder  einräumen,  er  möge  auf 
einem  Standpunkte  stehen,  auf  welchem  er  wolle,  weil  sonst  über- 
haupt alle  Yemünftigkeit  in  der  Auswahl  der  Handlungen  auf- 
hören und  der  Mensch  auf  die  Stufe  der  Pflanze  herabgedrückt 
würde,  während  schon  das  Thier  eine  Wahl  vollzieht,  wenn  auch 
ohne  bewusste  Ueberlegung.  Ist  nun  dies  Princip  zugegeben,  so 
ist  unser  Obersatz  fest,  nämlich,  dass  das  höhere  Gut  dasjenige 
sei,  für  welches  wir  alle  übrigen  fallen  lassen.  Der  Untersatz 
hat  jetzt  bloss  die  Thatsache  zu  constatieren,  dass  der  Mensch 
in  seiner  Entrüstung,  d.  h.  im  Gefühl  des  gekränkten  Rechtes, 
bereit  ist,  sein  Eigeuthum,  seine  Freiheit,  ja  sein  Leben,  ohne 
welches  doch  alle  sonstigen  Güter  nicht  genossen  werden  können, 
kurz  sein  Gut  und  Blut  in  die  Schanze  zu  schlagen.  Dies  ist 
allbekannt  und  braucht  nicht  durch  Beispiele  erhärtet  zu  werden, 
da  ein  schwaches  Analogen  sich  schon  bei  dem  Hunde  zeigt, 
der  auf  seinem  Hofe,  gewissermassen  im  Bewusstsein  seines 
Rechts,  auch  stärkeren  Yierfasslem  gegenüber  muthiger  wird 
Er  wird  getragen  durch  das  Gefühl  der  Zusammengehörigkeit 
mit  dem  socialen  Ganzen  des  Hauses  und  der  fiLr  ihn  das  Recht 
bildenden  Gewohnheit.  Bei  den  Kindern  aber  kommt  auch  Er- 
wachsenen gegenüber,  welche  die  Macht  haben,  zuweilen  der 
Rechtstrotz  hervor:  „es  ist  aber  doch  wahr!",  und  sie  betheuem 
unter  Thränen  und  mit  Verachtung  der  Schläge,  dass  sie  Recht 
haben.  Ueberall  endlich  sieht  man  in  der  Geschichte,  dass  Air 
einen  Mann,  der  das  Rechte  erkannt  hat,  die  Gegenstände  der 
Furcht  nicht  mehr  fürchterlich  sind,  weil  ein  höheres  Gut,  das 
sein  Gefühl  viel  stärker  aufregt,  in  ihm  lebendig  geworden  ist 
Mithin  ist  der  Beweis  erbracht,  und  wenn  man  erwidern  wollte, 
dass  die  Selbstsüchtigen  doch  nicht  ebenso  denken,  sondern  gleich 
bereit  sind,  das  Recht  ihres  Standes,  ihrer  Nation  u.  s.  w.  preis- 
zugeben, wenn  sie  bei  seiner  Behauptung  ökonomischen  Nachtheil 
oder  gar  Gefahr  an  Leib  und  Leben  hätten,  so  sind  sie  daran 
zu  erinnern,  dass  hier  nur  derjenige  urtheilen  kann,  der  beide 
Vergleichungspunkte  kennt  Ob  Neapel  oder  Malaga  schöner 
liegt,  kann  nur  der  entscheiden,  der  beide  Städte  gesehen  hat 
In  dem  sittlichen  Manne  liegt  aber  auch  die  Selbstsucht  als  eine 
ihm  wohlbekannte  Triebfeder;  der  Selbstsüchtige  aber  kennt  die 

Moralität  nicht  DigitizedbyGoOQk 


280  B<eligioii  der  Sünde. 

Der  zweite  Beweis  ist  dadurch  za  führen,  dass  in  der  ganzen 
menschlichen  Gesellschaft  Niemand  die  Selbstsucht  als  seinen 
Grundsatz  öffentlich  bekennen  darf,  ohne  sofort  alles  »Vertrauen, 
alle  Achtung  und  allen  Einfluss  zu  verlieren,  weil  man  ihn  fbr 
eine  niedrige  und  gemeine  Natur  hält.  Deshalb  müssen  die 
Selbstsüchtigen  öffentlich  selbst  die  Moralität  als  die  höhere  Stufe 
anerkennen,  indem  sie  ihren  Handlungen  wenigstens  den  Schein 
und  Vorwand  des  Bechts  umhängen. 

Drittens  folgt  der  Beweis  aus  dem  Begriff  des  Moralischen 
selbst,  da  es  ein  Urtheil  über  die  selbstsüchtigen  Begierden  und 
den  Gebrauch  der  Macht  enthält.  Der  Richter  steht  aber  immer 
über  dem,  der  vor  sein  Tribunal  kommen  muss.  Und  so  kommen 
alle  Handlungen  der  unteren  Stufe  vor  das  kritische  Tribunal 
des  Bewusstseins,  welches  Becht  und  Unrecht  scheidet,  anklagt 
oder  freispricht 

Inhalt  des  ^*  ®®  ^^®  Wahmchmung  der  natürlichen  Zweck- 

Rcchtabevuest-   mässigkeit  in   den  Beziehungen   der  Menschen  ist^ 

***"''  welche  zuerst  die  Idee  einer  Ordnung  und  dem- 
gemäss  das  Rechtsbewusstsein  entstehen  lässt,  so  kann  sein  Inhalt 
auch  nur  die  socialen  und  politischen  Verhältnisse  der  Menschen 
imifassen.  Es  dreht  sich  also  um  die  Familie  und  ihre  Ord- 
nung, die  gebietende  Stellung  der  Eltern,  den  Gehorsam  der 
Kinder;  sodann  um  die  Stände,  ihren  Fleiss,  ihre  wechselseitige 
Hülfe  und  Freundlichkeit,  ihre  Achtung  und  Ehrbarkeit,  endlich 
um  die  Nation  und  den  Staat,  also  um  den  Patriotismus,  die 
Heiligkeit  der  Gesetze  über  Eigenthum,  Freiheit  der  Person,  Un- 
verletzUchkeit  der  Person  und  der  Verträge  untereinander,  um  den 
Gehorsam  gegen  die  Obrigkeit,  die  Einrichtung  der  Aemter  u.  dergl. 

Der  Inhalt  des  Bechtsbewusstseins  ist  deshalb  nach  den 
Entwickelungsstufen  der  Gesellschaft  nothwendig  veränderlich 
und  läuft  immer  parallel  mit  dem  positiven  Rechte,  welches 
fllr  die  stärksten  sittlichen  Geftthle  den  zugehörigen  Vorstellungs- 
inhalt in  Gesetzes- Paragraphen  formulirt  und  die  zugehörigen 
Handlungen  erzwingt  oder  die  Uebertretungen  straft.  Mit  dem 
geschriebenen  Becht  ist  natürlich  die  Sitte  oder  das  Gewohnheits- 
recht von  diesem  Standpunkte  aus  homolog,  wie  denn  auch  in 
den  Bömischen  Institutionen  die  Athenische  und  die  Spartanische, 
die  geschriebene  und  die  bloss  gedächtnissmässige  Bechtsfest- 
Setzung  in  die  gleiche  Linie  gestellt  wird. 

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Zweites  Kapitel. 
Die  zugehörige  Dogmatik. 


§  1.     Die  Theologie  der  Religion  der  Sünde. 

In  dieser  ganzen  Sphäre  des  Rechts  and  der  zugehörigen 
Moralität  haben  wir  nun  bisher  keine  Spur  eines  religiösen  Geistes 
gefunden,  und  es  fragt  eich  daher,  wie  der  Uebergang  zur  £e- 
ligion  vor  sich  gehe,  d.  h.  wie  eine  Anknüpfung  des  Kechts  an 
die  Gottesidee  gemacht  werden  könne.  Allein  dies  ist  sehr  ein- 
fach; denn  die  in  uns  sich  bildende  Idee  des  Bechts  wird  ja  in  dem 
unentwickelten  Bewusstsein  immer  von  selbst  nach  Aussen  pro- 
jicirt,  so  dass  die  innere  Verpflichtung,  die  uns  das  GefUhl  auf- 
erlegt, als  ein  aussen  vorhandenes  Gebot  aufgefasst  wird.  Für 
dieses  Gebot  bedürfen  wir  nach  dem  die  Bewegung  unserer  Ge- 
danken bezeichnenden  Satze  des  Grundes  eine  Ursache,  die  wir 
nicht  finden  können;  denn  es  handelt  sich  ja  um  eine  Idee  in 
unserem  Geiste  und  um  ein  GeftLhl  unseres  Gemüthes.  Mithin 
müsste  das  Gesetz  ein  fabelhaftes  Dasein  führen,  wenn  nicht 
aus  dem  Erwerb  der  unteren  Stufe  schon  die  Gottesvorstellung 
fertig  vorläge.  Da  aber  dieser  Gott  der  Macht,  dem  unsere 
Gottesfurcht  entspricht,  schon  geschaffen  ist,  so  versteht  es  sich 
nun  von  selbst,  dass  wir  das  nach  Aussen  projicirte  Gebot  des 
Bechts,  welches  für  uns  Autorität  ist,  auf  den  Gott  der  Macht 
beziehen  und  so  den  strengen  Herrn  zum  Gesetzgeber  erheben. 
Der  alte  Furchtgott  erhält  nun  den  Heiligenschein,  der  von  unserem 
Bechtsbewusstsein  und  unserem  Kechtsgefühl  ausstrahlt.  So  ent- 
steht die  zweite,  höhere  Stufe  der  Beligion,  die  moralische  oder 
Bechtsreligion. 

Allein  obgleich  dieser  Ursprung  der  Beligion  so  einfach  er- 
scheint, so  ist  doch  die  Beziehung  des  Bechts  auf  den  Naturgott 
nicht   der  nächste  Vorgang;   denn   man  hat  inmier  den  Anfang 

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282  Religion  der  Sünde. 

mit  der  negativen  Seite  zu  machen.  Das  Nächste  ist,  wenn  die 
natürliche  Ordnung,  die  wir  als  Brauch  oder  Sitte  oder  auch  nur 
als  gewohnte  Wahrnehmung  kannten,  verletzt  wird,  z.  B.  durch 
einen  Todschlag,  wie  er  in  dem  Mythus  von  Kain  erzählt  wird. 
Bei  solcher  Gelegenheit  muss  einerseits  das  Gefühl  der  Sünde, 
andererseits  das  unbestimmte  Bewusstsein  eines  verletzten  Rechtes 
entstehen.  Nun  hat  aber  die  Vernunft  des  Menschen  im  Anfang 
gar  keine  Müsse,  um  über  die  Vorstellung  des  Rechts  weiter 
zu  grübeln  und  sie  speculativ  mit  irgend  einem  metaphysischen 
Subjecte  zu  verknüpfen;  dagegen  ist  die  Sünde  ein  mächtig 
drängendes  Gefühl,  welches  den  Geist  in  Aufruhr  bringt,  da  sich 
die  selbstsüchtige  Leidenschaft  von  der  Veniunft,  in  welcher  die 
Vorstellung  von  der  Ordnung  lag,  losgerissen  hat  und  so  das 
Gemüth  des  Menschen  in  zwei  Heerlager  getrennt  ist.  Mithin 
erscheint  nun  der  Leidenschaft  gegenüber  die  Vernunft  als  etwas 
Anderes  und  dies  Andere,  welches  allererst  die  Möglichkeit  und 
den  Grund  der  Entrüstung  bildet,  wird  ganz  natürlich  projicirt 
und  vereinigt  sich  daher  von  selbst  mit  dem  Gotte  der  Macht, 
der  schon  fertig  im  Bewusstsein  ist 

Dazu  kommt,  dass  die  Entzweiung  des  Bewnsstseins,  welche 
wir  bei  der  Sünde  erkennen,  ursprünglich  nicht  wohl  in  einem 
und  demselben  Menschen  stark  genug  vorgehen  konnte,  um  daraus 
die  Gottesvorstellung  allein  abzuleiten;  sondern  es  erscheint  als 
natürlicher  anzunehmen,  dass  die  Entrüstung  über  die  Sünde 
zuerst  in  einem  anderen  Menschen,  entweder  in  dem  Verletzten 
oder  in  den  Zuschauem,  entstand  und  sich  dann  erst  durch 
Sympathie  dem  Sündigenden  mittheilte.  Wie  nun  die  Entrüstung 
homolog  mit  dem  Zorn  und  der  Rachlust  ist,  so  muss  demgemäss 
das  Geftlhl  der  Sünde  homolog  mit  der  Furcht  werden,  die  aus 
der  Entrüstung  die  Rache  wie  ein  Gespenst  aufsteigen  sieht. 
Mithin  verwachsen  diese  beide  Geftihle  ganz  von  selbst  und  so 
muss  die  Furcht,  auch  wenn  der  Beschädigte  oder  die  Zuschauer 
nicht  in  Thätlichkeiten  übergehen,  doch  nach  der  Analogie  in  dem 
Bewusstsein  den  Furchtgott  hervortreiben  und  ihn  aus  dem  bloss 
gefährlich  zürnenden  wegen  des  dämmernden  Rechtsbewusstseins 
zu  einem  nach  dem  Recht  und  der  Ordnung  strafenden  machen. 
Nehmen  wir  z.  B.  den  ersten  Todschlag.  Das  Weheschreien  des 
Sterbenden  und  die  starre,  kalte  und  blasse  Leiche  geben  den 
Schreck  und  die  Furcht.    Jetzt  kommt  das  Bewusstsein,  selbst 

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Dogmatik.  283 

die  Ursache  der  gestörten  Ordnung  zn  sein,  welches  mit  dem 
schon  bekannten  Schuldgefühl  die  Idee  des  Unrechts  associirt 
und  also 'das  Gefllhl  der  Sttnde  hervorbringt.  Die  Sttnde  mit 
dem  Bewusstsein  der  Schuld  und  die  zugehörige  Furcht  müssen 
daher  nothwendig  die  weitere  Verknüpfung  mit  dem  Furchtgotte 
schliessen,  so  dass  der  Ursprung  des  Gottes  in  dieser  zweiten 
Religion  durchaus  verständlich  und  natürlich  erscheint 

Es  giebt  daher  in  dieser  Keligion  keinen  Gott,  der  bloss 
abstract  das  Recht  vertrete,  sondern  dieser  Gott  des  Rechts  ist 
unmittelbar  auch  zugleich  der  Gott  der  Macht.  Man  kann  die 
Religion  aber  positiv  die  moralische  oder  Rechtsreligion 
oder  nach  dem  nächsten  Ursprung  die  Religion  der  Sünde 
nennen,  weil  sie  sich  ohne  das  specifische  Gefllhl  der  Sünde 
niemals  gebildet  haben  würde. 


§  2.  Unbestimmtheit  des  Gottes. 
Wenn  wir  nun  die  Gottesvorstellung  gewonnen  haben,  so 
fragt  man  sich,  was  wir  Bestimmtes  dabei  denken.  Da  ist  nun 
sofort  einleuchtend,  dass  sich  aus  der  Projection  unseres  Rechts- 
bewusstseins  in  den  Himmel  droben  kein  Begriff  von  einem  wirk- 
lichen Wesen  bilden  lässt.  Durch  die  Verknüpfiing  mit  dem 
Naturgotte  kann  aber  die  moralische  Färbung,  die  wir  ihm  nach 
der  Analogie  mit  unserem  eigenen  RechtsgefUhl  geben,  schon 
eine  lebendigere  und  inhaltsreichere  Persönlichkeit  hervorbringen, 
die  wir  verstehen  und  die  uns  versteht,  weil  wir  ihr  ja  unser 
Herz  in  die  Brust  gethan  haben.  Der  Gott  ist  daher  unserer 
Achtung  sicher  und  erweckt  in  uns,  sofern  er  mit  dem  Natur- 
gott verwachsen  ist,  zugleich  Furcht,  zusammengenommen  also 
Ehrfurcht.  Die  weiteren  Gefühle  und  Vorstellungen,  die  zum 
Verkehr  ndt  dem  Gotte  führen,  müssen  wir  bei  Betrachtung  des 
Gultus  erörtern;  hier  können  wir  nur  noch  feststellen,  dass  trotz 
dieser  Vermenschlichung  des  Gottes,  den  der  unbefangene  Mensch 
ja  nach  seinem  Bilde  schafft,  dennoch  der  Schatten  einer  merk- 
würdigen Unbestinmitheit  auf  die  ganze  Theologie  fallen  muss. 
Wir  können  dem  Gotte  nämlich,  obgleich  wir  ihn  nach  Analogie 
mit  uns  als  Geist  und  Persönlichkeit  vorstellen,  keine  irgend 
bekannte  Figur  und  Erscheinungsform  geben,  da  er  durch  seine 
moralischen  Eigenschaften  zu  hoch  ist,  um  als  Ochs,  Löwe,  Adler, 

uiyiiizeu  uy  V^nOOy  IC 


284  Beligion  der  Sünde. 

oder  gar  als  Wasser  und  Starm,  oder  als  Stemscheibe  zu  er- 
scheinen; durch  die  allgemeine  Wirksamkeit  des  Bechtsbewusst- 
seins  und  durch  Verschmelzung  mit  dem  Naturgott  aber  ist  er 
auch  wieder  zu  gross,  um  als  ein  kleiner  oder  riesiger  Mensch 
von  einer  bestimmten  Länge  und  von  bestimmtem  Alter  und 
Wüchse  vorgestellt  zu  werden.  Mithin  muss  der  Gott  unsicht- 
bar und  gestaltlos  sein,  so  dass  kein  Bild  und  Gleichniss  von 
ihm  gemacht  werden  kann.  Wie  für  die  Sinne,  so  verliert  er 
deshalb  aber  auch  fllr  die  Vorstellung  und  Phantasie  jede  Form 
und  Natur,  da  er  ttber  den  Naturgott  durch  seine  moralischen 
Eigenschaften  hinausgewachsen  ist.  Also  müssen  wir  bekennen, 
dass  dieser  Gott,  möge  er  als  Jehovah  oder  sonstwie  verehrt 
werden,  nothwendig  eine  unbestimmte  und  jeder  Verdeutlichung 
widerstehende  Vorstellung  bildet;  denn  auch  als  Begriff  der 
Vernunft,  der  durch  das  Denken  und  Schliessen  kund  werde, 
können  wir  ihn  nicht  vertheidigen,  da  die  Projection  unseres 
Bechtsbewusstseins  nach  Aussen  in  eine  unerfindliche  Persönlich- 
keit hinein  kein  logischer  Schluss  ist,  der  sich  über  seine  Methode 
auszuweisen  vermöchte.  So  bleibt  nur  übrig,  dass  der  Gott  als 
das  homologe  Glied  dem  zugehörigen  Gefühl  der  Sünde  in  uns 
entspricht  und  dass  er  seine  Natur  als  ein  wirkliches  Wesen,  in 
welchem  die  Bechtsgefühle  den  Charakter  oder  die  Eigenschaften 
bilden,  von  dem  Naturgotte  entlehnt  hat  und  deshalb  an  einer 
doppelten  Unbestimmtheit  leidet 

Diese  Unbestimmtheit  kann  der  Bechtsgott  niemals  verlieren, 
weil  und  sofern  es  keine  andern  Motive  giebt,  die  als  religiöse 
zur  Ausbildung  einer  speculativen  Theologie  führten.  Das  einzige 
Motiv  ist  das  Geftihl  der  Sünde,  und  diesem  entspricht  zugeordnet 
der  Bechtsgott,  der  nur  in  dieser,  sonst  aber  in  keiner  Beziehung 
bestimmt  ist.  Wie  nun  die  Menschen  Jahrhunderte  lang  gewisse 
Kräuter  wegen  ihrer  Heilkraft  suchen  und  brauchen,  sich  aber 
um  die  sonstigen  Eigenschaften  dieser  Kräuter,  um  ihren  Species- 
Charakter  und  um  ihre  aus  wissenschaftlichem  Interesse  aufzu- 
findenden chemiBchen,  physikalischen,  anatomischen  und  physio- 
logischen Eigenthümlichkeiten,  wie  um  ihre  Ordnung  und  Glasse 
in  der  Pflanzenwelt  gar  nicht  bekümmern,  sondern  nur  dies  von 
ihnen  wollen,  dass  sie  Blut  stillen,  Schweiss  treiben,  kühlen, 
Wunden  reinigen  und  dergleichen  bestimmte  nützliche  Dinge 
leisten:  so  verhalten  sich  die  Gläubigen  auch  zu  ihrem  Gott,  um 

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Dogmatik.  285 

dessen  Herkunft,  Wohnung,  Nahrung,  Lebensweise  und  Beschäf- 
tigung sich  nur  unnütze  und  nicht  religiöse  Gedanken  bewegen 
würden,  während  das  einzige  bestimmte  Motiv  der  Sünde  ihm 
die  einzige  ftir  diese  Religion  brauchbare  Bestimmtheit  des  Rechts- 
charakters giebt,  wogegen  alle  andern  theologischen  Speculationen 
ausserhalb  dieser  Religion  liegen  müssen,  weil  sie  fQr  das  Gefühl 
der  Sünde  ohne  Nutzen  sind.  Es  dreht  sich  bloss  um  die  Heilkraft 
des  Krautes. 

§  3.   Die  numerische  Bestimmung  des  Gottes. 

Obgleich  nun  die  zugehörige  Theologie  dieser 
Religion  ihrem  Gegenstande  keine  nähere  metaphysische 
und  sonstige  Wesens-Bestimmung  geben  kann,  so  ist  es  doch  in 
Beziehung  auf  den  Gesichtspunkt  der  Quantität  sehr  interessant 
zu  erkennen,  wie  der  Rechtsgott  nothwendig  ein  einiger  werden 
muss  und  wie  also  durch  die  Religion  der  Sünde  der  Poly- 
theismus zu  einem  Monotheismus  übergeführt  wird.  Um  dies 
einzusehen,  müssen  wir  vorläufig  die  erzartige  Verquickung  unseres 
heiligen  Gottes  mit  dem  Naturgotte  lösen  und  ihn  chemisch  rein 
darstellen,  weil  wir  sonst  die  specifischen  Eigenschaften  dieser 
Religion  verfehlten.  Nun  ist  klar,  dass  das  Rechtsbewusstsein 
in  seiner  specifischen  Energie,  wo  es  das  Geftlhl  der  Sünde 
erzeugt,  oder  positiv  thätig  in  der  Gesetzgebung  ist,  immer  nur 
als  ein  im  Einklänge  mit  sich  stehendes  Bewusstsein  auftritt.  Wer 
sich  sündig  ftihlt,  hat  immer  nur  die  Eine  Stimme  des  Rechtes  im 
Herzen,  die  ihn  verklagt;  denn  das  Missfallen,  das  vielleicht  ein 
Entrüsteter  draussen  zeigt,  muss  mit  unserem  eigenen  Missfallen 
übereinstimmen,  wenn  wir  die  Sünde  ftihlen  sollen,  und  dies 
Geftihl  ist  ein  einiges.  Mithin  stehen  wir  dabei  auch  nur  dem 
Einen  projicirten  Rechtsgeiste  gegenüber.  Ebenso  ist  der  Gesetz- 
gebende von  der  Einheit  des  Willens  gefllhrt,  und  es  kann  sich 
innerhalb  des  moralischen  Gebietes  niemals  der  Dualismus  von 
Geboten  finden,  wie  ;p.  B.  etwa:  Du  sollst  nicht  tödten  und  Du 
sollst  tödten.  Mithin  kann  die  Projection  unseres  Rechtsbewusst- 
seins  auch  immer  nur  einen  einigen  Gott  liefern,  und  der  reine 
Monotheismus  ist  das  logisch  noth wendige  Dogma  dieser 
moralischen  Religion. 

Wenn  wir  nun  aber  bedenken,   dass   der  reine 
und  einige  Gott  des  Rechtes  eine  Verquickung  mit 


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286  Religion  der  Sünde. 

dem  Gotte  der  Macht  nicht  venneiden  kann,  so  ist  es  ganz  be- 
greiflich, dass  der  reine  Monotheismus  sich  selbst  bei  denjenigen 
Völkern,  die  ein  höher  entwickeltes  Kechtsbewusstsein  haben, 
dennoch  nicht  vorfindet,  sondern  dass  der  Polytheismus  vielmehr 
überall  verbreitet  ist,  und  der  moralische  Monotheismus  eigentlich 
wohl  nur  bei  den  Juden  vorkommt.  Die  Erklärung  liegt  darin, 
dass,  wenn  das  Bechtsbewusstsein  sich  bildet,  die  Götter  der 
Naturreligion  schon  da  sind.  Wie  nun  der  Freund  des  Rechtes 
im  Kampfe  steht  mit  den  vielen  Vertretern  der  Selbstsucht  und 
der  Gewalt,  so  muss  auch  ihr  Gott  nothwendig  ein  Heer  von 
Gegnern  sich  gegenüber  haben,  mit  dem  er  in  beständiger  Fehde 
liegt.  So  hat  Indra  auch  da,  wo  er  nicht  bloss  als  Lichtgott, 
sondern  schon  als  Vertreter  der  Moralität  gefasst  wurde,  immer 
mit  den  feindlichen  Naturgewalten,  die  z.  B.  in  Wertra  symbolisirt 
werden,  zu  kämpfen  und  die  olympischep  Götter,  bei  denen  Sinn 
für  Becht  und  für  das  Schöne  und  Gute  herrscht,  mit  den  Titanen 
und  Giganten.  Denn  es  ist  zwar  richtig,  dass  wir  diese  Kämpfe 
auch  schon  in  der  Furchtreligion  genügend  ableiten  konnten  (vergl. 
oben  S.  127);  sie  erhalten  aber  jedenfalls  durch  die  moralische  Reli- 
gion eine  neue  Belebung,  indem  der  Gott,  der  bisher  bloss  unser 
Gott,  unser  Beschützer,  unser  Erlöser  (ocotTjp)  und  überhaupt  die 
perspectivisch  aufgefasste  Ursache  unserer  Furcht  und  Hoffiiung 
war,  nun  auch  die  Vertretung  der  moralischen  Interessen  und  der 
Bechtsidee  übernehmen  muss.  So  verwandelt  sich  in  jedem  Volke 
entweder  der  Nationalgott  oder  einer  der  Götter  mit  dem  er- 
wachenden sittlichen  Geist  zu  dem  Gotte  des  sittlichen  Gesetzes. 
Mithin  ist  der  Polytheismus  ganz  natürlich  selbst  auf  dem  Stand- 
punkte einer  sich  schon  bildenden  Bechtsreligion,  wie  wir  diesen 
Zustand  daher  auch  bei  den  Indern,  den  Germanen,  Griechen, 
Bömern  und  auch  den  Aegyptern  vorfinden. 

Es    muss    nun    aber    gezeigt   werden,    wie    der 

Dualismus.  ' 

Dualismus  entsteht,  der  sich  z.B.  bei  den  Persern 
findet.  Dieser  lässt  sich  scheinbar  sehr  einfach  erklären.  Wie 
nämlich  in  der  Furchtreligion  scheinbar  durch  die  blosse  Macht 
des  Denkens  alle  die  vielen  Götter  und  Dämonen  sublimirt  werden 
können  zu  dem  Einen  allgewaltigen  Herrn  des  Islam,  so  scheint 
auch  der  Gegensatz  der  Naturgötter,  die  der  Bechtsgott  vorfindet, 
durch  die  zur  Zeit  der  Ausbildung  des  Bechtsbewusstseins  schon 
gereifte  Abstractionskraft  sehr  wohl  in  den  einigen  Begriff  des 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


Dogmatik.  287 

dem  Rechten  widerstrebenden,  bösen  und  rechtsfeindlichen  Princips 
zusammengefasst  werden  zu  können,  und  wir  hätten  daher  bequem 
und  glücklich  den  Dualismus  aus  einem  in  der  Natur  des  Denkens 
liegenden  und  gewöhnlichen  Vorgänge  abgeleitet.  Allein  es  darf 
uns  nicht  einfallen,  auf  diese  kraft-  und  geistlose  Manier  das 
Gottesbewusstsein  bloss  als  Product  einer  sogenannten  logischen 
Abstraction  zu  erzeugen;  denn  es  ist  zwar  leicht,  die  £nten, 
Kaben,  Sperlinge  u.  s.  w.  unter  dem  Begriffe  Vogel  zusammen- 
zufassen, nicht  aber  die  vielen  Götter  unter  den  Einen 
Begriff  Teufel,  weil  der  Gattungsbegriff  Vogel  nirgends  als 
wirkliches  Wesen  existirt,  und  auch  kein  Mensch  an  seine 
verborgene  Existenz  glaubt,  während  der  Begriff  Teufel  oder 
Ahriman  ein  wirkliches  Wesen  bedeuten  soll,  das  man  furchtet 
und  wogegen  man  kämpft.  Femer  ist  der  durch  Abstraction 
gefundene  Begriff  das  Prädicat  zu  jedem  Artbegriff,  d.  h.  jeder 
Sperling  ist  ein  Vogel,  jeder  Babe  ein  Vogel;  es  wäre  aber 
absurd  zu  sagen,  dass  jeder  der  alten  polytheistischen  Dämonen 
ein  Ahriman  sei,  weil  dadurch  das  böse  Princip  in  seiner  Einheit 
verschwinden  und  sich  wieder  in  eine  Vielheit  von  Dämonen 
auflösen  müsste,  gerade  wie  der  Begriff  Vogel  in  die  Vielheit 
der  wirklichen  Vögel  zergeht.  In  dem  Dualismus  aber  ver- 
schwinden umgekehrt  die  vielen  Götter  und  lassen  als  eigent- 
lichen Acteur  dem  Bechtsgott  gegenüber  nur  den  Bösen  zurück. 
Sofern  die  vielen  Götter  aber  in  der  Erinnerung  und  durch  die 
Gewöhnung  und  Tradition  noch  fortleben,  verwandeln  sie  sich 
nur  in  Diener  und  Werkzeuge  des  bösen  Dämons,  durch 
welche  er  seine  Absichten  ausAlhrt  Also  ist  bewiesen,  dass  die 
logische,  sogenannte  Abstraction  keinen  genügenden*  Erklärungs- 
grund für  die  Entstehung  des  Dualismus  bietet. 

Sobald  man  aber  meine  Methode  befolgt,  so  löst  sich  das 
Bäthsel  und  man  kann  den  Dualismus  a  priori  construiren  und 
zwar  in  solcher  Weise,  dass  das  wirklich  historische  religiöse 
Bewusstsein  mit  der  Synthesis  sich  vollständig  deckt.  Wir  werden 
deshalb  auch  die  Elemente  unserer  Synthesis  nicht  durch  irgend  * 
welchen  Einfall  in  die  Gedanken  bekommen,  sondern  mit  voller 
Besonnenheit  selbst  bestimmen.  Da  nämlich  der  Teufel,  Ahriman, 
Seti  oder  sonstwer  natürlich  eine  blosse  Vorstellung  ist,  welche 
die  Bolle  eines  wirklichen  Wesens  spielt,  so  muss  die  Gottes- 
erzeugung auf  einer  Projection  beruhen.   Dies  ist  unser  leiten- 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


288  Religion  der  Sünde. 

der  Gesichtspunkt  Mithin  muss  erstens  in  dem  Bewnsstsein  des 
Menschen  eine  reale  einheitliche  Macht  nachgewiesen  werden, 
welche  genan  den  Charakter  des  bösen  Princips  besitzt,  und 
zweitens  muss  ein  Grund  sich  zeigen,  weshalb  man  diese  in  uns 
wirksame  Macht  nach  Aussen  projiciren  konnte. 

Was  nun  die  erste  Forderung  betrifft,  so  werden  wir  dem 
Bewnsstsein  des  objectiven  Rechtes  gegenüber  sowohl  in  uns  als 
in  Andern  die  einzelnen  Leidenschaften  und  alles  Widerstrebende 
schliesslich  auf  die  bloss  perspectivische  Stellung  zur  Welt, 
also  auf  ein  einheitliches  Princip,  die  sogenannte  Selbstsucht, 
zurückführen  müssen,  so  dass  nun  die  Vielheit  der  einzelnen 
Begehrungsmächte  in  uns  und  Andern  sich  ganz  natürlich  in 
blosse  Werkzeuge,  Diener  und  Erscheinungsarten  des  Einen  bösen 
Grundwillens  verwandeln.  Da  aber  die  einzelnen  polytheistischen 
Dämonen  früher  immer  den  einzelnen  Leidenschaften  im  Menschen 
zugeordnet  waren,  und  die  Gläubigen  sich,  je  nachdem  sie  dies 
oder  das  fürchteten  oder  ersehnten,  immer  an  diesen  oder  jenen 
Dämon  betend  und  opfernd  wandten,  so  müssen  nothwendig  beide 
einander  zugeordnete  Glieder  auch  miteinander  in  die  neue 
Stellung  eintreten,  die  durch  den  Ursprung  der  objectiven  sitt- 
lichen Weltanschauung  entsteht,  und  mithin  begreift  sich,  weshalb, 
wo  Dualismus  in  der  Weltgeschichte  auftritt,  die  früheren  Dämonen 
entweder  verschwinden,  oder,  was  natürlicher  ist,  zu  blossen 
Erscheinungsarten  und  Dienern  des  souveränen  bösen  Princips 
herabgesetzt  werden. 

Hierin  liegt  aber  noch  nicht  die  gewünschte  Erklärung;  wir 
müssen  vielmehr  etwas  feiner  jetzt  auch  noch  den  Grund  der 
Projection  erforschen.  Nun  konnte  der  Kechtsgott  nur  entstehen, 
weil  das  Ich  sich  in  den  Aeusserungen  seiner  Selbstsucht  wieder- 
fand und  den  moralischen  Geist  in  sich  als  etwas  Fremdes  be- 
trachtete und  deshalb  nach  Aussen  projicirte.  Demgemäss  kann 
also  das  böse  Princip  erst  dann  im  Ahriman  oder  Seti  als  Gott 
hervortreten,  wenn  das  Ich  seine  Stellung  verändert  hat 
und  zwar  nicht  etwa  den  schon  entstandenen  und  verehrten 
Kechtsgott  wieder  in  das  Bewnsstsein  der  eigenen  Seele  zurück- 
nimmt, sondern  sich  auf  seine  Seite  neigt  und  sich  daher  im 
Ganzen  als  fromm  und  ehrbar  und  rechtlich  betrachtet, 
weshalb  nun  die  in  dem  Menschen  aufsteigenden  Gewalten  der 
Leidenschaft  vielmehr  als  etwas  Fremdes,  als  Verftlhrong  und 

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Dogmatik.  289 

Besessenheit  angesehen  werden  müssen  und  daher  sehr  natürlich 
auf  die  Wirksamkeit  eines  demjGuten  widerstrebenden  dämonischen 
Princips,  eines  Gottes  in  zweiter  Linie  zurückgeführt  werden 
können.  Nur  hieraus  erklärt  sich  auch  die  unbedingte  Superiorität^ 
welche  der  Rechtsgott  immer  diesem  bösen  Dämon  gegenüber 
erhält,  der  niemals  in  bloss  numerischer  Oleichwerthigkeit  neben 
dem  guten  auftritt,  sondern  genau  entsprechend  der  Taxation 
unserer  leidenschaftlichen  Interessen  seine  ethisch  abgemessene 
Stellung  zu  dem  Rechtsgotte  erhält.  Aus  diesem  Grunde  mnss 
auch  sowohl  der  Ursprung  als  die  metaphysische  Beschaffenheit 
und  die  physische  Machtgränze  des  bösen  Dämon  in  der  dua- 
listischen Religion  immer  unbestimmt  bleiben,  was  höchst  merk- 
würdig ist,  sich  aber  aus  unserer  Gonstruction  mit  Nothwendig- 
keit  ergiebt. 

Die  Richtigkeit  dieser  speculativen  Synthesis  lässt  sich 
historisch  confirmiren.  Bei  allen  Völkern  mit  dualistischem  Gottes- 
bewusstsein  findet  sich  nämlich  immer  die  vorwiegende  Verehrung 
des  guten  Gottes,  zu  dessen  Mitstreitern  und  gehorsamen  Dienern 
sich  der  Gläubige  rechnet,  während  er  die  früher  verehrten 
Naturgötter  nun  als  Diven  in  einem  herabsetzenden  Sinne  an- 
sieht, da  er  sein  Ich  von  ihrer  Verehrung  zurückgezogen  hat,  ohne 
ihre  Macht  und  Wirklichkeit  läugnen  zu  können.  Die  historischen 
Nachweisungen  findet  man  in  vorzüglicher  Klarheit  bei  Max  Müller. 

Da  der  durch   das  entstehende  Rechtsbewusst- 
sein  geforderte  Monotheismus  sich  nicht  so  leicht  von      ^^  '^«*"« 

_  r>tt      %  TAI  t     ,  ^  /••       Monothelamna 

dem  Glauben  an  die  früher  verehrten  Götter  frei-  bei  den  Juden. 
machen  kann,  weshalb  die  meisten  geschichtlichen 
Völker  mehr  einen  Monarchismus  des  Rechtsgottes,  als  einen 
ächten  Monotheismus  haben,  so  bilden  nur  die  Juden  eine  Aus- 
nahme; denn  wenn  man  auch  archäologisch  bei  ihnen  einen  alten 
Polytheismus  nachweist  und  selbst  ihre  besten  Propheten  mit- 
unter die  Götter  der  fremden  Völker  oder  die  Sterne  noch  als 
wirkliche  Götter  oder  Dämonen  von  beschränkter  Kraft  gelten 
lassen,  so  erfordert  doch  die  wissenschaftliche  Gerechtigkeit, 
ihnen  grundsätzlich  den  reinen,  unverfälschten  Monotheismus 
zuzugestehen.  Dies  eigenthümliche  Phänomen  kann  philosophisch 
nicht  erklärt  werden,  da  der  Ursprung  des  sittlichen  Bewusst- 
seins  nicht  sofort  die  Naturmächte  der  Leidenschaft  in  uns  ver- 
tilgt, und  da  sogar  die  Möglichkeit  einer  Projection  des  Rechtes 

Tel  Ohm  all  er,  Bellglonspbiloeophle.  19  OOQIC 


290  Religion  der  Sünde. 

auf  ein  göttliches  Wesen  die  Hinübernahme  dieser  Idee  Gottes 
aus  der  Furchtreligion,  die  also  mit  vorausgesetzt  wird,  erfordert 
Also  stehen  wir  vor  einem  historischen  Räthsel,  für  welches  die 
blosse  Speculation  keinen  Schlüssel  hat. 

Wenn  man  nun  von  orthodox  -  theologischer  Seite  uns  den 
Schlüssel  in  die  Hand  drückt,  da  ja  Gott  sich  durch  Mosen 
offenbart  habe,  so  können  wir  diese  Erklärung  wirklich  rück- 
haltlos annehmen,  weil  die  Offenbarung,  wie  wir  später  sehen 
werden,  sich  ja  in  der  That  durch  die  Geschichte  vollzieht.  Wir 
müssen  also  die  Erklärung  in  der  Geschichte  suchen.  Wenn 
wir  nämlich  den  Fall  setzen  könnten,  dass  ein  ganzes  Volk  seine 
Religion  nicht  allmählich  durch  die  bisher  betrachteten  psycho- 
logischen Vorgänge  erwtirbe  und  fortbildete,  sondern  wie  ein 
unbeschriebenes  Blatt  durch  einen  einzigen  weisen,  gereiften  und 
gerechten  Mann  die  höhere  Rechtsreligion  aufnehmen  dürfte, 
dann  möchten  wir  auch  nicht  anstehen,  die  Möglichkeit  des 
reinen  Monotheismus  bei  einem  Volke  als  denkbar  einzuräumen. 
Ob  man  aber  so  aussergewöhnliche  und  fast  unglaubliche  Be- 
dingungen zugestehen  könne,  das  muss  eben  die  Geschichte 
prüfen.  Nun  scheint  es  in  der  That  wirklich  geschehen  zu  sein^ 
dass  sich  unter  Führung  einer  grossartigen  Persönlichkeit  eine 
in  miserablen  socialen  Verhältnissen  fast  verkommene  Volksmenge 
zur  Auswanderung  oder  Flucht  überreden  liess.  Durch  lang- 
jähriges Wandern  und  viele  Kämpfe  wurde  sie,  wie  erzählt  wird, 
allmählich  ihrem  alten  Bestände  nach  aufgerieben,  und  nur  die 
Jugend,  die  ja  in  der  That  immer  ein  unbeschriebenes  Blatt  ist, 
blieb  übrig,  in  welche  der  Gesetzgeber  seine  neue  höhere  Religion 
einschreiben  konnte,  ohne  dass  die  alten  Gewöhnungen  und  der 
alte  Aberglaube  mit  seiner  sonst  unvertilgbaren  Macht  mit  hin- 
übergenommen wäre.  Mit  dieser  grösstentheils  jungen,  in  ein 
neues  Land  und  in  neue  Verhältnisse  verpflanzten  Generation 
wurde  nun  ein  neues  Volk  ansässig  mit  einer  neuen  eigenen 
Religion,  die  daher  mit  der  Religion  keines  anderen  Volkes  ver- 
wandt sein  konnte  und  keine  Wurzeln  in  der  polytheistischen 
Naturreligion  hatte  und  nicht  wie  bei  den  Germanen,  Indem  und 
Griechen  einen  Mischmasch  von  moralischer  Theologie  und  wüstem 
Aberglauben  bildete,  sondern  die  ihrem  Ursprünge  und  Wesen 
nach  den  reinen  Monotheismus  des  Rechtsbewusstseins  enthielt 
und  deshalb  auch  als  eine  wahre  Offenbarung  Gottes  gelten  kann. 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


Dogmatik,  291 

Da  die  sittlichen  Gefühle  und  die  Ideen  des  Rechts  und  des 
Unrechts  aber  durch  Projection  keine  Theologie  bilden  können,  so 
musste  die  moralische  Religion  nothwendig  von  der  Furchtreligion 
den  Gott  der  Macht  übernehmen  und  darum  auch  von  ihrem 
Gott  des  Gesetzes  irdische  Güter  und  Uebel  als  Lohn  und  Strafe 
erwarten.  Die  dadurch  entstandene  Verunreinigung  der  reinen 
und  höheren  Religion  werden  wir  später  untersuchen. 

Ich  will  nur  noch  erwähnen,  dass  es  trotz  der  wunderbaren 
und  einzigartigen  Entstehung  dieser  moralischen  Religion  nicht 
gut  möglich  war,  sie  rein  zu  bewahren;  denn  die  mächtigen  An- 
triebe der  Begierden  mit  ihrer  Thorheit  mussten  in  der  Menge, 
wie  in  vielen  hervorragenden  Einzelnen,  immer  wieder  die  Motive 
der  Furchtreligion  in  Umlauf  bringen  und  daher  vielfache  An- 
näherung an  den  Götzendienst  der  umwohnenden  Völker  hervor- 
rufen. Es  ist  daher  in  der  Ordnung,  dass  die  Propheten  uns 
dies  auch  immerfort  verkünden  und  dass  sie  mit  der  Stärkung 
des  Rechtsbewusstseins  zugleich  auch  stets  einen  Kampf  gegen 
die  Infection  des  Götzendienstes  der  Naturreligionen  unternehmen 
müssen. 

Darum  kann  es  als  eine  Niederlage  der  prophetischen  Kraft 
oder  als  ein  Compromiss  und  eine  Anpassung  und  Concession 
betrachtet  werden,  wenn  endlich  der  Dualismus  zur  öfFentlichcn 
Anerkennung  gelangte,  indem  man  den  bösen  Dämon  als  ein 
irgendwie  mächtiges,  natürlich  unklar  vorgestelltes  göttliches 
Wesen  neben  den  wahren  und  einzigen  Gott  des  Gesetzes  stellte. 
Der  Grund  dieser  nothwendigen  Niederlage  ist  aber  nicht  schwer 
zu  sehen.  Da  nämlich  der  moralische  Gott  mit  dem  Gott  der 
Macht  verschmolzen  war,  so  mussten  alle  geschichtlichen  Ereig- 
nisse und  alle  privaten  glücklichen  und  unglücklichen  Erlebnisse 
als  Lohn  und  Strafe  für  Sünde  und  Gerechtigkeit  erklärt  werden, 
was  jedoch  zu  beweisen  oder  einigermassen  glaublich  zu  machen 
in  der  That  unmöglich  ist,  weil  dabei  der  bloss  perspectivische 
Standpunkt  zum  objectiven  aufgebauscht  wird.  Denn  es  ist  eine 
logisch  unstatthafte  Methode  und  eine  naive  und  fast  lächerliche 
Arroganz  der  niedrigen  Natur  des  Menschen  dem  höheren  sitt- 
lichen Geiste  gegenüber,  wenn  die  Gerechtigkeit  eines  Menschen 
aus  seinem  materiellen  Wohlstande,  seinen  Schafheerden  und  Häusern 
erkannt  wird  und  die  Hiobsleiden  aus  seiner  Sünde  und  Gott- 
losigkeit folgen  aollen.     Eine  solche  Philosophie  der  Geschichte 

uiymzeu  uy  x^j  vyVjpt  Iv^ 


292  Religion  der  Sünde. 

ist  oflfenbar  von  den  alten  Motiven  der  Furchtreligion  eingegeben 
und  nicht  von  dem  sittlichen  Geiste.  Um  daher  die  nothwendig 
entstehenden  Widersprüche  and  Unerklärlichkeiten  zu  deuten, 
kam  man  entweder  von  selbst,  oder  durch  den  Einfluss  der 
Perser  zu  der  dualistischen  Hypothese  und  verdarb  damit  die 
Reinheit  der  moralischen  Religion. 


§  4.    Die  Unveränderlichkeit  Gottes. 

Ich  habe  schon  oben  die  nothwendige  Unbestimmtheit  der 
Gottesvorstellung  in  der  moralischen  Religion  abgeleitet.  Während 
die  Furchtreligion  den  Gott  unmittelbar  an  die  in  den  Sinnen 
und  der  Phantasie  erscheinenden  Naturgestalten  anknüpft  und 
dadurch  die  reich  ausgebeutete  Veranlassung  gewinnt,  um  ihren 
Gott  oder  ihre  Götter  plastisch,  malerisch  und  dichterisch  dar- 
zustellen: so  kann  die  moralische  Religion  ihrem  einzigen  Gott 
keine  Gestalt  geben,  und  er  muss  gegen  die  bildenden  und  dra- 
matischen Künste  in  ein  feindliches  Verhältniss  gestellt  werden, 
wie  sich  dies  im  Judenthum  zeigt  Mithin  kann  die  Darstellungs- 
weise Gottes  höchstens  in  Verneinungen  bestehen,  indem  alle 
sinnliche  Götzengestalt  oder  Sinnenform  von  ihm  geläugnet  und 
er  über  alle  diese  Pracht,  wie  über  etwas  Untergeordnetes,  das 
nur  sein  Fussschemel  oder  bloss  sein  Thron  sei,  hoch  erhoben 
wird.  Wo  wir  aber,  sei  es  im  Judenthum  oder  bei  den  Griechen 
und  andern  Völkern,  dennoch  bildliche  oder  dichterische  Dar- 
stellungen des  Rechtsgottes  in  männlicher  oder  weiblicher  Gestalt 
mit  Modius  und  Wage  oder  mit  Sccpter  und  Diskus  u.  dergl. 
finden,  da  kann  man  gewiss  sein,  dass  man  keinen  voUbürtigen 
Abkömmling  der  zweiten  Religion  vor  sich  hat,  sondern  einen 
Bastard,  bei  welchem  der  barbarische  Ascendent  der  Furcht- 
religion den  Typus  vererbt  hat. 

Daher  sind  selbst  alle  Zeichen  einer  Veränder- 
dfr**gfwhitbu  licl^keit  Gottes  als  Bastardbildungen  zu  betrachten; 
liehen  Theologie  dcuu  der  Gcsctzesgott  kann  nur  das  unveränderliche 
FarThtwiigfon.  sittUchc  Bcwusstscin  vertreten  und  daher  weder 
freundlich  und  gnädig,  noch  zornig  und  rachlustig 
sein.  Da  wir  aber  nach  der  unaustilgbaren  selbstsüchtigen  Natur 
in  uns  immer  auch  die  Furchtreligion  im  Stillen  behalten,   so 

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Dogmatik.  293 

furchten  wir  sinnlichen  Schmerz,  Schaden,  Krankheit,  Nieder- 
lagen und  Tod  und  betrachten  in  solcher  Gemtithslage  den  Rechts-  ' 
gott  mit  den  Attributen  des  Naturgottes  als  ztimend  und  rächend, 
wie  bei  den  umgekehrten  Stimmungen  der  Hofihung  als  gnädig 
und  mild,  weil  er  sinnliche  Güter  verleiht,  uns  aus  Gefahren 
rettet  und  als  unser  Stab  und  Schild,  als  unser  Hüter  und  Hirt 
uns  leitet  und  bewahrt. 

Wie  alle  Veränderungen  des  Rechtsgottes,  der  am  Reinsten 
und  typisch  in  der  Religion  des  Volkes  Israel  auftritt,  undenkbar 
sind,  so  ganz  besonders  die  für  uns  so  wichtige  Menschwer- 
dung. Denn  die  sittlichen  Geftihle  und  die  zugeordneten  Rechts- 
begriflFe  haben  gar  kein  wesentliches,  d.  h.  in  ihren  constitutiven 
Merkmalen  begründetes  Verhältniss  der  Identität  oder  Aehnlichkeit 
mit  der  sinnlichen  Gestalt  eines  Menschen.  Mithin  ist  es  un- 
denkbar, dass  der  reine  Rechtsgott  als  Kind  geboren  werden 
könnte  und  dass  er  als  Mann  oder  Weib,  Jüngling  oder  Greis 
in  dieser  oder  jener  Stadt  etwas  Einzelnes  thun  und  erleiden 
dürfte.  Wo  wir  daher,  wie  bei  den  Aegyptem,  den  Indern,  den 
Germanen  und  im  Christenthum  den  das  Recht  vertretenden  Gott 
als  Menschen  oder  wenigstens  in  bestimmten  Lebensschick- 
salen dargestellt  finden,  da  müssen  wir  ohne  allen  Zweifel  eine 
Erklärung  daflir  anderswo  als  in  der  moralischen  Religion  suchen. 
Nun  bietet  sieh  zur  Erklärung  der  Schicksale  von  Indra,  Osiris, 
Baidur  u.  A.  sehr  leicht,  wie  man  dies  auch  bisher  schon  allge- 
mein erkannt  hat,  die  Naturreligion  an,  da  sie  die  Jahreszeiten, 
welche  flir  den  natürlichen  Menschen  die  gefährlichsten  und  glück- 
lichsten Ereignisse  bilden,  dichterisch  in  ein  Drama  verwandelt 
hat,  in  welchem  der  Gott  geboren  wird,  blüht,  stirbt  und  wieder- 
ersteht. Dies  ist  alles  sehr  leicht  mit  der  Phantasie  nach- 
zuerzeugen.  Dagegen  kann  die  Lebensgeschichte  Christi  nur  zum 
Theil  als  Legende  auf  diese  Vorbilder  der  Naturreligion  zurück- 
geführt werden,  ihrer  Hauptsache  nach  aber  verlangt  sie  eine 
über  alle  anderen  Religionen  hinausgehende  und  ihr  allein  an- 
gehörige  historische  Erklärung,  wovon  wir  später  ausführlich  zu 
handeln  haben. 

Da  nun  das  moralische  Bewusstsein,  welches  in  den  edleren 
Naturen  entsteht,  niemals  das  ganze  Volk  durchdringen  und  auch 
in  den  Edelsten  niemals  die  natürlichen  Erregungen  von  Furcht 

uiumzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


294  Religion  der  Sünde. 

und  Hoffiiung  entwurzeln  kann,  so  ist  es  auch  unmöglich,  dass 
die  moralische  Religion  jemals  rein  und  unvermischt  mit  der 
Furchtreligion  auftrete.  Mithin  wird,  wie  schon  wiederholentlich 
hervorgehoben,  Lohn  und  Strafe  von  Seiten  Gottes  in  dieDog- 
matik  aufgenommen  werden,  und  es  kann  der  moralische  Gott 
auch,  obgleich  er  der  sinnlichen  menschlichen  Natur  untheilhaftig 
bleibt,  dennoch  in  ein  geschichtliches  Verhältniss  zum  Einzel- 
menschen und  zu  einem  Volke  treten.  Wenn  nämlich  die  ge- 
schichtlichen glücklichen  oder  unglücklichen  Ereignisse  sich  in 
bestimmter  Ordnung  an  die  wirklichen  EntSchliessungen  und  Be- 
mühungen, an  die  tugendhaften  oder  verbrecherischen  Handlungen 
der  Menschen  anschliessen,  so  muss  sich  eine  Art  Philosophie 
der  Geschichte  von  selbst  bilden,  indem  der  Gott  als  unser  Gott 
oder  als  Nationalgott  fiir  das  ihn  verehrende  Volk,  in  dessen 
Bewusstsein  er  lebt,  als  gemeinsame  Ursache  der  früheren  und 
gegenwärtigen  Schicksale  betrachtet  wird  und  wir  mithin  die 
Regeln  und  Motive  seiner  Entscheidungen  durch  das  Rechts- 
bewusstsein  begründen  können.  So  giebt  ja  auch  die  typische 
Rechtsreligion  der  Israeliten  in  den  geschichtlichen  Büchern  des 
alten  Testaments  und  in  den  Räsonnements  der  Propheten  überall 
dieselbe  Philosophie  der  Geschichte,  dass  Gesetzestreue  mit  Sieg, 
Wohlstand  und  nationaler  Freiheit;  Götzendienst  aber  und  alle 
Gesetzwidrigkeiten  mit  Besiegtwerden,  Hunger,  Elend  und  Exil 
verknüpft  sei.  Und  der  Gott  wird  insofern  geschichtlich,  als 
das  Volk  sich  seiner  eigenen  Geschichte  erinnert  und  sie  sich 
unter  diesem  theologischen  Gesichtspunkte  zurechtlegt.  Mithin 
ist  er  der  Gott,  der  die  Väter  aus  Egypten  geführt,  der  die  Ge- 
setze durch  Moses  gegeben  hat,  er  ist  der  Gott  von  Abraham 
und  Isaak  und  auch  der  Gott  David's ;  kurz  soweit  die  Geschichts- 
erinnernng  reicht,  soweit  geht  die  Philosophie  der  Geschichte  und 
soweit  gewissermassen  die  Geschichte  Gottes. 

Diese  ganze  geschichtliche  Auffassung  unseres  Verhältnisses 
zu  Gott  ist  aber  nur  möglich  durch  die  Verschmelzung  der  Re- 
ligion der  Furcht  und  Hoffnung  mit  der  Rechtsreligion.  Aus 
dieser  Verschmelzung  allein  kann  auch  der  sogenannte  Bund 
erklärt  werden,  den  der  Rechtsgott  mit  seinem  Volke  in  der 
typischen  Rechtsreligion  abschliesst.  Principiell  und  contractlich 
wird  dabei  die  Erfüllung  des  Rechtsgesetzes  mit  den  Gaben  der 
Hoffnung,  die  Sünde  umgekehrt  mit  dem  schlimmen  Kelchinhalte 

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Dogmatik.  295 

der  Furcht  verknüpft;  was  so  viel  heisst,  als  dass  der  alte  Furcht- 
und  Machtgott  sich  dem  paoralischen  Bewusstsein  nntcrordnet, 
ohne  doch  seine  Macht  und  seinen  Gultus  zu  verlieren. 

Wenn   nun,  wie  oben  nachgewiesen,  der  Mono- 

,.  T         ..         1.1.    i.T»  j-Tfci  PriDcip  für  die 

theismus  die  einzige  logisch  richtige  Form  der  Rechts-    Deduction  der 
religion  ist  so  zwingt  dieselbe  Logik,  auch  die  Un-  ünveränienich- 

-.7.     i,.i  ^  /.,  1  keit  Gottes. 

Veränderlichkeit  des  Gottes  zu  fordern;  denn 
das  moralische  Bewusstsein  ist  schlechterdings  unveränderlich. 
Nun  werden  zwar  die  Skeptiker,  die  Empiriker  und  Positivisten 
kommen  und  uns  vorhalten,  dass  das  moralische  Bewusstsein 
doch  entschieden  eine  geschichtliche  Entwickelung  zeige  und 
dass  mithin  der  projectivische  Gott  auch  einem  Fortschritt  zu- 
gänglich sein  und  sich  civilisiren  mtisse.  Allein  diese  Positivisten 
sind  ihrer  empirischen  Herkunft  entsprechend  nicht  stark  im 
Denken.  Um  sie  aber  auf  ihrem  eigenen  Gebiete  zu  schlagen, 
nehme  ich  nur  die  reinste  und  zum  Typus  am  besten  geeignete 
jüdische  Religion  und  frage,  ob  Jehovah  sich  im  Laufe  der  Jahr- 
tausende civilisirt  hat,  ob  die  Juden  zu  Christi  Zeit  und  dann 
wieder  zu  unserer  Zeit  ihren  alten  Bundesgott  verläugnen  oder 
verläugnet  haben,  ob  sie  nicht  immer  dieselben  religiösen  Ur- 
kunden brauchen  und  immer  Mosen  und  die  Propheten  citiren, 
um  ihr  religiöses  Bedtirfiiiss  zu  befriedigen.  Die  anderen  mora- 
lischen Religionen  eignen  sich  schlecht  zum  Beweise,  weil  sie  so 
ausserordentlich  unrein  sind  und  die  Abscheidung  der  tiberwuchem- 
den  Elemente  der  Furchtreligion  den  zu  führenden  Beweis  er- 
sticken würde. 

Da  es  hier  aber  nicht  unsere  Aufgabe  ist,  mehr  oder  weniger 
gelungene  historische  Analysen  und  Descriptionen  zu  bieten,  son- 
dern die  wissenschaftlichen  Gesichtspunkte  festzulegen,  nach 
denen  alle  historischen  Auffassungen  und  Beurtheilungen  normirt 
werden  müssen:  so  haben  wir  unsere  Frage  auch  nur  speculativ, 
d.  h.  durch  Nachweisung  der  einfachen  und  allgemeinen  Be- 
ziehungspunkte im  menschlichen  Geiste  zu  lösen ;  denn  ohne  den 
zugehörigen  Geist  entsteht  keine  Religion  und  ohne  die  jedesmal 
zugehörigen  Beziehungspunkte  entstehen  nicht  die  jedesmal  zu- 
geordneten bestimmten  Formen  der  Religion. 

Nun  zeigt  sich  das  moralische  Bewusstsein  in  dem  Gefllhl 
der  Sünde   durch   die  Beziehung   zwischen   dem  selbstsüchtigen 

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296  Boligion  der  Sttnde. 

Begebren  und  Handeln  einerseits  und  dem  zur  alleinigen  Leitung 
berufenen   vernünftigen  Denken   andererseits,  wobei  der  Wider- 
spruch und  Zwist  ein  über  die  selbstsüchtigen  Geflihle  erhabenes, 
einer  höheren  Ordnung  angehörendes  Gefühl  des  Missfallens  aus- 
löst.   In  diesen  drei  Beziehungspunkten  besteht  das  moralische 
Verhältniss,  und  dieses  Verhältniss  ist   unabänderlich,   es  ist 
allgemein    und    einzig,    weil    es    die  von   jedem   denkbaren 
empirischen  Inhalte  unabhängige  Beziehung  zwischen  den  zeit- 
losen,  coDStitutiven  Elementen  des   geistigen  Lebens  ausdrückt. 
Wer  nun,  wie  die  Positivisten,   die  Veränderlichkeit  der  Mora- 
lität  der  Völker  betont  und  deswegen  einen  entsprechenden  Fort- 
schritt der  Theologie  fordert,  der  müsste  auch  fordern,  dass  wir 
mit    fortschreitender    Bildung    nicht    mehr    dieselben    Farben- 
empfindungen hätten  und  Rothes  und  Blaues  nicht  mehr  als  roth 
und  blau  empfänden,  da  ja  durch  die  wachsende  Welterkenntniss 
unsere  Ansichten  z.  B.  über  Zinnober  sich  sehr  geändert  hätten 
und  wir  jetzt  die  Bestandtheile  desselben  chemisch  als  Queck- 
silber und  Schwefel  bestimmen  könnten  und  daher  doch  sicherlich 
nicht  mehr   die   ungebildete  Empfindung   der  rothen  Farbe  bei 
dem  Zinnober  haben,   sondern   dabei  vielmehr  Silberglanz  und 
Gelbheit  empfinden  würden.    Wie  dies  nun  eine  lächerliche  For- 
derung wäre,  weil  die  Farbenempfindungen,  obgleich  wir  sie  ge- 
schichtlich immer  genauer  unterscheiden  und  bezeichnen,  dennoch 
eine    ganz    bestimmte  und    unabänderliche   allgemeine   Qualität 
unserer  Sinnlichkeit  bilden,  die  gleichgültig  gegen  alle  zufalligen 
Objecte,  gegen  deren  Veränderungen  und  unsere  Ansichten  darüber 
sind:  so  ist  es  auch  verkehrt,  bei  derMoralität  an  den  zufalligen 
empirischen  Inhalt   des  Bewusstseins   zu   denken,   bei  welchem 
gerade  einmal  die  moralische  Qualität  des  Geistes  zur  Auslösung 
kommt;  denn  nicht  darin  besteht  die  Moralität,  ob  Esau  ein  Linsen- 
gericht dem  Erstgeburtsprivileg  vorzog,   oder  Jacob  umgekehrt 
dachte,  und  ob  man  am  Sonntag  nicht  pflügen,  oder  ob  man  seine 
Frau  nicht  für   die  Schwester  ausgeben  darf  u.  dergl.,  sondern 
dies   sind   ganz   zufallige  und   gleichgültige  Vorstellungen;   das 
Wichtige  und  Entscheidende  besteht  aber  darin,  dass  bei  solchen 
äusseren  Veranlassungen  die  qualitative  Beziehung  der  allgemeinen 
Elemente  unseres  Geistes   zu   einem   Zwiste   und  Widerspruche 
führt,  der  das  Gefühl  der  Sünde  auslöst.    Dies  Gefühl  und  diese 


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Dogmatik.  297 

qualitative  Beziehung  ist  überall  gleich  bei  allen  möglichen  zu- 
fälligen Veranlassungen  und  unterscheidet  sich  nur  durch  die 
Stärke  der  Erregung,  ebenso  wie  die  optischen  Qualitäten  der 
Empfindung  immer  die  gleichen  sind,  wenn  auch  verschiedene 
Objecte  dabei  vorgestellt  und  verschiedene  Bezeichnungen  der 
Empfindungen  eingeftlhrt  werden.  Darum  entspricht  dem  Gefühl 
der  Sünde  die  Idee  des  Becbts  und  Gesetzes,  und  die  Fähigkeit, 
diese  Beziehungspunkte  des  geistigen  Lebens  aufzufassen  und 
die  entsprechenden  Geflihle  dabei  zu  haben,  ist  das  Wesen  der 
Moralität.  Diese  ist  mithin  unabänderlich  und  hat  die  gleiche 
Natur  im  Kinde  und  Greise,  in  der  Frau  und  im  Manne,  im 
Menschen  des  Alterthums  und  im  Gebildeten  des  neunzehnten 
Jahrhunderts.  Die  Positivisten  denken  an  die  einzelnen  positiven 
Gegenstände  der  Sitte  und  der  Gesetze,  die  sich  im  Laufe  der 
Zeit  verändein,  und  halten  deswegen  die  Moralität  für  ein  bloss 
geschichtliches  Phänomen,  als  wenn  der  Schmelzungspunkt  der 
Metalle  sich  darnach  änderte,  ob  rohe  Putzartikel  der  Wilden 
oder  feine  Kunstwerke  der  Civilisation  daraus  fabricirt  werden. 
Sofern  nun  der  projectivische  Gott  des  Gesetzes  nicht  die 
Projection  dieses  oder  jenes  bestimmten  Vorstellungsinhalts  über 
Linsenbrei  und  gestohlene  Esel  und  Ackerbau  am  Sonntag  u.  dgl. 
ist,  sondern  die  Projection  unseres  moralischen  Bewusstseins, 
welches  sich  bei  solchen  zufälligen  Veranlassungen  äussert,  so 
kann  auch  der  heilige  Gott  nicht  veränderlich  und  civilisirbar 
sein,  obwohl  das  vernünftige  Denken  der  Menschen  mit  der  Zeit 
Fortschritte  macht  und  nicht  mehr  inmier  bei  denselben  Ver- 
anlassungen, wie  früher,  den  Conflict  der  Sünde  vermitteln  wird. 
Darum  ruft  Gott  seine  Propheten  und  trägt  ihnen,  je  nach  den 
historisch  gegebenen  Umständen,  bald  dies,  bald  jenes  auf,  bald 
den  Saul,  bald  den  David  zu  salben,  bald  zu  fluchen,  bald  zu 
segnen;  die  Moralität  und  Gesetzestreue  besteht  aber  nicht  in 
diesem  Salben  und  Reden,  sondern  in  dem  richtigen  Verhältniss 
der  geistigen  Functionen,  wonach  ihr  Begehren  d^m  Rufe  der 
Vernunft  oder  des  aus  ihnen  sprechenden  göttlichen  Geistes  ge- 
horcht, so  dass  dieser  Einklang  als  wohlgefällig,  der  Zwist  als 
unerträglich  oder  als  Sünde  empfunden  wurde.  Darum  können 
die  Handlungen  der  Gläubigen  sich  vollkommen  widersprechen, 
wie  wenn  erst  Saul,  dann  David  gesalbt  wird,  und  dennoch  folgt 


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Religion  der  Sünde. 

beides   aus   dem   religiösen  Bewusstsein   und  drückt  die  unver- 
änderlich gleiche  Qualität  des  Gehorsams  gegen  Gott  aus. 

Da  also  der  Gott  der  moralischen  Religion  nicht  irgend 
einen  bestimmten  Vorstellungsinhalt  wirklicher  Dinge,  sondern 
bloss  das  identische  und  formale  Bewusstsein  der  unbedingten 
Gültigkeit  des  moralischen  Verhältnisses  zwischen  unseren 
Geistesthätigkeiten  ausdrückt,  so  gewährt  dies  Princip  den  zwin- 
genden Beweis  der  Unveränderlichkeit  des  Gottes  der  Rechts- 
religion. 


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Drittes  Capitel. 
Der  zugehörige  Cnltus. 


Unter  Cultus  verstanden  wir  den  Verkehr  des  Menschen  mit 
Gott  oder  diejenigen  Handlungen,  die  sich  weder  aus  wissen- 
schaftlichen und  künstlerischen  Interessen,  noch  aus  den  Auf- 
gaben des  praktischen,  politischen  und  socialen  Lebens  und 
dessen  Bedürfnissen,  sondern  allein  durch  eine  Beziehung  der 
Pers()nlichkeit  auf  ihre  Gottesidee  erklären  lassen.  Da  nun  die 
Cultusgebräuchc  der  Furchtreligion  sehr  einfach  und  verständlich 
aus  der  zugehörigen  selbstsüchtigen  Gesinnung  folgten,  so  fragt 
sich,  wie  auf  der  höheren  sittlichen  Stufe  der  Religion  ein  Verkehr 
mit  der  Gottheit  stattfinde. 

§  l.    Der  speciüsche  Gült. 

Wollten  wir,  um  den  Cult  des  Gesetzesgottes  zu  bestimmen, 
das  inductive  Verfahren  einschlagen  und  uns  durch  Betrachtung 
der  Cultgebräuche  bei  den  Germanen,  Griechen,  Juden,  Persem, 
Egyptern,  Indern  und  einigen  andern  Völkern  zu  unterrichten 
suchen,  so  würden  wir  die  breite  und  gewöhnliche  Heerstrasse 
einschlagen,  auf  der  aber  bis  jetzt  Niemand  die  richtige  Antwort 
gefunden  hat  und  finden  konnte.  Denn  die  wirklichen  historischen 
Keligionen  bilden  keine  reinen  Formen,  sondern  enthalten  bloss 
wie  Erze  das  gesuchte  Metall  in  sich,  welches  aber  erst  rein 
ausgeschieden  werden  muss,  ehe  man  seine  specifischen  Reactionen 
erkennen  kann.  Wer  deshalb  inductiv  verfahren  wollte,  müsste 
erst  die  Methode  angeben,  wie  er  alles  Nichtspecifische  zu  eli- 
miniren  vermöchte.  Zu  diesem  Zwecke  müsste  er  aber  das 
Specifische  selber  schon  kennen  und  es  also  auf  einem  anderen 
Erkenntnisswege  in  seinen  Besitz  gebracht  haben.  Woran  soll 
man  den   specifischen   Cult   als   artbildende  Beaction  von   den 

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300  Beligion  der  Sünde. 

Reactionen  der  beigemischten  Elemente  unterscheiden?  So  z.  B. 
finden  wir  Opfer  bei  den  Juden,  wie  bei  den  Griechen,  bei  den 
Hindu,  wie  bei  den  Baalsdienem  und  allen  Naturvölkern.  Nach 
inductivem  Verfahren  müssten  wir  also  in  dem  Opfer  eine 
generische  und  keine  specifische  Reaction  der  Religionen 
erkennen,  d.  h.  wir  wären  mit  Blindheit  geschlagen  und  ver- 
ständen dadurch  weder  das  Wesen  des  Opfers,  noch  die  spe- 
cifischen  Unterschiede  der  Religionen.  Darum  speisen  uns  auch 
die  Lehrbücher  mit  solchen  Trivialitäten  ab,  dass  einige  Völker 
und  Zeiten  Menschenopfer  darbrächten,  andere  Thiere,  andere 
Körner  und  Kuchen  und  dergleichen,  wodurch  man  über  alle  mög- 
lichen schönen  Dinge  aus  der  Culturgeschichte,  aber  nicht  über 
das  Wesen  der  Religion  unterrichtet  wird.  Also  ist  der  induc- 
tive  Weg  hier  nicht  der  wissenschaftlichere,  sondern,  wie  in  der 
Mathematik,  völlig  unstatthaft  und  erfolglos. 

Mithin  bleibt  nur  der  deductive  Weg  der  Speculation  übrig, 
der  aber  nicht  darin  besteht,  dass  man  irgend  welchen  mehr 
oder  weniger  geistvollen  Einfall  zu  Markte  trägt,  sondern  dass 
man,  wie  in  der  Mathematik,  die  in  der  Gleichung  gegebenen 
Bestimmungen  analysirt  und  ihre  gesetzlichen  Coordinationen  zur 
Auflösung  des  Unbekannten  gebraucht.  So  haben  wir  hier  von 
dem  gegebenen  und  bekannten  Wesen  der  Religion  auszugehen, 
um  demgemäss  den  Cult  zu  bestimmen. 

Nun  wäre  es  nie  zu  einer  Rechtsreligion  gekommen,  wenn  die 
Menschen  immer  gerecht  und  in  vollem  Einklänge  ihrer  leiden- 
schaftlichen Natur  mit  ihrem  moralischen  GefiLhle  gelebt  hätten. 
Erst  die  Sünde,  d.  h.  der  Zwiespalt,  weckte  das  Bewusstsein  des 
Rechts.  Da  aber  unser  Ich  sich  mit  der  körperlichen  mensch- 
lichen Erscheinung,  welche  in  die  Sinne  fällt  und  uns  immer 
begleitet,  ursprünglich  eins  weiss  und  sich  deshalb  als  Thäter 
der  leidenschaftlichen  und  sündlichen  Handlungen  betrachtet, 
dagegen  sich  nicht  bewusst  ist,  irgendwie  die  moralischen  Urtheile 
und  die  zugehörigen  Gefühle  des  sogenannten  Gewissens,  dessen 
Natur  verborgen  und  räthselhafl;  bleibt,  hervorgebracht  zu  haben, 
vorzüglich  da  dies  Gewissen  sich  auch  nur  bei  besonderen  Ge- 
legenheiten kräftig  kundgiebt  und  sonst  schweigt,  so  ist  es  ganz 
natürlich,  dass  sich  das  Ich  mit  der  sündigen  Seite  identificirt 
und  die  moralische  Seite  des  Rechtes  als  etwas  Neues  und 
Fremdes,   dessen  Ursprung  es  nicht  kennt,   dessen  Einfiuss  es 

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Cultus.  301 

sieb  aber  nicht  entziehen  kann,   auf  eine  andere  Ursache,   und 
zwar  notbwendig  auf  eine  höhere,  zarttckflihrt. 

Da  nun  diese  höhere  fremde  Ursache  projicirt  wurde  und 
also  den  Charakter  eines  äusseren  Wesens  erhielt,  ebenso  wie 
alle  Menschen  ihre  Sinnesanschauungen  projiciren  und  deshalb 
eine  äussere  Welt  mit  vielen  Dingen  gegenständlich  vor  sich  zu 
haben  glauben,  während  diese  Bilder  doch  nur  in  ihrem  eigenen 
Bewusstsein  existiren:  so  wurde  notbwendig  dies  neue  Subject 
des  Rechtes  personificirt  und  mithin  nach  der  Analogie  des  schon 
bekannten  unsichtbaren  Naturgottes  gedacht. 

Wie  musste  nun  der  Cultus,  d.  h.  der  Verkehr  mit  diesem 
Gotte  werden?  Um  das  Specifische  zu  finden,  müssen  wir  alle 
Vorstellungen,  Willensbestimmungen  und  Handlungen,  die  dem 
Naturgotte  zugeordnet  sind,  weglassen  und  bloss  die  Data  in's 
Auge  fassen,  welche  der  neuen  Kechtstheologie  zugehören.  Diese 
Data  beziehen  sich  aber  in  erster  Linie  auf  das  negative  Ver- 
hältniss,  die  Sünde,  zweitens  erst  auf  das  positive. 

Wir  gehen  davon  aus,  dass  das  Oefbhl  der  Sünde  i*  nio  uneinig- 
wie  die  moralische  Theologie  nicht  in  jedem  beliebi-  *®"' 
gen  Menschen  entspringen  konnte,  sondern  als  eine  höhere 
Schöpfung,  wie  bei  den  höheren  Leistungen  der  Künste  und 
der  Wissenschaften,  eine  höhere  Begabung  voraussetzt,  durch 
welche  sich  alle  Thätigkeiten  zu  einer  gewissen  Stärke  ent- 
wickeln und  eher  bemerklich  werden.  Nun  gehört  in  einem 
jeden  Menschen,  wie  wir  wissen,  das  Geftlhl  des  Rechtes  mit 
dem  übrigen  Begeliren  und  Fühlen  zusammen;  es  sind  in  unserer 
Natur  die  beiden  Factoren,  das  leidenschaftliche  natürliche  Be- 
gehren einerseits  und  das  sittliche  Gefhhl  andererseits,  zu  einer 
Coordination  bestimmt,  auf  eine  natürliche  Ordnung  der  Abhängig- 
keit des  ersteren  von  dem  zweiten  Factor  berechnet,  wodurch 
das  menschliche  Wesen  Einigkeit  in  sich  trotz  der  Selbstständig- 
keit der  Factoren  besitzen  würde.  Wird  nun  diese  Einigkeit 
gestört,  so  kann  dies  nur  durch  eine  Aeusserung  des  natürlichen 
Begehrens  geschehen,  welches  sich  f)ir  sich  vollzieht,  ohne  die 
Ordnung  und  Regulirung  durch  den  eingeborenen  und  zum  Mit- 
wirken bestimmten  zweiten  Factor  abzuwarten.  Da  dieser  nun, 
wie  nachgewiesen,  der  höhere  ist,  so  ist  also  die  Störung  der 
Einigkeit  notbwendig  eine  Unbotmässigkeit  oder  Empörung 
des  zum  Gehorchen  bestinmiten  Elementes  gegen  das  von  Natur 

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302  Beligion  der  Sünde. 

zur  Herrschaft  befähigte  und  befehlende  Element.  Das  herr- 
schaftliche Element  wird  aber  seinem  Wesen  nach  auch  das 
stärkere,  und  es  ist,  wo  es  auftritt,  tiberhaupt  unmöglich, 
dass  ihm  nicht  gehorcht  werde.  Mithin  kann  die  Störung 
der  Einigkeit  nur  gedacht  werden,  wenn  das  moralische  Gefühl 
zeitweise  im  Bewusstsein  nicht  auftritt.  Da  nun  jeder  weiss, 
dass  im  Bewusstsein  immer  nur  eine  bestimmte  Menge  von 
Vorstellungen  und  Gefühlen  auf  einmal  Yorkommen  können,  so 
dass  jedes  weiter  hinzukommende  Element  nothwendig  das  Aus- 
treten eines  früher  vorhandenen  mit  sich  führt:  so  folgt,  dass 
zum  Zustandekommen  der  Sünde  nothwendig  eine  einseitige 
UeberfüUung  des  Bewusstseins  mit  den  Vorstellungen  der  sinn- 
lichen Welt  und  den  dazu  gehörenden  angenehmen  und  unange- 
nehmen Gefühlen  erforderlich  ist.  So  kann  z.  B.  ein  im  Ganzen 
sonst  dem  moralischen  Geftlhl  zugänglicher  Mensch  durch  ein- 
seitigen Kitzel  seiner  Triebe  in  den  Vorstellungen  von  dem  Wein 
oder  den  Reizen  des  Weibes  oder  dem  Vortheil  des  Besitzes 
oder  dem  Inhalt  eines  beleidigenden  Wortes  u.  s.  w.  nebst  den 
zugehörigen  angenehm  berauschenden  Gefühlen  der  Völlerei,  der 
Wollust,  der  Habsucht,  oder  den  unangenehm  zornigen  Erregungen 
u.  dergl.  sein  Bewusstsein  dermassen  füllen,  dass  für  eine  ge- 
gebene Zeitdauer  die  moralischen  Gefühle  mit  den  ihnen  zugeord- 
neten vernünftigen  Gedankeij  der  sittlichen  Ordnung  nicht  in's 
Bewusstsein  dringen  und  deshalb  vorübergehend  ihre  natürliche 
Uebermacht  und  Herrschaft  nicht  ausüben  können. 

Sobald  aber  die  Congestion  des  sinnlichen  Vorstellungslebens 
und  die  daraus  resultirende  Plethora  vorübergegangen  ist,  so 
müssen  die  moralischen  Elemente  wieder  in's  Bewusstsein  treten, 
und  nun  erst  entsteht  die  Uneinigkeit  des  Menschen.  Der  wieder- 
gekehrte vernünftige  Geist  besieht  sich,  was  inzwischen  ohne 
sein  Gebot  angerichtet  ist.  Da  tauchen  nun  die  Erinnerungen 
auf:  man  hört  Wittwen  und  Waisen  schreien,  die  beleidigt  und 
benachtheiligt  sind;  es  schreien  die  geschändeten  Jungfrauen, 
die  beraubten  Nachbaren  oder  Fremden;  es  schreien  die  brutal 
behandelten  Genossen,  die  im  Zorn  Verhauenen  und  Verstümmel- 
ten; und  es  steigen  auf  die  Bilder  der  Wollust  und  Völlerei  nach 
ihrer  schmutzigen  und  ekelhaften  Seite.  Der  Geist  aber  erhört 
all  dies  Geschrei  und  ersieht  all  diese  Bilder  des  Bewusstseins, 
und  es  ist  vor  ihm  keine  Decke  und  Vorhang,   kein  Verbergen 

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Coltus.  303 

und  Entfliehen  möglich.  Er  ist  allgegenwärtig;  denn  er  ist  das 
Bewusstsein  und  die  Beurtheilung  alles  Bewussten,  so  dass  der 
Sünder  weder  an  das  Ende  der  Erde  entfliehen,  noch  sich  in 
die  Tiefen  der  Hölle  betten  könnte,  ohne  sein  Bewusstsein  mit 
sich  zu  nehmen,  welches  sofort  auch  da  ist  und  ihn  richtet. 

In  diesem  Zustande  der  Uneinigkeit  der  Seele  mit  sich 
selbst  muss  sich  nun  nothwendig  das  Gefühl  oder  der  Wille  in 
zwei  Akten  entfalten. 

Zuerst  muss  die  Uneinigkeit  eines  zur  Einigkeit  organisirten 
Wesens  das  Gefühl  dieser  inneren  Unordnung  hervorrufen,  d.  h. 
einen  moralischen  Schmerz  von  verschiedenen  Graden,  jenachdem 
die  moralischen  Geilihle  vorher  überhaupt  stärker  oder  schwächer 
entwickelt  waren  und  je  nach  der  Grösse  des  plethorischen  Zu- 
standes,  in  welchem  die  Leidenschaft  zeitweilig  mehr  oder  weni- 
ger die  vernünftige  objective  Auffassung  und  die  zugehörigen  mora- 
lischen Gefühle  aus  dem  Bewusstsein  verdrängt  hatte.  Das  Ge- 
fühl der  Sünde  wird  in  strenger  Coordination  den  quantitativen 
und  qualitativen  Bedingungen  dieser  Zustände  entsprechen  und 
sich  daher  in  allen  Graden  von  Null  bis  Unendlich  entladen 
können.  Der  Nullpunkt  tritt  ein,  wenn  die  Uneinigkeit  über- 
haupt unmerklich  war  und  keine  mechanische  Verdrängung 
der  moralischen  Mächte  stattfand.  Der  unendliche  Schmerz 
über  die  Sünde  beruht  auf  einer  zeitweiligen  Alleinherrschaft  der 
moralischen  Vorstellungen  im  Bewusstsein,  wobei  die  in  unserer 
leidenschaftlichen  Natur  begründete  Lust  an  dem  eigensüchtigen 
Thun  ganz  zurückgetreten  ist,  wie  ja  z.  B.  die  Erschöpfting  und 
Traurigkeit  nach  den  Akten  der  Leidenschaft  den  ganzen  Inhalt 
solcher  Begehrungen  zeitweilig  als  nichtig  und  völlig  werthlos 
erscheinen  lässt,  während  die  Ziele  der  Vernunft  die  unbedingte 
Anerkennung  des  Gefühls  finden,  und  daher  die  lustlose  Erinne- 
rung an  das  Geschehene  nur  eine  durch  nichts  eingeschränkte, 
also  unendliche  Missbilligung,  und  eine  durch  keine  Regung  der 
Begierde  eingeschränkte,  also  unendliche  schmerzhafte  Entladung 
des  GeftLhls  herbeifuhrt.  Die  zwischen  diesen  Gränzen  liegenden 
Grade  des  Geftlhls  der  Sünde  hängen  theils  von  der  qualitativen 
Feinheit  der  moralischen  Ausbildung,  theils  von  der  mehr  oder 
weniger  grossen  Gewalt,  oder  dem  mehr  oder  weniger  grossen 
Umfang  der  zeitweiligen  Verdrängung  des  moralischen  Geistes 
ab,  der  dann  allmählich  oder  stossweise  in's  Bewusstsein  zurück- 

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304  Eeligion  der  Sünde. 

kehrt  und  demgemäss  verschiedene  Arten  von  SündegeiUhl  her- 
vorbringt. Jede  Meinthat,  oder  jede  bloss  angeziemende  Hand- 
lung, jedes  unrechte  Wort,  ja  jeder  üble  Gedanke  wird  dement- 
sprechend akut  in  raschen  stechenden  Schmerzen,  oder  chronisch 
in  allmählich  aufsteigender  Missbilligung  oder  in  irgend  sonsti- 
gen verschiedenen  Arten  und  Weisen  verworfen.  Der  sich  in 
diesem  sogenannten  Gefühl  der  Sünde  kundgebende  Wille  bringt 
aber  sofort  neue  Goordinationen  mit  sich,  indem  das  Erkenntniss- 
und Bewegungsvermögen  sich  in  zugehöriger  Ordnung  entwickelt 
und  daher  zunächst  das  Geschehene  nach  Möglichkeit  wieder  gut 
zu  machen,  d.  h.  es  nach  den  Erfordernissen  des  Gesetzes  durch 
seine  That  so  umzugestalten  sucht,  dass  die  Veranlassung  des 
moralischen  Missfallens  thunlichst  aufhöre.  Die  Veränderung  des 
WoUens,  indem  nach  dem  Uebergewicht  der  blinden  Triebe  und 
ihrer  Lust  nun  das  moralische  Gefühl  wieder  die  Herrschaft 
übernimmt,  verlangt  daher  zunächst  das  Zugeständniss  der 
Schuld  und  demgemäss  den  Versuch,  die  Beschädigten,  Ge- 
kränkten, Beraubten  u.  s.  w.  zu  versöhnen,  das  Schreien  der 
Uebelthat  zu  beruhigen,  indem  der  Schuldige  sich  und  seine 
Mittel  hergiebt,  um  den  angerichteten  Schaden  und  den  Schmerz 
oder  die  Erbitterung  in  dem  Gemüth  der  Verstörten  zu  tilgen 
und  auszulöschen,  damit  die  schmerzliche  Erinnerung  nicht  durch 
das  Bild  der  bleibenden  Wirklichkeit  immer  wieder  frisch  werde, 
sondern  durch  Versöhnung  der  Wirklichkeit  sich  lege  und  an  Kraft 
verliere.  In  diesen  zwei  Beziehungen  möchte  sich  also  das  soge- 
nannte GeftLhl  der  Reue  festlegen  lassen,  in  dem  Schmerz  einerseits 
und  dem  Bekenntniss  und  der  Opferwilligkeit  andererseits.  Beide 
zusammengenommen  bedeuten  die  entstandene  Willensänderung. 
Der  religiöse  Ausdruck.  Wenn  wir  nun  diese  morali- 
schen Zustände  auf  den  Ausdruck  der  projecti vischen  Theologie 
bringen,  so  ergiebt  sich  dadurch  das  specifische  cultische  Ele- 
ment dieser  Rechtsreligion.  Das  Ich  muss  sich  nämlich  noth- 
wendig  mit  dem  niedrigeren  Elemente  der  Persönlichkeit  iden- 
tificiren,  weil  ich  Unrecht  that,  und  doch  das  höhere  moralische 
Geftlhl  kein  Unrecht  hervorbringen  kann.  Darum  wird,  wie 
schon  gezeigt,  das  moralische  Gefühl  vom  Ich  getrennt,  per- 
sonificirt  und  projicirt,  und  ist  deshalb  die  höhere  über  dem  Ich 
herrschende  und  es  richtende  Gottheit  Mithin  steht  nun  Per- 
son der  Person  gegenüber.     Das  Ich   hat  jetzt   das   Missfallen 

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Cultus.  305 

Gottes  erregt  und  ist  betrübt  durch  die  Entfremdung  und  Ent- 
fernung des  Herrn,  der  sich  vor  ihm  zurückzieht  Denn  die  Ge- 
setzwidrigkeiten sind  ja  von  dem  Verschwinden  oder  dem  Ver- 
schattetwerden  der  moralischen  Geistesmächte  begleitet,  so  dass 
sich  also  Gott  von  dem  Sünder  abwendet,  ihn  verabscheut. 
Das  Gefühl  der  Sünde,  der  Schmerz  über  diese  Uneinigkeit  der 
Seele  könnte  aber  gar  nicht  vorhanden  sein,  wenn  nicht  das 
moralische  Bewusstsein  doch  schon  Macht  gewonnen  hätte.  Also 
muss  Sehnsucht  nach  dem  Gotte,  nach  seiner  Nähe,  seinem  Frie- 
den empfunden  werden.  Mithin  demüthigt  sich  der  Sünder  vor 
ihm.  Er  bekennt  ihm  seine  Schuld.  Er  schreit  nach  ihm,  wie 
der  Hirsch  nach  frischem  Wasser;  es  brennt  ihm  seine  Sunde, 
wie  glühende  Kohlen,  auf  dem  Haupte.  Mithin  ist  er  nun  be- 
reit, alles  zu  thun  oder  zu  lassen,  was  erforderlich  ist,  um  den 
Gott,  dessen  Willen  tibertreten  ist,  wieder  zu  versöhnen,  ihn 
wieder  bei  sich  wohnen  zu  haben  und  seinen  Frieden  zu  ge- 
messen. 

Da  nun  diese  moralischen  Zustände  nicht  anderswo  als  bloss 
im  Innern  der  Persönlichkeit  vorkonunen,  so  besteht  auch  der 
specifische  Cultus  nach  dieser  Seite  bloss  innerlich  im  geistigen 
Leben  als  eine  Zerknirschung  des  Herzens  (contritio  cordis), 
welche  eine  Reaction  der  beiden  anderen  Vermögen  des  Geistes 
als  zugehörig  nach  sich  zieht,  nämlich  erstens  eine  energischere 
Beschäftigung  mit  der  Erkenntniss  Gottes,  d.  h.  seines  Willens 
oder  seines  Gesetzes,  und  zweitens  eine  energischere  Entfaltung 
dieses  Gesetzes  durch  die  Moralität  der  Handlungen.  Wozu  frei- 
lich noch  hinzukommt,  dass  die  schlimmen  Folgen  der  Unge- 
rechtigkeit nach  Vermögen  aufgehoben  werden  müssen  durch 
Versöhnung  derer,  die  durch  unser  Unrecht  gelitten  haben,  also 
durch  möglichstes  Wiederaufrollen  der  Sünde.  Gott  gegenüber 
können  aber  in  dieser  Beligion  keine  Opfer  und  dergleichen 
dargebracht  werden,  da  er  als  Rechtsgott  nicht  der  Lämmer  und 
der  Böcke  Blut,  sondern  nur  ein  reuiges  und  reines  Herz  ver- 
langen kann  und  mit  nichts  Anderem  zufrieden  ist,  als  mit  einem 
Herzen,  das  Gott  liebt  über  Alles  und  seine  Gebote  hält.  Damit 
kommen  wir  auf  das  positive  Verhältniss. 

Wenn   nämlich    die   Uneinigkeit   des  Menschen 
durch  die  Sünde  erstens  Schmerz   und   das   Geflihl 


der  Gottverlassenheit  und  Gottentfremdung  und  zweitens  Sehn- 

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Teicbmüller,  Beligionaphilosophle.  20 

uiyiiizeu  L 


306  Religion  der  Sünde. 

sucht  nach  der  Anwesenheit  Gottes  hervorbringt:  so  mnss  die 
Einigkeit  die  entgegengesetzten  Gemüthszustände  in  sich  schliessen. 
Das  moralische  Gefühl  beherrscht  und  beseelt  das  Thun  des 
Menschen;  es  ist  kein  Widerspruch  und  kein  Widerstreben  in 
seinem  Wollen.  Folglich  muss  dieser  Einklang  religiös  ausge- 
drückt und  Yorgestellt  erstens  als  von  Gott  konmiende  Freude 
empfunden  werden,  als  Frieden  mit  Gott  und  zweitens  als  Ge- 
fühl des  Wohnens  Gottes  bei  uns! 

Für  diese  Geflihle  ist  aber  keine  andere  cultische  Handlung 
denkbar,  als  der  künstlerische  Ausdruck  in  Lobpreisungen, 
die  dichterisch  und  musikalisch  unsere  Dankbarkeit  für  Ueber- 
windung  der  Sünde,  für  die  W^iederkehr  des  Kechts  und  für  den 
Frieden  in  der  Nähe  Gottes  ausführen.  Auch  durch  religiösen 
Tanz  kann,  wie  David  vor  der  Bundeslade  einhertanzte,  die  reli- 
giöse Freude  und  das  Gefühl  der  Versöhnung  und  Vergebung 
ausgedrückt  werden. 

Um  aber  das  Element  der  moralischen  Religion 

Der  apeciflBche         .  -i..!.. 

ünterecbied  der  Tcm  hcrauszuscheiden,  darf  man  zweierlei  nicht  aus 
Rechtareiigion   (j^jj  Augcn  Verlieren.     Erstens  bleibt   der   Gott   für 

in  Beziehung  tt        x   ii  •  t^ 

Ru  den  höheren   uuscrc  Vorstcllung  immer   ausser   uns.     Er  mag 
Boiigiona-      ][jgj  ^jjg  wohueii,   wir  mögen   zu    seinem  Heiligthum 

formen.  ,  ...  -wt   tt 

treten,  er  mag  gewissermassen  bei  seinem  Volke 
und  in  unserem  ganzen  Lande  seinen  Sitz  aufschlagen:  immer 
ist  und  bleibt  er  ausserhalb  des  Menschen  selbst;  denn  es  ist 
wesentlich  eine  projectivische  Religion,  und  die  Anwesenheit  oder 
die  Nähe  Gottes  muss  deshalb  immer  dunkel  und  unbe- 
stimmt bleiben,  da  man  nicht  ihn,  sondern  nur  seine  Ge- 
setze erkennt. 

Zweitens  kann  die  positive  Seite  immer  nur  so  empfunden 
werden,  wie  die  wiedergewonnene  Gesundheit  nach  der  unmittel- 
bar vorhergegangenen  Krankheit  und  nur  in  Erinnerung  und  in 
Beziehung  auf  die  Krankheit,  da  in  dieser  Religion  der  Ursprung 
der  frommen  Erhebung  in  dem  Gefühl  der  Sünde  liegt.  Es  kann 
diese  Religion  also  nicht  etwa  ausgehen  von  der  frohen  Bot- 
schaft des  Königreiches  Gottes,  sondern  dieses  darf  nur  als  eine 
Hofluung  und  Verheissung  erscheinen.  Denn  der  Mensch  stellt 
sich  in  dieser  Religion,  wie  oben  gezeigt,  nothwendig  auf  die 
niedere  Seite  seines  Wesens;  das  Ich  vertritt  die  Sünde;  das 
Sinnen  des  Herzens  ist  böse  von  Jugend  auf,  und  das  Bewiisst- 

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Culfcüs.  307 

sein  des  Rechts  wird  projicirt  als  Gott  des  Gesetzes,  dessen  An- 
wesenheit deshalb  nie  sicher  und  vollkommen  sein  kann,  nie  in 
einem  wirklichen  Menschen  oder  Volke  erfüllt  nnd  wesenhaft 
wird,  sondern  immer  nur  als  Trost  zeitweiliger  Nähe  nach  dem 
Schmerz  der  Sünde  und  als  Bild  der  Sehnsucht  wegen  seiner 
Feme  in's  Bewusstsein  kommt.  Sobald  sich  der  Mensch  auf  die 
positive  Seite  stellte  und  das  Ich  sich  mit  dem  Rechtsbewusst- 
sein  identificirte,  so  wäre  das  Motiv  der  Religion  verloren  und 
der  Gott  sofort  verschwunden,  wie  wir  diesem  Ergebniss  in  den 
pantheistischen  Religionen  begegnen  werden. 


§  2.    Der  Priester. 

Während  nun  in  der  Furchtreligion  der  Priester  entweder 
selbst  ein  dämonisches  Wesen  oder  ein  Mittler  und  Vermittler 
zwischen  dem  furchterföUten  Menschen  und  der  zürnenden  Gott- 
heit ist:  so  kann  in  der  Religion  des  Rechts  der  Priester  weder 
das  Eine,  noch  das  Andere  sein.  Denn  erstens  ist  er  nur  ein 
sündiger  Mensch,  wie  es  Alle  sind,  der  in  keiner  Weise  auf  Hei- 
ligkeit, Sündlosigkeit  und  Gerechtigkeit  Anspruch  erheben  dürfte, 
weil  sonst  für  ihn  der  Gott  nicht  mehr  vorhanden  wäre. 

Ein  Vermittler  zwischen  Gott  und  Menschen  kann  er  auch 
nicht  sein,  da  sich  wenigstens  nach  der  Seite  Gottes  hin  nichts 
vermitteln  lässt;  denn  der  Gott  des  Rechts  ist  schlechthin  unver- 
änderlich. Das  Gesetz  kennt  kein  Erbarmen,  es  hat  keine  Reue 
und  lässt  keine  Stellvertretung  zu. 

Also  kann  der  Priester  nur  mit  dem  Gläubigen,  dem  Ein- 
zelnen oder  dem  Volke,  zu  thun  haben  und  zwar  nur  sofern  sich 
diese  als  Sünder  fahlen.  Nur  als  solche  sind  sie  auch  Gläu- 
bige zu  nennen. 

Der  Priester  hat  nun  dem  gläubigen  Volke  gegenüber  zwei 
Aufgaben  zu  erfüllen,  die  aus  dem  specifischen  Wesen  der  Re- 
ligion jfliessen.  Die  erste  Aufgabe  ist  die  Busspredigt.  Denn 
da  die  Religion  auf  dem  Erwachen  des  sittlichen  Bewusstseins 
bei  vorherrschenden  selbstsüchtigen  Lebensmächten  beruht,  so 
muss  der  Prediger  den  Unglauben  strafen,  d.  h.  überhaupt  erst 
das  sittliche  Bewusstsein  erwecken  und,  wo  es  schon  vorhanden 
ist,  schärfen  und  klarer  und  bestimmter  machen,  indem  er  die 
Sünden  als  Sünden  zur  Erkenntniss  imd  zum  Gefllhl  bringt.    Er 

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308  Religion  der  Sünde. 

muss  Schmerz  und  Reue  und  Scham  hervorbringen.  Zu  diesem 
Zweck  muss  er  nicht  nur  das  Gesetz  vor  ihnen  aufstellen,  die 
Gebote  aufzählen  und  erläutern  und  ihnen  dadurch  kund  thun, 
was  Gott  will,  sondern  er  muss  auch  ihre  Handlungen  ihnen  vor- 
malen und  vorrechnen,  allen  Mord  und  Diebstahl  und  Raub  und 
Ehebruch  u.  s.  w.,  um  ihnen  das  Gefühl  der  Sünde  lebendig  zu 
machen  und  sie  zu  peinigen,  zu  strafen  und  zu  beleidigen,  damit 
sie  sich  unwürdig,  verworfen  und  elend  fühlen,  wie  in  tiefer 
Nacht,  um  dem  Gefühl  ihrer  Nichtigkeit  gemäss  sich  in  Sack  und 
Asche  zu  hüllen  und  sich  völlig  zu  demttthigen. 

Auf  die  Posaune  der  Busspredigt  folgt  dann  die  Harfe 
der  Verheissung.  Denn  das  kräftig  erwachte  Rechtsbewusst- 
sein  könnte  ja  zur  Macht  kommen  und  so  würde  dann  ein  schönes 
und  friedliches  Reich  der  Gerechtigkeit  entstehen.  Allein  dieses 
Reich  ist  eben,  so  lange  die  Rechtsreligion  gilt,  immer  noch  nicht 
da.  Mithin  kann  dies  Reich  des  Friedens,  des  Segens  und  der 
Gottesnähe  nur  verheissen  werden  und  zwar  auch  immer  nur 
hypothetisch.  Unter  der  Bedingung  nämlich,  dass  die  Menschen 
ihre  gottlosen  Werke  und  Gräuel  abthun,  sich  gläubig  dem  Gesetze 
und  Willen  Gottes  hingeben  und  ihm  in  ihrem  ganzen  Wandel 
gehorsam  und  treu  sind,  wird  die  herrliche  Heilszeit  eintreffen, 
dies  Ziel  der  Sehnsucht,  dies  Wohnen  Gottes  auf  Erden,  das 
Reich  des  Herrn.  Der  Priester  hat  nun  diese  Verheissung  zu 
verkünden,  die  Herzen  dadurch  wieder  zu  ermuthigen,  sie  durch 
Trost  aufzurichten  und  zu  stärken  zum  Kampf  und  sie  zu  er- 
quicken mit  der  Hofihung  auf  künftigen  Sieg.  Zu  diesem  Zwecke 
wird  er  ihnen  die  Herrlichkeit  dieses  Reiches  ausmalen  und  ihre 
Augen  entflammen  lassen  beim  Anblick  des  fernen  gelobten  Lan- 
des; er  wird  es  schildern  können,  wie  es  die  Sehnsucht  sieht, 
nicht  aber  wie  ein  Bürger  und  Bote  aus  diesem  Reiche  der  Hoff- 
nung und  Vollendung. 

Mandat.  Es  fragt  sich  nun,  wer  dem  Priester  den  Auftrag 
giebt,  ihn  beruft  und  bevollmächtigt  zu  seinem  eigenthttmlichen 
Werke.  Dass  der  Priester  überhaupt  immer  nur  die  Eigen- 
schaften in  höherem  Grade  besitzt,  welche  sonst  dem  Gläubigen 
in  jeder  Religion  zukommen,  das  haben  wir  schon  oben  gesehen. 
Es  folgt  also,  dass  der  Priester  der  Rechtsreligion  ein  kräf- 
tigeres Rechtsbewusstsein  besitzt,  dass  er  demgemäss  die  Sünde 
tiefer  empfindet  und  mithin  den  Willen  und  die  Gebote  Gottes 

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CultDs.  309 

schärfer  erkennt.  Um  aber  sowohl  die  Gesetze  als  die  Sünde 
zu  erkennen,  mass  er  sich  selbst  und  also  den  Menschen  über- 
haupt nach  seinem  Seelenleben,  nach  seinen  Trieben  und  Leiden- 
schaften, seinem  Dichten  und  Trachten  verstehen  und  mithin 
auch,  da  der  Mensch  nur  in  der  Gesellschaft  sich  entwickelt, 
das  ganze  Leben  des  Volkes,  die  Beschäftigung  und  besonders 
die  Regierung  des  Volkes  und  die  äusseren  geschichtlichen  Ver- 
hältnisse der  Völker  und  die  Wandlungen  des  Lebens  nach  der 
Beziehung  zu  den  handelnden  Charakteren  durchdringen,  um  alles 
dies  immer  auf  die  ethischen  Gesichtspunkte,  auf  Recht  und  Ge- 
horsam zurückzuführen. 

Die  geistigen  Vermögen  stehen  aber  in  Coordination  und  so 
entspricht  das  Gefühl  einerseits  der  Erkenntniss,  wie  es  anderer- 
seits zu  Bewegungen  und  daher  zunächst  zur  Sprache  überführt. 
Da  nun  das  Rechtsbewusstsein  nicht  ein  dumpfes  Gefühl  bleibt, 
sondern  auf  die  deutlichen  Bilder  des  anschaulichen  Lebens  be- 
zogen eine  deutliche  Erkenntniss  der  Zwecke  und  der  Ordnung 
der  Gesellschaft  herbeiftihrt,  und  da  diese  Erkenntniss  uns  durch 
die  Sprache  vermittelt  wird,  die  wir  kaum  von  dem  Inhalte  der 
Erkenntniss  abzusondern  vermögen:  so  ist  es  natürlich,  dass 
die  Bewegung  zunächst  in  Reden  sich  äussert  und  dass  den 
höher  begabten  Gläubigen  zuweilen  beim  Anblick  der  Verworren- 
heiten des  Lebens  und  der  schweren  Lagen  des  Völkerlebens 
eine  tiefere  Erregung  beföUt  und  das  Wort  Gottes  zu  ihm 
kommt  und  ihn  zum  Verkündiger  des  göttlichen  Willens  beruft. 
Denn  diese  Erkenntnisse,  welche  er  in  heftigen  und  mit  tiefem 
Geflihl  und  lebendiger  Phantasie  ausgestatteten  Reden  dem  Volke 
übermittelt,  stammen  ja  nicht  von  ihm  selbst,  von  dem  armen 
Menschlein,  sondern  sie  kommen  aus  der  höheren  sittlichen  Natur, 
die  in  dieser  Religion  in  ein  göttliches  Wesen  projicirt  wird. 
Also  kommt  das  Wort  von  Gott  unmittelbar,  und  der  Mensch 
fllhlt  sich  benifen,  das  Wort  zu  verkündigen  und  das  Volk  zu 
strafen  oder  es  zu  trösten.  Mithin  ist  die  Inspiration  einer- 
seits und  die  göttliche  Berufung  andererseits  fUr  den  Priester 
die  nothwendige  Bedingung  ftlr  das  Geflihl  der  Vollmacht,  mit 
welcher  er  auftritt. 

Darin  liegt  nun  zugleich  auch  die  Erklärung  ftlr  die  Aner- 
kennung, welche  er  im  Volke  der  Gläubigen  findet.  Denn  ein 
äusserlich  beglaubigtes  Mandat  kann  er  ja  nicht  vorweisen,  und 

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310  Religion  der  Sünde. 

Niemand  ist  gebunden,  ihm  zu  glauben  und  zu  folgen.  Seine 
Anerkennung  als  Prophet  ist  aber  eben  so  unmittelbar  von 
Gott  herbeigeführt,  wie  sein  Beruf;  denn  da  er  und  sofern  er 
das  sittliche  Bewusstsein  in  den  Gläubigen  kräftig  aufrührt  durch 
anschauliche  und  mit  packenden  Farben  angestrichene  Schilde- 
rung der  Sünden  und  durch  einleuchtende  Erklärung  dessen,  was 
der  Ordnung  Gottes  gemäss  geschehen  sollte,  so  musste  ja  der 
Gläubige  von  der  Macht  dieses  Kechtsbewusstseins  ergriffen  und 
also  von  Gott  selbst  zur  Anerkennung  seines  Propheten,  der 
ihnen  das  Wort  Gottes  brachte,  getrieben  werden.  Es  giebt  also 
kein  officielles  Mandat  für  den  Priester  der  Bechtsreligion  und 
keine  bürgerliche  Form  seiner  Herrschaft  und  Autorität,  sondern 
Gott  befiehlt  unmittelbar  im  Herzen  dem  Einen  zu  predigen  und 
dem  Andern  zu  glauben  und  zu  gehorchen. 

Da  nun  aber  doch  in  der  That  dieses  Wort  Gottes  in  der 
Seele  des  Priesters  wohnt  und  nach  Sinn  und  Macht  der  Ver- 
nunftbegabung des  Priesters  entspricht,  so  ist  klar,  dass  alle 
Gläubigen  mehr  oder  weniger  einer  priesterlichen  Thätigkeit 
fähig  sind,  dass  das  ganze  Volk  ein  priesterliches  ist  und 
dass  daher  in  die  göttliche  Offenbarung  sich  auch  viel  mensch- 
licher Irrthum,  mangelhafte  Auffassung  der  wirklichen  Verhält- 
nisse, dürftige  und  unrichtige  Deutung  der  göttlichen  Gebote  und 
wechselnde  Ansichten  einmischen  können.  Daher  ist  es  ganz 
in  der  Ordnung,  dass  es  kein  Prophet  zu  einem  allein  beachteten 
Ansehen  in  diesem  Volke  der  Gläubigen  bringen  kann,  theils 
weil  Viele  die  Ohren  des  Geistes  verschlossen  haben,  theils  weil 
es  eine  Menge  anderer  Propheten  geben  wird,  die  andere  An- 
sichten und  Beurtheilungen  der  gegebenen  Zustände  des  Volkes 
haben  und  mehr  oder  ebensoviel  oder  etwas  weniger  Anklang 
finden.  Mithin  wird  Streit  unter  den  Verkündern  des  göttlichen 
Willens  entstehen,  und  es  werden  sich  die  Einen  die  wahren 
Propheten  nennen,  während  sie  die  Andern  als  die  falschen 
Propheten  und  Träumer  und  Lügenredner  bezeichnen  müssen,  die 
nicht  Gottes  Wort  empfangen  haben,  sondern  die  aus  ihren  eigenen 
von  der  Sünde  bethörten  Gedanken  reden. 

Wenn  wir  die  Priester  dieser  Bechtsreligion  mit  denen  der 
Furchtreligion  vergleichen,  so  zeigt  sich  ein  gewaltiger  Unter- 
schied. Die  Zauberer  und  Gaukler,  die  Begenmacher,  Ein- 
geweideschauer, Vogelflugschauer  und  andere  Seher  konnten  nach 

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Cultus.  311 

der  Natur  der  Sache  nicht  immer,  ja  häufig  durchaus  nicht  die 
Wahrheit  erkennen  und  verkünden  und  waren  deshalb  zu  allerlei 
Betrug  gezwungen,  um  ihre  Macht  zu  erhalten.  Die  Priester  der 
Eeligion  der  Sünde  aber  können  allemal  die  Wahrheit  sagen, 
und  was  sie  als  Gottes  Wort  an  sie  verkünden,  das  wird  noch 
heut  zu  Tage  als  recht  und  wahr  und  als  göttliches  Gebot  an- 
erkannt, weil  die  Offenbarung  des  Gewissens,  das  Gefühl  der 
Sünde  und  der  Pflicht  eine  wahre  und  wirkliche  Offenbarung 
Gottes  ist.  Während  die  Zeit  fortgeschrittener  Bildung  es  dahin 
brachte,  dass  die  Vogelschauer  sich  einander  spitzbübisch  an- 
lachten, da  Jeder  um  die  Betrügereien  des  Andern  Bescheid 
wusste:  so  lassen  sich  umgekehrt  die  Propheten  von  ihren  Vor- 
gängern erziehen  und  belehren,  halten  sie  heilig  und  bezeugen 
immer  trotz  der  veränderten  Zeitverhältnisse  ein  und  dasselbe 
Wort  Gottes,  das  Abthun  der  Sünde  und  die  Verheissung  des 
künftigen  Reiches  und  lehren  die  Geschichte  im  Lichte  dieses 
Wortes  zu  betrachten.  Ein  solcher  Stand  hat  deshalb  unvermeid- 
lich eine  grosse  Ehrwiirdigkeit,  und  obgleich  die  ßechtsreligion 
bei  keinem  Volke  in  ganz  reiner  Gestalt  aufgetreten  ist,  so  haben 
dennoch  die  Propheten  bei  allen  den  Völkern,  in  welchen  neben 
der  Furchtreligion  auch  Elemente  der  Bechtsreligion  eingemischt 
waren,  viele  Sprüche  und  Reden  hinterlassen,  die  noch  heute 
bewundert  werden  und  die  Gemüther  der  Hörenden  demüthigen 
und  erheben.  Diese  Beligion  ist  deshalb  eine  wahre  Religion 
zu  nennen,  weil  sie  auf  zeitloser  Grundlage  ruht  und  von  einem 
ewigen  Gesetze,  das  sich  im  Menschen  offenbart,  unverwerfliches 
Zeugniss  ablegt.  Wenn  sich  der  Gott  des  Gesetzes  auch  pro- 
jectivisch  im  Bewusstsein  bildete,  so  steckt  dahinter  doch  wirklich 
der  lebendige  Gott,  dessen  Wesen  sich  in  allerlei  Vorstellungs- 
weise und  Auffassungsart  offenbart,  und  man  irrt  sehr,  wenn 
man  um  der  schwachen  Ausdrucksweise  und  Interpretation  des 
Boten  willen  die  Botschaft  des  Königs  der  Welt  nicht  vernehmen 
und  verehren  will. 


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Viertes  Capitel. 
Die  concrete  anreihe  Rechtsreligion. 


Wir  haben  bisher  ans  wissenschaftlichem  Interesse,  nm  das 
Elementare  für  die  Synthesis  zu  gewinnen,  die  Rechtsreligion  in 
ihrer  Reinheit  betrachtet.  Da  aber  das  Rechtsbewusstsein  nur 
entstehen  kann,  nachdem  in  einem  Volke  sich  schon  vorher  die 
Furchtreligion  entwickelt  hat,  so  ist  es  ganz  natürlich  und  un- 
vermeidlich, dass  sich  das  neue  sittliche  Element  mit  der  vor- 
gefundenen Grundlage  der  Selbstsucht  und  der  zugehörigen  Ethik, 
Dogmatik  und  Cultweise  zurechtfindet  und  erzartig  vermischt,, 
wie  dies  denn  auch  alle  in  der  Menschheit  aufgetretenen  Rechts- 
religionen beweisen.  Es  ist  deshalb  hier  noch  unsere  Aufgabe, 
in  der  Kürze  die  unreinen  Vorstellungen,  Gefühle  und  Handlungen 
in  dieser  vermischten  Religion  zu  charakterisiren,  die  der  reinen 
Rechtsreligion  historisch  vorangeht  und  allein  überhaupt  in  den 
Völkern  wirklich  vorhanden  war,  während  die  reine  Rechtsreligion 
nur  eine  wissenschaftlich  construirte  Religionsform  ist  und  sich 
daher  als  sogenannte  Vemunftreligion  nur  in  einzelnen  Individuen 
vorfinden  kann. 

§  1.  Die  zugehörige  Ethik  und  Dogmatik. 
Die  Methode,  nach  der  wir  die  Ethik  dieser  unreinen  Religion 
zu  erforschen  haben,  ist  sehr  einfach,  denn  wie  sollten  wir  anders 
verfahren,  als  mit  speculativer  Psychologie. ,  Wir  haben  eben 
zwei  Systeme  von  Coordinationen,  das  ethische  und  das  selbst- 
süchtig perspectivische.  Indem  wir  bei  beiden  die  homologen 
Glieder  zusammenlegen,  ergiebt  sich  ganz  natürlich  die  Misch- 
religion. 

Die  homologen  ^^^  Schmcrz  habcu  wir   auszugehen.    Dieser, 

Glieder  und  ihre  auf  die  Vorstelluug  dcs  Zukünftigen  übertragen,  ist 

verqx^ickung.    ^j^  Furcht.    Nuu  ist  das  homologe  Glied  in  der 

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Die  unreine  Hecbtsreligion.  313 

ethigehen  Religion  das  schmerzliche  Gefühl  der  Sünde.  Wenn 
sich  diese  Gefühle  nun  in  demselben  Herzen  zusammenfinden, 
so  legen  sie  sich  in  eine  entsprechende  Coordination  derart,  dass 
die  Furcht  durch  das  Bewusstsein  der  Sünde  erregt  wird  und 
umgekehrt  bei  entstandener  Furcht  gleich  eine  Sünde  zum  Be- 
wusstsein kommt.  Mithin  werden  nothwendig  dem  Sündigen  zu- 
gleich äussere  Gefahren  drohen,  und  er  wird  fürchten  für  seinen 
Leib  und  sein  Leben,  ftlr  sein  Eigenthum,  seine  Familie,  sein 
Land  u.  s.  w. 

Da  nun  sowohl  die  Furcht  als  die  Sünde  auf  Gott  bezogen 
werden,  so  wird  auch  der  Gesetzesgott  nothwendig  zugleich  der 
Gott  der  Furcht  sein.  Mithin  wird  der  Gott  nicht  bloss  Miss- 
fallen haben  an  der  Sünde,  sondern  er  muss  auch  in  Zorn  und 
Grimm  gerathen  und  sich  rächen  wollen.  Nun  wird  er  Schwert, 
Hunger  und  Pestilenz  über  sie  schicken;  die  Gottlosen  sollen 
gefangen  und  gebunden  werden;  ihre  Weiber  sollen  an  den  Frem- 
den kommen ;  sie  müssen  zum  Fluche,  zum  Wunder,  Schwur  und 
Schande  werden;  er  wird  sie  ausrotten  beides  Mann  und  Weib, 
beides  Kind  und  Säugling,  dass  nichts  von  ihnen  übrigbleibe; 
er  wird  noch  ihre  Kinder  und  Kindeskinder  strafen  u.  s.  w. 

Umgekehrt  wird  nun  auch  das  Bewusstsein  der  Gerechtig- 
keit und  des  treuen  Gehorsams  und  guten  Gewissens  verbunden 
werden  mit  der  Freude  an  den  irdischen  Gütern,  an  wieder- 
hergestellter Gesundheit,  milchreichen  Kühen,  fruchtbaren  Weibern, 
guter  Emdte,  Sieg  über  die  Feinde,  Besitz  vielen  Landes,  wo 
Milch  und  Honig  fliesst,  und  an  aller  äusseren  Glückseligkeit. 
Also  muss,  da  auch  dieses  an  die  Gottesvorstellung  angeknüpft 
wird,  der  Gott  nun  gnädig  und  mild  sein,  er  muss  die  Gerechten 
lieben;  er  ist  ihr  Vater,  Freund,  Beschützer,  Erlöser,  ihr  Stecken 
und  Stab  u.  s.  w. 

Auf  diese  Weise  wird   die  sittliche  Gesinnung  ye^derbniss  de« 
nothwendig  verfälscht,  da  die  selbstsüchtigen  Inter-   o«wi8»eni..  de« 
essen   sich   mit   dem   sittlichen   Urtheil  derart  ver-   ®^f*7^„7der 
knüpfen,  dass  jedes   äussere  Unglück  als  Zeichen     oeschichto- 
des  Grimms  Gottes  betracht.et  wird  und  also  auf  die     p''"°*^p"«- 
Spur  einer  begangenen  Sünde   hinweist,  wie  andererseits  jedes 
äussere  Glück  die  Gottesfreundschaft  und  Frönmiigkeit  beweist. 
Mithin  weiss   der  Fromme   nicht  mehr,  ob  er  das  Gesetz  hält, 
weil  es  das  Gute  und  Rechte  anordnet,  oder  damit  es  ihm  wohl 

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314  Religion  der  Sünde. 

gehe  und  er  lange  lebe  auf  Erden,  und  ob  er  das  Böse  und 
Gottlose  meidet,  weil  sein  Gewissen  dies  gebietet,  oder  damit  er 
nicht  der  Bache  des  Zomesgottes  verfalle.  Denn  Recht  und 
Unrecht  sind  nun  derart  mit  Lohn  und  Strafe  verwachsen,  dass 
die  Frömmigkeit  selbst  zum  Interesse  der  Selbstsucht  wird,  wäh- 
rend die  Ungerechtigkeit  und  Gottlosigkeit  schon  aus  Schlauheit 
zu  vermeiden  ist,  damit  man  den  gnädigen  Herrn  nicht  erzürne 
und  bei  seiner  despotischen  Yertheilung  der  Güter  und  Uebel 
nicht  den  Kürzeren  ziehe.  Entsprechend  diesem  allgemeinen 
Goordinationsgesetze  wird  aber  nicht  bloss  das  Leben  des  Ein- 
zelnen, sondern  natürlich  auch  das  ganze  Leben  der  Familie,  des 
Standes  und  Volkes,  welches  demselben  Gotte  dient,  unter  die 
gleiche,  wissenschaftlich  und  sittlich  falsche  Geschichtsphilosophie 
gebracht  Der  Gott  wird  nämlich  Bundesgott  des  Volkes  und 
verspricht,  wenn  sie  ihm  dienen  und  seine  Gebote  halten,  alles 
Gedeihen,  Reichthum  und  Herrschaft,  wenn  sie  aber  von  ihm  ab- 
fallen und  anderen  Göttern  dienen,  Niederlagen,  Gefangenschaft 
und  Vernichtung.  In  diesem  Sinne  betrachten  dann  die  Priester 
die  ganze  Geschichte  des  Volkes  und  wissen  die  Frönunigkeit 
so  zu  einem  selbstsüchtigen,  ökonomischen  und  politischen  Inter- 
esse zu  machen. 

Da  diese  auf  natürlichem  psychologischen  Wege  erfolgte 
Verkoppelung  aber  nicht  immer  der  Wirklichkeit  entsprechen  kann, 
weil  die  beiden  zusammengemischten  Elemente  ja  ihrer  Natur 
nach  nichts  miteinander  zu  thun  haben,  so  muss  die  Theologie 
demgemäss  zurechtgelegt  werden.  Der  Gott  muss,  weil  die  er- 
wartete Strafe  natürlich  nicht  gleich  eintrifft,  langmttthig  und 
geduldig  werden;  er  schiebt  sein  Strafgericht  auf  aus  Barm- 
herzigkeit und  weil  er  noch  auf  die  Besserung  und  Umkehr 
wartet;  er  wird  aber  später  um  desto  furchtbarer  sich  rächen. 
Ist  die  kommende  Strafe  schon  vorausgesagt,  während  die  Gläu- 
bigen sich  schon  wieder  dem  nationalen  Gottesdienste  hingeben, 
so  muss  folglich  Gott  bereuen,  dass  er  so  schrecklich  strafte 
und  drohte,  und  er  ninunt  dann  wieder  seine  Drohungen  zurück 
und  verspricht,  von  jetzt  an  milde  und  gnädig  zu  sein  u.  s.  w. 
zurBeurtheiiuDg  Dicsc  küustlichc  uud  unwahre  Verdrehung  des 

der  bebr&ischen  sittlichcu  Urthcils  uud  der  Geschichtsauffassung  findet 
Propheten.      ^^^^  ^^^   ,^^^^  j^^.   ^jj^^  Völkcm,   wclchc   au  der 

Kechtsreligion  theilnahmen,  ganz  besonders  ausgebildet  aber  bis 

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Die  unreine  Rechtsreligion.  315 

zn  einem  sittlich  ekelhaften,  juristischen  und  ökonomischen 
Calctil  bei  den  Juden.  Man  lese  z.  B.  was  der  König  David 
(2.  Samuelis  3,  29)  sagt  beim  Tode  Abner's:  „Ich  bin  unschuldig 
und  mein  Königi'eich  vor  dem  Herrn  ew^iglich  an  dem  Blute 
Abner,  des  Sohnes  Ner,  es  falle  aber  auf  den  Kopf  Joab  und 
aaf  seines  Vaters  ganzes  Haus;  und  müsse  nicht  aufhören  im 
Hause  Joab,  der  einen  Eiterfluss  und  Aussatz  habe  und  am 
Stabe  gehe  und  durch  das  Schwert  falle  und  an  Brot  mangele/ 
Ein  reines,  sittliches  und  religiöses  Gemüth  wird  deshalb  auch 
z.  B.  viele  Declamationen  bei  Jeremias  nicht  ohne  Entrüstung 
und  Abscheu  lesen  können,  obgleich  derselbe  Prophet  an  manchen 
Stellen  fast  lührend  an  den  Tag  legt,  dass  seine  Beredtsamkeit 
unter  dem  Fluche  dieser  nationalen  Verbindung  des  Furchtgottes 
mit  dem  Gesetzesgotte  stehe,  während  er  selber  schon  den  Stand- 
punkt der  reinen  moralischen  Religion  im  Herzen  trage  und  nur, 
weil  er  zugleich  als  Staatsmann  zu  einem  religiös  und  sittlich 
heruntergekommenen  Volke  rede,  ihre  egoistischen  und  nationalen 
Interessen  mit  den  moralischen  Motiven  verquicken  müsse,  um 
gehört  und  verstanden  zu  werden.  Die  Propheten  waren  ja  nicht 
bloss  Ileligionslehrer  und  Prediger,  sondern  im  eigentlichen  Sinne 
Staatsmänner,  welche  König  und  Volk  über  die  innere  und  äussere 
Politik  zu  Orientiren  und  zu  leiten  hatten.  Deshalb  darf  man 
ihre  volksmässige  Beredtsamkeit  nicht  vom  Standpunkt  der 
Kathederweisheit  aus  beurtheilen,  sondern  muss  sie  als  Bedner 
oft,  wenn  sie  das  reine  moralische  Geftlhl  empören,  um  desto 
mehr  anerkennen,  weil  sie  durch  ihre  das  selbstsüchtige  Herz 
des  Volkes  packenden  und  erschütternden  Worte  dennoch  immer 
auf  Gerechtigkeit  drangen  und  nach  den  gegebenen  Zuständen 
eben  nichts  Höheres  und  Beineres  bieten  konnten.  Ein  reiner 
Moralprediger  hätte  da  eine  lächerliche  Rolle  gespielt,  wo  ein 
selbstsüchtiges  Volk  unter  der  Macht  der  Furchtreligion  zum 
Besseren  geleitet  werden  musste.  Während  daher  griechische 
Redner  ihr  besseres  Rechtsbewusstsein  unterdrückten  und  beug- 
ten, um  dem  Volke  nach  dem  Sinne  zu  sprechen  und  durch 
Schmeichelei  selbst  zu  Ehre,  Macht  und  Reichthum  zu  gelangen, 
indem  sie  den  Leidenschaften  des  Volkes  gemäss  die  Geschichte 
auffassten  und  die  äussere  Politik  steuerlos  und  ruchlos  der 
augenblicklichen  Majoritätsmeinung  unterordneten,  so  haben  wir 
die  hebräischen  prophetischen  Volksredner  und  Staatsmänner  zu 

uiyiüzeu  uy  "V-j  vyVjpt  Iv^ 


316  Religion  der  Sünde. 

bewundern,  dass  sie  niemals  die  Frömmigkeit  und  Gerechtigkeit 
aus  den  Augen  Hessen,  sondern  die  Leidenschaften  des  Volkes 
straften  und  ihre  Furcht  und  Hoffiiung  an  den  Wagen  spannten, 
um  doch  nur  den  reinen  Gott  des  Gesetzes  im  Triumph  auf  den 
Thron  zu  führen. 

puton.  dM  ^*  ^^®  Furchtreligion  die  erste  und  natürliche  in 
GbriHteuthuin  u.  der  Mcuschheit  ist,  so  kann  man  sich  nicht  wun- 
^Lbl^BkÄft**  dern,  dass  sie  trotz  aller  geschichtlichen  Entwickelung 
der  aDreinon  der  Mcnscheu  uuausrottbar  bleibt  und  sich  mit  den 
BeiiRion.  höheren  Religionsformen  verquickt.  In  allen  ge- 
schichtlich bekannten  Rechtsreligionen  ist  deshalb  diese  Ver- 
quickung unlösbar  geblieben,  und  nur  ein  einziger  Philosoph  hat 
überhaupt  den  Fehler  und  die  Verderbniss  der  Gesinnung  in  ihrer 
Wurzel  erkannt,  ich  meine  Piaton,  der  dementsprechend  mit 
stolzer  Einfachheit  und  in  tadelloser  Selbstverherrlichung  erklärt, 
dass  von  den  Zeiten  der  mythischen  Heroen  an  durch  die  ganze 
Geschichte  der  Hellenen  hindurch  er  selber  der  erste  und  einzige 
Mensch  gewesen  sei,  welcher  Recht  und  Unrecht  von  äusserem 
Vortheil  und  Nachtheil  geschieden  habe.*)  Trotzdem  erhob  diese 
gewonnene  Erkenntniss  und  Gesinnung  nur  den  kleinen  Kreis 
seiner  Anhänger  und  Leser;  die  ganze  Nation  aber  wurde  von 
Piaton  nicht  ergriffen,  ja  er  sah  sich  auch  sofort  durch  seine 
Erfahrung  an  den  Menschen  seiner  Zeit  dazu  getrieben,  aus 
pädagogischen  Gründen  zur  Leitung  des  Volkes  wieder  die  Motive 
der  Furchtreligion  in  die  Beredtsamkeit  einzumischen,  wenn  er 
auch  ftlr  die  Götter  oder  die  göttlichen  Menschen,  wie  er  seinen 
philosophischen  Kreis  nannte,  die  höhere  Erkenntniss  vorbehielt 
Nur  in  dem  Volke  der  Juden  erhob  sich  ein  grösserer  Meister, 
der  die  ganze  Menschheit  ergriff  und  mit  seinem  Namen  erneuerte. 
Dieser  allein  vermochte  es,  eine  religiöse  Gesinnung  zu  be- 
gründen, welche  auch  fUr  den  einfachen  Gläubigen  die  Reinheit 
des  sittlichen  Lebens  herstellte.  Aber  selbst  in  der  christlichen 
Kirche  bleibt  das  specifisch  Christliche  immer  nur  wenigeren 
Frommen  vertraut,  während  die  grosse  Menge  der  Gläubigen 
die  höhere  Religionsform  mit  den  niedrigeren  und  niedrigsten 
Formen  inuner  wieder  verquickt.  So  muss  z.  B,  selbst  in  dem 
Jüngerkreise  Jesu,  als  sie  den  Blindgeborenen  erblickten,  sofort 


*)  Vergl.  meine  „Literar.  Fehden  im  vierten  Jahrh.  v.  Chr.**  U.  S.  40. 

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Die  unreine  Bechtsreligion.  317 

die  jüdische  Geschichtsphilosophie  in  der  Frage  hervortreten: 
n Meister,  wer  hat  gesündigt,  dieser  oder  seine  Eltern,  dass  er 
ist  blind  geboren  ?^^  (Joh.  Ev.  9,  1  ff.).  Jesus  heilt  ihn  durch  eine 
einfache  Salbe,  die  er  aufschmiert;  er  thut  aber  zugleich  mehr, 
indem  er  die  Augen  der  Jünger  öfihet  und  die  blinde  und  falsche 
Geschichtsphilosophie,  wonach  die  Sünde  an  äusserem  Unglück 
erkannt  wird,  beseitigt  und  eine  wahre  religiöse  Auffassung  an 
die  Stelle  setzt.  Für  den  selbstsüchtigen  Menschen  ist  es  aber 
ganz  natürlich,  dass  er  den  Gott  des  Rechtes  nicht  anerkennen 
kann,  wenn  derselbe  nicht  zugleich  der  Machtgott  oder  Furcht- 
gott ist,  der  ihm  Vortheil  zuwendet  oder  ihn  mit  Schaden  bedroht 
Als  bei  dem  Tode  Baldur's  (Edda,  Simrock  S.  320)  alle  Wesen 
weinten,  so  wollte  der  interessirte  Loki,  der  sich  in  die  Thöck 
verwandelt  hatte,  nicht  weinen,  weil  er  keinen  Vortheil  von  Baidur 
gehabt  hätte:  „Thöck  muss  weinen  mit  trockenen  Augen  über 
Baldur's  Ende.  Nicht  im  Leben,  noch  im  Tode  hatt'  ich  Nutzen 
von  ihm :  behalte  Hei,  was  sie  hat."  So  ist  es  auch  dem  Könige 
David  durchaus  nicht  gleichgültig,  was  bei  seinen  Sünden  der 
Rechtsgott  als  Machtgott  über  ihn  verfügen  könnte;  vielmehr 
liegt  ihm  alles  an  einer  so  vortheilhaften  Stellung,  wie  sie  der 
Sohn  einem  Vater  gegenüber  geniesst.  Der  Gott  sichert  deshalb 
dem  Könige  trotz  seiner  Missethaten  eine  privilegirte  Behandlungs- 
weise  zu  (2.  Sam.  7,  14):  „Ich  will  sein  Vater  sein,  und  er  soll 
mein  Sohn  sein.  Wenn  er  eine  Missethat  thut,  will  ich  ihn  mit 
Menschenruthen  und  mit  der  Menschenkinder  Schlägen  strafen; 
aber  meine  Barmherzigkeit  soll  nicht  von  ihm  entwandt  werden, 
wie  ich  sie  entwandt  habe  von  Saul,  den  ich  vor  Dir  (David) 
habe  weggenommen.  Aber  Dein  Haus  und  Dein  Königreich 
soll  beständig  sein  ewiglich  vor  Dir  und  Dein  Stuhl  soll  ewig- 
lich bestehen.^'  Ein  solches  kindliches  und  väterliches  Verhält- 
niss  ist  nur  nach  den  Vorstellungen  vom  Familien-  und  Stamm- 
gott gedacht,  beruht  auf  den  socialen  und  politischen  Gegensätzen 
von  Herr  und  Sclave,  Vater  und  Sohn,  Freund  und  Feind,  Ein- 
heimischen und  Fremden  und  hat  mit  der  im  Evangelium  hervor- 
tretenden Kindschaftsidee  nur  den  Namen  gemein.  Sehr  deutlich 
zeigt  sich  das  natürliche  Verlangen  des  Menschen  nach  dem 
Butzemann  auch  bei  dem  Tode  Christi,  wo  sich  nach  der  Erzählung 
in  den  Evangelien  der  kalte  Spott  hören  Hess,  weil  der  Vertreter 
des  Rechtes  und  der  Wahrheit  nicht  zugleich  die  Macht  in  der 

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318  Beligion  der  Sünde. 

Hand  hatte,  und  der  Furchtgott  also  mit  ihm  nicht  verschmolzen 
war:  „Er  kann  sich  selber  nicht  helfen".  Man  erwartet  immer 
Vertheilung  äusserer  Güter  und  üebel  und  die  Attribute  des  ge- 
fährlichen Oottes  der  Furchtreligion,  um  das  selbstsüchtige  Herz 
zu  beugen. 

j^j^  Man  sollte  nun  glauben,  dass  die  Vermischung 

sophisiik    der  Rechtsidee  mit  der  äusseren  Macht  nur  ein  natür- 
nn^e^inen     ^^^^^^)  psychologisch  erklärbares  Phänomen  in  dem 
ReeiBts-      Entwickelungsgange  der  Civilisation  bildete,   dessen 
reiiKion.     Zähigkeit  einfach  darauf  beruhte,   dass    die  höhere 
Stufe   des  Bewusstseins  immer   die  niedrigere  voraussetzt  und 
sich  daher  ursprünglich  immer  erzartig  damit  verbindet,   allein 
es  findet  sich  bekanntlich  der  Verstand  stets  zur  Verfügung  des 
Willens,   und  so  ist  es  doch  nicht  erstaunlich,   dass  sich  auch 
alles  Schlechte   und  Unreine   immer   durch   irgend   welche   ver- 
ständige Gründe   sophistisch  vertheidigen  lässt.    Zuweilen   darf 
man  sogar  nicht  einmal  eine  Sophistik  dabei  annehmen,  sondern 
muss  wegen  der  ehrlichen  Meinung  der  Schliessenden  nur  einen 
Paralogismus  in  dem  Käsonnement  anerkennen,  der  freilich  seinen 
letzten  Grund  in  ihrer  irdenen  Natur  hat. 

Man  räsonnirt  nämlich  so,  und  wir  können  gleich 
KanTi8che*ideai  Kaut  als  den  Hauptrepräsentanten  dieser  unreinen 
des  höchhun  Religionsvorstellung  hinstellen,  dass  der  moralische 
Gesetzgeber,  wenn  er  wirklich  monotheistisch  gedacht 
werde,  mit  dem  physischen  Urheber  der  Welt  zusammenfallen 
müsse.  Folglich  würde  es  in  seiner  Hand  liegen,  mit  der  Ge- 
rechtigkeit, die  er  von  dem  Menschen  will,  auch  ihre  sinnliche 
Glückseligkeit  zu  vereinigen,  wie  umgekehrt  mit  der  Ungerechtig- 
keit alles  äussere  Unglück.  Die  jüdische  Religion  fordert  nun 
überall  diesen  Zusammenhang,  und  man  glaubt  daran  bei  der 
Erklärung  der  jüdischen  Geschichte  und  hofft  darauf  in  Bezug 
auf  die  zukünftigen  Ereignisse.  Kant  aber  war  zwar  darin 
klüger,  dass  er  den  Widerspruch  zwischen  dem  moralischen  Zu- 
stande eines  Menschen  und  seiner  äusseren  socialen  und  öko- 
nomischen Lage  als  thatsächlich  vorkommend  und  überall  möglich 
erkannte;  er  glaubte  darin  aber  nur  einen  pädagogischen  Kunst- 
griff Gottes  sehen  zu  dürfen,  da  Gott  ähnlich  wie  bei  Hiob  die 
Reinheit  der  moralischen  Gesinnung  des  Menschen  dadurch  prüfen 

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Die  unreine  Rechtsreligion.  .  310 

and  erhalten  wollte,  dass  er  nicht  immer  dem  Frommen  die 
änsseren  Güter  schenkte ,  sondern  ihm  auch  allerlei  Leid  und 
Unglück  sendete,  damit  die  Menschen  nicht  schliesslich  um  der 
äusseren  Vortheile  willen  gerecht  leben  möchten.  Allein  abge- 
sehen von  dieser  witzigen  Entschuldigung  Gottes  nimmt  doch 
Kant,  ganz  wie  ein  ächter  Jude,  an,  dass  das  höchste  Gut  in 
der  vollen  Harmonie  des  sittlichen  und  sinnlichen  Wohlseins 
liege  und  dass  uns  dies  für  die  Zukunft  verheissen  sei  oder  aus 
den  praktischen  Prämissen  als  unumgängliches  Postulat  folge. 

Wenn  man  an  dies  ganze  eudämonistische  Gebäude  j^^^  «ui^ehörjge 
anklopft,  so  klingt  es  nicht  nach  Metall,  sondern  optimismu«  und 
lässt  ein  bedenkliches  Klappern  wie  irdene  Waare  ^«■«*™*"™^"- 
hören.  Es  schliessen  sich  an  diese  Denkweise  nun  nothwendig 
die  vulgären  Weltansichten  an,  indem  die  Einen  optimistisch 
doch  an  den  Sieg  der  guten  Sache  glauben  (indem  sie  auch 
etwa,  wie  z.  B.  Benjamin  Franklin,  die  Ehrlichkeit,  Gerechtigkeit 
und  Tugend  überhaupt  als  nützlich  zum  Reichwerden  und  zur 
Gesundheit  empfehlen),  oder  wenigstens,  nach  Lessing's  und 
Kant's  Vorschrift,  das  ehrliche  Streben  fordern  und  auf  den  be- 
ständigen Fortschritt  der  Civilisation  hoflFen;  während  Andere 
pessimistisch,  weil  sich  ihr  jüdisch-Kantisches  Ideal  nicht  ver- 
wirklichen will,  an  dem  Werthe  der  Welt  selbst  verzweifeln  und 
alle  Mheren  Hoffnungen  und  Bestrebungen  als  ebensoviele  Illu- 
sionen auflösen.  Ueber  diese  beiden  Weltansichten  streiten  die 
Unklugen  nun  immer  hin  und  her,  und  keine  Partei  kann  die 
andere  ganz  aus  dem  Felde  schlagen,  weil  bei  solchem  Dilemma 
nothwendig  immer  ein  Fehler  in  dem  Princip  des  Zwistes  selber 
steckt.  Diesen  principiellen  Fehler,  worin  die  Thorheit  beider 
Annahmen  liegt,  habe  ich  in  meiner  Schrift  „Unsterblichkeit  der 
Seele"  nachgewiesen,  indem  ich  den  ganzen  Ursprung  und  die 
Nothwendigkeit  dieser  entgegengesetzten  Annahmen  aus  den 
fehlerhaften  metaphysischen  Voraussetzungen  erklärte,  aus  den 
Voraussetzungen,  die  auch  hier  in  dem  jüdisch-Kantischen  Ideal 
des  höchsten  Gutes  vor  Augen  liegen. 

Wenn  man  nämlich  auf  den  Standpunkt  der  projectivischen 
Religion  oder  der  zugehörigen  Metaphysik  steht,  welches  eben 
der  vulgäre  Standpunkt  der  Menschen  ist,  so  muss  man  die  sinn- 
lichen Bilder  von  der  Welt,  die  man  in  seinem  Bewusstsein  hat, 
als    die    ausser    uns    existirenden   Wesen    und    dieMfüig^ei^Intie 


320  Religion  der  Sünde. 

sinnenf&llige  Welt  als  die  einzige  wirkliche  Welt  ansehen.  Mithin 
werden  dann  auch  alle  moralischen  Ideen  nur  zu  Forderungen, 
die  in  der  Sinnenwelt  realisirt  werden  sollen,  da  diese  die  einzige 
Welt  ist  Darum  folgt,  dass  das  Ideal  des  höchsten  Gutes  in 
der  vollkommenen  Harmonie  und  Proportion  zwischen  Gerechtig- 
keit und  äusserem  sinnlichen  Glücke  besteht  und  dass  der 
Optimist  an  diese  Harmonie  glaubt,  während  der  Pessimist,  weil 
er  sie  nicht  verwirklicht  sieht,  auch  die  Hoffnung  fahren  lässt 
Alle  diese  Ansichten  hängen  auf's  Genaueste  zusammen  und 
beruhen,  um's  kurz  zu  sagen,  auf  dem  projectivischen  Empirismus 
und  Idealismus. 

Alle  diese  Ansichten  fallen  deshalb  auf  einen 
Schlag  mit  dem  Fundamente,  auf  dem  sie  ruhen. 
Sobald  man  nämlich  den  Begriff  des  Seins  wissenschaftlich  unter- 
sucht, wofür  ich  auf  meine  „Neue  Grundlegung  der  Metaphysik" 
verweise,  so  zeigt  sich,  dass  die  Erscheinungen  der  Sinnenwelt 
nicht  die  wirklichen  Wesen  sind,  sondern  nur  wesenlose  Zeichen 
und  Schatten,  durch  welche  wir  perspectivische  Auffassungen  von 
vorübergehenden  Beziehungen  zwischen  den  wirklichen  Wesen 
gewinnen.  Um  dies  an  einer  Analogie  aus  der  scheinbaren  Welt 
zu  verdeutlichen,  so  ist  der  Irrthum  der  Projectivisten  zu  ver- 
gleichen mit  der  Annahme,  als  wenn  die  Häuser  und  Städte  die 
eigentlichen  Wesen  wären,  um  derentwillen  alles  Uebrige  sich 
ereignete.  Diese  können  aber  zerstört  werden,  während  den 
Menschen,  die  darin  wohnten,  kein  Leid  zu  widerfahren  braucht 
Wenn  nun  die  Optimisten  auf  den  ewigen  und  immer  zunehmen- 
den Glanz  der  Häuser  hoffen  und  die  Pessimisten  ihre  Zweifel 
daran  durch  die  Baufälligkeit  der  einzelnen  Häuser  und  die 
Zerstörung  ganzer  Städte  begründen,  so  kann  ein  Vernünftiger 
über  beide  lächeln,  weil  es  ihm  nur  auf  die  Menschen  ankommt, 
die  darin  wohnen  und  die  nur  zu  vorübergehenden  Zwecken 
solche  Beziehungen  zwischen  den  Elementen  gestiftet  haben,  die 
man  ein  Haus  nennt,  weshalb  sie  denn  ein  solches  auch  frei- 
willig räumen,  wenn  sie  lieber  anderswo  sich  niederlassen  möchten. 
Wenn  man  erst  eingesehen  hat,  was  die  wirklichen  Wesen 
sind,  so  wird  man  auch  die  Glückseligkeit  nicht  mehr  in  den 
perspectivisch  aufgefassten  sinnlichen  Erscheinungen  suchen;  man 
wird  erkennen,  dass  ein  reicher,  gesunder,  starker  Mann,  ein 
glücklicher  Eroberer,   ein  Fürst  und  Herr  über  Land  und  Leute 

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Die  unreine  Rechtsreligion.  321 

doch  zugleich  ein  schlechter  und  unglückseliger  Mann  sein  kann, 
ohne  seine  Güter  zu  verlieren,  und  dass  umgekehrt  ein  gerechter 
Mann,  ohne  seine  Gerechtigkeit  und  seinen  Seelenfrieden  zu  ver- 
lieren, beraubt  und  erschlagen  werden  könnte,  dass  man  ihn 
beschimpfen  und  an's  Kreuz  zu  heften  und  doch  seinen  Werth 
nicht  herabzuziehen  vermöchte.  Der  Werttt  des  Lebens  wird 
überhaupt,  wenn  man  die  vulgäre,  projectivische  Weltansicht 
aufgegeben  hat,  nicht  mehr  in  das  Gebiet  des  Furchtgottes  ge- 
stellt, sondern  in  den  wirklichen  Zustand  der  Seele.  In  dieser 
können  die  höchsten  Tugenden  nur  gedeihen,  wenn  die  Harmonie 
des  äusseren  Glückes  mit  der  sogenannten  Moralität  nicht  statt- 
findet; denn  wie  könnte  die  Seelengrösse  im  Leiden  sich  ent- 
wickeln, wenn  es  garantirt  wäre,  dass  der  Gerechte  nie  krank 
würde,  dass  er  nie  seine  Lieben  verlöre,  dass  keine  Schlacht 
ihm  missglückte  und  seine  Güter  immer  unvermindert  und  unver- 
lierbar blieben.  Es  ist  ja  auch  auf  den  ersten  Blick  klar,  dass 
die  Kunst,  deren  Aufgabe  es  sein  muss,  die  innere  Welt  zur 
Anschauung  zu  bringen,  ihre  höchsten  Triumphe  in  der  Tragödie 
feiert,  wo  die  sittliche  und  religiöse  Tiefe  des  menschlichen 
Herzens  in  dem  Ruin  aller  irdischen  Glückseligkeit  sich  offenbart. 
Sobald  man  also  über  den  Schein  der  bloss  perspectivischen, 
selbstsüchtigen  Weltansicht  und  des  falschen  projectivischen 
Idealismus  hinweggekommen  ist,  was  uns  nicht  durch  den 
Idealisten  Piaton,  sondern  einzig  erst  durch  das  Christenthum 
zu  Theil  wurde,  so  muss  die  Sophistik  der  unreinen  Religion 
fallen  und  mit  ihr  der  sentimentale  und  eitle  Pessimismus  und 
der  thörichte  und  kurzsichtige  Optimismus,  wie  auch  das  ganze 
vulgäre  jüdisch-Kantische  Ideal  vom  höchsten  Gute.  Piaton  sah 
nur  den  Fehler  in  dem  ethischen  Princip;  als  Idealist  unterlag 
er  aber  auch  der  projectivischen  Illusion  und  kämpfte  nur  einen 
edlen  Kampf  mit  dem  Optimismus  und  Pessimismus,  zwischen 
denen,  wie  zwischen  Scylla  und  Charybdis,  ewig  zu  schwanken 
ihm  das  Loos  gefallen  war,  ohne  dass  er  den  Fehler  seiner 
idealistischen  Metaphysik  erkannt  hätte,  der  in  dem  Lichte  des 
Evangeliums  sofort  auch  dem  einfachen  Gläubigen  offenbar  wird. 


Teiohmuller,  BeligionspimoBOphie. 


Digitized  ^Google 


322  Eeligioii  der  Sünde. 

§  2.    Der  zugehörige  Cultus. 

Wie  nun  die  Ethik  der  unreinen  Rechtsreligion  dadurch 
charakterisirt  ist,  dass  zu  dem  Bewnsstsein  der  Sünde  noch  die 
Furcht  hinzutritt  und  zu  dem  gewissenhaften  frommen  Gehorsam 
noch  die  Dankbarkeit  für  das  empfangene  äussere  Glück  und 
die  Lohndienerei,  und  wie  zweitens  ftlr  die  Dogmatik  der  ge- 
fahrliche grimme  Furchtgott  und  gnädige  Stanmiesschutzgott  sich 
mit  dem  reinen  Rechtsgott  vereinigt:  so  muss  natürlich  auch  der 
Cultus  oder  Verkehr  mit  Gott  die  entsprechenden  Abänderungen 
oder  Vermischungen  erfahren,  indem  der  alte  Opferdienst  mit 
der  Empfindung  der  Sünde  gepaart  wird.  Wir  bedürfen  kaum 
eines  Hinblickes  auf  die  historisch  bekannten  unreinen  Rechts- 
religionen, sondern  könnten  die  specifischen  Formen  des  Cultus 
sofort  a  priori  aus  den  gegebenen  Voraussetzungen  ableiten. 

Da  nämlich  das  Gefühl  der  Sünde  auf  eine  lieber- 
dar  sühnrog.  ^^etung  dcs  Gcsctzcs  und  Willens  der  Gottheit  hin- 
weist und  diese  Gottheit  nun  nach  der  Furchtreligion 
als  erzürnt,  grimmig  und  rachlustig  vorgestellt  werden  muss,  so 
mischt  sich  nicht  nur  Angst  und  Sorge  und  jede  andere  Art  der 
Furcht  mit  dem  Gefühl  der  Sünde,  sondern  es  wird  sofort  zur 
Aufgabe  der  Ueberlegung,  wie  der  Zorn  des  Herrn  beschwichtigt 
und  sein  gnädiges  Wohlwollen  oder  gar  seine  uns  bevorzugende 
Liebe  wiederzugewinnen  sei.  Mithin  müssen  wir  etwas  thun, 
was  nur  Bezug  auf  unsere  Vorstellung  von  der  Gottheit  hat, 
d.  h.  wir  müssen  einen  Cultusact  ausüben.  Da  es  sich  aber 
nicht  bloss  um  den  Furchtgott  handelt,  der  wie  in  der  Furcht- 
religion durch  Schmeichelei  und  allerlei  Opfer  beruhigt  und  ge- 
wonnen werden  müsste,  sondern  da  auch  das  Gewissen  dem 
Rechtsgott  gegenüber  steht,  so  muss  der  Cultus  die  zugehörige, 
specifische  Form  annehmen,  welche  den  Namen  „Sühnung"  er- 
halten hat.  Nach  den  beiden  grundlegenden  Beziehungen  müssen 
in  der  Sühnung  zwei  wesentliche  Momente  vorhanden  sein,  einer- 
seits das  Sündenbekenntniss,  der  Schmerz  der  Reue  und  die 
Sinnesänderung,  andererseits  die  äusserliche  Darbringung  einer 
Busse,  wonach  gemäss  der  Furchtreligion  die  Beschwichtigung 
des  Zornes  Gottes  psychagogisch  glaublich  wird. 

Es  ist  nun  interessant,  dass  diese  Sühnung  bei  den  Be- 
ziehungen   der    Menschen    untereinander    den    juristischen 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


Die  unreine  Rechtsreligion.  323 

Charakter  hat,  da  der  Richter  bei  Rechtsverletzangen  nicht  bloss 
theoretisch  über  Recht  und  Unrecht  urtheilen,  sondern  auch 
technisch  die  Mittel  ansfinden  und  deshalb  von  dem  Schuldigen 
gewisse  Leitungen  verlangen  muss,  die  geeignet  sind,  den  Be- 
schädigten zufriedenzustellen  und  seinen  Grimm  und  seine 
Rachelust  zu  befriedigen.  In  der  Religion  der  Sünde  wird  nun 
Gott  als  der  Geschädigte  und  Beleidigte  aufgefasst,  und  es  werden 
demgemäss  die  gleichen  Leistungen  dem  Schuldigen  von  ihm 
auferlegt. 

Man  kann  daher  die  Culthandlungen  zwar  auf  Die  Eintheiiung 
dieselben  Arten  wie  in  der  Furchtreligion  zurück-  ^«»^  sühnnnifen. 
fuhren,  muss  aber  als  specifische  Eigenthümlichkeit  die  Normirung 
derselben  nach  einem  Gesetz,  also  den  juristischen  Charakter  hinzu- 
nehmen. Demgemäss  sind  die  Sühnungen  erstens  Opfer  an  Geld 
und  Gut,  zweitens  körperliche  Strafen  und  Freiheitsentziehung, 
drittens  Stellvertretung. 

Die    erste   Art  besteht    in  Darbringung    von 
Gaben  an  den  Altar,  nämlich  Früchte,  Thiere,  die  ^^'' 

geschlachtet  werden,  oder  Geld,  das  an  die  Kirche  oder  an  die 
Armen  gegeben  wird.  Die  Sünden  werden  rubricirt  nach  ihrer 
Grösse  und  demgemäss  werden  die  aufzuerlegenden  Bussen  an 
Geld  und  Gut  normirt  Diese  Bussen  sind  entweder  allgemein 
bestimmt  durch  ein  Ritualgesetz  oder  sie  werden  im  Beichtstuhl 
individuell  für  das  religiöse  Bedttrfniss  des  Einzelnen  geregelt, 
wobei  die  Schuld  auch,  wie  durch  einen  Wechsel  auf  längere 
Zeit,  durch  ein  Legat  im  Testament  getilgt  werden  kann.  Diese 
unreine  Art  des  Gottesdienstes  hat  darin  ihren  Grund,  dass  die 
wirkliche  Stärke  der  Sinnesänderung  sich  psychologisch  am 
Besten  messen  lässt  durch  die  Liebe  zum  Eigenthum,  die  bei 
den  Meisten  eingeboren  ist  und  deshalb  auch  durch  das  Werth- 
symbol  des  Geldes  arithmetisch  abgeschätzt  werden  kann;  denn 
wer  nicht  einmal  so  und  so  viel  für  Sühnung  seiner  Schuld  be- 
zahlen mag,  dessen  Sinnesänderung,  so  räsonnirt  man,  ist  nicht 
weit  her.  Wenn  man  den  Ablasshandel  hierher  zieht,  so  hat 
man  Recht;  wenn  man  aber  auch  Christi  Mahnung,  alles  Eigen- 
thum den  Armen  zu  geben  und  ihm  zu  folgen,  mit  unter  diese 
Rubrik  bringen  möchte,  so  wäre  das  grundverkehrt;  denn  in 
diesem  Falle  handelte  es  sich  nicht  um  eine  Sühnung  Gott 
gegenüber,  sondern  um  eine  gänzliche  Veränderung  der  Lebens- 

u,y,t,zec?Jy*^OOQle 


324  Reli^on  der  Sünde. 

beschäftiguDg.    Wer  mit   dem   Messias  im  Lande    umherziehen 
wollte,    konnte  doch  nicht  zugleich  in  seinem  weltlichen  Berufe 
und  seinen  ökonomischen  Interessen  leben. 
2  Körperstnrft^n  ^^^  kommcu  au  dlc  Körperstrafen  und  die 

und  Freiheits-  Freiheitsentziehung.  Beide  Formen  der  Askese 
oDtxiehnng.  ^^^^  ^^^^  bekannt.  Zur  Stihnung  ihrer  Sünde  ziehen 
sich  die  Gläubigen  aus  der  Welt  zurück,  gehen  entweder,  wie  in 
Indien,  in  den  Wald  oder,  wie  in  dem  Homo  sum  von  Ebers 
meisterhaft  geschildert,  in  die  Wüste,  oder  sie  leben  im  Kloster, 
und  bannen  sich  und  ihre  freie  Bewegung  durch  feste  Regeln. 
In  ähnlicher  Weise  strafen  sie  ihr  Fleisch  durch  Entziehung  von 
Speisen,  indem  sie  entweder  auf  bestimmte  Arten  derselben  ver- 
zichten oder  überhaupt  keine  Nahrung  für  bestimmte  Zeiten  zu 
sich  nehmen.  Ausser  dem  Fasten  versagen  sie  sich  auch  die 
Liebesgenüsse  entweder  von  Zeit  zu  Zeit  durch  bestimmte  Ord- 
nungen oder  durch  gänzliche  physische  Entmannung,  wie  dies 
letztere  noch  heut  zu  Tage  bei  Männern  und  Frauen  in  der 
russischen  Sekte  der  Skopzi  vollzogen  wird.  Endlich  schlagen 
und  zerreissen  sie  auch  ihren  Leib  auf  allerlei  Weise,  springen 
nackt  in  Domenhecken,  geissein  sich  mit  Ruthen  und  spitzen 
Nägeln  blutig,  tragen  Erbsen  in  den  Schuhen,  rutschen  viele 
Meilen  auf  den  Knieen  und  verstünmieln  sich  auch  wohl  u.  s.  w 
Denn  alle  diese  Formen  der  Sühnung  sind  ja  juristisch  schon 
längst  erklärt,  da  durch  solcherlei  Strafen  an  dem  Schuldigen 
der  Beschädigte  und  Beleidigte  zufriedengestellt  wird.  Wem  ein 
Auge  ausgeschlagen  ist,  der  kann  nicht  mehr  grollen,  wenn  der 
Schuldige  sich  auch  ein  Auge  zerstört;  wem  ein  Zahn  ausge- 
schlagen, der  beruhigt  sich,  wenn  er  den  Gegenstand  seines  Zorns 
derselbigen  schmerzlichen  Behandlung  unterworfen  sieht  Diese 
ganze  psychologisch -juristische  Sühnungsauffassung  wird  nun 
durch  das  religiöse  Bewusstsein  auf  Gott  übertragen,  und  der 
Gläubige  hoflft  Vergebung,  wenn  er  sich  alle  Arten  von  Pein 
auferlegt,  wie  sie  ihm  etwa  gerade  am  Empfindlichsten  ist;  der 
Wollüstige  entmannt  sich,  der  Schlemmer  fastet,  der  Reiche  zieht 
als  Bettler  umher,  der  Ehrgeizige  geht  in's  Kloster,  der  Rauf- 
bold wird  ein  Christophorus  u.  s.  w. 

Die  dritte  Art  ist  die  Stellvertretung.   Diese 

*  vTrtre^uflr'    ^^^^  ^®^  Stihnung   spaltet   sich   natürlich  wieder  in 

die  beiden  Formen   des   stellvertretenden  Leidens 

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Die  unreine  Rechtareligion.  325 

und  des  stellvertretenden  Verdienstes.  Nun  ist  sofort  klar  , 
dass  in  der  reinen  Religion  der  Sünde  und  des  Rechtes  von 
Stellvertretung  keine  Rede  sein  kann,  ebensowenig  vne  in  den 
höheren  Formen  der  Religion;  denn  die  Gerechtigkeit  und  Fröm- 
migkeit sind  Gesinnungen  und  Thätigkeitsweisen,  deren  Werth 
in  ihnen  selbst  liegt  und  deshalb  nicht  von  der  Seele  abzulösen 
ist.  Man  kann  darum  den  köstlichen  Werth  frommer  Gesinnung 
nicht  dadurch  erwerben,  dass  ein  Anderer  für  uns  fromm  ist, 
ebensowenig  wie  wir  dadurch  sauerstofireicheres  Blut  erhielten, 
dass  ein  Anderer  für  uns  tief  einathmen  wollte.  Die  sittlichen 
und  religiösen  Werthe  sind  keine  Tauschartikel. 

Dagegen  muss  die  Stellvertretungsidee  ihren  natürlichen  Platz 
in  der  Religion  der  Furcht  und  deshalb  auch  in  der  unreinen 
Form  der  Rechtsreligion  haben.  Denn  wo  es  sich  darum  handelt, 
einen  Zornigen  zufrieden  zu  stellen  oder  eine  zur  Vermeidung 
der  Rache  juristisch  festbestimmte  Busse  zu  entrichten,  da  zeigt 
auch  die  allgemeine  Praxis  der  Völker,  dass  Zorn  und  Rachsucht 
durch  stellvertretendes  Leiden  und  stellvertretende  Leistungen 
ausgelöscht  werden  können.  Dies  ist  so  bekannt  und  aus  jeder- 
manns eigener  Erfahrung  psychologisch  so  verständlich,  dass  es 
mir  nicht  erforderlich  scheint,  den  Vorgang  weiter  zu  analysiren 
und  durch  geschichtliche  Zeugnisse  zu  belegen.  Da  nun  in  der 
unreinen  Rechtsreligion  der  Gott  des  Gesetzes  auch  die  Attribute 
des  Zornes  und  der  Rachsucht  erhalten  hat,  so  versteht  es  sich 
von  selbst,  dass  in  dieser  Religion  auch  die  Stellvertretungsidee 
ausgebildet  werden  musste. 

Die  menschliche  Thätigkeit  theilt  sich  nach  der  Stellung» 
die  das  Gefühl  dazu  einnimmt,  in  Leiden  und  Thun.  Das  Leiden 
dreht  sich  darum,  dass  wir  Güter  hergeben,  den  Körper  be- 
schädigen lassen,  die  Freiheit,  Gesundheit,  das  Leben  opfern, 
oder  Arbeiten  leisten,  die  wir  ungern  vollziehen.  Ueberall  hier 
haben  wir  ein  schmerzliches  Gefühl  Das  freiwillige  Thun  aber 
besteht  in  Handlungen,  die  wir  gern  und  mit  freudigem  Gefühl 
übernehmen.  Nun  kommen  in  dem  gesellschaftlichen  Güter- 
verkehr beiderlei  Leistungen  in  Betracht,  werden  aber  unter 
dem  Gesichtspunkte  des  Nützlichen  ganz  überein  geschätzt 
und  nicht  unterschieden,  so  dass  es  für  die  Stellvertretungsidee 
einerlei  ist,  ob  ein  Bürger  iRir  einen  anderen  zahlt,  oder  ein 
Lehrer  für  einen  anderen  Stunden  giebt,   oder  ein  Freund  für 

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326  Religion  der  Sünde. 

Damos  sich  kreazigen  lässt  In  allen  Fällen  der  Stellvertretung 
gelten  beide  Arten  als  Leiden. 

Sobald  wir  dagegen  in  die  sittliche  Sphäre  tibertreten,  so 
finden  wir  zugeordnete  Güter  oder  Werthe,  die  sich  nicht  über- 
tragen lassen  und  überhaupt  nach  einem  andern  Gesichtspunkte 
als  dem  von  Lust  und  Schmerz  bestimmt  werden.  Man  kann 
diese  Güter  im  Allgemeinen  Verdienste  und  auch,  da  sie  von 
dem  Beifall  des  Gewissens  und  niemals  von  Gewissensbissen  be- 
gleitet sind,  schlechtweg  freie  Thätigkeiten  nennen. 

Die  eigenthümliche  Leistung  der  unreinen  Rechtsreligion  be- 
steht nun  darin,  Gott  gegenüber  diese  moralischen  Werthe  auch 
zu  einem  Tauschobjecte  zu  machen,  da  es  darauf  ankam,  die 
negativen  moralischen  Werthe,  d.  h.  die  Sünden  und  Missethaten, 
zu  bezahlen. 

Die  niedrigste  Form  dieser  Stellvertretung  beruht  auf  dem 
Uebergewicht  des  niedrigen  Elements  in  der  Beligionsmischung. 
Hierfllr  finden  sich  zwei  Modificationen.  Entweder  wird  eine 
Sünde  gesühnt  durch  ein  äusserliches  Gut  und  zwar  besonders 
das  höchste,  das  Leben,  oder  der  Gott  wird  gewissermassen  be- 
trogen durch  Darbringung  eines  geringeren  Gutes,  das  durch  ge- 
wisse cultische  Symbole  gleichsam  vermummt  und  zu  etwas  Werth- 
vollerem  ausstaffirt  wurde.  Der  erste  Modus  zeigt  sich  auf  der 
barbarischeren  Gulturstufe  eines  Volkes,  wo  durchaus  Menschen- 
blut fliessen  muss,  wenn  Sühnung  und  Versöhnung  als  möglich 
geglaubt  werden  soll,  wie  z.  B.  Jephtha  sein  unschuldiges  Töch- 
terlein opfern  musste,  und  wie  z.  B.  bei  mehreren  religiösen 
Akten  in  der  römischen  Geschichte  ein  edler  Mann  fiir  das  Volk 
sich  dem  Abgrund  weihte,  um  den  Zorn  der  Götter  zu  sühnen.*) 
In  ähnlicher  Weise  muss  der  König  Usinara  (Holtzmann,  Indische 
Sag.  I  277  ff.)  ftlr  die  Taube,  die  zu  ihm  hülfesuchend  kam,  Leib 
und  Leben  mit  seiner  ganzen  Person  einsetzen,  weil  Indra  mit 
keiner  anderen  Stellvertretung  zufrieden  war.     Dagegen  wird  der 


*)  Haakh  citirt  (in  Pauly's  R.-E.  II.  877)  mit  Recht  die  Stelle  aus 
Juvenals  Sat.  VIII.  254  ff.  Pro  totis  legionibus  —  sufficiunt  Dis  infernis 
Terraeque  parenti.  Pluris  enim  Decii,  quam  quae  servantur  ab  illis.  Dass 
diese  Vorstellung  populär  war,  sieht  man  aus  Cicero:  De  nat.  Deor.  HI,  6,  15, 
der  darüber  räsonnirt:  Tu  autem  etiam  Deciorum  devotionibns  placatos  deos 
esse  censee.  Quae  fuit  eorum  tanta  iniquitas,  ut  placari  populo  Romano  non 
possent,  niai  viri  tales  occidiasentV 


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Die  unreine  Bechtsreligion.  327 

Gott  bei  einer  zweiten  Art  von  Stellvertretung  entweder  betrogen, 
oder  der  Gläubige  ist  selbst  milder  geworden  und  schämt  sich, 
seinem  Gotte  einen  auf  Menschenblut  erpichten  Grimm  zuzu- 
schreiben. So  tritt  bei  Abraham's  Opfer  für  den  Isaak  und 
ebenso  bei  Agamemnon's  Opfer  ftir  die  Iphigenie  ein  Bock  an 
die  Stelle.  In  ähnlicher  Weise  werden  die  StLnden  des  Volkes 
der  Hebräer  jährlich  dem  schwarzen  Bocke  aufgeladen,  der  in 
die  Wüste  gejagt  wird.  In  diesem  Gebrauch  wirkt  noch  die 
archaische  Fluchidee,  da  die  Flüche,  die  sonst  dem  Volke  Scha- 
den brächten,  nun  durch  eine  priesterliche  List  alle  auf  den  Bock 
fallen,  der  als  geringes  Object  die  Stellvertretung  leisten  muss. 

Während  es  sich  hier  immer  um  ein  stellvertretendes  Lei- 
den handelt,  indem  ein  Vermögensobject  oder  das  Leben  für 
eine  Sünde  als  Tausch-  und  Tilgungsmittel  gebraucht  wird,  wobei 
natürlich  immer  die  Grösse  der  Selbstüberwindung  oder  des 
Schmerzes  bei  Darbringung  des  Opfers,  wie  bei  König  Usinara, 
als  Werthmassstab  gilt,  so  geht  die  Verderbniss  des  Urtheils 
durch  die  Motive  der  Furchtreligion  auch  dazu  über,  die  Ver- 
dienste als  Bezahlungsmittel  zu  gebrauchen.  Diese  Vorstel- 
lungsweise gelangte  namentlich  in  Indien,  wo  die  Heiligkeit  an 
viele  äusserliche  und  mithin  gewissermassen  arithmetisch  zu  be- 
rechnende Werke  geknüpft  wurde,  zu  einer  epidemischen  Aner- 
kennung. Als  z.  B.  Nahuscha  erklärte,  dass  er  als  Mensch  zu 
schwach  sei,  um  die  Götter  und  die  ganze  Welt  zu  beherrschen, 
da  stärkten  ihn  die  heiligen  Rischi  durch  stellvertretende  Ueber- 
tragung  ihrer  Busse.  (Holtzmann,  Ind.  Sag.  I  S.  325.)  Ebenso 
läuft  der  König  Jajati  Gefahr,  in  die  Hölle  zu  gerathen,  da 
übertragen  seine  vier  Enkel  all  ihr  Tugendverdienst  und  die 
Frucht  all  ihrer  Opfer  auf  ihn;  denn  alle  hatten  durch  ihre  reich- 
liche Freigebigkeit,  ihre  Tapferkeit,  ihre  Wahrhaftigkeit  und  häu- 
figen Opfer  sich  im  Himmel  unermessliche  Räume  erworben  und 
können  nun  durch  ihr  stellvertretendes  Verdienst  ihm  den  Himmel 
verschaiSfen.  (Ebendas.  H  119.)  Aehnlich  hatte  der  Muni  Dscha- 
ratkaru  durch  seine  Keuschheit  und  freiwillige  Armuth  u.  dergl. 
grosse  Verdienste  erworben,  als  er  jene  Schaar  verstorbener 
Seelen  antriflFt,  die  in  Angst  über  der  Hölle  schweben.  Er  sagt: 
„Von  Mitleid  ist  mein  Herz  bewegt.  Von  meiner  Busse  will  ich 
Euch  ein  Viertel  schenken  oder  auch  ein  Drittel,  wenn  ihr  Euch 


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328  ßeligion  der  Sande. 

aus  dieser  Noth  befreien  könnt.    Nehmt  meine  halbe  Basse  hin; 
nehmt  selbst  die  ganze;  rettet  Euch." 

Die  schönste  Form  dieser  Stellvertretungsidee  zeigt  sich  in 
der  Durchdringung  ihrer  beiden  Arten,  wenn  nicht  über  früher 
erworbene  Verdienste,  wie  über  erworbene  Reichthümer  ver- 
mögensrechtlich verfügt  wird,  sondern  wenn  das  Leiden  selbst 
als  moralische  Leistung  und  Verdienst  betrachtet  wird.  Denn 
wie  in  der  Tragödie  nach  dem  richtigen  Urtheile  des  Aristoteles 
die  schönste  Form  darin  besteht,  dass  der  Schicksalswechsel  un- 
mittelbar mit  der  Erkeunungsscene  zusammenfallt,  so  wirkt  auch 
das  stellvertretende  Leiden  viel  mächtiger  auf  das  Gemüth,  wenn 
es  zugleich  die  momlische  Leistung  ist  und  den  Werth  der  sich 
opfernden  Seele  voflfAugen  stellt.  So  ist  es  z.  B.  in  der  Ge- 
schichte des  Königs  Usinara  und  in  der  herkömmlichen  Deutung 
des  Versöhnungstodes  Christi,  wo  gerade  die  Durchdringung 
beider  Arten  von  Stellvertretung  die  Lebendigkeit  und  Macht  des 
Eindrucks  hervorruft. 

Es  ist  aber  ein  Zeichen  geringer  logischer  Schärfe 
ihum  und  die  odcr  geringer  Kenntniss  der  verschiedenen  Religionen, 
neue  Reiigions-  ^cuu  man  die   Stellvertretungsidee  für   etwas  dem 

pLilosopble. 

Christenthum  Eigenthümliches  ansieht.  Vielmehr  er- 
giebt  eine  unwiderlegliche  Demonstration,  dass  das  Wesentliche 
und  auch  das  Eigenthümliche  des  Christenthums  mit  dieser  Idee 
nichts  zu  thun  hat.  Mithin  könnte  man,  ohne  sich  um  die  nähere 
Untersuchung  des  specifisch  Christlichen  weiter  zu  bekümmern, 
höchstens  sagen,  dass  die  Stellvertretungsidee  dem  Christenthum 
mit  vielen  anderen  Religionen  gemeinsam  zukomme  (als  commune) 
in  der  Art,  wie  z.  B.  die  Athmung  durch  Lungen  allen  Säuge- 
thieren  und  Vögeln  gemeinsam  ist  und  für  keine  bestimmte  Art 
dieser  Thiere  den  Grund  eines  specifischen  Charakters  bildet. 
Allein  wenn  wir,  wie  es  das  wissenschaftliche  Interesse  und  die 
Herzensangelegenheit  des  Christen  fordert,  das  Wesentliche  des 
Christenthums  als  der  höchsten  Religion  heraussuchen,  so  werden 
wir  nothwendig  finden,  dass  die  der  niedrigsten  Religionsstufe 
angehörige  Stellvertretungsidee,  welche  auch  schon  bei  der  nächst 
höheren  Rechtsreligion  nur  in  ihrer  unreinen  Form  vorkommt, 
unmöglich  mit  der  göttlichen  Wahrheit  des  heiligen  christlichen 
Geistes  verträglich  ist,  sondern  dass  diese  Idee,  da  sie  sich 
allerdings  in  der  Kirchenlehre  findet,   eine   ganz  besondere  Er- 


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Die  unreine  Rechtsrcligion.  329 

kläruDg  und  Rechtfertigung  verlangt.  Die  genauere  Darlegung 
kann  aber  erst  bei  der  Untersuchung  über  das  Wesen  des  Christen- 
thums  gegeben  werden,  und  ich  darf  hier  nur  darauf  aufmerksam 
machen,  dass  das  Eigenthümliche  der  neuen  Religionspbilosophie 
eines  Theils  gerade  darauf  beruht,  dass  die  specifischen  Motive 
der  Religionen  chemisch  rein  ausgeschieden  vs^erden,  wodurch  die 
zugeordneten  reinen  allgemeinen  Formen  aller  empirischen  Reli- 
gionen allein  constituirt  werden  können  und  demgemäss  das  zu 
jeder  Religion  specifisch  Zugehörige  sich  herausstellt  Darum 
konnten  die  früheren  Religionsphilosophen  in  allen  diesen  Fragen 
nicht  klar  genug  sehen,  weil  sie,  wie  z.  B.  Kant  und  Hegel,  und 
auch  jüngst  noch  Ffleiderer,  an  die  empirisch  vorliegenden  Reli- 
gionen herantreten,  als  wären  diese  aus  Einem  Geist  und  Einem 
Guss  gegeben  und  als  müssten  alle  darin  vorkommenden  Theile 
nothwendig  und  wesentlich  zu  dem  Ganzen  gehören  und  daher 
durch  irgend  welche  speculative  Construction  oder  irgend  eine 
allegorische  Interpretation  vertheidigt  und  gerechtfertigt  werden. 
Wie  man  aber  in  unseren  grossen  gothischen  Kathedralen  neben 
dem  gothischen  Stile  auch  vielen  Theilen  begegnet,  die  dem  älteren 
romanischen  Stile  angehören  oder  später  nach  dem  Renaissance- 
und  dem  Rococo-Stile  ausgebaut  sind,  so  ist  das  Christenthum 
auch  nur  zq  verstehen^  wenn  man  den  specifischen  Stil  von  allen 
andersartigen  rein  ausscheidet  und  fUr  jeden  Theil  das  charak- 
teristische Stilgesetz  und  die  zugehörige  Bauordnung  auffindet, 
und  diese  Aufgabe  soll  in  meiner  Religionsphilosophie  gelöst 
werden. 

Es  ist  dies  dieselbe  Aufgabe,  die  ich  in  meiner  Geschichte 
der  Begriffe  ftlr  die  Philosophie  überhaupt  gestellt  hatte;  denn 
während'  man  bisher  jeden  Philosophen  mit  seinem  System  als 
ein  Ganzes  betrachtete,  zeigte  ich  in  dem  Körper  der  verschie- 
denen Systeme  die  anderswoher  entlehnten  Begriffe  mit  ihren 
festen  Coordinationen  auf  und  forderte  daher  eine  ganz  neue  Ar- 
beit, nämlich  das  wirklich  Eigenthümliche  und  Specifische  eines 
Jeden  herauszufinden.  Daran  wird  man  noch  lange  zu  arbeiten 
haben;  die  bisherige  Arbeit  ist  aber  als  blosse  Materialsamm- 
lung und  Vorarbeit  zu  bezeichnen;  denn  wie  die  Chemie  als 
Wissenschaft  erst  beginnt  mit  der  Entdeckung  der  Elemente, 
während  sie  bisher  blosse  Alchemie  war,  so  kann  auch  in  der 
G^chichte  der  Philosophie  und  in  der  Religionsphilosophie  erst 

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330  Religion  der  Sünde. 

eine  feste  Basis  gefunden  werden,  wenn  man  die  eigenthümlichen 
Baustile,  ich  meine  die  specifischen  Motive  und  die  zagehörigen 
dogmatischen  Vorstellongsformen  und  Cnltarten  rein  für  sich 
dargestellt  hat 

Eine  solche  Arbeit  ist  aber  weit  entfernt  von  einer  Zer- 
setzung und  Zerstörung  des  Christenthums;  denn  wie  eine  Kathe- 
drale nicht  zerstört  wird,  wenn  man  in  ihr  verschiedene  Bau- 
stile nachweist,  so  braucht  auch  das  Christenthmn  nicht  zu  leiden, 
wenn  man  in  ihm  das  Wesentliche  von  anderen  eingemischten 
Elementen  unterscheidet  Wir  dürfen  nie  vergessen,  dass  das 
Christenthum  eine  Religion  ftlr  alle  Menschen  ist  Da  nun  un- 
möglich ftlr  alle  Kranken  eine  und  dieselbe  Medicin  brauchbar 
wäre,  so  ist  es  durchaus  vemtinftig  und  nützlich,  dass  im  kirch- 
lichen Christenthum  auch  viele  Elemente  aufgenommen  sind,  die 
den  niederen  Entwickelungsstufen  des  Gemüths  und  des  Geistes 
entsprechen  und  daher  auch  in  solchen  Regionen  Heilung  her- 
beiführen, welche  in  den  engeren  Jüngerkreis  des  Herrn  nicht 
Zugang  gefunden  hätten.  So  ist  auch  die  Stellvertretungsidee 
nichts  specifisch  Christliches.  Es  liess  sich  aber  die  eigenthüm- 
liche  Leistung  Christi  auch  nach  dieser  in  der  früheren  Religion 
herrschenden  Idee  auffassen  und  daher  auch  fbr  diejenigen  zu- 
gänglich und  wirksam  machen,  die  noch  auf  dem  Boden  der  un- 
reinen Rechtsreligion  standen,  die  ihrer  eigenthünüichen  Bega- 
bung nach  noch  heute  auf  diesem  Boden  stehen  und  in  Zukunft 
stehen  werden.  Solche  Auffassungsweise  ist  deshalb  zwar  nicht 
specifisch  christlich,  aber  sie  ist  auch  nicht  gegen  das  Christen- 
thum, und  wer  nicht  gegen  mich  ist,  heisst  es  in  dem  Herren- 
Wort,  der  ist  ftlr  mich.  Ist  es  ja  doch  das  ganze  Leben  und 
Leiden  Jesu,  das  in  der  Stellvertretungstheorie  den  Inhalt  der 
Gedanken  und  Gefühle  bildet,  und  wie  sollte  man  daher  eine 
solche  Auffassung  schlechthin  verwerfen  I  Sie  passt  eben  genau 
für  die  ihr  zugeordneten  Gemüther  und  wird  für  diese  immer 
rührend,  erhebend  und  beseligend  sein.  Darum  vertrug  sie  das 
Christenthum  und  wird  sie  auch  immer  behalten. 

Da  wir  in  den  projectivischen  Religionen  nicht 

wirkMm-    ™^*    ^^^    wirklichen    Gotte,    sondern    nur  mit  der 

fceitder     GottesvorstcUung   zu   thun  haben,   so  fragt  es   sich 

nniiff«!!.  ^^^^  nicht,  wiefern  Gott  die  Sühnung  annehme  und 

dadurch  versöhnt  werde,  sondern  nur,  wiefern  der  Gläubige  nach 

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Die  unreine  Rechtsreligion.  331 

seiner    Gottesvorstellung  durch   die  Sühnungen    sich   beruhigen 
könne  und  zum  Frieden   seines   Gewissens   zurückkehre.     Die 
Wirksamkeit  der  Sühnung  ist  psychagogisch  und  besteht  nur  in 
der  Beruhigung  des  quälenden  Schuldbewusstseins. 
Die  Frage  ist  also  bloss  eine  psychologische. 

^Ti  ,-m*  1  ,..j^  IrrellgioMitäk 

Nun  können  manche  Menschen  das  peinigende  Ge-  de«  unendiioiien 
fllhl  der  Schuld  und  der  Sünde  niemals  verlieren.  schuidRefahia. 
Die  Zeit  mag  eine  gewisse  Linderung  bringen,  indem  sie  die 
anschauliche  Frische  der  schlimmen  Thatvorstellungen  allmählich 
vermindert  und  sie  in  Vergessenheit  überführt;  allein  bei  jeder 
Erinnerung  schmerzt  wieder  tief  der  alte  Stachel,  der  in  der  un- 
verheilten  Wunde  zurückblieb.  Solche  Naturen  sind  durchaus 
nicht  unmoralisch,  sondern  eher  zu  moralisch,  wenn  dies  zu  sagen 
gestattet  ist,  d.  h.  die  Moralität  hat  bei  ihnen  keine  Gränze  und 
wird  nicht  als  ein  blosses  Glied  in  das  höhere  religiöse  Leben 
aufgenommen.  Ich  glaube  aber,  dass  jeder  feinfühlende  Mensch 
in  sich  die  Gefahr  solcher  endlosen  Gewissensqualen  kennen 
wird,  und  will  als  Beispiel  dafür  nur  Lessing  anführen,  der  die 
Ewigkeit  der  Höllenstrafen  dadurch  beweisen  wollte,  dass  uns 
bei  zunehmender  moralischer  Vervollkommnung  die  früheren 
Sünden  immer  tiefer  schmerzen  müssten  und  mithin  niemals  ein 
Ende  dieser  Höllenstrafen  eintreten  könnte.  Lessing  würde  nun 
vollkommen  Becht  haben,  wenn  er  uns  zwingen  könnte,  das  enge 
Gesichtsfeld,  auf  das  er  sein  Auge  richtet,  für  immer  beizube- 
halten; denn  wer  wollte  läugnen,  dass  die  That,  etwa  ein  Mord, 
den  Thäter,  wenn  er  Gewissen  hat,  immer  schmerzen  wird,  so 
oft  die  Erinnerung  daran  wieder  in's  Bewusstsein  tritt.  Allein 
so  hoch  der  Himmel  über  der  Erde  steht,  so  hoch  erhebt  sich 
die  Religion  über  die  blosse  Moral  Es  ist  das  Grösste  und  Herr- 
lichste an  der  Keligion  und  ein  Zeichen  ihrer  Majestät  im  Reiche 
des  Gemüthes,  dass  sie  im  Stande  ist,  selbst  diejenigen  Wunden 
und  Schmerzen  zu  heilen  und  zu  stillen,  die  in  uns  durch  die 
Macht  des  Gewissens  entstehen.  Doch  wie  ist  da  zu  helfen  und 
zu  rathen,  wo  selbst  der  scharfsinnige  Lessing,  der  sich  noch 
dazu  auf  Sokrates  und  Leibnitz  berief,  keinen  Ausweg  wusste! 
Allein  gerade  der  Scharfsinn  verdunkelt  die  Frage;. denn  er  be- 
schäftigt sich  immer  mit  dem  Einzelnen.  Hier  aber  hilft  allein 
das  höhere  speculativ  combinatorische  Vermögen,  durch  welches 
aUes  Einzelne  in  Coordination  gesetzt  wird,  und  man  muss  beide 

ie 


^S^' 


332  Religion  der  Sünde. 

geistigen  Vennögen  auf  gleiche  Weise  iD*s  Spiel  setzen,  um  die 
Wahrheit  zu  erkennen.  Ist  eine  Dissonanz  nicht  hässlich?  Und 
wird  sie  nicht  durch  Ueberfllhrung  in  Accorde  unentbehrlich  und 
schön  für  den  Genuss  des  Oanzen !  Wenn  Adam  nicht  gesündigt 
hätte,  sagen  mit  Recht  Kirchenlehrer,  so  wäre  keine  Erlösung 
gewesen  und  Gott  nicht  Mensch  geworden,  wie  es  denn  im  Liede 
heisst:  „Gott  sei  gepreist  ob  Adam's  Fall!"  Wenn  man  die 
Folgen  und  Zusammenhänge  in  der  eigenen  Seele  und  in  der 
Geschichte  übersieht  und  alle  übersehen  könnte,  so  würde  sich 
durch  Erkenntniss  der  Wege  der  göttlichen  Frovidenz  das  Ge- 
müth  nothwendig  entlasten  von  dem  trostlosen  Gram  um  die 
Sünde.  Im  Glauben  wird  diese  Erkenntniss  vorweggenommen, 
und  so  ist  Heilung  der  Gewissenspein  durch  religiöse  Erhebung 
möglich  und  wirklich;  denn  die  göttliche  Providenz  erstreckt  sich 
auf  beide  Theile,  auf  den  Sündigenden  und  auf  den,  an  welchem 
die  Sünde  begangen  wurde,  und  wie  Jemand  eine  Eselin  verliert, 
aber  ein  Königreich  findet,  so  weiss  der  Glaube  auch  zu  zeigen, 
dass  die  Führung  Gottes  Alles  zum  Besten  leitet  und  Alles  in 
seinen  Weltplan  eingeschlossen  hat.  Darum  wird  nun  der  scharf- 
sinnig spürende  Blick  sich  nicht  mehr  auf  den  Einen  schlimmen 
Punkt  beschränken,  wo  der  Stachel  des  Gewissens  wühlt,  son- 
dern er  wird  abgelenkt  auf  die  Folgen  und  das  Ganze  und  geht 
in  die  harmonisch  combinatorische  Anschauung,  über,  die  von 
einem  religiösen  Frieden  der  Seele  begleitet  wird.  —  Also  ist 
die  Trostlosigkeit  einiger  Menschen  bei  ihrem  Sündenbewusstsein 
zwar  nicht  unmoralisch,  aber  nicht  religiös. 

Doch  hiervon  war  nur  nebenbei  zu  handeln.    Es 
der  sühiiQog  fragt  Sich  aber,  wodurch  die  Sühnungen  auf  die  mei- 
diireh  Opfer  g^^jj  Menschcu  so  wirken,  dass  ihr  Schuldgefühl  sich 
beruhigt.    Dass  in   der  unreinen   Rechtsreligion   die 
dargebrachten   Opfer  und   Gebete   eine   ähnliche  Wirkung  aus- 
üben, wie  in  der  Furchtreligion,  ist  natürlich;   man  hat  ja   mit 
dem  Rechtsgott  den  zürnenden  Furchtgott  vereinigt,  und  so  wird 
es  begreiflich,   dass  er  sich  durch  Bitten,   schmeichlerische  De- 
müthignngen  unsererseits  und  die  höchsten  Lobpreisungen  seiner 
Person  und  Macht,  sowie  durch  Geschenke  u.  dergl.  versöhnen 
lässt.    Die  Versöhnung  des  projectiven  gefürchteten  Gottes  ent- 
fernt dann  auch  die  Furcht  vor  seiner  Strafe  und  entlastet  das 
unreine  Schuldbewusstsein,  das  wegen  seiner  Unreinheit  immer 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


Die  unreine  Rechtsreligion.  333 

an's  Gericht  denkt  ^Gehe  mit  uns  nicht  in's  Gericht",  „ver- 
schone ans  mit  Deinem  Gericht  **,  „eriasse  uns  unsere  Sünden 
und  lass  ab  von  Deinem  gerechten  Zorn**  u.  s.  w.  —  so  lauten 
die  unreinen  Gebete,  die  vorherrschend  von  der  Angst  vor  der 
Strafe,  wie  in  der  Furchtreligion,  getragen  werden. 

Die  asketischen  Sühnungen  sind  psychologisch 
ihrer  versöhnenden  Wirkung  nach  ebenso  wie  in  der  de/süb^ang 
Furchtreligion  zu  erklären,  da  die  Büssung,  die  der  ^^'^'^  ^"^^*'*- 
Mensch  sich  auferlegt,  den  Zorn  des  projectiven  Furchtgottes  be- 
ruhigen muss  und  die  Angst  des  Menschen  demgemäss  sich  ver- 
lieren kann.  Zugleich  haben  sie  aber  auch  ein  Element  aus  der 
Beligion  der  Sünde,  sofern  die  durch  die  Sünde  entsprungene 
oder  offenbar  gewordene  Uneinigkeit  der  Menschen  mit  sich  und 
seine  Ungerechtigkeit  durch  die  Werke  der  Askese  aufhört  und 
der  Sieg  des  festen  nnd  starken,  die  Leidenschaften  streng  unter- 
jochenden Willens  zu  Tage  tritt  Nun  ist  ja  die  mögliche  Einig- 
keit des  Menschen  mit  sich  durch  die  Herrschaft  des  Willens 
bekundet.  Da  die  Askesen  und  Easteiungen  aber  an  sich  selber 
gar  keinen  Werth  haben  und  nicht  etwa  einem  Leben  in  Gerech- 
tigkeit gleichkommen,  so  können  sie  auch  nur  als  Reactionen 
betrachtet  werden  und  geben  keinen  vollkommenen  Frieden,  son- 
dern mindern  das  Schuldgefühl,  das  mit  seiner  Erinnerung  an 
die  ehemaligen  Sünden  jetzt  durch  gegenwärtige  Beweise  wirk- 
lichen schmerzlichen  Gehorsams  gewissermassen  aufgewogen  wird. 
Die  volle  Erlösung  und  die  Freude  und  der  Friede  Gottes  kann 
dabei  also  auch  nur  als  Hofihnng  erscheinen,  und  kein  Büsser 
kann  ein  religiös  befriedigter  Mensch  sein. 

Was   endlich   die   Stellvertretung  anbetrifft,   so 

,  _.    ,  -.         ,     -,        ,  .   ,  .   Wlrkaamteit  dar 

muss  man  m  der  Sühnung,  die  dadurch  erreicht  sabnnnff  durch 
werden  soll,  zwei  Elemente  unterscheiden.  Möge  es  Stellvertretung. 
sich  nämlich  um  stellvertretendes  Leiden  oder  Verdienst  handeln, 
so  kann  die  zu  gewinnende  Sühnung  entweder  juristisch  aufge- 
fasst  werden,  oder  als  eine  Aneignung  im  Glauben  von  Seiten 
des  Gläubigen  zu  Stande  kommen.  Dieser  zweite  Vorgang  ist 
der  höhere  und  kann  erst  bei  der  Darlegung  des  Ghristenthums 
seinen  Platz  finden;  die  juristische  Auffassung  aber  gehört  in 
die  unreine  Form  der  Rechtsreligion.  Da  wir  in  dieser  nämlich 
den  Rechtsgott  haben,  der  wegen  seines  gefährlichen  Zornes  über 
die  Sünde,  die  er  rächen  will,  auch  der  projective  Furchtgott  ist, 

uiuiuzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


334  Beligion  der  Sünde. 

80  kommt  es  darauf  an,  unsere  Vorstellnng  von  dem  Gotte  zu 
verändern,  wenn  eine  Sühnung  wirksam  werden  soll.  Bei  allen 
Stellvertretungen  nun  und  auch  bei  dem  Lamm  Gottes,  welches 
trägt  die  Sünden  der  Welt,  denkt  der  Gläubige  an  die  Wirkun- 
gen, welche  der  Anblick  des  unverdienten,  stellvertretenden  Lei- 
dens auf  Gott  ausüben  muss.  Da  der  Gläubige  nun  selbst  bei 
solchem  Anblick  der  Rührung  und  des  Erbarmens  theilhaftig 
wird,  so  kann  er  nicht  anders  als  auch  Gottes  Zorn  dadurch 
weggenommen  denken  und  wird  also  mit  der  Veränderung  seiner 
Vorstellung  von  Gottes  Stimmung  auch  von  seiner  Angst  vor 
Gottes  Strafgericht  befreit  und  erlöst,  weshalb  er  dem  Stellver- 
treter in  herzlicher  Dankbarkeit  und  Liebe  seinen  Dienst  und 
seine  Treue  geloben  kann.  Die  Unreinheit  dieser  Religion  liegt 
aber  darin,  dass  die  Furcht  vor  der  Strafe  das  treibende  Motiv 
ist  und  dass  nicht  eigentlich  die  Sünde  aus  dem  Herzen,  son- 
dern nur  die  gefährliche  Wirkung  derselben  bei  Gott  weggenom- 
men werden  soll.  Dass  dabei  mittelbar  auch  eine  gewisse  rei- 
nigende Wirkung  auf  das  Herz  ausgeübt  wird,  ist  natürlich,  da 
die  Anerkennung  des  Gesetzes  und  der  Pflicht  des  Gehorsams 
dadurch  beträchtlich  zunehmen  wird;  denn  selbst  da,  wo  gar 
keine  eigene  Gefahr  vorliegt,  wie  z.  B.  bei  den  französischen 
Prinzen,  bei  deren  Unarten  ein  Prügelknabe  gestraft  wurde,  muss 
das  Mitleid  einen  reinigenden  und  bessernden  Einfluss  aus- 
üben, obwohl  diese  ganze  pädagogische  Massregel  von  sittlichem 
Standpunkte  aus  höchst  verwerflich  ist. 


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Fünftes  Capitel. 
Der  sociale  Charakter  der  Religion. 


Genau  genommen  hätte  die  sociale  Seite  der  Religion  von 
Anfang  an  bei  jeder  Form  erörtert  werden  müssen;  es  gewährt 
aber  grösseren  Vortheil  fUr  die  Betrachtung,  wenn  man  seinen 
Blick  gleich  über  mehrere  Formen  schweifen  lassen  kann.  Darum 
habe  ich  diese  Erörterung  an  das  Ende  der  projectiyischen 
Religionen  gestellt 

§  I.     Religiöse  Geselligkeit  überhaupt. 

Schleiermacher  meinte  in  seinen  Reden  über  die  j^.^  ^jj  ^^^^^^ 
Religion,   dass  der  Mensch  seine   Begriffe   und  Ur-    segrAndaug 
theile  für  sich  behalten  könne,  aber  bei  seinen  Ge-  "^"^*  schwer 
fühlen  und  Wahrnehmungen,   bei  denen  die   Sinne   macber'whcn 
sich  leidend  verhielten,   von  Natur  den  Trieb   zur      t*»«<>^- 
Mittheilung,  also  zur  Geselligkeit  habe.     Da  ihm  nun  die  Reli- 
gion ursprünglich  und  wesentlich  Gefühl  ist,   so  nimmt  er  für 
die  Begründung  der  Kirche   nur  diesen  besondem  Naturtrieb 
zur  Geselligkeit  in  Anspruch. 

Diese  Begründung  ist  ebenso  einseitig  und  verkehrt,  wie 
Schleiermacher's  ganze  Auffassung  von  der  Religion.  Sie  be- 
ruht auf  der  oben  (S.  31)  charakterisirten  falschen  Vorstellung 
von  den  Gefühlen,  die  er  sowohl  dem  Willen,  als  den  übrigen 
Geistesthätigkeiten  entgegengesetzt.  Wenn  er  daher  dem  Ge- 
fühle ein  Mittheilungsbedürfhiss  zuschreibt,  so  ist  daran  richtig, 
dass  jedes  Gefühl  Bewegungen  auslöst  und  auf  diese  Weise  sich 
nothwendig  mittheilt  oder  äussert,  wie  oben  (S.  62)  bewiesen; 
wenn  er  aber  glaubt,  dass  dies  bloss  seinem  sogenannten  Ge- 
fühle und  nicht  auch  dem  Willen  und  der  Erkenntniss  zukäme, 
so  fehlt  dabei  die  Einsicht,  dass  die  Gefühle  und  der  Wille  das- 
selbe   sind    und   dass    die    ganze  Gefühls-    oder   Willensregion 

uiymzeu  uy  "V-j  v-/ v^'pc  l V- 


336  Religion  der  Sünde. 

sich  einerseits  dem  Erkenntnisselement  zuordnet,  von  welchem 
sie  erst  ausgelöst  werden  muss,  andererseits  aber  Bewegungen 
hervorruft,  die  ebenso  gut  auf  das  Gedachte  und  Vorgestellte 
wie  auf  den  vermittelnden  Willen  oder  das  Gefühl  bezogen  werden 
können.  Denn  z.  B.,  wenn  Jemand  den  Drang  hat,  seine  Ge- 
fühle sclüeiermacherisch  mitzutheilen,  so  wird  er  doch  eben  die 
Vorstellungen  und  das  in  seiner  Erkenntniss  vorhandene  Object, 
welches  ihm  das  Gefühl  erregte,  zur  Mittheilung  bringen;  er  wird 
also  etwa  von  dem  Tode  seines  Kindes,  von  der  Hochzeit, 
die  er  zu  feiern  beabsichtigt,  u.  dergl.  reden.  Also  kann 
man  ebenso  gut  sagen,  dass  die  Vorstellungen  zur  Mitthei- 
lung drängen,  da  sie  ja  die  zugehörigen  Gefühle  auslösen. 
Man  sieht  also,  dass  wegen  des  Goordinationssystems  unserer 
geistigen  Functionen  die  vom  Willen  angeblich  verschiedenen 
Geilihle  die  Rolle  nicht  spielen  können,  die  ihnen  Schleiermacher 
aufträgt 

Ausserdem  muss  man  die  ganze  Frage  etwas  grösser  an- 
fassen. Denn  die  Geselligkeit  ist  ein  metaphysisches  Ver- 
hältniss,  da  nicht  Erscheinungen  mit  Erscheinungen  in  Gesellschaft 
stehen,  sondern  metaphysische  Wesen.  Die  Erscheinungen 
sind  Vorstellungen  von  Objecten,  welche  als  ideelle  Bewusst- 
seinszustände  in  den  Personen  vorkommen;  die  Personen  selbst 
aber  sind  wirkliche  Wesen,  die  mit  anderen  wirklichen  Wesen 
in  einem  realen  Verkehr  stehen.  Man  sollte  dies  für  selbst- 
verständlich halten;  aber  zu  Schleiermacher's  Zeit  war  der  Mensch 
nur  eine  objeetive  Erscheinung  (ein  Spinozischer  Modus),  weil 
man  damals  ftlr  das  Unendliche  schwärmte^),  und  zu  unserer 
Zeit  ist  der  Mensch  für  die  weitverbreiteten  Positivisten  nur 
eine  subjective  Erscheinung,  ein  Vorstellungsbild,  das  von 
keinem  wirklichen  Wesen  gesehen  wird,  weil  man  viel  zu  be- 
scheiden ist,  um  sich  für  ein  wirkliches  Wesen  zu  halten,  und 
zugleich  zu  bescheiden,  um  zu  wissen,  was  ein  wirkliches  Wesen 
ist,  so  dass  die  erste  Bescheidenheit  wegen  der  zweiten  zwar 
lächerlich  wird,  aber  dennoch  mit  ihr  vollkommen  übereinstimmt, 
weil  sie  beide  zusammen  erst  die  vollkommene  Kopflosigkeit 
dieser  positivistischen  Meinung  ausdrücken. 


*)  Auch  Lotze,  der  leider  niemals  zu  festen  Begriffen  kam,  hat  sich 
zuletzt  in  seiner  Metaphysik  verleiten  lassen,  wieder  zu  dieser  hellenischen 
Meinung  zurückzukehren. 

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Socialer  Charakter  der  Religion.  ^3*^ 

Wenn  nun  die  Geselligkeit  ein  metaphysischer,  d.  h.  zwischen 
wirklichen  Wesen  in  wirklichen  wechselseitigen  Handlungen  sich 
vermittelnder  Verkehr  ist,  so  konunt  sofort  die  Teleologie  in 
Frage,  da  die  Beziehung  der  Wesen  zu  einander  nicht  zufällig 
sein  kann,  sondern  ihre  zureichenden  Zweckgründe  haben  muss. 
Nun  beruhen,  wie  ich  das  in  meiner  Schrift  „über  das  Wesen 
der  Liebe^^  dargelegt  habe,  die  Beziehungen  der  Menschen  darauf, 
dass  sie  untereinander  in  sich  die  geistigen  Thätigkeiten  aus- 
lösen und  zur  Entwickelung  bringen.  Aber  nicht  dies  ist  unsere 
Frage  hier,  dass  wir  diese  socialen  Formen  eintheilten  und 
charakterisirten,  sondern  wie  wir  die  religiöse  Geselligkeit  be- 
greiflich machen.  Denn  daftlr  bloss  die  starke  Erregung  des  * 
frommen  Gefühls  mit  Schleiermacher  heranzuziehen,  ist  nicht 
einmal  durch  die  Erfahrung  an  die  Hand  gegeben,  da  ja  be- 
kanntlich auch  sehr  starke  Gefühle  vorkommen,  wie  die  des 
Diebes  und  Mörders,  die  zur  Einsamkeit  und  zu  ängstlicher 
Schweigsamkeit  führen,  und  da  gewisse  starke  religiöse  Gefühle 
auch,  wie  die  Geschichte  lehrt,  zur  mönchischen  Selbsteinsperrung 
und  zum  heiligen  Gelöbniss  ewigen  Schweigens  veranlassen 
können.  Auch  hat  Schleiermacher,  wenn  er  bloss  die  Gefühle 
im  Gegensatz  zu  der  Erkenntnissthätigkeit  für  die  Geselligkeit 
in  Anspruch  nehmen  will,  wohl  nicht  an  die  fast  grösste  Gesellig- 
keit in  den  Schulen  und  Universitäten  gedacht,  wo  doch  nicht 
bloss  unbestimmte  und  unsagbare  Gefühle  mitgetheilt  zu  werden 
pflegen. 

Die  Schwierigkeit  unserer  Frage  liegt  aber  darin,  dass  eine 
religiöse  Geselligkeit  eigentlich  nur  zwischen  dem  Menschen 
'  und  Gott  stattfindet,  lieber  die  pantheistische  Form  dieses 
Verkehrs,  wobei  der  Gott  zur  Natui*  und  zu  einzelnen  Individuen 
wird,  müssen  wir  später  handeln;  hier  aber,  wo  wir  uns  auf  die 
projectivischen  Religionen  beschränken,  müssen  wir  schliessen, 
dass  der  Verkehr  der  Menschen  untereinander  immer  nur  in- 
direct  ein  religiöser  werden  kann,  nämlich  durch  den  Umweg 
über  das  Gottesbewusstsein  und  in  Beziehung  auf  das  Gottes- 
bewusstsein.  Wir  werden  also  nur  diejenige  Geselligkeit  eine 
religiöse  nennen,  die  aus  keinem  anderen  Grunde  erklärt  werden 
kann,  als  durch  das  jedesmal  zugehörige  Gottesbewusstsein. 

Wir  werden  daher   die  Geselligkeit  schlechthin  teleo- 
logisch  aus   dem  wechselseitigen  Bedürfniss   der  Personen   er- 

Telohmnller,  BellglonsphilMophle.  uiymzeu  l^^jOOQLC 


338  Religion  der  Sünde. 

klären,  sofern  die  Auslösung  der  geistigen  Funetionen  von  dem 
Verkehr  abhängt;  die  religiöse  Geselligkeit  aber  specifisch 
aas  den  Coordinationen,  in  welche  die  allgemeinen  Bedingungen 
der  Geselligkeit  sich  mit  dem  Gottesbewusstsein  setzen.  Statt 
daher  mit  Schleiermacher  zu  wähnen,  als  wolle  nur  ein  Uber- 
yolles  Gefühl  tiberströmen  zur  Mittheilung  und  dadurch  Ge> 
selligkeit  begründen,  werden  wir  fragen,  ob  nicht  auch  leere 
Gefässe  yorhanden  wären,  die  ein  Verlangen  nach  AnfUliung 
hätten.  Denn  wenn  sich  blosß  Mittheilungslustige  zusammen- 
fänden, so  wttrde  Keiner  den  Andern  zu  Worte  kommen  lassen. 
Die  Menschen  sind  eben  keine  vollkommene  Automaten,  sondern  für 
ihre  Functionen  yon  der  zugeordneten  Function  der*  anderen 
menschlichen  Wesen  abhängig,  so  dass  die  erst  zusammen  ein 
Ganzes  bilden  und  daher  nach  Ergänzung  oder  nach  Inte- 
gration streben.  Der  Productive  liebt  den  Receptiven  und  der 
Hörer  den  Erzähler,  der  Starke  den  Schwachen  und  ein  Geschlecht 
das  andere.  Was  Wunder  also,  dass  sofort  der  specifische  Anfang 
aller  religiösen  Geselligkeit  in  dem  Gegensatz  zwischen  Laien 
und  Priestern  liegt;  denn  der  Eine  giebtRath,  Gewissheit,  Offen- 
barung, Erregung  des  Gefühls  und  Beruhigung  des  Gefühls,  und 
der  Andere  bedarf  alles  dieses. 

Ich  lasse  deshalb  die  Schleiermacher'sche  Ableitung  der 
religiösen  Geselligkeit  nicht  gelten,  da  der  von  ihm  allein  an- 
gefahrte Naturtrieb  zur  Mittheilung  in  Wahrheit  nichts  anderes 
ist,  als  die  allgemeine  Goordination  des  bewegenden  Vermögens 
zum  Gefühl.  Durch  diese  Goordination  wird  allerdings  bei  jedem 
Gefühl  eine  Bewegung  ausgelöst.  Allein  jenachdem  wieder 
die  Vorstellungscoordinaten  für  das  Geflihl  waren,  mnss 
die  Bewegung  entweder  zu  bestimmten  praktischen  Thätigkeiten 
führen  oder  zur  Kunst  Die  Kunst  ist  aber  nur  indirect  ge- 
sellig, da  sie  ihren  Zweck  ursprünglich  nicht  in  den  Bedürfnissen 
und  Trieben  des  Publikums  nimmt  und  auch  nicht  nehmen  darf, 
wenn  sie  nicht  banausisch  werden  will.  Nur  sofern  die  Andern 
das  gleiche  Mittheilungsbedürfniss  haben,  ohne  die  Kunstanlage 
zu  besitzen,  wird  die  Kunst  gesellig;  denn  sofern  die  Andern 
sich  an  der  Leistung  freuen  und  durch  dieselbe  die  in  ihnen 
gebundenen  Vorstellungen  und  Gefühle  zur  Auslösung  kommen, 
fangen  sie  mit  an  zu  singen  und  zu  springen  und  nehmen  so 
receptiv   an   der  productiyen   Thätigkeit  Antheil.      Die   direct 

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Socialer  Charakter  der  Religion.  33d 

gesellige  Thätigkeit  ist  aber  ihrem  Zwecke  nach  sofort  auf  die 
Andern  gerichtet.  Und  so  mnss  auch  die  specifisch  religiöse 
Geselligkeit  ausser  dem'Naturtriebe  unmittelbar  in  dem  Interesse, 
in  der  Pflicht  und  der  Liebe  ihre  Motive  haben.  Während  die 
Liebe  sich  aber  erst  in  der  höchsten  Religion ,  im  Ghristenthum, 
findet,  so  fängt  die  Pflicht  schon  mit  der  llechtsreligion  an;  denn 
wer  die  Gebote  erkennt,  hat  die  Pflicht  zu  gebieten,  und  so  ist 
der  Grund  zur  Geselligkeit  unmittelbar  vorhanden.  In  der 
Furchtreligion  aber  kann  auch  der  gemeinsame  Yortheil  zur  Ge- 
selligkeit treiben,  da  der  Mensch  als  Mitstreiter  Gottes  theils  Natur- 
gewalten, theils  die  menschlichen  Feinde  Gottes  bekämpfen  muss, 
wie  deshalb  auch  der  Islam  nicht  aus  Menschenliebe  und  nicht 
um  die  sittlichen  Gesetze  zu  verkündigen,  sondern  um  die  Herr- 
schaft Allah's  über  seine  Feinde  auszubreiten,  zu  geselliger  Ver- 
einigung und  IM  einer  Art  von  missionirender  Thätigkeit  ge- 
kommen ist 

In  der  Furchtreligion  beruht  die  zugehörige 
Geselligkeit  auf  dem  Interesse,  welches  durch  das 
zugeordnete  Gottesbewusstsein  bestimmt  wird.  Denn  der  Vater 
hat  das  Interesse,  den  Schutz  des  Hausgottes  auch  auf  die 
Kinder  auszudehnen,  und  bald  führt  das  gemeinsame  Interesse 
auch  den  ganzen  Stamm  oder  die  Nation  dahin,  für  die  Ernten, 
Regen  und  Sonnenschein,  Abwendung  von  Krieg  oder  Erlangung  von 
Sieg  u.  dergl.  einen  nationalen  Cultus  auszuüben  und  in  gemein- 
samen Festen  dem  Gotte  zu  opfern,  seinen  Zorn  zu  beschwichtigen, 
sejne  Güte  und  väterliche  Gunst  zu  preisen.  Daher  finden  wir 
bei  den  Wilden  und  auch  bei  den  civilisirten  Griechen  viel  Ge- 
selligkeit in  der  Religion,  grosse  nationale  Spiele,  Theater,  Pro- 
cessionen  u.  dergl.  Wie  sie  der  Minerva  gemeinschaftlich  das 
neue  Gewand  (TtdTrXov)  in  grossartiger  Procession  überreichten, 
so  wird  auch  heute  noch  die  Jungfrau  Maria  in  Spanien  und 
Italien  neu  gekleidet,  und  solche  Geschenke  werden  ihr  nach  dem 
Typus  der  Furchtreligion  in  religiös  -  geselligen  Akten  als  Dank 
flir  erwiesene  und  als  Lockung  für  weiter  zu  erwartende  Wohl- 
thaten  zugeführt.  Darum  ist  in  der  Furchtreligion  die  Gesellig- 
keit mit  deip  ganzen  nationalen  und  politischen  Leben  vereinbar, 
und  Fürst  und  Volk  haben  das  gleiche  Interesse  am  Gottes- 
dienste, da  der  Gott  das  Interesse  des  Volkes  vertritt  und  zur 
projectiven  Nationalidee  übergeht. 


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ä4Ö  Religion  der  Sünde. 

Der  Inhalt  dieser  ganzen  religiösen  Geselligkeit  ist  zunächst 
die  Furcht,  Hoffnung  und  Dankbarkeit,  dann  die  zugehörigen 
Vorstellungen  von  Gott  und  seiner  Gemüthsart,  endlich  sowohl 
die  Thaten,  welche  Gott  zugeschrieben  werden  und  wodurch  er 
uns  geschadet  oder  geholfen,  als  auch  des  Menschen  Thaten, 
wodurch  er  unter  .göttlicher  Assistenz  oder  gegen  göttlichen 
Willen  Güter  oder  üebel  erlangt  hat,  sowie  die  geheimen 
Mittel,  wodurch  er  die  Gemüthsart  Gottes  zu  seinem  Vortheil 
zu  lenken  wusste.  Von  all  diesem  sprechen  deshalb  die  reli- 
giösen  Lieder  und  Epopöen  der  Völker,  und  diesen  Inhalt  des 
Geistes  theilen  sie  sich  einander  mit  in  der  religiösen  Gesellig- 
keit. Auch  die  prophetischen  Schriften  der  Israeliten  haben  zu 
einem  nicht  geringen  Theile  denselben  Inhalt,  da  das  Judenthum 
ja  eine  unreine  Kechtsreligion  ist  und  daher  die  Elemente  des 
reinen  sittlichen  Geistes  nur  immer  in  der  grossen  aus  dem 
positiv  elektrischen  Nebel  der  Furchtreligion  aufgestiegenen  Wolke 
gewissermassen  wie  den  Blitz  verborgen  trägt,  obgleich  dieser 
schon  das  herrschende  Element  geworden  ist  und  oft  mit  seinem 
Glänze  so  blendend  wirkt,  dass  Manche  darüber  die  schwere  und 
dunkle  Wolke  ganz  übersehen. 

In  der  Religion  der  Sünde  aber  tritt  ein  reicherer  Inhalt 
auf;  denn  es  erschliesst  sich  mit  diesem  Gefühl  der  Sünde,  welches 
Niemand  gern  hat,  dessen  man  sich  schämt,  das  wegen  seiner 
Ursache  von  Gott  und  Menschen  gehasst  wird,  dennoch  zugleich 
die  Tiefe  des  Seelenlebens,  so  dass  ein  Mensch,  der  dieses  Gefühl 
nicht  kennt,  auch  noch,  nicht  Mensch  geworden  ist,  sondern  nur 
als  ein  intelligenteres  Thier  betrachtet  werden  muss.  Das  £echt 
und  die  Pflicht,  Moralität  und  ein  über  dem  Furchtgott  erhabener 
Gott  des  Gesetzes  und  demgemäss  EhrAircht  und  Gewissen 
und  alles,  was  damit  zusammenhängt,  kann  ohne  das  Gefühl 
der  Sünde  nicht  zu  Bewusstsein  kommen.  Mit  diesem  Gefühl 
aber  ist  zugleich  ein  unermesslicher  Inhalt  des  Gemüthes  für  die 
religiöse  Geselligkeit  gegeben.  Die  Menschen  verstehen  sich  nun 
einander  tiefer  nach  den  Motiven  in  ihrem  Herzen,  sie  können  sich 
achten  und  verurtheilen,  sie  können  rathend  und  belehrend  sich 
beistehen,  sie  können  ihre  Gefühle  bekennen,  gemeinsam  sie  in 
Gesang,  Lied  und  Gebet  vor  Gott  tragen  und  durch  den  Priester 
und  Propheten  Antwort  vernehmen  und  von  hohen  Gedanken  und 
heiligen  Entschlüssen  gemeinsam  erleuchtet  und  durchglüht  werden. 


Socialer  Charakter  der  Religion.  341 

Die  reine  Religion  des  KechtB  findet  sich  freilich  bei  keinem  Volke, 
da  die  Religion  der  Furcht  immer  schon  im  Herzen  Boden  gefasst 
hat;  aber  es  hindert  nichts,  aus  der  religiösen  Geselligkeit  derjenigen 
Völker,  bei  denen  wie  bei  den  Israeliten,  Griechen,  Germanen  u.  A. 
die  Sünde  kräftig  zum  Bewusstsein  gekommen  ist,  die  Elemente 
des  sittlichen  Geistes  abzusondern.  So  sind  z.  B.  in  den  drei 
Festen  der  Israeliten,  dem  Passah,  dem  Feste  des  neuen  Brotes 
und  dem  Laubhtlttenfeste,  natürlich  alle  Grundlinien  der  Feier 
auf  den  Furchtgott  belogen ,  der  über  die  Güter  der  Natur  ver- 
fllgt;  gleichwohl  können  darin  eingemischte  Vorstellungen  von 
der  Sünde  und  der  wiederherzustellenden  Einigkeit  der  Seele 
gefunden  werden.  Und  wenn  auch  der  Sündenbock  angeblich  dem 
dualistisch  gedachten  bösen  Gotte  Azazel  in  die  Wüste  getrieben 
wird,  so  liegt  doch  in  diesem  rohen  Ritus  der  Furchtreligion 
auch  schon  das  Gefühl  der  Sünde  und  des  Rechts,  da  die  auf 
das  Haupt  des  Widders  zu  bekennenden  Sünden  nicht  aber- 
gläubische Einbildungen  über  die  Erzümung  des  Naturgottes, 
sondern  \yirkliche  Verletzungen  des  socialen  Rechtes  enthalten. 
So  werden  die  täglichen  Brandopfer,  die  immer  brennenden 
Flammen  des  siebenarmigen  Leuchters,  die  ungesäuerten  Brote 
und  alle  die  unzähligen  knechtischen  Formen  des  Furchtgottes- 
dienstefi  doch  auch  immer  zu  Symbolen  sittlicher  Vorgänge  und 
können  trotz  ihrer  abergläubischen  Gebundenheit  allegorisch  ftlr 
eine  prophetische  Rede  aus  dem  Geiste  des  Rechtes  benutzt  werden. 
Wie  nun  bei  den  Israeliten  diese  drei  grossen  Feste  die 
ganze  Nation  von  allen  Gegenden  her  um  die  Stiftshtttte  zu 
wochenlanger  Geselligkeit  zusammenftlhren  sollten,  und  wie  dazu 
der  Anlass  zwar  in  den  Motiven  der  Furchtreligion  lag,  nämlich 
in  den  Geftihlen  der  Furcht,  der  Dankbarkeit  und  der  Hoffnung, 
während  der  Inhalt  der  Gemeinschaft  durch  die  Motive  der  Rechts- 
religion vertieft  und  bereichert  wurde:  so  finden  wir  Aehnliches 
auch  bei  den  Persern,  Indern,  Aegyptem,  Germanen  und  Hellenen, 
wo,  wie  namentlich  bei  den  letzteren,  die  im  Frühling  und  Herbste 
stattfindenden  grossen  Fest -Versammlungen,  die  olympischen, 
nemeischen,  pythischen,  isthmischen  Spiele,  zu  einer  nationalen, 
religiösen  Geselligkeit  ftlhrten,  durch  Untersagung  aller  Fehden 
die  auf  Interesse  beruhenden  eigensüchtigen  Sonderbestrebungen 
durchbrachen  und  zu  einer  höheren,  objectiven  und  also  sittlichen 
Anschauungsweise  erhoben.    Denn  da  alle  diese  Spiele  zu  grossen 

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342  Religion  der  Sünde. 

> 
Nationalfegten  worden,  so  musste  die  engherzige,  perspectivische 

Weltbetrachtung  des  Einzelnen  sich  erweitern,  und  der  gemein- 
same Cult  des  Festgottes  bot  die  natürliche  Veranlassung^  um 
das  Rechtsbewusstsein  auf  die  theologischen  Vorstellungen  zu 
projiciren  und  demgemäss  die  Interessen  und  Pflichten  der  Nation 
zu  bedenken. 


§  2.  Die  speclflschen  Formen  der  politischen  Organisation. 

Nachdem  ich  bisher  im  Allgemeinen  die  Motive  herausgehoben 
habe,  die  in  den  beiden  projectivischen  Religionen  überhaupt  über 
das  individuelle  Bewusstsein  hinaus  zu  einer  religiösen  Gemein- 
schaft führen  mussten,  ist  es  jetzt  unsere  Aufgabe,  das  Specifische 
in  der  socialen  Organisation  genau  zu  bestimmen.  Es  ist  ja  von 
vornherein  einleuchtend,  dass  die  religiöse  Weltanschauung  in 
fester  Coordination  zu  der  socialen  Organisation  der  Völker 
steht,  da  die  zugehörigen  ethischen  Motive  eine  ganz  bestimmte 
Stellung  der  Menschen  zu  einander  bedingen. 

In  der  Religion  der  Furcht  ist  kein  anderes  Band  der 
Menschen  untereinander  gegeben,  als  das  natürliche  Leben,  also 
die  natürliche  Gewohnheit,  Sympathie  und  das  Interesse.  Daraus 
folgt  mit  mathematischer  Gewissheit,  dass  alle  Völker  dieser 
Religion  in  keiner  sittlich  und  rechtlich  geordneten  Weise  zu- 
sammen leben  können,  d.  h.  dass  sie  keinen  Staat  mit  festen 
Gesetzen  haben,  und  zwar  weder  mit  Verfassungsgesetzen,  noch 
mit  einem  Griminal-  und  Civilrecht;  denn  alle  diese  Bildungen 
gehen  erst  aus  einem  entwickelten  Rechtsbewusstsein  hervor. 
Mithin  gehört  zu  dieser  Religion  specifisch  entweder  die  Wild- 
heit der  Völker,  oder  die  despotische  und  die  patriarcha- 
lische Monarchie.  Bei  allen  wilden  Völkern  ist  die  Furchtreligion 
das  dem  unpolitischen  Zustande  zugeordnete  Fundament,  und 
wenn  man  Spuren  sittlichen  Geistes  in  ihren  Religionen  finden 
will,  so  stammen  dieselben  entweder  aus  späteren  Umdeu- 
tungen,  da  die  sich  civilisirenden  Völker  ihre  alten  Götter  be- 
hielten und  nur,  wie  z.  B.  Pindar  und  Aeschylus  thaten,  ihr 
höheres  sittliches  Bewusstsein  in  die  archaische  und  nicht- sittliche 
Mythologie  hineininterpretirten,  oder  aus  einer  gewissen  Prä- 
formation, da  der  Mensch  ja  auf  Sittlichkeit  angelegt  ist  und 
deshalb  auch   in  seinen  natürlichen  Beziehungen   eine  Analogie 

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Socialer  Charakter  der  B«ligion.  343 

mit  d^n  späteren  höheren  Leben  sich  darbietet,  wie  z.  B.  Sehiller 
sagte,  die  Pflanze  könnte  uns  lehren,  dass  der  Mensch  wollend 
das  sein  sollte,  was  die  Pflanze  willenlos  wäre.  Daram  werden 
ja  auch  im  Neuen  Testamente  und  von  den  christlichen  Kanzel- 
rednem  die  alten  Geschichten  von  Eain  und  Isaak  und  Jacob 
u.  dergL  immer  so  umgedeutet,  dass  die  spätere  sittlich-religiöse 
Auffassung  in  jenen  bloss  natürlichen  Beziehungen  teleologisch 
präformirt  zu  sein  scheint. 

Auch  das  patriarchalische  Kegiment  und  der  Despotis- 
mus beruhen  bloss  auf  den  natürlichen  Motiven  der  Gewohnheit 
und  einer  sich  von  selbst  bildenden  Anerkennung  der  Macht,  möge 
sie  auf  kindliche  Sympathie  oder  auf  Furcht  zurückgehen.  Das 
kindliche  oder  väterliche  Verhältniss  hat  zunächst  gar  keinen 
sittlichen  Charakter,  sondern  beruht  auf  dem  natürlichen  Abhängig- 
keitsgefühl und  der  Gewohnheit,  welche  die  Festigkeit  giebt.  Mit 
dem  Abhängigkeitsverhältniss  ist  auch  immer  eine  Interessen- 
gemeinschaft verbunden,  da  der  patriarchalische  König  ja  seinen 
Vortheil  von  den  Unterthanen  hat,  wie  sie  von  ihm.  Bei  dem 
Despotismus  aber  tritt  das  Motiv  der  Furcht  ganz  nackt  hervor, 
und  es  ist  darum  interessant,  dass  gerade  in  der  geschichtlich 
am  Grossartigsten  ausgebildeten  Religion  der  Furcht,  ich  meine 
den  Islam,  auch  der  Despotismus  als  die  bis  auf  den  heutigen 
Tag  allein  mögliche  Regierungsart  erscheint.  Man  hat  in  der 
neuesten  Zeit  versucht,  in  Egypten  und  auch  in  Constantinopel 
eine  Art  von  Verfassung  einzuführen,  ohne  zu  bedenken,  dass 
dadurch  ein  Rechtsbewusstsein  entstehen  müsste,  welches  dem 
Allahglauben  tödtlich  wäre,  oder  dass  eine  solche  Verfassung 
nur  von  einem  schon  vorhandenen  Rechtsbewusstsein  getragen 
werden  könnte,  welches  doch  eben  im  Islam  nicht  vorhanden  ist 
Der  ächte  Muselmann  wird  zwar  seine  Interessen  schlau  i^nd 
geschickt  zur  Geltung  bringen  auch  in  einer  gesetzgebenden  Ver- 
sammlung, aber  er  wird  der  hohen  Pforte  gegenüber  kein  Rechts- 
bewusstsein haben,  und  die  Gläubigen  werden  in  den  Volks- 
repräsentanten nur  von  der  Laune  des  Herrn  bis  auf  Weiteres 
eingesetzte  Beamte  sehen  können,  da  der  Geist  des  Rechtes  in 
dem  Gesichtskreise  dieser  Religion  nicht  vorkommt. 

Daher  wird  die  sociale  Organisation  der  niedrigsten  Religion 
wesentlich'  und  eigentlich  auf  die  Beherrschung  des  Volkes 
durch  die  Gottesfurcht  gerichtet  sein;  denn  da  kein  sittliches 

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344  Religion  der  Sünde. 

Motiv  vorhanden,  so   kann   nnr   der  Eigennutz,  die  Habsucht, 
Wollust,   der  Ehrgeiz  und  die  Herrschsucht  in  Frage  kommen, 
und  diese  Motive  führen  zu  einer  mehr  oder  weniger  despotischen 
Herrschaft  der  Priester  über   das  Volk.    Darum  stehen  in  der 
That  bei   den  Wilden   und   bei   allen  Nationen,   in   denen   das 
Rechtsbewusstsein   noch  keine  socialen  Institutionen  geschaffen 
hat,  die  Priester  an  der  Spitze,  indem  sie  dem  Könige,  dem  Adel 
und  der  physischen  Executive  überhaupt  nnr  eine  beschränkte 
Freiheit  neben  sich  gewähren  können.    Je  mehr  aber  der  Priester 
an   dem  Aberglauben  theilnimmt,   desto   schwächer  wird   seine 
Politik  und   desto   tiefer   steht  das  Volk;  je  weniger  aber  der 
Priester  glaubt,  desto  unbedingter  kann  er  herrschen,  und  diesem 
Zustande  entspricht  der  Reichthum  und  der  Ruhm  der  Tempel 
und  Orakelsitze,  wie   die  Abhängigkeit  der   Fürsten  von    dem 
obersten  Zauberer  oder  Propheten.    Trotzdem  ist  eine  sehr  grosse 
Macht  des  Priesterthums  bei  dieser  Religion   der  Furcht   doch 
nicht  möglich,  weil  jede  dauernde  Organisation  immer  schon  ge- 
wisse Rechtsbegriffe  erfordert,   wesTialb  die  höchste  Blüthe  der 
Hierarchie  erst  in  der  unreinen  Rechtsreligion  aufkommen  kann. 
In  der  reinen  Rechtsreligion  hat  der  Prophet,  wenn  er 
das  zu  ihm  gekommene  Wort  Gottes  dem  Volke  verkündet,  auch 
das  Motiv  zu  einer  socialen  Organisation.    Da  aber  in  dem  sitt- 
lichen Bewusstsein  keine  zeitlichen  Machtinteressen  vorkommen 
und  keine  Leidenschaften  den  Ausschlag  geben,  so  kann  es  sich 
nur  um  die  ewigen  Normen  des  Gewissens  handeln,  d.  h.  um  die 
sogenannten  Gebote,   die  das  Rechtsleben  des  Volkes  zu  regeln 
geeignet  sind.    Darum  muss  die  allmählich  aufkommende  Rechts- 
religion zunächst  die  Sitten  veredeln  und  dann  zu  einer  Gesetz- 
gebung ftihren,   die  in  verschiedenartigen  Entwickelungsformen 
Criminalrecht,   Civilrecht  und   Staatsrecht   begründet    Da  aber 
das  Gefühl  für  die  Sünde  und  die  Erkenntniss  des  Rechts,  das 
als  Wort   Gottes   an   den  Menschen   kommt,   auf  keine   Weise 
bürgerlich  einem  bestimmten  Stande  und  bestimmten  Localitäten 
und  bestimmten  Zeiten  zugewiesen  werden  kann,  sondern  eben- 
sowohl Allen  gehört,  wie  es  in  besonderem  Grade  einzelnen  von 
Gott  Erwählten  und  Inspirirten  eigenthümlich  ist:  so  kann  es  in 
dieser  reinen   Rechtsreligion   keinen   Tempel,  keine  Festzeiten, 
keinen  Priesterstand,  keinen  Ritus  und  deshalb  auch  keine  Priester- 
politik geben.    Um  sich  aber  doch  eine  deutliche  Vorstellung 

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Socialer  Charakter  der  Religion.  345 

von  dem  charakteristischen  socialen  Zustande,  den  die  reine 
Rechtsreligiqn  in  sich  schliesst,  machen  zu  können,  darf  man 
sieh  an  die  eigenthttmliche  Stellung  der  Propheten  bei  den 
Israeliten  erinnern.  Diese  standen  bürgerlich  genommen  ausser- 
halb des  Staates,  da  sie  keine  bleibende  und  gesetzliche  Function 
ausübten.  Sie  wurden  nicht  von  der  Obrigkeit,  sondern  von 
Gott  berufen,  und  hatten  nicht  amtlich  Gehorsam  zu  fordern  und 
nicht  persönlich  oder  ftlr  ihren  Stand  irgend  ein  Interesse  an 
der  Leitung  der  Politik.  Darum  traten  Propheten  nur  dann  und 
wann  auf,  jenachdem  das  lebendige  Rechtsgeflihl  diesen  oder 
jenen  begeisterte;  es  gab  aber  keine  Regel  der  Succession, 
keine  rechtliche  Form  dabei,  sondern  sie  kamen  von  Gottes 
Gnaden,  wie  die  grossen  Dichter  und  die  grossen  Musiker  und 
Denker.  Man  kann  daher  sagen,  dass  die  reine  Rechtsreligion 
eine  unsichtbare  Theokratie  begründe,  indem  der  projec- 
tivische  Gott  durch  das  Gewissen  und  durch  den  Glauben  sowohl 
seine  Propheten,  als  auch  Fürst  und  Volk  als  ihr  unsichtbarer 
Herr  regiert 

Erst  die  unreine  Rechtsreligion  bringt  die  sichtbare 
Kirche  und  die  Hierarchie;  denn  indem  die  Furchtreligion  mit 
ihren  Motiven  aufgenommen  wird,  muss  der  Gott  -einen  Tempel 
und  öffentlich  anerkannte  Priester  haben,  die  Zeiten  des  Gottes- 
dienstes müssen  geregelt  werden  und  die  Gläubigen  müssen 
durch  ihre  religiösen  Handlungen  in  eine  Gemeinschaft  treten, 
so  dass  der  Begriff  einer  Kirche  als  sichtbarer  Gemeinde  der 
durch  ihr  Gottesbewusstsein  und  zugehörigen  Gnltus  vereinigten 
Gläubigen  entsteht.  Sofern  nun  das  Gewissen  im  Verhältniss 
zur  Furcht  die  höhere  Macht  ist,  so  muss  das  Priesterthum  sowohl 
das  Rechtsbewusstsein  als  die  Erkenntniss  der  Mittel  zur  Ver- 
söhnung Gottes  vertreten  und  dadurch  die  höchste  moralische 
Macht  im  Volke  gewinnen,  die  der  physischen  Macht  des  Fürsten 
aus  psychologischem  Grunde  nothwendig  überlegen  ist.  Mithin 
wird  die  Politik  oder  Lenkung  der  auswärtigen  und  inneren  An- 
gelegenheiten des  Staates  eine  unentbehrliche  Beschäftigung  der 
höchsten  Priester,  die  sich  zugleich  eine  officiell  anerkannte 
Organisation  verschaffen  müssen,  so  dass  der  Charakter  der  un- 
reinen Rechtsreligion  nothwendig  die  Hierarchie  ist,  d.  h.  die 
mehr  oder  weniger  vollkommene  Beeinflussung  des  gesammten 
St^^atslebens  durch  einen  amtlichen  Priesterstand.    Während  es 

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346  Religion  der  Sünde. 

nun  schwierig  war,  für  die  reine  Rechtgreligion,  die  in  ihrer 
Keinheit  gleichBam  nur  wie  durch  eine  chemische  Operation 
speculativ  dargelegt  werden  konnte,  ein  anschauliches  Bild  aus 
der  Weltgeschichte  zu  entlehnen,  so  wimmelt  es  umgekehrt  von 
Beispielen,  an  denen  der  Charakter  der  unreinen  Rechtsreligion 
gezeigt  werden  kann.  Denn  schon  die  Geschichte  der  Israeliten 
giebt  ein  Jedermann  bekanntes  Beispiel  und  ausserdem  stellen 
alle  die  grossen  heidnischen  Religionen  sich  als  Beispiele  dar, 
da  sie  bei  dem  Fortschritt  der  Völker  zu  sittlichem  und  ge- 
schichtlich politischem  Leben  nothwendig  Elemente  der  Rechts- 
religion  in  sich  aufnehmen  mussten.  Nur  der  Islam  behielt  im 
Wesentlichen  den  Charakter  der  Furchtreligion,  da  die  ganze 
Gottesvorstellung  nicht  auf  das  Gefühl  der  Sünde,  sondern  auf 
die  Furcht  begründet  ist  und  daher  der  Gült  auch  nur  äusser- 
liche  Werke  verlangt  Die  aus  dem  Judenthum  und  Christen- 
thum  entlehnten  sittlichen  Elemente  haben  auf  den  Islam  keinen 
specifi sehen  Einfluss  ausüben  können.  Diejenigen  aber,  welche 
eine  dichterische  und  unserem  modernen  Bewusstsein  zugäng- 
lichere Ausmalung,  des  Lebens  und  Treibens  der  Hierarchie  in 
solcher  unreinen  Rechtsreligion  verlangen,  kann  ich  auf  den  Serapis 
des  geistvollen  Gelehrten  Ebers  und  auf  seine  früheren  ägypti-, 
sehen  Romane  verweisen.  Das  grösste  und  imposanteste  Beispiel 
würde  endlich  ohne  alle  Frage  das  Papstthum  bilden,  wenn  nicht 
in  diesem  doch  auch  schon  der  Gehalt  der  höchsten  und  allein 
wahren  Religion  des  Christenthums  überwiegend  wäre. 


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Sechstes  Capitel. 
Die  Beligionsphilosophie. 


Es  ist  sehr  begreifllich^  dass  die  Religion  der  Furcht  keine 
Religionsphilosophiß  hervorbringen  konnte,  da  der  zugehörige 
BilduDgszustand  des  Geistes  zu  gering  ist,  um  eine  das  All  um- 
.  spannende  Speculation  zu  ermöglichen.  Dagegen  steht  der  Gläu- 
bige der  reinen  und  der  unreinen  Rechtsreligion  schon  auf  einem 
viel  höheren  Standpunkte,  und  so  ist  es  nattirlich,  dass  man  sich 
auch  in  philosophischer  Weise  bemüht  habe,  den  Inhalt  seines 
Glaubens  und  Gefllhls  begreiflich  auszudrücken  und  zu  beweisen. 
Die  Versuche  aus  dem  Alterthum  will  ich  hier  aber  übergehen, 
weil  sie  zu  viel  Elemente  aus  höherer  Bewusstseinsentwickelung 
in  sich  bergen,  und  will  dagegen  nur  neuere  Versuche  anführen, 
in  denen  die  Äugehörige  Religionsstufe  reiner  zu  Tage  tritt. 
Man  darf  sich  aber  nicht  wundern ,  dass  im  vorigen  und  in  un- 
serem Jahrhundert  mitten  in  der  christlichen  Welt  die  längst 
geschichtlich  überschrittenen  Religionsformen  wieder  auftreten, 
da  es  nur  die  Thorheit  falscher  Geschichtsauffassung  ist,  wenn 
man  die  Stufen  der  sittlichen  Gultur  und  der  Religion  nach  der 
Zeit  abmessen  will,  als  ob  nicht  heut  zu  Tage  der  Unbegabte 
und  sittlich  Rohe  auf  derselben  geistigen  Culturstufe  stände,  wie 
die  Unbegabten  und  sittlich  Rohen  früherer  Jahrhunderte.  Wenn 
heute  ein  bekannter  Bischof  dem  Polizeichef,  welcher  ihm  die 
Aufwartung  macht,  den  Kopf  zurechtsetzt,  weil  er  das  abgekürzte 
Kreuz  der  sogenannten  Gebildeten  geschlagen  habe,  während  er 
das  grosse  Kreuz  schlagen  müsse,  welches  Leib,  Brust  und  Kopf 
ordentlich  beschütze  und  den  Teufel  gehörig  in  Angst  jage:  so 
steht  diese  Theurgie  ganz  auf  dem  Standpunkte  der  Furchtreli- 
gion, und  ein  solcher  Gläubiger  des  neunzehnten  Jahrhunderts 
nach  Christi  Geburt  muss  mit  einem  Wilden  Innerairika's  vom 
neui^ebnten  Jahrhundert  vor  Christi  Geburt  in  dieser  Beziehung 


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348  Religion  der  Sünde. 

auf  eine  Linie  gestellt  werden,  wenn  auch  seine  sonstigen  Kennt- 
nisse, seine  Kleidung,  seine  Sitten  und  seine  Stellung  im  Staate 
ihn  übrigens  auf  eine  viel  höhere  Stufe  heben.  Darum  können 
sich  auch  philosophische  Theorien  von  Jahrhundert  zu  Jahrhundert 
erhalten  oder  wiederholen,  auch  wenn  ihre  Widersinnigkeit  längst 
erwiesen  ist;  denn  es  steht  nichts  im  Wege,  dass  dem  Einzelnen 
die  widerlegende  Literatur  unbekannt  blieb,  oder  dass  seine 
Begabung  nicht  hinreichte,  um  die  tieferen  Gründe  einzusehen 
und  einen  höheren  Standpunkt  zu  fassen.  Wir  werden  dies  an 
Beispielen  deutlich  erkennen,  wobei  gefeierte  Namen  leider  in 
pin  ungünstiges  Licht  gerückt  werden  müssen.  Es  ist  hier  aber 
nicht  unsere  Pflicht,  die  Mängel  von  sonst  verehrungswürdigen 
Männern  aus  den  culturhistorischen  und  biographischen  Zusam- 
menhängen zu  erklären;  denn  wir  wollen  hier  nicht  anklagen 
und  vertheidigen,  sondern  nur  erkennen. 

In  seinem  Nathan  zeigt  Lessing,  dass  er  die  re- 
stondpnnkt.  Ugiösen  Vorstellungen  flir  unbeweisbar  und  flir  gleich- 
gültig hält,  indem  er  Judenthum,  Islam  und  Ghristen- 
thum  in  eine  Linie  rückt  und  die  wahre  Religiosität  bloss 
in  Sittlichkeit  setzt.  Er  steht  also  im  Wesentlichen  auf  dem 
Standpunkte  der  reinen  Rechtsreligion,  da  er  auch  seine  Vor- 
stellungen von  Gott  nach  dem  sittlichen  Motive  ausbildet.  Dass 
er  das  Wesen  des  Islam  als  einer  blossen  Furcht-  und  Macht- 
Religion  und  den  nichtsittlichen  Charakter  desselben  nicht  er- 
kannt hat,  ist  in  die  Äugen  fallend. 

Nehmen  wir  seine  Abhandlung  über  die  Erziehung  des 
Menschengeschlechts,  so  soll  in  der  ersten  weltgeschichtlichen 
Periode  sittlich  gehandelt  werden  aus  Furcht  vor  Strafe  und  aus 
Hoffnung  auf  Lohn  im  Diesseits  (Stufe  des  Judenthums),  in  der 
zweiten  aus  denselben  Motiven  mit  dem  Unterschiede,  dass  die 
Execution  erst  im  Jenseits  eintrete  (Stufe  des  Christenthums); 
die  dritte  und  höchste  noch  zu  erwartende  Periode  soll  ein  Han- 
dehi  um  der  Pflicht  willen  und  ohne  Rücksicht  auf  Lohn  herbei- 
führen. Man  sieht,  dass  seine  beiden  ersten  Perioden  nur  zwei 
Modificationen  der  von  mir  so  genannten  „unreinen  Rechtsreligion" 
bilden  und  dass  Lessing's  Ideal  in  die  von  mir  als  „reine  Rechts- 
religion" beschriebene  Form  fallen  muss.  Lessing  hatte  deshalb 
vom  Wesen  des  Christenthums  keine  Ahnung,  wie  er  überhaupt 

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Religionsphüosophie.  349 

die  specifischen,  qualitativen  Elemente  in  dem  Wesen   der  ver- 
schiedenen Religionen  nicht  zn  scheiden  verstand. 

Diese  sehr  ungünstige  Beurtheilung  des  Standpunktes  Les- 
sing's,  der  doch  wohl  trotzdem  als  Persönlichkeit  und  Schrift- 
steller einem  Jeden  von  uns  sympathisch  bleibt,  kann  leider  auf 
keine  Weise  gemildert  werden,  da  Lessing's  philosophischer 
Horizont  dui*ch  Spinoza  abgesteckt  wurde,  und  Leibnitz  nicht  die 
Kraft  besass,  ihm  die  Pforten  einer  höheren  Weltanschauung  zu 
zeigen.  Spinoza's  Welt  ist  nur  die  Erde,  und  sein  Qott  lebt 
bloss  in  den  irdischen  Phänomenen;  seine  Religion  dreht  sich  um 
Macht  und  Recht  und  um  einen  rein  wissenschaftlichen  Erkennt- 
nissprocess.  Wie  wenig  Lessing  selbst  das  Wesen  des  Sittlichen 
verstand,  sieht  man  aus  den  Briefen  an  Mendelssohn,  wo  er  das 
Mitleid  als  die  höchste  Tugend  feiert  und  den  mitleidigsten  für  den 
besten  Menschen  erklärt,  ohne  zu  bemerken,  dass  das  Mitleid  *' 
ein  natürlicher  Aflfect  ist  und  der  Leitung  der  Vernunft  bedarf, 
während  der  beste  Mensch  doch  keine  Leitung  mehr  nöthig  hat, 
sondern  selber  Alles  richtig  und  vollkommen  macht,  wie  er  auch 
allen  Anderen  die  Norm  giebt 

Ueber  Eant's  Standpunkt  habe  ich  schon  oben  ^^^^.^ 
(S.  17  u.  318)  gehandelt.  Ich  will  hier  in  der  Kürze  Beiigionsphuo- 
zeigen,  wie  erzwischen  der  reinen  und  der  unreinen  "°^^^^" 
Rechtsreligion  balancirt.  Den  Menschen  setzt  er  aus  Sinnlich- 
keit und  Vernunft,  Form  und  Materie  zusammen.  Die  Sinnlich- 
keit  als  bleibender  Bestandtheil  ist  und  bleibt  die  wesentliche 
Ursache  des  Bösen,  welches  daher  nothwendig  radical  sein  muss, 
weil  die  Sinnlichkeit  zum  Wesen  des  Menschen  gehört  Die 
Vernunft  aber  als  Formprincip  ist  ebenso  wesentlich  und  ver- 
langt logische  Allgemeinheit  des  Motivs.  Da  die  Sinnlichkeit 
mit  ihren  Trieben  das  Particuläre  und  Individuelle  vertritt,  so 
erscheint  das  Allgemeine  ihr  gegenüber  als  Gesetz,  und  der  Wille 
demgemäss  unter  der  Sinnlichkeit  als  unfrei  und  böse,  unter  dem 
Gesetz  als  frei.  Mithin  ergiebt  sich  ein  ewiger  Process,  indem 
die  Vernunft  ewig  Unterordnung  unter  ihr  allgemeines  Gesetz 
fordert,  die  Sinnlichkeit  ewig  den  vom  Gesetz  unabhängigen  par- 
ticulären  Trieb  liefert. 

Nun  setzt  Kant,  um  zur  Religion  überzugehen,  das  Ich  in 
die  Sinnlichkeit.  Also  muss  das  Gesetz  der  Vernunft  auf  ein 
anderes  Wesen,  auf  Gott  zurückgeführt  werden,  der  nun  unbe- 

uiumzeu  uy  VwJ  v^vJSx  Iv^ 


350  Religion  der  Sünde. 

dingte  moralische  Autorität  erhält  und  heiliger  Gesetzgeber  wird. 
Da  nun  die  Vernunft  nicht  sinnlich  und  natürlich  ist,  so  muss 
das  Sittengesetz  übernatürliche  Offenbarung  an  den  Menschen 
sein,  der  ja  (freilich  ohne  Grund)  allein  in  die  Sinnlichkeit  -ge- 
setzt wurde.  Mithin  ist  die  Pflicht,  durch  die  Allgemeinheit  der 
Vernunft  sich  formen  zu  lassen,  nun  eine  Pflicht  gegen  Gott; 
die  Religiosität  kann  aber  in  nichts  anderem  bestehen^  als  in 
der  formalen  Regulirung  der  Triebe,  d.  h.  in  einem  sittlich-recht- 
lichen Leben.  Eine  Gemeinschaft  des  Menschen  mit  Gott  ist 
unmöglich,  weil  das  Ich  in  der  Sinnlichkeit  liegt,  und  weil  diese 
mit  der  Vernunft  ewig  unvereinbar  bleibt.  Mithin  ist  Gott  ewig 
transscendent,  der  Heiligungsprocess  des  Menschen  ein  endloser, 
und  der  Gott  bleibt  ewig  Herr  und  Gesetzgeber,  wie  der  Mensch 
ewig  unter  dem  Gebote  der  Pflicht  steht,  das  er  nie  zu  einer 
Sache  der  Neigung  und  Liebe  machen  kann,  weil  der  Gott  sonst 
sofort  aus  dem  Himmel  verschwinden  und  in  die  Vernunft  des 
Menschen  aufgehen  würde. 

Soweit  reicht  die  reine  Rechtsreligion  in  Kant*s  Gedanken 
hinein;  die  unreine  beginnt  mit  der  Betrachtung,  dass  die  Sinn- 
lichkeit als  gleichwesentlicher  Bestandtheil  des  Menschen,  immer 
Lust,  also  Belohnung  verlangt  Um  der  Reinheit  der  Pflichter- 
ftillung  willen  versagt  Kant  mit  Lessing  diesen  Lohn  im  Dies- 
seits, hält  aber,  da  der  Gott  auch  als  Naturgesetzgeber  aufge- 
fasst  werden  muss,  die  Nothwendigkeit  einer  künftigen  Aus- 
gleichung fest.  So  wird  nun  im  Stillen  der  religiöse  Glaube 
eudämonistisch,  d.  h.  auf  Glückseligkeit  begierig,  und  hegt  be- 
ständig diese  Hofibung  auf  das  höchste  Gut,  wo  Lust  und  Pflicht, 
wie  Materie  und  Form  zusammenstimmen.  Darin  liegt  der  Cha- 
rakter der  unreinen  Rechtsreligion. 

Diese  ganze  Religionsphilosophie  ist  aber  überhaupt  etwas 
zweifelhaften  Ursprunges,  da  die  Kritik  der  reinen  Vernunft  die 
Erkennbarkeit  Gottes  und  der  Seele  läugnet.  Also  haben  wir 
nicht  mit  Begriffen  und  ächten  Erkenntnissen,  sondern  nur  mit 
unkritischen  Vorstellungen  zu  thun.  Die  ganze  Theologie  Kant's 
ist  nur  Postulat  aus  dem  sittlichen  Gebiet  und  nur  durch  fehler- 
haften Gebrauch  der  Kategorien  der  Causalität  und  der  Sub- 
stanz entstanden;  denn  wenn  wir  die  Causalität  nicht  in  ver- 
botener Weise  gebrauchen,  kommen  wir  nicht  auf  einen  trans- 
scendenten    Urheber    des  Sitten-   und   Naturgesetzes   und    ohne 

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ReligioTisphilosophie.  351 

verbotene  Anwendung  der  Substanz  nicht  auf  Gott  und  die  * 
Seele  als  Wesen.  Also  ist  nach  Kant's  kritischem  Geist  die 
ganze  Religion  eine  Bastardbildung  der  Vorstellung,  und  es  ist 
mir  sehr  fraglich,  ob  er  damit  mehr  als  eine  Anpassung  an  den 
herrschenden  Glauben  und  mehr  als  eine  nach  seiner  Meinung 
nöthige  moralische  Purificirung  desselben  hat  geben  wollen. 

Der  philosophischen  Begründung  nach  ist  also  der  Werth 
dieser  Religion  Kant's  null;  inhaltlich  aber  balancirt  sie  zwischen 
der  reinen  und  der  unreinen  Rechtsreligion. 

Es  ist  interessant  zu  sehen,  wie  die  Verzweiflung 
über  die  Haltlosigkeit  des  speculativen  Idealismus  von    Thldufgj* 
Schelling  und   Hegel  die  Theologen,   die   doch  eine 
philosophische  Grundlage  brauchen,  zu  dem  Kant'schen   Stand* 
punkte   zurücktrieb,   der  wenigstens  mit   der  modeinen  Natur- 
wissenschaft verträglich  schien  und  auch  dem  Glauben  Spielraum 
gewährte,  da  er  die  Metaphysik  zerstört  hatte.    Deshalb  musste 
seltsamer  und  doch  begreiflicher  Weise  Kant  von  der  ungläubi- 
gen und  gläubigen  Seite  in  gleichem  Masse  gefeiert  werden. 

Der  ansehnlichste  Name  unter  den  Theologen  dieser  Farbe 
ist  der  von  Ritschi,  der  auch  eine  Menge  von  Schülern  in  Be- 
wegung gesetzt  hat.  Die  Göttinger  Theologie  gewinnt  nun  ihren 
Ausgangspunkt,  indem  sie  die  erkenntnisstheoretische  Kritik  von 
Kant  aufnimmt  und  daher  mit  Beseitigung  der  Metaphysik  alle 
eigentliche  Wissenschaft  auf  das  Gebiet  der  Erfahrungen  be- 
schränkt. Diesen  positiven  oder  exacten  Wissenschaften  wird 
deshalb  volle  Freiheit  gelassen  und  Weihrauclj  gestreut,  weil  sie 
ja  in  das  Gebiet  des  Glaubens  sich  nicht  einmischen  können; 
denn  von  Gott  kann  ja  der  Naturfoscher  nichts  sagen  und  weder 
Ja  noch  Nein  über  irgend  einen  Satz  der  Dogmatik  laut  werden 
lassen,  da  diese  Dinge  keine  Naturerscheinungen  sind. 

Während  man  sich  früher  mit  dem  Verhältniss  von  Sein  und 
Denken  (Wissen)  plagte,  so  bleibt  jetzt  beides  unbeachtet,  doch 
findet  man  neben  den  Gegenständen  der  äusseren  Erfahrung  ein 
Gebiet  des  Gefühls  unbesetzt,  durch  welches  Werthbestimmun- 
gen  in  die  Welt  kommen.  Diese  Gemtithswelt  ist  der  Gegen- 
stand der  Ritschrschen  Theologie;  denn  die  Naturgesetze  wissen 
ja  nichts  von  Geftlhlen  und  mischen  sich  deshalb  nicht  störend 
in  die  Religion  ein.  Ritschi  geht  deshalb  von  dem  Gefühl  der 
Sünde   aus,   das  man  ja  beschreiben   und   auch   bedienen 

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352  Religion  der  Sünde. 

kann;  denn  es  zeigt  sich  sofort,  dass  der  Mensch  in  jenem  6e- 
ftlhl  unglücklich  ist  und  ein  Seligkeitsinteresse  hat.  Zwi- 
schen diese  beiden  Endpunkte  schiebt  sich  nun  die  ganze  Göt- 
tinger Theologie  ein.  Unter  Christen  kann  man  nämlich  christ- 
liche Vorstellungen  voraussetzen  und  die  Sprache  der  heiligen 
Schriften  unbeanstandet  gebrauchen.  Man  nimmt  daher  aus 
diesem  Yorstellungsgebiet  die»  zugehörigen  bekannten  Ausdrücke 
und  stellt  eine  Glaubenslehre  nach  dem  Massstabe  unserer  sitt- 
lich-religiösen Geftlhle  auf;  denn  der  Sünde  entspricht  ein  zür- 
nender Gott,  der  Busse  verlangt;  dem  Seligkeitsbedürftiiss  ent- 
spricht ein  gnädiger  Gott,  der  sich  offenbart  und  ^Erlösung  dar- 
bietet. Sofern  nun  &iese  Gefühle  und  Bedürfnisse  in  der  christ- 
lichen Gemeinde  vorhanden  sind,  müssen  die  darauf  zugeschnit- 
tenen dogmatischen  Vorstellungen  Geltung  haben. 

Diese  Theologie  ist  ausserordentlich  bequem,  weil  die  Mühe 
des  Denkens  dabei  erspart  bleibt;  denn  die  Metaphysik  ist  ja 
abgeschafft;  mithin  handelt  es  sich  nicht  darum,  ob  die  dogma- 
tischen Vorstellungen  wahr  sind,  sondern  nur,  ob  sie  in  den  re- 
ligiösen Kreisen  gelten,  d.  h.  einem  gewissen  Bedürfiiisse  ent- 
sprechen. Nun  ist  aber  das  Denken  die  Sache  der  Vernunft, 
und  der  Inhalt  der  Vernunft  besteht  gerade  in  den  metaphysi- 
schen Ideen,  über  welche  diese  Dogmatik  blosse  Vorstellungen 
hat,  um  deren  Wahrheit  sie  sich  ausdrücklich  nicht  bekümmern 
will.  Mithin  fehlt  dieser  Dogmatik  die  Ehrlichkeit.  Es  ftillt  mir 
nicht  ein,  die  einzelnen  Vertreter  dieser  Theologie  des  Betruges 
zu  beschuldigen;  sondern  es  handelt  sich  um  den  wissenschaft- 
lichen Charakter  der  Theologie  selbst.  Diese  aber  beruht  auf 
Unehrlichkeit,  weil  die  Vernunft  nicht  gleichgültig  gegen  die 
Wahrheit  ihres  Inhalts  sein  kann,  während  diese  Theologie  gleich- 
gültig gegen  die  Metaphysik  ist  Darum  kann  ein  solcher  Theo- 
loge in  theoretischem  Bewusstsein  ein  völliger  Skeptiker  *  und 
Ungläubiger  sein  und  doch,  ohne  sich  zu  schämen,  in  der  Kirche 
die  Sprache  der  biblischen  Metaphysik  gebrauchen,  um  seine  Ge- 
fühle an  die  Vorstellungen  von  Gott  und  Gnade  und  Erlösung 
anzuhängen.  Der  Philosoph  kann  dieser  Theologie  daher  keinen 
wissenschaftlichen  Werth  zuerkennen,  sondern  bloss  eine  gewisse 
rhetorische  Geschicklichkeit,  wodurch  die  Gemüthsbedürf- 
nisse  bald  durch  diese,  bald  durch  jene  überlieferten  religiösen 
Vorstellungen  aufgeregt  und  beschwichtigt  werden,  und  man  darf 

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Beligionsphilosophie.  353 

die  Göttinger  Schule  nicht  etwa  mit  der  Schleiermacher'schen 
Auffasfliing  zu  decken  suchen,  da  Schleiermacher  als  ehrlicher 
Denker  immer  seine  ernste  philosophische  Dialektik  bereit  hatte 
und  wenigstens  nach  Möglichkeit  einerlei  Wahrheit  suchte,  wie 
er  auch  wusste,  dass  die  dogmatischen  Vorstellungen  metaphysi- 
schen BegriflFen  entsprechen.*)  Erklären  aber  kann  ich  mir  aller- 
dings die  Richtung  Ritschrs  als  einen  letzten  Rettungsversuch, 
um  bei  dem  Zusammensturz  der  speculativen  Systeme  den  Altar 
an  einem  Punkte  zu  bergen,  wo,  wie  er  glaubte,  die  feindlichen 
AngriflFe  der  allein  ttbrig  gebliebenen  Empirie  leichter  abgeschla- 
gen werden  könnten. 


*)  Viele  Theologen  haben  die  Furcht,  dem  Werthe  der  Offenbarung 
etwas  abzubrechen,  wenn  sie  zugestünden,  dass  die  menschliche  Wissenschaft 
auf  dieselbigen  Wahrheiten  „ohne  Offenbarung"  durch  weltliche  Methoden 
treffen  könnte.  Sie  laufen  daher  Gefahr,  in  das  positivistische  Fahrwasser 
der  philosophiefeindlichen  Ritschrschen  Schule  zu  gerathen,  indem  sie  das 
Christenthum  nicht  mehr  als  „ErfQllung"  eines  in  der  menschlichen  Natur 
liegenden  Zweckes,  sondern  als  Offenbarung  einer  abenteuerlichen,  mit  der 
Wirklichkeit  nicht  weiter  zusammenhängenden  Vorstcllungswelt  halten.  Es 
ist  aber  augenfällig,  dass  dadurch  das  Christenthum  zu  einer  blossen  Illusion, 
zu  einem  Märchen  werden  müsste,  während  es  vielmehr  sich  selbst  in  den 
innigsten  Zusammenhang  mit  dem  ganzen  Wesen  der  Dinge,  mit  der  Schöpfung 
der  Natur  und  der  wirklichen  Entwickelung  der  menschlichen  Geschichte 
und  mit  den  allgemeinen  Bedürfnissen  und  Anlagen  des  menschlichen  Ge- 
müthes  und  Geistes  setzt.  Mithin  lässt  sich  eine  feindliche  Stellung  der 
Theologen  zur  Philosophie  nur  dann  erklären,  wenn  die  Philosophie  zu 
widersprechenden  Resultaten  fahrt,  wie  z.  B.  Paulus,  obwohl  er  sich  selbst 
auf  des  Kleanthes  philosophische  Verse  berief  und  also  philosophische  Spe- 
culation  anerkannte  und  benutzte,  dennoch  vor  der  griechischen  Philosophie 
warnte,  weil  sie  mit  den  christlichen  Hauptwahrheiten  in  Widerspruch  stand 
und  deshalb  von  ihm  als  Trug  bezeichnet  wurde.  Wenn  man  aber  bedenkt, 
daas  die  Apostel  überall  selbst  logisch  argumentiren  und  metaphysische, 
ethische  und  psychologische  Begriffe  gebrauchen,  so  ist  ersichtlich,  dass  sie 
eine  naturalistische  Philosophie  gar  nicht  entbehren  können  und  deshalb 
gegen  Philosophie  als  solche  nichts  einzuwenden  haben,  sondern  nur  eine 
falsche  Philosophie  verwerfen  wollen.  Und  diese  richtige  Stellung  zur  Sache 
entspricht  auch  allein  der  Würde  des  Christenthums ,  welches  sich  ohne 
Scheu  von  allen  Seiten  besehen  und  untersuchen  lassen  kann,  weil  es  keine 
tragische  Maske  trägt  und  auf  keinem  täuschenden  Kothurn  sich  erhöht, 
sondern  die  einfache  Wahrheit  lehren  will,  die  mit  aller  Wahrheit  in  Ueber- 
einstimmung  steht. 

Wenn  die  Theologen  deshalb  nach  der  Weisung  des  Apostels  Paulus, 
der  mit  philosophisch  gebildeten  Griechen  in  unmittelbare  Berührung  kam. 


Telchmüller,  ReligioiifiphllOBophic.  23 


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354  Religion  der  Sünde. 

Der  religiöse  Werth  dieser  Theologie  ist  leicht  und  fest  ab- 
zugränzen,  da  sie  ersichtlich  auf  das  Gefühl  der  Sttnde  aufgebaut 
ist  und  in  der  weiteren  Ausfllhrung  alle  die  wesentlichen  Ele- 
mente der  unreinen  Bechtsreligion  enthält. 


vor  dem  falschen  hellenischen  und  dem  bloss  zeitgemäss  umgewandelten  mo- 
dernen Idealismus  eine  heilsame  Scheu  tragen,  so  sollten  sie  sich  ebensosehr 
vor  der  unphilosophischen  und  unapostolischen  Richtung  hüten,  welche  das 
Christenthum  aus  den  allgemeinen,  wissenschaftlich  erkennbaren  Zusammen- 
hängen der  menschlichen  Natur  herausheben  und  nur  zu  einer  zufälligen 
historischen  Erscheinung  machen  will,  die  wie  der  Baalsdienst  ihre  abson- 
derliche Vorstellungswelt,  ihre  absonderlichen  Gefühle  und  Gebräuche  habe, 
wer  weiss  woher  einmal  in  die  Welt  gekommen  sei  und  sich  nur  durch 
Tradition  und  sociale  Ansteckung  fortpflanze. 

Ich  schreibe  dies  im  Hinblick  auf  die  geschickte  Arbeit  eines  jüngeren 
Theologen,  Guido  Pingoud,  über  die  biblische  Lehre  von  dem  Gewissen, 
die  ich  mit  grosser  Aufmerksamkeit  gelesen  habe.  So  sehr  ich  auch  aner- 
kenne, dass  er  die  herkömmliche  idealistische  und  im  Grunde  hellenische 
Auffassungsweise  verwirft,  so  halte  ich  es  doch  nicht  bloss  für  gefährlich, 
sondern  für  ganz  unannehmbar,  dass  er  das  Gewissen  in  positivistischer 
Weise  für  eine  beliebig  variable,  zufallige  und  bloss  historische  Erscheinung 
erklärt;  denn  das  Gewissen  muss  als  eine  ebenso  constante  und  specifische 
Function  der  menschlichen  Natur  anerkannt  werden,  wie  das  Auge  oder  das 
Herz  als  unentbehrliche  Organe,  wenn  auch  alle  solche  Organe  vielfachen 
Krankheiten,  Yerbildungen  und  Verkümmerungen  ausgesetzt  sind.  Wenn 
wir  Pingoud  gern  einräumen,  dass  die  reine  und  wahre  Sprache  des  Gewis- 
sens nur  im  Kreise  christlicher  Cultur  anzutreffen  sei,  so  dürfen  wir  darum 
noch  nicht  das  Gewissen  für  eine  blosse  Gewöhnung  und  Erinnerung  aus- 
geben; denn  die  Geschichte  umfasst  nicht  bloss  zufällige  Ereignisse,  sondern 
schliesst  auch  die  constitutiven,  allgemeinen  und  nothwendigon  Functionen 
ein,  die  unter  den  geschichtlichen  Coordinationen  zu  mehr  oder  weniger  vollkom- 
menem Ausdruck  gelangen.  Immerhin  möge  etwa  das  Gewissen  im  Christen- 
thum, die  Plastik  bei  den  Griechen,  die  Politik  bei  den  Römern  zum  Ziele 
kommen,  sollten  darum  Gewissen,  Kunstsinn  und  Staatsklugheit  bloss  auf  ge- 
wisse Zeiten  und  Völker  beschränkt  werden  und  nicht  mehr  aus  den  wesentlichen 
Anlagen  der  menschlichen  Natur  folgen,  die  bloss  unter  gewissen  günstigen 
historischen  Umständen  zur  Reife  und  Vollendung  gedeihen?  Wie  die  Geo- 
graphie und  Geschichte  des  organischen  Lebens  auf  unserer  Erdrinde  die  all- 
gemeine Physik  und  Biologie  nicht  ausschliesst,  sondern  voraussetzt,  so  kann 
auch  die  Geschichte  und  das  Christenthum  nicht  die  Psychologie  und  Philo- 
sophie aufheben,  selbst  wenn  diese  Wissenschaften  erst  durch  bestimmte 
historische  Umstände  zu  voller  Reife  gelangen.  Ich  will  auf  das  Detail  der 
Arbeit  hier  nicht  näher  eingehen,  sondern  erlaubte  mir  nur  die  principiellen 
Gesichtspunkte  hervorzuheben,  um  die  wichtige  Frage  noch  einmal  der  Er- 
wägung zu  empfehlen. 


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Dritter  Theil. 

Die  pantheistischen  Religionen. 


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I 
I 


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Die  Uebergangsform. 
Der  Atheismus. 


Wer  den  Cultus  der  beiden  projeetivischen  Reli-  Ursprung 
gionen  vor  seiner  Anschauung  hat  und  ein  gewisses  ^®"  AtheinmuB. 
Mass  Yon  Erfahrung,  Verstand  und  moralischer  Bildung  besitzt, 
der  wird  bald  zu  einer  zerstörenden  Kritik  der  ganzen  projee- 
tivischen Religion  tibergehen.  Nach  drei  Beziehungspunkten 
wird  er  Widersprüche  auffinden,  erstens  unter  den  Religionen 
durch  Vergleichung,  da  eine  jede  auf  Wahrheit  Anspruch  er- 
hebt, und  doch  eine  jede  mit  jeder  anderen  in  vielfachem  Wider- 
spruche steht  5  zweitens  durch  Beziehung  der  Religionen  auf  die 
erfahrungsmässige  Wirklichkeit,  welche  mit  der  Dogmatik  und 
dem  Culte  der  Religion  nicht  übereinstimmt;  drittens  durch  Be- 
ziehung der  Religion  auf  Vernunft- BegriflFe  und  auf  das  mora- 
lische Bewusstsein,  welche  fast  überall  durch  die  religiösen 
Vorstellungen,  Geflihle  und  Handlungen  verletzt  werden. 

Das  Resultat  dieser  Kritik  kann  nichts  anderes  sein,  als  die 
Ueberzeugung,  dass  der  Gegenstand  der  Religion  überhaupt  nicht 
vorhanden  ist,  dass  also  auch  Gott  oder  die  Götter,  weil  sie  nicht 
existiren,  dasjenige,  was  man  fürchtete,  nicht  ausüben,  und  dass 
man  nicht  nöthig  hat,  blosse  Einbildungen  zu  versöhnen  und 
zu  verehren.  Es  erscheint  daher  diese  Kritik  als  Zweifel,  weil 
der  Gläubige  von  dem  Inhalte  seines  Glaubens  fest  überzeugt 
ist  und  im  Einklänge  mit  sich  steht,  ohne  den  Verstand  als 
fremdes  und  zweites  Element  der  Religion  gegenüber  zu  haben. 
Demgemäss  nennt  man  diesen  Standpunkt  auch  Skepticismus 
in  der  Religion. 

Sofern  der  Verstand  aber  Widersprüche  entdeckt,  flihlt  er 
seine   eigene  Ueberlegenheit.      Da  nun  derjenige,    auf  dessen 

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358  Atheismus. 

Kosten   wir   den  Widerspruch   nachweisen,   lächerlich   wird,    so 
bezeichnet  man  die  Religionszweifler  auch  als  Spötter. 

Weil  endlich  auch  das  moralische  Bewusstsein  durch  viele 
religiöse  Handlungen,  z.  B.  durch  die  Menschenopfer,  die  Hexen- 
verbrennungen, die  Ketzerhinrichtungen  u.  dergl.  verletzt  wird, 
so  ist  es  ganz  natürlich,  namentlich  wenn  wirkliche  Betrügerei 
der  Priester  dabei  im  Spiele  ist,  dass  der  Kritiker  zur  Ent- 
rüstung übergeht. 

Sofern  die  Kritik  aber  Gott  und  Götter  aus  der  Liste  der 
wirklichen  Dinge  streicht,  nennt  man  den  Standpunkt  einfach 
Atheismus,  zu  Deutsch  Gottlosigkeit.  Der  Gottlose  fühlt 
seinen  Standpunkt  selber  als  eine  grosse  Errungenschaft,  als 
einen  Triumph  des  Verstandes  über  den  Unsinn  und  die  Ein- 
bildungen, und  zuweilen  auch  als  eine  moralische  Höhe  den  ver- 
werflichen religiösen  Bräuchen  gegenüber  5  der  Gläubige  aber 
versteht  unter  diesem  Namen  natürlich  sowohl  eine  Anmassung 
und  Verirrung  des  Verstandes,  der  die  Zeugnisse  höherer  Mächte 
des  Gemüthes  nicht  würdigen  könne,  als  auch  eine  sittliche  Ver- 
worfenheit, da  der  Gottlose  der  Furcht  vor  Gottes  rächender 
Macht  und  des  Gehorsams  gegen  sein  heiliges  Gesetz  sich  frevent- 
licher Weise  für  ledig  erachte. 

Ist  eia  religiöser  Es  könnte  scheiueu,  als  dürfe  man  den  Atheisten, 

Standpunkt,  da  cr  ja  an  keine  Götter  glaubt,  nicht  mehr  unter 
die  Rubriken  der  Religion  versetzen.  Dies  wäre  richtig,  wenn 
Jemand  ein  Atheist  genannt  würde  in  dem  Sinne,  wie  Heine  den 
Säugling  in  der  Wiege  einen  unschuldigen  Atheisten  nennt;  da 
sich  aber  seine  Kritik  auf  den  Gottesglauben  richtet,  so  hat  der 
Atheismus  einen  Anspruch  auf  den  Namen  eines  religiösen 
Standpunkts.  Denn  wohin  sollten  wir  die  gi'osse  Masse  von 
Vorstellungen,  Reflexionen  und  Gefühlen,  welche  die  atheistische 
Kritik  mit  sich  bringt,  anders  rechnen  und  worauf  anders  be- 
ziehen, als  auf  das  Gottesbewusstsein.  Diese  Beziehung  heisst, 
wenn  sie  positiv  ist,  Religion;  wenn  sie  aber  kritisch  und  negativ 
ist,  irreligiös.  Auf  beiderlei  Weise  ist  also  die  Religion  der 
feste  Beziehungspunkt,  und  mithin  muss  das  irreligiöse  Bewusst- 
sein des  Atheisten  unter  den  verschiedenen  Religionsformen  auf- 
geftlhrt  werden,  da  es  seinen  ganzen  Inhalt  in  Beziehung  auf 
Gott  und  göttliche  Dinge  erschöpft  und  nicht  anders  als  nur 
durch  diese  Beziehung  erklärt  werden  kann. 

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Systematischer  Ort.  359 

Was  nun  die  richtige  Stellung  des  Atheismus  gyatematiacher 
betriflft,  so  sieht  Jeder  sofort  ein,  dass  die  Kritik  ortdee 
nicht  einer  positiven  Religion  vorangehen  kann.  ^**^«*»'"»»8- 
Vielmehr  muss  der  Atheismus  seine  Stelle  nach  den  projectivi- 
schen  Religionen  erhalten,  die  er  kritisch  zu  vernichten  sucht 
Die  Atheisten  selbst  aber  möchten  vielleicht  erwarten,  dass  ihnen 
nicht  ein  mittlerer  Platz  angewiesen  würde,  sondern  der  letzte 
und  höchste,  da  sie  alle,  auch  die  höheren  Religionen,  zu  ver- 
nichten wünschen.  Allein  man  darf  nicht  jedem  Verlangen  will- 
fahren. Es  wird  sich  nämlich  zeigen,  dass  die  höheren  Reli- 
gionen der  atheistischen  ELritik  kein  Angriffsobject  mehr  darbieten 
und  zwar  weder  die  pantheistischen  Religionen,  noch  die  höchste 
und  allein  wahre  Religion  des  Ghristenthums.  Der  Atheismus 
hat  daher  seinen  Platz  nur  hinter  den  projectivischen  Gottes- 
vorstellungen, zu  deren  Vernichtung  er  bestimmt  ist,  wie  der 
Storch  für  die  Frösche  und  der  Arzt  für  die  Krankheiten. 

Wenn  die  Atheisten  sich  einbilden,  dass  sie  auch  im  Christen- 
thum  noch  eine  Nahrung  für  ihre  Kritik  fänden,  so  beruht  dies 
auf  einem  Nichterkeiinen  des  specifischen  Wesens  des  Ghristen- 
thums, welches  weit  über  die  Verstandesstufe  des  Atheismus 
hinausgeht;  der  Schein  aber,  als  ob  es  auch  dem  Christenthum 
gegenüber  noch  eine  atheistische  Kritik  geben  könne  und  gegeben 
habe,  beruht  auf  der  thatsächlichen  Unreinheit  der  religiösen 
Vorstellungen  und  Gefühle  der  Menschen,  da  es  ja  ganz  natür- 
lich ist,  dass  nach  den  verschiedenen  Stufen  der  Begabung, 
Bildung  und  Erweckung  der  einzelnen  Gläubigen  auch  die  Ele- 
mente der  untergeordneten  Religionsformen  sich  einmischen  und 
vordrängen  werden,  so  dass  auch  viele  heidnische  und  jüdische 
Religionselemente  in  dem  vulgären  Christenthum  der  verschiede- 
nen Völker  und  Zeitalter  vorkommen  können,  die  dann  die 
atheistische  Kritik  hervorrufen  und  ihr  zur  Beute  fallen.  Darum 
findet  man  zwar  die  Irreligiosität  und  den  Atheismus  in  allen 
Völkern  und  in  allen  Zeitaltem;  wie  der  Grünspan  aber,  wenn 
das  Kupfer  in  der  Statue  sich  oxydirt,  nicht  die  Statue  zerstört, 
sondern  sie  nur  colorirt,  so  bleibt  auch  das  Christenthum  völlig 
unberührt,  wenn  die  atheistische  Kritik  sich  auf  die  im  vulgären 
Bewusstsein  eingemischten  unreinen  Elemente  stürzt,  um  sie  zu 
zersetzen.  Der  Atheismus  hat  darum  seinen  im  System  der  Reli- 
gionswissenschaft festbestimmten  Platz  hinter  den  projectivischen 

uiymzeu  uy  "V-j  vyVjpt  Iv^ 


360  Atheismus. 

Religionen  und  kann  denselben  niemals  gegen  einen  höheren 
yertauschen,  ebenso  wie  der  Rabe  sich  nie  auf  den  Rang  der 
sprechenden  Wesen  erheben  kann^  auch  wenn  er  scheinbar  spricht. 
Wenn  deshalb  populäre  Kritiker  wie  Strauss  oder  neuerdings 
V.  Hartmann  von  einer  Zersetzung  des  Christenthums  reden,  so 
wissen  sie  bloss  nicht,  dass  die  unreinen  projectivischen  Elemente, 
die  sie  zu  ihrem  Angriffsobjecte  haben,  fllr  das  Christenthum 
ebensowenig  wesentlich  sind,  wie  der  Grünspan  flir  die  Statue. 
Der  Der  in  neuester  Zeit  weitverbreitete  und  sich 

positivismus.  tjreit  machende  Positiv ismus  ist  als  Atheismus 
zu  betrachten.  Denn  da  der  Positivist  jede  Metaphysik  aufhebt 
und  von  Gott  und  Seele  und  Wesen  überhaupt  nichts  wissen  will, 
sondern  nur  mit  Erscheinungen  zu  thun  hat,  so  entnervt  und 
entmannt  er  Geist  und  Gemüth  des  Menschen,  indem  er  ihm 
allen  Glauben  an  die  Wahrheit  der  Erkenntniss  und  allen  Glauben 
an  die  wirkliche  Gemeinschaft  mit  Gott  raubt.  Der  Positivismus 
ist  daher  nicht  bei  kräftigen  und  gesunden  Naturen  zu  Hause, 
sondern  ein  Zeichen  geistiger  Schwäche;  er  ist  als  Asthenie 
des  Zeitalters  zu  diagnosticiren  und  gehört  den  Blasirten,  den 
Heruntergekommenen  und  Bastarden.  Wenn  die  Nation  nicht  zu 
Grunde  geht,  so  hat  er  keine  Aussicht  auf  langen  Erfolg,  da 
jeder  Aufschwung  der  Kraft  immer  den  Glauben  an  die  Wahrheit 
voraussetzt  und  neu  erzeugt;  denn  Kraft  und  Wahrheit  sind 
Coordinaten,  ebenso  wie  Schwäche  und  Zweifel  zusammengehören. 
Der  Positivismus  kann  natürlich  die  verschiedensten  äusseren 
Erscheinungen  darbieten,  und  man  wird  nach  meiner  ganzen  bis- 
herigen Darstellung  nicht  auf  den  Gedanken  kommen,  als  meinte 
ich  damit  eine  historisch  bestinmite  Culturstufe,  etwa  bloss  den 
heutigen  Skepticismus  oder  eine  im  grauen  griechischen  Alter- 
thum  schon  überwundene  Sinnesart;  nein,  diese  ganze  Behand- 
lungsweise  der  Weltansichten,  wie  sie  in  unserem  historischen 
Jahrhundert  üblich  geworden,  ist  durchaus  verfehlt  und  der  Sache 
nicht  gewachsen.  Die  Weltansichten  haben  keine  historischen 
Perioden,  ebensowenig  wie  die  Jahreszeiten,  die  immer  wieder- 
kehren, und  wie  die  Altersstufen,  die  sich  auch  bei  jedem  Menschen 
in  allen  Jahrhunderten  gleichen.  Wie  es  im  Alterthum  nicht 
immer  Frühling  war,  so  ist  auch  im  neunzehnten  Jahrhundert 
nicht  immer  Herbst.  Ebenso  muss  es  sich  mit  den  Weltansichten 
verhalten,   die  ziemlich  in  allen  Zeiten  dieselben  gewesen  sind 


Poeitivismus.  361 

und  nur  durch  die  Stufen  wissenscbaftlicher  Ausbildung  sich 
unterscheiden.  Die  Weltansicht  hängt  gar  nicht  von  der  Zeit 
ab,  in  welcher  ein  Mensch  geboren  wird,  sondern  von  seinem 
Kopfe,  und  alle  die  schönen  culturgeschichtlichen  Phrasen,  durch 
welche  man  die  verschiedenen  Epochen  der  Menschheit  voneinander 
trennen  und  aus  einander  entwickeln  will,  sind  blosse  Colorirun- 
gen,  unter  denen  der  Kenner  die  festen  Grundlinieii  constanter 
Typen  wiederfindet.  Es  ist  daher  selbst  von  dem  Positivisten 
Laas,  den  ich  in  meiner  Schrift  „Kant's  Beise  in  den  HimmeP 
darauf  hingewiesen  hatte,  zugestanden  worden,  dass  Protagoras 
sein  ächter  Ahnherr  sei,  und  es  macht  sich  nur  komisch,  wenn 
Laas  seinen  Patronus  über  Piaton  und  den  Idealismus  trium- 
phiren  lässt.*)  Ich  habe  aber  auch  in  meiner  Geschichte  der 
Begriffe,  ohne  Widerstand  zu  finden,  nachgewiesen,  dass  ebenso 
die  übrigen  modernen  Weltansichten  voUbtirtig  schon  im  Alter- 
thum  vertreten  sind;  denn  es  macht  doch  für  die  metaphysische 
Betrachtung  z.  B.  keinen  Unterschied,  ob  ein  Büchner  oder  Thaies 
den  Hylozoismus  vorträgt,  nur  dass  Thaies  trotz  seines  Mangels 
an  neueren  Kenntnissen  ein  unvergleichlich  bedeutenderer  Kopf  war. 
Ich  kann  darum  den  Versuch  W.  Dilthey's  (Einleitung  in 
die  Geisteswissenschaft  I.  S.  455),  den  Standpunkt  der  sogenann- 
ten „historischen  Schule",  der  in  der  Zeit  unserer  Romantik  auf- 
kam und  für  Sprachen,  Sitten,  Künste  und  Moden  eine  gewisse 
Berechtigung  hat,  auf  die  Philosophie  anzuwenden,  nur  fllr  einen 
geistreichen  Scherz  halten.  Wenn  Dilthey  deshalb  die  Ver- 
schiedenheit der  weltgeschichtlichen  Perioden  in  Bezug  auf  die 
philosophischen  Systeme  ausmalt,  so  muss  er  sich  natürlich  immer 
nur  an  Nebensachen,    an  die  nebenher  laufenden   empirischen 

*)  Da  Laas  in  einer  Hecension  über  meine  „Unsterblichkeit  der  Seele" 
die  Berücksichtigung  Eant's  bei  mir  vermisst  hatte,  so  schrieb  ich  den  oben- 
genannten Dialog,  worin  ich  unter  der  Aegide  Platon's  die  Widersprüche 
Kant's  zeigen  und  durch  Protagoras  den  modernen  Positivismus  auf 
Protagoras  und  Kant  zurückführen  liess.  Laas  selbst  erhielt  dabei  eben  keine 
erfreuliche  Rolle.  Darauf  erschien  zufällig  eine  Schrift  von  Laas  (Positivismus 
und  Idealismus),  worin  wirklich  Protagoras  als  Positivist  acceptirt,  aber  in 
seinem  angeblich  siegreichen  Kampf  gegen  Piaton  und  seinen  Idealismus 
verherrlicht  wurde.  Da  ich  selbst  in  diesem  Buche  aus  dem  Spiel  gelassen 
war  und  meine  Metaphysik  mit  dem  Piatonismus  auch  nichts  zu  thun  hat, 
so  fand  ich  keine  Veranlassung,  über  diese  sowohl  philologisch,  wie  philo- 
sophisch unter  dem  Mittelmässigen  stehende  Arbeit  mich  zu  äussern^  , 

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362  Atheismus. 

Vorstellungen  von  der  Welt,  oder  an  die  persönlichen  Stimmungen 
der  Philosophen  halten,  die  ja  wie  die  Kleidungen  und  Sprachen 
immer  national  und  historisch  verschieden  sein  werden.  Die 
Philosophie  aber  als  Vemunftwissenschaft  hat  mit  Begriffen  zu 
thun,  die  nichts  Nationales,  Persönliches  und  Empirisches  an 
sich  haben,  und  es  ist  darum  natürlich,  dass  Begriffe  in  jenem 
Buche  für  überflüssig  gehalten  werden. 

Der  Standpunkt  Dilthey's  ist  aber  doch  nicht  mehr  die  ge- 
müthvolle  Bomantik,  giebt  auch  die  idealen  Grundlinien  aller 
Entwickelung,  wie  sie  z.  B.  bei  Jacob  Grimm  zu  finden,  unter 
dem  Druck  moderner  Stimmungen  Preis  und  ist  deshalb  zu  einer 
Abart  des  Comte'schen  Positivismus  geworden.  So  glaubt  er 
mit  Comte,  jetzt  erst  über  das  Zeitalter  der  Metaphysik  hinaus- 
gekommen zu  sein,  als  wenn  nicht  alle  Positivisten  uad  Skep- 
tiker im  Alterthum,  Mittelalter  und  in  neuerer  Zeit  schon  längst 
eben  dasselbe  geglaubt  hätten.  So  glaubt  er  sich  auch  gegen- 
wärtig erst  in  einem  Zeitalter  zu  befinden,  in  welchem  „eine  freie 
Mannigfaltigkeit  von  metaphysischen  Systemen,  deren  keines  er- 
weisbar ist,  sich  gebildet  habe*,"  als  wenn  dies  Zeitalter  nicht 
zu  allen  Zeiten  für  diejenigen  vorhanden  gewesen  wäre,  die  sich 
weder  einem  metaphysischen  System  anschliessen,  noch  ein  eigenes 
begründen  konnten.  Zu  allen  Zeiten  hat  es  viele  Systeme  neben- 
einander gegeben  und  oft  in  zahlreichen  Nuancen,  von  denen 
keines  das  andere  in  der  Art  hätte  überwinden  können,  dass  die 
Gegner  tiberzeugt  gewesen  wären.  Und  es  ist  doch  nur  nach 
dem  äusserlichen  Majoritäts-Schein  und  der  etwaigen  socialen 
Autoritäts-Stellung  der  Philosophen  gcurtheilt,  wenn  man  glaubt, 
dass  jemals  Aristoteles  oder  Piaton  oder  Kant  oder  Hegel  allein 
die  metaphysischen  Gedanken  aller  Menschen  oder  aller  Höher- 
gebildeten beherrscht  hätten.  Es  würde  ein  solches  sonderbares 
Phänomen  auch  nur  eintreten  können,  wenn  nicht  bloss  die  Schulen 
eine  ganz  gleichförmige  internationale  Bildung  hervorbrächten, 
sondern  wenn  zugleich  die  Natur  dafür  sorgte,  dass  alle  jungen 
Leute  auch  ganz  gleichartige,  schlechte  oder  gute  Köpfe  hätten. 
Wenn  Dilthey  es  deshalb  für  eine  die  neueste  Zeit  charakterisi- 
rende  Eigenthümlichkeit  hält,  dass  „die  Metaphysik  ein  blosses 
Privatsystem  ihres  Urhebers  und  derjenigen  Personen  wäre, 
welche  sich  vermöge  einer  gleichen  Verfassung  der  Seele  von 
diesem  Privatsystem  angezogen   fanden,"   so  wünschte  ich   zu 

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Positivismus.  363 

wissen,  in  welchem  Zeitalter  dies  anders  gewesen  wäre.  Schon 
im  Anfang  des  fünften  Jahrhunderts  vor  Christo  bezeichnet  Heraklit 
mehrere  verschiedene  Privatsysteme  (von  Hekatäus,  Xenophanes 
und  Pythagoras),  von  denen  er  sich  nicht  angezogen  fühlte; 
nach  ihm  gab  es  gleich  noch  eins  mehr.  Im  vierten  Jahrhundert 
warnt  Piaton  die  jungen  Leute  davor,  sich  nicht  ohne  Vorsicht 
von  solchen  Männern  mit  Privatsystemen  anziehen  zu  lassen,  da 
sie  vielleicht  Gift  statt  Medicin  verkauften,  und  er  sagt  dies  mit 
besonderem  Hinblick  auf  ein  solches  Privatsystem,  welches  heute  , 
Positivismus  heisst.  Auf  der  Akropolis  lässt  die  Apostelgeschichte 
den  Paulus  vor  solchen  Personen,  welche  sich  vermöge  gleicher 
Verfassung  der  Seele  von  Epikurs  oder  Zenos  Privatsystemen 
angezogen  ftihlten,  das  Christenthum  vertheidigen.  Cicero  hat 
in  allen  seinen  Schriften  mit  der  persönlichen  Auswahl  eines 
solchen  Priratsystems  zu  thun.  Im  Mittelalter  ist  die  Kirche  alle 
Augenblick  in  Aufregung,  weil  ein  häretisches  Privatsystem  An- 
hänger gleicher  Seelenverfassung  findet.  Melanchthon  ermahnt 
die  Theologen,  sich  einem  rechtschaffenen  Privatsystem  anzu- 
schliessen,  wie  er  sich  dem  des  Aristoteles  ergeben  habe.  Wo 
und  in  welcher  Zeit  wäre  es  denn  anders  gewesen;  denn  selbst 
der  heilige  Thomas  hat  niemals  allein  in  den  Köpfen  der  Men- 
schen geherrscht.  Aber  diese  positivistische  Schule,  welche  aus 
guten  Gründen  eine  geheime  Angst  vor  der  Vernunft  und  der 
Vcmunftwissenschaft  hat,  möchte  gern  den  Schein  hervorrufen, 
als  wäre  die  Philosophie  überhaupt  nur  eine  Sache  der  Mode. 
Wie  ein  Schneider  hunderte  von  Körpern  leicht  bekleiden  kann, 
so  dass  eine  Toilette  in  wenigen  Tagen  von  so  und  so  Vielen 
auf  den  Strassen  zur  Schau  gestellt  wird,  so  soll  auch  die  Phi- 
losophie bloss  aus  mechanischen  Anpassungen  und  Tagesströmun- 
gen erklärt  werden.  Für  die  Philosophie  ist  es  aber  völlig  gleich- 
gültig, wie  viele  Anhänger  sie  findet.  Wie  die  analytische  Geo- 
metrie und  die  Infinitesimalrechnung  auch  verhältnissmässig  immer 
nur  einen  kleinen  Procentsatz  der  Bevölkerung  zu  ihren  Lieb- 
habern zählt,  so  ist  die  Philosophie  auch  immer  nur  in  wenigen 
Köpfen  lebendig  gewesen.  Es  lässt  den  Philosophen  daher  kühl, 
ob  man  viel  oder  wenig  Thomisten  und  Scotisten,  Lockianer, 
Kantianer  u.  dergl.  zählt;  denn  das  zugehörige  System  wird  durch 
die  Zahl  der  Anhänger  weder  schwächer  noch  stärker.  Die 
Culturgeschichte  mag  sich  um  diese  Modefragen  bekümmern;  die 


364  Atheismus. 

Philosophie  und  Geschichte  der  Philosophie  aber  hat  mit  Be- 
griffen zu  thun,  auf  welche  freilich  der  Positivismus  keine 
Rücksicht  nimmt,  weil  er  überhaupt  der  Philosophie  nicht  ge- 
wachsen ist.  Es  ist  darum  in  der  Ordnung,  dass  der  Positivis- 
mus, weil  er  keinen  Glauben  an  die  Wahrheit  der  Vernunft  hat, 
auch  der  Religion  nur  scheinbare  Kantische  Zugeständnisse 
macht  und  ein  leeres  atheistisches  Gemüth  voraussetzt. 


Die  zugehörige  Ethik. 
Das  Motiv  des  Atheismus  ist  die  AflFectlosigkeit.  Wenn  der 
Mensch  in  civilisirteren  Verhältnissen  lebt,  so  schwinden  die 
meisten  unmittelbaren  Gefährdungen  von  Seiten  der  Natur;  die 
Häuser  geben  Obdach  gegen  Sturm  und  Regen;  vor^  der  Macht 
der  Sonne  und  vor  ihrer  Ohnmacht  weiss  man  Hülfsmittel;  die 
Nacht  beraubt  man  durch  künstliche  Beleuchtung  ihres  Schreckens; 
die  Hungersnoth  wird  durch  Handel  ausgeglichen;  die  wilden 
Thiere  sind  verscheucht;  die  Krankheiten  werden  von  Aerzten 
behandelt  und  der  eigene  Tod  ist  immer  weit  entfernt,  so  lange 
man  lebt;  das  allgemeine  Loos  des  Todes  ist  aber  bei  der  grossen 
Bevölkerung  nicht  mehr  im  Stande,  wiederholentlich  einen  mäch- 
tigen AflFect  zu  erregen.  So  ist  es  natürlich,  dass  die  Furcht 
als  Motiv  der  ersten  Religionsstufe  fehlen  muss,  und  dass  daher 
bei  einem  gewissen  Sicherheitsgefühl,  welches  durch  eine 
grössere  Naturerkenntniss  und  Naturbeherrschung  entsteht,  auch 
die  Götter  und  Dämonen,  welche  bisher  die  Menschen  in  Angst 
und  Schrecken  versetzten,  ihre  Macht  über  die  Gemtither  verlieren. 
Darum  wird  man  finden,  dass  die  Atheisten  gerade  dies  von 
sich  rühmen,  dass  sie  durch  grössere  Aufklärung  die  Menschheit 
von  der  Gottes-  und  Götterfurcht  befreit  hätten.  So  singt  z.  B. 
schon  der  alte  Dichter  Lucretius  mit  Begeisterung  von  seinem 
atheistischen  Chorführer:*)  „Da  scheusslich  anzusehen  das  Men- 
schenleben auf  Erden  darniederlag,  herabgedrückt  unter  der 
Wucht  der  Gottesfurcht,  die  vom  Hinmiel  her  ihr  Haupt  ent- 
gegenstreckte und  mit  schrecklichem  Gesichte  die  Menschen  be- 
drohte: da  wagte  zuerst  ein  sterblicher  Mensch,  ein  Grieche,  mit 


*)  De  rerum  natura  I,  62. 

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Ethik.  365 

seinen  Augen  den  Anblick  auszuhalten,  und  war  der  Erste,  der 
Widerstand  leistete;  denn  weder  die  Heiligthtimer  der  Götter, 
noch  die  Blitze,  noch  das  drohende  Brüllen  des  Himmels  er- 
schütterten ihn,  sondern  all  dieses  spornte  nur  desto  mehr  die 
durchdringende  Kraft  seines  Geistes  an  und  erregte  die  Begierde, 
als  der  Erste  die  festen  Riegel  an  den  Pforten  der  Natur  auf- 
zubrechen." Nun  schildert  Lucretius  die  Leistungen  der  Natur- 
wissenschaft und  schliesst  triumphirend :  „So  wird  jetzt  umge- 
kehrt von  uns  die  Religion  mit  Füssen  getreten,  und  wir  erheben 
uns  siegreich  bis  zum  Himmel." 

Der  Atheismus  triumphirt  also  über  die  Religion  der  Furcht. 
Wie  aber  könnte  das  Motiv  der  reinen  Rechtsreligion,  das  Ge- 
wissen und  das  Gefllhl  der  Sünde  beseitigt  werden?  Es  liegt 
auf  der  Hand,  dass  dies  unbesiegbar  ist  und  bleibt  Wenn  gleich- 
wohl mit  einem  gewissen  Recht  der  Atheismus  auch  dieses  Ge- 
fiihl  niederzuwerfen  scheint,  so  erklärt  sich  der  Schein  sehr 
einfach  dadurch,  dass  das  Geftlhl  der  Sünde  niemals  im  grossen 
Gesellschafts-  und  Völkerleben  rein  zu  Tage  tritt,  sondern  immer 
durch  die  gesellschaftlichen  Verhältnisse  und  die  wechselseitigen 
Machtbeziehungen  der  Stände  mit  ihren  Vorurtheilen  verfälscht 
wird.  Darum  vergleicht  der  Atheist  die  religiösen  Rechtsgeflihle 
Eines  Volkes  mit  einem  anderen  Volke  und  Eines  Zeitalters  mit 
einem  anderen  Zeitalter  und  kommt  dadurch  zur  Erkenntniss 
des  Widerspruches  aller  Rechtsgeiuhle  mit  einander,  weshalb  er 
die  Wahrheit  und  Zuverlässigkeit  des  religiösen  Gewissens  be- 
zweifelt und  die  religiöse  Scheu  verspottet  So  macht  sich  z.  B. 
schon  Lucian  darüber  lustig,  dass  ein  District  in  Aegypten 
durchaus  kein  Schaf  essen  darf,  wohl  aber  einen  Ochsen,  ein 
anderer  keinen  Ochsen,  wohl  aber  ein  Schaf,  und  dass  die  Juden 
am  Sabbath  nicht  arbeiten  dürfen  und  deshalb  von  den  Feinden 
durch  ihre  abergläubische  Gewissenhaftigkeit  wie  in  einem  Netze 
gefangen  werden.  Während  die  Atheisten  des  Alterthums  mehr 
die  Widersprüche  der  religiösen  Gesetze  der  verschiedenen  Völker 
untereinander  vergleichen,  so  haben  die  modernen  positivistischen 
Gulturhistoriker  namentlich  die  Entwickelung  des  RechtsgefUhls 
beachtet  und  die  Gräuel  der  Menschenopfer,  die  Gewissenspflicht, 
die  eigenen  Kinder  zu  schlachten  u.  s.  w.,  mit  der  späteren  ver- 
hältnissmässig  grösseren  Sittlichkeit  verglichen,  um  dadurch  die 


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366  Atheismus. 

Unzuverlässigkeit  des  religiösen  Gefühls  zu  beweisen.  Das  Ge- 
fühl der  Sünde  sei  eben  nicht  in  der  Natur  begründet,  es  gebe 
kein  anderes,  als  ein  durch  die  gesellschaftlichen  Zustände  und 
die  zufälligen  Sitten  entstandenes  Gewissen,  und  so  sei  die  ganze 
Grundlage  der  Eechtsreligion  zerstört 

Der  Atheismus  entsteht  deshalb  hier  durch  häufigere  inter- 
nationale Beziehungen  der  Völker,  indem  die  Verschiedenartig- 
keit der  Gewissen  die  Gewissenhaftigkeit  überhaupt  vermindert 
oder  auslöscht  Denn  da  das  Gefühl  der  Sünde  immer  einem 
Gesetze  zugeordnet  ist,  so  muss,  wenn  die  Gesetze  sich  wider- 
sprechen, nothwendig  Zweifel,  Vei*wirrung  und  dadurch  eine  Ab- 
schwächung  bis  zum  Indifferentismus  auch  in  dem  Schuldbewusst- 
sein  Platz  greifen.  Das  Gewissen  in  seiner  Reinheit  ist  ja  bei 
der  grossen  Menge  nicht  zu  finden,  sondern  nur  das  sociale  Ge- 
wissen, welches  durch  die  Erinnerung  an  das,  was  bei  der  uns 
bestimmenden  Gesellschaft  als  anständig,  ehrlich  und  recht,  oder 
als  unanständig,  ehrlos  und  schändlich  gilt,  erweckt  wird.  Das 
Gewissen  in  dieser  Form  als  blosses  Gedächtniss  und  sociales 
Band  muss  aber  nothwendig  durch  Auflösung  der  strengen  Sitten 
und  religiösen  Gebräuche  bei  dem  internationalen  Verkehr  eben- 
falls gelockert  werden,  und  daher  erklärt  sich,  dass  auch  das 
Motiv  der  Eechtsreligion  dem  Atheismus  zur  Beute  wird. 

Freilich  aber  nur  das  Motiv  der  positiven  Rechtsreligionen 
mit  ihren  vielen  bloss  geschichtlich  zu  erklärenden  religiösen 
Geboten;  denn  wer  das  wahre  Gewissen  kennt,  kann  nur  mit 
Verachtung  und  Mitleid  auf  diejenigen  blicken,  welche  die  Mei- 
nung der  Menschen,  Ehre  und  Schande,  zur  Richtschnur  ihres 
Lebens  nehmen.  Das  wahre  Gewissen  ist  unfehlbar  und  ewigen 
Ursprungs  und  hat  mit  den  von  den  Atheisten  verspotteten 
Schuldgefühlen  nichts  zu  schaffen.  Denen  gegenüber  also,  welche 
durch  die  positiven  Satzungen  sich  innerlich  gebunden  und  be- 
klemmt flihlen,  erscheint  der  Atheist  als  Freigeist,  der  mit 
einem  gewissen  Behagen  seine  Affektlosigkeit  geniesst;  denn 
wenn  dieser  Mangel  an  Gefühlserregung  an  sich  auch  kein  Wohl- 
gefUhl  mit  sich  bringen  kann,  so  entsteht  doch  durch  Vergleichung 
seines  ungestörten  Gemüthszustandes  mit  der  Qual,  Bekümmer- 
niss  und  Gebundenheit  der  Gläubigen  ein  gewisses  Freiheits- 
gefühl, das  er  nicht  vertauschen  und  verlieren  möchte. 

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Dogmatik.  367 

Allein  diese  atheistische  Freiheit  hält  nur  Stand  vor  den 
Gebetsriemen  der  Juden,  ihrer  Sabbathruhe  und  ihren  Speise- 
geboten und  so  bei  anderen  Religionen  immer  nur  vor  den  positi- 
ven Satzungen,  denen  keine  ewige  Bedeutung  und  Verpflichtung 
beizumessen  ist;  wer  aber  zum  Verderben  Anderer  lügt  oder 
Habe  und  Leben  Anderer  raubt,  der  muss  eine  irdene  Seele  em- 
pfangen haben,  wenn  ihm  nicht  die  Bilder  des  Jammers,  den  er 
angerichtet,  in  der  Erinnerung  aufsteigen  und  ihn  mit  trostlosem 
Anblicke  anstarren  und  ihn  dadurch  in  Unruhe  und  traurige  Un- 
einigkeit mit  sich  selbst  versetzen.  Je  feiner  seine  Seele  ent- 
wickelt ist,  desto  empfindlicher  werden  ihn,  ganz  abgesehen  von 
einer  religiösen  Satzung,  die  von  ihm  versäumten  Aufgaben  des 
Menschen  schmerzen  müssen.  Darum  ist  klar,  dass  der  Atheist, 
welcher  auch  das  Motiv  der  reinen  Rechtsreligion  in.  seinem  Be- 
wusstsein  nicht  zu  kennen  vorgiebt  und  Gewissen  und  Schuld- 
gefühl als  etwas  bloss  Historisches  abschüttelt,  zu  den  unbedeu- 
tenden Naturen  gehören  muss,  die  sich  in  dem  Rahmen  der  herr- 
schenden Sitte  zurecht  finden  und  im  Ganzen  nichts  Uneben- 
mässiges  thun,  so  dass  sie  auch  keine  Veranlassung  zu  einem 
merklicheren  Schuldgefühl  haben  könnten,  die  aber  zugleich  auch 
durch  eine  höhere  sittliche  Idee  und  deren  zugeordnete  tiefere 
Gefühle  nicht  belästigt  werden,  weil  sie  über  die  Gränzen  des 
Gewöhnlichen  und  Herkömmlichen  nicht  hinausgehen.  Ich  habe 
hier  die  meisten  Atheisten  im  Auge,  wie  sie  sich  im  Strome  der 
Menge  finden;  es  giebt  freilich  auch  philosophische  Skeptiker, 
zu  deren  Profession  es  gehört,  das  Gewissen  zu  leugnen,  wie 
Diogenes  und  Spinoza;  allein  diese  sind  alle  theils  von  einer 
egoistischen,  der  erlösenden  Platonischen  Liebe  ganz  unzugäng- 
lichen Natur,  wie  der  rohe  Cyniker  und  der  trockene,  pedanti-- 
sehe,  gemüthlose  Jude,  theils  verfechten  sie  eine  These,  die  mit 
der  Wahrheit  ihres  eigenen  Gefühls  in  keinem  nothwendigen  Zu- 
sammenhange steht,  so  dass  sie  besser  sind,  als  ihre  armseligen 
Gedanken  vermuthen  Hessen. 


Die  zugehörige  Dogmatik. 
Die  Aufgabe  der  atheistischen  Dogmatik  besteht  darin,  an 
die  Stelle  der  Götterwelt  und  des  Rechtsgottes  im  Himmel  eine 
Wüste  und  Leere  zu  schaffen.    Da  dem  Atheisten  das  ethische 

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368  Atheismus. 

Motiv  zu  den  zugeordneten  Gottesideen  fehlt,  so  ist  für  ihn  dieser 
unbewohnte  Himmel  ganz  natürlich.  Mithin  muss  seine  Dog- 
matik  wesentlich  in  Kritik  bestehen. 

Mit  der  Götterwelt  der  Furchtreligion  haben  die  Atheisten 
nun  auch  wirklich  leichtes  Spiel;  denn  diese  dunklen  Gestalten 
vertragen  ja  nicht  deutlich  gedacht  zu  werden,  ohne  sich  in 
lächerliche  Einbildung  aufzulösen.  Schon  Xenophanes  spottete 
über  die  anthropomorphischen  Vorstellungen.  „Wenn  die  Ochsen 
und  Löwen  Hände  hätten,  sagt  er,  und  malen  könnten,  so  würden 
die  Pferde  ihre  Götter  zu  Pferden  und  die  Ochsen  sie  zu  Ochsen 
machen."  So  bildeten,  fügt  er  hinzu,  die  Aethiopier  ihre  Götter 
mit  schwarzen  Gestalten  und  stumpfen  Nasen  und  die  Thracier 
sie  roth  und  mit  hellen  Augen.  Sie  Hessen  ihre  Götter  stehlen 
und  ehebrechen  und  einander  betrügen.  Wenn  die  Eleaten,  sagt 
er,  ihre  Leukothea  für  eine  Göttin  hielten,  so  brauchten  sie 
keine  Todtenklage  über  sie  zu  halten;  wenn  aber  flir  einen 
sterblichen  Menschen,  so  verdiente  sie  keine  Gottesverehrung. 
Protagoras  äussert  mit  skeptischer  Ironie  am  Anfang  jenes 
positivistischen  Buches,  welches  die  gottesflircbtigen  Athener  ver- 
brannten, er  wisse  nicht,  ob  die  Götter  wären  oder  nicht  wären. 
Piaton  gebraucht  die  Götter  nur  im  allegorischen  Spiel  der 
Phantasie,  wie  Schiller;  Aristoteles  erklärt  sich  flir  einen 
Atheisten  den  Volksgöttern  gegenüber,  ist  aber  freilich  schwach 
genug,  die  Sterngötter  zu  vertheidigen.  Voltaire  zieht  auch  die 
ganze  göttliche  Familie  im  Himmel  nach  dem  Vorbilde  des  Xeno- 
phanes in's  Lächerliche;  da  ja  die  volksmässige  Vorstellung,  von 
den  Malern  ganz  in's  Menschliche  übergeflihrt,  auch  genug  StoflF 
zu  Ironie  und  Persifflage  bieten  konnte. 

Kurz,  es  ist  ein  leichter  Sieg,  den  der  Atheismus  über  die 
Furchtreligion  mit  ihrer  Dogmatik  davonträgt,  wobei  er  noch 
durch  die  Macht  der  Rechtsreligion  unterstützt  wird  und  seine 
besten  Motive  erhält;  denn  das  sittliche  Bewusstsein  muss  die 
in's  Menschliche  umgedeuteten  Naturvorgänge  als  unwürdig  und 
unmoralisch  verwerfen  und  die  Götzen,  die  keinen  sittlichen  Geist 
haben,  mit  Spott  und  Verachtung,  wie  die  jüdischen  Propheten 
thaten,  aus  dem  Bewusstsein  zu  vertilgen  suchen. 

Es  kann  aber  dem  Atheisten  nicht  viel  schwerer  werden, 
auch  die  Dogmatik  der  unreinen  Rechtsreligion,  wie  wir  sie  z.  B. 

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t)oginatik.  369 

im  Judenthum  finden,  umzustürzen;  denn  da  sie  den  grimmen 
Machtgott  der  Furchtreligion  mit  dem  reinen  Gott  des  Gesetzes 
verschmolzen  hat,  so  hat  sie  ja  ihrer  Dogmatik  die  Achillesferse 
gegeben,  durch  deren  leichte  Verwundung  ihr  Gott  zu  Grunde 
gehen  mnss.  Ein  Gott,  der  in  seinem  Zorn  ganze  Völker  mit 
Mann  und  Weib  und  Kind,  ja  auch  mit  ihrem  Vieh  vertilgen 
lässt  und  der  so  oft  zu  Reue  übergeht,  der  muss  wegen  seiner 
Wandelbarkeit  und  ünvollkommenheit,  bei  welcher  allein 
Reue  eintreten  kann,  der  Kritik  verfallen.  Erinnert  ein  Gott 
dieser  Art  doch  an  solche  Despoten,  wie  Alexander  der  Grosse, 
der  im  Zorn  auch  seine  besten  Freunde  masslos  misshandelte 
und  nachher  durch  überschwängliche  Wohlthaten  wieder  seine 
Gnade  ihnen  zuwandte,  weil  sein  Grimm  verraucht  und  die  Reue 
eingetreten  war.  Ein  Gott  mit  solcher  menschlichen  Leidenschaft- 
lichkeit steht  allerdings  dem  Herzen  näher,  als  ein  blosses  ab- 
stractes  Sittengesetz,  kann  sich  aber  dem  Verstände  gegenüber 
doch  nicht  als  reiner  Vertreter  des  Sittengesetzes  halten.  Denn 
auch  sein  Lohnen  und  Strafen  liegt  jenseits  der  Sphäre  des  Ge- 
wissens und  dessen  Aufregung  und  Beruhigung,  da  die  Motive 
der  Furchtreligion  mit  dem  Gefühl  der  Sünde  und  der  Liebe  zur 
Gerechtigkeit  nichts  zu  thun  haben. 

Aber  auch  der  reine  Rechtsgott  verschwindet  vor  der 
atheistischen  Kritik;  denn  man  soll  sich  kein  Bildniss  und  Gleich- 
niss  von  diesem  Gotte  machen  und  kann  es  auch  nicht,  da  es 
gar  keine  Art  zu  denken  und  vorzustellen  giebt,  wodurch  man 
das  Wesen  und  die  Natur  dieses  Gottes  bestinmien  und  klar 
oder  deutlich  machen  könnte.  Es  ist  darum  natürlich,  dass  einige 
hartköpfige  Denker,  wie  Fichte,  den  Gott  wegliessen  und  bloss 
das  Sittengesetz  als  abstractes  Weltprincip  an  die  Spitze  der 
Dinge  stellten  und  dass  Kant  den  Gott  bloss  zu  einem  dunklen 
und  gedankenlosen  Postulat  der  praktischen  Vernunft  machte, 
wobei  aber  nach  der  Kritik  der  reinen  Vernunft  doch  nur  ein  uner- 
laubter Gebrauch  von  dem  Gausalitätsgesetz  gemacht  wird.  Kurz 
wir  mögen  eine  Theologie  nehmen,  welche  wir  wollen,  keine 
kann  für  das  blosse  Rechtsbewusstsein  einen  denkbaren  Gott 
nachweisen  und  definiren.  Dieser  Gott  ist  eine  blosse  Projection, 
ein  nach  aussen  geworfenes  Spiegelbild,  welches,  wie  alle  Ein- 
bildungen, nur  fllr  den  Gläubigen  existirt  und  bei  jeder  verstän- 
digen Analyse  verschwinden  muss. 

Teichmüller,  Religionspbilosophie.  Digitized24>^OOgiC 


ätÖ  Atheismus« 

Was  die  Atheisten  aber  an  die  Stelle  des  verschwundenen 
Gottes  gesetzt  haben,  das  ist  natürlich  nur  eine  viel  abenteuer- 
lichere und  geistlosere  Chimäre;  denn  die  Meisten  sind  Materia- 
listen und  projiciren  das  Spiegelbild  der  sogenannten  materiellen 
Dinge  in  ganz  kleinem  Massstabe  nach  Aussen,  das  nun  unter 
dem  Namen  Atome  alle  möglichen  Lagerungen  und  Bewegungen 
ausführen  muss,  wodurch  sie  Qualität  und  Geist  heraus  zu  hexen 
hoffen.  Die  übrigen  Atheisten  sind  Positivisten  und  verzichten 
auf  jede  Erkenntniss  des  Wesens  der  Welt,  d.  h.  sie  erklären 
sich  für  Erscheinungen.  Diese  sich  selbst  und  die  übrigen  Er- 
scheinungen studirenden  Erscheinungen  muss  man  sich  selbst 
überlassen,  weil  jede  Thorheit  ihr  Ende  in  sich  selbst  findet; 
denn  wie  derjenige,  der  immer  nach  links  gehen  wollte  und  ent- 
schieden läugnete,  dass  es  ein  Bechts  gebe,  weil  das  Bechts  auch 
eine  Form  des  Links  wäre,  doch  am  Ende  nicht  mehr  wissen 
würde,  wohin  er  gehen  sollte,  so  hält  auch  die  Thorheit  dieser 
Erscheinenden  nur  so  lange  vor,  als  sie  noch  eine  Erinnerung 
an  das  Wesen  im  Bewusstsein  haben;  wenn  ihnen  aber  der 
Begriff  des  Wesens  erst  völlig  auch  nur  zu  einer  Erscheinungs- 
form geworden  ist,  so  werden  sie  von  selbst  ihren  Rausch  schon 
ausschlafen  und  sich  nachher  recht  komisch  vorkommen.  Kurz, 
die  Kritik  der  projectiven  Theologie  glückt  den  Atheisten ;  aber 
selbst  können  sie  nichts,  was  Sinn  und  Verstand  hätte,  an  die 
leergelassene  Stelle  setzen. 


Der  zugehörige  Cultus. 
Mit  der  Dogmatik  und  der  Furcht  und  Reue  fUllt  natürlich 
auch  jede  Gottesverehrung,  weil  sie  weder  ein  Motiv,  noch  einen 
Gegenstand  mehr  hat.  Die  Atheisten  können  daher  in  aller 
Gottesverehrung  bei  den  verschiedenen  Völkern  nur  Verrücktheit 
sehen  und  Kant  ging  soweit,  auch  das  Gebet  der  Christen  als 
ein  lautes  Selbstgespräch  für  eine  Verrücktheit  zu  erklären. 

Wir  werden  später  eine  freundlichere  und  gerechtere  Deu- 
tung des  Cultus  auch  für  diese  niedrigeren  Religionen  suchen, 
wenn  wir  erst  die  wahre  Religion  bestimmt  haben  und  unseres 
Besitzes  sicher  sind;  hier  aber  verlangt  die  Gerechtigkeit  und 
der  Gang  des  Denkens,   auf  die  Seite  der  Atheisten   zu  treten, 


/Goog^v 


Cuitüs.  3t  1 

soweit  sie  Kritik  üben;  denn  auf  ihrer  Seite  stehen  bei  der 
Kritik  der  Furchtreligion  zunächst  auch  schon  die  Propheten 
und  alle  Kirchenväter,  welche  die  Leblosigkeit  der  Götzenbilder 
und  die  Gräuel  und  die  Sinnlosigkeit  ihres  Cultus  schildern  und 
yerabscheuen.  Wir  brauchen  uns  dabei  nicht  aufzuhalten,  denn 
die  Einzelheiten  sind  ja  von  den  populären  Schriftstellern  schon 
genügend  ausgebeutet. 

Demselben  Verdammungsurtbeil  unterliegt  auch  der  Cultus 
der  unreinen  ßechtsreligion;  denn  Gott  verlangt  nicht,  wie 
die  Propheten  sagen,  nach  dem  Blut  der  Widder  und  Farren, 
und  der  ganze  Opfer-  und  Sühnungsapparat  kann  fUr  ein  feineres 
Gewissen  und  Rechtsgeflihl  nichts  Anmuthendes  und  Befriedi- 
gendes darbieten,  da  die  Elemente  dieses  Cultus  eigentlich  nur 
in  die  Furchtreligion  gehören  und  mit  dem  reinen  Geist  der 
Kechtsreligion  in  einer  von  den  Propheten  beklagten  und  verur- 
theilten  Weise  widerrechtlich  verwachsen  sind.  Die  Atheisten 
lachen  doch  wohl  mit  Becht,  wenn  sie  die  unzähligen  religiösen 
Bedenklichkeiten  auch  der  modernen  Juden  betrachten,  die  ihre 
Ceremonien  und  ängstlich  inne  gehaltenen  Gebräuche  bis  auf 
das  Gewebe  der  Teppiche  erstrecken,  worauf  sie  den  Fuss 
setzen,  und  die  all  diese  den  Geist  und  seine  natürliche  und 
sittliche  Freiheit  einschnürenden  Beobachtungen  nicht  als  künst- 
lerisch schönen  Ausdruck  ihrer  Frömmigkeit,  sondern  aus  Angst 
vor  dem  Zorn  Gottes  innehalten. 

Die  reine  Kechtsreligion  aber,  da  sie  keinen  äusseren 
Cultus  hat,  bietet  dem  Atheisten  auch  keinen  Anstoss.  Nur  die 
Gebete,  Gesänge  und  Lobpreisungen,  wodurch  der  einzelne  Gläu- 
bige oder  die  Gemeinde  ihren  Verkehr  mit  dem  projectiven  Gott 
unterhält,  erregt  die  Kritik  des  Atheisten;  denn  er  kann  mit 
Recht  das  Dasein  eines  solchen  Gottes  im  Himmel  in  Zweifel 
ziehen,  und^  wie  Lucian  in  seinen  Göttergesprächen,  über  die 
Schalllöcher  in  der  ehernen  Himmelsschale  lächeln,  durch  welche 
Gott  die  Gebete  höre,  da  die  Wolken-  oder  Aetherregion  nicht 
geeignet  ist  für  den  Aufenthaltsort  eines  Menschen  oder  Gottes. 
Ueberhaupt  ist  für  den  Standpunkt  der  projectivischen  Religion 
die  Wirklichkeit  nur  die  sinnenftUige  Welt,  und  in  dieser  kann 
kein  Gott  untergebracht  werden.  Also  erscheint  das  Gebet  wie 
ein   lautes  Selbstgespräch.     Kant's  Auffassung  passt  aber  nur, 

u,y,t,^%  Google 


372  AtheLsmus. 

wenn  sie  gegen  die  projective  Theologie  gekehrt  wird,  und  hat 
keinen  Sinn  mehr,  wenn  man  die  christliche  Gotteserkenntniss 
besitzt,  und  es  ist  ein  Zeichen  seiner  unkritischen  Metaphysik, 
dass  er  ebenso,  wie  diejenigen,  welche  er  beurtheilt,  nur  sinnen- 
fällige  Wesen  für  Substanzen  hält.  Wenn  ich  daher  Kant  hier 
anfbhre,  so  geschieht  dies  nicht,  weil  ich  ihm  irgendwelche  Be- 
deutung für  die  Erkenntniss  des  Christenthums  zuschriebe,  son- 
dern eben,  weil  er  davon  noch  nichts  versteht  und,  obwohl  selbst 
auf  dem  Standpunkte  der  Projectivisten,  dennoch  schon  die 
atheistische  Consequenz  dieses  Standpunktes  gefunden  und  in 
seiner  Kritik  der  reinen  Vernunft  bekannt  hat. 

Fragen  wir  nun,  was  die  Atheisten  an  die  Stelle  des  aus- 
gerotteten Cultus  zu  setzen  vermögen.  Da  sie  die  Beziehungen 
des  Menschen  zu  dem  souveränen  Herrscher  der  Welt  und  zu 
dem  Gesetzgeber  abgeschafft  haben,  so  bleiben  ihnen  nur  die  Be- 
ziehungen der  Menschen  unter  einander  übrig,  die  nur  vom  Zu- 
fall, vom  Glück  und  vom  Unglück  abhängen.  Von  einem  Cultus 
ist  also  keine  Rede,  und  es  kann  sich  nur  etwa  darum  handeln, 
sich,  wie  dies  der  triviale  Popularschriftsteller  David  Strauss 
vorschlägt,  in  den  Mussestunden  an  Poesie,  Musik  und  dergleichen 
zu  erfreuen.  Genauer  betrachtet  ist  dieser  Vorschlag  entweder 
sophistisch  oder  einiUltig;  denn  die  grösseren  musikalischen  und 
poetischen  Werke  haben  ja  alle  einen  religiösen  Inhalt,  und  ihre 
genialen  Urheber  waren  keine  trostlose  atheistische  Gemüther, 
sondern  schufen  aus  einem  gotterflillten,  religiösen  Geiste.  Die 
Erquickung,  die  sie  bieten,  ist  also  fUr  den  Atheisten  verboten 
oder  lächerlich  und  darf  ihm,  wenn  er  Verstand  hat,  nicht  em- 
pfehlungswerth  sein.  In  Strauss'  Vorschlag  liegt  also  das  Be- 
kenntniss  der  Uneinigkeit  mit  sich  selbst;  nach  seiner  Mheren 
Bildung  verlangt  er  zwar  eine  gebildete  Nahrung;  die  plebejischen 
Gedanken  aber,  die  er  sich  im  späteren  Alter  aus  den  populären 
und  geistlosen  materialistischen  Schriftstellern  ftir  seinen  Privat- 
gebrauch ausgezogen  hat,  lassen  nur  das  Stroh  und  die  Disteln 
des  prosaischen  Lebens  als  einzigen  Unterhaltungsstoff  übrig 
nebst  den  sinnlichen  Genüssen,  die  etwa  der  glückliche  Zufall 
bringt.  Es  giebt  aber  viele  Menschen,  welche  sich  die  atheisti- 
sche Sinnesart  als  sehr  anmuthig  vorstellen,  weil  Strauss  sich 
doch  so  interessant  mit  Musik  und  mit  unseren  grossen  Dichtem 
beschäftigt  habe.     Für  solche  Leute,   die  von   Consequenz   der 

uiumzeu  uy  "»«^Ji  vyVjV  Iv^ 


Cultus.  373 

Gedanken  keine  Ahnung  haben,  hat  Strauss  geschrieben;  diese 
würden  die  englische  Sprache  auch  für  vokalreich  erklären,  weil 
eine  Engländerin  ein  italienisches  Lied  sang.  Es  ist  aber  für 
unsere  Frage  völlig  gleichgültig,  ob  der  Anhang  zum  „Alten  und 
neuen  Glauben^^  schön  und  geistreich  ist,  oder  nicht,  wenn  nicht 
bewiesen  werden  kann,  dass  die  atheistische  Sinnesart  des  Ver- 
fassers diese  Vorzüge  begründet.  Es  liegt  jedoch  auf  der  Hand, 
dass  umgekehrt  der  Atheismus  sowohl  eine  Unterhaltung  mit 
Göthe,  Shakespeare,  Bach,  Händel  u.  s.  w.  entwerthen  muss, 
als  solche  Leistungen  undenkbar  macht.  Der  „Anhang'^  stammt 
aus  den  besseren  pantheistischen  Zeiten  des  Verfassers,  und  so 
erquickt  er  sich  nur  wehmüthig  an  dem  Abglanz  der  schon  unter 
den  Horizont  gesunkenen  Sonne. 


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Die  drei  pantheistischen  Religionen. 


§  1.     Definition  und  Charalcteristik  des  Pantheismus. 

vorauwetxuDg:  ^^  ^^  ^^^  höheren  Fonnen  der  Religion  auf- 

Die  zusteigen,  müssen  wir  yon  der  letzten  Form  als 
^^gtgeh^^*  Ansatzpunkt  ausgehen.  Nun  hatte  der  Atheismus  die 
pcBuimisUache  projectivischen  Religionen  zerstört,  und  wir  können 
aummuDg.  ^[q^q  atheistische  Reflexion  noch  einmal  durch  den 
Dichter  aussprechen  lassen:  „Was  sollen  Eure  Götter,  des  kranken 
Weltplans  schlau  erdachte  Retter,  die  Menschenwitz  des  Menschen 
Nothdurft  leiht!^^  Und  weiter  auch  die  moralische  Beziehung 
hinwegnehmend  sagt  Schiller:  „Ehrwürdig  nur,  weil  Hüllen  sie 
verstecken,  der  Riesenschatten  unserer  eigenen  Schrecken  im  hohlen 
Spiegel  der  Gewissensangst/^  Der  Atheist  erkennt  also  den 
Ursprung  der  im  Hohlspiegel  der  Noth  und  der  Sünde  durch 
Furcht  und  Gewissen  gebildeten  projectivischen  Theologie.  Das 
Resultat  dieser  Kritik  ist  nun  das  Geftihl  der  Endlichkeit  und 
Nichtigkeit  der  Welt.  Alles  ist  eitel,  sagt  der  Weise.  Der 
Mensch  ist  wie  Heu  und  lebt  nur  eine  kurze  Spanne  Zeit,  um 
dann  in's  Grab  zu  sinken.  Es  bleibt  zwar  Furcht  und  Gefühl 
der  Scham,  aber  sie  wird  nicht  mehr  auf  Gott  bezogen,  sondern 
auf  endliche  Dinge  und  Personen,  die  man  durch  Witz  und  List 
unge&hrlich  machen  und  zeitweilig  zu  seinem  Vortheil  benutzen 
kann.  Wirft  der  Mensch  aber  einen  Blick  auf  das  Leben  im 
Ganzen,  so  muss  ihm  Alles  schaal  und  leer,  nutzlos  und  sinnlos, 
trostlos  und  öde  vorkommen,  weil  das  Göttliche  aus  der  Welt 
verschwunden  ist  und  nur  das  rathlose  Spiel  endlicher  Dinge  im 
Kampfe  um's  Dasein  und  um  das  Glück  übrig  blieb.  Es  giebt 
gewiss  einige  Naturen,  die  auch  in  dieser  Weltansicht  und  Reli- 
gionslosigkeit glücklich  sein  können,  denn  warum  sollten  nicht 
auch  Menschen  vorkommen,  deren  körperliche  Processe  sich  har- 

uiyuizeu  uy  x^j  v^  v^pc  iv^ 


Definition.  375 

fflonisch  auslösen  und  die  mit  einer  unverwüstlichen  Gesundheit 
und  besonders  mit  gutem  Magen,  wie  Sancho  Panza,  auch  in 
erbärmlichen  Verhältnissen  die  gute  Stimmung  ihres  Naturells 
geniessen  und  so  bei  rüstiger  Verfolgung  ihrer  persönlichen 
Interessen  im  Ganzen  trotz  mancherlei  Unglücksfallen  zufrieden 
und  vergnügt  sind.  Während  Cervantes  den  Sancho  aber  zu 
einem  ehrlichen  Gläubigen  der  Furchtreligion  gemacht  hat,  so 
muss  bei  den  höheren  Naturen  die  Entgötterung  der  Welt  einen 
Ueberdruss  an  der  Welt,  Verzweiflung  oder  Verachtung  des  ganzen 
irdischen  Getriebes  hervorrufen;  denn  da  sie  ihr  Ich  in  die  sinn- 
liche Seite  setzen  und  sich  mit  dem  sichtbaren  Menschen,  als 
welchen  sie  sich  anschauen  und  vorstellen,  eins  glauben,  so  muss 
sich  die  in  ihnen  wirkende  höhere  Natur  des  Geistes  über  die 
endliche  Creatur  und  ihre  Sphäre  erheben  und  ein  pessimistisches 
Bewusstsein  hervorbringen,  eine  elegische  Stimmung,  zerstörte 
Illusionen,  Menschen-  und  Selbstverachtung,  Eckel  an  der  Arbeit, 
das  Danaidenfass  der  Welt  mit  zu  füllen,  Weltüberdruss  und 
Lebenssattheit. 

Dieser  ganze  Zustand  der  Entzweiung  und  Un- 

Die  ooBAÜtutiTen 

einigkeit  muss  genauer  betrachtet  werden.    Wenn      Elemente  des 
das  Ich  wirklich  sich  bloss  als  diesen  in  den  Sinnen      Pantheiamim: 

Das  leb  als  Qeiat 

gegebenen  Menschen  auffasste  und  die  Welt  wirklich  und  das  ver- 
bloss  als  diese  in  der  Erfahrung  gegebene  Folge  whwinden  der 
von  Erscheinungen,  so  wäre  ein  Zwiespalt  im 
Menschen  unmöglich;  denn  tadeln  und  etwas  Höheres  und  Besseres 
wünschen  kann  man  nur,  wenn  ftlr  das  Bewusstsein  schon  ein 
andrer  Beziehungspunkt  vorhanden  ist,  auf  welchen  hinblickend 
man  das  Gegebene  als  mangelhaft  durch  Vergleichung  erkennt. 
Kein  Hund,  den  man  tritt,  kein  Ochs,  den  man  schlachtet,  findet 
das  Leben  und  die  Welt  schlecht,  weil  sie  nichts  andres  kennen 
und  keinen  Standpunkt  haben,  von  welchem  aus  sie  das  Gegebene 
betrachten  könnten.  Mithin  muss  das  Ich  diese  ausserhalb  der 
Erscheinungswelt  liegende  Sphäre  schon  erblickt  haben,  wenn  es 
zu  dem  atheistischen  Bewusstsein  und  der  pessimistischen  Stim- 
mung übergeht.  Solange  es  aber  bei  dem  Atheismus  bleibt,  ist 
nur  das  Bewusstsein  des  Zwiespaltes  vorhanden,  aber  noch 
keine  Besitzergreifung  der  neuen  Welt  erfolgt,  da  der  Blick  nur 
kritisch  und  negativ  der  Sinnenwelt  zugekehrt  ist.  Es  wäre 
aber  imnatürlich,  wenn  die  Menschheit  auf  dieser  Kippe  stehen 


376  Pantheismus. 

bleiben  sollte,  und  es  ist  vielmehr  in  der  Ordnung,  dass  der 
Bliek  sieh  nun  positiv  dem  neuen  Beziehungspunkt  zuwendet 
und  diese  neue  Welt  ftlr  das  Wesen  des  Ichs  erklärt  Diese 
neue  Welt  ist  der  Geist,  und  das  Ich  findet  sich  als 
Geist  und  als  Inhaber  derjenigen  Kräfte,  Gefühle  und  Ge- 
danken, die  es  bisher  bei  mangelndem  Selbstbewusstsein  in  der 
Aussenwelt  gesucht  und  seinen  Göttern  übertragen  oder,  kurz 
gesagt,  projicirt  hatte.  „Es  ist  nicht  draussen,  singt  der  von 
Kant  unterrichtete  Dichter,  da  sucht  es  der  Thor;  es  ist  in  Dir, 
Du  bringst  es  selber  hervor^^  Das  Ich  erkennt,  dass  seine  eigene 
Furcht  und  Hoffiiung  der  eigentlich  werthvolle  Inhalt  des  Götzen- 
dienstes ist,  und  dass  die  Götzen  ihre  Macht  und  Eigenschaften 
bloss  in  seinem  eigenen  Bewusstsein  haben,  dass  dieses  Bewusst- 
sein  also  selbst  die  Geburtsstätte,  der  Schauplatz  und  der  Inhalt 
seiner  Theologie  und  seines  Cultus  ist.  Ebenso  verschwindet 
der  Rechtsgott  in  dem  Gewissen,  sobald  das  Ich  seine  Projection 
zurücknimmt  und  nun  in  sich  selbst  den  göttlichen  Bichterstuhl 
anerkennt.  Kurz,  der  nächste  Schritt,  der  in  das  Gebiet  des 
Geistes  führt,  lässt  auch  zugleich  die  Götterwelt  im  Ich  ver- 
schwinden, um  das  früher  so  furchtsame  und  ehrerbietige  Ich 
nun  zum  Träger  der  göttlichen  Natur  selbst  zu  machen.  Der 
Atheismus  ist  also  die  Uebergangsstufe,  bei  welcher  nur  die 
schwachen  Naturen  stehen  bleiben,  während  die  kräftigeren  noth- 
wendig  zum  Pantheismus  weiter  gehen  müssen;  denn  da  der 
durch  die  Kritik  des  Atheisten  verloren  gegangene  Gott  draussen 
sich  gerade  in  dem  geistigen  Leben  des  Menschen  wiederfindet, 
so  muss  der  Mensch  sich  stolz  aufrichten  und  sein  Ich  nicht 
mehr  mit  der  sinnlichen  Seite  seines  Wesens  identificiren,  sondern 
es  als  Geist  und  damit  zugleich  als  göttlich  und  als  das  Höchste 
in  der  Welt  anerkennen.  Diese  Verlegung  des  Schwerpunktes 
des  Ichs  begründet  den  Pantheismus. 

Die  systematische  Topik  hat  demgemäss  die  verschiedenen 
Coordinationen  des  geistigen  Lebens,  welche  durch  den  Namen 
Pantheismus  in  Eine  Idee  zusammengefasst  werden,  fest  zu  legen. 
Zu  diesem  Zwecke  müssen  die  Beziehungspunkte  gegeben  sein. 
Nun  war  uns  bisher  gegeben  einmal  die  Götterwelt  und  zweitens 
das  Ich,  welche,  durch  die  Furcht  und  die  Sünde  verknüpft,  die 
zugehörigen  religiösen  Coordinationssysteme  lieferten.  Statt  der 
bisherigen  Beziehungsgründe   nehmen  wir  nun,   vom  Atheismus 

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Definition.  377 

geführt,  einen  neuen  auf,  nämlich  den  Geist  oder  die  geistigen 
Functionen  in  ihrer  selbstbewussten  Form.  Mit  diesem  neuen 
Beziehungsgrunde  (dem  Geiste)  haben  wir  daher  die  bisher  ge- 
gebenen Beziehungspunkte  einzeln  zusammenzuordnen,  nämlich 
erstens  die  Gott  er  weit  und  zweitens  das  Ich,  um  dement- 
sprechend als  Function  die  pantheistischen  Formen  der  Religion 
mit  ihren  eigenthümlichen  Coordinateusystemen  zu  erhalten.  Ob- 
gleich wir  aber  eben  die  Neugestaltung  der  Weltauffassung  und 
der  Gesinnung  schon  kurz  überblickten,  wollen  wir  doch  jetzt 
noch  genauer  Punkt  ftlr  Punkt  erörtern. 

Wenn  oben  gesagt  ist,  dass  das  Ich  sich  in  die 

^         ^  ^  1.  Dlo  Verlegung 

sinnliche  oder  in  die  geistige  Seite  des  Menschen     de«  schwer- 
setzt,  so  könnte  ein  ungeneigter  Leser  meinen,  das        p"°*^ 
„Setzen"  sei  in  dem  Sinne  und  nach  der  weder  psycho- 
logisch noch  logisch  begründeten  Methode  von  Fichte  geredet; 
allein  wir  wollen  hier  wissenschaftlicher  verfahren  und  auf  philo- 
sophische Strenge  der  Untersuchung  und  Beweisführung  Anspruch 
erheben.     Mit  Fichte's  Ich  und   seinen   Setzungen   wollen   wir 
nichts  zu  thun  haben. 

Nun  kann  Jeder  bemerken,  dass  das  Ich  dem  Menschen 
früh  zum  Bewusstsein  kommt;  aber  dieses  Bewusstsein  ist  kein 
wissenschaftliches,  und  es  gehört  überhaupt  zu  den  schwierigsten 
philosophischen  Aufgaben,  das  Wesen  des  Ichs  zu  bestimmen, 
was  man  schon  daraus  abnehmen  kann,  dass  Herbart  bei  seiner 
Kritik  Fichte's  in  der  Eidolologie  das  Ich  in  dem  Bewusstsein 
suchte  und  dort  überhaupt  nicht  finden  konnte,  es  sei  denn  als 
eine  leere  Stelle.  Wie  komisch  dies  Resultat  ist,  wurde  ihm 
nicht  klar;  er  hätte  sonst  eine  sinnvollere  Metaphysik  geliefert 
Wir  wollen  einen  Redner  hören  und  man  zeigt  uns  bloss  das 
Katheder  oder  die  Kanzel;  man  sucht  eine  Audienz  beim  Könige 
und  wird  bloss  zum  Thronsessel  geftlhrt.  Die  modernen  Posi- 
tivisten  bieten  aber  auch  nichts  Besseres,  da  sie  den  König  ftlr 
unsichtbar  und  unerforschlich  erklären  und  bloss  das  Königreich 
beschreiben.    Doch  genug  hiervon. 

Im  Anfang  nun  wird  sich  das  Ich  seiner  selbst  in  reiner 
Gestalt  nicht  bewusst,  sondern  gewinnt  nur  eine  Bruttoauffassung, 
wobei  die  Vorstellung  von  seinem  Körper  und  seinen  äusser- 
lichen  Handlungen  völlig  überwiegt  Wird  das  Seelenleben  tiefer, 
so  ftlhlt  sich  das  Ich  auch  als  unsichtbarer.  Thäter  seiner  Thaten 

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378  Pantheismus. 

und  erkennt  seine  geheimen  Motive,  seine  Begierden  und  Leiden- 
schaften. Da  aber  das  ganze  Leben  im  Anfange  nach  Aussen 
gerichtet  ist,  so  wird  auch  von  der  Seele  nur  die  sogenannte 
Sinnlichkeit  entwickelt,  d.  h.  die  Erfahrungserkenntniss,  die  zu- 
gehörige leidenschaftliche  Seite  des  Gemtiths  und  die  zugehörige 
Geschicklichkeit.  Fragt  man  also  einen  solchen  Menschen,  wer 
oder  was  er  eigentlich  sei,  so  kann  er  sich  nur  dieser  ganzen 
Region  bewusst  werden  und  nur  diese  für  sein  Ich  halten.  Das 
soll  es  bedeuten,  wenn  gesagt  wurde,  das  Ich  setze  sich  in  die 
sinnliche  Seite. 

Dieses  selbige  Urtheil  fällt  das  Ich  auch  über  sich  auf  der 
Stufe  der  Rechtsreligion;  denn  die  sittliche  Welt  des  Gewissens 
kommt  ihm  nur  in  vereinzelten  Acten  zum  Bewusstsein,  und  es 
hat  noch  nicht  seinen  Schwerpunkt  darin  gefunden,  sondern  weiss 
sich  nur  als  Ursache  der  Sünden.  Deshalb  fühlt  das  Ich  das 
Gesetz  über  und  ausser  sich  und  schreibt  es  einem  fremden 
Gesetzgeber  oder  dem  Willen  eines  Gottes  zu;  sich  selber  aber 
kennt  es  nur  in  den  vielartigen  und  unaufhörlichen  Begehrungen, 
Strebungen  und  Handlungen,  die  durch  das  Gesetz  mehr  oder 
weniger  getadelt  und  gestraft  werden.  Auch  hier  also  setzt  sich 
das  Ich  in  die  sinnliche  Seite. 

Sobald  aber  die  geistige  Entwickelung  grösser  geworden  ist, 
so  muss  nothwendig  die  sinnliche  kleiner  werden;  denn  das  Be- 
wusstsein hat  sein  Mass  und  kann  sich  nicht  mit  beliebig  viel 
Inhalt  erfüllen.  Folglich  ist  es  ganz  in  der  Ordnung,  dass  das 
Ich  sich  nun  als  den  Träger  und  Inhaber  der  zum  Uebergewicht 
gekommenen  geistigen  Welt  weiss  und  dass  die  äusseren  Götter 
verschwinden,  die  bisher  bei  ungebildeter  Erkenntniss  in's  Blaue 
projicirt  waren. 

Wollen  wir  die  Zustände  des  Bewusstseins  aber 
2.  Das  Ich    jjQ(.]j  genauer  erörtern!     So  lange  sich  das  Ich  in  die 

verschwindet      .       ,,   ,        ^    .  .,./..  .   ,  .       •.  i 

seiiMit.  smnliche  Seite  setzt,  identincirt  es  sich  mit  der  phy- 
sischen Erscheinung  des  Menschen  und  hat  also  schein- 
bar eine  festbegränzte  Gestalt  und  Grösse.  Alle  seine  Triebe 
und  Geftihle  spielen  innerhalb  dieses  Kreises,  und  das  Ich  weiss 
sich  also  als  ein  untheilbares  und  eigenes  Wesen  in  der  Sinnen- 
welt. Sobald  das  Ich  sich  aber  in  die  geistige  Seite  setzt,  so 
ist  Alles  verändert;  denn  der  Geist  ist  das  Allgemeine,  da 
die  geistigen  Güter  Allen  zukommen  können  und  die  geistigen 

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Defioition.  379 

Handlungen  ebenso  wie  die  Gefühle  und  Erkenntnisse  mittheilbar 
sind«  Sobald  daher  das  Ich  die  pantheistische  Stufe  der  Reli- 
gion erreicht  hat,  so  muss  auch  das  Ich  selbst  f\lr  sich  ver- 
schwinden. 

Denn  erstens  in  der  theoretischen  Sphäre  ninunt  es  bloss 
Theil  an  der  Wahrheit,  welche  von  Allen  erkannt  wird  und 
welche  in  Allen  ist.  Das  Ich  ist  theoretisch  nur  etwas,  sofern 
ein  Theil  dieser  allgemeinen  und  ewigen  Wahrheit  im  Bewusst- 
sein  offenbar  wird,  und  das  Ich  selbst  hat  dabei  keinen  Platz 
mehr,  sondern  muss  aus  seiner  eigenen  Betrachtung  erst  ver- 
schwunden sein,  ehe  es  die  objective  Wahrheit  fassen  kann.  Wie 
in  der  Geometrie  und  Arithmetik  kein  Ich  vorkommt,  so  auch 
in  keiner  Wissenschaft.  So  viel  einer  nebenbei  noch  an  sich 
denkt,  so  viel  verliert  er  an  äquivalentem  Wissen. 

Ebenso  zweitens  im  sittlichen  Geist  lebt  nur  das  unpersön- 
liche Urtheil  oder  Geftihl,  wodurch  wir  Gutes  und  Schlechtes 
scheiden,  Becht  und  Unrecht  bestimmen,  und  jede  Einmischung 
des  persönlichen  Ichs  verdirbt  das  Geftihl  und  fälscht  das  Ur- 
theil. Blind  urtheilt  die  Justitia.  So  sind  auch  alle  die  Ideen, 
die  im  sittlichen  Bewusstsein  offenbar  werden,  allgemein  und 
bringen  Begeisterung  und  dahör  Selbstvergessen  und  völlige 
Hingabe  mit  sich. 

Endlich  drittens  bietet  auch  die  handelnde  Bichtung  des  Gei- 
stes nur  das  Allgemeine,  da  das  Ich,  um  die  Aufgaben  des  Geistes 
zu  erftillen,  von  sich  absehen  muss  im  Dienste  der  Familie,  des 
Geschäftes  und  Amtes,  des  Staates,  der  Menschheit,  der  Civili- 
sation,  des  Fortschrittes  u.  s.  w.  Wer  dabei  an  sich  denkt,  gilt 
nicht  für  acht.     So  muss  auch  hier  das  Ich  verschwinden. 

Mithin  muss  das  Ich,  sofern  es  gelegentlich  an  sich  denkt, 
oder  wieder  in  die  sinnliche  Stufe  zeitweilig  herabsinkt,  sich 
nur  als  vorübergehende  Erscheinung  betrachten,  als  eine  ver- 
schwindende Welle  im  Oceane  des  allgemeinen  Lebens,  als  ein 
zerbrechliches  und  bald  zerbrochenes  Gefäss  flir  den  göttlichen 
Inhalt  der  Welt,  als  ein  im  Stoffwechsel  des  ewigen  Lebens  ftir 
einen  Augenblick  functionirendes  Organ,  kurz,  das  Ich  muss  in 
der  Gottheit  verschwinden,  die  nun  Alles  in  Allem  ist 

Es  ist  darum  natilrlich,  dass  in  allen  pantheis tischen  Reli- 
gionen von  Unsterblichkeit  der  Seele  keine  Rede  sein  kann,  weil 
das  Ich  zu  keinem  nennenswerthen  Bewusstsein  von  sich  selbst 

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380  Pantheismus. 

in  dieser  WeltauffaBsnng  gelangt*)  Da  es  aber  scheint,  dass  in 
einigen  pantheistischen  Beligionen  dennoch  die  Unsterblichkeit, 
z.  B.  in  der  Form  der  Wiedergeburten  und  Seelenwanderungen, 
eine  grosse  Kolle  spielt,  so  muss  dieser  scheinbare  Widerspruch 
bei  Erörterung  jener  Religionen  erklärt  werden.  Wir  können 
jedoch  schon  im  Voraus  hier  den  Grund  aller  derartigen 
Verwirrungen  einsehen;  denn,  da  die  wirklichen,  positiven  Be- 
ligionen, wie  schon  oft  hervorgehoben  ist,  keine  reinen  Formen 
haben,  sondern  erzartig  mit  den  Formen  der  anderen  Beligionen 
vermischt  vorkommen,  so  können  uns  solche  Widersprüche  weder 
stören,  noch  verwundem.  Die  menschliche  Seele  ist  vielmehr 
von  Haus  aus  den  verschiedenartigsten  Einflüssen  preisgegeben 
und  verträgt  die  seltsamsten  Widerspruche,  die  sich  aus  dem 
angeborenen  Naturell  und  den  geschichtlichen  Einwirkungen  sehr 
leicht  erklären  lassen,  sehr  schwer  aber  von  jeder  Seele  selbst 
in  geistigem  Kampfe  zu  Eintracht  und  Einklang  geordnet  und 
umgebildet  werden.  Hier  aber  in  der  Beligionswissenschaft  haben 
wir  zunächst  mit  den  specifischen  Charakteren  der  reinen  Beli- 
gionsformen  zu  thun  und  müssen  die  Lehrsätze  finden,  welche 
schlechthin  und  unbedingt  gelten,  wenn  auch  die  Wirklichkeit 
lauter  unreine  und  verstümmelte  Formen  zeigen  sollte. 

€h»rak.  ^*  ^^^  ^^^  ^^^  ^^  ^^^  Göttliche  verschwindet, 

teristiudes  so  muss  das  Ziel  des  Pantheismus  nothwendig  die 

p»ntiieis.    Vergottung  des  Menschen  sein,   wie  dies  auch  von 


1.  vergottuDg  ^®^  bedeutenderen  Pantheisten  ausgesprochen  und 
und  ewiges  ihnen  klar  zu  Bewusstsein  gekonunen  ist.  Bei  den 
Neuplatonikem  hat  man  den  bestimmten  Ausdruck: 
aÄo*eoöo*ai  d.  h.  Vergottung,  der  deshalb  auch  von  vielen  Kirchen- 
vätern, wie  z.  B.  von  dem  heiligen  Hippolytos  und  anderen 
wiederholt  wird,  weil  sie  ihre  Schulung  durch  den  Piatonismas 
erhielten  und  deshalb  das  Christenthum  nicht  überall  richtig  er- 
fassten,  sondern  die  platonisch -pantheistische  Weltbetrachtung 
der  christlichen  unterschoben. 

Dass  dieses  Ziel  ein  falsches  ist,  werden  wir  erst  bei  dem 
Studium  des  Christenthums  erkennen,  wo  allein  der  richtige  Be- 

*3  Darum  ist  auch  in  der  neuesten  pantheistischen  Metaphysik  Lotzens 
diis  Ich  geradezu  eine  komische  Figur  geworden,  da  es  bei  traumlosem  Schlafe 
nächtlich  absolut  zu  Nichts  werden  soll,  um  doch  am  andern  Morgen  ganz 
vergnügt  wieder  dazusein.  Nichts  und  Sein  werden  von  Lotze  wie  Sommer- 
und  Winterresidenz  betrachtet. 

uiymzeu  i 


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Definition.  381 

griff  der  Substanz  gefunden  und  das  Ich  als  selbständiges  ewi- 
ges Wesen  festgehalten  wird;  hier  dagegen  muss  uns  zunächst 
diese  pantheistische  Forderung  in  ihrer  eigenthtimlichen  Grösse 
und  Herrlichkeit  imponiren,  da  sie  uns  mit  tiberirdischer  Kraft 
über  die  Knechtsgestalt  des  Menschen  in  den  früheren  Religio- 
nen erhebt  und  zu  einem  Ziele  zu  ftthren  scheint,  das  nicht  mehr 
überboten  werden  kann.  Denn  mit  dem  Göttlichen,  in  welches 
der  menschliche  Geist  aufgeht,  wird  uns  jetzt  auch  der  ganze 
Inhalt  der  Gottheit  gegeben,  die  höchste  Macht  und  Freiheit, 
die  Glückseligkeit  in  ungemischter  Freude  und  die  Wahrheit 
Wir  werden  sehen,  wie  die  verschiedenen  pantheistischen  Reli- 
gionsformen diese  höchsten  Wesensbestimmungen  der  Gottheit 
in  dem  Vollendeten  und  Erleuchteten,  d.  h.  in  dem  wahrhaft 
Religiösen,  anerkennen.  Der  Jogi  lenkt  den  Himmel  und  ge- 
bietet über  die  Natur,  er  hat  die  Wahrheit  erkannt  und  ist 
selbst  die  Wahrheit,  und  er  geniesst  die  Seligkeit.  Sobald  er 
in  die  wahrhafte  religiöse  Höhe  gelangt  ist,  fallen  auch  die 
zeitlichen  Schlacken  von  ihm  ab,  und  er  geniesst  in  der  wesen- 
haften Natur  des  Göttlichen,  das  ja  nicht  in  der  Zeit  ist,  son- 
dern als  Wesen  alles  Zeitliche  durchdringt,  ein  ewiges  Leben. 
Diese  Ewigkeit  ist  keine  Zeitbestinmiung  und  bedeutet  im  Pan- 
theismus nicht  etwa  ein  Leben  nach  dem  Tode  in  zeitlicher 
Form,  sondern  es  ist  eine  Beschaffenheit  (Qualität),  sofern  der 
Inhalt  des  geistigen  Lebens  selbst  das  zeitlose  Gesetz  und  We- 
sen der  Welt  in  sich  schliesst  und  es  zum  Bewusstsein  und  zur 
Selbstoffenbarung  und  zum  eigenen  seligen  Genuss  bringt. 

Zu  dem  specifischen  Charakter  des  Pantheismus 
^fge^m^n"*  gehört  es  daher  zweitens,  dass  die  Religion  nicht 
im  Glauben  besteht  und  dasd  es  darin  keine  Gläu- 
bige mehr  giebt,  während  die  Religiösen  der  vorigen  Stufen  noth- 
wendig  als  Gläubige  zu  bezeichnen  waren,  da  die  Gottesvorstel- 
lungen  flir  die  Religion  der  Furcht  und  der  Sünde  nicht  auf  Er- 
kenntniss,  sondern  auf  Meinung  und  Glauben  beruhten.  Während 
die  Priester  die  Wissenden  waren  in  der  Religion  der  Furcht, 
sofern  sie  eben  nicht  selber  glaubten  und  also  gewissermassen 
an  der  Religion  nicht  theilnahmen,  soudern  bloss  den  Laien  als 
Gläubigen  Vorschriften  gaben,  und  während  in  der  Religion  des 
Gewissens  die  Propheten  selbst  nur  in  höherer  Erregung  das 
Wort  Gottes  vernahmen  und  es  nicht  in  sicherer  Erkenntniss  be- 

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382  Pantbeisinua. 

sassen  und  lehren  konnten,  so  muss  es  umgekehrt  für  den  Pan- 
theismus eharakteristisch  sein,  dass  seine  Eingeweihten  die  Fülle 
des  göttlichen  Lebens  besitzen  und  nichts  draussen  mehr  zu 
glauben,  zu  fürchten  und  zu  hoffen  haben.  Mithin  sind  sie 
Götter  geworden  oder  Göttliche  (Wol  tj  ^eiot).  Sofern  die 
Stufe  pantheistischer  Erkenntniss  oder  Erleuchtung  und  Verklä- 
rung aber  noch  nicht  erreicht  ist,  so  yerhalten  sich  die  Einzu- 
weihenden und  Schüler  dennoch  nicht  als  Gläubige  dieser  Re- 
ligion, sondern  sie  sind  eben  noch  keine  Pantheisten  und  ge- 
hören als  Gläubige  den  früheren  Stufen  der  Keligion  an,  indem 
das  Motiy  der  Gottesfurcht  oder  das  Bedürfiiiss  nach  Gnade  und 
Erlösung  sie  beseelt  Bis  man  Pantheist  wird,  ist  man  daher 
entweder  Bekenner  und  Gläubiger  der  Macht-  oder  Rechtsreligion 
oder  Atheist;  gläubige  Pantheisten  aber  kann  es  nicht  geben, 
da  der  Begriff  dieser  Weltanschauung  den  Glauben  ausschliesst. 
Man  darf  sich  bei  diesem  Lehrsatz  auch  nicht  etwa  durch  die 
Thatsache  irre  machen  lassen,  dass  z.  B.  von  den  Brahmanen 
doch  die  übrigen  Stämme  als  Gläubige  betrachtet  wurden;  denn 
der  Brahmanismus  ist  eben  eine  gemischte  Religion,  und  wenn 
man  den  Pantheismus  darin  abgesondert  hat,  so  bleibt  für  die 
Gläubigen  eine  nicht -pantheistische  Rechts-  und  Furchtreligion 
übrig,  in  welcher  die  Götter  und  Sühnungen  und  Opfer  ganz 
dieselbe  Rolle  spielen,  wie  sonst  überall  in  diesen  Religionen. 


§  2.    Division  des  Pantheismus. 
Das  Wie  ich  sehe,  fasst  man  den  Pantheismus  über- 

f^dimimdls  ^^  *^®  ®^^®  einfache  Weltanschauung  oder  Reli- 
Pantbeismuft.  gionsform  attf;  denn,  wenn  man  einen  naturalistischen 
und  idealistischen  Pantheismus  unterscheidet,  so  beweist  dies 
bloss,  dass  man  nur  an  philosophische  Systeme  gedacht  und  die 
Religion  nicht  in  ihrem  Motiv  und  ihrem  lebendigen  Zusammen- 
hang verstanden  hat. 

Es  gehört  aber  in  aller  Wissenschaft  nicht  bloss  zu  den 
schwierigsten,  sondern  auch  zu  den  fruchtbarsten  Aufgaben,  das 
Fundament  einer  Eintheilung  aufzufinden  und  sicher  festzustellen. 
Darum  dürfen  wir  uns  nicht  gleich  in  die  interessanten  Gedan- 
ken der  Pantheisten  stürzen,  sondern  müssen  die  scheinbar  pe- 
dantische, aber  ftlr  eine  höher  entwickelte  wissenschaftliche  Bil- 

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Division.  383 

dang  viel' interessantere  Frage  nach  dem  fondamentam  divisionis 
erörtern. 

Wollten  wir  nun  naturalistischen  und  idealistischen  Pan- 
theismus scheiden,  so  wäre  das  Fundament  die  Gottesidee,  die 
nach  den  beiden  von  den  Philosophen  angenommenen  höchsten  ^ 
Gegensätzen  „Denken  und  Ausdehnung''  oder  „ Ideales  undKeales** 
getheilt  würde.  Allein  diese  Gegensätze  sind  nicht  die  höchsten, 
und  diese  ganze  bisher  übliche  philosophische  Auffassung  ist 
falsch,  wie  ich  dies  in  meiner  Grundlegung  der  Metaphysik  ge- 
nügend nachgewiesen  habe.  Auch  besteht  die  Religion  nicht  . 
bloss  in  Vorstellungen  über  das  Wesen  der  Gottheit  Also  muss 
das  Fundament  tiefer  gelegt  werden. 

Gehen  wir  aber  auf  den  Ursprung  des  Pantheismus  zurück, 
so  verschwanden  ja  die  Götter  in  den  Geist,  und  das  Ich  in  das 
Göttliche  des  Geistes.  Da  haben  wir  sofort  die  Indication; 
denn,  wenn  das  Ich  bei  dieser  religiösen  Auffassung  verschwindet, 
so  ist  dies  ein  Zeichen,  dass  es  sich  noch  nicht  von  seinen 
Thätigkeiten  (Realität)  und  ihrem  Inhalte  (Idealität)  getrennt 
und  als  Wesen  erkannt  hat.  Mithin  liegt  in  diesem  Ursprung 
des  Pantheismus  zugleich  der  hinreichende  Grund,  um  ihn  zu 
widerlegen  und  eine  höhere  Religion  zu  fordern,  wie  auch  das 
rechte  Fundament,  um  ihn  in  fest  und  natürlich  bestimmte  Arten 
einzutheilen. 

Denn  wenn  das  Ich  sich  pantheistisch  als  Geist  betrachtet, 
so  begeht  es  einen  Irrthum;  denn  der  Geist  ist  ja  eine  blosse 
Thätigkeit  des  Ichs  und  ein  Inhalt  dieser  Thätigkeit,  da  das 
Ich  auch  zuweilen  geistlos  ist  und  schlafen  kann,  ohne  aufzu- 
hören, ein  selbständiges  Wesen  und  Grund  von  sogenannten 
äusseren  und  inneren  Functionen  zu  sein.  Setzt  der  Pantheis- 
mus aber  das  Ich  als  Geist,  d.  h.  als  Thätigkeit,  so  muss  er 
nothwendig  in  drei  Arten  auftreten  können,  da  die  Thätigkeiten 
des  Ichs  dreifach  sind.  So  haben  wir  das  Fundament  einer  Ein- 
theilung  zugleich  gefunden  und  es  sicher  festgestellt,  da  es  nur 
mit  dem  Ursprung  und  Wesen  des  Pantheismus  zugleich  wegge- 
nommen werden  könnte,  also  ebenso  nothwendig  und  gewiss, 
wie  der  Pantheismus  selber  ist. 

Der  Pantheismus  folgt  nun  willig  unserem  Zügel 

Die  Einthellang  o  o  o 

des         und  geht  in  drei  Richtungen  auseinander,  je  nach- 
ptntheismuB.    flem  q{j^q  ^q^  ^j,^[  Thätigkeitsformcn  der  Seele  im 

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384  Pantheismus. 

Uebergewichte  ist  Ich  sage:  im  Uebergewichte,  weil  man  sich 
nicht  einbilden  darf,  als  wenn  der  Geist  sich  theilen  könnte,  wie 
man  einen  Knchen  zerschneidet.  Denn  die  drei  Thätigkeiten  der 
Seele,  die  handelnde,  fehlende  und  erkennende  Thätigkeit,  hängen 
innerlich  zusammen,  da  die  Handlungen  vom  Geftlhl  erregt  und 
vom  Erkennen  geleitet  werden,  wie  die  Geftihle  von  Handlungen 
und  Vorstellungen  entspringen  und  wie  die  Erkenntniss  vom  Ge- 
fühl geleitet  und  von  der  handelnden  Kraft  durchdrungen  sein 
muss,  um  die  Vorstellungen  herbeizuführen  und  zu  trennen.  Also 
kann  es  sich  nur  um  jein  Uebergewicht  der  Einen  oder  der  an- 
deren Seite  drehen.  Wie  der  Gelehrte  e'in  Gelehrter  heisst, 
nicht  weil  er  allein  etwas  gelernt  hätte  und  die  Andern  nichts, 
sondern  weil  er  mehr  gelernt  hat,  als  die  andern  Stände  und 
sich  mehr  mit  dem  Lernen  beschäftigt,  und  vHe  man  einige 
Menschen  geftlhlvoU  nennt,  nicht  weil  die  andern  gar  keine  Ge- 
fühle hätten:  so  sollen  auch  die  Arten  des  Pantheismus  nur  so 
verstanden  werden,  dass  Eine  der  drei  Thätigkeitsformen  des 
Menschen  jedesmal  den  Mittelpunkt  des  Interesses  oder  das 
Uebergewicht  bilde,  während  die  anderen  beiden  nur  unterstützend 
und  näher  bestimmend  hinzutreten. 

Wir  unterscheiden  also  drei  lebendige  und  principiell  ge- 
trennte Arten  pantheistischer  Religion.  Die  erste  geniesst  das 
göttliche  Leben  in  der  freien  und  schöpferischen  Arbeit  und 
Thätigkeit  des  Menschen;  die  zweite  einigt  sich  mit  der  Gottheit 
in  dem  alles  Irdische  verzehrenden  Feuer  des  Gefühls  und  der 
reinen  Seligkeit  göttlichen  Wollens;  die  dritte  scheint  Handlung 
und  Gefühl  wegzuwerfen,  um  in  ungestörter  Einsamkeit  des  Ge- 
dankens in  der  Gottheit  zu  verschwinden  und  dadurch  die  Fülle 
ihrer  Gegenwart  zu  erleben. 

Wenn  wir  nun  den  verführerischen  Einfiüsterun- 
ul!d*werthbt-    8®^    "^^    hingeben    wollten,    die    von    Seiten     der 
stimmang  der   Hegclianef  ausgcheu,  so  mttssten  wir  sofort  die  Arten 
^''®"'        des  Pantheismus  in  eine  bestimmte  Begriffsentwicke- 
lung auflösen,  um  ihre  dialektische  Aufeinanderfolge  zu  regeln. 
Nach  dem  Schema  Hegel's  wäre  das  natürlich  kinderleicht;  denn 
der  handelnde  Pantheismus  entspräche  der  Objectivität,  der  quie- 
tistische  der  subjectiven  Negativität  und   der  theoretische   dem 
Princip  der  höheren  Einheit.    Demgemäss  wäre  dann  auch  die 
Werthbestimmung  der  drei  Arten  schnell  abgemacht,  da  sie  den 
Entwickelungsstufen  parallel  läuft.  ^  j 

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Division.  385 

Allein  die  Hegersche  Dialektik  ist  schon  gewogen  und  zu 
leicht  befiinden.  Ich  habe  über  diese  Frage  auch  mein  Theil 
beigebracht  in  meiner  Metaphysik  und  flige  hier  hinzu,  dass  man 
die  drei  Winkel  des  Dreieckes  nicht  in  einem  dialektischen  Pro- 
cesse  evolviren  kann.  Welcher  ist  der  erste?  welcher  vertritt  das 
negative  Moment?  welcher  ist  die  höhere  Wahrheit  der  beiden 
andern?  Und  auch  die  vier  Arten  von  Parallelogrammen  könnten 
nur  in  spielerischer  Phantasie  dialektisch  geordnet  werden;  es 
wäre  ja  zum  Spott,  wenn  man  bei  solchem  Versuche  ernsthaft 
bliebe.  Ebenso  ungereimt  aber  wäre  die  dialektische  Gliederung 
der  pantheistischen  Religionsformen,  da  sie  ohne  Werden  zu- 
sammengehören,  wie  die  drei  Winkel  des  Dreiecks.  Die  dialek- 
tische Entwickelung  aber  Hesse  sich  beliebig  wenden,  da  man 
z.  B.  auch  die  erste  Form,  den  handelnden  Pantheismus,  als  die 
höhere  Einheit  aus  dem  theoretischen  und  sentimentalen  Pan- 
theismus ableiten  könnte.  Meine  neue  Dialektik  der  metaphysi- 
schen Coordination  genügt  aber  dem  logischen  Ordnungsbedürf- 
niss,  ohne  der  historischen  und  metaphysischen  Wahrheit  zu 
widersprechen;  denn  wie  die  drei  Winkel  im  Dreiecke  zusammen- 
gehören und  sich  wechselseitig  fordern,  so  gehören  auch  die  drei 
Arten  des  Pantheismus  zusammen,  da  sie  den  drei  Elementen 
der  Keligion,  der  Ethik,  Dogmatik  und  dem  Cultus  und  den  drei 
darin  wirkenden  Vermögen  der  Seele  entsprechen.  Die  Beihen- 
folge  in  der  Darstellung  ist  deshalb  willkürlich,  wie  man  bei  der 
Zeichnung  eines  Quadrates  auch  beliebig  mit  jedem  der  vier 
Winkel  beginnen  kann,  obgleich  jeder  durch  seine  Lage  im  Baum 
von  dem  andern  verschieden  ist. 

Auch  die  Werthbestimmung  der  drei  Arten  ist  nur  so  durch- 
zuführen, dass  man  alle  drei  als  falsche  Weltaufifassungen  in 
gleichen  Abstand  von  der  Wahrheit  stellt,  ohne  eine  oder  die 
andere  der  Wahrheit  näher  zu  rücken  und  den  beiden  andern 
vorzuziehen.  Denn  keines  unserer  drei  geistigen  Vermögen  ist 
besser  oder  schlechter  als  das  andere,  da  jedes  die  andern  in 
sich  schliesst.  Wie  die  Theologen  wohl  in  grosse  Verlegenheit 
kommen  würden,  wenn  sie  zwischen  Gottes  Macht,  Liebe  und 
Weisheit  wählen  sollten,  da  die  eine  Eigenschaft  die  andere  vor- 
aussetzt und  jede  ohne  jede  andere  sinnlos  oder  werthlos  oder 
machtlos  wäre,  so  sind  auch  die  drei  pantheistischen  Beligions- 
formen  gleichwerthig,  weil  sie  mit  gleichem  Fehler  sich  einer  der 

Teiohmäller,  Religionsphilosophie.  25  C^ r\r^rs]{> 

uiyiiizeu  uy  V^JvJvJV  Iv, 


386  Pantheismus. 

drei  Thätigkeitsweisen  des  Geistes  allein  hingeben  nud  die  an- 
deren ebenso  yernachlässigen,  wie  sie  überhaupt  das  Wesen  des 
Ichs  und  seiner  metaphysischen  Beziehungen  gänzlich  verfehlen. 
Um  aber  bei  der  Untersnchnng  des  Pantheismus  nicht 
dem  blossen  Zufall,  wie  die  Fahne  dem  Blasen  des  Windes, 
die  Richtung  zu  yerdanken,  so  wollen  wir  von  dem  Bekann- 
teren zu  dem  Unbekannteren  fortschreiten  und  werden  dabei 
sehen,  dass  diese  Keihenfolge  auch  der  Verbreitung  der 
Religionsform  entspricht,  indem  die  bekannteste  auch  die  ver- 
breitetste  ist  Sollte  man  einwenden,  dass  der  theoretische  Pan- 
theismus, welchen  wir  zuletzt  behandeln,  doch  in  dem  Brah- 
manismus  die  verbreitetste  und  bekannteste  Religion  sei,  so 
braucht  man  zur  Antwort  nur  zu  lächeln,  da  die  Adepten  unter 
den  Brahmanen  ja  sehr  wenige  sind  und  alle  die  Nichterleuch- 
teten, wie  die  übrigen  Kasten,  nur  dem  Namen  nach  zur  selben 
Religion  gehören,  wie  ja  auch  David  Strauss,  Moleschott  und 
Unzählige  dieser  Art  zur  christlichen  Kirche  gerechnet  werden. 
Wir  suchen  hier  eine  wissenschaftliche  Eintheilung  der  Religions- 
formen und  werden  uns  nicht  einfallen  lassen,  die  empirisch  vor- 
kommenden Religionen  fiir  reine  Formen  und  alle  ihre  Bekenner 
für  Gläubige  gleicher  Art  zu  halten,  wie  wir  auch  seit  der  all- 
gemeinen Wehrpflicht  wohl  wissen,  dass  unter  derselben  Uniform 
ein  Bauer,  ein  Gelehrter,  ein  Künstler  u.  s.  w.  stecken  kann. 


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L   Der  Pantheismus  der  That. 

Das  Motiv  des  Pantheismus  überhaupt  ist  die  aus  dem 
Atheismus  überkommene  Stinmiung  im  Hinblick  auf  die  Nichtigkeit 
der  Welt,  das  Gefühl  der  Gottleere,  Gottverlassenheit  oder  Gottlosig- 
keit Da  nach  der  Organisation  des  menschlichen  Geistes  dieses 
Gefühl  dem  Hunger  entspricht,  so  muss  die  Gottheit  als  Nahrung 
gesucht  werden,  und  da  die  Gottheit  draussen  verschwunden  ist, 
so  muss  uns  nun  das  im  Geiste  aufgefundene  Göttliche  satt 
machen. 

Von  den  drei  geistigen  Vermögen  wollen  wir  zuerst  das  der 
That  betrachten,  weil  dieses  nach  Aussen  tritt  und  daher  am 
Auffälligsten  und  gewissermassen  am  Bekanntesten  ist. 

Da  die  Definition  dieser  Religionsform   schon 

Elntbeilang. 

bei  der  Eintheilung  des  Pantheismus  überhaupt  (S.  oben 
S.  384)  deducirt  ist,  so  bleibt  uns  nur  die  Aufgabe,  zunächst 
wieder  eine  Eintheilung  dieser  ersten  Gattung  des  Pantheis- 
mus zu  versuchen;  denn  es  ist  roh,  das  verschieden  Geartete 
alles  durcheinander  in  Einen  Sack  zu  stecken,  und  es  ist  Sache 
der  Bildung,  jede  Eigenthümlichkeit  zu  beachten,  zu  verstehen 
und  richtig  zu  verwenden,  um  aber  geschickt  einzutheilen,  muss 
man  vorher  geschickt  analysiren;  denn  aus  dem  inneren  Wesen 
der  Sache  heraus  erfolgt  immer  die  Gliederung.  Nichts  gliedert 
sich  aber  ohne  «äusseren  Beziehungspunkt,  mit  dem  es  sich  coor- 
dinirt;  für  beständige  Gliederungen  muss  man  daher  beständige 
Beziehungspunkte  finden. 

Nach  dieser  Ueberlegung  können  wir  nun  leicht  unser  Werk 
vollziehen.  Wir  erinnern  uns  zuerst  daran,  dass  sich  überhaupt 
die  Seele  nicht  regen  und  bewegen  Vvtirde,  wenn  ihre  Thätig- 
keiten  nicht  ausgelöst  würden  durch  ein  Gefühl.  Mithin  liegen 
in  dem  Gefühl  die  constanten  äusseren  Beziehungspunkte  für 
die  zugeordneten  Thätigkeiten.  In  dem  Gefühl  unterscheiden 
wir  aber  analytisch  erstens   diejenige   qualitativ  eigenthümliche 


B88  Pantheismus  der  That. 

Grappe,  welche  sich  auf  das  gesellschaftliche  Zusammensein  von 
Seele  und  Leib  bezieht  und  also  die  sogenannte  Sinnlichkeit, 
oder  die  Region  der  Begierden  und  das  ganze  natürliche  Wohl- 
sein und  Unbehagen,  das  irdische  Glttck  und  Unglück  umfasst. 
Dieser  im  Wesen  des  Gefühls  liegenden  Constanten  entspricht 
nun  in  festen  Handlungsweisen  die  ganze  durch  die  Noth  be- 
stimmte Technik  des  Menschen.  Ich  nenne  die  zugehörige  reli- 
giöse Gesinnung  und  Weltauffassung  den  Fortschrittsenthusias- 
mus, welcher  die  der  projectivischen  Furchtreligion  homologe 
pantheistische  Religionsform  ist 

Die  Analysis  hat  aber  zweitens  im  Gefühl  die  Region  des 
Gewissens  mit  den  zugeordneten  sittlichen  Ideen  aufzufinden. 
Dieser  äusseren  Constante  coordiniren  sich  wieder  besondere 
Thätigkeiten,  und  die  auf  dieselben  begründete  Religionsform  nenne 
ich  nach  ihren  drei  Sphären  die  pantheistische  Werkheilig- 
keit, den  Staats-  und  den  Kirchen-Enthusiasmus.  Dieser 
Pantheismus  ist  homolog  der  projectivischen  Rechtsreligion. 

Wir  müssen  nun  aber  drittens  auf  eine  Religionsform  kom- 
men, die  keine  projectivische  Analogie  kennt,  sondern  gänzlich 
neu  ist;  ich  nenne  sie  den  pantheistischen  Kunstenthusias- 
mus; denn  bei  diesem  hat  das  zugeordnete  sogenannte  ästheti- 
sche Gefühl  mit  den  zugehörigen  ästhetischen  Ideen  keine  an- 
dere Beziehung  als  zur  Handlung  und  Thätigkeit  selbst 

Hiermit  ist  die  Eintheilung  geschlossen;  denn  es  findet  die 
Analyse. zwar  noch  eine  Gruppe  von  Gefühlen,  nämlich  diejeni- 
gen, welche  sich  auf  die  Wahrheit  beziehen;  allein  diese  haben 
eben,  weil  sie  auf  den  idealen  Inhalt  gehen  und  keine  äusse- 
ren, sondern  nur  Denkthätigkeiten  hervoiTufen,  mit  dem  Pan- 
theismus der  nach  Aussen  tretenden  That  nichts  zu  thun,  son- 
dern werden  erst  bei  der  Religion  des  reinen  Denkens  zu  ihrem 
Recht  kommen. 

Das  Specifische  der  drei  von  uns  deducirten  Formen  bezeugt 
sich  dadurch,  dass  erstens  in  jedem  der  di*ei  Gebiete  das  Be- 
wegungsvermögen sich  zu  einer  besonderen  Fertigkeit  ent- 
wickelt, welche  niemals  in  einem  der  andern  Gebiete  etwas  lei- 
sten könnte,  und  dass  zweitens  zur  Wirksamkeit  in  jedem  Ge- 
biete ein  besonderes  Motiv  treibt,  welches  niemals  in  einem 
der  anderen  Gebiete  eine  Wirkung  hervorbringen  würde. 


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Erstes  Capitel. 
Der  Fortschrittsenthusiasmns. 


Am  verbreitetsien  von  allen  pantheistischen  Stimmungen 
muBS  wohl  unzweifelhaft  der  GennsB  der  Arbeit  selbst  sein; 
denn  da  der  Pantheist  keine  Götter  ausserhalb  der  Welt  glaubt 
und  deshalb  auch  keine  Ziele  ausserhalb  der  Welt  sucht,  in  der 
Welt  aber  die  Noth  und  die  Bedürfnisse  von  allen  Seiten  den 
Menschen  bedrängen,  so  richtet  sich  die  erste  Aufinerksamkeit 
und  Achtung  auf  unsere  That,  durch  welche  wir  die  Noth  be- 
zwingen, die  äusseren  Dinge  umgestalten  und  sie  zu  unserer  Be- 
friedigung einrichten.  Die  Arbeit  steht  deshalb  in  wesent- 
licher Coordination  zu  der  Befriedigung  und  zum  sogenannten 
Glück  des  Menschen,  welches  als  Summe  aller  Befriedigungen 
betrachtet  wird. 

In  dieser  Beziehung  nennen  wir  die  Arbeit  nützlich,  und 
die  durch  nützliche  Arbeit  umgestalteten  Dinge  bilden  Güter, 
welche  zu  einander  stimmen  und  sich  unter  einander  stützen,  so 
dass  sie  nach  Erledigung  gewisser  Arbeiten  eine  höhere  und 
nützlichere  neue  Arbeit  ermöglichen,  wie  z.  B.  wenn  der  Wald 
urbar  gemacht  ist,  hernach  Weizen  oder  Mais  gesäet  werden 
kann,  wenn  dieser  aber  eingeerntet  ist,  Mühlen  und  Bäckereien 
Yon  Nöthen  sind  u.  s.  w.  Mithin  liegt  in  der  Organisation  der 
Arbeit  eine  Ordnung,  die  zu  inuner  yoUkommeneren  Leistungen, 
also  zu  dem  sogenannten  Fortschritt  führt.  In  dem  Zusammen- 
hang aller  Arbeiten,  durch  welche  möglichst  viel  Bedürftiisse 
durch  möglichst  viel  Güter  gedeckt  werden,  besteht  der  Zustand 
und  Grad  der  Givilisation,  worin  sich  ein  Volk  befindet,  und 
die  Wissenschaft,  welche  die  Gesetze  und  Bedingungen  der  Her- 
stellung möglichsten  Glückes  untersucht,  ist  die  sogenannte  Volks- 
wirthschaftslehre  oder  Gesellschaftswissenschaft  in  engerem  und 


oogle 


390  PantheismuB  der  That. 

eigentlichem  Sinne,  wobei  die  ethischen  und  die  tlbrigen  idealen 
Interessen  ans  dem  Spiele  bleiben. 

Obgleich  nun  für  die  Arbeitsleistungen  zunächst  nur  die 
Selbstsucht,  d.  h.  das  Streben  nach  Befriedigung  des  eigenen 
Bedürfiiisses,  yorausgesctzt  wird,  so  zeigt  sich  doch  bald,  dass 
die  Bedürfnisse  aller  Menschen,  ebenso  wie  die  Möglichkeit  ihrer 
Befriedigungen,  untereinander  in  einer  wechselseitigen  Ab- 
hängigkeit stehen,  so  dass  Jeder,  um  seinen  eigenen  Nutzen 
zu  fördern,  auch  den  Nutzen  der  Andern  in's  Auge  fassen  mnss. 
Mithin  bildet  sich  mit  der  Zeit  die  Idee  des  Gemeinwohls 
oder  der  allgemeinen  menschlichen  Glückseligkeit  aus, 
welche  nicht  nur  die  gesammte  Nation,  sondern  in  immer  weite- 
ren Kreisen  zuletzt  auch  die  ganze  Menschheit  unserer  Erde,  ja 
sogar  die  zukünftigen  Geschlechter,  denen  unsere  Arbeiten  noch 
zu  Gute  konmien  werden,  mit  umfasst 

Es  giebt  nun  gewiss  sehr  viele  Menschen,  die 
nicht  aus  Furcht  vor  einem  überirdischen  Gotte,  auch 
nicht,  weil  ihr  Gewissen  sie  zum  Gehorsam  unter  ein  göttliches 
Gesetz  bände,  sondern  bloss,  weil  sie  ihrem  sonst  leeren  und 
werthlosen  Leben  einen  Inhalt  und  Werth  geben  wollen,  sich 
der  Arbeit  widmen  und,  indem  sie  Nutzen  stiften,  Güter  zur  Be- 
friedigung der  menschlichen  Bedürftiisse  schaffen  und  dem  Fort- 
schritte der  allgemeinen  Civilisation  dienen,  auch  eine  innere  Be- 
friedigung fühlen  und  ein  entsprechendes  Glück  gemessen. 

Das  Motiv  dieser  Beligion  ist  durch  drei  Gefühle  auszu- 
drücken, erstens  durch  die  Furcht  vor  den  Uebeln,  die  im  All- 
gemeinen der  Menschheit  drohen,  zweitens  durch  die  Hoffnung 
auf  die  Ueberwindung  aller  Uebel  durch  unsere  fortschreitende 
Arbeit  und  drittens  durch  die  Empfindung  der  Lust  an  der 
Arbeit  selbst  Diese  Arbeitslust  muss  noch  genauer  erörtert 
werden;  denn  ein  bestimmtes  einzelnes  Ziel  darf  man  hier 
nicht  als  Motiv  voraussetzen,  wie  z.  B.  ein  Geschäft  zu  begrün- 
den, Geld  zu  machen,  ein  Feld  zu  entwässern,  u.  dergl.,  weil 
man  sonst  auf  eine  bestimmte  Arbeitslust,  auf  eine  einzelne  welt- 
liche Begierde  zurückgewiesen  würde  und  keine  religiöse  Stim- 
mung hätte,  die  immer  die  ganze  Gesinnung  des  Menschen  um- 
fasst. Nun  bringt  aber  alle  Erfahrung  die  Einsicht,  dass  durch 
jede  Arbeit  irgend  ein  Erfolg  erzielt  wird,  ohne  Arbeit  jedoch 
nichts  von  der  Stelle  kommt.    Da  nun   aller  Wille  nothwendig 

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Fortscbrittsenthueiasmus.  391 

auf  die  Zukunft  weist,  das  Zukünftige  aber  nur  durch  unsere 
Arbeit  entsteht,  so  bleibt  im  Bewusstsein  die  Erinnerung  an  diese 
Goordination,  und  man  sieht  vor  Augen  die  arbeitende  Mensch- 
heit mit  all  den  Erfolgen,  die  man  yon  der  Arbeit  erhoffte  und 
in  beträchtlichen  Fortschritten  wirklich  einkassierte.  Zugleich 
mit  diesem  gefälligen  Bilde  löst  sich  auch,  wenn  das  bewegende 
und  handelnde  Vermögen  des  Menschen  in  gehöriger  Weise  in 
Function  gesetzt  wird,  nothwendig  immer  Lust  aus,  indem  Un- 
thätigkeit  mit  Unlust,  Arbeitsamkeit  aber  mit  Freudigkeit  ver- 
knüpft ist  So  entsteht  dann  diese  allgemeine  Arbeitslust,  diese 
rastlose  Schaffensfreudigkeit  und  Geschäftigkeit,  die  gar  kein 
bestimmtes,  inhaltliches  Ziel  hat,  sondern  nur  auf  den  Fortschritt, 
d.  h.  auf  die  Zukunft  überhaupt  geht,  in  welcher  irgend  welche 
neue  Werthe  zur  Befriedigung  irgend  welcher  Bedttrfiiisse  unter 
irgend  welchen  Umständen  irgendwie  durch  unsere  und  der 
ganzen  Menschheit  Arbeit  hervorgebracht  werden  soHen.  Den 
liebenswürdigsten  Ausdruck  für  diese  Stimmung  findet  man  bei 
Benjamin  Franclin,  der  sonst  der  Bechtsreligion  zugehört,  in  sei- 
nen Beden  von  „poor  Richard'^  Schlag  auf  Schlag  kommen  da  die 
kräftigen  Sentenzen  und  Sprüchwörter  hervor,  in  welchen  er 
seine  Arbeitslust  bezeugt  und  gleiche  Stimmung  entzündet  So 
schweben  mir  in  Erinnerung:  early  to  bed  and  early  to  rise 
makes  a  man  healthy,  wealthy  and  wise  und  a  sleeping  fox 
Catches  no  mise,  und  time  is  money  and  life  u.  s.  w. 

Sofern  nun  hier  kein  individuelles  Interesse  vorausgesetzt 
werden  soll,  auch  kein  einzelnes  zufällig  gegebenes  Bedürfiiiss 
ein  zufälliges  und  vorübergehendes  Ziel  steckt,  sofern  kommt 
also  in  der  charakterisirten  Stimmung  nur  die  wesentliche  und 
allgemeine  Natur  der  menschlichen  Activität  selbst  zum  Bewusst- 
sein und  also  wird  sich  nicht  die  einzelne  Persönlichkeit  als 
Persönlichkeit  dabei  empfinden  können,  sondern  es  geht  eine 
Weltempfindung  in  ihr  auf,  es  weht  die  frische  Brise  des  allge- 
meinen Werdens,  der  allumfassenden  Entwickelung  der  Dinge 
belebend  in's  Herz  und  erhebt  es  zu  höherem  Schwung,  zu  einem 
über  das  Private  und  Augenblickliche  erhobene  Forte  und  Presto 
der  Stimmung,  die  das  Recht  hat,  Enthusiasmus  oder  Begei- 
sterung zu  heissen  mit  dem  einzigen  Losungswort  der  Hoffnung, 
welches  in  der  Idee  des  Fortschritts  liegt. 

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392  Pantheismus  der  That. 

Die    im    Gebiete    des    Gedankens   ausgebildete, 

Dogmatik. 

diesem  Gefühle  zugehörige  Welt  kann  nun  unmöglich 
einen  Gott  oder  überhaupt  festbestimmte  Wesen  und  Ordnungen 
enthalten,  sondern  es  wird  dabei  nothw endig  nur  in  trivialer 
Weise  der  Begriff  des  Seins  von  den  sogenannten  Erscheinungen 
abstrahirt,  wodurch  man  natürlich  keinen  Begriff  vom  Sein,  son- 
dern nur  von  dem  Erscheinen  im  Allgemeinen  erhält.  Alles  Er- 
scheinende erscheint  aber  als  immerfort  sich  verändernd,  wer- 
dend, fliessend.  Da  nun  der  Pantheist  sich  gegenüber  keinen 
Gott  mehr  hat,  sondern  selbst  als  Erscheinung  in  dem  grossen 
Meer  aller  Erscheinungen  verschwindet,  so  wird  im  Allgemeinen 
die  Dogmatik  dieser  Religion  etwa  in  der  Spencer' sehen  Weise 
ausgebildet  werden,  wobei  die  Aufmerksamkeit  sich  bloss  auf 
die  Differenzirungen  und  Integrirungen  der  Erscheinungen  richtet, 
ohne  dass  von  einem  Wesen  derselben  und  einem  Sinne  der 
Welt  die  Rede  sein  könnte. 

Die  pantheistische  Ausdrucksweise  für  die  Welt  im  Ganzen 
ist  aber  verschiedenartig  und  interessirt  uns  hier  nicht,  da  wir 
nur  die  religiöse  Coordination  zu  studiren  haben.  Für  den  in 
der  Eintheilung  festbestimmten  Standpunkt  der  Religion  kommt 
es  nur  darauf  an,  dass  von  allen  Erscheinungen  in  der  Welt 
die  der  Furcht,  Hoffnung  und  Arbeitslust  coordinirten  als  die 
allein  wichtigen  und  werthvoUen  betrachtet  werden.  Mithin  mag 
der  Dogmatiker  dieser  Religion  zwar  auch  von  den  übrigen 
Dingen  sprechen,  das  Hauptinteresse  aber,  und  woflir  alles  Ue- 
brige  nur  als  Material  und  Substruction  zu  dienen  hat,  ist  offen- 
bar das  nationalökonomische,  und  die  ganze  Welt  ist  ihm  nur 
eine  grosse  Wirthschaft,  die  immer  vortheilhafter  arbeiten,  immer 
mehr  capitalisiren  und  also  immer  grösseres  und  allgemeineres 
Glück  verbreiten  soll.  Da  aber  das  Glück  nur  eine  augenblick- 
liche Abwendung  des  gefürchteten  Uebels  ist,  während  inzwischen 
durch  die  veränderte  Lage  der  Dinge  schon  neue  Bedürfnisse 
und  neue  Gefahren  entstehen,  so  wird  der  Dogmatiker  das  Glück 
auch  auf  keine  Weise  definiren  können,  sondern  muss  nur  über- 
haupt den  Ausdruck  für  die  Erscheinungen  finden,  wonach  durch 
fortwährenden  Fortschritt  bei  immer  erweiterten  Bedürfnissen 
immer  zahlreichere  Befriedigungen  in  dem  unaufhaltsamen  Flusse 
des  Lebens  ermöglicht  werden.  Also  kommt  die  Dogmatik  dar- 
auf hinaus,  bloss  das  dem  ethischen  Motiv   zugeordnete  ideelle 


FortschrittscnthuRiasmos.  393 

Object  allgemein  auszudrücken,  welches  aber  von  dem  Motiv 
nicht  etwa  als  ein  selbständiges  Wesen  abtrennbar  ist,  sondern 
eben  nichts  als  die  menschliche  Ärbeitsthätigkeit  selbst  mit  der 
zugehörigen  Lust,  Furcht  und  Hoffnung  bedeutet. 

Es  ist  in  die  Augen  fallend,  dass  der  Cultus 
dieser  Religion  nur  in  der  Arbeit  selbst  bestehen 
kann.  Freilich  darf  man  der  Arbeit  nicht  selbstsüchtige  Motive 
zu  Grunde  legen,  wie  wenn  es  sich  darum  handelte,  bloss  was 
die  einzelne  Persönlichkeit  bedrückt  und  ängstigt,  zu  beseitigen 
und  die  Gegenstände  ihrer  Hoffnung  zu  erreichen;  für  den  Pan- 
theisten  ist  eben  die  Erweiterung  des  Gesichtskreises  in  der  Art 
gewonnen,  dass  er  sich  nur  als  Glied  der  ganzen  Kette  nimmt 
und  sein  particuläres  Wohl  und  Weh  als  Beispiel  oder  als  Ein- 
schlag eines  Fadens  aus  dem  allgemeinen  Gewebe  des  mensch- 
lichen Glückes  und  Unglückes  betrachtet.  Mithin  gilt  die  indi- 
viduelle Arbeit,  soweit  sie  vom  Standpunkt  dieses  pantheistischen 
Fortschrittsenthusiasmus  betrieben  wird,  als  Cultus,  d.  h.  als 
Schaffen  am  Webstuhl  des  allgemeinen  Menschenglücks,  wobei 
die  Trennung  des  Ich  und  Du  verschwunden  und  nur  das  Geflihl, 
wie  weit  wir  es  schon  gebracht  und  wie  weit  wir  es  noch  bringen 
werden,  übrig  geblieben  ist.  Diese  Arbeit  hat  deshalb  auch  keine 
wissenschaftliche,  künstlerische,  sittliche,  politische  und  kirch- 
liche Tendenzen,  sondern  bloss  wirthschaftliche.  Man  schafft 
mit  an  dem  Bau  eines  Canals,  einer  Eisenbahn  und  freut  sich 
daran  auch  beim  Zusehen.  Zu  welchem  Zweck  arbeitet  man 
da?  0,  es  ist  herrlich!  seht,  wie  die  Arbeit  fortschreitet,  bald 
wird  die  Locomotive  auf  dieser  ganzen  Strecke  pfeifen.  Und 
was  hat  man  davon?  Ei!  dann  wird  man  leichter  und  schneller 
zusammenkommen  und  alle  Waaren  schneller  und  billiger  erhalten 
können.  Und  welchen  Vortheil  bringt  das?  Durch  Erleichterung 
des  Verkehrs  wird  man  besser  zusammenarbeiten  und  durch 
grössere  Billigkeit  mehr  von  den  Waaren  anschaffen,  gebrauchen 
und  gemessen  können.  Und  warum  will  man  das?  Wer  so 
fragt,  gilt  als  völlig  dumm;  denn  der  Inhalt  dieser  Religion 
besteht  ja  bloss  in  der  Ausbreitung  des  sinnlichen  Glückes  und 
deshalb  in  den  Fortschritten  der  Arbeit. 

Obwohl  man  allgemein  diesen  ganzen  Standpunkt  Utili- 
tarismus  nennt,  so  könnte  man  ihn  recht  wohl  auch  Promo- 
theismus  nennen^  wenn  man  einen  vornehmen  Vertreter  aus  der       t 

uiumzeu  uy  x^jv^wV  Iv^ 


394  Panthei8inu8  der  That. 

Mythologie  zum  Patron  haben  möchte;  denn  dieser  Atheist  fing 
an,  der  Menschheit  das  Feaer  zu  verschaffen  und  mit  diesem 
Einen  Nutzen  zugleich  unzählig  viele  andere  Fortschritte  der 
Menschheit  anzubahnen,  wie  er  auch  ohne  alle  Bücksicht  auf  die 
Götter  bloss  die  Glückseligkeit  der  Menschen  durch  ihre  eigene 
Arbeit  und  Thatkraft  suchte.  Es  dreht  sich  nun  zwar,  wie  in 
der  Furchtreligion,  alles  um  die  sinnlichen  Güter  und  Uebel; 
gleichwohl  zeigt  sich  der  pantheistische  Charakter  des  Stand- 
punkts darin,  dass  das,  was  Werth  und  Geltung  hat,  nicht  von 
einem  Gotte,  sondern  nur  von  dem  Menschen  selbst  erwartet 
wird.  Dabei  muss  es  als  einerlei  betrachtet  werden,  ob  einer 
in  seiner  Arbeit  für  sich  allein  schafft,  oder  ob  er  als  Baumeister 
und  grosser  Unternehmer  oder  Fürst  Vielen  gebietet,  ob  er  kleine 
oder  grosse  Wirkungen  erzielt,  ob  er  bloss  eine  Reihe  von  Obst- 
bäumen pflanzt  oder  eine  Landenge  durchgräbt  und  Millionen 
von  Schiffen  den  Durchgang  erobert;  denn  die  Stimmung  und 
Gesinnung  ist  dabei  qualitativ  dieselbe.  Wer  als  Beobachter  in 
seiner  Zeit  lebt,  wird  eine  überraschend  grosse  Zahl  von  Menschen 
finden,  die  zwar  scheinbar  dieser  oder  jener  positiven  Religion 
zugehören,  in  Wahrheit  aber  „Pantheisten  der  That"  und  nur 
von  dem  Enthusiasmus  des  Fortschritts  erfüllt  sind,  ohne  durch 
ein  anderes,  den  früheren  oder  den  späteren  Religionsformen 
specifisch  zugeordnetes,  Motiv  bewegt  zu  werden. 

Man  kann  diesen  Standpunkt  in  gewissem  Sinne  auch  bei 
Göthe  finden,  sofern  er  wenigstens  am  Ende  des  zweiten  Theiles 
des  Faust  auf  dieses  Bemühen  um  das  äussere  Wohl  der 
Menschheit  oder  um  den  Fortschritt  der  Civilisation  den  Nach- 
druck legte,  obgleich  er  ja  auch  einige  andre  viel  tiefere  Ideen 
noch  eingemischt  und  den  Standpunkt  deshalb  nicht  ganz  rein 
dargestellt  hat  Ich  ftihre  zum  Beweise  nur  ein  paar  Verse  an: 
„Den  faulen  Pfuhl  auch  abzuziehn,  dies  Letzte  war'  das  Höchst- 
errungene. Eröffh'  ich  Räume  vielen  Millionen,  nicht  sicher  zwar 
doch  thätig-frei  zu  wohnen.  Grün  das  Gefilde,  fruchtbar;  Mensch 
und  Heerde  sogleich  behaglich  auf  der  neusten  Erde,  gleich  an- 
gesiedelt an  des  Hügels  Kraft,   den  aufgewälzt   kühn-emsige 

Völkerschaft. Ja!  diesem  Sinne  bin  ich  ganz  ergeben,  das 

ist  der  Weisheit  letzter  Schluss:  nur  der  verdient  sich  Freiheit 
wie  das  Leben,  der  täglich  sie  erobern  muss."  Auch  in  seinem 
Prometheus  tritt  der  Standpunkt  hier  und  da  deutlich  aa£    Doch 

uiuiiizeu  uy  V^J v^WV  l^ 


Fortschritt  aenthueiasmus.  395 

wag  brauchen  wir  so  weit  zurück  zu  gi-eifen;  überall  in  der 
glaubenslosen  modernen  Gegenwart  kann  man  den  Utilitarismus 
preisen,  das  Evangelium  der  Arbeit  verkünden  hören  und  dem 
pantheistischen  Götzen  „Fortschritt"  Hekatomben  von  Menschen- 
leben opfern  sehen. 

Wollen  wir  diese  Religion  der  „kühn  -  emsigen" 
und  „thätig-freien"  Menschen  der  Kritik  unterwerfen, 
so  heisst  das  so  viel  als  untersuchen,  ob  wir  wirklich  dadurch 
befriedigt  werden  könnten.  Nun  enthält  aber  ihre  Ethik  nur 
die  Forderung  und  den  Genuss  der  Arbeit  als  Tugend  und 
ausserdem  noch  das  Wohlsein  und  sinnliche  Behagen  als  höchstes 
Gut.  Theilen  wir  also  die  Frage,  so  ist  zunächst  die  Arbeit 
als  solche  von  sehr  zweifelhaftem  Werthe;  denn  Steine  zu  klopfen, 
oder  Hemden  zu  plätten  und  Stiefel  zu  putzen,  und  zwar  immer 
und  ewiglich,  das  ist  kein  Genuss,  fUr  den  man  Propaganda 
machen  könnte.  So  ist  die  Arbeit  als  solche  auch  nicht  werth- 
voll,  sondern  inhaltslos  und  kann  auch  dem  völlig  Unnützen  ge- 
widmet werden.  Ihr  Werth  liegt,  wie  schon  Aristoteles  scharf 
definirt  hat,  ausser  ihr  selbst  in  dem  Zwecke,  woflir  man  arbeitet. 
Damit  kommen  wir  auf  den  zweiten  Theil  der  Ethik,  auf  den 
Wohlstand,  welcher  der  einzige  Zweck  aller  Arbeit  sein  soll. 
Nun  verwandeln  sich  zwar  die  Vertreter  dieser  Religion,  wie 
z.  B.  Spencer,  wenn  sie  Angriffe  befürchten,  geschwind  in  die 
Sepia  und  lassen  ein  paar  Tropfen  ihres  Tintensaftes  ab,  um  sich 
in  eine  undurchsichtige  Wolke  einzuhüllen,  indem  sie  das  „per- 
sonal well-being**  und  „well-being  of  others**  und  „welfare"  über- 
haupt über  das  sinnliche  Wohlbehagen  hinaus  auch  auf  moralische, 
künstlerische,  wissenschaftliche  und  jede  gewünschte  Befriedigung 
ausdehnen.  Allein  diese  Taktik  hilft  nichts;  denn  wir  warten 
ruhig  ab,  bis  die  Confusion  vorübergegangen  ist.  Wenn  nämlich 
z.  B.  die  künstlerische  und  moralische  Befriedigung  Zweck  wäre, 
so  müssten  Principien  aus  dem  eigentümlichen  Wesen  der  Kunst 
und  des  Gewissens  massgebend  und  also  eine  ganz  andere  Ethik 
geschaffen  werden.  Es  dreht  sich  aber  bei  Spencer  und  seinen 
Religionsgenossen  alles  gute  Handeln  bloss  um  den  Ueberschuss 
von  Lust,  wie  bei  dem  schlechten  Handeln  um  einen  Ueberschuss 
von  Leid,  der  dadurch  uns  selbst  in  der  Zukunft  oder  andern 
Menschen  erwächst.  Da  nun  in  der  Kunst,  im  Gewissen  und  in 
der  Wissenschaft  objective  Normen   hingestellt  werden  können, 

uiuiiizeu  uy  x^jvyVJSx  Iv^ 


396  Pantheismu«  der  Thafc. 

deneu  a  priori  auch  die  Befriedigung  coordinirt  ist,  so  zeigt  sich, 
dasB  die  Spencer* sehe  Ethik,  die,  wie  er  gelbst  bekennt,  nur 
relativ  ist  und  weder  Güter,  noch  Pflichten  definiren  kann,  sich 
bloss  um  das  zufällige  and  perspectivische  sinnliche  Behagen 
dreht  und  ihrer  Natur  nach  materialistisch  ist.  Das  sinnliche 
Glück  aber  theilen  wir  mit  den  Thieren  und,  da  der  Mensch 
nur  mit  den  Füssen  auf  dieser  Unterlage  seiner  Entwickelung 
steht,  so  lassen  wir  Spencer  und  die  Fortschrittsenthusiasten  mit 
ihrer  Ethik  dort  unten  und  erklären,  dass  für  den  Menschen 
Herz  und  Kopf  und  Persönlichkeit  noch  andere  Ziele  der  Be- 
friedigung erheischen.  Bei  Spencer  kann  man,  als  an  einem 
wirklich  hübschen  Specimen,  sehen,  wie  genau  der  niedrige 
Standpunkt  der  Religion  und  Philosophie  der  zugehörigen  niedrigen 
Begabung  seines  Vertreters  entspricht;  denn  Spencer  erhebt  sich 
in  seiner  geringfügigen  Reflexion  und  in  seiner  entsprechend  un- 
bedeutenden Gelehrsamkeit  grade  zu  der  Stufe,  auf  der  man 
überhaupt  anfängt  zu  philosophiren.  Wäre  er  von  grösserer 
Anlage,  so  würde  er  die  zugeordneten  philosophischen  Gedanken 
der  zugehörigen  Autoren  verstehen  und  ihre  Werke  gelesen  haben. 
Er  würde  dann  z.  B.  wissen,  dass  sein  Standpunkt  schon  längst 
von  Piaton  in  seinem  Dialoge  Protagoras  mit  feiner  Ironie  und 
gutem  Humor  beseitigt  ist. 

Wenn  nun  die  Dogmatik  dieser  Religion  auch  den  Sinn 
und  Werth  der  Welt  bloss  in  dem  sinnlichen  Wohlsein  und  der 
diesem  Zweck  gewidmeten  Arbeit  des  Menschen  findet  und  der 
Cultus  dieser  Religion  ebenfalls  nur  in  der  Arbeit  für  den  Fort- 
schritt besteht,  der  den  ephemerischen  Menschen  bei  immer  er- 
neuten und  veränderten  Bedürfnissen  zu  einem  betriebsamen 
Leben  mit  fortwährendem  Anschluss  von  Arbeiten  nöthigt,  so 
kann  man  zwar  nicht  umhin,  diese  Fortschrittsenthusiasten  zu 
loben,  weil  sie  ihr  als  Ameisenleben  empfundenes  Dasein  nicht 
unnütz  hinbringen,  muss  ihren  Lebensgenuss  aber  doch  nur  für 
die  unterste  Stufe  menschlicher  Güter  und  ihre  Lebensarbeit  nur 
für  den  Sockel  erklären,  auf  denen  erst  die  Statue  der  Mensch- 
heit aufzurichten  ist  Denn  das  blosse  Wohlsein  und  der  Wohl- 
stand wird  ja  augenblicklich  weggeworfen,  sobald  höhere  Güter 
in's  Spiel  kommen,  wie  der  Dichter  wahrheitsgemäss  singt: 
„Was  scheert  mich  Weib,  was  scheert  mich  Kind,  lass  sie  betteln 
gehen,  wenn  sie  hungrig  sind,  ich  trage  weit  bessres  Verlangen, 


Portschrittsenthusiasmus.  397 

den  Kaiser,  den  Kaiser  zu  schützen."  In  diesem  Falle  ist  nun 
schon  bloss  die  von  Bewunderung  und  Ehrliebe  getragene  Hin- 
gebung und  Treue  ein  genügendes  Motiv,  um  die  äusseren  Güter 
wegzuwerfen ;  um  wie  viel  mehr  also  wird  der  Werth  des  blossen 
Wohlseins  sinken  müssen,  wenn  die  höheren  und  herrschaftlichen 
Tugenden  selbst  in  Frage  kommen. 

Wenn  wir  daher  den  Utilitarismus  wie  einen  guten  Diener 
schätzen  können,  weil  er  durch  seine  fleissige  Arbeit  den  Wohlstand 
-  und  also  die  nöthige  Müsse  und  Freiheit  flir  die  höheren  Geistes- 
thätigkeiten  vermittelt,  so  ist  doch  dieser  ganze  Standpunkt, 
wenn  er  flir  sich  etwas  gelten  will,  als  eine  Frühgeburt  zu  be- 
zeichnen, die  noch  nicht  ausgetragen  und  ausgereift  ist,  sondern 
mitten  in  der  Zeit  der  Entwickelung  schon  abschliesst.  Die 
ganze  Aufgabe  des  ewigen  Fortschritts  ist  ja  das  Loos  des 
ewigen  Juden,  der  immer  umläuft  und  niemals  fiuhe  findet.  Nie- 
mals ist  ja  der  Augenblick  gekommen,  wo  man  auf  diesem  Stand- 
punkte wirklich  zufrieden  sein  könnte,  wo  man  zum  Augenblicke 
sagen  dürfte:  „Verweile  doch,  du  bist  so  schön".  Deshalb  lässt 
Göthe  in  richtiger  Erkenntniss  auch  den  Mephistopheles  die  Kehr- 
seite dieses  Arbeits-  und  Civilisations  -  Enthusiasmus  enthüllen; 
denn  erstens  verkleidet  sich  die  Sorge  für  die  äusseren  Bedürf- 
nisse der  Menschheit  in  Rücksicht  auf  die  drohenden  Gefahren 
iu  tausend  Gestalten  und  täuscht  beständig  den  Geist,  so  dass 
er  nie  zufrieden  ist,  und  zweitens  ist  ja  aller  Erfolg  der  Civili- 
sation  auch  nur  vorübergehend;  denn  „mit  Deinen  Dämmen, 
sagt  Mephistopheles  zu  Faust,  bereitest  Du  nur  Neptunen,  dem 
Wasserteufel,  grossen  Schmauss.  In  jeder  Art  seid  ihr  verloren; 
—  die  Elemente  sind  mit  uns  verschworen  und  auf  Vernichtung 
läuft's  hinaus."  Und  das  „Grab"  kommt  zwischen  alle  Pläne 
und  Arbeiten  unvermeidlich.  Die  Arbeit  ist  eine  Danaiden- 
arbeit, da  das  Fass  Löcher  hat,  und  niemand  die  menschlichen 
Bedürfnisse  jemals  ganz  befriedigen  kann,  während  uns  das 
Fehlende  immer  als  das  Beste  erscheint  und  zu  neuer  Arbeit 
stachelt 

So  ist  die  Arbeit  um. der  Herstellung  des  Wohlseins  willen 
eine  unmögliche  und  die  Arbeit  um  der  Arbeit  willen  eine  leere 
Aufgabe.  Wenn  die  Leute  daher  dennoch  mit  dieser  Religion 
zufrieden  sind,  so  hat  dies  zwei  Ursachen;  einmal  nämlich  ist 
diese  erste  Stufe   des  Pantheismus   der  Furchtreligion  homolog 

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398  Pantheismus  der  Thai. 

und  deshalb,  wie  diese,  für  die  grosse  Masse  bestimmt,  deren 
Güter  in  dem  Gebiete  von  Furcht  und  Hoffiiung  liegen  und  nach 
dem  Verschwinden  der  projectivischen  Götter  von  der  Arbeit  der 
menschlichen  Gesellschaft  abhängig  geworden  sind;  zweitens  ist 
ja  die  Arbeit  überhaupt  eine  natürliche  Function  und  deshalb 
immer  zufriedenstellend,  wenn  kein  Bedür&iss  nach  höheren 
Gütern  vorhanden  ist;  denn  da  die  unteren  Functionen  um  der 
höheren  willen  vorhanden  sind,  so  muss  denselben  auch  ein 
gewisser  zugehöriger  Lohn  von  Befriedigung  beschieden  sein, 
obgleich  natürlich,  sobald  die  untergeordnete  Function  souverän 
sein  will,  alle  obengenannten  Gründe  zum  Pessimismus  unver- 
meidlich werden. 

Dass  diese  ganze  Keligion  und  zugehörige  Geistesverfassung 
aber  eine  bloss  untergeordnete  Bedeutung  hat,  zeigt  sich  deutlich 
auch  an  der  zugehörigen  Wissenschaft,  der  Nationalökonomie, 
die  sich  nothwendiger  Weise  in  einer  principiellen  Verlegenheit 
befindet.  Wenn  sie  sich  nämlich  als  selbständige,  herrschaft- 
liche Wissenschaft  fühlt,  so  muss  sie  eigenePrincipien  haben 
und  nimmt  dann  die  Bedürfnisse  und  die  zugehörigen  den  Mangel 
ausftillenden  Güter  als  ihre  Grundlage.  Allein  diese  Grundlage 
ist  bodenlos,  weil  ein  höheres  Princip  erforderlich  ist,  um  die 
Bedürfhisse  zu  beurtheilen,  damit  nicht  durch  alle  die  unnützen 
und  lasterhaften  Bedürfnisse,  welche  ebenfalls  als  mächtige,  wenn 
nicht  als  die  mächtigsten  Bedürftiisse  gefühlt  werden  und  ihrer 
Natur  nach  nothwendig  überall  in's  Unendliche  gehen,  das  nor- 
male Bedürfhiss  als  gleichwerthig  oder  untergeordnet  erscheine 
und  die  ganze  Wissenschaft  zweifelhaft  und  verächtlich  werde, 
zweifelhaft,  weil  die  Befriedigung  aller  Bedürfnisse  unmöglich  ist, 
verächtlich,  weil  selbst  der  Versuch  dazu  schon  gegen  das  Ge- 
wissen geht  Ausserdem  ist  das  auch  kein  Princip,  wenn  man 
von  den  Bedürfiiissen  ausgeht.  Denn  die  Güterlehre  hat  zwar 
ihren  Begriff  vom  Nützlichen  und  Guten  durch  die  Beziehung 
auf  die  Bedürfnisse;  die  Bedürfnisse  selbst  aber  müssen  erst 
erklärt  werden;  denn  warum  bedarf  man  überhaupt  etwas?  Dass 
diese  Frage  vor  ein  höheres  Forum,  gehört,  sieht  man  schon 
daraus,  da  es  sonst  Aufgabe  wäre,  seine  Bedürfnisse  auf  das 
Möglichste  zu  vermehren,  um  desto  mehr  zugehörige  Güter 
zu  schaffen  und  sich  zugleich  desto  sicherer  unglücklich  zu 
machen. 

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Portschritisentbasiasinus.  399 

Es  zeigt  sich  also,  dass  die  Nationalökonomie  einer  höheren 
Wissenschaft  untergeordnet  werden  muss;  denn  da  die  Be- 
dürfnisse sich  untereinander  reguliren,  indem  die  Einen  die  an- 
deren ausschliessen  oder  unterstützen,  so  müssen  sie  eine  ver- 
schiedene Kraft  haben,  d.  h.  sie  müssen  qualitativ  geartet 
sein.  Die  Werthmessung  der  Bedürfnisse  aber  leistet  die  St  aats- 
wissenschaft,  die  sich  deshalb  auch  herausnimmt,  den  un- 
fruchtbaren und  schädlichen  Bedürfnissen  Steuern  aufzuerlegen, 
oder  sie  mit  Gewalt  zu  unterdrücken. 

Es  ist  interessant,  dass  die  Vertreter  der  National- 
ökonomie jetzt  gern  einen  vornehmeren  Ton  anschla-  letzte  Revoite 
gen  und  die  ganze  Gesellschaft  mit  allen  ihren  In-  «^««^  ^*® 
teressen  unter  ihr  Gebot  nehmen  wollen.  Allein  wir 
dürfen  diese  Ansprüche  nicht  als  ein  vereinzeltes  Phänomen  be- 
trachten, sondern  müssen  es  mit  den  coordinirten  Ansprüchen 
der  anderen  Wissenschaften  vergleichen  und  geschichtlich  erklären. 
Wer  nicht  zu  den  Jüngeren  gehört,  wird  die  Zeit  erlebt  haben, 
wo  die  empirischen  Wissenschaften,  d.  h.  ihre  damaligen  Ver- 
treter, alle  nach  und  nach  das  Joch  der  Philosophie  abschüttelten 
und  ftlr  sich  volle  Freiheit  verlangten.  Nachdem  sie  in  dieser 
Freiheit  schon  weitere  Fortschritte  gemacht,  traten  dann  auch 
natürlich  die  Klügsten  noch  den  Löwen,  den  sie  für  todt  hielten, 
mit  Füssen.  Die  Philosophie  aber,  die  zwar  von  Natur  unfehl- 
bar, unsterblich  und  stärker  als  die  von  ihr  beherrschten  empi- 
rischen Wissenschaften  ist,  sass  dennoch  still  und  geduldig,  wie 
eine  Eule  bei  Tageslicht,  wenn  die  kleinen  Vögel  mit  zornigem 
Gekreisch  sie  umfliegen  und  mit  den  kleinen  spitzen  Schnäbeln 
nach  ihr  hacken.  Sie  rührte  sich  nicht,  weil  ihre  Vertreter 
wirklich  gefehlt  hatten  und  die  Wahrheit  nicht  zeigen  und  ver- 
theidigen  konnten.  Trotzdem  durfte  sie  ruhig  die  Zeit  abwarten, 
wo  man  wieder  nach  ihr  verlangen  würde;  denn  es  lag  ja  auf 
der  Hand,  dass  die  Revolutionäre  zuerst  den  Taumel  der  Frei- 
heit kosten  würden,  dann  aber  selbst  durch  eigene  Bewegung 
an  die  Gränzen  ihres  eigenen  speciellen  Gebietes  gelangen  und 
wegen  der  neuen  Freiheit  über  die  Gränzen  hinübergehen  muss- 
ten,  um  alsbald  zu  finden,  dass  ihnen  eigentlich  die  Herrschaft 
überall  gebühre.  Dies  Phänomen  ist  auch  in  der  That  überall 
eingetreten;  denn  bald  waren  es  die  Physiker  und  Chemiker,  die 
alles  in  der  Welt  physikalisch  und   chemisch   erklären  wollten 

uiumzeu  uy  x^jvy\J>t  Iv^ 


400  Pantheismus  der  That. 

und  sogar  die  Gedanken  ftir  chemische  Processe  nahmen;  bald 
waren  es  die  Zoologen,  die  auch  den  Menschen  als  Thier  bean- 
spruchten und  seine  Staatseinrichtungen  biologisch  erklärten; 
bald  waren  es  Physiologen,  die  die  Welträthsel  aufgaben,  oder 
die  ästhetischen  Geheimnisse  enthüllten  oder  die  wahre  Psycho- 
logie entdeckten;  bald  waren  es  auch  Natioualökonomen,  die 
das  ganze  Leben  der  Gesellschaft  als  ihre  Domäne  betrachteten 
und  über  die  Judenfrage,  die  Codification,  die  Willensfreiheit, 
kurz  über  Alles  gesellschaftswissenschaftlichen  Bescheid  ertheilten. 
Was  sagt  die  Philosophie  dazu?  Sie  lässt  sie  ruhig  wirth- 
schaften,  weil  der  Humor  nicht  ausbleibt;  denn  wenn  z.  B.  die 
Naturwissenschaft  erst  die  sogenannten  künstlichen  Gränzen  zwi- 
schen Natur  und  Geist  überschritten  und  also  von  allen  Geistes- 
wissenschaften naturwissenschaftlich  Besitz  genommen  hat,  so 
wird  sie,  sobald  das  Eroberungsfieber  vorüber  ist,  anfangen,  sich 
in  ihrer  Herrschaft  zu  consolidiren.  Sie  wird  dann  ilire  verschie- 
denen Gebiete  überschauen  und  sie  nach  natürlichen  Gränzen 
verschiedenen  Ministerien  übergeben,  sich  selbst  aber  die  Ge- 
sammtübersicht  vorbehalten.  Dadurch  wird  die  unmittelbare 
Fühlung  mit  allen  Einzelheiten  der  empirischen  Forschung  noth- 
wendig  aufhören,  weil  die  Herrschaft  immer  die  allgemeinen  Fra- 
gen im  Auge  behalten  muss,  und  so  wird  mit  Einem  Male  klar, 
dass  sich  die  alte  Theilung  der  Wissenschaften  wieder  herstellt, 
und  dass  jede  beliebige  Wissenschaft,  welche  sich  an  die  Spitze 
stellt,  die  Principien  ftir  alle  sucht  und  die  Gränzen  der  Einzel- 
gebiete und  ihren  Verkehr  überwacht,  mit  oder  ohne  Willen  die 
Rolle  der  Philosophie  spielen  und  ihren  Charakter  annehmen 
muss.  Es  würde  zu  weit  ftihren  und  die  Feder  zu  tief  in 
Aristophanische  Lauge  tauchen,  wenn  man  an  einzelnen  Reprä- 
sentanten dieses  Resultat  verificiren  sollte,  um  die  komische 
Selbstvernichtung  darzustellen,  mit  welcher  diese  Empiriker  und 
Thatsachenphilosophen  sich  selbst  zur  Ader  lassen  und  ihr  Le- 
benslicht ausblasen. 

Was  hier  erörtert  wurde,  bezieht  sich  aber  nur  nach  der 
jetzt  üblichen  Sprechweise  auf  die  Wissenschaften  selbst,  in 
Wahrheit  jedoch  auf  einzelne  ihrer  Vertreter  und  deren  Mei- 
nungen; denn  gegen  die  Philosophie  kann  gar  kein  Aufstand  ge- 
macht werden,  sondern  jeder  Denkende  muss,  er  mag  wollen 
oder  nicht,  sie  anerkennen  und  gebrauchen,  weil  er  sonst  nicht 

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Fortschrittsenthusiasmus.  401 

denken  könnte,  eben  so  wie  die  Kaufleute  nicht  gegen  die  Arith- 
metik revoltiren  können,  weil  sie  alsbald  bei  ihrem  eigenen 
Buchabsehluss  und  bei  ihren  Berechnungen  untereinander,  auch 
wenn  sie  die  Käufer  tibervortheilt  hätten,  flir  sich  die  Arithmetik 
als  Herrin  von  Gottes  Gnaden  anerkennen  müssen.  So  können 
auch  in  Wahrheit  die  Wissenschaften  keine  Uebergriffe  in  fremdes 
Gebiet  machen,  ebensowenig  wie  die  Ohren  es  sich  einfallen 
lassen,  aus  Uebermuth  einmal  das  Riechen  und  Sehen  zu  über- 
nehmen. Es  dreht  sich  deshalb  nur  um  die  subjectiven  Mei- 
nungen mehrerer  Vertreter  der  einzelnen  Fächer.  Und  der  Grund 
des  obigen  Phänomens  lässt  sich  aufweisen.  Vernunft  und  Ver- 
stand nämlich  sind  für  jedes  Fach  erforderlich;  das  Bewusst- 
sein  der  zugehörigen  Functionen  dieser  Vermögen  und  ihres 
ideellen  Inhalts  aber  wird  Philosophie  genannt;  demgemäss  ist 
philosophische  Bildung  eine  allgemein  humane  Eigenschaft  und 
desKalb  ein  Ingredienz  der  Fachbildung.  Sobald  nun  eine  früher 
herrschende  philosophische  Schule  aufhört,  die  Köpfe  zu  be- 
friedigen, so  wird  jeder  Fachgelehrte  auf  seinen  eigenen  Ver- 
stand und  seine  eigene  Vernunft  angewiesen,  um  sich  die  Lücke 
auszuftillen;  er  wird  deshalb  die  Tendenz  zeigen,  die  Principien 
seines  Specialgebietes  über  die  Gränzen  hinaus  zu  tragen;  um 
möglichst  alle  Gebiete  darunter  zu  begreifen;  denn  es  fehlt  ihm 
ja  die  Philosophie,  und  so  muss  er  irgendwie  sich  zu  helfen 
suchen,  um  einen  Ueberblick  über  das  Ganze  zu  gewinnen,  und 
kann  es  doch  nur  nach  dem,  wovon  er  herkommt  So  ist  das 
Phänomen  völlig  begreiflich  nach  beiden  Seiten;  denn  einerseits 
verfehlen  solche  Specialforscher  die  eigenthümliche  Erkenntniss- 
quelle und  Methode  der  Philosophie  und  drängen  sich  mit  den 
aufgekrämpten  Hemdsärmeln  ihrer  Werkstube  in  den  hohen  Saal 
des  Rathhauses,  andererseits  hatten  die  früheren  Rathsherren 
das  Interesse  der  Gesellschaft  ausser  Augen  gelassen,  oder  es 
fehlte  ihnen  an  dem  nöthigen  Salz,  um  ihre  Aufgabe  zu  erftlUen. 


Telohmäller,  Religionspbiloaophie.  26      r^ r^^^r-^}^ 

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Zweites  Kapitel. 
Die  pantheistische  Werkheiligkeit. 


Die   Schwiengkeit  unserer  ganzen  Aufgabe  be- 

Znr  Methode.      .    ,  .      ,      .  ,         ^     ,        r       ü   v    •         r  •        -u 

steht  dann,  dass  wir  die  Reugionsformen  m  ihrer 
gleiehsam  chemischen  Reinheit  darstellen  müssen.  Während  man 
bisher  der  Spectralanalyse  den  Satz  zu  Grunde  legte,  dass  jeder 
Körper  ein  bestimmtes  ihn  charakterisirendes  Spectrum  habe, 
fand  sich  nun,  dass  den  Verbindungen  der  Metalle  wieder  eigen- 
thümliche,  von  den  Elementen  verschiedene  Spectra  zukommen, 
so  dass  wegen  der  Absorptionsverhältnisse  und  der  verschiedenen 
Temperaturgrade  die  Bestimmung  des  Elementären  neue  Schwie- 
rigkeiten darbietet  Je  mehr  die  Chemie  fortschreitet,  desto 
feiner  können  auch  noch  die  Definitionen  der  Elemente  gegeben 
werden.  Während  aber  die  Chemie  schon  lange  Zeit  an  dieser 
Aufgabe  arbeitet,  unternehmen  wir  hier  nicht  bloss  den  ersten 
Versuch,  sondern  wir  stellen  auch  zuerst  die  Aufgabe,  in  der 
Erforschung  der  Religion  eine  exact  analytische  Me- 
thode zu  befolgen,  nach  deren  Vorgange  dann,  wie  in  der  Chemie, 
eine  apriorische  Synth esis  möglich  wird,  während  man  bisher 
nur  die  grossen  positiven  Complexe,  welche  als  Religionen  be- 
kannt geworden  waren,  zu  classificiren  versucht  hat.  Abschreckend 
wegen  ihrer  Undurchsichtigkeit  und  Unrichtigkeit  sind  aber  na- 
türlich alle  diese  Eintheilungen  ausgefallen  und  so  z.  B.  in  hohem 
Grade  die  HegeVsche  Religionsphilosophie.  Aber  auch  die  mo- 
dernen inductiven  und  vergleichenden  Religionsforschungen  leiden 
an  demselben  Fehler,  dass  sie  die  elementaren  Formen  nicht 
kennen  und  die  Constanten  in  den  ethischen,  dogmatischen  und 
cultischen  Coordinationcn  nicht  offen  gelegt  haben.  Für  diese 
neue  Aufgabe  wollen  wir  hier  tiberall  den  Weg  zu  erforschen 
suchen. 

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Werkbeiligkeitseiithusiasmiis.  403 

Es  giebt  flir  diejenigen  Pantheisten,  welche  den 
projectiven   Rechtsgott  verloren  haben,    dagegen   in   ^^^^^^^^^ 
sich  die  Stimme  des  Gewissens  kräftiger  hören,  nur 
eine  Befriedigung  in  Handlungen  nach  dem  Sittengesetze.     Die 
sittlichen  Geflihle    und  Ideen    beziehen   sich   aber    sowohl   auf 
die  einzelne  Persönlichkeit  als   auf  die   Gemeinschaft,  und   für 
beide  Kreise  von  Handlungen  finden  sich  die  einzelnen  Menschen 
verschieden  beanlagt.    Wir  betrachten  hier  zunächst  die  Gruppe 
Derjenigen,   welche  in  dem  Kreise  der  einzelnen  Persönlichkeit 
sich  bewegen. 

Der  Gattung  nach  fällt  nun  dieser  religiöse  Standpunkt 
insofern  mit  der  Frömmigkeit  der  Religion  des  Rechts  zusam- 
men, als  es  wesentlich  das  Gewissen  ist,  dessen  Zufriedenheit 
gesucht  wird.  Die  Differenz  aber  liegt  darin,  dass  der  Gläu- 
bige der  Rechtsreligion  einem  auswärtigen  Gesetze  gehorcht, 
dessen  Urheber  er  in  blindem  Glauben  verehrt,  während  der 
Pantheist  den  Grund  der  Gesetze  in  sich  selbst  findet  und  die 
Verehrung  daher  sich  selbst  zuwendet  In  der  Rechtsreligion 
kommt  es  vor  Allem  an  erstens  auf  Frömmigkeit,  d.  h.  Glauben 
und  Gehorsam  gegen  den  Willen  des  Gesetzgebers,  und  zweitens 
auf  Werkheiligkeit,  d.  h.  auf  die  durchgehende  Correctheit  und 
Legalität  aller  Handlungen,  die  dem  Gotte  gewissermassen  ge- 
weiht und  dadurch  heilig  werden.  Das  pantheistische  Correlat 
dazu  wäre  nun  eigentlich  die  sogenannte  „Tugend",  d.  h.  die 
Vollkommenheit  sittlichen  Erkennens,  Wollens  und  Thuns.  Allein 
da  in  der  Tugend  das  Wollen  und  Erkennen  einem  anderen 
Vermögen  zugehört,  so  müssen  wir  die  Tugend  spalten  und  hier 
mehr  das  Thun  und  Können  berücksichtigen,  weil  es  sich  hier 
um  die  Vorherrschaft  des  handelnden  Vermögens  dreht.  Die 
Correctheit  desselben  kann  daher  auch  als  Werkheiligkeit  be- 
zeichnet werden  und  als  pantheistische  insofern,  als  das 
Obligatorische  des  Wollens  nicht  in  der  individuellen  Persönlich- 
keit mit  ihrem  zuftilligen  Bewusstseinsinhalte  liegt,  sondern  in 
der  allgemeinen  Natur  der  Welt,  von  welcher  das  Ich  nur  eine 
Erscheinung,  eine  vorübergehende  Offenbarung  ist.  Durch  diese 
letztere  Auffassung  wird  dieser  Standpunkt  nicht  blosse  Mora- 
lität,  sondern  Religion,  sofern  der  Religiöse  seine  Handlungs- 
weise als  die  höchste  Lösung  des  Welträthsels,  als  die  vor- 
nehmste imd  beste  Leistung  und  Frucht  des  Universums  betrachtet 

u4piizeu  uy  'V-jOOV  l\^ 


404  PaDtbeismus  der  That. 

und  sich  daher  in  seinen  Handlungen  als  ein  heiliges  und  un- 
endlich werthvoUes  Wesen  verehrt,  da  er  sein  Ich  nur  als  vor- 
übergehende Existenz-  und  Erscheinungsweise  der  Einen  Natur 
der  Welt  ansieht. 

Diese  Keligionsstufe  ist  durchaus  keine  künstlich 
co:^^'mation.  coustruirte,  die  etwa  nur  im  System  ihren  Platz  hätte, 
ohne  in  der  Wirklichkeit  vorzukommen.  Wer  dies 
meinen  sollte,  der  kann  nur  die  zufalligen  Anhängsel  und  Yor- 
urtheile  nicht  absondern,  die  sich  allerdings  in  jeder  historischen 
Form  immer  aus  dem  umgebenden  Medium  niederschlagen.  Wer 
aber  mit  einiger  Aufmerksamkeit  beobachtet,  wird  bald  erkennen, 
dass  viele  Moralische  und  Fromme  ihre  theologischen  Annahmen 
in  blossen  Worten  besitzen  und  dass  sie  vielmehr  ihre  eigenen 
Handlungen  flir  das  Heilige  und  WerthvoUe  in  der  Welt  ansehen 
und  ganz  in  die  fortwährende  Anschauung  und  Ausübung  ihrer 
Tugend  verliebt  sind,  sich  selbst  unendlich  deswegen  verehren 
und  immerfort  von  sich  und  ihren  Werken  sprechen  und  ihr  Leben 
Anderen  als  Vorbild  aufstellen.  Die  Götzenbilder  gelten  ihnen 
nichts,  der  unsichtbare  und  unvorstellbare  Gesetzesgott  ist  ihnen 
auch  verschwunden;  dagegen  ist  nun  zum  Götterbild  ihr  eigenes 
Leben  geworden,  nicht  aus  blosser  persönlicher  Eitelkeit  und 
Unwahrheit,  sondern  weil  sie  die  Stimme  des  Gewissens  kräftiger 
hören  und  ganz  in  der  Conformität  der  Handlungen  mit  dem 
inneren  Gesetz  ihrer  Natur  ihren  Werth,  ihre  Vollkommenheit 
und  die  göttliche  Verklärung  der  idealen  Natur  der  Welt  suchen 
und  finden. 

Diese  pantheistischen  Werkheiligen  thun  daher  dieselben 
Werke,  welche  auch  sonst  von  der  Rechtsreligion  und  von  der 
Moralität  gefordert  werden,  sie  üben  die  Nächstenliebe  praktisch, 
sie  besuchen  und  pflegen  Kranke,  selbst  bei  gefährlichen  und 
ansteckenden  Seuchen  mit  völliger  Verachtung  der  Gefahr  und 
mit  aller  Selbstaufopferung,  sie  gehen  in  die  Gefängnisse  und 
trösten  die  Unglücklichen,  sie  geben  reichliche  Almosen,  sie 
unterstützen  die  armen  Verwandten,  sie  erziehen  fremde  Kinder, 
ernähren  und  kleiden  die  Armen,  unterrichten  ohne  Lohn  die 
Vernachlässigten,  kurz  sie  sind  immer  zu  jedem  Opfer  bereit, 
und  jede  Anstrengung  dieser  Art  ist  für  sie  ein  Genuss  ihrer 
eigenen  Heiligkeit.  In  der  katholischen  Kirche  hat  man  diese 
Naturen  nicht  übersehen  können;  man  hat  für  sie  eine  besondere 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


WerkheiligkeitsenthusiaBmus.  405 

Rubrik  geschaffen;  denn  während  die  gewöhnlichen  Gläubigen 
nur  das  Vorgeschriebene  thun  und  eine  mittelmässige  sittliche 
Anstrengung  leisten,  so  erheben  sich  die  zu  unserer  Form  gehö- 
rigen Fronunen  zu  Werken,  welche  die  Forderung  tiberschreiten 
(opera  supererogationis),  und  erlangen  daher  einen  Schatz 
ttberschtlssiger  Werke,  der  nach  dem  Standpunkte  der  Furcht- 
religion sogar  zu  einem  Handelsartikel  und  Tausch-  und  Stellyer- 
tretungs-Object  werden  kann.  Viele  Frommen  dieser  Art  stehen 
allerdings  ganz  auf  dem  Standpunkte  der  unreinen  Rechtsreligion; 
man  findet  bei  wirklicher  Menschenkenntniss  aber  auch  nicht 
wenige,  die  als  pantheistische  Heilige  zu  betrachten  wären,  da 
es  sich  bei  ihnen  nur  um  den  Genuss  ihrer  eigenen  Heiligkeit 
dreht,  und  dies  lässt  sich  um  so  leichter  erklären,  da  die  unauf- 
hörliche Beschäftigung  mit  Tugendwerken  und  also  die  An- 
schauung der  Gegenstände  ihrer  Handlungen  und  das  Geftlhl 
ihrer  eigenen  Leistungen  in  ihrem  Bewusstsein  allen  Platz  aus- 
flillt,  weshalb  die  etwaigen  Gedanken  an  die  auswärtige  Gott- 
heit mehr  und  mehr  zurücktreten  müssen,  bis  schliesslich  nur  der 
Standpunkt  des  pantheistischen  Heiligkeitsgenusses  übrigbleibt. 
Man  darf  auch  nicht  glauben,  als  wenn  all  die  von  der  Re- 
ligionsphilosophie ausgeprägten  Begriffe  und  Ausdrücke,  wie 
z.  B.  „pantheistischer  Heiligkeitsgenuss''  u.  dergl.,  den  Angehö- 
rigen dieses  religiösen  Standpunktes  geläufig  sein  müssten;  daran 
fehlt  viel,  denn  es  ist  durchaus  nicht  nöthig  und  nicht  einmal 
möglich,  dass  sie  sich  selbst  begriffen  und  sich  classificiren 
könnten,  weil  sie  sonst  ganz  von  selbst  ihren  Standpunkt  ver- 
lieren würden.  Deshalb  will  ich  nur  daran  erinnern,  dass  man 
die  hier  definirte  und  charakterisirte  Religiousform  auch  in  vielen 
ganz  trivialen  Repräsentanten  findet,  die  sich  sehr  wundem  wür- 
den, wenn  sie  erfllhren,  dass  sie  in  der  Religionsphilosophie  auch 
eine  Rolle  spielen.  Ich  meine  nämlich  die  ziemlich  zahlreiche 
Classe  von  solchen  Leuten,  die  nichts  glauben  und  nichts  hoffen, 
die  auch  niemals  über  die  Normen  ihres  Thuns  räsonniren,  den- 
noch aber  finden,  dass  es  in  der  Welt,  an  der  sonst  nichts  daran 
sei,  am  Besten  wäre,  seine  Pflicht  zu  thun;  denn  diese  Leute 
legen,  obgleich  sie  von  sich  selbst  auch  nichts  Grosses  halten, 
dennoch  durch  ihr  rechtes  und  gesetzliches  Leben  an  den  Tag, 
dass  sie  von  dem  Pflichtbewusstsein  regiert  werden  und  dass 
ihre  von  der  nun  einmal  zu  beobachtenden  Ordnung  geleiteten 


40G  Pantheismus  der  That. 

täglichen  Handlungen  ihnen  den  Werth  und  Inhalt  der  Welt  aus- 
machen. Die  Freude,  die  sie  an  ihrem  richtigen  Thun  haben, 
ist  aber  auch  so  wenig  intensiv,  dass  man  erst  darauf  aufmerk- 
sam zu  machen  hat,  dass  es  sich  hier  um  Formen,  also  um 
Qualitäten  und  nicht  um  Quantitäten  dreht,  weshalb  solchen 
Leuten  der  pantheistische  Heiligkeitsgenuss  dennoch  zuerkannt 
werden  muss. 

Wie  es  dem  Chemiker  gleichgültig  ist,  ob  die  £le- 
BnddhtemuB  ^^'i*^?  die  er  in  seiner  Analyse  gefunden  hat,  in  ihrer 
reinen  Form  in  der  Natur  vorkommen,  so  ist  es  für 
die  Aufgabe  unserer  fieligionsanalyse  nicht  erforderlich,  dass  wir 
für  jeden  gefundenen,  exact  bestimmten  religiösen  Standpunkt 
auch  eine  historisch  gegebene  Religion  nachweisen  könnten; 
denn  die  historischen  Religionen  sind  ja  nothwendiger  Weise 
alle  nur  unreine  Formen,  in  welche  verschiedene  elementare  For- 
men aufgenommen  sind  und  zwar  gewöhnlich  mit  dem  Ueber- 
gewicht  Eines  Elements.  Gerade  wegen  eines  solchen  Ueber- 
gewichts  wird  es  aber  doch  möglich,  die  eine  oder  die  andere 
historische  Religion  als  ein  Beispiel  heranzuziehen,  um  den  Cha- 
rakter des  reinen  Elementes  darin  aufzuweisen  und  gewisser- 
massen  spectralanalytisch  die  charakteristischen  Linien  des  Spec- 
trums darin  wiederzuerkennen.  So  scheint  mir  der  Buddhismus 
überwiegend  unserer  Religionsstufe  hier  zu  entsprechen. 

Da  ich  nicht  Sanskritgelehrter  bin,  so  muss  ich  mich  auf 
die  Uebersetzungen  aus  der  buddhistischen  Literatur  und  auf  die 
speciellen  Fachforscher  und  zwar  besonders  auf  die  Darstellun- 
gen von  Max  Müller  und  Oldenberg  verlassen.  In  Hinblick 
auf  das  hiermit  angedeutete  gelehrte  Material  können  wir  nun 
das  charakteristische  Spectrum  pantheistischer  Werkheiligkeit  im 
Buddhismus  wiedererkennen. 

So  ist  erstens  das  Motiv  aller  pantheistischen  Religion, 
das  Geflihl  der  Nichtigkeit  aller  Erscheinungen  der  Welt,  und 
das  Bedürfniss  nach  einem  göttlichen  Gehalt  im  Buddhismus  klar 
zu  Tage  tretend;  denn  die  beiden  ersten  Sätze  des  buddhistischen 
Credo  enthalten  den  Ausdruck  dafiir,  dass  alle  Erscheinungen 
der  Welt  vergänglich  sind  und  nur  Leiden  im  Schoosse  bergen, 
da  bei  dem  allgemeinen  Werden  kein  Bestand  und  Sicherheit 
des  Begehrten  und  Gehofften  möglich  sei.  „Dies,  ihr  Mönche, 
ist  die  heilige  Wahrheit  vom  Leiden:  Geburt  ist  Leiden,  Alter 


Werklieiligkcitsenthusiasmus.  407 

ist  Leiden,  Krankheit  ist  Leiden,  Tod  ist  Leiden,  mit  Unliebem 
vereint  sein  ist  Leiden,  von  Liebem  getrennt  sein  ist  Leiden, 
nicht  erlangen  was  man  begehrt  ist  Leiden,  kurz  das  fünffache 
Haften  am  Irdischen  ist  Leiden."  Und  der  zweite  Satz  (Oldenberg, 
Buddha  S.  215)  lautet:  „Dies,  ihr  Mönche,  ist  die  heilige  Wahr- 
heit von  der  Entstehung  des  Leidens:  es  ist  der  Durst  (d.h.  das 
Begehren  nach  den  Erscheinungen  dieser  immer  fliessenden  Welt), 
der  von  Wiedergeburt  zu  Wiedergeburt  führt,  sammt  Lust  und 
Begier,  der  hier  und  da  seine  Lust  findet :  der  Durst  nach  Lüsten, 
der  Durst  nach  Werden,  der  Durst  nach  Macht."  —  Ich  habe 
mir  erlaubt,  die  Uebersetzung  Oldenberg's  hier  ungekürzt  zu 
wiederholen,  damit  das  Motiv  der  Religion  in  seiner  ganzen 
drückenden  Schwere  hervortrete. 

Die  zweite  charakteristische  Linie  des  Pantheismus  über- 
haupt ist  der  Atheismus;  denn  der  auswärtige  Gott,  d.h.  sowohl 
der  Macht-  und  Furchtgott  als  der  Kechtsgott,  muss  vollständig 
aus  dem  Bewusstsein  verschwunden  sein,  ehe  die  pantheistische 
Wendung  eintreten  kann.  So  verwirft  Buddha  die  ganze  theo- 
logische Gelehrsamkeit  der  Brahmanen  und  den  ganzen  Opfer- 
dienst und  sagt  nach  Oldenberg's  Uebersetzung  (S.  175):  „Wie 
eine  Kette  von  Blinden,  also  ist  die  Eede  der  Brahmanen-,  wer 
vorne  ist,  sieht  nichts,  wer  in  der  Mitte  ist,  sieht  nichts,  wer 
hinten  ist,  sieht  nichts.  Wie  denn  nun?  Ist  nicht,  wenn  es  also 
steht,  der  Glaube  der  Brahmanen  eitel?"  So  war  ihm  also  die 
ganze  Theologie  und  das  dazu  gehörige  Opferwesen  ausgelöscht 
und  die  rechte  atheistische  Grundlage  der  Religion  geschaffen. 

Nun  kommen  die  beiden  specifi sehen  Linien  des  Bud- 
dhismus, die  unserer  pantheistischen  Werkheiligkeit  entsprechen, 
nämlich  erstens  negativ  die  Abwesenheit  aller  übrigen  Formen 
des  Pantheismus;  denn  nirgends  eine  Spur  von  Fortschritts- 
enthusiasmus, nirgends  politischer  oder  kirchlicher  oder  Kunst- 
enthusiasmus, nirgends  Quietismus  oder  speculativer  Idealismus. 

Endlich  zweitens  wird  positiv  in  den  beiden  letzten  Wahr- 
heiten des  buddhistischen  Credo  die  alleinige  Erlösung  (d.  h 
Erfüllung  mit  göttlichem  Gehalte  und  Werth)  an  die  Ausübung 
sittlicher  Handlungen  geknüpft,  also  Genuss  der  Werkheiligkeit 
als  das  Wesen  der  Erlösung  aufgefasst.  Ich  lasse  auch  hier  die 
Uebersetzung  vollständig  abdrucken:  „Dies,  ihr  Mönche,  ist  die 
heilige  Wahrheit  von  der  Aufhebung  des  Leidens:  die  Aufhebung 


408  Fantbeismus  der  That. 

dieses  Durstes  durch  gänzliche  Vernichtung  des  Begehrens,  ihn 
fahren  lassen,  sich  seiner  entäussem,  sich  von  ihm  lösen,  ihm 
keine  Stätte  gewähren."  Das  Begehren  (d.  h.  die  Bewegungen 
und  Strebungen,  welche  durch  die  sinnliche  Lust  und  Unlust 
ausgelöst  werden)  führt  ja  in  die  Welt  der  Erscheinungen,  die 
als  nichtig  und  leer  und  leidvoU  erkannt  war.  Das  vierte  Dogma 
lautet:  „Dies,  ihr  Mönche,  ist  die  heilige  Wahrheit  von  dem 
Wege  zur  Aufhebung  des  Leidens:  rechtes  Glauben,  rechtes  Ent- 
schliessen,  rechtes  Wort,  rechte  That,  rechtes  Leben,  rechtes 
Streben,  rechtes  Gedenken,  rechtes  Sichversenken."  Das  immer 
wiederkehrende  identische  Wort  ist  das  Rechte.  Wir  haben 
damit  die  pantheistische  Form  der  Rechtsreligion,  welche  auf 
dem  Gewissen  ruht  und  das  Rechte  sucht,  ohne  Rücksicht  auf 
einen  auswärtigen  Gott  zu  nehmen,  und  welche  in  dem  Genuss 
der  eigenen  Heiligkeit  die  Erlösung  findet. 

Ich  kann  mit  Oldenberg  nicht  ttbereinstimmen, 

Apologid 

des Baddhismus    wcun   Cr  (S.  295)  meint,   dass   das  Sittliche   im 
gegen         Buddhismus  nur  Mittel  zum  Zwecke  sei,  weil  es 

Oldenberg. 

sich  nur  theils  „um  die  geringen  Ziele  glücklichen 
Lebens",  theils  „um  das  höchste  und  absolute  Ziel  der  seligen 
Erlösung"  drehe.  Oldenberg  wird,  wie  die  Texte  zeigen,  dem 
philosophischen  und  religiösen  Geiste  Buddhas  nicht  gerecht, 
wenn  er  ihn  in  die  Fesseln  der  Zeitvorstellung  legt  und  die 
Erlösung  nur  als  etwas  Zukünftiges  betrachtet;  wir  sehen 
vielmehr  überall,  sowohl  aus  der  Consequenz  des  ganzen  Stand- 
punkts, als  auch  aus  den  einzelnen  Lehrsätzen  und  Beispielen 
mit  genügender  Deutlichkeit,  dass  Buddha  in  der  Heiligkeit  selbst 
die  Erlösung  gemessen  will,  dass  der  Standpunkt  wirklich  ein 
pantheistischer  ist  und  dass  der  Weg  zur  Aufhebung  des  Leidens 
unmittelbar  zugleich  das  Ziel,  die  Erlösung  und  Freude  mit 
sich  fuhren  soll.  Alle  die  Forderungen  des  vierten  Dogma, 
z.  B.  kein  lebendes  Wesen  zu  tödten,  sich  nicht  an  fremdem 
Eigenthum  zu  vergreifen,  nicht  die  Gattin  eines  Andern  zu  berühren, 
nicht  die  Unwahrheit  zu  reden,  nicht  berauschende  Getränke  zu 
trinken  u.  s.  w.  enthalten  lauter  Maximen  der  Sitten-  und  Rechts- 
lehre; wer  diese  Forderungen  aber  erflillt,  der  soll  den  Lohn 
dafür  nicht  erst  später  einmal  erhalten,  sondern  dieser  Lohn 
soll  als  Freude  unmittelbar  wie  der  Schatten  damit  verknüpft, 
also  der  Genuss  der  Heiligkeit  selbst,  sein.     Glänzend  sind  die 

uiumzeu  uy  'v_JvyVjVlv^ 


Werkbeiligkeitsentbusiasmns.  409 

Gleichnisse,  wodurch  Buddha  dies  lehrt:  „Wer  mit  unreinen 
Gedanken  redet  und  handelt,  dem  folgt  Leiden  nach,  wie  das 
Kad  dem  Fusse  des  Zugthiers  folgt.  —  Wer  mit  reinen 
Gedanken  redet  und  handelt,  dem  folgt  Freude  nach,  wie  der 
Schatten,  der  nicht  von  ihm  weicht."  Die  unreinen  Gedanken 
sind  aber  ofTenbar  das  verpönte  Begehren,  welches  ja  auf  die 
nichtigen  Erscheinungen  der  Welt  geht  und  also  Leiden  bringt; 
die  reinen  Gedanken  aber  sind  das  rechte  Streben,  rechtes  Ge- 
denken u.  8.  w.,  welches  nach  der  gänzlichen  Vernichtung  des 
Begehrens  bloss  auf  Ausübung  des  Rechtes  gerichtet  ist,  und 
diesem  folgt  also  niemals  von  ihm  weichend  die  Freude,  wie 
der  Schatten. 

Man  sieht  hieraus,  dass  das  überwiegende  Element  des 
Buddhismus  sich  sehr  gut  zur  historischen  Exemplification  der 
pantheistischen  Werkheiligkeitsreligion  eignet  Dass  der  Bud- 
dhismus gleich  Anfangs  auch  andere  Elemente  aus  seiner  Atmo- 
sphäre aufnahm  und  später  vielfach  ausartete,  weiss  Jedermann. 
Uns  interessirt  hier  aber  nicht  die  Chronologie  der  zugehörigen 
Literatur,  durch  welche  die  Inconsequenzen  in  manchen  buddhisti- 
schen Aeusserungen  sich  wohl  erklären  Hessen,  sondern  es  muss 
uns  hier  sogar  gleichgültig  sein,  ob  der  Buddhismus  von  Anfang 
an  inconsequent  war*);  wichtig  ist  ims  hier  nur,  dass  diejenige 
Gesinnung  entschieden  überwiegt,  welche  diese  Religion,  wie 
gesagt,  zur  Exemplification  der  Werkheiligkeit  brauchbar  macht. 

Da  dieser  ganze  Standpunkt  auf  einem  Ueber- 
gewicht  des  handelnden  Vermögens  der  Seele  über 
die  beiden  übrigen  Vermögen  beruht,  so  liegt  darin  sofort  auch 
schon  der  Grund  zu  seiner  Verurtheilung;  denn  es  fehlt  dabei 
gänzlich  ein  Princip,  um  die  Pflichten,  die  wir  durch  unsere 
Handlungen  erfüllen  sollen,  zu  bestimmen.  Darum  muss  diese 
Werkheiligkeit  wesentlich  bloss  in  der  Mühe  und  Selbstüber- 
windung liegen  und  sich  also  zum  wirklichen  Leben  und  zu 
den  natürlichen  Trieben  negativ  verhalten.  Da  nämlich  das  Ich 
sich  auf  diesem  Standpunkt  in  den  Geist  setzt,   der  Geist    aber 


*)  Die  Frage,  ob  die  Erlösung  in  der  Zukunft  liegen  oder  wirklich 
sein  soll,  begegnet  uns  später  auch  im  Ghristenthum ,  wo  ebenfalls  sich 
widersprechende  Stellen  citirt  werden  können.  Die  Auflösung  dieses  schein- 
baren Widerspruches  ist  nicht  schwer,  und  wir  müssen  bei  der  C">->j  altuvto^ 
davon  handeln.  ^  j 

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410  Pantheismus  der  That. 

noch  keinen  Inhalt  hat,  sondern  nur  als  handelndes  Vermögen 
auftritt;  so  bleibt  gar  nichts  anderes  zu  thun  übrig,  als  die  Be- 
gehrungen der  sinnlichen  Seite  des  Menschen  zu  bekämpfen; 
denn  gerade  über  die  Sinnlichkeit  hinaus  war  ja  jetzt  der  Schwer- 
punkt der  Seele  gewendet,  und  es  kommt  nun  also  darauf  an 
zu  zeigen,  dass  man  kein  Knecht  der  Trägheit,  der  Völlerei,  der 
Wollust  u.  s.  w.  mehr  ist.  Darum  ist  das  einzige  Princip  dieser 
Werkheiligkeit,  solche  Handlungen  beständig  auszuüben,  bei 
welchen  man  Mühe  hat,  sich  selbst  überwinden  muss,  wobei 
kein  sinnliches  Vergnügen  stattfindet,  ja  womöglich  wobei  Schmerz 
und  allerlei  Leiden  ertragen  werden  müssen.  Also  gehört  dahin 
auch  Kasteiung,  Pasten,  Keuschheit,  jede  Askese,  Opfertod  u.dergL, 
und  der  Genuss  der  Werkheiligen  besteht  gerade  in  dem  Bewusst- 
sein,  wie  schwer  eigentlich  solche  Handlungen  für  einen  natür- 
lichen Menschen  sind. 

Mithin  ist  diese  ganze  pantheistische  Frömmigkeit  inhalts- 
los; denn  es  lässt  sich  gar  kein  vernünftiger  Grund  daftlr  an- 
geben, weshalb  man  all  dies  thun  und  lassen  soll.  Es  fehlt  ja 
jedes  System  einer  Ethik,  jede  Ableitung  und  Definition  der 
Pflichten,  da  nur,  wenn  die  übrigen  Seiten  des  Menschen  hinzu- 
genommen würden,  eine  auf  den  idealen  Zweck  des  Menschen 
aufgebaute  positive  Sittlichkeit  denkbar  wäre.  Also  ist  der 
ganze  Werth  dieses  Werkheiligkeitsstandpunktes  nur  der  Gehor- 
sam, der  aus  dem  Geiste  stammt  und  über  die  Sinnlichkeit 
triumphirt;  aber  es  müssen  erst  noch  höhere  Auffassungen  kommen, 
welche  flir  den  Gehorsam  einen  passenden  Inhalt,  ein  System 
von  Gütern  und  Pflichten  ausfindig  machen.  Bei  den  buddhisti- 
schen Heiligen  kann  man  es  vorzüglich  sehen,  dass  sie  die  ver- 
meintlichen, oft  ganz  albernen  Pflichten,  z.  B.  kein  Thier  zu 
tödten,  irgendwoher  aus  dem  Bewusstsein  der  Umgebung  auf- 
nehmen, oder  weil  es  Mühe  kostet,  sich  diesen  oder  jenen  Genuss 
zu  versagen.  Es  ist  daher  gar  nicht  zum  Verwundern,  dass 
Buddha  wegen  der  Beschränktheit  seines  Standpunkts  nicht  einmal 
zum  Bewusstsein  über  denselben  kommen  konnte  und  einen  bloss 
scheinbaren  und  zufälligen  Beweggrund  unterlegte,  nämlich  dem 
Leiden  der  Welt  zu  entfliehen  und  eine  beständige  Freude  zu 
finden,  also  die  hedonistische  Motivirung.  Allein  Hedonismus  ist 
seine  Lehre  dennoch  nicht,  und  wir  verstehen  Buddha  viel  besser, 
als  er  sich  selbst  verstand:   denn  er  suchte  das  Uebergewicht 


Werkheiligkeitsenthusiasmus.  411 

des  Geistes  durch  den  Gehorsam  und  fand  zwar  die  zugehörige 
sittliche  Freude,  aber  noch  nicht  den  Inhalt  des  geistigen  Lebens 
und  noch  nicht  die  Erkenntniss  Gottes  und  der  Welt. 

Ebensowenig  wie  Buddha  verstehen  sich  die  vielen  modernen 
pantheistischen  Werkheiligen,  welche  wir  überall  verbreitet  finden, 
und  die  immer  bereit  sind,  mit  Freude  irgend  eine  mühevolle 
Arbeit  für  Andere  zu  leisten  und  sich  aufzuopfern,  obgleich  sie 
selber  und  die  für  solche  Opfer  verwendete  Zeit  oft  viel  werth- 
voller  sind,  als  die  elenden  Dinge,  für  welche  sie  mit  Selbst- 
befriedigung und  oft  ohne  allen  Dank  und  ohne  bewundert  zu 
werden,  sich  und  ihr  Leben  darbringen.  Die  Aehnlichkeit  solcher 
Menschen  mit  den  Frommen  der  reinen  Rechtsreligion  ist  deshalb 
in  die  Augen  fallend,  und  es  kann  nicht  fehlen,  dass  sie  in 
Wirklichkeit  auch  in  einander  übergehen,  jenachdem  bei  jenen 
Gläubigen  der  Glaube  an  den  auswärtigen  Bechtsgott  mehr  und 
mehr  schwindet,  oder  bei  diesen  Pantheisten  der  Grund  der 
Verbindlichkeit  der  Handlungen  leiser  oder  deutlicher  an  die 
Vorstellung  eines  gebietenden  Gottes  angeknüpft  wird,  was  ja, 
wenn  der  Pantheismus  sich  ausbreitet,  fast  mit  Nothwendigkeit 
geschehen  muss,  da  theils  die  Vernunft  von  selbst  eine  Theologie 
erzeugt,  theils  die  mehr  in  Vorstellungen  als  in  Begriffen  denken- 
den vulgäreren  Menschen  immer  wieder  zu  dem  Bechtsgott  und 
gewöhnlich  auch  zu  dem  Furchtgott  übergehen  werden. 


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Drittes  Capitel. 
Pantheistischer  Staats-Enthnsiasmns. 


Der  Standpunkt,  den  wir  eben  wegen  seiner  Inhaltslosigkeit 
verartheilten,  kann  nun  durch  Anfhahnie  eines  bedeutenden  Inhalts 
zu  einer  grösseren  Energie  gehoben  werden.  Den  unteren  Stufen 
gehört  immer  die  Farbe  der  perspectivischen  Betrachtungsweise 
an,  und  so  fasste  der  Werkheiligkeitsenthusiast  zwar  das  Ich 
als  Geist,  aber  er  betrachtete  es  noch  als  einzelnen  Geist.  Wenn 
die  Auffassung  freier  von  der  Einzelpersönlichkeit  wird,  so  kann 
man  alle  Menschen  unter  denselben  Gesichtspunkt  bringen  und 
auf  diese  Weise  der  geistigen  Thätigkeit  nicht  bloss  einen 
grösseren  Umfang,  sondern  zugleich  auch  einen  neuen  geistigen 
Inhalt  geben.  Denn  was  für  mich  Gesetz  ist,  das  soll  auch 
Gesetz  für  die  Andern  sein.  Indem  ich  nun  die  Vielen  unter 
einem  Gesetz  zusammenfasse,  bildet  sich  mir  die  Idee  einer 
Ordnung  aus,  nach  welcher  alle  Gleichen  und  Ungleichen  zu- 
sammen leben  sollten.  Eine  solche  Gesellschaftsordnung,  die 
sich  nicht  natürlich  durch  die  Bedürfnisse  und  die  angeborenen 
Triebe  und  Anlagen  der  Menschen  von  selbst  bildet,  sondern  erst 
aus  der  höheren  Erkenntniss  von  dem,  was  sein  sollte,  auch 
wenn  es  nicht  ist,  hervorgeht,  können  wir  nun  die  Staatsidee 
nennen  und  werden  demgemäss  begreifen,  wie  die  höheren  sitt- 
lichen Naturen  sich  mit  einem  mächtigen  und  specifisch  neuen 
Motiv  auf  die  energische  Durchführung  dieser  göttlichen  Ordnung 
des  Gesellschaftslebens  geworfen  haben.  Ist  es  doch  generell 
genommen  dasselbe  Motiv,  welches  hier  wie  bei  dem  vorigen 
Standpunkt  wirkt,  nämlich  einerseits  das  Gefühl  der  Nichtigkeit 
des  Lebens,  der  Gottesverlassenheit  der  Welt,  der  Trostlosigkeit 
des  Daseins,  wie  andererseits  das  Bedüriniss  nach  Erlösung, 
d.  h.  nach  Gotterfiillung,  nach  Anwesenheit  und  Herrschaft  eines 


Staatsenthusiasmus.  413 

Gottes!  Und  dieses  Bedürfiiiss  findet  nun  in  der  über  die  sinn- 
lich-leidenschaftliche Natur  triumphirenden  Macht  des  unsicht- 
baren geistigen  Elementes,  welches  in  die  ganze  Gesellschaft 
Ordnung  und  Gesetz  bringt,  eine  hohe  Befriedigung. 

Ich  meine  aber  mit  dem  Staatsenthusiasmus  nicht  etwa  den 
Ehrgeiz  und  die  Herrschsucht;  denn  diese  beiden  Leiden- 
schaften ruhen  auf  perspectivischem  Standpunkt  und  betrachten 
alle  Menschen  und  Ereignisse  nur  nach  der  Beziehung  zu  einer 
Einzelpersönlichkeit,  was  selbst,  wenn  es  in  dem  grossartigsten 
Umfange  und  Massstabe,  wie  etwa  bei  einem  Napoleon,  durch- 
geftihrt  wird,  zwar  wohl  wegen  der  Grösse  der  mitspielenden 
Kräfte  Erstaunen  und  auch  Bewunderung  hervorrufen  kann,  aber 
nicht  zu  dem  Bereich  des  viel  höheren  Enthusiasmus  gehört. 
Während  uns  diese  Leidenschaften  die  unreine  Form  der  ge- 
suchten Religion  bilden,  so  soll  der  Enthusiasmus  eine  göttliche 
oder  religiöse  Macht  und  ein  aus  objectiver  Betrachtung  hervor- 
quellendes Gefühl  sein. 

Den  politischen  Enthusiasmus  können  wir  schon  an  den 
alten  und  sagenhaften  Erzählungen  von  Lykurg  und  durch  die 
historisch  ächten  Schriften  Platon's,  die  von  einem  verwandten 
Geiste  herrühren,  genügend  illustriren,  ohne  modernere  Beispiele 
heranzuziehen.  Solche  Naturen,  wie  Lykurg  und  Piaton,  waren 
bereit,  sich  selbst  ohne  Ehrgeiz  und  Herrschsucht  von  der  Bühne 
des  Staatslebens  zurückzuhalten,  damit  das  heilige  Götterbild 
des  von  ihnen  entworfenen  Staates  frei  ftlr  sich  lebe.  Wenn  ich 
Piaton  hier  anftihre,  so  weiss  ich  wohl,  dass  er  zugleich  einem 
anderen  religiösen  Standpunkte  angehört,  und  wir  werden  diesen 
theoretischen  Idealismus  noch  zu  studiren  haben,  aber  Piaton 
hatte  doch  auch  den  hier  gemeinten  Staatsenthusiasmus  in  sich, 
und  von  seinen  frühesten  bis  zu  seinen  letzten  Schriften  empfinden 
wir  bei  ihm  immer  den  Hauch  göttlicher  Begeisterung  für  die 
politische  Idee,  für  die  Ordnung  des  Lebens  einer  Gesellschaft 
nach  der  Norm  des  Geistes,  der  die  natürlichen  Leidenschaften 
zum  Gehorsam  zwingt. 

Die  Dogmatik  dieses  religiösen  Standpunktes  be- 
steht in  der  Ausbildung  eines  Staatsideals,   wodurch 
der  Geist  Inhalt  gewinnt  und  sich   über   den  zunächst  vorher- 
gehenden Standpunkt  erhebt;   denn   die  Form  des  Staatslebens, 
die   Verfassung,    die  Rechtsordnungen   und   Verwaltungsnormen 

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414  Pantheismus  der  That. 

Bind  nun  der  in  der  Gegellschaft  gegenwärtige  göttliche  Geist, 
nicht  ein  auswärtiger  phantastischer  Gott,  der  bloss  Opfer 
empfinge  und  Wohlthaten  spendete  oder  vom  Himmel  her  Ge- 
setze gäbe,  sondern  pantheistisch  gedacht  ein  über  die  natür- 
lichen Triebe  mächtiger  Geist,  in  welchem  das  Ich  verschwindet, 
eine  im  Menschen  oflFenbar  gewordene  höhere  und  heilige  Macht, 
welche  das  leidenschaftliche  Begehren  ordnet  und  als  etwas 
UebernatUrliches  in  den  Menschen  regiert  Da  das  einzelne  Ich 
bei  dem  Pantheismus  überhaupt  in  die  geistige  Function  ver- 
schwindet, so  ist  dies  hier  besonders  leicht  verständlich,  weil  durch 
die  Staatsidee  der  Geist  ja  eine  gegenständliche  Form  erhält 
und  das  Rechtsleben  als  der  objective  Geist  der  Gesellschaft 
in  bestimmten  Begriffen  gefasst  werden  kann. 

Um  an  moderne  Beispiele  zu  erinnern,  erwähne  ich  den  aus 
den  Reden  an  die  deutsche  Nation  bekannten  Staatsenthusiasmus 
von  Fichte,  der  nicht  atheistisch,  aber  wohl  pantheistisch  die 
Weltordnung,  als  das  lebendig  wirkende  Sittengesetz,  in  die  Ver- 
fassung der  deutschen  Nation  metamorphosirte.  Aehnlich  ist 
auch  Hegers  Apotheose  des  Staates  aufzufassen,  sofern  der 
Staat  bei  ihm  als  Gott,  d.  h.  als  objectiver  Geist,  die  Gesell- 
schaft durchdringt.  Damit  werden  uns  nun  nicht  etwa  leere 
Phrasen,  oder  bloss  philosophische  Lehrsätze  aufgetischt,  sondern 
es  liegt  darin  die  wirkliche  Ueberzeügung  oder  die  Dogmatik 
von  sehr  vielen  Menschen  aus  allen  Zeiten  und  besonders  aus 
unserer  Zeit;  denn  wer  kennt  sie  nicht,  die  den  Glauben  an  den 
christlichen  Gott  verloren  haben  und  nur  die  Idee  der  Mensch- 
heit in  dem  Rechtsleben  der  Gesellschaft  glorificiren  und  anbeten. 
Doch  kommt  es  bei  dem  Staatsenthusiasmus  nicht 
so  sehr  auf  die  Dogmatik  an,  als  auf  den  Cultus; 
darum  will  ich  auch  die  zugehörige  Ethik  nur  kurz  berühren. 
Das  ethische  Motiv  liegt,  wie  schon  oben  dargelegt,  in  der  Be- 
ziehung des  Geftihls  auf  die  sociale  Welt  und  ist  also  nur 
generisch,  aber  nicht  specifisch  dasselbe,  wie  bei  dem  vorher- 
gehenden Standpunkt;  denn  es  dreht  sich  hier  nicht  um  die 
Obherrschaft  des  Geistes  über  die  eigene  Trägheit  und  Leiden- 
schaft, sondern  um  das  Verhalten  der  ganzen  Gesellschaft,  welches 
hier  den  Inhalt  unseres  Geftihlslebens,  unseres  Missfallens,  wie 
unserer  Freude  und  Begeisterung  bildet  Möge  man  dabei  an 
das  grosse  Herz  des  activen  Staatsmannes  denken,  oder  an  den 

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Staatsen  thusiasmus.  415 

Patriotismus  und  die  nationale  Gesinnung  des  einfachen  Bürgers: 
immer  ist  das  Gemüth  des  Staatsentbusiasten  von  dem  Leben 
der  Gemeinschaft  erfllUt,  so  dass  er  alle  individuelle  Interessen 
bereitwilligst  auf  den  Altar  des  Vaterlandes  legt.  Eine  solche 
Gesinnung  erhebt  sich  hoch  über  die  z.  B.  von  Spencer  vertretene 
weichliche  und  auf  sinnliche  Glückseligkeit  aller  Einzelnen  ge- 
richtete Stimmung  des  Fortschrittsenthusiasmus,  da  sie  vielmehr 
die  Herbigkeit  des  objectiven  Rechts  in  sich  aufnimmt,  so  dass 
ein  Staatsenthusiast,  wie  Piaton,  dem  hierin  auch  Graf  Moltkc 
beipflichtet,  von  Zeit  zu  Zeit  Krieg  wünschen  oder  herbeiführen 
muss,  damit  die  Mannhaftigkeit  und  geistige  Zucht  der  Bürger 
nicht  herabsinke.  Deshalb  wird  auch  in  der  lakonischen  Ver- 
fassung und  ebenso  bei  Piaton  das  Einzelleben  überhaupt  gar 
nicht  geschont,  sondern  vielmehr  eine  Grausamkeit  Kranken, 
Schwachen  und  Fehlenden  gegenüber  an  den  Tag  gelegt.  Der 
Staat  verlangt  eben  das  Opfer  der  Einzelpersönlichkeit,  die  nur 
Werth  für  das  Ganze  hat  und  selbst  nur  im  Gefühl  des  Ganzen 
lebt.  Tu  regere  imperio  populos,  Romane,  memento.  Hae  tibi 
erunt  artes,  parcere  subjectis  et  debellare  superbos.  Dieses  von 
Vergilius  mit  Aplomb  ausgesprochene  politische  Bewusstsein  und 
Geflihl  ist  das  ethische  Princip  unserer  Religion  hier,  und  dieses 
lässt  den  Egoismus  ganz  verschwinden,  weshalb  der  moderne 
Socialismus  und  die  Bestrebungen  der  sogenannten  Internatio- 
nale nichts  damit  zu  thuu  haben,  welche  vielmehr  auf  dem  Stand- 
punkt des  pantheistischen  Fortschrittsenthusiasmus  stehen. 

Da  wir  hier  aber  die  Religionsformen  betrachten, 
bei  denen  das  Uebergewicht  dem  handelnden  Ver- . 
mögen  des  Geistes  zuftlUt,  so  muss  uns  auch  der  Cultus  die 
Hauptsache  sein.  Ich  meine  nicht  einen  solchen  spielerischen, 
allegorischen  Cultus,  wie  ihn  die  französische  Revolution  mit  der 
Göttin  der  menschlichen  Vernunft  zum  Besten  gab,  sondern  ich 
meine  die  ernste  That;  denn  in  Wahrheit  dreht  es  sich  auch 
bei  den  Staatsenthusiasten  nicht  so  sehr  um  die  zugehörigen 
Staatstheorien  und  Gesinnungen,  als  vielmehr  um  ein  in  den 
Staat  aufgehendes  Leben.  Der  wirklich  Fromme  dieses  Stand- 
punktes ist  durch  die  immer  neu  auftauchenden  praktischen 
Fragen  und  Geschäfte  des  politischen  Volkslebens  dermassen 
angefüllt,  dass  er  in  rastloser  Arbeit  wenig  Müsse  kennt  und 
vielmehr  seinen  nicht  sinnlichen,  sondern  geistig-religiösen  Genuss 

u.quizeauy  Google 


416  Pantheismuß  der  That. 

gerade  ia  dem  Bewusstsein  der  Schwierigkeit  und  des  Ernstes 
der  Geschäfte  hat.  Er  treibt  die  Verwaltungs-,  Justiz-  und  Gesetz- 
gebungs-Angelegenheiten nicht  um  des  Lohnes  willen,  nicht  aus 
Ehrgeiz  oder  Herrschsucht,  sondern  mit  einer  religiösen  Gewissen- 
haftigkeit, indem  zugleich  seinem  Ich,  welches  in  den  Gegenstand 
der  Geschäfte  verschwindet,  eine  absolute  Wichtigkeit  und  ein 
gewissermasser  sacramentaler  Charakter  zu  Theil  wird,  so 
dass  selbst  die  Last  und  Bürde  der  Staatsgeschäfte,  ähnlich  wie 
bei  der  Askese  des  vorigen  Standpunktes,  ihn  mit  einer  gött- 
lichen Würde  erfüllt  und  ihm  das  feierlich  herbe  Lustgefühl  der 
zugehörigen  religiösen  Begeisterung  verleiht.  Wer  auch  aus 
eigener  Erfahrung  diese  Stimmung  nicht  kennen  sollte,  wird 
gewiss  doch  Gelegenheit  gefunden  haben,  wenigstens  unter  den 
Eindruck  dieser  eigenthümlichen  Frömmigkeit  zu  kommen,  die 
bei  ihrem  pantheistischen  Charakter  gerade  den  persönlichen 
Träger  der  amtlichen  Function  religiös  verklärt  und  ihm  nicht 
etwa  den  Vorwurf  des  Beamtenstolzes  oder  das  hier  viel  zu  ge- 
ringe Lob  der  amtlichen  Pflichttreue  zuzieht,  sondern  ihn  mit 
einem  heiligen  Nimbus  umkleidet,  so  dass  man  gleichsam  das 
in  dieser  ßeligionsform  erfasste  Göttliche  in  der  sterblichen  Per- 
sönlichkeit wie  in  Erscheinung  und  Wirksamkeit  tretend  ver- 
ehren kann, 

Die  ungemessene  Ruhmsucht,  die  besonders  im 
^  Fora  "^  Alterthum  so  hervorstechend  ist,  kann  als  die  unreine 
Form  dieser  Religion  betrachtet  werden;  denn  wenn 
z.  B.  Epaminondas  sterbend  gesagt  haben  soll:  „ich  hinterlasse 
euch  zwei  unsterbliche  Töchter,  die  Schlachten  von  Leuctra  und 
Mantinea^' :  so  liegt  darin  nicht  bloss  die  Hochempfindung  seines 
individuellen  Ruhmes,  sondern  es  ist  aus  seinem  Leben  offenbar, 
dass  er  sein  Ich  in  die  Interessen  seines  Thebanischen  Staats- 
lebens verschwinden  Hess  und  also  in  dem  Ruhme  seines  Vater- 
landes sich  nur  als  Träger  der  Handlung  in  religiöser  Weise 
mitgenoss.  In  ähnlicher  Weise  fühlen  die  Franzosen  auch 
in  Victor  Hugo's  Prahlereien  von  Paris  als  der  Sonne  der 
Welt  den  glühenden  Odem  religiöser  Hingebung  an  die  Nation. 
Und  es  kommt  bei  dieser  Religionsfrage  häufig  nur  auf  eine 
geringe  und  nicht  immer  nachweisbare  Verschiebung  des  Schwer- 
punktes der  Gefühle  an,  um  solche  Gesinnung  als  Ruhmsucht 
oder   als  Staatsenthusiasmus   zu  bezeichnen.     Der  Ruhm   selbst 

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Staatsenthusiasmus.  417 

ist  ja  auch  nichts  anderes  als  die  Vorstellung  und  das  beglei- 
tende Gefühl,  wovon  die  Mitbürger,  die  Mitwelt  oder  die  Nach- 
lebenden in  Bezug  auf  den  Berühmten  erfüllt  sind,  also  ein 
sociales  Gut,  ein  objectiver  Geist,  mit  welchem  der  Berühmte 
als  erste  Ursache  inniger  verknüpft  ist,  als  die  Andern,  während 
doch  Alle  in  diesem  Ruhm  einen  werthvoUen  Lebensinhalt  be- 
sitzen, weil  er  dem  Ganzen  gehört,  d.  h.  fUr  das  Ganze  erworben 
und  von  dem  Ganzen  getragen  wird. 

Darum  vernichtet  der  Verlust  des  Ruhms  auch  die  moralische 
Existenz  des  Menschen  in  seinem  eigenen  Gefühle,  wie  dasselbe 
in  geringerem  Grade  auch  von  der  Ehre  gilt,  die  auch  als 
sociales  Gut,  in  welches  das  Ich  verschwindet,  um  sich  darin  zu 
erhalten  und  zu  gemessen,  über  die  Gränzen  der  Persönlichkeit 
hinausreicht  und  ein  geistiges  Dasein  in  Vielen  hat.  Aber  gerade 
dieses  von  mancherlei  Zufälligkeiten  und  Irrthümem  abhängige 
Entstehen  und  Vergehen  von  Ehre  und  Unehre,  Ruhm  und 
Schande,  zeigt  auch  den  Unterschied  der  religiösen  von  dieser 
leidenschaftlichen  socialen  Gesinnung;  denn  der  wahrhaft  Reli- 
giöse wird  selbst  von  der  Unehre  nicht  erdrückt,  sondern  arbeitet 
im  Dienste  des  Staates  weiter  und  unterzieht  sich,  wie  der  Pla- 
tonische Sokrates  dies  dem  Kriton  auseinandersetzt,  im  Gehorsam 
gegen  die  Gesetze  auch  dem  Tode,  um  durch  sein  Opfer  wieder 
fromm  dem  Ganzen  sich  zu  weihen. 


_/    >>'     '^  t''R        -^\, 


Teichmüller,  BeliglonaphUoiOphlo.  Digitii^  by  VjOOQIC 


Viertes  Capitel. 
Der  pantheistische  Kirchenenthu8iasmas. 


Vom  Ghristenthum  als  der  wahren  Religion  darf 

Zur  Topik.  -r^.      ,     .,  ,      .  t^     i  . 

unserer  Eintheilang  gemäss  keme  Bede  sein,  wenn 
wir  die  untergeordneten,  falschen  und  einseitigen  Religionsformen 
betrachten.  Gleichwohl  konnten  wir  bisher  nicht  umhin,  bei  der 
Erörterung  aller  früheren  Religionsformen  immer  zugleich  irgend 
welcher  Abkömmlinge  aus  dem  sogenannten  christlichen  Reli- 
gionskreise  zu  gedenken,  die  wunderlicher  Weise,  wie  fürstliche 
Gäste  in  ein  Bauernhaus,  in  niedrigere  Sphären  versprengt  zu  sein 
schienen.  Wie  aber,  wenn  die  normalen  Lebensfunctionen  ge- 
stört sind,  die  Gesetze  der  niedrigeren  Naturstufen  in  ihr  Recht 
eintreten,  so  dass  im  Gebiete  des  Organismus  eine  Menge  von 
pathologischen  Erscheinungen  vorkommen,  die  bloss  nach  der 
anorganischen  Chemie  und  nach  der  Physik  zu  erklären  sind: 
so  ist  es  in  derselben  Weise  möglich,  pathologische  Formen  des 
religiösen  Lebens  im  Ghristenthum  anzuzeigen,  welche  nicht 
specifisch  christlich,  sondern  den  Gesetzen  der  zugehörigen 
untergeordneten,  falschen  und  einseitigen  Religionstypen  unter- 
worfen sind. 

Nachdem  wir  dergleichen  pathologische  Formen  im  Ghristen- 
thum schon  bei  den  projecti vischen  Religionen  erörtert  haben, 
können  wir  hier  bei  den  drei  Formen  des  Pantheismus  auch  eine 
dreifache  Verirrung  des  religiösen  Lebens  im  Bereiche  der  ge- 
schichtlichen christlichen  Kirche  gewissermassen  von  der  Quelle 
ableiten.  Da  Religion  nämlich  die  Gesinnung  ist,  die  wir  gegen 
Gott  haben  und  in  unseren  drei  Lebensfunctionen  ausdrtlcken, 
so  können  diese  Functionen,  statt  sich  in  ihren  ursprünglichen 
Grenzen  zu  halten,  zur  Hauptsache  werden,  so  dass  der  Mensch 
ihren   Zweck  vergisst  und  nicht  mehr  seine   Gesinnung   darin 

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Eirchenenthusiasmus.  419 

symbolisiren  will,  sondern  die  Functionen  selbst  zum  Zweck 
macht,  oder,  wie  man  das  Verhältniss  wohl  noch  besser  bezeich- 
nen könnte,  ganz  in  der  Function  aufgeht.  Deshalb  giebt  es 
drei  pantheistische  Verirrnngen  des  Ghristenthums,  nicht  mehr 
und  nicht  weniger,  die  man  als  Eirchenenthusiasmus,  Mysticis- 
mus  und  Gnosis  bezeichnen  kann  und  die  jedesmal  durch  ein 
pathologisches  Uebergewicht  entweder  der  handelnden  Function, 
oder  des  Gefühls,  oder  der  Erkenntniss  entspringen.  Für  den 
Mysticismus  giebt  es  viele  Vertreter  schon  im  christlichen  Alter- 
thum  und  im  Mittelalter,  in  unserem  Jahrhundert  ist  aber  Schleier- 
macher der  systematische  Repräsentant;  ebenso  bekannt  ist  die 
christliche  Gnosis,  die  vom  ersten  Jahrhundert  an  als  pathologi- 
sche Erscheinung  das  christliche  Leben  begleitet  und  in  unserem 
Jahrhundert  besonders  durch  Fichte  und  Hegel  Schule  gemacht 
hat.  Obwohl  man  die  systematische  Topik  dieser  pantheistischen 
Verirrungen  bisher  sehr  ungenügend  verstanden,  so  war  doch 
die  Aufmerksamkeit  auf  beide  pathologische  Formen  gerichtet; 
nicht  das  Gleiche  aber  lässt  sich  vom  Kirchenenthusiasmus  sagen, 
der  zwar  von  dem  gesunden  christlichen  Leben  inuner  als  un- 
ächt  empfunden,  aber  von  Seiten  der  theologischen  Wissenschaft 
noch  nicht  als  pantheistisch  und  als  den  vorigen  beiden  Formen 
systematisch  coordinirt  erkannt  worden  ist.  Wir  dürfen  ihm  des- 
halb eine  besondere  Betrachtung  widmen,  vorzüglich  da  wir  die 
entsprechenden  christlichen  Krankheitsbilder  ftlr  die  übrigen  For- 
men des  Pantheismus  der  That  nicht  weiter  berücksichtigen 
wollen. 

Der  pantheistische  Staatsenthusiast  betrachtet  die 

Aetioloffio  und 

ganze  Welt  nur  als  Basis  des  menschlichen  Lebens  g^miotik. 
und  lässt  den  Staat  alle  Interessen  der  Gesellschaft 
umfassen,  so  dass  die  Politik  selbst  die  einzige  Religion  ist. 
Trotzdem  kann  von  diesem  Standpunkte  aus  ein  Cultus  von 
projectivisch  gedachten  nationalen  Furcht-  oder  Rechts -Göttern 
geduldet,  oder  sogar,  wie  z.  B.  von  Piaton,  beflirwortet  werden, 
sofern  eine  solche  scheinbar  vom  Staatsleben  verschiedene  Re- 
ligion als  ein  pädagogisches  Mittel  der  Politik  untergeordnet 
wird  und  den  Staatsmännern  zur  Erziehung  und  Lenkung  des 
Volkes  brauchbar  erscheint. 

Das  Ghristenthum  als  wahre  Religion  kann  aber  umgekehrt 
dem  Staate  und  der  Politik  nur  eine  untergeordnete  Bedeutung    , 

uiyii2^*uy  x^jOOQIC 


420  Pantheismus  der  That. 

zuerkennen,  weil  der  Staatsmann  in  den  zufällig  gegebenen  Ver- 
hältnissen der  Gesellschaft  und  ihren  zufälligen  Wünschen  und 
Leidenschaften  keine  autoritativen  Normen  findet,  sondern  den 
Zweck  seiner  Kunst  erst  als  Aufgabe  von  einer  höheren  Stelle 
empfangen  muss.  Mithin  schreibt  sich  der  Christ,  sofern  er  das 
ganze  Leben  des  Menschen,  das  zeitliche  wie  das  zukünftige 
als  durch  eine  göttliche  Ordnung  bestimmt  erkennt,  auch  die  Be- 
fugniss  zu,  die  Leistungen  des  Staatsmanns  zu  beurtheilen, 
was  immer  die  Sache  der  höheren  Stelle  in  Beziehung  auf  die 
untergeordnete  ist 

Da  nun  das  Christenthum  zwar  ein  verborgenes  Leben  in 
dem  Christen  bildet,  aber  durch  die  ihm  zugehörigen  Handlun- 
gen in  die  Sinnenwelt  tritt  und  durch  die  Gemeinschaft  der 
Christen  untereinander  auch  eine  gesellschaftliche  Ordnung  be- 
gründet: so  kann  es  leicht  kommen,  dass  wegen  der  Theilung 
aller  Functionen  die  eine  oder  die  andere  vorherrschend  geübt 
und  demgemäss  unter  gewissen  Umständen  und  bei  bestimmter 
Begabung  diese  handelnde  Function,  auf  welcher  die  sogenannte 
Kirche  oder  das  sichtbare  Reich  Gottes  ruht,  zu  dem  hauptsäch- 
lichsten Inhalte  des  geistigen  Lebens  erhoben  wird.  Dadurch 
wird  dann  nothwendig  die  Ordnung  des  religiösen  Lebens  in  der 
Seele  verkehrt,  indem  die  blosse  Aeusserung  und  Symbolisirung 
der  Gesinnung  sich  zum  Selbstzweck  aufbläht  und  in  einen  Ent- 
zündungsprocess  übergeht,  so  dass  die  Gesinnung  von  ihrem  zu- 
geordneten Beziehungspunkte,  von  Gott,  abgelenkt  wird  und  in 
das  blosse  politische  Leben  der  Kirche  verschwindet,  wie  dem- 
entsprechend der  göttliche  oder  heilige  Geist  pantheistisch  in  den 
Gemeingeist  der  Kirchenglieder  übergeht  Offenbar  ist  also  die 
Hypertrophie  der  handeUiden  Function  die  Ursache  der  ganzen 
pathologischen  Erscheinung  und  mithin  der  Kirchenenthusiasmus 
nur  eine  Spielart  des  Staatsenthusiasmus,  von  dessen  übrigen 
Arten  er  sich  nur  durch  die  historisch  christliche  Färbung,  welche 
dem  Inhalte  des  Gemeinschaftslebens  anhaftet,  unterscheidet 

Wir  müssen  nun  die  Form  eines  solchen  pan- 
theistischen  Kircbenenthusiasmus  hypothetisch  con- 
struiren  und  nach  den  drei  constitutiven  Functionen  im  Beson- 
dern bestimmen,  wobei  sich  der  dem  Christenthum  nicht  mehr 
angemessene  Charakter  desselben  breiter  und  kenntlicher  aus- 
legen kann.    Was  zunächst  die  Dogmatik  betrifft,  so  wird  man 

uiyiüzeu  üy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


KirchenenthaBiasmus.  421 

zwar  wegen  des  positiv  historischen  Ursprungs  noch  die  christ- 
lichen kanonischen  Schriften  als  Erkenntnissquellen  benutzen, 
um  überhaupt  einen  Meinungs-  oder  Glaubens-Inhalt  zu  haben; 
da  aber  die  Quellen  verschieden  interpretirt  und  die  Dogmen 
verschieden  formulirt^  werden  können,  so  wird  der  Kirchen- 
enthusiast die  Norm  der  Dogmatik  in  socialen  Gesichtspunkten 
suchen  und  unter  den  verschiedenen  Modificationen  und  Gegen- 
sätzen darnach  die  Wahl  treffen,  ob  es  für  das  Zusammenleben 
der  Christen  nützlich  sei,  dies  oder  das  zu  glauben,  dass  z.  B. 
einen  persönlichen  Teufel  zu  glauben  nützlich  und  nothwendig 
sei,  um  die  Autorität  der  heiligen  Schrift  in  dem  Gemeindebe- 
wusstsein  nicht  zu  vermindern,  oder  um  die  Furcht  vor  dem 
ganzen  Reich  des  Bösen  in  der  Phantasie  des  Volkes  lebendig 
zu  erhalten  und  die  Energie  des  Kampfes  gegen  solche  persön- 
liche Macht  zu  steigern.  Wenn  auf  ähnliche  Art  und  Weise  z.  B. 
die  lutherische  Abendmahlslehre  empfohlen  würde,  damit  nicht, 
wie  in  der  katholischen,  die  Selbstthätigkeit  des  Gläubigen  bei 
dem  Empfange  der  Gnadengabe  gemindert  werde,  und  anderer- 
seits damit  nicht,  wie  in  der  reformirten,  das  von  dem  kirch- 
lichen Amte  dargebotene  Sakrament  im  Bewusstsein  des  Gläu- 
bigen an  Werth  verliere,  so  wird  offenbar  die  Dogmatik  ihrer 
Selbständigkeit  beraubt  und  zu  einem  blossen  Mittel  für  das 
kirchliche  Leben  herabgesetzt 

Ebenso    ist    die    Ethik    dieses   Standpunkts   be- 

EthUc. 

schaffen;  denn  die  ethischen  Motive  müssen  darnach 
beurtheilt  und  regulirt  werden,  ob  sie  auch  die  ganze  Gemeinde 
beseelen  könnten  und  nicht  etwa  Absonderungen  oder  Unord- 
nungen stifteten.  Wenn  man  z.  B.  fragt,  ob  die  Ehelosigkeit 
oder  das  Keuschheitsmotiv  als  höchstes  Lebensideal  gelten  dürfe, 
so  wird  man  betonen,  dass  man  bei  solchen  Idealen  ja  die 
Existenz  der  Gemeinde  aufheben  würde,  oder  dass  gerade  durch 
die  Ehe  eine  schöne  Ordnung  des  christlichen  Lebens  vermittelt 
würde  zur  Erziehung  der  Kinder,  zur  Selbstzucht  gegen  über- 
mässige Begierde,  zur  ökonomischen  Verwaltung  des  Besitzes 
u.  8,  w.  Wenn  auf  ähnliche  Art  und  Weise  die  Feindesliebe 
eingeschränkt  wird,  damit  keine  Verweigerung  des  Kriegs- 
dienstes eintrete;  oder  wenn  der  Eid  zugelassen  wird,  damit  die 
bürgerliche  Wahrheitsbekräftigung  im  Gewissen  einen  stärkeren 
Antrieb  fönde  u.  s.  w.,  so  wird  offenbar  durch  alle  solche  bloss 


422  Pantheismus  der  That. 

socialen  Gesichtspunkte  auch  die  Ethik  ihrer  Selbständigkeit  be- 
raubt und  nur  zum  Dienst  des  praktischen  Lebens  benutzt 

Drittens  aber  muss  der  Cultus  nun  in  das  ganze 
Leben  der  Kirche  in  der  Art  aufgehen,  dass  das  Reich 
Gottes  mit  der  sichtbaren  Kirche  identificirt  wird.  Der  Schwer- 
punkt des  religiösen  Lebens  wird  offenbar  ganz  in  die  politische 
oder  handelnde  Function  verschoben,  wenn  der  Glaube  selbst 
seinem  ideellen  Inhalte  nach  nicht  mehr  die  Hauptsache  ist, 
sondern  der  Gläubige  sich  auch  mit  dem  Worte  und  dem  blossen 
Willen  zu  glauben  begnügt,  sobald  eine  bestimmte  Formulirung 
des  Dogma  im  Interesse  der  kirchlichen  Gemeinschaft  als  heil- 
sam erkannt  ist  Dagegen  wird  der  Kirchenenthusiast  sich  ganz 
der  Arbeit  an  dem  kirchlichen  Leben  zuwenden;  die  Fragen  des 
Kirchenregiments  und  des  sogenannten  Culturkampfes,  die  Fragen 
.  der  Kirchenverfassung,  die  Ordnung  des  Cultus,  die  Kirchenzucht, 
die  Sonntagsheiligung,  die  Massen-Betheiligung  an  dem  Gottes- 
dienste und  den  Sakramenten,  die  verschiedenen  kirchlichen 
Aemter  in  der  Armenpflege,  den  Sonntagsschulen,  den  Gesellen- 
herbergen u.  dergl.  werden  der  eigentliche  Inhalt  seiner  Thätig- 
keit,  und  möge  er  ein  kleineres  oder  ein  grösseres  Gebiet  seiner 
Thätigkeit  umspannen,  bloss  Bibeln  und  Traktätchen  austheilen, 
oder  auch  die  wissenschaftliche  Vertheidigung  der  Kirche  gegen 
das  Heidenthum  des  Staates  und  der  Gelehrten  durchftlhren,  oder 
wie  ein  Windthorst  die  politische  Führung  einer  grossen  Partei 
der  Gläubigen  übernehmen,  immer  sind  die  Gedanken  und  Ge- 
fühle eines  solchen  Mannes  principiell  auf  das  Gebiet  der  sicht- 
baren Kirche  gerichtet.  Mithin  muss  es  schon  ftir  gefährlich 
gelten,  wenn  ein  Theologe  etwa  das  Dogma  ohne  Rücksicht  auf 
die  socialen  Bedürihisse  untersuchen  und  bloss  nach  den  biblischen 
Erkenntnissquellen  constituiren  wollte,  da  das  letzthin  WerthvoUe 
und  der  eigentliche  Herzschlag  der  Religion  in  der  Politik,  d.  L 
in  der  Fürsorge  für  die  Kirche  liegt  Um  das  Gesagte  in  Eins 
zusammenzufassen,  so  besteht  das  specifische  Kennzeichen  des 
pantheistischen  Kirchenenthusiasmus  in  der  Identificirung  von 
Kirche  und  Reich  Gottes. 

Für  unsere  speculative  Aufgabe  ist.  es  gewisser- 

massen  gleichgültig,  ob  sich  irgend  ein  Autor  findet, 

der  den  von  uns  soeben  charakterisirten  Standpunkt  mit   einer 

gewissen   Consequenz  vertritt;  denn   dass   sich  mit  jeder  Ver- 

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Eirchenenthusiasmus.  423 

Schiebung  des  Schwerpunktes  im  religiösen  Leben  nothwendig 
die  zugehörigen  Goordinaten  entsprechend  verändern  und  dass 
daher  bei  einem  Uebergewicht  der  handelnden  Function  die 
Denkweise  und  Willensrichtung  des  Menschen  in  die  oben  vor- 
gezeichnete Bahn  einlenken  muss,  das  ist  so  einleuchtend  und 
bestätigt  sich  in  allen  unseren  eigenen  und  in  den  geschicht- 
lichen Erfahrungen  so  sehr  von  allen  Seiten,  dass  man  für  die 
Topik  der  Religion  diesen  Ort  „Kirchenenthusiasmus"  fest  bestim- 
men müsste,  auch  wenn  niemals  ein  angesehener  Theologe  als 
Vertreter  dafür  wissenschaftlich  eingestanden  wäre.  Gleichwohl 
ist  es  immer  wünschenswerth,  einen  unverkappten  Ritter  fllr  diese 
Fahne  in  die  Arena  treten  zu  sehen. 

Man  könnte  nun  geneigt  sein,  etwa  die  katholische  Kirche 
in  Bausch  und  Bogen  als  Vertreterin  dieses  Standpunktes  anzu- 
nehmen. Es  Hesse  sich  diese  Diagnose  stellen  erstens  im  Hin-, 
blick  darauf,  dass  die  Kirchen- Verfassung,  z.  B.  das  unfehlbare 
Papstthum,  selbst  Glaubensartikel  für  den  Katholiken  ist,  zwei- 
tens im  Hinblick  darauf,  dass  bei  scheinbarem  Widerstreit  der 
drei  geistigen  Functionen  die  Macht  des  Willens  und  des  Ver- 
standes sich  dem  handelnden  Vermögen  zu  Füssen  legt,  was 
man  das  sacrificio  deir  intelletto  nennt  und  wobei  Gewissen  und 
Vernunft  in  eine  sclavische  Stellung  zu  gerathen  scheinen,  drit- 
tens weil  überhaupt  die  katholische  Kirche  gar  keine  andere 
weltliche  oder  geistige  Macht  als  selbständig  neben  sich  aner- 
kennt, sondern  nur  aus  Öpportunitätsgründen  zuweilen  ihre  ab- 
soluten Herrschaftsforderungen  einschränkt  Trotzdem  wäre  diese 
Diagnose  falsch;  denn  der  Katholicismus  hat  eine  viel  umfas- 
sendere Bedeutung  und  wird  durch  solche  einseitige  Hervorkeh- 
rung eines,  wenn  auch  starken  Elementes,  nicht  erschöpft;  auch 
sollte  man  das  sacrificio  deir  intelletto  nicht  so  ungebildet  deuten 
und  so  marktschreierisch  verkaufen,  wie  der  grosse  Haufen  der 
Literaten  zu  thun  pflegt;  denn  Gewissen  und  Vernunft  können 
sich  überhaupt  niemals  einer  anderen  Function  unterwerfen,  eben- 
sowenig wie  Gold  und  Diamant  einmal  aus  Geftllligkeit  als  Zinn 
und  Schwefel  zu  reagiren  vermöchten.  Wer  sich  aber  erinnert, 
dass  er  oftmals  irrte,  obwohl  er  jedesmal  von  der  Wahrheit  seiner 
Sache  überzeugt  war,  bei  dem  kann  auch  Gewissen  und  Ver- 
nunft, tiefer  geschöpft,  die  augenblicklichen  partiellen  Äeusse- 
rungen  dieser  selbigen  Fähigkeiten  entkräften  oder  einschränken, 

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424  Pantheismus  der  That. 

wie  die  Gewissenhaften  ja  auch  häufig  ein  „Wenn  ich  nicht 
irre''  in  ihre  zuversichtlichsten  Aeusserungen  einfliessen  lassen. 
Auch  ist  die  katholische  Kirche  sowohl  in  dem  innerweltlichen 
Verkehr  der  Gläubigen  untereinander,  als  auch  in  dem  auswär- 
tigen Verkehr  mit  dem  überweltlichen  Gott  so  gross,  so  frei  und 
so  schön,  dass  ihre  Bekenner  über  jene  einseitige  Charakteristik 
nur  zu  lächeln  brauchen,  da  sie  ja  neben  den  grossen  Hierarchen, 
vor  denen  selbst  die  Kaiser  erzitterten,  auf  den  weltverachtenden 
Mönch  hinweisen  können,  der  doch  nicht  im  Protestantismus, 
sondern  nur  in  dem  universelleren  Schosse  der  katholischen 
Kirche  seine  friedliche  Stelle  findet. 

Also  müssen  wir  die  üblichen  dürftigen  Charakterisirungen 
der  grossen  christlichen  Gonfessionen  aufgeben  und  hier  ftir 
unsere  Topik  einen  anderen  Vertreter  suchen,  der  seinen  Namen 
für  die  Sache  eingesetzt  hat.  Ich  glaube  den  durch  seine  be- 
rühmte Moralstatistik  zu  allgemeinerer  Beachtung  gekommenen 
lutherischen  Theologen  Alexander  von  Oettingen  als  freiwilligen 
und  furchtlosen  Vertreter  dieses  Standpunktes  anführen  zu  können, 
und  zwar  mit  Rücksicht  auf  sein  sehr  interessantes  Werk  über 
die  christliche  Sittenlehre  oder  die  Socialethik.  Dass  er  ein 
ächter,  altgläubiger  Lutheraner  und  kein  Bekenner  des  Pan- 
theismus ist,  steht  dabei  ausser  Zweifel;  es  kommt  uns  aber  hier 
auch  nicht  auf  das  persönliche  Bekenntniss  an,  sondern  auf  das 
in  jenem  Werke  zu  Grunde  gelegte  Princip  und  die  Consequenz 
des  Standpunktes.  Darum  soll  das  Buch  selber  sprechen,  und 
wir  wollen  nicht  dazwischen  reden.  S.  183:  „Der  göttliche,  wie 
der  individuelle  Factor,  die  universelle  Gnade  Gottes  in  Christo 
und  die  persönliche  Lebensemeuerung  im  Glauben,  die  Gottes- 
kraft des  Evangeliums  und  die  geistliche  Wiedergeburt  des  Ein- 
zelnen —  sie  realisiren  sich  nur  in  der  Form  geschicht- 
lich und  natürlich  gegliederter  Menschheitsgemein- 
schaft." S.  184:  „Die  Idee  des  Reiches  Gottes  umschliesst 
nicht  bloss  das  gesammte  Gebiet  christlich -sittlichen  Lebens 
und  Strebens,  sondern  bezeichnet  recht  eigentlich  den  Krj'stalli- 
sationspunkt,  um  welchen  sich  alle  geistlichen  Lebensinter- 
essen auch  des  Einzelnen  naturgemäss  ansetzen  sollen."  „Auch 
das  persönlichste  Ringen  des  Christenmenschen.**  S.  185:  „Diese 
universelle  Idee  des  Reiches  Gottes  gestaltet  sich  innerhalb  der 
zeitlich    geschichtlichen   Entwickelung   noth wendig  als   Kirche. 

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Kirchenenthusiasmus.  425 

Die  christliche  Kirche  ißt  nicht  eine  gesonderte  Gemein- 
schaft neben  dem  Reiche  Gottes."  »Die  Kirche  stellt  das 
Reich  Gottes  dar  als  Reich  Christi  in  der  Zeit  des  Kampfes 
und  Krenzes,  in  der  Periode  von  seiner  Himmelfahrt  bis  zn 
seiner  Wiederkunft  "  S.  186:  „Die  kirchliche  Gemeinschaft 
ist  die  gegenwärtige  Gestaltung  des  Reiches  Gottes 
auf  Erden." 

Wenn  wir  nun  als  aufmerksame  Zuhörer  folgten,  so  behielten 
wir  erstens,  dass  Alles  und  Jedes  schlechthin,  was  zur  Reli- 
gion gehört,  sich  nur  in  der  Gemeinschaft  realisirt,  dass  zwei- 
tens diese  Gemeinschaft  das  Reich  Gottes  darstellt,  also  das 
absolut  Höchste,  das  sich  erstreben,  denken  und  erleben  lässt, 
und  dass  drittens  dies  Reich  Gottes  in  der  sichtbaren  christ- 
lichen Kirche  und  nicht  etwa  unsichtbar  neben  und  ausser  ihr 
gegeben  ist.  In  diesen  drei  Sätzen  wird  der  constitutive  Inhalt 
des  Standpunktes  genügend  formulirt,  welchen  ich  mit  dem  Na- 
men „pantheistischer  Kirchenenthusiasmus"  bezeichnen  wollte. 

Obgleich  dieser  Standpunkt,  ebenso  wie  der  entsprechende 
politische  Enthusiasmus  sehr  verbreitet  ist,  so  werden  doch  Die- 
jenigen, welche  in  der  Geschichte  der  Dogmatik  weniger  orien- 
tirt  sind,  vielleicht  erstaunen  und  fragen,  wie  man  ohne  Absur- 
dität einen  christlichen  Denker  als  offenen  Pantheisten  charak- 
terisiren  dUrfe.  Eine  Antwort  hierauf  ist  aber  nicht  weiter  nöthig, 
wenn  wir  uns  nur  daran  erinnern,  dass  der  grösste  protestan- 
tische Theolog  unseres  Jahrhunderts  entschiedener  Pantheist  war 
und  weder  an  einen  persönlichen  Gott  noch  an  ein  jenseitiges 
Leben  glaubte. 

Es  handelt  sich  deshalb  jetzt  nur  darum,  das  specifische 
Kennzeichen  des  Pantheismus  in  dem  Kirchenenthusiasmus 
nachzuweisen.  Nun  besteht  der  Pantheismus  in  derjenigen  Auf- 
fassung der  Welt,  wobei  das  Ich  wie  der  Gott  in  die  Erschei- 
nungen des  Bewusstseins,  d.  h.  in  die  geistigen  Functionen,  ver- 
schwinden. Die  pantheistische  Metaphysik  ist  also  nicht  mehr 
projectivisch,  d.  h.  sie  substanziirt  die  erscheinenden  Dinge  nicht 
mehr;  sie  ist  zugleich  noch  nicht  christlich,  d.  h.  sie  erkennt 
noch  nicht  das  Ich,  die  Gottheit  und  die  anderen  wirklichen 
Wesen  an,  in  denen  die  Welt  sich  ereignet;  sondern  sie  ver- 
giebt  die  Kategorie  des  Seins  an  die  Erscheinungen  als  Func- 
tionen  des   Bewusstseins.      Ob   diese  Functionen    nebenbei   als 

uiymzeu  uy  V^jOOy  IC 


426  Pantheismus  der  That. 

materiell,  ideell,  geistleiblich  oder  sonstwie  gedacht  werden, 
ist  dabei  eine  für  die  Definition  gleichgültige  Nüancirung;  denn 
nur  das  Verschwinden  des  Ichs  in  seine  drei  Functionen  charak- 
terisirt  den  Pantheismus,  der  uns  also  die  Welt,  d.  h.  die  Ver- 
knüpfung der  Erscheinungen,  nur  in  unseren  geistigen  Func- 
tionen zeigt. 

Nun  löst  der  oben  definirte  Kirchen enthusiasmus  alles  re- 
ligiöse Leben  in  die  kirchlichen  Beziehungen  auf,  die  durch  Wort 
und  Sakrament,  also  durch  sinnenfällige  Handlungen  gestiftet 
und  lebendig  erhalten  werden.  Die  Religion  bietet  deshalb,  da 
sie  das  nicht -sinnenfällige  Ich  und  die  Gottheit  aus  ihrem  Sy- 
steme beseitigt,  nur  ein  innerweltliches  Leben;  denn  die  bei  den 
vielen  Vertretern  dieses  Standpunktes  beliebig  eingestreuten 
Worte  von  der  Seele  und  von  Gott  dürfen  uns  natürlich  nicht 
verleiten,  zu  einer  von  dem  gegebenen  System  himmelweit  ver- 
schiedenen ReligionsauflFassung  abzuschweifen,  da  diese  Worte 
auf  dem  Standpunkte  des  Kirchenenthusiasmus  todtes  Material 
der  Tradition  sind  und  die  einzelnen  Seelen  nur  nach  denjenigen 
Erscheinungen  und  Functionen  in  Rechnung  kommen,  welche 
socialphysisch  und  socialethisch  mit  der  äusseren  und  der  mora- 
lischen kirchlich  realisirten  Welt  zusammenhängen.  Da  hierbei 
zugleich  alle  Personen  nur  nach  den  äusseren  Thätigkeiten  auf- 
gefasst  werden,  so  muss  unsere  Beziehung  zu  dem  Universum 
wesentlich  der  handelnden  Function  unseres  Geistes  zufallen, 
d.  h.  sie  wird  technisch  und  politisch  werden. 

Es  zeigt  sich  also  der  Kirchenenthusiasmus  als  eine  Spielart 
des  Staatsenthusiasmus.  Der  Einzelne  ist  nichts  ohne  das  poli- 
tische Ganze,  in  dem  und  für  das  er  lebt;  er  ist  wesentlich  nur 
Glied  in  einem  herrlichen  Organismus,  von  dem  er  seine  Bele- 
bung, seine  Kraft  und  Freude  empftlngt  und  ftir  welchen  seine 
ganze  geistige  Arbeit  und  Hingebung  bestimmt  ist.  Wie  bei 
Piaton  die  Staatsidee  die  gesammte  geistige  und  leibliche  Thä- 
tigkeit  der  Gesellschafts-Glieder  beseelen  soll,  so  ist  es  hier  die 
Kirche,  welche  nach  der  Idee  eines  Organismus,  eines  geschicht- 
lich teleologischen  Systems  alle  ihre  Glieder  zu  einem  gemein- 
schaftlichen beseelten  Leibe  zusammenfasst 


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Eirchenenthusiasmus.  427 

Wer  wollte  läugnen,   dasB  in   dieser   Idee   des 

Zur 

Staates  oder  der  Kirche  eine  grosse  und  gemüthbe-      Kriuk. 
wegende  Auffassung  der  Welt  dargeboten  wird,  werth,      ^   ^^^^^ 
das  Leben  der  Einzelnen   zu  begeistern  und  es  mit       Fehler: 
einem  über    das    Privatleben    weit   hinausgehenden  ^*®  ^^*®"  ^^^ 

den  zu  bloüsen 

herrlichen  Ziele  zu  erfüllen ;  allein  trotzdem  ist  dieser    hiotoriscben 
Standpunkt  nicht  hoch  genug  für  uns,  weil   er  ein  Erscheinungen 

i.i<i.-i  11  »    m     1  herabgeuetzt. 

bloss  geschichtlicher  und  also  perspectiyischer 
und  endlicher  ist;  denn  jeder  Staat  hat  seine  Zeit  und  die 
Kirche  hat  ihre  Zeit,  wenn  sie  auch,  wie  von  Oettingen  sagt, 
von  der  Himmelfahrt  bis  zur  Wiederkunft  Christi  dauert;  denn 
es  ist  damit  doch  nur  ein  kleiner  Ausschnitt  aus  der  ganzen 
Weltgeschichte  gegeben  und  zugleich  der  Blick  bloss  der  Erde 
und  der  diesseitigen  eng  begränzten  menschlichen  Entwicke- 
lung  zugekehrt.  Der  politisch  -  geschichtliche  Standpunkt  ist 
daher  immer  zu  niedrig  für  den  Philosophen  und  Christen,  da 
beide  die  ganze  Ewigkeit  in  ihren  Gesichtskreis  fassen  müssen 
und  allen  menschlichen  Dingen,  und  weim  es  auch  Staats-  und 
Kirchen -Angelegenheiten  sind,  immer  nur  ein  untergeordnetes 
Interesse  zuerkennen.  Untergeordnet  sage  ich,  weil  erst  von 
höherem  Standpunkte  aus  ein  Zweck  gefunden  werden  muss, 
nach  welchem  Staat  und  Kirche  zu  ordnen  sind.  Wenn  wir 
weiter  unten  die  Rolle  der  Geschichte  genauer  betrachten,  wird 
sich  zeigen,  dass  auch  nur  fllr  den  Pantheisten  die  Weltgeschichte 
das  Weltgericht  ist,  wie  flir  ihn  Gott  bloss  als  heiliger  Geist  in 
der  Kirche  regiert,  so  dass  Gottes  Geschäftskreis  so  zu  sagen 
in  der  Fürsorge  für  die  menschlichen  politischen  oder  kirchlichen 
Angelegenheiten  aufgeht  Wer  aber,  wie  es  die  wahre  Philoso- 
phie verlangt,  die  Erde  nur  als  eine  untere  Classe  betrachtet, 
welche  die  Menschen  alle  durchmachen  müssen,  um  dann  in  eine 
höhere  Classe  versetzt  zu  werden,*)  der  kann  die  Geschichte 
dieser  Classe  nicht  fUr  den  höchsten  Gegenstand  der  Aufmerk- 
samkeit ansehen,  da  man  doch  weiss,  dass  die  Classenstufe  selbst 
auch  bei  aller  geschichtlichen  Veränderung  und  Entwickelung. nie- 
mals überschritten  werden  kann,  und  dass  nicht  die  Classe,  son- 
dern die  jeweilig  darin  Arbeitenden,  welche  sie  bald  wieder  ver- 
lassen, allein  von  bleibendem  Werth  und  Interesse  sind. 


*)  Vgl.  meine  Schrift  Über  die  Unsterblichkeit  der  Seele,  S.  225,  II.  Aufl. 

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428  Pantheismus  der  That. 

j  Mit   diesem  ersten  Fehler  pantheistigeher  Auf- 

Fehier:  fassuDg  Steht  ein  zweiter  in  logischem  Znsammen- 

Die  Ethik  und  hang.    Da  nämlich  die  Kirche  bloss   den   äusseren 

Dogmauk  Vcrkchr  der  Gläubigen  durch  sichtbare  und  hörbare 

werden  darch ^ 

Feidherrnking.  Zcicheu  (Wort  und  Sakrament  und  die  gesellschaft- 
heit  normirt,    liefen  lustitutc)  umfasst,  so  mnss  sich  Alles  um  die 

und  es  fehlt  ein 

princip  des  handelnde  Function  des  Geistes  drehen,  weshalb  ich 
werthes  und  ^^^  gauzcn  Standpunkt  auch  zur  pantheistischen  Re- 
ligion der  That  gerechnet  habe.  Mithin  müssen  die 
Werthbestinmiungen  des  sittlich  religiösen  Lebens  wesentlich  auf 
die  Gesellschaft,  d.  h.  hier,  auf  die  Kirche  als  sichtbares  Reich 
Gottes  bezogen  werden.  Nun  giebt  es  aber  für  jede  Gesellschaft 
als  solche  kein  höheres  Princip  als  die  Selbsterhaltung,  und 
da  ftlr  jede  gesellschaftliche  Institution  immer  zwei  Extreme 
gefährlich  sind,  weil  sie  zur  Auflösung  führen,  so  kann  der  sitt- 
liche, d.  h.  der  conservative  Werth  immer  nur  in  der  das  Gleich- 
gewicht haltenden  Mitte  gesucht  werden,  wodurch  ein  geschicht- 
licher organischer  gesellschaftlicher  Körper  sich  in  seiner  Ge- 
sundheit erhält  Darum  sehen  wir  auch,  dass  z.  B.  von  Oettingen 
in  seiner  christlichen  Sittenlehre  diese  von  ihm  sogenannte  stra- 
tegische Methode  der  goldenen  Mitte  empfiehlt  und  be- 
folgt, indem  er  überall  zwischen  den  Extremen,  z.  B.  zwischen 
katholischer  und  reformirter  Richtung,  zwischen  Ethnisirung  und 
Judaisirung,  zwischen  Weltlichkeit  und  Weltflucht  u.  s. 'W.  die 
Mitte  sucht  Dies  Princip  ist  aber  bloss  strategisch  und  politisch 
und  kann  in  Wahrheit  keine  Norm  des  Werth  es  darbieten, 
da  nach  diesem  Princip  nicht  einmal  zu  erkennen  ist,  ob  die 
sich  selbst  erhaltende  geschichtliche  Institution  erhalten  zu  wer- 
den verdient  und  was  der  Inhalt  und  Grund  der  einzelnen  Ziele 
und  Lebenszwecke  ist  Die  Norm  ist  vielmehr  ganz  blind  und 
inhaltslos,  wie  wenn  Jemand  den  rechten  Winkel  nicht  definiren 
könnte,  aber  aus  sinnlicher  Anschauung  eine  gewisse  Anregung 
empfinge,  um  sich  zu  hüten,  die  Linien  nicht  zu  spitz  und 
nicht  zu  stumpf  aufeinander  treffen  zu  lassen.  So  ist  z.  B. 
klar,  dass  von  diesem  Standpunkte  aus  die  Ehe  principiell  ver- 
langt werden  muss,  während  doch  weder  für  Jesus,  noch  für 
Paulus  und  viele  Andere  dies  Princip  hätte  zur  Norm  dienen 
können,  da  es  bloss  für  die  Masse  der  Gläubigen  um  der  allge- 
meinen Ordnung  willen  eine  politisch -praktische  Durchschnitts- 

uiyiiized  by  VjOOQIC 


Eirchenenthusiasmus.  429 

norm  bildet.  So  verhält  es  sich  aber  mit  der  ganzen  Ethik  und 
Dogmatik  dieses  Standpunktes,  da  schliesslich  Alles  nur  mit 
Rücksicht  auf  unser  handelndes  Vermögen,  d.  h.  nur  nach  dem 
Gesichtspunkt  der  Erhaltung  der  geschichtlichen  Eircheninstitution 
zugestutzt  und  mit  Feldherrnklugheit  vor  den  extremen  Abwegen 
geschützt  wird,  ohne  dass  den  beiden  anderen  geistigen  Vermö- 
gen, die  bei  der  Handlung  nur  als  Hülfen  dienen,  eine  selbstän- 
dige Stellung  eingeräumt  und  die  Tiefe  des  sittlich-religiösen 
Gefühls  wie  der  vom  Erfolg  unbestochene  Wahrheitssinn  befrie- 
digt vTürden. 

Aus  dieser  bloss  politischen  Auffassung  derRe-     3.  Dritter 
ligion  folgt  nun  nothwendig  drittens  die  sogenannte       Fehler: 
Socialethik,  d.  h.  es  muss  das  sittlich-religöse  Leben  ^*®  ^^^  ^'•'^ 

^.         ,  .  .  T^  1  1  i^T  SodU-Ethik 

des  Emzelnen  mit  semen  Fehlem  und  Vorzügen  und  verliert  ein 
wesentlich  aus  dem  Gesanmitleben  der  Barche  ab-  p»*°«*p  <»« 
geleitet  werden,  wie  es  andererseits  als  Theil  auch 
wieder  einen  krank-  oder  gesundmachenden  Fartialeinfluss  auf 
den  ganzen  Organismus  ausübt.  Nur  bei  dieser  Auffassung  ist 
die  Kirche  wirklich  ein  geschichtlich  lebendiger  einheitlicher 
Körper.  Wenn  demgemäss  nun  das  Princip  der  Socialethik  for- 
dert, sich  ganz  dem  in  der  Gesammtheit  regierenden  Geiste  hin- 
zugeben, so  steht  man  sofort  vor  dem  Princip  der  Majorität 
und  der  öffentlichen  Meinung;  will  man  aber  aus  Schreck  vor 
diesem  liberalen  Gespenste  und  aus  anderweitiger  religiöser  Ge- 
sinnung dieses  in  Wahrheit  unbrauchbare  und  unrichtige  Princip 
nicht  anerkennen,  so  rebellirt  man  selbstsüchtig,  atomistisch  und 
individualistisch  gegen  die  social-ethische  Macht  des  Gesammt- 
geistes,  der  viel  herrlicher  und  höher  und  heiliger  ist,  als  der 
arrogante  und  eitle  kleine  Theil,  der  ein  besseres  Wissen  und 
Wollen  beansprucht.  Denn  sobald  man  im  Gegensatz  gegen  den 
Zeit-  und  Gemeingeist  das  Princip  der  Autorität  erheben  wollte, 
so  wäre  sofort  die  Socialethik  zerstört  und  ein  transcendentes 
und  übergeschichtliches  Princip  anerkannt.  Wenn  man  nun  gerade 
in  leidlich  gesunden  kirchlichen  Zuständen  lebt,  so  ist  es  ja  für 
die  grosse  Menge  der  schwachen  und  mittelmässigen  Köpfe  und 
Herzen  allerdings  empfehlenswerth,  der  herrschenden  Richtung 
zu  folgen;  da  aber  die  Sünde  und  allerlei  physische  und  intel- 
lectuelle  Mängel  und  geschichtliche  Bedrängnisse  sehr  oft  den 
Geist  und  Sinn  der  Institute  und  Aemter  und  die  tonangebenden 

uiumzeu  uy  x^jv^wV  Iv^ 


430  Pantheismus  der  That. 

Kreise  verderbcD,  so  sieht  man,  wie  bedenklich,  ja  wie  haltnngslog 
die  socialethische  Methode  sein  muss,  da  sie  kein  ausserhalb  des 
geschichtlichen  Processes  liegendes  Fundament  gewähren  kann, 
weshalb  der  wahrhaft  religiöse  und  christliche  Sinn  auch  nie- 
mals dieser  bloss  politischen  Auffassung  der  Religion  zustimmen 
mag.  Es  müssen  daher  die  christlichen  Denker  inuner  auch  ein 
Princip  der  Autorität,  selbst  auf  socialethischem  Standpunkte, 
der  blossen  Majoritätsstinmiung  entgegenstellen,  und  sie  nehmen 
als  solches  Princip  gewöhnlich  die  heilige  Schrift,  oder  die  Lehr- 
sätze und  Forderungen  eines  berühmten  Kirchenlehrers,  d.  h.  in 
Wahrheit  sich  selbst,  sofern  sie  die  heilige  Schrift  richtiger  als 
die  Uebrigen  auslegen  und  den  Kirchenlehrer  höher  schätzen, 
als  das  grosse  Publikum,  das  ihn  etwa  misshandelte.  Allein  so 
ehrenhaft  auch  diese  Geltendmachung  der  Autorität  ftlr  den  per- 
sönlichen Charakter  des  Schriftstellers  ist,  dessen  höhere  Ge- 
sinnung sichtlich  das  System  durchbricht,  so  verwerflich  ist  dies 
doch  gerade  fbr  den  Socialethiker,  der  sein  eigenes  Gebäude  zer- 
stört, sobald  er  ein  Princip  des  Werthes  vor  und  über  der  Ge- 
sellschaft zugesteht.  Die  Einmischung  des  Princips  der  Autorität 
in  die  social-ethischen  Systeme  ist  deshalb  eine  ignoratio  elenchi, 
ein  Beweis,  dass  man  den  Fehler  des  Systems  nicht  erkannt  hat 
und  eine  Medicin  anwendet,  die  mit  der  Krankheit  zugleich  den 
Patienten  umbringt. 

Um  den  beschränkten  Ursprung  des  pantheisti- 

4.  Das  ftutago-  -,  tr*      t  i        .  .  .   ••  •■ 

niBU8che  sehen  Kirchenenthusiasmus  zu  zeigen,  giebt  es  end- 
princjp  indicirt  \\q]^  uq^Jj  ^Jq^  sichcrc  Indicatiou.  Die  christliche 
nebe  Eiuseitig-  uud  dic  Wahrhaft  philosophische  Auffassung  der  Welt 
keit  des  jj^ann  nämlich  in  der  Welt  unmöglich  irgend  einen 
Widerspruch  des  Systems  oder  der  Regierung  zu- 
lassen, da  sie  Alles  als  von  Gottes  Macht,  Weisheit  und  Liebe 
geordnet  erkennen  muss.  Sobald  man  aber  willkürlich  einen 
Theil  der  Welt  zum  absoluten  Zwecke  macht,  so  müssen  sich 
nothwendig  andere  Theile  finden,  welche  jenen  Theilzwecken 
feindlich  sind,  wie  z.  B.  wer  die  Grasfresser  ftlr  die  rechten  Be- 
sitzer der  Erde  halten  wollte,  sehr  bald  die  Raubthiere  als  die 
natürlichen  Feinde  erkennen  müsste.  Aus  demselben  Grunde  ist 
jeder  Patriotismus  und  Staatsenthusiasmus  bloss  eine  perspec- 
tivisch  beschränkte  Stellung  zur  Menschheit,  da  die  Interessen 
anderer  Staaten  immer  unserem  Vaterlande  mehr  oder  weniger 

uiyiiitieu  uy  V^J  WvJV^.  iv^ 


Kirchen  enthusiasmus.  431 

feindlich  sein  werden.  Hieraus  ergiebt  sich  also  ein  sicheres 
Symptom;  denn  wenn  in  einem  Systeme  dem  als  höchstes  Gut 
erkannten  Principe  ein  feindliches  und  antagonistisches  Frincip 
entgegengestellt  werden  muss,  so  beweist  dies^  dass  von  demsel- 
ben Systeme  nicht  die  ganze  Gotteswelt  umfasst  oder  gesucht 
sein  kann^  sondern  willkürlich  und  einseitig  einem  Theile  der 
Welt  alles  Interesse  zugewendet  wird,  wobei  denn  nothwendiger 
Weise  sehr  bald  ein  nach  anderer  Seite  geneigtes  und  deshalb 
moderirendes  und  antagonistisches  Element  sich  fahlbar  machen 
und  zur  widerwilligen  Anerkennung  bringen  muss.  Diese  Semiotik 
auf  den  Enthusiasmus  für  die  Kirche  angewendet,  liefert  uns 
sofort  das  charakteristische  Symptom  eines  dem  Ziele  der  Kirche 
entgegenarbeitenden  und  feindlichen  Princips,  und  wir  brauchen 
auch  keine  weiteren  Schlnssfolgen  mehr  zu  ziehen,  sondern 
können  uns  der  mit  voller  Deutlichkeit  in  der  christlichen  Sitten- 
lehre von  Oettingen's  abgegebenen  Zeugnisse  bedienen.  So 
heisst  es  z.  B.  S.  184:  „Der  persönliche  sittliche  Kampf  des 
neuen  und  alten  Menschen  in  uns  —  er  hat  seinen  makrokos- 
mischen Hintergrund  an  dem  riesigen  Kampf  des  durch  die 
Erlösungsoffenbarung  begründeten  Gottesreiches  mit  dem 
Weltreich,  wie  es  in  der  natürlich  sündlichen  Menschheitsent- 
wickelung Fuss  gefasst  hat"  Die  Liebe  setzt  er  so  entgegen 
„dem  im  Weltreich  herrschenden  dämonischen  Centralprincip  des 
fleischlich  selbstsüchtigen  Egoismus",  oder  „den  gottfeindlichen 
Mächten  der  Finstemiss"  und  behauptet  daher  auf  S.  138:  dass 
„die  vielfach  von  der  modernen  Weltansicht  perhorrescirte  Idee 
eines  persönlichen  Teufels  mit  der  christlichen  Lehre,  wie 
mit  der  Autorität  Christi  und  seiner  Apostel,  steht  und  fällt" 
Wir  brauchen  die  Darlegung  nicht  genauer  zu  analysiren;  es 
zeigt  sich  vielmehr  schon  mit  Wünschenswerther  Klarheit,  dass 
der  dualistische  und  antagonistische  Charakter,  welcher 
ftar  den  Standpunkt  des  Kirchenenthusiasmus  nothwendig  ist, 
offen  bekannt  wird  und  dass  dadurch  zugleich  das  sichere  Symptom 
einer  bloss  perspectivischen  und  beschränkten  Weltanschauung 
gleichsam  ad  oculos  demonstrirt  ist,  die  auch  durch  den  geist- 
vollsten und  gewandtesten  Vertreter  nicht  gerettet  werden  kann. 


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Fünftes  Capitel. 
Der  pantheistische  Knnstenthusiasinas. 


Bei  all  den  vier  bis  jetzt  speculativ  (durch  Auf- 
zeigung  der  constanten  Beziennngspunkte)  festgelegten 
Arten  des  Pantheismus  der  That  waren  die  Handlungen  nicht 
an  sich  der  gesuchte  Werth,  sondern  blosse  Mittel,  um  ein  davon 
verschiedenes  Gut  hervorzubringen;  denn  es  drehte  sich  entweder 
darum,  das  allgemeine  sinnliche  Wohlsein  der  Menschheit  zu  be- 
fördern, oder  dem  Gesetz  des  Gewissens  zu  gehorchen,  oder  den 
Interessen  des  Staates  und  der  Kirche  zu  dienen.  Die  letzten 
drei  Standpunkte  fassen  wir  zusammen  als  das  pantheistische 
Correlat  der  Rechtsreligion,  wie  der  erste  uns  der  Furcht- 
religion entsprach.  So  bleibt  nur  ttbrig,  den  speciiischen  Cha- 
rakter des  handelnden  Geistes  selbst  zum  Princip  zu  nehmen, 
d.  h.  in  den  Handlungen  selbst  unmittelbar  den  Zweck 
und  Werth  zu  sehen  und  sie  nicht  mehr  als  blosse  Mittel  ftir 
einen  von  ihnen  qualitativ  verschiedenen  Zweck  zu  betrachten. 
Ehe  wir  aber  weiter  vorrücken,  um  diese  letzte  und  ge- 
wissermassen  reine  Form  des  Fantheismus  der  That  in  Besitz 
zu  nehmen,  müssen  wir  als  vorsichtige  Strategen  für  die  Sicher- 
heit der  bisher  gewonnenen  Position  sorgen.  Es  könnte  nämlich 
Jemand  von  der  Seite  einen  Ausfall  macheu,  um  uns  die  vorigen 
vier  Heeresabtheilungen  abzuschneiden  und  uns  mit  der  letzten 
reinen  Form  zu  isoliren;  denn  wenn  in  jenen  vier  Formen  die 
Handlungen  blosse  Mittel  sind,  so  muss  ja  ihr  Zweck,  der  das 
Wesen  der  Sache  bestimmt,  die  zugehörigen  Religionsformen 
dahin  verschieben,  wohin  der  Inhalt  des  bestimmenden  Zweckes 
weist.  So  treffend  diese  Argumentation  zu  sein  scheint,  so  leer 
ist  sie,  weil  sie  auf  keiner  Anschauung  oder  Erfahrung  dieser 
Gesiimungen  beruht.    Denn  wenn  auch  in  jeder  dieser  Formen 

uiumzeu  uy  'v_JvyVjVlv^ 


KunstenthusiRAmus.  433 

der  Inhalt  verschieden  ist  und  Niemand  ohne  diesen  Inhalt  als 
Zweck  handeln  möchte  bloss  um  der  Bewegung  willen:  so  ist 
trotzdem  in  allen  diesen  Formen  das  Handeln  selbst  die  Haupt- 
sache, da  die  den  Zweck  enthaltende  Qualität  eben  nur  durch 
dicThat  verwirklicht  wird  und  von  unseren  geistigen  Functionen 
nicht  die  ethische,  sondern  eben  die  praktische  den  Ausschlag 
giebt.  Um  durch  einen  Vergleich  schnell  das  Yerhältniss  der 
Begriffe  zu  illustriren,  so  wollen  wir  diese  vier  Gesinnungen  als 
Kaufleute  bezeichnen,  die,  ein  Jeder  mit  seiner  besonderen  Waare, 
ihre  Schiffe  befrachten;  nun  ist  in  gewissem  Sinne  die  Qualität 
der  Ladung  die  Hauptsache  und  der  Zweck,  denn  wer  würde 
ohne  seine  Waare  zu  Markte  kommen;  gleichwohl  hat  keiner 
die  Waare  selbst  fabricirt,  sondern  er  ist  nur  Spediteur  und  Col- 
porteur  und  Handelsmann,  dessen  Verdienst  gerade  darin  besteht, 
dass  er  möglichst  viel  umsetzt  und  Zeit  und  Ort  und  Gelegen- 
heit benutzt.  So  sind  nun  auch  bei  den  vier  besprochenen 
praktischen  Beligionsformen  des  Pantheismus  zwar  die  qualitativ 
bestimmten  Lebenszwecke  specificirend,  ohne  dass  es  sich  doch 
dabei  um  eine  andere  geistige  Function  als  die  handelnde  drehte, 
da  jener  Inhalt  nur  als  Cargo  befördert,  nicht  aber  producirt 
werden  soll;  denn  der  Werkheilige  will  zwar  Pflichtmässiges 
thun  oder  leiden  und  nicht  etwa  fUr  den  Fortschritt  der  Gom- 
munication  und  andere  Givilisationszwecke  sorgen,  gleichwohl 
kommt  es  ihm  wesentlich  auf  das  Thun  und  Leiden  an;  ebenso 
wie  der  Fortschrittsmann  und  der  Staats-  und  Kirchenenthusiast 
ihrerseits  immer  die  wirklichen  Verhältnisse  und  was  jetzt  und 
hier  geschieht  und  geschehen  muss,  in's  Auge  fassen  und  ganz 
in  die  Action  der  Gegenwart  aufgehen. 

Mithin  ist  unsere  Eintheilung  gegen  solche  etwaige  Ausfälle 
gesichert,  und  wir  können  den  Gegensatz  der  ersten  vier  Formen 
gegen  die  letzte  und  reine  Form  nur  als  eine  innere  Angelegen- 
heit betrachten.  Unsere  nächste  Aufgabe  muss  daher  sein,  be- 
greiflich zu  machen,  wie  das  blosse  Handeln  selbst  zum  Lebens- 
zweck werden  und  zur  Befriedigung  gereichen  könne.  Dies  ist 
aber  nicht  so  schwer  zu  zeigen,  und  wir  können  uns  hierbei  auf 
fremde  Schultern  stellen;  denn  wenn  schon  die  sinnlichen  Thätig- 
keiten,  wie  das  Essen  und  Trinken,  wegen  der  begleitenden  Lust 
zum  Selbstzweck  erhoben  werden  bei  niedrigen  Naturen,  so  muss 
die  mit  Lust  ausgeübte  geistige  Handlung,   um  die  es  sich 

Telchmüllor,  Religion «philofwphle.  uiyiiizec?^G00QlC 


434  t^ontlieismiis  cler  That. 

hier  dreht,  um  so  leichter  als  Endzweck  und  Ziel  erscheinen. 
Wir  nennen  solche  Thätigkeit  mit  Aristoteles  und  Schiller  Spiel 
und,  wenn  sie  von  einem  gebildeten  Geiste  ausgeht,  Kunst,  und 
wir  wissen,  dass  wer  spielt  oder  künstlerisch  thätig  ist,  keinem 
äusseren  Zwecke  dient,  sondern  in  seiner  Thätigkeit  selbst  die 
Befriedigung  findet.  Es  ist  darum  ganz  natürlich,  dass  künst- 
lerische Naturen,  wenn  sie  ihren  Blick  über  das  ganze  Leben 
der  Welt  schweifen  liessen,  zu  der  Weltauffassung  konmien 
mussten,  wonach  der  eigentliche  Zweck,  Sinn  und  Werth  der 
Welt  in  dem  künstlerischen  Thun  liegt;  denn  wenn  der  künst- 
lerisch angelegte  Mensch  alle  seine  sinnlichen  Bedürfhisse  be- 
friedigt hat  und  keine  Noth  sein  Wohlsein  hindert,  so  greift  er 
zum  Spiel  und  zur  Kunst,  er  singt  und  geigt  und  malt  und 
dichtet,  um  seiner  Müsse  einen  an  sich  werthvoUen  Inhalt  zu 
geben,  oder  um  sich  die  Krone  des  Lebens  auf  das  Haupt  zu 
setzen.  Die  theoretische  Thätigkeit  betrachtet  er  als  ein  blosses 
Mittel,  um  seine  Werke  klüger  einzurichten  und  gediegener  zu 
machen,  und  er  verwebt,  was  er  gelernt  hat,  als  einen  blossen 
Einschlagsfaden  in  sein  Spiel.  Die  Gefühle  endlich  sind  ihm 
theils  auch  nur  eine  Seite  z.  B.  in  den  Charakteren,  die  er  dra- 
matisch oder  lyrisch  oder  musikalisch  darstellt,  oder  sie  gelten 
ihm  bloss  als  ästhetischer  Genuss  der  Kunst  selbst.  So  macht 
sich  der  Künstler  zum  König  und  Herrn  der  Welt  und  geniesst 
in  holdem  Wahnsinn  und  göttlicher  Begeisterung  den  aus  der 
Welt  ausgepressten  Nektar  der  Poesie.  Dieser  pantheistische 
Kunstenthusiasmus  ist  also  eine  nothwendige  Religionsform,  die 
sich  immer  hier  und  da  bei  Künstlern  und  künstlerisch  ange- 
hauchten Naturen  finden  wird. 

Es  ist  nicht  unsere  Aufgabe,  hier  genauer  histo- 
risch zu  untersuchen,  wo  zuerst  diese  Religionsform 
aufgekommen  ist;  gleichwohl  müssen  wir  zur  Hlustrirung  jeden- 
falls einen  bedeutenden  Vertreter  des  Standpunkts  vorführen, 
damit  wir  uns  nicht  bloss  im  Gebiete  einer  speculativen  Topik 
bewegen,  welches  Vielen  so  lange  für  chimärisch  gilt,  bis  sie 
auf  die  historischen  Namen  stossen.  Nun  ist  es  klar,  dass  dieser 
Standpunkt  nicht  früh  in  der  Menschheit  aufkommen  konnte, 
weil  die  Furcht-  und  die  Rechts-Religion  bei  allen  Völkern  den 
Vorreigen  führte.  Wenn  sich  aber  auch  schon  der  Pantheismus 
entwickelte,  so  wird  doch  nicht  immer  sofort  der  Enthusiasmus 

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Eunatentliusiasmus.  435 

für  die  Kunst  hervortreten,  weil  die  entsprechende  speculative 
Entwickelang  der  Yemunft  vorangegangen  sein  muss,  welche 
den  gebildetsten  Künstlern  erst  den  Begriff  giebt  und  das  Wort 
auf  die  Lippe  legt,  um  die  Kunst  in  dieser  ihrer  souveränen 
Stellung  zu  verstehen  und  dieses  ihr  religiöses  Bewusstsein  auch 
Andern  verständlich  zu  machen.  Wenn  daher  auch  inmierhin 
instinctiv  der  Künstler  schon  von  Anfang  an  alS  Künstler  nach 
dem  Verlust  der  projectiven  Theologie  seine  Thätigkeit  als 
Lebens-  und  Weltzweck,  als  Inhalt  von  Freiheit  und  Glück  und 
Kraft  mag  empfunden  haben,  so  ist  es  doch  begreiflich,  dass 
vielleicht  erst  am  Ende  des  vorigen  Jahrhunderts  der  pantheistische 
Kunstenthusiasmus  als  eine  bestimmte  Weltauffassung  und  ßeli- 
gionsform  an's  Licht  trat.  Und  zwar  ist  es  Schiller,  den  ich 
besonders  meine,  weil  er  zuerst  neben  der  Kunst  auch  die 
Philosophie  zu  umfassen  vermochte  und  daher  zu  einem  deut- 
lichen speculativen  Bewusstsein  gelangte. 

Nachdem  Schiller  der  Prophet  dieser  Weltauffassung  ge- 
worden war,  nahm  Göthe  zuweilen  einmal  denselben  Gesichts- 
punkt, doch  liebte  er  es  nicht,  eine  .Sache  immer  von  derselben 
Seite  anzusehen,  und  es  wäre  daher  vergeblich,  Göthe  zum 
Partisanen  dieser  Beligion  machen  zu  wollen.  Dagegen  gingen 
die  Romantiker  hitzig  und  unklar  in  vielen  Werken  auf  diesen 
Gedankenweg  ein. 

Die  Dogmatik  dieser  Religion  ist  sehr  einfacL 
Da  die  projectiven  Götter  und  mit  ihnen  der  miss- 
verstandene christliche  Gott  gefallen  sind,  so  blieb  den  Pantheisten 
als  das  Göttliche  nur  unser  Geist  übrig,  für  dessen  Potenzen  die 
ganze  alte  und  mittelaltrige  Götterwelt  nur  in  metaphorischem 
Spiel  als  künstlerische  Form  gebraucht  wurde.  So  wird  man  bei 
Schiller  bald  einen  Heiden,  bald  einen  katholischen  Christen  zu 
hören  glauben;  es  hat  damit  aber  nichts  auf  sich;  denn  die 
Eumeniden,  wie  das  Sacrament  sind  ihm  blosse  Gemüthszustände 
im  Menschen,  welche  diese  oder  jene  Handlung  vermitteln. 

Die  eigentliche  Aufgabe  der  Dogmatik  besteht  deshalb  in 
der  Unterscheidung  der  geistigen  Vermögen  und  in  der  Begrün- 
dung der  ersten  Stelle  für  die  Kunst.  Mithin  muss  das  Ver- 
hältniss  von  Moral  und  Kunst  (in  der  Ethik)  und  von  Philosophie 
und  Kunst  (in  der  Dogmatik)  erörtert  werden. 


436  Pantheismus  der  That. 

Was  nun  die  Philosophie  oder  Wissenschaft  schlechthin  be- 
trifft, so  gehörte  Schiller  nicht  zu  den  gescheidten  Köpfen,  die 
von  Philosophie  darum  nichts  wissen  wollen,  weil  ihr  intellec- 
tnelles  Vermögen  nicht  hinreicht,  in  dieser  lichtreichen  Religion 
ohne  blaue  Brille  etwas  zu  sehen;  Schiller  hatte  vielmehr  mit 
grossem  Talent  die  Kant'sche  Philosophie  studirt  und  auch  die 
folgenden  Idealsten  zu  fassen  gesucht.  Er  glaubte  aber,  weil 
sein  angeborener  Beruf  zur  Kunst  führte,  alles  Wissen,  wie  in 
seinen  philosophischen  Gedichten,  der  Kunst  dienstbar  machen 
zu  können  oder  ihm  wenigstens  die  speculativ  abstracte  Fassung 
nehmen  und  es  mit  der  Phantasie  in  einem  schönen  Bunde  zur 
künstlerischen  und  gefälligen  Darstellung  bringen  zu  sollen.  In 
seinem  Gedichte  „die  Künstler"  spricht  er  dies  klar  aus:  „Wenn 
auf  des  Denkens  freigegebenen  Bahnen  der  Forscher  jetzt  mit 
kühnem  Glücke  schweift  und,  trunken  von  siegrufenden  Päanen, 
mit  rascher  Hand  schon  nach  der  Krone  greift;  wenn  er  mit 
niederm  Söldnerslohne  den  edlen  Führer  zu  entlassen  glaubt, 
und  neben  dem  geträumten  Throne  der  Kunst  den  ersten  Sclaven- 
platz  erlaubt:  —  verzeiht  ihm  —  der  Vollendung  Krone 
schwebt  glänzend  über  eurem  Haupt.  Mit  euch  (den 
Künstlern),  des  Frühlings  erster  Pflanze,  begann  die  seelen- 
bildende  Natur;  mit  euch,  dem  freudigen  Erntekranze,  schliesst 
die  vollendete  Natur."  Und  femer:  „Was  in  des  Wissens 
Land  Entdecker  nur  ersiegen,  entdecken  sie,  ersiegen  sie  für 
euch.  Der  Schätze,  die  der  Denker  aufgehäufet,  wird  er  in 
euren  Armen  erst  sich  freu'n,  wenn  seine  Wissenschaft,  der 
Schönheit  zugereifet,  zum  Kunstwerk  wird  geadelt  sein."  Die 
Urania  (als  Wissenschaft)  soll  deshalb  in  der  Cypria  (als  Kunst) 
verschleiert  schon  gegeben  sein. 

Dass  dies  nun  ganz  verkehrt  ist,  liegt  auf  der  Hand;  denn 
die  geistigen  Vermögen  sind  trotz  ihres  Zusammenwirkens  doch 
so  getrennt  in  ihrer  Wurzel  wie  Auge  und  Ohr.  Nie  wird  man 
z.  B.  den  Werth  des  Gesichts  wegreden  oder  ersetzen  können, 
wenn  man  auch  noch  so  viel  durch  glänzende  Schilderungen  der 
sichtbaren  Schönheit  in  tönenden  Worten  auf  das  Ohr  wirkt; 
denn  hörend  können  wir  ja  diese  Kunde  nur  verstehen  und  ge- 
messen, wenn  wir  sehend  waren  und  uns  erinnern,  was  wir  bei 
solchem  Anblick  fbhlten.  Ebenso  ist  die  Kunst  unvermögend, 
die  Philosophie    zn    ersetzen,    und    der  Philosoph   zertrümmert 

uiyiüzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Kunstenthusiasmus.  437 

erbannungslos  das  schönste  Bedekunstwerk,  um  aus  dem  Firlefanz 
die  ihm  viel  interessanteren  nackten,  abstracten  Begriffe  heraus- 
zuziehen und  zu  gemessen,  die  durch  die  künstlerischen  soge- 
nannten Verschönerungen  nach  seiner  Meinung  nur  verschlechtert 
und,  wie  er  grob  sagen  wird,  verhunzt  werden.  Wer  aber  die 
speculative  Arbeit  gescheut  hat,  der  wird  auch  in  dem  Kunst- 
werk, welches  angeblich  die  Wissenschaft  incorporiren  und  ver- 
klären soll,  den  wissenschaftlichen  Inhalt  gar  nicht  verstehen, 
sondern  wie  im  Traum  nur  davon  angesäuselt  werden,  ohne  über 
den  Sinn  und  Verstand  Rechenschaft  geben  zu  können.  Schiller's 
Versuch,  die  theoretische  Thätigkeit  in  der  Kunst  verschwinden 
zu  lassen,  ist  daher  ebenso  verfehlt,  wie  der  gleiche  Versuch  der 
speculativen  Idealisten,  alle  übrigen  geistigen  Functionen  in  das 
Fhilosophiren  aufzuheben.  Gerechtigkeit  ist  eine  gute  Sache, 
und  so  wollen  wir  jeder  Function  ihr  Recht  geben  und  uns 
freuen,  dass  wir  sowohl  Augen  als  Ohren  haben. 

Das  Motiv  der  Religion  überhaupt  ist  das  Be- 
dürfniss  nach  einer  gewissen  Vereinbarung  oder  Ver- 
einigung mit  dem  Absoluten,  oder  das  Bedürfiiiss  nach  einer 
absoluten  Befriedigung;  denn  alle  unsere  Begierden  und  Bedürf- 
nisse verlangen  bloss  ihre  besondere  Befriedigung,  die  Religiosi- 
tät aber  ist  ein  Bedürfiiiss,  welches  über  und  ausser  den  zer- 
splitterten einzelnen  Trieben  und  Sorgen  den  ganzen  Menschen 
einheitlich  zusammenfasst  und  seine  Zuordnung  zu  der  souveränen 
Macht  in  der  Welt  empfindet  und  bedenkt.  Demgemäss  kann 
eine  absolute  Befriedigung  auch  erreicht  werden,  wenn  selbst 
einzelnen  Trieben  keine  Genugthuung,  sondern  vielmehr  Ein- 
schränkung und  Leiden  beschieden  ist. 

Da  für  die  Religionsstufe,  die  wir  hier  erörtern,  nur  das 
atheistische  Bewusstsein  vorauszusetzen  ist,  so  kann  die  Befrie- 
digung nur  in  dem  Vollzug  der  geistigen  Functionen  und  im 
Genuss  des  geistigen  Inhalts  liegen.  Das  specifische  Motiv  des 
pantheistischen  Kunstenthusiasmus  lässt  sich  aber  nur  durch  eine 
überwiegende  künstlerische  Anlage  verstehen,  welche  die 
übrigen  geistigen  Potenzen  in  ihre  Functionen  verwebt  und  so 
gewissermassen  die  Oberherrschaft  in  der  Seele  ausübt  und  mithin 
das  höchste  und  alleinumfassende  Bedürfniss  erregt.  Dieses  kann 
daher  nur  durch  die  künstlerische  Thätigkeit  und  ihren  Selbst- 


438  Pantheismus  der  That. 

genuss  ausgefüllt  und  befriedigt  werden,   und  hierin  liegt  das 
eigenthümliche  Wesen  dieser  Eeligionsfonn. 

Wie  nun  die  dogmatische  Betrachtung  uns  zeigte,  dass  die 
abstracte  wissenschaftliche  Leistung  mit  der  Phantasie  ver- 
schmolzen werden  muss,  um  dem  Künstler  zu  genügen,  so  sehen 
wir  hier  sofort,  dass  die  dem  Geftlhl  entsprechenden  moralischen 
Normen  keine  selbständige  Geltung  auf  diesem  Standpunkte  be- 
halten können.  Die  Moralität,  möge  sie  aus  bestimmten  positiven 
Satzungen  herstammen,  oder  wie  bei  Kant  aus  dem  Gegensatz 
der  geistigen  Allgemeinheit  gegen  die  sinnlich  -  natürliche  Parti- 
cularität  des  Begehrens  gezogen  werden,  ist  und  bleibt  immer 
eine  Schranke,  welche  der  freien  natürlichen  Bewegung  des 
künstlerischen  Genius  hemmend  in  den  Weg  tritt  Wie  der 
Genius  daher  seiner  Natur  gemäss  gegen  jeden  Zopf  positiver 
gesellschaftlicher  und  zweckmässiger  Formen  und  Manieren  feind- 
lich sich  verhält,  so  muss  er  auch  der  Moral  den  Krieg  erklären. 
„Ja,  der  Mensch  ist  ein  ärmlicher  Wicht,  ich  weiss  —  doch  das 
wollt'  ich  eben  vergessen  und  kam,  ach,  wie  gereut  mich's,  zu 
Dir!"  nämlich  zu  dem  moralischen  Dichter.  Dieser  ist  in  der 
von  der  Moral  regulirten  Dichtung  „der  Wirth  und  der  letzte 
Actus  die  Zeche;  wenn  sich  das  Laster  erbricht,  setzt  sich  die 
Tugend  zu  Tisch." 

Der  Künstler  kann  also  den  Widerspruch  zwischen  Natur  und 
Gesetz  nicht  dulden.  Darum  zeigt  Schiller  in  seinen  ästhetischen 
Abhandlungen,  dass  durch  die  Kunst,  welche  das  Schöne  oder 
die  Harmonie  von  Gesetz  und  Natur  enthält,  unsere  Lust  als 
Beifall  ausgelöst  werde,  dass  dieser  freie  Beifall  aber  erziehend 
und  normirend  auf  die  Triebe  wirke  und  dass  so  ganz  von  selbst 
das  natürliche  Begehren  des  Menschen,  von  der  Schönheit  und 
dem  Geschmacksurtheil  geleitet,  in  den  moralischen  Bahnen  ohne 
Zwang  anmuthig  sich  bewegen  und  mithin  ebensowohl  das  radicale 
Böse  wie  das  Gesetz,  welche  beide  einen  unlösbaren  Widerspruch 
der  Natur  anzeigen,  überwinden  würde.  Die  Ethik  des  Kunst- 
enthusiasten fordert  deshalb  die  ästhetische  Erziehung,  d.  h.  Aus- 
übung der  Künste  und  Genuss  der  Kunstwerke. 

Dadurch  kommen  wir  von   selbst  zum   Gultus: 

Caltas.  ^ 

es  ist  ja  in  die  Augen  fallend,  dass  die  Verehrung 
einer  auswärtigen  Gottheit  keinen  Platz  mehr  hat.  Aber  freilich 
ist   es   dem  Künstler  auch  leicht,    sich  mit   seiner  lebendigen 

uiymzeu  uy  x^j>^  v^'pt  i^- 


Kunsienthusiasmus.  4  39 

Phantasie  in  jeden  fremden  Cultus  hineinzuversetzen,  und  deshalb 
gar  nicht  wunderbar,  dass  bei  diesem  Standpunkt  die  Romantiker 
so  leicht  vom  Protestantismus  zum  Eatholicismus  übergingen, 
oder  wenigstens,  wie  Schiller  und  auch  Göthe,  sich  in  ihren 
Dichtungen  so  völlig  in  den  katholischen  Cultus  hineinfllhlten 
und  ihn  wie  die  angemessenere  und  ästhetisch  allein  brauchbare 
Religionsform  mit  Vorliebe  benutzten.  Ebenso  leicht  freilich 
verloren  sie  sich  in  den  heidnischen  Cultus  und  nicht  bloss 
Hölderlin,  sondern  auch  Schiller  und  Göthe  fanden  den  natür- 
lichsten Ausdruck  ihres  religiösen  Bewusstseins  spielerisch  in 
den  griechischen  Göttern  und  ihrem  Cultus,  wie  Göthe  später 
auch  den  Islam  und  die  Indische  Mythologie  als  ein  bequemes 
Gewand  anzulegen  liebte.  Die  historisch  überlieferten  positiven 
Cultusgebräuche  der  Völker  werden  deshalb  auf  diesem  Stand- 
punkte nur  zu  einer  Phantasieform,  die  sich  beliebig  verwerthen 
lässt,  an  sich  aber  ohne  Bedeutung  ist. 

Der  eigentliche  und  wahre  Cultus  aber  ist  die  Ausübung 
der  Kunst  selbst,  und  mithin  muss  das  Theater  an  die  Stelle 
der  Kirche  treten.  Schiller  hat  sich  nicht  gescheut,  diese  Con- 
Sequenz  zu  ziehen  und  sie  öffentlich  zu  verkünden.  Obgleich 
nun  hierin  eine  augenfällige  Einseitigkeit  liegt,  weil  doch  weder 
alle  Menschen  Theaterstücke  schreiben,  noch  täglich  in's  Theater 
laufen  können  und  auch  nicht  die  Fähigkeit  haben,  was  sie  an 
dem  Schicksal  fremder  Menschen  auf  der  Bühne  erlebten,  jedes- 
mal zum  Privatgebrauch  für  eigene  Calamitäten  zu  verwenden, 
während  die  Religion  immerfort  von  Nöthen  ist  und  deshalb  auch 
die  Kirche  mit  ihrer  Lehre  und  Gesinnung  das  ganze  Leben  des 
Menschen  durchdringt  und  regelt:  so  muss  diese  grosse  Einseitig- 
keit Schiller's  doch  noch  als  ein  Zeichen  von  Verstand  und  Be- 
sonnenheit gelten  im  Verhältniss  zu  einem  noch  grösseren  Extrem, 
da  er  wenigstens  noch  nicht  das  ganze  Leben  des  Menschen 
selbst  als  ein  Gedicht  oder  als  Musik  hinstellt,  sondern  dies  als 
ein  durch  den  Einfluss  der  Kunst  nur  zu  regulirendes  Material 
ausserhalb  der  Kunstbetrachtung  Hess.  Die  Consequenz  stric- 
tester  Observanz  wurde  erst  von  den  Romantikern  gezogen,  die 
von  Schiller's  moralischem  Nerv  und  seinem  kräftig  ausgebildeten 
Verstände  verlassen  das  ganze  Leben  in  Dichtung  umwandeln 
wollten.  Nun  wird  nothwendiger  Weise,  wie  in  der  romantischen 
Poesie,   der  natürliche  und  nach  Gesetzen  zusammenhängende 


440  Pantheismus  der  That. 

Lauf  der  Welt  selbst  zu  einem  vom  Zufall  oder  von  dämonischen 
Mächten  nach  Neigung  oder  Abneigung  gestalteten  Lebenstraume; 
Wirklichkeit  unterscheidet  sich  nicht  mehr  von  den  Bildern  der 
Einbildungskraft,  so  dass  sich  Zauber  und  Wunder  und  alles 
Unmögliche  ohne  Mühe  ereignet;  die  im  Walde  erschaute  blaue 
Blume,  bei  Novalis,  die  den  Dichter  mit  zauberhafter  Macht 
anzog,  tritt  in  den  blauen  Augen  eines  Mädchens  ihm  plötzlich 
wieder  entgegen  und  ist  in  Wahrheit  nichts  anderes  als  der  ent- 
zückende Traum  der  Phantasie,  der  das  eigentliche  Lebens-Motiv 
und  Ideal  des  Dichters  gewesen  war  und  der  sich  nun  in  süssen 
Thränen  und  Worten  unsagbaren  Inhalts  und  allerlei  poetischen 
Handlungen  realisirt.  Zwei  Verliebte  leben  bei  Tieck  unbe- 
kümmert um  die  übrige  Welt  im  zweiten  Stockwerk,  und  in  ihrer 
Lebenspoesie  verbrennen  sie  allmählich  von  unten  an  die  ganze 
Treppe  auf  ihrem  kleinen  Heerde  und  gemessen  die  Vollendung 
des  Daseins  mit  einander  in  ihren  Phantasien,  ohne  nöthig  zu 
haben,  mit  dem  spiessbürgerlichen  Verstände  sich  und  die  Welt 
zu  erkennen  oder  irgendwelche  Pflichten  in  der  ihnen  ver- 
schwundenen Wirklichkeit  zu  erfüllen. 

Diese  Erörterung  des   Gultus   führt  unmittelbar 

Zar  Kritik.  ° 

zur  Kritik  hinüber;  denn  die  ungehinderte  Ausbildung 
des  Kunstenthusiasmus  muss  ja  die  völlige  Isolirung  der  Kunst- 
function  und  die  haltlose  Einseitigkeit  und  Unwahrheit  des  Stand- 
punkts an's  Licht  stellen.  Indem  die  Kunst,  die  hier  gewöhnlich 
schlechthin  Poesie  genannt  wird,  sich  von  der  Wissenschaft,  also 
von  der  Wahrheit,  ablöst,  wird  ihre  Productionsweise  und  Form 
launenhaft  und  liederlich,  wie  die  kaum  lesbaren  Producte,  die 
Genoveva  u.  dergl,  zeigen,  und  ihr  Inhalt  geht  vom  Traumhaften 
zum  Verrückten  über.  Das  Leben  dieser  Lebensdichter  aber 
richtet  sich  bloss  nach  ihrem  zufälligen  Geschmack  und  nach 
ihren  von  der  Phantasie  gegängelten  Begierden,  die  alle  für 
heilig  und  unschuldig  erklärt  werden,  weil  sie  als  natürliche 
aufgehoben  und  in  die  Form  der  Lebensdichtung  aufgenommen 
sind.  Darum  tauschen  die  Dichter  ihre  Frauen  unter  einander, 
kümmern  sich  weder  um  menschliche,  noch  sogenannte  göttliche 
Verbote  und  beten  schliesslich  in  der  Lucinde,  da  die  Phantasie 
doch  von  den  Trieben  inspirirt  wird,  in  orgiastischem  Rausch 
ihren  eigenen  Priapus  an.  Mit  einem  Wort,  die  Einseitigkeit  des 
Kunstenthusiasmus  bewirkt  seine  Unwahrheit,   sofern  er  von 

uiumzeu  uy  x^jOvJVIv^ 


Künsten  thnsiasmus.  441 

der  theoretischen  Function,  also  von  Verstand  und  Wissenschaft 
lostgelöst  ist,  und  seine  Schlechtigkeit,  sofern  er  von  dem 
Gewissen  und  von  allem  moralischen  Gesetze  sich  emancipirt. 

Zugleich  tritt  in  diesem  dichterischen  Enthusiasmus  auch 
der  Fehler  des  Pantheismus  deutlich  hervor;  denn  das  Wesen 
des  Fantheismus  ist  die  Auflösung  des  Göttlichen  in  die  geistigen 
Functionen.  Hier  sehen  wir  nun  Eine  Function,  die  Phantasie 
mit  ihren  künstlerischen  Handlungen,  in  alleiniger  Bevorzugung 
und  können  an  dem  Inhalt  der  Werke  und  dem  Leben  der 
Dichter  wahrnehmen,  wie  die  Persönlichkeit,  das  substanziale 
Sein  des  Menschen,  in  die  blosse  Function  verschwindet,  wie 
also  gewissermassen  an  der  Stelle  des  Menschen  nur  das  Träumen 
und  Dichten  lebt  und  wirkt,  ohne  dass  der  Mann  selbst  seine 
Thätigkeit  regierte  und  normirte  und  ihr  im  Verhältniss  zu  den 
andern  Functionen  die  Bedingungen  der  Coordination  auferlegte, 
und  ohne  dass  er  selbst  als  Wesen  mit  den  anderen  zugeord- 
neten Wesen  und  mit  Gott  in  eine  reale  und  in  eine  meta- 
physische Gemeinschaft  zu  treten  vermöchte. 

Man  darf  aber  nicht  glauben,  als  wenn  die  hier  abgeleitete 
und  definirtc  Religionsform  sich  bloss  bei  Dichtern  finden  könnte, 
nein,  sie  ist  auch  bei  den  Vertretern  der  andern  Künste  viel 
verbreitet;  nur  vermögen  die  Maler  und  Bildhauer  und  Musiker, 
was  sie  träumen,  fühlen  und  wollen,  bloss  durch  Gesichte  und 
Töne  räthselhaft  anzudeuten,  während  dem  Dichter  allein  die 
Zunge  gelöst  und  vergönnt  ist,  deutlich  und  verständlich  zu  sagen, 
wie  sich  ihm  in  seinem  Geiste  das  Göttliche  oflFenbart  hat. 


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2.  Pantheismus  des  Gefühls. 

Erstes  Capitel. 
Definition. 


Kein 
PantheismuB 


Wir  kommen  zu  einer  andern  Form  des  reli- 
giösen Bewnsstseins,  zu  einer  weniger  verbreiteten, 
kann  weü  das  Vermögen  der  That  in  die  Sinnenwelt  führt 
^*^werdef**'^  uud  sich  deshalb  überall  bemerklich  macht,  wie  es 
auch  durch  die  beständige  Sorge  für  die  Selbst- 
erhaltung im  Kampfe  um's  Dasein  am  Meisten  von  selbst  ent- 
wickelt wird,  während  das  Geftlhl  und  die  Erkenntniss  nur  als 
Hülfen  herangezogen  werden,  aber  durch  die  Noth  des  Lebens 
keinen  unmittelbaren  Antrieb  zu  selbständiger  Entwickelung  er- 
halten. Es  ist  darum  in  der  Ordnung,  dass  die  Religionsformen, 
zu  denen  wir  jetzt  übergehen,  sich  nicht  in  so  zahlreichen  Bei- 
spielen vertreten  finden,  üeberhaupt  eignen  sich  alle  pantheisti- 
sehen  Standpunkte  ohne  Ausnahme  nicht  zur  Yolksreligion,  und 
es  ist  nur  eine  Oedankenlosigkeit,  wenn  man  die  pantheistischen 
Religionen  des  Buddhismus  und  Brahmanismus  die  verbreitetsten 
Religionen  der  Welt  nennt;  denn  was  in  diesen  Religionen  rein 
pantheistisch  ist,  das  kann  sich  ebensowenig  verbreiten,  wie  etwa 
das  chemisch  reine  Wasser.  Nur  scheinbar  ist  dieses  überall 
vorhanden;  es  verbindet  sich  vielmehr  überall  mit  anderen  Stoffen 
und  verbreitet  sich  in  die  organischen  Gewebe  der  Pflanzen  und 
Thiere,  wie  es  auch  im  Meere  und  in  den  Quellen  mit  Salz  und 
Jod,  mit  allerlei  Alkalien  und  Metallen  sich  vermengt  In  den 
Apotheken  und  Laboratorien  hat  man  das  reine  Wasser  zu 
suchen.  Ebenso  ist  der  Buddhismus  und  Brahmanismus  als 
Yolksreligion  kein  reiner  Pantheismus,  sondern  er  hat  die  Elemente 

uiyiüzeu  uy  "V-j  v-zv^'-x  iv^ 


Definition.  443 

der  Furcht-  und  Rechtsreligion  überall  aufgesogen  und  sich  mit 
Göttern  erfüllt,  wie  z.  B.  Buddha  selbst  zu  einem  incamirten 
Gott  gemacht  wurde.  Also  muss  man  aufhören  mit  dem  un- 
wissenschaftlichen Geschwätz,  als  wenn  der  Pantheismus  der 
noch  gegenwärtig  herrschende  und  vom  Evangelium  nicht  besiegte 
Geist  der  verbreitetsten  Religionen  der  Welt  wäre,  womit  man  ein- 
filltige  Christen  zu  erschrecken  und  Eandem  zu  imponiren  pflegt 

Nun  beruhen  alle  pantheistischen  Religionsformen 
auf  einer  Einseitigkeit  der  geistigen  Begabung  der  ^J^^^^^ 
Menschen.  Obgleich  nämlich  der  Geist  seinem  Wesen 
nach  immer  ganz  ist,  derart  dass  ihmkeins  der  drei  Vermögen 
fehlen  könnte,  so  findet  sich  doch  thatsächlich  in  der  Regel  ein 
Uebergewicht  von  Einem  dieser  Vermögen,  weshalb  wir  einige 
Menschen  praktisch  und  künstlerisch,  andre  Gefiihlsmenschen, 
andre  Denker  nennen.  Da  aber  der  Geist  immer  ganz  ist,  so 
denkt  auch  der  Praktiker  und  es  fühlt  auch  der  Theoretiker; 
nur  wird  niemand  die  in  jeder  Erfahrung  uns  aufstossende  Ein- 
seitigkeit der  Menschen  leugnen  wollen.  Darum  ist  es  nun  in 
der  Ordnung,  dass  sich  nach  dem  Uebergewichte  der  einen  oder 
der  anderen  Function  des  Geistes  auch  die  allen  gemeinsame 
Vorstellung  von  dem  Göttlichen  und  der  absoluten  Befriedigung 
in  einer  specifischen  Weise  ausbildet  und  eine  eigenthümliche 
Religionsform  erzeugt  Wenn  daher  das  Gemeinsame  (genus) 
des  Pantheismus  durch  den  Genuss  des  Göttlichen  in  den  geisti- 
gen Functionen,  in  welche  das  Ich  verschwindet,  ausgedrückt 
werden  kann,  so  besteht  das  Specifische  (differentia  specifica)  in 
den  Einseitigkeiten,  wonach  entweder  die  Thätigkeiten  oder  die 
Gefühle  oder  das  Denken  den  Sitz  des  Uebergewichts  bilden. 
Diese  drei  Vermögen  des  Geistes  bestimmen  das  Fundament  der 
Eintheilung  und  ermöglichen  zwar  keine  haarscharfe  Zerspaltung 
der  Religion,  aber  doch  eine  solche  Gruppirung,  die  aus  dem 
Wesen  der  Sache  stammt  und  durch  die  Wirklichkeit  der  mensch- 
lichen Einseitigkeit  vollauf  bewährt  wird,  so  dass  Niemandem 
der  thatsächliche  Unterschied  der  hierdurch  gefundenen  Reli* 
gionsformen  entgehen  kann. 

Es  ist  offenbar,  dass  das  Gefühl  zu  den  elemen- 
taren Functionen  des  Geistes  gehört,  von  denen  man  ^**0e^hu,  ^^ 
gewöhnlich   sagt,    dass    sie   nicht    definirt   werden 
könnten.    Nun  ist  es  zwar  richtig,   dass  man  Niemandem  von 

uiuiüzeu  uy  V^J  V^\J>t  i^ 


444  Pantheismus  des  Gefühls. 

einem  GefUhl  yerständlich  sprechen  kann,  wenn  er  dies  GeAihl 
nicht  schon  in  sich  gefühlt  hat,  wenn  es  noch  kein  Inhalt  seiner 
eigenen  Erfahrong  geworden  ist ;  allein  ausser  dieser  seit  Aristoteles 
allgemein  anerkannten  Gränze  der  Definibilität  muss  die  neue 
Schwierigkeit  beachtet  werden,  die  ich  zuerst  in  meiner  „Grund- 
legung der  Metaphysik"  hervorhob;  da  nämlich  durch  das  Er- 
kennen offenbar  nur  Erkenntnisse  erkannt  werden,  d.  h.  nur  das, 
was  als  erkanntes  Object  ohne  Kest  in  das  erkennende  Subject 
aufgeht,  so  scheint  das  Gefühl,  welches  doch  keine  Erkenntnis, 
sondern  etwas  davon  gänzlich  Verschiedenes  ist,  gar  nicht  er- 
kannt werden  zu  können.  Ich  habe  diese  Schwierigkeit  in  meiner 
Metaphysik  durch  Unterscheidung  von  Bewusstsein  und  Erkenntnis 
gelöst  und  zugleich  die  Gränze  des  Gebietes  des  Definiblen  dadurch 
erweitert,  dass  ich  die  Definition  als  Ortsbestimmung  in  einem 
Coordinatensystem  demonstrirte,  weshalb  man  jetzt  durch  Angabe 
der  coordinirten  Beziehungspunkte  Alles  definiren  kann,  indem 
man  aber  freilich  immer  das  für  den  Ort  Bestimmte  in  seinem 
eigenen  Bewusstsein  antreffen  oder,  wenn  es  eine  Erkenntniss 
ist,  durch  eigenes  Denken  erzeugen  muss. 
Ort  des  Gefühl»  ^^  ^^^  dcmgcmäss   den  Ort  des  Gefühls   zu 

in  dem  .  bcstimmcu,  nehmen  wir  ein  paar  Beispiele.  Wir  sehen 
^°^ytl^°  eine  Traube;  wir  brechen  sie  ab.  Das  Sehen  ist 
der  geisugeu  hicr  cinc  Erkenntnissfunction;  das  Abbrechen  eine 
Funcüonen.  Handlung.  Wie  folgt  die  Handlung  aus  der  Er- 
kenntniss? Sie  folgt  auf  keine  Weise  ohne  ein  Drittes  in  der 
Mitte.  Wir  müssen  nämlich  schon  Trauben  gegessen  und  Ge- 
schmack daran  gefunden  haben.  Also  muss  sich  das  Gefühl  des 
Angenehmen  als  Geschmack  in  der  Mitte  befinden,  damit  die 
Handlung  sich  nach  der  Erkenntniss  drehen  kann.  Man  hört 
eine  Viper  zischen  und  fährt  zurück.  Auch  hier  ist  ein  durch 
Erfahrungen  ausgelöstes  Gefühl  der  Furcht  zu  ergänzen,  ohne 
welches  keine  Bewegung  erfolgen  könnte.  Nach  diesen  Beispielen 
zeigt  sich  also  ein  Coordinatensystem  in  den  geistigen  Functionen, 
indem  in  gesetzmässiger  Weise  Erkenntniss  und  Bewegung  ein- 
ander durch  das  Gefühl  zugeordnet  sind.  Wir  haben  das  Recht, 
dies  Kesultat  unbedingt  und  allgemein  auszusprechen,  so  lange 
keine  Instanz  dagegen  angeführt  werden  kann. 

Um^  die   Allgemeingültigkeit    dieser    Ortsbestinunung    oder 
Definition  des  Gefühls  zu  zeigen,  will  ich  ein  Beispiel  aus  dem 

uiumzeu  uy  'v_JvyVjVlv^ 


Definition.  445 

Gebiete  des  Denkens  anführen,  ip  welchem  bisher  noch  nie  die 
elementare  Wirksamkeit  der  drei  geistigen  Vermögen  erkannt 
und  analytisch  nachgewiesen  worden  ist.  Man  nimmt  nämlich 
noch  heute  allgemein  an,  das  Denken  gehöre  bloss  zum  Er- 
kenntnissvermögen,  und  man  tibersieht  daher  in  verhängnissvoUer 
Weise  die  Mitwirkung  des  Bewegungs-  und  Geftthlsvermögens. 
Will  man  hier  aber  klar  sehen,  so  muss  man  die  einfachen  Vor- 
gänge zunächst  studiren.  Es  werfe  z.  B.  Jemand  die  Frage  auf, 
ob  die  Radien  im  Kreise  gleich  oder  ungleich  wären.  Nun  blickt 
der  erkennende  Geist  auf  die  Begriffe  gleich  und  ungleich,  er 
blickt  auch  auf  die  Natur  der  Radien  im  Kreise;  denn  die  Frage 
hat  die  Reproduction  dieser  Begriffe  und  Vorstellungen  als  Be- 
ziehungspunkte hervorgerufen.  Was  folgt  aus  dieser  Erkenntniss? 
Nichts!  Kein  Urtheil  und  kein  Schluss!  Denn  woher  sollte  die 
Bewegung  kommen?  Das  Urtheil  ist  eine  Bewegung,  ein  Thun, 
eine  Handlung  des  Geistes,  und  der  Schluss  ist  ein  Urtheil.  Also 
fehlt  ein  Gelenk,  ein  in  der  Mitte  liegendes  Princip,  welches 
eine  Thätigkeit  mit  einer  Erkenntniss  im  Gebiete  der  Erkennt- 
niss verbindet.  Wir  nennen  diese  Thätigkeit  das  Denken.  Nach 
der  Analogie  kann  das  in  der  Mitte  Liegende  nur  das  Gefühl  sein. 
Wollten  wir  uns  hier  nun  gleich  mit  dem  Namen  „Gefühl" 
befriedigen,  so  würden  wir  nicht  tief  genug  in  das  Wesen  des 
Vorgangs  blicken.  Man  muss  aber  wissen,  dass  alle  die  oben 
angeführten  Beispiele,  so  einfach  sie  zu  sein  scheinen,  schon  sehr 
complicirter  Natur  sind,  weil  sie  aus  dem  Gebiete  des  bewussten 
Lebens  entnommen  wurden.  Das  Unbewusste  hat  jedoch  immer 
den  Vorrang.  Ohne  Weiteres  kann  Niemand  nach  der  Traube 
greifen-,  sondern  es  gehen  unzählige  unbewusste  Bewegungsacte 
im  Kindheitsalter  erst  voran,  die  sinnenfällig  werden  und  die 
Möglichkeit  einer  zweckmässigen  und  unzweckmässigen  oder  ver- 
fehlten Bewegung  unterscheiden  lassen,  so  dass  dieser  ganze 
Vorgang  noch  eine  viel  feinere  Analyse  verträgt  und  fordert. 
Allein  dies  gehört  nicht  hierher,  sondern  soll  an  anderem  Orte 
ausgeführt  werden,  wie  es  zum  Theil  auch  schon  von  andern 
Forschem  richtig  erkannt  ist.  Hier  bemerke  ich  nur,  dass,  wer 
fehl  greift,  ein  Missfallen  auslöst;  wer  trifft,  Beifall  in  sich  findet 
Demgemäss  verhält  es  sich  nun  auch  beim  Denken;  eine  logische 
Bewegung,  d.  h.  ein  Urtheil,  welches  irrig  ist,  missf&llt  uns;  ein 
Urtheil  aber,    welches  trifft  und  richtig  ist,  befriedigt  uns   und 

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446  Pantheismus  des  Gefühls. 

hat  unseren  eigenen  Beifall.  Hier  nun  haben  wir  das  gesuchte 
Geftlhl.  Es  ist  der  aus  den  unbewussten  Denkthätigkeiten  uns 
wohlbekannte  Beifall,  der  hier  sollicitirend  auf  das  Bewegungs- 
vermögen  wirkt  und  das  Urtheil  auslöst,  da  das  durch  die  Frage 
oder  den  Zweifel  entstandene  unangenehme  Gefühl  eine  Ab- 
hülfe verlangt,  um  durch  die  Denkbewegung  die  Befriedigung 
herbeizuführen. 

Diese  Andeutungen  mögen  hier  genügen.  Da 
^def  GeföhJr  ^^^^  jedes  Geftlhl  wesentlich  entweder  als  angenehm 
und  das  ooor-   odcr  Unangenehm,   als   Beifall  oder  Missfallen  em- 

^*de*/ Welt*"*  pfunden  wird,  so  fordern  wir  zum  Verständniss  dieses 
Unterschiedes,  von  dem  alle  Thätigkeiten  abhängen, 
einen  zugeordneten  Beziehungspunkt.  Dieser  zeigt  sich  alsbald 
in  der  allgemeineren  Idee  der  Ordnung  oder  der  Goordination 
überhaupt.  Wenn  wir  die  Ordnung  in  dem  Tempo  der  Bewegung 
verfolgen,  so  missfällt,  wer  aus  dem  Tacte  kommt;  wer  die 
Ordnung,  die  einem  Contracte  zu  Grunde  liegt,  das  Vertrauen 
des  Einen,  das  Versprechen  des  Andern  und  die  geschehene  Lei- 
stung in'sAuge  fasst,  dem  missfällt  der  Bruch  des  Versprechens; 
wer  die  Ordnung  einer  mathematischen  Rechnung  kennt,  dem 
missf&Ut  der  Fehler,  die  Lücke  u.  s.  w.  Kurz  der  Beifall  ist 
immer  zugeordnet  dem  Richtigen,  das  Missfallen  aber  der  ge- 
störten Ordnung.  Mithin  ist  das  Wesen  des  Gefühls  zu  ver- 
stehen, wenn  wir  unsere  geistigen  Functionen  in  das  grosse  Ganze 
einer  allgemeinen,  die  Welt  umspannenden  Ordnung  einbegreifen, 
weil  wir  dann  in  dem  Gefühl  die  Correlation  der  Stellung  des 
Ichs  mit  seiner  Function  zu  dem  die  Ordnung  des  Ganzen  be- 
stimmenden einheitlichen  Zweck  unmittelbar  empfinden. 

Die  Möglichkeit  aller  Fehler  liegt  in  der  Selb- 

theiiangder  stäudigkcit  dcs  Ichs;  denn  dadurch  können  dieFunc- 
oefühie.  tionen,  welche  durch  die  Beziehungen  zur  Welt  aus- 
gelöst werden,  sich  nach  der  Natur  und  dem  inneren  Zustande 
des  Subjects  richten,  ohne  der  allgemeinen  Ordnung  draussen  zu 
entsprechen.  Dass  z.  B.  Jemand  tanzt,  liegt  etwa  in  der  zage- 
hörigen Aufforderung  der  Ball-Gesellschaft;  dass  er  aber  aus  dem 
Tacte  kommt,  liegt  in  seinem  inneren  Zustande,  in  seiner  Un- 
geübtheit,  seinem  schlechten  Gehör  u.  s.  w. 

So  sind  zunächst  zwei  Gattungen  von  Geflihlen  zu  unter- 
scheiden;  die  Einen  drücken  die  Correlation  der  Welt  zu  uns 

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Definition.  447 

in  der  Weise  ans,  dass  die  Uebereinstimmang  oder  Nichtüber- 
einstimmung der  Dinge  nach  der  Ordnung  in  dem  Subject  nor- 
mirt  wird.  Diese  Anffassungsweise  der  Dinge  ist  die  perspec- 
tiyische  und  die  Geftihle  heissen  selbstsüchtige,  weil  alle 
Dinge  übereinstimmen  sollen  mit  der  Ordnung  in  dem  Selbst 

Die  zweite  Gattung  dreht  den  Spiess  um  und  betrachtet  das 
Selbst  als  zu  ordnen  zur  Uebereinstimmung  mit  dem  Ganzen. 
Hier  ist  die  Betrachtungsweise  eine  objective,  und  die  Gefühle 
können  im  Allgemeinen  als  die  idealen  bezeichnet  werden,  so- 
fern sie  sich  nach  den  Normen  des  ideellen  Seins  richten. 

Die  objectiven  Gefühle  lassen  sich  leicht  ein-  j,,^  ^^^  ^^^ 
theilen,  wenn  wir  die  Dreiheit  aller  unserer  Fun-  objecüven 
ctionen  in's  Auge  fassen;  denn  nach  diesem  Funda-  befähle. 
ment  muss  es  drei  Arten  von  Uebereinstimmung  mit  der  ideellen 
Ordnung  geben.  1)  Die  erste  Art  bezieht  sich  auf  die  äusseren 
Thätigkeiten  und  Handlungen,  welche  der  realen  Ordnung  ent- 
sprechen sollen.  Diese  Uebereinstimmung  wird  als  die  Idee 
der  Schönheit  bezeichnet  und  die  zugehörigen  Geflihle  als  die 
ästhetischen.  2)  Die  zweite  Art  betrachtet  nicht  den  realen 
Erfolg,  sondern  die  Absicht  oder  das  Gefühl  selbst  als  die  alle 
Uebereinstimmung  ermöglichende  innere  Bedingung.  Diese  Ueber- 
einstimmung heisst  die  Idee  des  Guten,  und  die  zugehörigen 
Gefühle,  die  man  gewöhnlich  dem  Gewissen  zuschreibt,  heissen 
die  Rechtsgefühle  oder  die  sittlichen.  3)  Die  dritte  Art  be- 
zieht sich  auf  die  Erkenntnisssphäre.  Die  Uebereinstimmung 
unserer  Function  mit  der  ideellen  Ordnung  des  Gedachten  ent- 
hält die  Idee  der  Wahrheit,  und  die  zugehörigen  Gefühle 
heissen  die  wissenschaftlichen  oder  logischen. 

Ein  Gefühl  aber  ist  in  dieser  Eintheilung  nicht 
mit  enthalten,  obwohl   es   gerade  dasjenige  ist,  um    ^Gefühl?'* 
dessentwillen  wir  diese  ganze  Eintheilung  wenigstens 
tabellarisch  uns  vorftlhren  müssen   —   ich  meine   das  religiöse 
Gefühl.    Dies  kann  aber  nun  sehr  leicht  zu  vollem  Verständniss 
gebracht  werden,  wenn  wir  die  allein  noch  übrig  bleibende  Coor- 
dination  des  Ichs  zu  dem  Gottesbewusstsein  hinzunehmen,  wie  dies 
schon  oben  bei  der  Definition  der  Religion  dargelegt  ist.     Hier 
haben  wir  uns  jedoch  zu  erinnern,  dass  wir  nicht  das  religiöse 
Gefühl  schlechthin,  sondern  nur  das  dem  Pantheismus  zugehörige 
suchen.    Denn   da  der  Atheismus  als  Basis   des  Bewusstseins 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


448  Pantheismus  des  Gefühls. 

vorauszusetzen  und  also  kein  projeetiver  Gott  vorhanden  ist, 
gegen  welchen  das  Ich  eine  Gesinnung  haben  könnte,  so  muss 
nach  dem  allgemeinen  Wesen  des  Pantheismus  das  Ich  in  die 
selbstischen  und  perspectivischen  Auffassungen  und  Bewegungen, 
der  Gott  aber  in  die  ideale  und  objective  Gedankenwelt  und  die 
zugehörige  Handlungsweise  verschwinden.  Mithin  kann  es  sich 
ftir  dieses  religiöse  Geflihl  nur  um  die  Coordination  der  geistigen 
Functionen  untereinander  handeln. 

Exciira  ^^  ^^^  spccifische  Wesen  dieses  religiösen  Stand- 

über  dfo  punktes  völlig  in's  Klare  zu  bringen,  müssen  wir  zu- 
^'' EtiTik''^'''  nächst  das  Verhältniss  der  gegebenen  Elemente,  ab- 
gesehen von  der  religiösen  Gesinnung,  betrachten. 
Nun  ist  einleuchtend,  dass  beide  Elemente  sowohl  in  Disharmonie 
als  in  Harmonie  stehen  können.  Harmonisch  sind  sie  nur, 
wenn  das  selbstische  Element  völlig  dem  idealen  gemäss  sich 
ordnet;  weil  die  Vernunft  keine  andere  Ordnung  jemals  aner- 
kennen und  zulassen  kann,  als  die  von  ihr  gefundene.  Mithin 
muss  uns  die  Disharmonie  als  imsittlich  und  schlecht,  und  die 
zugehörige  Handlung  und  Gesinnung  als  Vergehen,  Verbrechen, 
Laster  erscheinen.  Wenn  aber  das  selbstische  Element  in  seinem 
Begehren  und  in  seinen  Anschauungen  sich  der  Vernunft  und 
dem  Gewissen  conformirt,  so  entsteht  eine  Harmonie  der  inneren 
Functionen,  und  dies  ist  der  Inhalt  der  antiken  griechischen 
Ethik,  wie  sie  besonders  durch  Aristoteles  ausgebildet  wurde; 
denn  in  dieser  dreht  sich  alles  um  die  sogenannte  Humanität 
oder  xaXoxaYad'ta,  d.  h.  um  den  Gehorsam  des  zum  Gehorchen 
und  zur  Unterordnung  bestimmten  subjectiven  Elementes  unter 
die  allgemeinen  von  der  Vernunft  erkannten  objectiven  Normen. 
Eine  solche  innere,  aus  der  Natur  der  coordinirten  Elemente 
selbst  bestimmte  Harmonie  heisst  Tugend,  wenn  sie  zu  einer 
lebendigen  Kraft  gekommen  ist,  aus  welcher  immerfort  im  Ein- 
zelnen richtige,  d.  h.  harmonische  Handlungen  und  Lebensauf- 
fassungen abfliessen,  und  es  folgt,  dass  dieser  Coordination  ge- 
mäss beide  Elemente,  sofern  sie  flir  einander  harmonisch  sind, 
nach  jeder  Seite  hin  ihre  besondere  Tugend  haben;  denn  das 
gehorchende  Element  kann  nur  die  ethische  Tugend  erreichen, 
das  befehlende  Element  aber  ist  nothwendig  dianoötisch,  weil 
die  Normen  in  der  Vernunft  liegen.  Diese  Ethik  hat  nun  keine 
Spur  eines  religiösen   Charakters.     Da    der   Mensch   aber   der 


uiymzeu  uy  x^j  v^'v^' 


ö'" 


Definition.  449 

Religion  als  Mensch  nicht  entbehren  kann,  so  wnrde  auch  Aristoteles 
dazu  getrieben,  seiner  Ethik  eine  religiöse  Wendung  zu  geben, 
und  zwar  auf  zwei  Wegen.  Einmal  nämlich  versuchte  er,  die 
ganze  Tugend  als  die  Glückseligkeit  (ehSca^ia)  hinzustellen, 
was  ihm  natürlich  nicht  auskam;  denn  es  ist  eine  kindliche 
Illusion,  das  Leben  des  Menschen  auf  dieser  Erde  als  eine  mit 
dem  Tode  abgeschlossene  vollkommene  Ganzheit  zu  betrachten, 
da  es  nur  ein  kleiner  Ausschnitt  aus  unserem  uns  selbst  noch 
unübersehbaren  Weltbilde  ist,  wie  eine  Scene  aus  einem  Drama, 
wie  eine  untere  Klasse  aus  der  ganzen  Schule,  die  wir  durchzu- 
machen haben.  Deshalb  scheiterte  Aristoteles  denn  auch  noth- 
wendig  an  den  Klippen  des  Zufalls,  an  den  zufälligen  Begabun- 
gen, welche  die  Menschen  mit  auf  die  Welt  bringen,  und  an  den 
zufälligen  Lebensereignissen,  die  als  Glück  oder  Unglück  er- 
scheinen, da  er  seinen  glückseligen  Mann  nur  als  einen  Schuster 
definiren  musste,  der  nicht  immer  die  besten  Schuhe  machen 
könnte,  sondern  nur  nach  dem  gerade  gegebenen  Leder  sich  zu 
schicken  hätte,  um  das  unter  den  Umständen  Erreichbare  herzu- 
stellen. Die  Glückseligkeit  musste  sich  ohne  Glauben  an  die 
Providenz  in  solcher  Art  accomodiren,  dass  der  Standpunkt  des 
Atheismus  herauskam,  der  ja  in  den  verschiedensten  Formen 
und  Vermischungen  auftreten  kann. 

Der  zweite  Versuch,  den  Aristoteles  in  Anlehnung  an  Piaton 
machte,  bestand  in  einem  halben  Pantheismus,  indem  er  am 
SchlusB  der  Ethik  die  Frage  wieder  aufiiahm,  die  dianoetische 
Tugend  allein  zum  Sitze  der  Glückseligkeit  erkor  und,  wie 
wie  wir  bei  der  letzten  Form  des  Pantheismus  genauer  sehen 
werden,  in  dem  Denken  die  Vergöttlichung  gemessen  wollte. 
Ich  nenne  diesen  Aristotelischen  Pantheismus  einen  halben,  weil, 
wie  ich  in  meinen  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe,  beson- 
ders im  dritten  Bande  der  Neuen  Studien,  gezeigt  habe,  die  spe- 
culative  Kraft  des  Aristoteles  überhaupt  zu  gering  war,  um  eine 
zusammenstimmende  Weltansicht  construiren  zu  können,  weshalb 
sein  System  (wie  auch  indirect  z.  B.  der  von  verschiedenen  Seiten 
gefbhrte  Streit  gegen  die  Averrhoistischen  Ausleger  beweist)  nur 
zum  Theil  den  pantheistischen  Anstrich  hat.  Diese  zweite  reli- 
giöse Wendung  gehört  daher  zum  Pantheismus  des  Gedankens 
und  wird  weiter  unten  erörtert  werden. 

Teicbmüller;  BeUgionn»hUotophle.  Digitiz^9öy  GoOQIc 


450  Pantheismus  des  Gefühls. 

Ich  will,  hier  nur  noch  bemerken,  dass  man  bisher  etwas  zn 
gntmttthig  alle  diese  Fragen  als  ethische  betrachtet  hat,  weil 
sie  in  des  Aristoteles  Ethik  stehen.  Wenn  man  als  Philosoph 
an  die  Kritik  dieses  Werkes  geht,  so  muss  man  sofort  die  ganze 
Untersuchung  über  die  Eudaemonie  herausreissen,  weil  sie  mit 
dem  Begriffe,  den  Aristoteles  selbst  von  der  Ethik  giebt,  nichts 
zn  thnn  hat.  Man  könnte  diesen  principiellen  Theil  Religions- 
Philosophie  nennen,  da  es  sich  dabei  um*  die  Stellung  des  Men- 
schen zu  Gott  oder  zum  Schicksal  oder  zum  Universum  dreht 
Nur  ist  zu  bemerken,  dass  Aristoteles  selbst  sich  gar  nicht  be- 
wusst  geworden  ist,  dass  es  religiöse  und  nicht  ethische  Fragen 
sind,  die  er  behandelt,  was  sich  freilich  dadurch  leicht  erklärt, 
weil  überhaupt  die  religiöse  Gesinnung  bei  ihm  keine  höhere 
Ausbildung  und  Vertiefung  fand.  Trotzdem  wird  sich  kein  Ge- 
lehrter, wenn  er  überhaupt  zu  einem  beurtheilenden  Standpunkte 
gelangen  kann,  weigern  einzuräumen,  dass  alle  die  zur  Erörterung 
der  Eudaemonie  von  Aristoteles  herangezogenen  Begriffe,  die  für 
diese  Frage  auch  unvermeidlich  sind,  zur  Religionsphilosophie 
gehören.  Zur  Ethik  gehört  nur  die  Erörterung  der  Harmonie 
unserer  geistigen  Functionen,  also  die  Theorie  der  Tugenden 
und  der  Pflichten  und  der  zugehörigen  Güter.  Will  man  aber 
das  religionsphilosophische  Fundament  und  die  ethische  Abhand- 
lung mit  dem  gemeinschaftlichen  Namen  Ethik  taufen,  so  dreht 
CS  sich  um  einen  Namenstreit,  wobei  das  philosophische  Interesse 
aufhört,  welches  sich  nur  auf  die  Ordnung  der  Begriffe  richtet; 
denn  was  kann  es  z.  B.  den  Philosophen  kümmern,  dass  Spinoza 
sein  Hauptwerk  Ethik  tauft,  da  sich  darin  doch  alle  Disciplinen 
der  Philosophie  abgehandelt  finden. 

Kehren  wir  nun  nach  dieser  Abschweifung,  die 

FortsetzuDg: 

Das  reiigiöee  zur  antithetischen  Illustration  erforderlich  war,  zu 
Gefühl.  unserer  Frage  zurück,  so  erinnern  wir  uns,  dass  wir 
das  specifische  religiöse  Gefühl  ftlr  den  Pantheismus  bestimmen 
wollten.  Nun  hatten  wir  alle  Geflihle  eingetheilt  und  bestimmt 
und  nur  das  religiöse  Gefühl  nicht  gefunden;  wir  waren  aber  zu 
dem  Schluss  gekommen,  dass  dieses  nur  durch  die  Coordination 
der  geistigen  Functionen  untereinander  entspringen  könnte.  Wenn 
wir  jedoch  diese  Coordination  vollziehen,  so  erhalten  wir  die 
Ethik,  und  um  dieses  Resultat   zu  veranschaulichen,  waren  wir 

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Definition.  451 

ZU  dem  Exempel  der  Aristotelischen  Ethik  übergegangen,  wo  wir 
das  gesuchte  religiöse  Geftlhl  vermissten. 

Wir  müssen  daher  eine  neue  Gonstruction  vollziehen,  die 
aber  sehr  einfach  ist;  denn  da  die  selbstsüchtigen  Geftihle  mit 
den  idealen  nothwendig  wieder  in  Verhältniss  stehen  und  dies 
Yerhältniss  wieder  nur  durch  ein  Gefühl  geordnet  werden  kann, 
so  muss  dieses  Gefühl,  welches  den  Einklang  der  perspectivisch  . 
und  objectiv  aufgestellten  Welt  regelt,  nothwendig  ein  religiöses 
werden,  sobald  das  Selbst  mit  dem  ganzen  Inhalt  der  selbst- 
süchtigen Gefühle  und  perspectivischen  Auffassungen  in  den 
Gott*  d.  h.  in  alle  die  idealen  Gefühle  und  die  objectiven  Auf- 
fassungen verschwindet,  d.  h.  sobald  nach  dem  Durchgang  durch 
den  Atheismus  die  pantheistische  Stufe  des  Bewusstseins  erreicht 
ist  Denn  sobald  der  früher  projective  Gott  in  das  Bewusstsein 
zurückgenommen  und  also  als  gegenwärtig  in  den  idealen  Func- 
tionen anerkannt  wird,  so  dass  diese  als  etwas  Göttliches  er- 
scheinen, so  muss  das  Selbst,  welches  dem  auswärtigen  Gott 
coordinirt  war,  zugleich  zerschmelzen  und  sich  nur  als  Erschei- 
nungsform dem  allgemeinen  göttlichen  Leben  hingeben,  da  das 
Selbst  nichts  Einzelnes  und  Selbständiges  mehr  sein  kann,  wenn 
es  den  im  All  gegebenen  Gott  in  sich  fasst.  Mithin  ist  das  Ge- 
fühl dieses  Einklangs  zwischen  den  beiden  Geflihlsgattungen  nicht 
mehr^ein  moralisches,  wobei  die  Persönlichkeit  als  Träger 
bestehen  bleibt,  sondern  ein  religiöses,  da  die  Persönlichkeit 
in  diesen  Einklang  mit  dem  Göttlichen  aufgeht  Es  kommt  dabei 
also  nicht  mehr  auf  ein  einzelnes  Thun  oder  Leiden  an,  welches 
in  einzelnen  Zeitpunkten  bei  gewissen  einzelnen  Objecten  der 
Erkenntniss  gethan  oder  gelitten  werden  müsste,  sondern  die 
beiden  geistigen  Functionsgattungen  selbst  in  ihrer  allgemeinsten 
Einheit  treten  untereinander  in  Beziehung  und  Einklang.  Dadurch 
verschwinden  also  die  unsäglich  vielen  Widersprüche  zwischen 
unserem  Selbst  und  dem  Universum  (Gott),  die  endlosen  Wider- 
wärtigkeiten und  Quälereien  des  Lebens,  die  Empfindung  der 
Leerheit,  der  Sünde  und  Gottlosigkeit,  und  es  gelangt  der  mit 
lauter  endlichem,  den  Begierden  entsprechenden  Inhalt  angefüllte 
Geist  aus  dem  Wirrwar  der  Welt,  aus  dem  bedrückenden  täg- 
lichen Allerlei  mit  Einem  Schlage  zum  vollen  Einklang  mit 
Gott  oder  dem  Universum,  zum  Frieden,  zu  einem  Alles  einigen- 

u,y,,z29«y  Google 


452  Pantheismüa  des  Gefühls. 

den,  Alles  mit  innigem  Beifall  ordnenden  Gefühl.     Dies  Geftihl 
ist  eS;  was  wir  für  den  Pantheismus  des  Gefühls  suchten. 

Dass  Jemand  diese  Religion  haben  muss,  lässt  sich  speculatiy 
nicht  beweisen,  wohl  aber,  dass  man  sie  haben  kann.  Denn 
wenn  wir  von  der  Thatsache  der  Einseitigkeit  der  Menschen 
ausgehen,  so  ist  es  schlechthin  möglich,  dass  sowohl  die  eine, 
als  die  andere  Function  des  Geistes  zum  Ueb ergewichte 
kommt,  und  so  kann  natürlich  jenachdem  auch  das  Gefühl  den 
Schwerpunkt  des  geistigen  Lebens  eines  Menschen  bilden.  In 
diesem  Falle  wird  das  Gefühl  sich  nun  entweder  in  die  unend- 
liche Vielheit  der  einzelnen  Erlebnisse  und  Thätigkeiten  aller  Art 
verzetteln,  um  den  Menschen  in  den  immer  wechselnden  Strudel 
von  Lust  und  Leid,  aber  mit  weit  überwiegendem  Leid  zu  bannen, 
oder  er  wird  sich  reinigen  und  sammeln  und  von  der  Vielheit 
zurückziehen  zu  der  Wurzel  des  Lebens,  um  in  dem  allgemeinen 
Einklänge  der  unbestimmten  geistigen  Functionen  die  Ordnung 
religiös  zu  geniessen.  Was  die  speculative  Construction  hier 
zeigt,  das  muss  uns  durch  die  Erfahrung  ausgeftlUt  werden, 
indem  wir  uns  zu  erinnern  suchen,  ob  wir  nicht  Menschen  dieser 
Art  kennen  gelernt  haben,  oder  ob  wir  etwa  selbst,  wenn  nicht 
immer,  doch  einmal  im  Laufe  unserer  Entwickelung  diese  Art 
des  religiösen  Gefühls  theilten. 


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Zweites  Capitel. 
Die  reine  Form. 


§  1.    Dogmatik  und  Cultus. 

Um  die  pantheistische  Beligion  des  Geftlhls  ge- 
nauer zu  charakterisiren,  müssen  die  beiden  anderen    u^^j^,. 
geistigen  Functionen  in  ihrem  Verhältniss  zum  Gefühl 
betrachtet  werden;   die  Beziehung  auf  die  Erkenntnissthätigkeit 
giebt  die  Dogmatik,  die  Beziehung  auf  das  handehide  Vermögen 
den  Cultus. 

Nun  ist  sofort  klar,  dass  bei  dieser  Religionsform,  in  welcher 
das  Gefühl  das  Uebergewicht  hat,  die  andern  Geistesthätigkeiten 
in  ihrer  Ausbildung  zu  kurz  kommen  müssen,  weshalb  sich  schon 
von  vornherein  keine  sorgfältig  ausgearbeitete  Dogmatik  erwarten 
lässt  Vielmehr  ist  ganz  nothwendig,  dass  der  Religiöse  auf 
diesem  Standpunkte  keine  Neigung  verspürt,  auf  die  Gegen- 
stände der  Erkenntnisswelt  mit  allen  ihren  wissenschafUichen 
Unterschieden  einzugehen,  da  sein  Interesse  ja  umgekehrt  darin 
besteht,  die  besonderen  Fragen  los  zu  werden  und  bloss  den 
allgemeinen  Einklang  zwischen  aller  erkennenden  und  aller 
thätigen  Function  zu  empfinden.  Folglieh  muss  auf  diesem 
Standpunkte  das  Verallgemeinem,  das  unbedingte  Aehnlichfinden 
von  Allem  mit  Allem  zu  Hause  sein.  Weil  die  erkennende 
Thätigkeit  überall  eine  und  dieselbe  ist,  wo  etwas  erkannt  wird, 
es  möge  sein,  was  es  wolle,  so  muss  diese  Einheit  nun  durch- 
schlagen und  alle  Gegenstände  der  Erkenntniss  durchziehen  und 
verschwommen,  so  dass  Alles  Eins  wird.  Die  allgemeine  Unbe- 
stimmtheit tritt  daher  hier  als  Einheit,  als  das  göttliche  Gorreilat 
zu  dem  Gefühle  auf,  und  man  kann  aus  diesem  Grunde  den 
Standpunkt  Mysticismus  nennen,  weil  die  Bestimmtheit  der 
Unterschiede  verloren  geht  und  in  allem  Einzelnen  und  Endlichen 

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454  Pantheismus  des  Getuhls. 

immer  das  Eine  Göttliche  in  unbestimmter  und  geheimnissvoUer 
Weise  gesehen  wird.  Die  allgemeine  pantheistische  Dogmatik 
wird  daher  hier  bei  Vernachlässigung  der  wissenschaftlichen 
Arbeit  zu  einem  durch  Bilder,  Analogien  und  Ahnungen  mühelos 
die  Dinge  und  die  Welt  in  Gott  auflösenden  Process,  wobei 
natürlich  überall  viel  Geheimniss  vorkommen  muss,  weil  die  Be- 
stimmtheit der  Dinge  nur  schwindet,  wenn  sie  mit  dem  Schleier 
der  Vergleichung  und  Verallgemeinerung  zugedeckt  wird.  Alle 
Mystiker  von  Pseudo-Dionysios  Areopagita  an  bis  auf  die  modern- 
sten geben  uns  Beispiele  ftir  dieses  Verfahren,  durch  welches 
unmittelbar  die  Eine  Gottheit  in  jeder  beliebigen  einzelnen  Er- 
scheinung angeschaut  wird. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  dem  andern  Beziebungs- 
Qateulmiis.  P^^^tte,  zu  der  handelnden  Function,  so  kann  der 
Pantheist  des  Gefühls  natürlich  nicht  in  die  einzelnen 
und  bestimmten  Acte  des  Privatlebens  oder  der  politischen  und 
kirchlichen  Gemeinschaft  einzugehen  geneigt  sein,  weil  dazu  die 
correspondirende  Erkenntnissarbeit  erforderlich  wäre,  oder  die 
andern,  den  weltlichen  Interessen  des  Staates  und  der  Kirche 
entsprechenden,  nicht-religiösen  Gefühle  entbunden  würden.  Mithin 
wird  auch  nach  dieser  Seite  ein  negatives  Verhalten  oder  eine 
Indifferenz  stattfinden  müssen,  indem  es  als  gleichgültig  erscheint, 
ob  wir  uns  so  oder  so  bemühen,  ob  der  Erfolg  so  oder  so  aus- 
fällt; denn  alles  Geschehen  entspricht  ja  doch  immer  dem  all- 
gemeinen Einklänge,  den  die  Gottheit  verbürgt,  weil  er  in  unserem 
Gefühle  lebendig  ist.  Ob  einer  reich  oder  arm  ist,  die  gewünschte 
Stelle  erhält  oder  nicht,  ob  er  geehrt  oder  verachtet,  sehend 
oder  blind,  krank  oder  gesund  ist,  ja  ob  er  lebt  oder  stirbt,  es 
ist  alles  Eins,  da  in  dem  Gefühl  ja  ein  für  alle  Mal  das  Ich 
seinen  Willen  in  den  allgemeinen  Einklang  aufgehoben  und  daher 
Friede  und  Seligkeit  erlangt  hat.  Mit  Recht  hat  man  diese 
Stellung  des  Gemüthes  Quietismus  genannt;  denn  der  Mystiker 
arbeitet  weder  mit  Enthusiasmus  für  den  Fortschritt  und  die 
Vermehrung  menschlichen  Wohls,  noch  kflmmert  er  sich  um 
moralische  und  heilige  Handlungen,  noch  dient  er  dem  Staate 
oder  der  Kirche.  Er  hat  in  seinem  Gefühle  viel  mehr,  nämlich 
die  Erfüllung,  welche  die  Andern  mit  zweifelhaftem  Glücke  in 
einzelnen  Handlungen  und  Ereignissen  suchen. 


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Ethik.  455 

§  2.     Ethik. 

Während  nun  in  allen  den  pantheistischen  Reli- 
gionsformen, die  wir  bisher  stadirten,  der  Gnltus  die 
Hauptsache  war,  so  fällt  hier  der  Schwerpunkt  in  die  Ethik. 
Doch  darf  man  nicht  glauben,  dass  es  hier  auf  ein  ausgebildetes 
Moralsystem  ankommen  könnte,  vielmehr  ist  dies  nut  der  Ver- 
nachlässigung der  Erkenntnissarbeit  und  der  nach  Aussen  gehen- 
den Handlungen  zugleich  ausgeschlossen.  Es  dreht  sich  also, 
da  das  Ich  pantheistisch  in  die  geistige  Function  aufgeht  und 
hier  die  Geflihlsfunction  überwiegt,  um  ein  möglichst  constantes 
und  möglichst  intensives  Gefühl.  Immer  kann  der  Mensch  aber 
in  diesen  Acten  des  Gefühls  nicht  leben,  weil  die  andern  beiden 
Functionen  des  Geistes  auch  da  sind  und  also  einen  Theil  des 
Bewusstseins  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Daher  kann  es  in 
dieser  Religionsform  nur  darauf  ankommen,  die  andern  beiden 
Functionen  als  Mittel  und  Hülfen  zu  gebrauchen,  um  das  zuge- 
hörige Gefühl  auszulösen,  d.  h.  um  gleichsam  als  Heizmaterial 
die  heilige  Flamme  des  Gefühls  zu  nähren  und  die  göttliche 
Gluth,  in  welcher  das  Ich  verzehrt  wird,  immer  von  Neuem  zu 
schüren. 

Da  nun  das  Gefühl  als  Mittelpunkt  dieser  Religion  erscheint, 
das  Gefühl  aber  immer  Lust  oder  Schmerz,  Beifall  oder  Miss- 
fallen ist,  so  könnte  ein  Unbesonnener  vermuthen,  dass  diese 
Religionsform  sich  in  zwei  Arten  spalten  werde,  in  eine  Religion 
der  Lust  und  des  Schmerzes.  Die  letztere  würde  dann  den 
Pessimismus  vorstellen,  welcher  sowohl  bei  den  Berührungen  mit 
der  Körperwelt  ein  Plus  von  Schmerzen,  als  bei  den  persönlichen 
Beziehungen  ein  Plus  von  Kränkungen,  Missstunmungen  und  zer- 
störten Illusionen  und  in  der  wissenschaftlichen  Thätigkeit  ein 
Plus  von  logischem  Unbehagen  bei  fortwährenden  Irrungen  und 
Widersinnigkeiten  erwürbe.  Allein  eine  solche  unbesonnene  Ver- 
muthung  müssen  wir  gleich  zur  Seite  stossen;  denn  der  Pessi- 
mismus gehört,  wie  wir  schon  oben  sahen,  zum  Atheismus  und 
nicht  in  die  viel  vornehmere  Religionsform  des  Pantheismus. 
Der  Pessimismus  hat  ja  sein  Elend  und  seine  Leere  daher,  weil 
ihm  der  Gott  fehlt,  während  der  Pantheist  d^n  verloren  gegange- 
nen Gott  in  seiner  geistigen  Thätigkeit  wiedergeAmden  hat  und 
daher  die  Fülle  der  Gottheit,  in  welche  das  Ich  verschwindet, 
geniesst.    Der  Pessimismus  ist  daher  als  ein  unreifer  Uebergangs- 

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456  Pantheismus  des  Gefühls. 

zustand,  in  welchem  unreife  Naturen  immer  verharren  können, 
nur  das  Motiv  und  die  Schwelle  des  Pantheismus;  die  Religion 
des  Gefühls  kann  aber  nur  die  Freude,  die  Seligkeit  zu  ihrem  Inhalte 
haben  und  ist  daher  im  Gegensatz  zu  der  Religion  der  That, 
die  in  verschiedene  Formen  auseinanderging,  wesentlich  einfach 
und  einförmig. 


§  3.    Die  religiöse  Gesinnung. 

Es  fragt  sich  nun,  wie  diese  Religion  zu  Stande 

Der  Schmerz  Ist  0—7  o 

kein  der  Lust  kommt.  Das  GcfÜhl  ist  sciucm  Wesen  nach  positiv 
nebengeordneteB  j^^  q[j^^  jj^^  mdht  Dolar  gegensätzlich,  wic  man 
^"""'-  aUgemein  von  denen  hört,  welche  den  ^hmerz  fllr 
ebenso  positiv  und  ursprünglich  halten,  wie  die  Lust  Bei  ge- 
nauerer Analyse  aber  wird  man  finden,  dass  die  Lust,  wie  jeder 
Act,  sich  unter  bestimmten  Coordinationen  entwickelt;  sobald 
diese  Entwickelung  gehemmt  wird,  so  tritt  der  Schmerz  in  seinen 
verschiedenen  Arten  und  Graden  auf.  Dass  nun  der  Schmerz 
nicht  der  Lust  nebengeordnet  und  von  gleichem  Range  ist,  kann 
man  durch  einen  indirecten  Schluss  sicher  erkennen. 

Da  nämlich  die  Zustände  des  Seelenlebens  in  einer  bestimm- 
ten Weise  einander  untergeordnet  sind,  so  kann  man  auf  die 
Lust  auch  die  oben  (S.  71)  erwähnten  Gesichtspunkte  anwenden 
und  bei  der  Lust  sowohl  von  einem  Vermögen  oder  einer  An- 
lage^ als  von  einer  lebendigen  Kraft,  die  gewöhnlich  Gesinnung 
oder  Geschmack  genannt  wird,  sprechen,  und  ebenso  drittens 
auch  den  Act  oder  die  einzelne  Wirklichkeit  der  Lust  unter- 
scheiden. Demgemäss  kann  man  fiuch  für  den  Zwischenzustand 
zwischen  dem  Vermögen  und  dem  Akt  noch  eine  besondere  Be- 
nennung gebrauchen  und  ihn  als  Werden  oder  als  Begehren 
und  als  im  weiteren  Sinne  verstandenes  Wollen  bezeichnen,  wie 
ebenso  auch  jener  der  Thätigkeit  oder  Handlung  vorhergehende 
Zustand  als  Trieb  oder  auch  als  Begierde  und  Wille  bezeich- 
net wird,  weil  dem  Geftlhl  sofort  eine  Bewegung  coordinirt  ist, 
die  als  Ziel  oder  Zweck  aufgefasst  und  vorhergesehen  und  mehr 
oder  weniger  bewusst  wird.  Mithin  heisst  dann  die  sich  ent- 
wickelnde Lust  Begehren  nach  Lust.  Dies  angebliche  Begehren 
oder  Wollen  hat  aber  keinen  eigenen  Inhalt,  sondern  ist  bloss 
das  Gefallen  oder  die  Lust  als  Werdendes  betrachtet.    Wäre 

uiyiiizeu  uy  V^jOOV  IC 


Die  reli|2^iÖ8e  Gesinnung.  457 

nun  der  Schmerz  und  also  auch  das  Hissfallen  etwas  Positives 
und  der  Lust  und  dem  Beifall  Nebengeordnetes ,  so  müsste  es 
auch  ein  zugehöriges  Begehren  oder  Wollen  geben.  Nun  wird 
aber  kein  Mensch  behaupten,  dass  er  Schmerz  oder  Missfallen 
begehrte.  Also  kann  auch  der  Schmerz  nichts  der  Lust  Neben- 
geordnetes sein,  während  vielmehr  umgekehrt,  weun  die  Lust 
das  Positive  ist,  der  Schmerz  das  ist,  was  wir  nicht  wollen  oder 
nicht  begehren.  Also  ist  der  Schmerz  und  das  Missfallen  bloss 
der  Henmiungszustand  einer  sich  entwickelnden  Lust,  flir  welche 
die  Goordinaten  schon  von  Weitem  gegeben  sind,  während  sie 
in  der  Ordnung  des  Weltlaufs  durch  andere  Goordinationen  ver- 
hindert wird. 

Dasselbe  lässt  sich  bei  den  Handlungen  bemerken.  Der 
Lust  ist  immer  eine  bestimmte  Bewegung  oder  Handlung  zu- 
geordnet, die  wir  deshalb  den  Zweck  nennen.  Da  die  Organi-  ' 
sation  des  Seelenlebens  immer  eine  Vorbereitung,  Verkettung 
und  ein  Ineinandergreifen  verschiedener  Akte  mit  sich  bringt,  um 
ein  immer  complicirtes  Ziel  der  Handlung  zu  vermitteln,  so  wird 
dieser  ganze  Verlauf  auch  bald  zu  mehr  oder  weniger  deutlichem 
Bewusstsein  kommen,  und  wir  nennen  daher,  wie  wir  schon  oben 
erinnert,  das  Bewusstsein  von  dieser  Ordnung  einen  Trieb  oder 
Willen.  Uebertragener  Weise  schreiben  wir  auch  z.  B.  dem 
Wasser  einen  Trieb  zu,  wenn  wir  eine  Ordnung  der  Bewegung 
erkennen,  die  zu  einem  gewissen  Erfolge  hinführt  Wie  aber  bei 
dem  Wasser  kein  Wille  und  Begehren  vorhanden  ist,  durch  einen 
Schlund  herabzustürzen,  so  ist  auch  die  blosse  Bewegungsordnung 
in  der  Seele  kein  bestimmtes  Vermögen  mit  einem  eigenen  Inhalte, 
sondern  der  Inhalt  liegt  bloss  in  der  erkennenden,  fühlenden  und 
handelnden  Function,  und  die  bewusst  werdende  Goordination 
dieser  Functionen,  welche  die  blosse  Form  und  Ordnung  des 
Geschehens  ist,  führt  den  Namen  Wollen.  Wenn  nun  der  Schmerz 
etwas  Positives  wäre,  so  mflsste  das  zugeordnete  Misslingen  der 
Handlung  auch  ein  positiver  Zweck  sein,  und  mithin  müsste 
dafür  auch  ein  Trieb,  ein  Begehren  oder  Wollen  vorausgehen. 
Es  wäre  aber  lächerlich,  wenn  man  sagte.  Jemand  hätte  den 
Trieb,  auf  der  Jagd  vorbeizuschiessen,  oder  das  Begehren,  beim 
Sprung  ein  Bein  zu  brechen  u.  s.  w.  Mithin  kann  der  Schmerz 
und  das  zugeordnete  Misslingen  oder  die  Hemmung  der  Fun- 
ctionen nichts  Positives  sein. 

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458  Pantheismus  des  Gefohls. 

Ueber  das  Wesen  des  vernünftigen  Willens  und  der  Freiheit 
habe  ich  schon  oben  S.  46  und  326  gehandelt 

Nun  ist  leicht  zu  begreifen,  dass  der  Mensch 
^^^rerTkte**'''  als  einzelnes  Glied  in  der  grossen  Oekonomie  der 
Welt  bei  seinen  Akten  vielerlei  Hemmungen  aus- 
gesetzt sein  muss-,  denn  wenn  wir  den  Ansatzpunkt  beliebig 
wechseln  und  die  gleichzeitigen  Triebe  und  Begehrungen  aller 
Anderen  in's  Auge  fassen,  so  müssen  doch  nothwendig  immer 
eine  Menge  Candidaten  abgewiesen  werden,  wenn  Einer  an's 
Ziel  gelangen  soll..  Mithin  ist  es  in  der  Ordnung,  dass  alle 
unsere  physischen,  persönlichen,  künstlerischen  und  wissenschaft- 
lichen Bestrebungen  mit  unzähligen  Hemmungen  zu  kämpfen 
haben,  so  dass  inmier  viele  misslingen  und  die  meisten  wenigstens 
stark  eingeschränkt  werden.  Dadurch  ist  eine  unerschöpfliche 
Quelle  von  Aerger,  Neid,  Kummer,  Sehnsucht,  Zorn,  Hass,  kurz 
von  Leid  und  Schmerz  eröffnet,  weil  nur  der  gelingende  Akt  zur 

Freude  flihrt. 

Wer  nun  ein  Uebergewicht  des  thätigen  Ver- 
qaietisUBche  mögcus  in  sich  verspürt,  der  kann  sich,  wenn  er 
^^9  nicht  ein  besonderer  Günstling  der  Fortuna  ist,  auf 
viel  Lebensleid  gefasst  machen.  Da  der  Mensch 
aber  die  Vollendung  alles  Strebens  in  der  Freude  hat,  so  sucht 
er  auch  den  Weg,  dahin  zu  gelangen.  Dieser  Weg  ist  flir  den 
praktischen  Mann  der  Kampf,  die  List  und  die  erworbene  Ge- 
schicklichkeit Wie  aber  schon  Göthe  sagt,  dass  der  Handelnde 
immer  gewissenlos  sei,  so  müssen  wir  einräumen,  dass  wirklich 
theils  die  leise  Sprache  des  Gewissens  überhört  werden  muss, 
wenn  man  das  nach  unserem  perspectivischen  Gesichtspunkte 
formulirte  Ziel  im  Leben  erreichen  will,  theils  auch  ausser  dieser 
moralischen  Unlust  eine  Menge  anderer  Missstimmungen  und  Leiden 
unvermeidlich  sind.  So  bliebe  der  Weg  übrig,  gar  nicht  zu  handehi, 
um  gar  nicht  zu  leiden.  Allein  dies  ist  erstens  unmöglich,  weil  man 
doch  nicht  vermeiden  kann,  zu  frieren^wenn  es  kalt  ist,  und  weil 
einem,  auch  wenn  man  nicht  selbst  kocht,  die  Suppe  versalzen 
werden  kann  in  jeder  Bedeutung.  Zweitens  aber  würde  die 
Sache  auch  nicht  bei  der  Wurzel  angegriffen  sein;  denn  der 
Ausgang  der  Begebenheiten  kann  uns  ja  bloss  als  Leid  erschei- 
nen, wenn  wir  vorher  mit  unserem  Gefühle  eine  andere  Stellung 
zu  den  Dingen  genommen  hatten.    Mithin  müssen  wir  auf  den 

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Die  religiöse  Gesinnung.  459 

sogenannten  Willen  zurückgehen,  i  h.  auf  die  Vorstellungen  der 
Dinge  in  unserem  Bewusstsein  und  die  dabei  ausgelosten  Ge- 
fUhle  des  Wohlgefallens  und  Missfallens.  Nun  giebt  es  dabei 
nothwendiger  Weise,  wie  oben  S.  270  dargelegt,  zwei  Auf- 
fassungsweisen, die  perspectivische  und  die  objeetive.  Die  per- 
spectivische  ist  auf  das  Selbst,  das  Ich  bezogen  und  darum  die 
Ursache  alles  selbstsüchtigen  Missfallens  und  Leides.  Sobald 
wir  daher  das  Ich  in  das  Allgemeine  verschwinden  lassen,  indem 
wir  uns  nur  nach  dem  Inhalt  unserer  Functionen  erfassen  und 
uns  daher  ebenso  wie  die  Andern  als  eine  Erscheinung  in  dem 
Ganzen  betrachten,  so  verschwindet  mit  dem  persp'ectivischen 
Standpunkte  auch  die  ganze  Keihe  der  Affekte,  die  das  Leben 
mit  Schmerz  durchdringen.  Dadurch  wird  nun  freilich  zugleich 
der  Nerv  der  Handlung  durchschnitten;  allein  es  war  ja  voraus- 
gesetzt, dass  nicht  jeder  Mensch  zum  Quietisten  werden  kann, 
sondern  dass  ein  Uebergewicht  des  Gefühlsvermögens  und  eine 
entsprechende  Verminderung  der  Energie  der  anderen  Functionen 
stattfinde.  Sobald  also  der  perspectivische  Standpunkt  auf- 
gegeben ist,  so  heisst  dies  soviel,  als  sein  Wollen  aufheben  in 
das  allgemeine  Geschehen,  welches  mystisch  als  blosse  Erscheinung 
der  Gottheit  angesehen  wird.  „Wolle  das  Geschehende,  wie  es 
geschieht,  und  Du  wirst  frei  und  glücklich  sein^',  sagt  der 
Stoiker  Epiktet,  der  in  dieser  Beziehung  Quietist  ist  Wenn 
man  die  Dinge  anders  will,  als  sie  geschehen,  so  hat  man  Leid 
und  steht  auf  perspectivischem  Standpunkte,  indem  man  sein 
Privatinteresse  oder  die  begränzten  Interessen  eines  Standes, 
Staates  ödes  Volkes  geltend  macht,  d.  h.  man  hebl;  sein  Ich 
nicht  in  die  Gottheit  auf.  Darum  sagt  AngelUs  Silesius  (I.  24): 
„Mensch!  wo  Du  noch  was  bist,  was  weisst,  was  liebst  und  hast, 
so  bist  Du,  glaube  mir,  nicht  ledig  Deiner  Last."  Der  Weg  zur 
Seligkeit  ist  daher  „der  geheime  Tod",  wie  es  der  cherubinische 
Wandersmann  spielend  benennt,  d.  h.  die  pantheistische  Auf- 
fassung des  Ichs,  welches  sich  noch  nicht  als  Wesen  erkennt, 
sondern  sich  nur  als  particuläre  Function  in  der  traurigen  Wechsel- 
wirkung aller  endlichen  Functionen  bewusst  war.  Die  Aufhebung 
dieser  beschränkten  Einzelheit  in  das  Allgemeine  muss  daher 
als  Befreiung  aus  einem  Gefangniss  und  dieser  geheime  Tod 
des  Ichs  als  das  wahre  und  selige  Leben  betrachtet  werden. 
Darum  singt  Angelus  (L  26):  „Tod  ist  ein  selig  Ding:  Je  kräftiger 


460  Pantheismus  des  Gefühls. 

er  ist:  je  herrlicher  daraus  das  Leben  wird  erkiest'^  Darum 
spielt  er  auch  mit  den  christlichen  Symbolen  des  Dogma,  um 
seinen  mystischen  Sinn  durch  Paradoxie  hindurch  zu  offenbaren. 
;Jch  sterb  und  leb  auch  nicht,  Gott  selber  stirbt  in  mir:  Und 
was  ich  leben  soll,  lebt  Er  auch  fUr  und  fbr.'^  Es  ist  eine  Art 
von  geistigem  Kitzel,  die  in  dieser  Ausdrucksweise  liegt,  indem 
das  Ich  sich  in  Gott  aufhebt  und  Gott  doch  auch  wieder  nur  in 
dem  Ich  lebt,  sofern  eben  beide,  Ich  und  Gk)tt,  im  Pantheismus 
noch  nicht  als  Wesen,  sondern  nur  als  geistige  Functionen  er- 
kannt werden. 

Der  Weg  zur  Seligkeit  ist  daher  der  geheime  Tod  des  Ichs, 
aber  ebenso  der  Tod  oder  das  Verschwinden  Gottes  aus  der 
Welt;  denn  der  Gott  muss  ja  als  unsre  Function  wiedererscheinen, 
wenn  er  draussen  verschwindet.  So  heisst  es  bei  Angelus  S. 
(L  199):  „Geh  hin,  wo  Du  nicht  kannst:  sieh,  wo  Du  siebest 
nicht,  hör',  wo  nichts  schallt  und  klingt,  so  bist  Du,  wo  Gott 
spricht."  So  ist  Gott  aus  der  Welt  vertrieben,  wie  er  in  dem 
folgenden  Epigramm  in  unserem  Geiste  eingeheimst  wird:  „Gott 
ist  wahrhaftig  nichts:  und  so  er  etwas  ist,  so  ist  es  nur  in  mir, 
wie  er  mich  ihm  erkiest." 

Auf  diesem  Wege  findet  der  Quietist  natürlich 

Die  Seligkeit        .  ,„  -r^   ,  o.  a  »         r^.i      • 

dea  6ine  vollkommene  Kühe.  So  sagt  Angelus  Silesius 
QDieu.tenund  H  49).     Ruh '  ist  das  höchstc  Gut:   und  wäre  Gott 

Mystiken.        \  /       77  7 

nicht  Buh,  ich  schlösse  vor  ihm  selbst  mein'  Augen 
beide  zu."  Zugleich  zeigt  sich,  dass  dieser  vollkommene  Ein- 
klang zwischen  den  beiden  geistigen  Functionen,  zwischen  Er- 
kenntniss  und  Thun,  die  vollkommene  Tugend  selber  ist  Wer 
deshalb  noch  handelt  nach  der  Erkenntniss,  der  hat  auch  das 
Ich  noch  nicht  in  die  Gottheit  verloren.  Darum  schliesst  Angelus 
ganz  consequent,  wenn  er  sagt  (I.  53  und  Ö4):  „Mensch,  wo  Da 
Tugend  wirkst  mit  Arbeit  und  mit  Müh,  so  hast  Du  sie  noch 
nicht.  Du  kriegest  noch  um  sie."  „Ich  selbst  muss  Tugend  sein 
und  keinen  Zufall  wissen,  wo  Tugenden  aus  mir  in  Wahrheit 
sollen  fliessen."  Das  Geftlhl,  welches  aus  diesem  unbedingten 
Einklänge  entsteht,  ist  nun  allerdings  die  Seligkeit,  aber  es 
ist  zugleich  nothwendig,  dass  in  diesem  GeftLhle  alle  Bestimmt- 
heit der  Erkenntniss  verschwinden  muss,  weil  alle  Erscheinungen 
in  die  unbestimmte  und  leere  Einheit  des  Göttlichen  auf- 
gehoben werden.    Darum  sagt  Angelus   (L  45):   „Ich   lieb   ein 

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Die  religiöse  Gesinnung.  461 

einzig  Ding,  nnd  weiss  nicht,  was  es  ist,  and  weil  ich  es  nicht 
weiss,  drum  hab'  ich  es  erkiest."  Und:  „Gott  ist  ein  lauter 
Nichts,  ihn  rührt  kein  Nun  (Zeit)  noch  Hier  (Banm);  je  mehr  Du 
nach  ihm  greifst,  je  mehr  entwird  er  Dir."  Das  Ich  ist  deshalb 
selbst  zur  Gottheit  geworden.  (L  23):  „Ich  muss  Maria 
sein  nnd  Gott  aus  mir  gebähren,  soll  er  mich  ewiglich  der  Selig- 
keit gewähren."  Und  (I.  14):  „Ich  bin  so  reich  als  Gott,  es 
kann  kein  Stäublein  sein,  das  ich  (Mensch,  glanbe  mir)  mit  ihm 
nicht  hab  gemein."  Oder  (I.  10):  „Ich  bin  so  gross  als  Gott, 
er  ist  als  ich  so  klein:  er  kann  nicht  über  mich,  ich  unter  ihm 
nicht  sein."  Oder,  in  andrer  Fassung  derselbe  Gedanke  (I.  17): 
„Ich  auch  bin  Gottes  Sohn,  ich  sitz'  an  seiner  Hand:  sein  Geist, 
sein  Fleisch  nnd  Blut,  ist  ihm  an  mir  bekannt"  Da  durch  diese 
Anfifassung  der  Mensch  mit  seiner  Ichheit  ganz  aus  der  Welt 
verschwindet,  so  bleibt  ihm  nur  die  Seligkeit  des  Einklangs 
seiner  allgemeinen  und  unbestimmten  Functionen  übrig  und  folglich 
wird  er  in  jeder  Lebenslage  die  gleiche  Stimmung  haben  und 
über  jede  Qual  hinaus  selbst  im  Ochsen  des  Phalaris  glückselig 
sein.  Ich  citire  wieder  Angelus,  weil  dieser  mit  seiner  bezaubernden 
Paradoxie  den  Standpunkt  scharf  und  klar  ausdrückt  (1. 38) :  „Wenn 
Du  die  Dinge  nimmst  ohn'  allen  Unterscheid:  so  bleibst  Du  still  und 
gleich  in  Lieb  und  auch  in  Leid"  und  (I.  39):  „Wer  in  der  Hölle 
nicht  kann  ohne  Hölle  leben,  der  hat  sich  noch  nicht  ganz  dem 
Höchsten  übergeben."  Das  Ich  ist  so  allerdings  selig;  aber  es 
ist  auch  nothwendig  in  Nichts  aufgelöst,  ebenso  wie  die 
Gottheit,  weil  das  Einzige,  was  übrig  bleibt,  nur  das  Gefühl  ist 
mit  seiner  Seligkeit  Dies  spricht  der  Cherubinische  Wanders- 
mann  so  aus  (I.  46):  „Ich  bin  ein  seligs  Ding,  mag  ich  ein 
Unding  sein,  das  allem,  was  da  ist,  nicht  kund  wird,  noch 
gemein."  Dass  das  Ich  ganz  in  das  selige  Gefühl  aufgeht  und 
darin  alle  Dinge  und  Gott  hat,  so  dass  Gott  ebenso  in  das  selige 
Gefühl  des  Menschen  verschwindet,  diesen  mystisch-quietistischen 
Standpunkt  spricht  auch  Göthe  in  den  berühmten  Worten  aus: 
„Erfüll  davon  (nämlich  von  Himmel,  Erde,  Sternen,  uns  selbst 
und  Allem)  Dein  Herz,  so  gross  es  ist,  und  wenn  Du  ganz  in 
dem  Gefühle  selig  bist,  nenn'  es  dann,  wie  Du  willst,  nenn's 
Glückt  Herz!  Liebe!  Gott!  Ich  habe  keinen  Namen  dafür; 
Gefühl  ist  Alles;  Name  ist  Schall  und  Rauch,  umnebelnd  Himmels- 
gluth."     Aehnliches   sagt  auch   der  Mystiker  Tauler,    der   es 

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462  Pantbeisnins  des  GefCllils. 

freilich  grösstentheils  ans  Pseudo-DionysiiiB  hat  (Predigten  I.  13 
p.  117.  ed.  1826):  „Der  Mensch,  der  sich  also  gegeben  hat  nnd 
sich  Gott  gefangen  allezeit  wesentlich  giebt,  dem  mnss  anch 
Gott  sich  selbst  wesentlich  gefangen  wiedergeben,  nnd  da  fbhrt 
Gott  den  Menschen  über  alle  Weise  und  über  alle  Geßlngniss 
in  die  göttliche  Freiheit,  in  sich  selber,  dass  der  Mensch  mehr 
ist  ein  göttlicher,  denn  ein  natürlicher  Mensch,  nnd  wenn  man 
den  Menschen  anrührte,  rühret  man  Gott  an.  Hier  sind  alle 
Wunden  geheilt  und  alle  Pfände  quitt,  hier  ist  die  Ueberfahrt 
geschehen  aus  den  Greaturen  in  Gott,  aus  natürlichem  Wesen  in 
ein  göttliches  Wesen.  Dieses  liebliche  Spiel  ist  über  Verstand- 
niss,  über  empfindliche  und  fthlbare  Weise  und  über  natürliche 
Weise.  Die  hier  inne  sind  und  die  dies  sind,  die  sind  in  dem 
allernächsten  und  allerseligsten  Weg,  und  in  der  Weise  der 
allerhöchsten  Seligkeit,  da  man  ewiglich  Gottes  soll  gebrauchen 
in  der  höchsten  Weise.  Davon  ist  viel  besser  schweigen,  denn 
sprechen,  und  besser  empfinden  oder  flihlen,  denn  verstehen."  — 
An  diesen  Beispielen  haben  wir  zur  Confirmation  genug,  da  der 
Standpunkt  ja  sonst  bekannt  ist  und  unsere  Aufgabe  nur  darin 
bestand,  die  speculative  Ortsbestimmung  und  Deduction  desselben 
in  dem  System  der  Religionsphilosophie  zu  liefern. 


§  4.    Die  zugehörige  Religionsphilosophie. 

Der  grösste  Theologe  unseres  Jahrhunderts  ist 
unter  zwei  Einflüssen  ebenfalls  dahin  gelangt,  die 
Beligion  als  Gefühl  zu  bestimmen  und  deshalb  eine  principiell 
quietistische  und  mystische  Beligionsphilosophie  zu  begründen. 
Einerseits  war  es  Spinoza,  andererseits  die  Hermhuter-Erziehung, 
die  ihn  zu  diesem  Schlüsse  führten.  Spinoza  löschte  alle  Dinge 
als  blosse  Erscheinungen  (modi)  in  Gott  auf  und  hielt  es  fflr 
nothwendig,  dass  wir,  während  wir  durch's  Handeln  in  Affekte 
und  Leid  gerathen,  umgekehrt,  wenn  wir  uns  quietistisch  ver- 
halten, durch  blosse  Erkenntniss  der  Dinge  nothwendig  lauter 
Freude  gewinnen  müssen.  Die  Erkenntniss  durch  die  end- 
lichen Ursachen  sei  aber  ungenügend,  und  wir  müssten  vielmehr 
alle  Dinge  unter  die  letzte  Alles  bedingende  und  erklärende  Ur- 
sache bringen,  d.  h.  in  die  Gottesanschauung  auflösen.  Darin 
läge  die  Erkenntniss  und  die  Liebe  Gottes,  mit  welcher  er  sich, 

uiumzeu  uy  x^jvy\J>t  Iv^ 


Beligionsphilosophie.  463 

indem  wir  ihn  lieben,  durch  uns  und  in  uns  selber  erkennt  und 
liebt,  und  dies  sei  das  höchste  Gut  und  die  Seligkeit. 

Während  nun  bei  Spinoza  der  Gedankenprocess  dem  spe- 
culativen  Idealismus  angehört,  so  ergriffen  die  Hermhuter,  in 
deren  Schoosse  Schleiermacher  aufwuchs,  unmittelbar  das  Ende 
desselben  Gedankenweges  und  genossen  in  ihrem  innigen  Ge- 
fühl ohne  Weiteres  die  Gegenwart  Gottes,  indem  sie  sich  ihres 
Willens  und  der  Beachtung  aller  irdischen  Dinge  nach  Möglich- 
keit entschlugen. 

So  ist  es  ganz  erklärlich,  dass  Schleiermacher  die  Beligion 
als  Geftlhl  definirte  und  in  dem  Gefühl  die  Einheit  aller  Dinge 
verborgen  glaubte,  aus  welchem  dann  erst  in  zwei  Richtungen 
einerseits  in  der  praktischen,  andererseits  in  der  theoretischen 
Sphäre  die  Entbindung  des  Endlichen  erfolgte.  AUein  so  er- 
klärlich nach  psychologischer  Beti*achtung  die  Schleiermacher'sche 
Beligionslehre  ist,  so  falsch  ist  der  ganze  Gedankengang  nach 
wissenschaftlicher  Betrachtung;  denn  erstens  ist  es  ja  nur  ein 
Schein  (wie  ich  oben  S.  31  schon  nachwies),  dass  die  Hand- 
lungen und  Vorstellungen  sich  aus  dem  Gefllhle  entwickelten, 
da  sie  vielmehr  eine  specifisch  verschiedene  Natur  haben  und 
dem  Geftahle  bloss  zugeordnet  sind,  und  zweitens  sind  auch  die 
beiden  Ansatzpunkte,  d.  h.  sowohl  der  Spinozismus,  als  der 
Hermhutismus,  der  Eine  eine  ganz  verfehlte  Speculation  und  der 
andere  eine  extreme  Einseitigkeit,  so  dass  aus  so  viel  Falschem 
auch  nichts  Richtiges  hervorgehen  kann.  Die  formale  Logik 
lehrt  zwar,  dass  man  auch  aus  falschen  Prämissen  Richtiges  er- 
schliessen  könne;  allein  dies  ist  selbst  ein  falscher  Lehrsatz, 
weil  die  richtige  Conclusion  in  diesem  Falle  nur  per  accidens 
folgt,  indem  in  dem  falschen  Allgemeinen  ein  particulär  Richtiges 
eingeschoben  war,  so  dass  das  Richtige  immer  nur  aus  dem 
Richtigen  folgt,  durch  welches  es  auch  allein  als  richtig  erkannt 
werden  kann.  Darum  darf  aus  diesem  logischen  Satze  flir 
Schleiermacher  kein  mildernder  Umstand  abgeleitet  werden,  son- 
dern wir  werden  die  ganze  Begründung  seiner  Religionslehre 
verwerfen  müssen,  üebrigens  gehört  Schleiermacher's  Lehre 
unter  den  speculativen  Ort  der  „Religion  des  Gefllhls"  nur  nach 
der  Seite  des  Princips;  im  Uebrigen  hat  er  mit  Hülfe  Spinoza's 
und  namentlich  Platon's  noch  andere  Ausgangspunkte  für  die 
Ausführung   und   Durchführung   seines  Systems   gewonnen,   und 

uiumzeu  uy  V^J  W\J>t  l^ 


464  Pantheismus  des  Gefühls. 

dies  ist  die  dritte  kritische  Bemerkang,  die  hier  zu  machen  ist; 
denn  da  der  *  ganze  systematische  Aufbau  der  Schleiermacher- 
schen  Dialektik,  Ethik  und  Keligionsphilosophie  auf  die  Ideen 
Platon's,  Spinoza's  und  auf  die  modernen  idealistischen  Gedan- 
ken gestützt  ist,  so  bleibt  als  einzig  geschichtlich  Neues  bei 
Schleiermacher  nur  die  speculative  Deutung  der  Herrnhutischen 
Apotheose  des  Geftihls,  die  aber  weder  haltbar  ist,  noch  mit  dem 
übrigen  Bau  logisch  vermittelt  werden  kann.  Dieser  übrig  blei- 
bende Bau  muss  in  der  nun  folgenden  Keligionsform  beurtheilt 
werden  und  gehört  nicht  hierher. 


§  5.    Zur  Kritik  der  Religion  des  Gefühls. 

Zunächst  scheint  nun  die  Beligion  des  Gefbhls  gar  nicht 
widerlegt  werden  zu  können;  denn  wo  Friede  und  Buhe  herrscht, 
wo  jede  Angst  und  Noth  verschwunden  ist,  wo  man  nichts  End- 
liches denkt  und  von  sich  selbst  nichts  mehr  weiss,  da  ist  mit 
der  grossen  Seligkeit  auch  zugleich  die  Fülle  alles  Werthes  und 
aller  Güter  gegeben,  und  wo  Gott  und  das  Gute  ist,  da  hört 
die  Kritik  auf.  Allein  wenn  wir  uns  auf  den  Ausgangspunkt 
alles  Pantheismus  besinnen,  so  erinnern  wir  uns,  dass  der  Pan- 
theist  das  Sein  nur  in  den  geistigen  Functionen  erkannte,  ent- 
weder im  Handeln,  oder  im  Gefühl,  oder  im  Wissen.  Nun  ist 
dabei  gerade  dasjenige  Sein,  welches  als  substanziales  die  Fun- 
ctionen ausübt  und  dem  sie  zugehören,  vergessen,  nämlich  das 
Ich.  Folglich  muss  sich  ein  so  grosser  Mangel  auch  empfindlich 
machen  und  an  diesem  Punkte  wird  die  Kritik  anheben. 

Das  Ich  kann  nämlich  nie  in  seine  Functionen  verschwin- 
den, es  kann  sich  nur  selbst  vergessen  und,  wie  man  sagt  ausser 
sich  gerathen;  dieser  ekstatische  Zustand  ist  aber  immer  ein 
Mangel  des  Bewusstseins  und  wird  nur  dann  gelobt,  wenn,  wie 
gewöhnlich,  das  Bewusstsein  des  Ichs  von  sich  selbst]  verwech- 
selt wird  mit  der  Erinnerung  an  alle  die  beschränkten  und  viel- 
fach elenden  und  sündlichen  Verhältnisse  des  Ichs  in  der  Sinnen- 
welt. Aber  selbst  diese  Verhältnisse  dürfen  in  einem  vollkom- 
menen Bewusstsein  nicht  fehlen,  und  wir  werden  später  sehen, 
wie  das  Christenthum  und  die  wahre  Philosophie  zur  Versöh- 
nung solcher  Dissonanzen  den  religiösen  Humor  zur  Geltung 
bringt.    Wer  aber,  wie  der  Mystiker,  sich  selbst  über  seinen  Ge- 


Kritik.  465 

fühlen  vergisst,  der  ist  wie  berauscht  und  wird  Anderen  lächer- 
lich, während  er  sich  durch  den  Humor  über  sich  erheben  sollte, 
um  dadurch  den  sonst  gerechten  Spott  der  Andern  zu  entwaffnen. 
Denn  es  mag  einer  ein  elender  Sclave,  ein  Schuster,  ein  häss- 
lieber  und  in  der  bürgerlichen  Gesellschaft  zu  unterst  stehender 
Mensch  sein,  so  fühlt  er  sich  im  Rausch  des  Gefühls  gottgleich 
und  schwelgt  in  dem  seligen  Gefühl,  dass  Gott  in  ihn  verliebt 
sei,  dass  er  als  Maria  die  Liebeswonne  der  Vereinigung  mit  dem 
Allerhöchsten  geniesse,  dass  er  der  reichste  und  mächtigste  und 
glückseligste  Mensch,  oder  im  Geheimen  Gott  selbst  sei.  Das 
Ghristenthum  bietet  scheinbar  etwas  Aehnliches,  indem  es  alle 
Standesunterschiede  und  Besitzverhältnisse  und  dergleichen  als 
etwas  Tiefuntergeordnetes  betrachtet  und  den  Menschen  in  un- 
mittelbare Gemeinschaft  mit  Gott  versetzt;  aber  es  bleibt  immer 
das  Bewusstsein  von  der  Wirklichkeit,  in  welche  sich  der  Mensch 
deshalb  mit  christlicher  Besonnenheit  finden  soll  und  die  er  mit 
christlichem  Muth  und  Vertrauen  umzugestalten  hoffen  darf; 
während  der  Mystiker  in  seiner  Geftihlsseligkeit  nur  trunken  ist 
und  keine  Vermittelung  seines  seligen  Gefühls  mit  der  Wirk- 
lichkeit finden  kann,  weil  die  erkennende  und  die  handelnde 
Function  im  Gefühl  erloschen  sind. 

Damit  ist  denn  auch  zugleich  ein  zweites  kritisches  Bedenken 
eingeleitet.  Alle  Gefühle  sind  nämlich  nothwendig  flüchtiger 
Art  und  besonders  die  höchsten  Gefühle  sind  kurzlebig,  wenn 
sie  auch  nicht  so  lächerlich  kurz  und  vorübereilend  sind,  wie 
Schleiermacher  annimmt  (Reden  4.  Aufl.  1831  S.  50),  der  sie 
für  „kaum  in  der  Zeit^^  hält.  Aber  mit  Recht  sagt  doch  Göthe: 
„Die  uns  das  Leben  gaben,  herrliche  Gefühle,  erstarren  in  dem  irdi- 
schen Gewühle."  So  viel  vis  inertiae  also  dem  Seligkeitsgefühl 
auch  zukommen  möge,  die  Reibung  der  Wirklichkeit  ist  doch 
stark  genug,  um  das  Bewusstsein  bald  wieder  mit  den  Aufgaben 
des  Lebens  zu  erfüllen.  Wenn  wir  nun  auch  einräumten,  dass 
der  Mystiker  noch  im  Stillen  den  Nachklang  seiner  Seligkeit 
durch  die  kleine,  gleichgültige  oder  mühselige  Tagesarbeit  hin- 
durch empfände,  so  muss  doch  sein  Leben  in  einem  Rausch, 
mit  einem  Vor-  und  Nachrausch  verfliessen,  indem  ihm  das,  was 
der  Mensch  in  Wirklichkeit  seiner  Bildung  und  Stellung  nach 
ist,  nur  als  Traum  und  gleichgültiges  Intermezzo  erscheint,  wie 
bei  einem  Becherfreunde,   der   sich   an  der  Drehbank   oder  auf 

Teichmüller,  Religlon.philo.ophle.  ^.^.^.^^^  b^CoOQlC 


466  Pantheismus  des  Gefühls. 

dem  Contorstuhl  im  Geheimen  auf  den  Abend  freut  und  aü  die 
letzte  Nacht  erinnert,  und  dabei  sein  Werk  gleichgültig  verrichtet 
Der  zweite  Vorwurf  gegen  den  Mystiker  ist  daher,  dass  er  die 
historische  Wirklichkeit  zum  Traum  macht  und  in  seiner  Ge- 
fühlsseligkeit  nichts  bietet,  was  auch  einen  Werth  Air  Andere 
hätte,  da  seine  Gefühle  nur  die  Hochzeitslust  seiner  eigenen  Ver- 
mählung mit  Gott  enthalten,  ohne  dass  er  irgend  einen  Antrieb 
daher  bekäme,  für  die  gänzlich  unnütze  Welt  etwas  zu  thun. 
Das  ganze  Dasein  der  wirklichen  Welt  und  alle  sittlichen,  poli- 
tischen, kirchlichen  und  wissenschaftlichen  Aufgaben  sind  daher 
dem  Mystiker  unbegreiflich  oder  gleichgültig,  weshalb  die  Welt 
nicht  unrecht  denkt,  wenn  sie  umgekehrt  die  Geftihle  dieser 
Quietisten  für  werthlos  und  gleichgültig  und  für  einen  gewissen 
Grad  von  Verrücktheit  hält. 

Drittens  sind  diese  Gefühle  auch  vollständig  unbestimmt, 
weil  keine  bestimmte  Erkenntniss  als  Correlat  erfordert  wird, 
und  mithin  müssen  alle  angenehmen  Geftlhle  gleichwerthig  sein, 
wie  denn  z.  B.  Schleiermacher  sich  nicht  wehren  kann  auszu- 
sprechen: „es  giebt  keine  Empfindung,  die  nicht  fromm  wäre^^, 
wobei  er  freilich  die  von  seinem  Standpunkt  aus  unbeweisbare 
und  darum  nichtssagende  Einschränkung  macht:  „ausser  sie 
deute  auf  einen  krankhaften  verderbten  Zustand  des  Lebens, 
der  sich  dann  auch  den  andern  Gebieten  mittheilen  muss/'  Wenn 
sich  aber  ein  Tribunal  erhöbe,  um  über  den  Werth  der  Gefühle  ab- 
zuurtheilen  und  einige  für  gesund,  andere  fllr  krankhaft  zu  er- 
klären, so  stände  dies  Tribunal  ja  über  der  Keligion,  und  die 
Frömmigkeit  wäre  nicht  mehr  die  Krone  des  Lebens.  In  der 
That  kann  kein  Mystiker  solche  Einschränkung  zugestehen  und 
Schleiermacher's  Princip  selbst  verbietet  sie.  Gäbe  man  sie 
aber  zu,  so  würde  man  gleich  weiter  fragen,  ob  denn  nicht  alles 
Leben  in  einem  verderbten  Zustande  ist?  Wozu  Erlösung  und 
und  Frömmigkeit,  wenn  bloss  hier  und  da  einmal  eine  krank- 
hafte und  verderbte  Empfindung  vorkommt!  Kurz,  lassen  wir 
lieber  die  unlogische  und  ganz  nichtige  Einschränkung  bei  Seite! 
So  folgt  nun,  was  auch  die  Geschichte  und  Schleiermacher's 
eigenes  Beispiel  in  der  Vertheidigung  der  Lucinde  zeigt,  dass 
der  Mystiker  keine  Mass  Stäbe  des  Werthes  für  seine  Ge- 
fühle besitzt  und  dass  er  deshalb  so  leicht  die  Wollust  mit  seiner 
Keligion  vereinigen  kann. 

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Kritik.  46? 

Da  nun  der  Mystiker  die  wissenschaftliche  Erkenntnissthätig- 
keit  ebenfalls  bei  Seite  setzt,  so  gesteht  er  auch  offen,  dass  er 
von  Gott  nichts  wisse  und  erkenne,  ebensowenig  wie  von  sich 
selbst.  Er  ist  eben  bloss  in  Geflihl  aufgegangen.  Darum  unter- 
scheidet sich  dieser  mystische  Pantheismus  nur  dadurch  vom 
Atheismus,  dass,  wenn  auch  beide  von  Gott  nichts  wissen,  der 
Atheist  ohne  annehmbare  Gründe  Gott  läugnet  und  der  Mystiker 
ohne  annehmbare  Gründe  Gott  zu  haben  und  Gott  zu  sein  be- 
hauptet. 

Diese  ganze  Keligion  des  Gefühls  kann  deshalb  wissen- 
schaftlich gar  nicht  vertheidigt  werden,  weil  sie  principiell  die 
wissenschaftliche  Function  ausschliesst.  Sie  kann  nur  sagen: 
probirt's,  so  werdet  ihr  erfahren,  wie  schön  der  Bausch  ist;  aber 
sie  kann  nicht  einmal  lehren,  wie  man  es  machen  muss,  um  in 
diesen  Rausch  zu  gerathen.  So  ist  es  also  Glückssache,  hinein- 
zukommen, und  erst  die  Männer  der  Wissenschaft  müssen  er- 
klären, was  der  Mysticismus  ist,  worauf  er  beruht,  wie  er  ent- 
steht und  was  er  etwa  werth  ist  Selbst  weiss  er  nichts  von 
sich.  Einen  gewissen  Werth  können  wir  ihm  deshalb  nur  zuge- 
stehen, wenn  wir  ihn  einschränken  und  auch  die  handelnde  und 
erkennende  Function  als  ebenbürtig  neben  das  Geftihl  stellen 
und  zugleich  das  Ich  als  Inhaber  aller  dieser  Functionen  in 
seinem  Verhältniss  zu  Gott  erhalten  und  es  niemals  pantheistisch 
verschwinden  lassen. 


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Drittes  Capitel. 
Unreine  Formen  des  Gefiihlspantheismns. 


Unsere  Aufgabe  war  hier  nur,  die  reinen  Formen  der  Reli- 
gion naeh  ihren  specifischen  und  charakteristischen  Elementen 
zu  definiren,  indem  wir  die  jedesmal  zugehörigen  Coordinaten 
in  den  drei  geistigen  Vermögen  aufsuchten  und  demgemäss  die 
Folgen  zogen.  Nun  ist  aber  schon  oft  hervorgehoben,  dass  in 
den  wirklichen  Menschen  immer  verschiedene  Elemente  des  geisti- 
gen Lebens  verwachsen,  die  sich  bloss  auf  natürliche  Weise  zu- 
sammenfinden, ohne  durch  einen  legitimen  Ursprung  zu  ihrer 
Vereinigung  berechtigt  zu  sein.  Das  Bewusstsein  und  der  Cha- 
rakter der  meisten  Menschen  ist  in  der  That  mit  der  Krambude 
eines  Antiquars  zu  vergleichen,  so  sehr  fliessen  in  ihnen  von 
allem,  was  sie  gehört,  gesehen,  gelesen  und  erlebt  haben,  die 
Eindrücke  kunterbunt  zusammen,  ohne  durch  einen  logischen, 
ethischen  und  ästhetischen  Geschmack  geordnet  und  entweder 
eingegliedert  oder  hinausgeworfen  zu  werden.  Darum  ist  es 
nicht  zu  verwundem,  wenn  mancher  Leser  z.  B.  Mystiker  zu 
kennen  meint  entweder  aus  persönlicher  Bekanntschaft  oder 
durch  Studium  ihrer  Werke,  welche  noch  ganz  andere  Züge  ihrer 
Denkweise  und  ihres  Charakters  aufweisen,  als  hier  festgestellt 
wurden.  Daran  ist  gar  nicht  zu  zweifeln;  wohl  aber  müsste  erst 
gezeigt  werden,  dass  diese  zum  Theil  ganz  widersprechenden 
und  jedenfalls  andersartigen  Charakterzüge  nicht  bloss  zufällig 
erworben,  sondern  aus  dem  religiösen  Princip  abzuleiten  wären, 
was  aber  unmöglich  ist. 

So  z.  B.  steht  nichts  im  Wege,  dass  sich  diese 

Bchwi^i^crei.  Gefühlsreligion   in  einer  Schwärmerei  für  die  Natur 

zeige.     Solche  Leute  gehen  in  den  Wald  oder  auf  die 

Felder  oder  besteigen  die  Berge  und  glauben  dann  Gott  näher 

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Unreine  Formen.  469 

ZU  sein,  als  in  der  Stadt  und  Stube,  und  werden  yon  einem 
träumerischen  Gefühl  beseligt,  worin  sie  jenachdem  die  schaffende 
Natur  oder  auch  die  Gottheit  gleichsam  mit  der  reinen  Luft,  die 
sie  athmen,  eingezogen  oder  anbetend,  oder  in  stillem  Sinnen  und 
Nichtsthun  genossen  zu  haben  glauben.  Dabei  ist  doch  nun 
scheinbar  ein  äusserer  Gott  oder  die  äussere  Natur,  welche  be- 
trachtet und  verehrt  wird,  vorhanden,  und  es  wäre  also  unsere 
Definition  der  pantheistischen  GefUhlsreligion  falsch.  Allein  man 
muss  sich  etwas  besinnen,  ehe  man  urtheilt;  denn  erstens  hin- 
dert nichts,  dass  diese  Naturschwärmer  gewisse  Vorstellungen 
und  Erkenntnisse  von  der  Natur  haben  und  die  Natur  auch  als 
göttlich  und  ausser  ihnen  vorhanden  ansehen,  wie  in  der  pro- 
jectivischen  Theologie;  aber  es  ist  doch  klar,  dass  sie,  sobald 
sie  die  Regenbogenfarben,  die  Stimmen  der  Vögel  und  die  merk- 
würdigen Lebensvorgänge  der  Natur  bewundern,  darum  noch 
ebensowenig  religiös  sind,  wie  der  Rosskamm,  der  ein  Pferd  be- 
wundert. Das  religiöse  Gefühl  entsteht  erst,  wenn  alle  einzelne 
und  bestimmte  Anschauung  verschwindet  und  ebenso  alles  ein- 
zelne Thun  der  Hände  und  Füsse,  dagegen  in  süssem  seligem 
Traum  des  nichts  Bestimmtes  mehr  denkenden  und  nichts  Ein- 
zelnes mehr  ins  Werk  setzenden  Geistes  der  Einklang  dieser 
geistigen  Vermögen,  der  durch  jene  Anregung  von  Seiten  der 
Natur  zum  Bewusstsein  gekommen,  gefehlt  und  genossen  wird. 
Dabei  verschwindet  also  pantheistisch  der  Gegenstand  wieder  in 
die  geistige  Function,  und  es  ist  ganz  einerlei,  was  solche  Leute, 
wenn  sie  wieder  auf  weltliche  Gedanken  kommen,  sonst  von  der 
Natur  halten,  und  ob  sie  Spiritualisten  oder  Materialisten  oder 
sonstwas  sind;  denn  nicht  ihre  übrige  Bildungsstufe  soll  hier 
untersucht  werden,  sondern  der  specifische  Charakter  ihrer  reli- 
giösen Stimmung.  Deshalb  muss  man  z.  B.,  was  vielleicht  son- 
derbar klingen  mag,  solche  Naturschwärmer,  wie  Rossmässler, 
zu  den  Mystikern  rechnen,  weil  ihr  religiöses  Bewusstsein  keinen 
andern  Inhalt  als  das  unbestimmte  Gefühl  hat,  welches  bei  Men- 
schen von  solcher  Geistes-  und  Gemüthsrichtung  besonders  durch 
die  freie  Natur  angeregt  wird,  indem  dabei  die  Erinnerung  an  die 
persönlichen  und  bürgerlichen  Beziehungen  wegfällt,  und  sie  so 
leichter  von  dem  beschränkten  Dasein,  in  welches  der  Mensch 
eingesponnen  ist,  zu  dem  unbeschränkten  und  unendlichen  Dasein 
in  ihrem  Gefühl  übergehen  können. 

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470  Pantheismus  des  Gefühls. 

MuBikausche  ^^^^  andere  Mischung  der  geistigen  Thätigkeiten 

phautMie-    findet  sich  auch  häufig;  denn  die  Natur  muss  zunächst 

Schwärmerei,  ^^^.^j^  ^j^  ^^^^^  ^^^  ^^^^^f  ^^^^^  ^j^  Einbildungs- 
kraft aufgefasst  werden.  Wenn  nun  diese  letztere  Thätigkeit 
kräftiger  ist  und  sich  mit  einer  reicheren  Sprachbegabung  zu- 
sammenfindet, so  entsteht  eine  Art  der  Poesie  und  also  möglicher 
Weise  eine  Art  des  Eunstenthusiasmus.  Wenn  aber  keine  be- 
sondere Anlage  zum  Ausdruck  der  Gedanken  und  Einbildungen 
in  Worte  vorhanden  ist,  so  bleibt  die  Einbildungskraft  gewisser- 
massen  jungfräulich  und  darum  träumerischer  und  unbewusster, 
und  ihre  wortlosen  Dichtungen  haben  daher  nicht  eine  solche 
Richtung,  dass  sie  aus  der  unbestimmten  Auffassung  der  Natur 
zu  einer  besonderen  einzelnen  Form  herausfielen.  Darum  ist 
auch  diese  halb  und  halb  passive  poetische  Phantasieschwärmerei, 
die  recht  verbreitet  ist,  zu  der  unreinen  Religion  des  Geftlhls  zu 
rechneu,  weil  dabei  wesentlich  auch  nur  der  Einklang  unserer 
geistigen  Functionen  in  träumerischer  Seligkeit  empftmden  wird, 
indem  die  Vorstellungen  zwar  nicht  unmittelbar  das  Göttliche, 
aber  doch  auch  nichts  bestimmtes  Endliches  enthalten,  und  an- 
dererseits die  Thätigkeit  zwar  in  leichter  Verknüpftmg  von  Bil- 
dern und  Tönen  beschäftigt  ist,  aber  doch  ohne  zum  Uebergewicht 
und  zu  bestimmt  geordneten  Bewegungen  und  Formen  zu  gelangen. 
Der  Beweis  ftir  die  Richtigkeit  dieser  Charakteristik  ist  indirect 
zu  ftihren-,  denn  sobald  man  den  beiden  anderen  geistigen  Thätig- 
keiten eine  ebenbürtige  oder  tiberwiegende  Energie  verleiht,  so 
würde  das  der  Welt  hingegebene  Vorstellungsvermögen  zur 
beobachtenden  Naturwissenschaft  und  die  in  Phantasien  spielende 
Thätigkeit  zur  bildenden,  tönenden  oder  redenden  Kunst  über- 
gehen. 

Wer  in  der  speculativen  philosophischen  Auffassung  nicht 
geübt  genug  ist,  wird  diese  Analysen  nicht  ganz  zutreffend  finden, 
weil  er  immer  von  unseren  geistigen  Functionen  sprechen  hört, 
während  er  doch  vielmehr  die  Natur  selbst,  ihre  Unendlichkeit 
und  Herrlichkeit,  ihre  unbeschreibliche  und  entzückende  Macht 
und  Harmonie  in  seinem  Gefühl  zu  geniessen  und  dadurch  zur 
Erhebung,  Stärkung  und  Erweiterung  seines  Selbst  zu  gelangen 
glaubt.  Der  Philosoph  wird  solche  Einwürfe  billigen  und  doch 
bei  seiner  Analyse  stehen  bleiben;  denn  es  dreht  sich  nur  um 
eine   andere    Ausdrucksweise.     Der    Gefühls  -  Religiöse   bewegt 

uiyiüzeu  uy  x^jv^' v^'pc  iv^ 


Unreine  Formen.  471 

sich  bei  dem  mangelnden  philosophischen  Bewusstsein  in  dem 
projectivischen  Ausdracke  und  merkt  nicht,  dass  durch  die 
Auffassung  der  Natur  nur  sein  Vorsteliungsvermögen,  d.  h. 
die  geistige  Function,  erweitert  und  scheinbar  in's  Unendliche 
ausgedehnt  und  erhoben  wird,  wie  ebenso  in  den  neuen  und 
freien  Verknüpfungen,  durch  das  Spiel  der  Wolken,  durch  die 
mannigfaltigen  Wirkungen  des  Lichtes,  durch  die  unzähligen  und 
verschiedenartigen  Geräusche  und  durch  den  unermesslichen  Beich- 
thum  der  Naturformen,  nur  die  spielende  Phantasiethätigkeit 
ausgelöst  wird,  wodurch  sich  die  Freiheit  seines  thätigen  Ver- 
mögens im  Einklapg  mit  jener  intellectuellen  Function  fühlbar 
macht. 

Andere  aber  nehmen  den  Ausgangspunkt  gerade  Ketistuche 
mitten  in  der  bürgerlich  beschränkten  Sphäre,  indem  b*cJ»*«°«- 
sie  etwa  zu  einer  niedrigeren  Beschäftigung  durch  die  Lebens- 
noth  gezwungen  sind  und  sich  nun  durch  einige  Betrachtungen 
dazu  aufschwingen,  zu  ahnen  und  zu  glauben,  dass  nicht  dieser 
oder  jener  Mensch,  oder  diese  zeitlichen  oder  örtlichen  Ver- 
hältnisse sie  nöthigen,  sondern  dass  diese  Umstände,  wie  Alles 
schliesslich,  von  einem  allmächtigen  und  unendlichen  Princip 
abhängen,  dessen  Willen  sie  nun  zu  ihrem  Willen  machen,  und 
indem  sie  sich  so  gänzlich  ihres  Ichs  entäussem,  in  friedlichem 
Gehorsam  die  Wonne,  mit  Gott  vereint  und  vertraut  und  zu  ihm 
verklärt  zu  sein,  gemessen.  Das  Wesentliche  auch  dieser  Form 
besteht  in  der  Vorherrschaft  des  Gefühls;  es  können  aber  dabei 
alle  möglichen  Bildungsgrade  der  Menschen  und  verschiedene 
Ansichten  und  sonstige  zufällige  historisch-traditionelle  Ausdrucks- 
weisen vorkonmien.  So  z.  B.  wird  man  die  Pietisten,  die  Quäcker 
und  andere  christliche  Parteien  dieser  Art  sehr  nahe  an  die 
pantheistische  Geftihlsreligion  heranrücken  sehen,  jemehr  sie  theils 
in  vorübergehenden  Augenblicken  der  Verzückung,  theils  über- 
haupt in  der  blossen  Innigkeit  des  Gefühls  ihre  specifische  Fröm- 
migkeit ausdrücken. 

Es  ist  aber  meine  Aufgabe  nicht,  die  verschiedenen  histori- 
schen Nuancen  und  Mischformen  hier  einzutheilen  und  zu  defi- 
niren;  deshalb  möge  es  genügen,  diejenigen  beruhigt  zu  haben, 
welche  dem  Mysticismus  zugeneigt  sind  und  dennoch  an  einer 
anderen  Religionsform,  wie  besonders  am  Christenthum,  zugleich 
festhalten  wollen.    Nur  erinnere  ich,  dass  die  Mystiker  mit  den 

uiumzeu  uy  x^jOvJV^ 


Te 


472  Fantheismus  des  Gefühls. 

Ausdrücken  der  christlicheii  Dogmatik  ebenso  spielen,  wie  die 
Eunstentbusiasten  mit  den  Fonnen  der  griecbiscben  Religion, 
worin  inuner  ein  Beweis  liegt,  dass  die  positive  Religionsform 
nur  als  Symbol  flir  einen  böheren  und  andersartigen  Sinn  und 
Werth  gelten  soll. 

So  z.  B.  reebnet  man  aucb  den  Methodismus  zum 
"  Cbristentbum,  und  er  braucht  ja  auch  alle  die  christ- 
lichen Ausdrücke  und  pflegt  die  Lektüre  der  Bibel;  nichtsdesto- 
weniger gehört  er  im  Wesentlichen  zu  der  Geftihlsreligion.  Er 
stellt  nämlich  Gott  vor  im  Sinne  der  projecti vischen  Religion 
als  Furcht-  und  Rechtsgott,  erfüllt  deshalb  die  Seele  vor  allem 
mit  dem  tiefsten  Gefühle  der  Sünde,  womit'  zugleich  die  Angst 
vor  den  flirchterlichen  Strafen  des  Furchtgottes  verknüpft  wird. 
Die  auf  diese  Weise  in  eine  Art  von  Krampf  versetzte  Seele 
wird  nun  zu  einem  sogenannten  Willensakte  getrieben,  um  die 
rettende  Hand  des  Erlösers  zu  ergreifen  und  um  die  Gnade  zu 
ringen.  Alle  diese  Vorstellungen  gehören  den  beiden  untergeord- 
neten projectivischen  Religionsstufen  an;  da  aber  diese  Vorstel- 
lungen zu  keiner  grösseren  Erkenntnissarbeit  führen  und  also 
ohne  Dogmatik  bleiben,  aus  dem  Busskrampf  sich  auch  keine 
das  ganze  Leben  des  Einzelnen  und  der  Gesellschaft  ruhig  und 
vernünftig  organisirende  sittliche  Thätigkeit  entwickelt,  so  bilden 
die  erweckten  Gefühle  den  Mittelpunkt  und  das  Wesentliche 
dieser  Religionsform.  Das  Motiv  ist  die  Angst  vor  der  ewigen 
Verdammniss,  und  die  Beseligung  liegt  in  einer  Art  von  Ver- 
zückung über  die  Gnadenerwählung.  Diese  Gefühle  werden  nun 
immer  von  Neuem  angefacht,  weil  der  Mensch  ja  unter  solchen 
Bedingungen  natürlich  keine  ruhige  Sicherheit  seines  Heils  ge- 
winnen kann,  weshalb  die  Geflihle  immer  zwischen  der  Todes- 
angst und  der  Verzückung  wechseln,  wobei  in  der  Mitte  die 
Aufgebung  des  Selbst  durch  den  Bussakt  liegt 

Dass  hier  trotzdem  keine  reine  Religion  des  Gefühls  gegeben 
ist,  sieht  man  aus  der  Rolle,  welche  das  Gebet  in  dieser  häre- 
tischen Richtung  spielt.  Da  ihre  Gottesvorstellung  sich  nämlich 
nicht  über  die  projectivische  Stufe  erhebt,  so  kann  das  Gebet 
als  eine  theurgische  Waflfe,  als  ein  Mittel,  ihren  Furchtgott  zu 
belästigen,  umzustimmen,  ja  geradezu  zu  zwingen  gebraucht 
werden,  und  so  kommen  sie  zu  allen  den  strategischen  Gebets- 
manoeuvres, wodurch  sie  ihren  Gott,  wie  eine  Festung,  kunstgemäss 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Unreine  Formen.  473 

belagern  und  endlich  zur  Capitulation  nöthigen.  All  dergleichen 
ist  nicht  geradezu  lächerlich,  sondern  entspricht  den  Hekatomben, 
die  im  Alterthum  bei  wichtigen  Wünschen  dem  Gotte  geschlachtet 
wurden,  und  hat,  wenn  man  dem  Mangel  an  wissenschaftlicher 
und  philosophischer  Bildung  dieser  Gläubigen  Rechnung  trägt, 
eine  gewisse  Consequenz;  doch  sieht  man  hieraus  wieder,  wie 
die  lebendigen  Religionsformen  alle  nur  als  unreine  Formen 
gelten  dürfen  und  welchen  Fehler  jede  Religionsphilosophie  be- 
geht, wenn  sie  nicht  bis  auf  die  einfachen  Elemente  in  der  Ana- 
lyse durchdringt,  sondern  bloss  die  wirklichen  Religionen  und 
Sekten  irgendwie  anordnet  5  denn  solche  Arbeit  ist  ebenso  unge- 
nügend, wie  wenn  die  Mineralogen  ihre  Steine  und  Erdarten 
bloss  nach  Farbe,  Gewicht  und  Gestalt  äusserlich  beschreiben 
wollten  und  die  chemische  Analyse  vernachlässigten. 


Anmerkung.  Während  man  früher  mit  dem. Namen  „Pantheismus" 
eine  WeltaufFassung  oder  Religionsform  genügend  zu  charakterisiren  glaubte, 
Bo  ist  jetzt  immer  zu  fragen,  ob  man  mit  der  bestimmten  Species  des  prakti- 
schen, ethischen,  politischen,  kirchlichen,  künstlerischen,  sentimentalen  oder 
speculativen  Pantheismus  zu  thun  habe.  So  möchte  ich  im  Hinblick  auf  die 
sehr  interessante  und  auch  für  die  Geschichte  der  Philosophie  sehr  beachtens- 
werthe  Arbeit  von  Franz  Kern  („Johann  Scheifler's  cherubinischer  Wanders- 
mann"  18G6)  SchefFler  nicht  mit  Fichte  zusammenordnen,  sondern  ihn  als 
sentimentalen  Pantheisten,  d.  h.  als  Quietisten  und  Mystiker,  auffassen.  Da 
Scheffler  nämlich  (vergL  Kern  S.  49,  53,  55,  58,  60)  die  intuitive  Erkenntniss 
in  die  Liebe  setzt  und  durch  ^nzliche  Abtödtung  des  eigenen  Willens 
zum  Frieden  zu  gelangen  und  durch  Einssein  mit  Gott  selig  zu  werden 
sucht,  so  kann  seine  methodelose  und  nicht  einmal  originelle  Intuition  (ebenso 
wie  seine  Askese)  auch  nur  als  Mittel  gelten,  um  das  Gefühl  sich  in 
seinem  Frieden  und  in  seiner  Seligkeit  sättigen  zu  lassen. 


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3.  Die  pantheistische  Religion 
des  Gedankens. 


Von  den  drei  Functionen  des  Geistes,  die  von  einander  un- 
abtrennbar sind  und  doch  eine  jede  den  andern  gegenüber  im 
Uebergewichte  vorkommen  können,  bleibt  uns  nun  bloss  noch 
die  theoretische  zu  betrachten  übrig.  Diese  Erkenntnissfunction 
ist  durch  ihr  specifisches  Werk,  nämlich  die  Wissenschaft,  sofort 
ftir  Jedermann  verständlich  und  man  wird  sie  leicht  von  den 
Geftihlen  und  auch  von  den  Handlungen  unterscheiden,  obwohl 
Wille  und  Gefühl  auch  bei  den  theoretischen  Anschauungen  aus- 
gelöst werden  und  obwohl  das  Denken  als  Arbeit  auch  eine 
Handlung  implicirt.  Bei  der  theoretischen  Function  soll  aber  der 
ideelle  Inhalt  des  Wissens  allein  in  Frage  kommen  und  dadurch 
ein  ganz  specifisches  Gebiet  abgesondert  werden.  Nun  giebt  es 
eben  manche  Naturen  contemplativer  Art,  bei  denen  alle  Energie 
des  Geftlhls  und  der  Handlung  sich  überwiegend  dem  Gedanken 
und  dem  Denken  zuwendet,  und  bei  diesen  Naturen  allein  wird 
sich  die  einseitige  Religionsform  entwickeln  können,  die  wir 
jetzt  in's  Auge  fassen. 


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Erstes  Capitel. 
Die  zugehörige  Ethik. 


Mützliche  und 
Schöne. 


§  1.  Das  ethische  Motiv. 

Das  Motiv  dieser  Religion  liegt  darin,  dass 
dem  philosophisch  angelegten  Menschen  das  ganze  de^wa^hrte^ 
Treiben  der  auf  Wohlsein  und  Fortschritt  in  über  das  Gute, 
materiellem  Behagen  arbeitenden  Naturen  als  unter- 
geordnet erscheint,  da  es  einerseits  nur  unserem 
körperlichen  Dasein,  das  wir  mit  den  Thieren  theilen,  zu  Gute 
kommt,  andrerseits  als  höchstes  Ziel  nur  das  Nützliche  hat. 
Der  Nutzen  flihrt  auf  einen  Zweck,  um  dessentwillen  wir  die 
Arbeit  verlangen.  Aber  auch  diese  Zwecke,  die  in  den  morali- 
schen und  politischen  Tugenden  bestehen,  befriedigen  das 
Geftlhl  des  denkenden  Menschen  nicht;  denn  das  Leben  des 
Einzelnen  und  selbst  das  des  Staates  ist  doch  zu  beschränkt,  zu 
klein  und  vorübergehend,  um  im  Vergleich  mit  dem  Gedanken 
an  die  Menschheit  im  Ganzen  oder  die  Welt  noch  Werth  zu  be- 
halten, so  dass  es  sich  nicht  zu  lohnen  scheint,  sein  Herz  an 
die  Ziele  der  Gesellschaft  oder  gar  des  privaten  achtungswerthen 
und  nützlichen  Lebens  hinzugeben.  Ebenso  ist  die  Kunst  unver- 
mögend, den  Philosophen  zu  befriedigen,  da  ihr  Inhalt  im  Ganzen 
doch  nur  die  sinnenfilllige  Welt  und  das  persönliche  und  ge- 
schichtliche Leben  des  Menschen  abspiegelt,  und  die  Wahrheit, 
die  sie  in  blossen  Symbolen,  nämlich  in  Tönen  und  Bildern  und 
poetischen  Charakteren  darstellt,  nicht  zur  vollen  Klarheit  kommen 
kann,  sondern  in  höherem  Grade  dem  anzugehören  scheint,  welcher 
die  Kunstwerke  erklärt  und  beurtheilt  und  also  über  der  Kunst  steht. 

In  dem  ethisch -politischen  Gebiete  herrscht  die  Idee  des 
Guten,  im  künstlerischen  die  des  Schönen.  Es  konunt  also 
darauf  an,  zu  sehen,  wie  für  den  einseitig  theoretisch  angelegten 


476  Pantheismus  des  Gedankens. 

Menschen  diese  beiden  Ideen  der  Idee  der  Wahrheit  unter- 
geordnet werden  können;  denn  nur  unter  dieser  Bedingung  ver- 
stehen wir  die  Ethik  oder  das  Motiv  der  idealistischen  Religion. 

Nun  ist  es  in  gewisser  Weise  richtig,  dass  der  Gute  sich 
nach  dem  Wesen  des  Menschen  richtet  und  seine  Handlungs- 
weise aus  dem  wahren  Zweck  oder  der  Idee  des  Menschen 
ableitet.  Liesse  sich  dieser  in  der  Natur  angelegte  Zweck  also 
nicht  erkennen,  so  wäre  auch  sittliches  Leben  unmöglich. 
Folglich  scheint  das  Gute  dem  Wahren  untergeordnet  zu  sein 
und  zwar  in  doppelter  Weise,  erstens  sofern  die  Klugheit  oder 
Weisheit  und  Besonnenheit,  oder  wie  man  diese  erkennende 
Tugend  nennen  will,  im  ganzen  Gebiete  des  Sittlichen  als  be- 
fehlend oder  leitend  obenan  steht  und  die  Herrentugend  bildet, 
während  die  andern  Tugenden  in  Glauben  und  Gehorsam  dienen, 
und  zweitens  sofern  bei  Betrachtung  der  menschlichen  Natur 
sich  eine  Stufenfolge  der  Functionen  zeigt,  deren  oberste  die  theo- 
retische Vernunft  ist.  Denn  das  vegetative  Leben  theileu  wir 
mit  den  Pflanzen,  Sinnlichkeit  und  Begierden  und  auch  praktisch 
ftirsorgende  Vernunft  mit  den  Thieren,  die  theoretische  Kraft 
scheint  aber,  seit  Piaton  und  Aristoteles  dies  erwiesen  haben, 
die  höchste  und  dem  Menschen  specifische  zu  sein.  Also  erweist 
sich  nach  zwei  Gedankengängen  die  Idee  der  Wahrheit,  welche 
der  theoretischen  Function  zugehört,  als  übergeordnet  über  das 
Gute  und  noch  mehr  über  das  Nützliche. 

In  derselben  Weise  wird  auch  das  Schöne  untergeordnet; 
denn  der  Künstler  muss  Bichtigkeit  und  Uebereinstimmung  mit 
den  Gesetzen,  Ordnungen  und  Formen  der  Natur  suchen,  d.  h. 
sich  nach  der  Wahrheit  richten.  Ehe  Du  dichtest,  sagt  Boileau, 
lerne  zu  denken.  Was  die  Kunst  ausdrücken  will,  scheint  das 
Wesen  und  die  Wahrheit  zu  sein;  sie  drückt  die  Wahrheit  aber 
nur  stammelnd  au|,  und  es  ist  ja  unfraglich,  dass  das  Bedürfniss 
nach  Wahrheit  erst  im  Denken  befriedigt  wird,  weshalb  sich  die 
unreife  Intelligenz  mit  Dichterworten  nährt  und  diese  als  Beweise 
citirt,  während  die  reifer  gewordene  Kraft  den  reinen  Begriff 
sucht  und  vorzieht 

Wir  können  durch  diese  Ueberlegungen  wohl  hinreichend 
erkennen,  dass  mit  stärkerer  Vernunft  begabte  Naturen  durch 
den   ganzen  übrigen  Inhalt    des  Bewusstseins    nicht  befriedigt 


Etbik.  477 

werden,  sondern  nach  dem  Stein  der  Weisen,  nach  der  Wahrheit 
allein  verlangen  und  nur  durch  Einsicht  in  das  Wesen  der  Welt 
satt  und  glücklich  werden  können,  weil  diese  Erkenntniss  eben 
der  Inhalt  ihrer  überwiegend  vorhandenen  intellectuellen  Function 
und  das  Ziel  ihrer  Begabung  ist. 

Daraus  folgt,  dass  für  sie  der  höchste  menschliche  Stand 
der  gelehrte  ist,  dass  sie  daher  auch  die  Weisen  an  der  Spitze 
des  Staates  sehen  wollen,  dass  sie  ihr  ganzes  Leben  in  den 
Dienst  der  Wahrheitserkenntniss  stellen  und  alles  nur  thun,  um 
Müsse  zur  Forschung  und  Betrachtung  zu  gewinnen,  dass  sie 
ihre  Begierden  unterdrücken  oder  befriedigen,  um  diese  Ruhe- 
störer los  zu  werden,  dass  sie  die  Interessen  des  Hauses  und 
der  Stadt  und  des  Staates  ftir  Lappalien  halten,  womit  sich  nur 
Ehrgeizige  und  Habsüchtige  beschäftigen,  die  noch  im  Dunkel 
leben  und  die  schöne  Sonne  der  Erkenntniss  und  ihr  herrliches 
Reich  nicht  ahnen,  dass  sie  femer  der  Kunst,  wie  Schiller  sich 
ausdrückt,  nur  „den  ersten  Sclavensitz  erlauben",  weil  sie  den 
Geist  empfanglich  macht  für  die  Wahrheit  und  wenigstens  in 
Bildern  und  sinnenfälligen  Symbolen  nach  ihr  strebt.  Kurz  die 
gauzc  Ethik  ist  nur  eine  Pädagogik  der  Seele  für  die  Freiheit 
der  erkennenden  Function  des  Geistes. 


§  2.     Das  religiöse  Motiv. 

Diese  Neigung  zum  Erkennen  kann  nun  die  verschiedensten 
Wege  gehen,  von  denen  der  eine  zu  den  empirischen,  der  andre 
zu  den  speculativen  Wissenschaften  führt.  Die  Einen  treiben 
die  Erforschung  der  einzelnen  Naturgegenstände,  studiren  die 
Steine,  die  Pflanzen,  die  Thiere,  die  Zusammensetzung  der 
Körper,  die  Bedingungen  der  sinnlichen  Phänomene  in  allen  Be- 
wegungen, die  Sprachen  und  die  Racen  der  Menschen,  die  Ge- 
schichte der  Völker  und  Staaten  u.  s.  w.  Die  Andern  beachten 
mehr  das  geistige  Leben  und  studiren  den  Ursprung  der  Begriffe, 
die  Formen  des  Raumes,  der  Zeit,  der  allgemeinen  Bewegung, 
die  Gesetze  des  Denkens,  die  Ursprünge  der  Ideen  des  Rechts, 
der  Tugend  u.  s.  w.  In  allen  diesen  Beschäftigungen  liegt  aber 
noch  nicht  der  eigenthümlich  religiöse  Sinn. 

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478  Pantheismus  des  Gedankens. 

Erst  durch  die  Beziehung  zum  Gottesbewusstsein  erschliesst 
sich  das  religiöse  Motiv  in  aller  Erkenntnissthätigkeit.  Da 
nämlich  der  Trieb  zur  Erkenntniss  auf  die  Wahrheit  geht,  so 
wird  nicht  eher  Befriedigung  eintreten,  als  bis  die  ganze  Wahrheit 
unser  geworden  ist.  Nun  steht  dieser  Erfüllung  aber  immer  der 
Gegensatz  zwischen  dem  erkennenden  Subjecte  und  dem  erkannten 
Objecte  gegenüber,  und  wenn  dieser  Gegensatz  unauf hebbar 
bliebe,  so  wäre  das  religiöse  Motiv  eitel.  Es  muss  also  die 
Wahrheit,  welche  erkannt  wird,  sich  als  Geist  erweisen  und  in 
unserem  Geiste  offenbar  werden,  derart,  dass  unser  Ich  in  seiner 
erkennenden  Function  verschwindet  und  dass  in  dieser  die 
Wahrheit  selbst  erlebt  und  genossen  werden  kann.  Diese 
Wahrheit  ist  dann  aber  selbst  als  Gott  oder  als  das  Göttliche 
aufzufassen,  welches  in  der  Furcht-  und  Rechtsreligion  in  dem 
Himmel  draussen  verehrt  wurde,  welches  der  Atheist  vom  Himmel 
und  aus  der  endlichen  Welt  des  Verstandes  vertrieben  hatte  und 
welches  nun  beseligend  und  erleuchtend  bei  dem  Pantheisten  in 
seinem  Geiste  Wohnung  macht,  sich  ihm  offenbart  und  entschleiert 
und  sich  in  ihn  verwandelt  oder  ihn  in  sich  transsubstanziirt 
Das  Motiv  und  Ziel  des  Pantheismus  des  Ge- 
reiigiöBe  daukcus  habcu  wir  jetzt  verstanden.  Es  fragt  sich 
charaktep  des  ^mj^  y^Q  ^q^  Pauthcist  sich  dcmgcmäss  fühlen 
und  was  er  von  sich  halten  muss  in  der  religiösen 
Stimmung.  Von  einer  Furcht  vor  Strafe  oder  von  einer  Angst 
des  Gewissens  in  Erinnerung  an  seine  Sünden  kann  selbstver- 
ständlich keine  Rede  sein;  aber  auch  die  Nützlichkeit  oder  Heilig- 
keit in  guten  Werken  oder  die  Unentbehrlichkeit  für  den  Staat  oder 
die  Stärkung  durch  kirchliche  Gemeinschaft  kann  er  nicht  gemessen ; 
denn  sein  Ich  lebte  gar  nicht  in  dieser  Welt;  auch  die  Kunst- 
anschauungen  können  ihn  nicht  begeistern,  da  er  nur  über  die 
Träumenden  lächeln  wird,  die  darin  ihr  Licht  und  Heil  suchen; 
endlich  wird  er  auch  spotten  über  die  Leerheit  der  Gefühls- 
seligen, die  nicht  einmal  sagen  können,  was  sie  so  beglückt 
Sein  Geftthl  hat  eine  reinere  Quelle;  er  weiss,  dass  das  lebendige 
Göttliche,  das  die  ganze  Welt  umfasst,  in  ihm  wohnt,  dass  er 
und  Gott  eins  sind  in  lebendiger  Einheit  und  klarer  Erkenntniss. 
Ich  bin  die  Wahrheit,  muss  er  zu  sich  sagen;  sie  ist  nur  im 
Geist,  im  Denken  und  Erkennen,  und  ich  erkenne  sie;  sie  ist  in 
mir   oder  ich  bin  die  Wahrheit     Darum  muss   der  vollendete 

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Ethik.  479 

l^hiloBoph  des  Idealismus  sich  flir  Gott  oder  für  einen  Gott 
halten  und  muss  sich  anch  so  nennen  oder  sich  wenigstens,  da 
mehrere  an  dieser  Erkenntniss  theilnehmen  können,  für  göttlich 
(*sto<;)  erklären.  In  dieser  religiösen  Stimmung  kann  keine 
Demuth  liegen;  denn  diese  geht  nur  der  Erkenntniss  voran; 
demttthig  kann  man  warten  auf  die  Gonception;  wenn  das  Ich 
aber  erst  transfigurirt  ist  in  den  Gott,  so  ist  auch  kein  Grund 
einer  Unterscheidung  von  Subject  und  Object  mehr  vorhanden 
und  folglich  Demuth  widersinnig.  Aber  ebensowenig  wird  ihn 
Stolz  und  Verachtung  der  Uebrigen  aufblähen;  denn  dergleichen 
Affekte  könnten  nur  aus  zufalligen  Nebenumständen  und  zubilli- 
gen Nebenbetrachtungen  entspringen  und  würden  die  absolute 
Erkenntniss  einschränken  und  die  religiöse  Stimmung  verderben, 
in  welcher  nichts  Zufälliges,  Endliches  und  Besonderes  Platz 
hat.  Darum  ist  seine  Stimmung  allen  Dingen  und  Personen 
gegenüber  Affektlos igkeit  (a7cd*sta)  und  also  Ruhe,  wie 
Meeresstille.  In  dieser  Ruhe  aber  liegt  keine  Gleichgültigkeit, 
sondern  sie  ist  voller  Energie  in  der  Erfassung  des  Ewigen,  der 
Wahrheit  Und  darum  erfHUt  ihn  reine  Freude,  himmlische 
Seligkeit:  denn  der  Himmel,  wo  die  Wahrheit  wohnt,  ist  in 
sein  Herz  eingekehrt,  und  er  selbst  als  Ich  verschwunden  und 
transfigurirt  und  apotheosirt.  Also  können  wir  ihm  nur  das  Gefühl 
der  Hoheit  lassen,  das  der  Natur  göttlicher  Dinge  zukommt. 


§  3.    Historische  Conürmationen. 

Dass  diese  speculative  Bestimmung  mit  der 
Wirklichkeit  übereinstimmt,  können  wir  mit  mehr 
oder  weniger  Deutlichkeit  bei  allen  Idealisten  wahrnehmen.  Man 
wird  nur  darum  vielleicht  an  dem  exacten  Ausdruck  dieser 
Stimmung  Anstoss  nehmen,  weil  in  der  Wirklichkeit  sich  überall, 
wie  ich  oft  hervorhob,  andre  Züge  noch  anhängen,  die  aus  der 
Erziehung  und  Umgebung  der  Idealisten  stammen  und  die  Rein- 
heit des  Typus  beeinträchtigen.  Wer  dies  zu  unterscheiden 
versteht,  wird  die  gegebene  Charakteristik  anerkennen.  Ich 
citire  als  Beispiel  den  Vater  des  Idealismus,  Pia  ton,  der  nicht 
bloss  sich  selbst  und  seine  Genossen  in  der  Wahrheit  als  „Gött- 
liche" (*£ioi)  bezeichnet,   sondern  auch  bei  der  Nachwelt  diesen 

uiuiiizeu  uy  "v^j  vy\J>t  Iv^ 


480  Pantheismus  des  Gedankens. 

Beinamen  behalten  hat  Bei  ihm  wird  ansdrücklich  aueh  die 
Gleichgültigkeit  gegen  alle  menschlichen  Dinge  stark  heryor* 
gehoben;  nicht  nur  will  er  keinen  Ehrgeiz  und  keine  Herrsch- 
sucht kennen,  sondern  er  sagt  geradezu,  dass  die  Philosophen 
sich  nur  gezwungen  mit  Staatsangelegenheiten  abgeben  würden 
und  nicht  einmal  wüssten,  wo  das  Rathhaus  in  der  Stadt  läge. 
Was  die  Seligkeit  betrifft,  so  nimmt  er  sie  allerdings  in  Anspruch, 
streift  aber  davon  alles  Affektartige  ab,  weil  er  fürchtet,  sonst 
auch  nur  im  Geringsten  an  dem  Gegensatze,  an  der  Unlust  und 
dem  Leide,  theilnehmen  zu  Aaüssen,  wodurch  der  Philosoph  wieder 
mit  dem  Gewebe  und  Wechsel  des  Endlichen  in  Berührung 
kommen  würde.  In  meinen  „Studien  zur  Geschichte  der  Be- 
griffe" und  den  beiden  Büchern  über  die  „Literarischen  Fehden 
im  vierten  Jahrhundert  vor  Christo"  wird  man  die  näheren  Belege 
finden;  es  ist  hier  nicht  der  Ort,  in  philologisches  Detail  ein- 
zugehen. 

Dieselbe  ethische  Stimmung  findet  man  bei  allen 

Idealisten,  da  der  zugehörige  Gedankengang  sie  noth- 
wendig  fordert.  Ich  erwähne  deshalb  unter  den  Vielen  zunächst 
den  Empiriker  und  Staatsphilosophen,  der  durch  seine  Neigung 
wirklich  mehr  zur  Bearbeitung  der  einzelnen  Gebiete  der  Dinge 
geführt  wurde,  aber  durch  den  Einfluss  Platon's  bewogen  trotzdem 
die  vornehmste  Stelle  für  den  speculativen  Philosophen  zurück- 
behielt, indem  er  dem  praktischen  Leben  und  den  zugehörigen 
bürgerlichen  Tugenden  das  rein  theoretische  und  fast  einsame 
Leben  des  Philosophen  tiberordnete,  der  nicht  wie  ein  Mensch, 
sondern  wie  ein  Gott  lebt,  der  den  allgemeinen  und  ewigen 
intelligiblen  Urgrund  aller  Dinge  in  seiner  Vernunft  gegenwärtig 
nicht  nur  besitzt,  sondern  erlebt  und  das  göttliche  Denken  selbst 
denkt.  Selbst  also,  wo,  wie  bei  Aristoteles,  die  menschliche 
Natur  stärker  hervorgekehrt  wird,  ist  die  Apotheose  des  Philo- 
sophen dennoch  unvermeidlich,  da  der  Idealismus  keine  andre 
Stimmung  verträgt. 

Dass  wir  auch  bei  unseren  modernen  Idealisten^ 

bei  Fichte  und  Hegel,  dasselbe  finden,  ist  selbstver- 
ständlich. Für  Fichte  ist  die  Seligkeitslehre  Wissenslehre,  das 
wahre  Dasein  und  Leben  ist  Wissen,  alles  Andre  ist  todt  oder 
Schein.  Das  reine  Denken  ist  selbst  das  göttliche  Dasein,  und 
das  göttliche  Dasein  in  seiner  Unmittelbarkeit  ist  nichts  anderes 

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Flehte. 


Ethik.  481 

als  das  reine  Denken,  d.  h.  die  speculative  Thätigkeit  des 
Philosophen.  Christus  ist  ihm  daher  keine  einzigartige  Persön- 
lichkeit, wozu  ihn  vielmehr  nur  die  Dürftigkeit  der  Folgezeit 
gemacht  habe;  sondern  er  soll  ganz  und  ungetheilt  in  seinen 
Anhängern  wiederholt  werden,  so  dass  sich  der  Wissende  un- 
mittelbar, wie  Christus,  mit  Gott  eins  wisse.  Darum  habe  Christus 
bloss  den  Wahn  von  der  Sünde  und  die  Scheu  vor  einer  Gottheit, 
die  durch  die  Menschheit  sich  beleidigt  fühlen  könnte,  hinweg- 
getragen und  ausgetilgt  Darum  hält  er  den  Begriff  Gottes  als 
einer  besonderen  Substanz  für  widersprechend  und  für  Schul- 
geschwätz. Bei  Fichte  ist  der  Idealismus  aber  nicht  ganz  rein, 
weil  er  sehr  bald  von  dem  blossen  Wissen  zum  Sollen  und  Thun 
übersprang  und  die  Weltordnung  daher  als  die  Bestimmung  der 
Pflicht  von  Seiten  der  Menschen  erklärte,  so  dass  die  praktische 
Richtung,  die  wir  in  dem  Pantheismus  der  That  charakterisirten, 
bei  ihm  stellenweise  das  Uebergewicht  erhält.  Ueberhaupt  ist 
Fichte  als  exacter  Philosoph  unbedeutend;  dies  hindert  aber 
nicht,  dass  er  nicht  eine  grosse  Bedeutung  durch  Beeinflussung 
seinerzeit  gewonnen  hätte;  denn  auch  in  dieser  seiner  Richtung 
auf  die  Pflicht  liegt  nicht  etwa  eine  demüthige  Unterordnung 
unter  einen  Gesetzesgott  oder  eine  auswärtige  Weltordnung, 
sondern  vielmehr  die  kühnste  Erhebung  des  Menschen  zur  Ehr- 
würdigkeit und  Göttlichkeit  Fichte  konnte  eine  grosse  Erhebung 
und  Erneuung  hervorbringen,  da  ihm  das  Einzigexistirende  in 
der  Welt  das  menschliche  Geschlecht  ist,  welches  ihm  eine  Einheit 
bildet  und  aus  sich  die  Ordnung  des  Sollens  bestimmt,  so  dass 
die  Weltordnung  auch  hier  nur  in  der  geistigen  Thätigkeit,  im 
Denken  des  Menschen,  vorhanden  ist  und  daher  an  den  Menschen 
die  denkbar  höchste  Anforderung  stellt 

HegeFs  Auffassung  ist  noch  lebendiger  in  der 
Gegenwart,  als  die  Fichte' sehe,  da  noch  einige  be- 
rühmte Anhänger  an  den  Universitäten  mit  grosser  Kraft  lehren. 
Für  Hegel  hat  zwar  scheinbar  die  Religion  ebenso  wie  die  Kunst 
einen  untergeordneten  Platz,  indem  er  für  sie  mehr  die  Unmittel- 
barkeit des  Gefühls  rescrviren  und  das  Wissen  hoch  über  sie 
stellen  wollte;  aber  dies  kann  uns  gleichgültig  sein;  denn  wir 
suchen  sein  eigenes  höchstes  Bewusstsein  und  seine  eigene  letzte 
Stellung  zur  Gottheit  und  finden  dies  in  dem  absoluten  Geiste 
der  speculativen  Philosophie;  denn  in  seiner  Logik  wollte  er  die 

Telohmüller,  BellgloiiBpbilosophie.  uiymSJü  uy  V^jOOQIC 


482  Pantheismus  des  Gedankens. 

Gedanken,  die  Gott  vor  der  ErschaflFung  der  Welt  denkt,  d.  h. 
den  ganzen  Inhalt  des  göttlichen  Geistes,  erschöpfen, 
während  Kant  menschlich  und  bornirt  nur  den  Inhalt  des 
menschlichen  Geistes  durch  seine  Kritik  ausgemessen  habe. 
Für  Hegel  ist  also  in  dem  absoluten  Wissen  die  absolute  Gegen- 
wart Gottes  gegeben  und  das  Ich  in  diese  höhere  Geistesfunction 
vollständig  aufgehoben.  Es  giebt  keinen  Gott  ausserhalb  dieses 
Denkens,  und  im  Denken  ist  das  reine  affektlose  Dasein  Gottes 
Ereigniss  geworden,  sofern  Gott  sich  in  des  Menschen  ver- 
schwundenem Ich  selbst  weiss  als  absoluter,  subjectiv-objectiver 
Geist. 

Charakteristisch  für  den  Pantheismus  des  Idealisten 
^"wrtiT"^  ist  nun  das  Verhältniss,  in  welches  die  verschiedenen 
geistigen  Functionen  gestellt  werden.  Da  nämlich 
das  Vermögen  der  Erkenntniss  nicht  als  ein  Vermögen  neben 
anderen  betrachtet  wird,  sondern  als  die  höchste  Form,  zu  welcher 
der  ganze  Inhalt  der  Seele  und  des  Geistes  sich  stufenmässig 
erhebt,  so  können  alle  anderen  Vermögen  nur  als  untergeordnete 
Stufen  des  Erkenntnissvermögens  gelten.  Setzen  wir  also,  um 
dies  bestimmter  auszudrücken,  statt  des  blossen  Vermögens  die 
ausgebildete  Function,  so  haben  wir  Religion  (Sittlichkeit),  Kunst 
und  Wissenschaft  (Philosophie)  als  die  drei  in  Frage  kommenden 
Mächte  des  Geistes  und  müssen  den  Forderungen  des  Idealismus 
gemäss  die  Kunst  und  die  Religion  als  die  noch  auf  der  Stufe 
der  Anschauung,  der  Vorstellung  und  des  Gefühls  befindliche 
Erkenntniss  betrachten,  die  zwar  auch  von  der  Idee  schon  erftillt 
sind,  aber  dieselbe  noch  nicht  begrifflich  erkennen,  weil  erst  auf 
der  Stufe  des  reinen  Wissens  die  in  Vorstellung  und  Gefühl  noch 
verschleierte  Idee  sich  selbst  in  Begriffen  erkennt  und  so  als 
absoluter  Geist  hervortritt. 

Mithin  muss  in  dem  Idealismus  der  Gegensatz,  der  sich 
wirklich  in  dem  Gebiete  der  Erkenntniss  findet  (nämlich  zwischen 
Wissen  einerseits  und  Meinen,  Glauben,  Ahnen,  Vorstellen  anderer- 
seits), ungerechter  Weise  auf  die  anderen  Gebiete  des  Geistes, 
die  keine  Formen  der  Erkenntniss  sind,  ich  meine  auf  Kunst 
und  Religion  ausgedehnt  werden,  so  dass  nun  der  Wissende,  der 
nicht  einmal  primus  inter  pares  ist,  mit  Arroganz  auf  die  Reli- 
giösen und  Künstler  herabsieht,  weil  er  ganz  denselben  geistigen 


Ethik.  483 

Inhalt,  wie  jene,  zu  umfassen  und  denselben  nur  in  der  voll- 
kommensten Reinheit  und  Klarheit  zu  besitzen  glaubt,  während 
jene  niehts  von  ihm  Verschiedenes  besässen,  sondern  denselbigen 
Inhalt  nur  träumend  und  trübe  und  verworren  erfassten. 

Diese  ungerechte  und  falsche  Stellung  des  Wissens  findet 
sich,  weil  sie  dem  Idealismus  nothwendig  und  eigenthümlich  ist, 
schon  bei  Piaton,  dem  Vater  dieser  Weltanschauung,  und  habe 
ich  darüber  in  meinen  „Studien  zur  Greschichte  der  Begriffe^'  die 
genauere  Nachweisung  geliefert.  Piaton  macht  schon  den  Gegen- 
satz zwischen  Gnosis  und  Pistis,  zwischen  Wissen  und  Glauben, 
geltend  und  verlangt  deshalb  von  den  Philosophen,  dass  sie  die 
Dogmatik,  Ethik  und  den  Cultus  der  Religion  anordnen,  d.  h. 
durch  Gesetze  befehlen  sollten,  was  im  Staate  für  Götter  zu 
glauben  wären,  welche  Eigenschaften  und  Kräfte  sie  hätten,  was 
die  Menschen  demgemäss  den  Göttern  gegenüber  ftlhlen  und 
glauben  und  wie  sie  ihre  Ehrfurcht,  ihren  Gehorsam,  ihre  Dank- 
barkeit, ihre  Hofinungen  und  Wünsche  durch  gottesdienstliche 
Handlungen  in  den  Tempeln  und  sonst  auszudrücken  hätten; 
kurz  Piaton  macht  die  Wissenschaft  (Philosophie)  zum  unbeding- 
ten Herrn,  Patron  und  Curator  über  die  unmündige  Religion. 
Wenn  er,  was  di^  Ordnung  des  Cultus  betrifft,  ausser  der  Philo- 
sophie noch  den  ApoUon  in  'Delphi  befragen  lässt,  so  liegt  darin 
nicht  etwa  die  Ajnerkennung  einer  zweiten  Autorität  neben  der 
Philosophie,  sondern  nur  eine  politische  Massregel,  ebenso  wie 
die  Herrscher  sicti.heut  zu  Tage,  wenn  sie  vorsichtig  sind,  mit 
Rom  erst  benehmei|i,  ehe  sie  Gesetze  machen,  weil  der  Glaube 
der  Menschen  in  alten  Ideenassociationen  und  Gewöhnungen  und 
eingewurzelten  Unterwürfigkeiten  ruht,  und  daher  zur  Sanctio- 
nirung  der  Gesetze  die  Benutzung  der  Tradition  und  der  An- 
schluss  an  den  vorhandenen  und  noch  brauchbaren  Aberglauben 
empfehlenswerth  ist  Diese  Platonische  Aufstellung  von  dem 
Gegensatz  zwischen  der  gehorchenden  und  blinden  Pistis  und 
der  befehlenden  und  sehenden  Gnosis  findet  man  dann  durch  die 
ganze  Geschichte  überall  da,  wo  der  Idealismus  zur  Herrschaft 
kommt,  und  selbst  die  Kirchenväter  und  die  Scholastiker  wurden, 
weil  sie  ihre  philosophische  Bildung  dem  griechischen  Idealismus 
verdankten,  von  diesem  Gegensatze  immer  in  die  Enge  getrieben 
und  bald  zu  Ketzereien,  bald  zu  obscurantistischen  Absurditäten 
geführt.    Von  Anfang  an  aber  machten  sie,  im  Bewusstsein  eines 

uyuSAfuyGOOQle 


484  Pantheismiis  des  Gedankens. 

neaen  und  eigenen,  von  der  Philosophie  unabhängigen  Gutes  die 
unbeweisbare  und  deshalb  den  Klugen  unbegreifliche  Forderung, 
dass  die  katholische  Kirche  auf  der  Pistis  und  einer  von  der 
Philosophie  unabhängigen  Offenbarung  ruhen  solle  und  dass  die 
Tugenden  des  Glaubens  höher  wären,  als  das  Wissen.  Darin 
hatten  sie  nun  ohne  Zweifel  vollkommen  Recht,  aber  sie  konnten 
ihre  Forderung  nicht  rechtmässig  begründen,  weil  die  Offenbarung 
doch  auch  nur  die  Wahrheit,  also  einen  Erkenntnissinhalt, 
offenbar  machen  sollte,  den  die  Wissenschaft  prtifen  kann  und 
mnss,  und  darum  findet  sich,  wie  die  Geschichte  der  Dogmatijc 
zeigt,  in  allen  Perioden  der  Entwickelung  des  Dogma  die  häretische 
Neigung,  die  Gnosis  obenan  zu  stellen  und  die  blinden  Pistiker 
zu  verachten.  Diese  grosse  Schwierigkeit  und  Verlegenheit  be- 
drängt die  Theologen  bis  auf  den  beutigen  Tag;  denn  der 
Idealismus  ist  bis  jetzt  die  vornehmste  Philosophie  gewesen  und 
die  grossen  Theologen  aller  Zeiten  haben  ihm  gehuldigt. 


Da   diese   ftir   den  Idealismus  charakteristische 

TToTi 

ParalogismuB. 


Nachweis  des    Ucbcrordnung    der   Gnosis    über    die   Pistis    ebenso 


noth wendig,  wie  irrig  ist:  so  muss  der  Fehlschluss 
aufgedeckt  und  der  Grund  des  Fehlers  erkannt  werden,  was  nur 
unter  der  einzigen  Bedingung'  möglich  ist,  wenn  wir  eine  höhere 
und  wahrere  Weltanschauung  als  den  Idealismus  besitzen.  Nun 
haben  wir  ja  aber  schon  in  der  ganzen  vorigen  Darstellung  die 
Einseitigkeit  und  den  Grundfehler  des  Idealismus  erkannt;  es 
kann  uns  also  jetzt  leicht  werden,  den  Fehlschluss  nachzuweisen. 
Nego  minorem,  haben  wir  zu  sagen;  denn  der  Obersatz  muss 
lauten:  alle  unreifen  und  noch  nickt  wissenschaftlichen  Stufen 
der  Erkenntniss  sind  der  begrifflichen  Erkenntniss  (Philosophie 
und  Wissenschaft)  unterzuordnen.  Der  Untersatz:  die  Religion 
ist  eine  unreife  und  noch  nicht  wissenschaftliche  Stufe  der  Er- 
kenntniss. Der  Schlusssatz:  die  Religion  ist  der  Wissenschaft 
unterzuordnen.  Nun  läugnen  wir  den  Untersatz;  denn  die  Reli- 
gion ist  die  Gesinnung,  welche  der  Mensch  als  Persönlichkeit 
gegen  Gott  hat,  und  daher  keine  Stufe  der  Erkenntniss  schlecht- 
hin, einmal,  weil  diese  Gesinnung  bloss  bewusst  wird  und  nicht 
auf  einem  logischen  Processe  beruht,  zweitens  weil  sie  bei  allen 
Erkenntnissstufen  möglich  und  wirklich  ist,  und  drittens  weil  sie 
zu  ihrem  Ausdruck  noch  zwei  von  der  Erkenntniss  völlig  ver- 

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Ethik.  485 

schiedene,  selbständige  geistige  Vermögen  fordert,   nämlich  den 
Willen  oder  das  Gefühl  und  das  Vermögen  der  That. 

Dadurch  ist  der  Fehlscliluss  nachgewiesen,  und  der  Grund 
des  Fehlers  wird  damit  zugleich  offenbar;  denn,  weil  dem  6e- 
fUhlsvermögen  und  der  That  gewisse  Erkenntnissthätigkeiten 
coordinirt  sind,  durch  welche  man  seine  Gefühle  und  die  daraus 
fliessenden  Handlungen  erklärt  und  rechtfertigt,  so  blickten  die 
Idealisten  (nach  dem  Sophisma  de  pluribus  interrogationibus)  auf 
die  coordinirten  Vorstellungen  hin  mit  üebersehen  der  anderen 
selbständigen  und  eigenen  Elemente  und  konnten  daher  scheinbar 
mit  Recht  ihren  Minor  aufstellen.  So  ist  der  Grund  des  Fehlers 
ebenfalls  offenbar  gemacht. 

Da  wir  nun  aber  die  Selbständigkeit  der  drei  Vermögen 
des  Geistes  erkannt  haben,  so  sehen  wir  auch  klar  die  Unab- 
hängigkeit der  Religion  von  der  Wissenschaft  ein  und  verstehen 
nun,  weshalb  die  Kirche  sich  in  allen  Zeitaltem  gegen  die 
Philosophie  stellte  und  eine  eigene  Quelle  der  Gewissheit,  eine 
eigene  Offenbarung,  zu  besitzen  behauptete,  ohne  dies  beweisen 
zu  können.  Wir  erkennen  aber  zugleich,  dass  die  Feindschaft 
gegen  die  Wissenschaft  schlechthin  eine  unnütze  und  nicht  ge- 
rechtfertigte Stellung  der  gläubigen  Theologen  ist,  da  bei  der 
Gesinnung  gegen  Gott  (Religion)  dem  religiösen  Gefühl  (Ethik) 
immer  irgend  eine  Erkenntniss  (Dogma)  zugeordnet  ist,  ebenso 
wie  ein  gewisses  Thun  (Cultus).  Diese  zugeordnete  Erkenntniss 
kann  nun  alle  Stufen  der  Ausbildung  durchlaufen  und  mithin  in 
rohen  abergläubischen  Vorstellungen,  wie  auch  in  den  subtilsten 
philosophischen  Begriffen  bestehen.  Wir  haben  also  bloss  die 
ungerechte  Arroganz  der  idealistischen  Philosophie  abzuweisen, 
die  ihre  Ueberordnung  über  die  Religion  wissenschaftlich  nicht 
beweisen  kann  und  deshalb  vor  ihrem  eigenen  Tribunal  verur- 
theilt  wird;  dagegen  steht  nichts  im  Wege,  die  reine  und  voll- 
kommene Religion  auch  mit  dem  ihr  zugeordneten  reinen  und 
vollkommenen  Wissen  zusammenzuschliessen,  wie  ebenfalls  eine 
adäquate  Gemüthstimmung  und  ein  reiner  und  vollkommener 
Cultus  ihr  zugehört.  Die  wahre  Philosophie  stiftet  also  keinen 
Gonflict,  sondern  giebt  einem  Jeden,  was  ihm  zugehört,  und  kann 
darum  in  Gerechtigkeit  mit  der  Religion  sich  vertragen  und  in 
einem  versöhnten  und  mit  sich  einigen  Gemüthe  wohnen.     Der 

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486  Pantheismns  des  Gedankens. 

Idealismus  aber  ist  von  der  Gnosis  unabtrennbar  und  deshalb 
immer  principiell  der  Religion  feindlich,  wenn  dies  auch  ver- 
schleiert wird,  wie  bei  Schleiermacher,  der  das  Gefühl  zwar  als 
Quelle  der  Religion  auffasste,  in  dem  Gefühle  aber  thörichter 
Weise  auch  schon  das  Erkennen  eingeschlossen  wähnte  und 
deshalb  in  seiner  Dogmatik  arglos  von  dem  Spinozistischen  und 
Platonischen  Idealismus  ausging,  wodurch  seine  ganze  Theologie 
zu  einem  Centaur  wurde  und  nach  beiden  Seiten  hin  inuner  Un- 
redlichkeiten begehen  musste,  da  die  vermummte  Religion  bald 
als  Gefühl  ihr  frommes  Antlitz,  bald  die  Homer  der  Gnosis 
sehen  liess. 


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Zweites  Kapitel. 
Der  zugehörige  Cnltns. 


Wenn  wir  das  wesentliche  Motiv  des  speculatiren  Idealismus 
mit  seinem  in  der  theoretischen  Function  liegenden  Schwerpunkte 
richtig  verstanden  haben,  so  folgt  daraus  mit  Sicherheit,  dass 
diese  Religionsform  keinerlei  äusseren  Cultus  erfordert,  da  kein 
äusserer  Gott  vorhanden  ist.  Es  dreht  sich  deshalb  alles  Thun 
des  Idealisten  darum,  aus  den  ihm  aufgenöthigten  Sorgen,  für 
das  sinnliche  Leben,  für  seine  Person  und  ihre  Stellung  in  der 
Gesellschaft  möglichst  bald  und  möglichst  oft  auftauchen  zu 
können,  wie  aus  anhängendem  unreinem  Schlamm,  in  die  sonnen- 
reiche Region  des  Gedankens,  um,  wie  man  sich  ausdrückt, 
in  dem  reinen  Aether  des  Gedankens  zu  athmen  und  zu  leben. 
Alle  anderen  Functionen  des  Geistes,  das  Gefühl,  die  Aeusse- 
rungen  der  Thatkraft  und  deren  zugehörige  Vorstellungen  und 
ihre  Componenten  werden  also  für  irdisch,  niedrig,  thierisch  oder 
auch  bloss  menschlich  erklärt;  das  reine  speculative  Denken 
allein  für  göttlich.  Mithin  besteht  der  Cultus  bloss  im  Denken, 
in  welchem  das  Ich,  das  sich  entweder  bloss  als  physisches  Indi- 
viduum, d.  h.  als  Erscheinung,  oder  als  subjective  Seite  des 
ideellen  Inhalts  kennt,  verschwinden  muss. 

Ebensowenig  wie  ein  äusserer  Cultus  kann  aus  diesem  reli- 
giösen Zustande  irgend  ein  Antrieb  zu  sittlichem  Leben  oder  zu 
einer  Art  von  Kunstthätigkeit  entspringen;  denn  diese  Gebiete 
des  geistigen  Lebens  werden  eben  in  den  Gedanken  aufgehoben, 
und  so  kann  kein  Motiv  vorhanden  sein,  aus  dem  Höheren  und 
Besseren  wieder  zum  Niedrigeren  und  Schlechteren  tiberzugehen. 


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488  Pantheismus  des  Gedankens. 

Torzüglich  da  dieses  aueh  nieht  Denkthätigkeiten  sind,  in  welchen 
diese  Religion  allein  besteht.  Es  ist  darum  natürlich,  dass  die 
speculatiyen  Idealisten  sich  aus  dem  praktischen  und  künst- 
lerischen Leben  zurückziehen  und  immer  zu  einem  Eremitenleben 
neigen,  sofern  ihre  Natur  mehr  oder  weniger  rein  dem  Typus 
dieser  Religionsform  entspricht.  Schon  Aristoteles  hat  dies  in 
seiner  Nikomachischen  Ethik  erkannt. 

piaton  ***^  ^^^  ^^^  dieser  Gelegenheit  wieder   den 

unddiennreinen    spccifischen    Charakter    meiner   Methode    beachten 

Formen.  müsscn;  dcnu  wenn  wir,  um  das  Wesen  dieser 
Religionsform  zu  studiren,  die  historisch  vor  uns  liegenden 
Lebensweisen  und  Werke  der  Idealisten  zu  Grunde  legen  wollten, 
so  würden  wir  in  eine  unsägliche  Verwirrung  gerathen,  da  natür- 
lich die  einzelnen  historischen  Individuen  alle  möglichen  Mischun- 
gen der  Begabung  zeigen  und  darum  ein  wahres  Kaleidoskop, 
nicht  aber  eine  feste  und  ein  für  alle  mal  bestimmte  Ordnung 
der  geistigen  Functionen  uns  vor  Augen  stellen  können. 

So  z.  B.  ist  Piaton  zwar  ein  Hauptrepräsentant  des  Idealis- 
mus; nichtsdestoweniger  war  er  so  reich  begabt,  dass  wir  ihn 
auch  bei  Gelegenheit  des  Staatsenthusiasmus  berücksichtigen 
mussten.  Und  was  den  Cultus  betrifft,  so  ordnet  er  nicht  nur 
für  die  ganze  unphilosophische  Gesellschaft  die  ihr  zukommende 
Gottesverehrung,  sondern  er  hat  auch  seinen  specifisch  Platonischen 
Cultus  in  der  erlösenden  oder  Platonischen  Liebe.  Er  verlangt, 
die  durch  die  Dialektik  in  den  Himmel  Aufgestiegenen  sollten 
wieder  vom  Licht  in  das  Dunkel  der  Erde  zurückkehren,  um 
die  armen  und  verirrten  Gefangenen  ebenfalls  nach  Möglichkeit 
zu  befreien,  zu  erlösen  und  zum  Lichte  der  Wahrheit  zu  führen. 
Die  ganze  Erlösungslehre  (Soteriologie)  Platon's  stammt  aber 
nicht  aus  dem  Idealismus,  d.  h.  aus  der  Arbeit  der  theoretischen 
Geistesftinction,  in  welcher  dergleichen  nicht  vorkomimen  kann, 
sondern  aus  seiner  ganzen  harmonischen  Anlage,  in  welcher  noch 
bessere  Elemente  stecken,  als  in  seinem  System;  denn  diese 
Erlösungslehre  findet  ihren  wissenschaftlich  berechtigten  Platz 
erst  im  Christenthum  und  hängt  nur  mit  Piaton,  aber  nicht  mit 
dem  Piatonismus  zusammen.  Bei  Piaton,  dem  Menschen,  hat 
die  Persönlichkeit,  die  Freundschaft,   die  erlösende  Liebe  und 


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Cultus.  489 

die  staatsbildende  Gemeinschaft  eine  wichtige  Stelle;  in  dem 
Flatonismus  aber  ist  dafür  kein  wissenschaftlicher  Ort  denkbar; 
denn  in  der  Erkenntniss  der  Idee  erlischt  das  Ich  vollständig, 
und  es  giebt  nach  dem  Idealismus  nur  einen  Trieb  und  eine 
Liebe  zur  Erkenntniss,  also  nur  einen  Weg  aufwärts  zum  Lichte 
der  Wahrheit,  aber  keinen  Rückweg,  weil  nichts  da  unten  für 
die  Erkenntniss  einen  Werth  haben  kann,  und  weil  die  Persön- 
lichkeit nicht  mit  zum  Himmel  fährt,  sondern  nur  ihre  theoretische 
Function,  welcher  allee  dient  und  in  welche  sich  das  Universum 
als  in  sein  Ziel  (ou  evexa)  auflöst. 


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Drittes  CapiteL 
Die  zugehörige  Dogmatik. 


Alles  Bisherige  muss  nun  deutlicher  werden,  wenn  wir  zu 
der  Dogmatik,  in  welcher  der  Schwerpunkt  dieser  Religionsform 
liegt,  tibergehen;  denn  da  in  der  Religion  überhaupt  die  drei 
geistigen  Functionen  in  Coordination  stehen,  so  wird  der  spe- 
cifische  Charakter  der  zugeordneten  Functionen,  der  durch  die 
tonangebende  Function  bestimmt  wird,  immer  erst  dann  voll- 
ständig erkannt  werden,  wenn  das  Fundament  einer  solchen  Coor- 
dinationsgruppe  gelegt  ist.  Wie  aber  bei  den  fünf  verschiedenen 
Formen  des  Pantheismus  der  That  das  Fundament  in  dem  han- 
delnden Vermögen  des  Geistes  liegt  und  bei  der  zweiten  Gattung 
in  dem  Gefbhl,  so  bei  dieser  dritten  Gattung  in  dem  Erkenntniss- 
vermögen. Also  kommt  es  hier  auf  den  Inhalt  der  Gedanken 
in  erster  Linie  an,  d.  h.  auf  die  Dogmatik. 

Es  ist  daher  interessant  zu  bemerken,  dass  unter 
derwtweMchaft-  allcu  Religionen  hier  zum  ersten  Male  eine  wissen- 
uchen  schaftliche  Dogmatik  auftritt.  Die  beiden  pro- 
Theoiogie.  jectivischen  Religionen  haben  eine  so  unreife  Theo- 
logie, dass  es  dem  Atheisten  leicht  wird,  sie  zu  widerlegen;  der 
Atheismus  selbst  ist  bloss  negativ  und  besitzt  daher  keine  Aus- 
bildung der  Vernunft  und  keine  systematische  Darstellung  des 
Vernunftinhalts.  Die  erste  Gattung  des  Fantheismus  ist  auf  das 
sogenannte  Praktische  gerichtet  und  hat  keine  Müsse  zur  Specu- 
lation-,  die  zweite  Gattung  aber  ist  trunken  in  ihrem  Gefühl  und 
verachtet  die  Mtihe  des  Nachdenkens,  das  doch  erst  im  Gefühl 
zu  seinem  Zwecke  und  zur  Vollendung  konmie.  So  sehen  wir, 
wie  natürlich  es  ist,  dass  erst  mit  dem  theoretischen  Pantheismus 
auch  die  wissenschaftliche  Theologie  ihren  Anfang  nimmt. 

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Dogmatik.  491 

Man  muss  sich  dies  Resultat  ganz  klar  machen  und  fest 
einprägen,  weil  es  einen  weiten  Blick  in  alle  die  früheren  reli- 
giösen Coordinationsgruppen  gewährt  und  viele  Fragen  sofort 
löst  So  weiss  man  dadurch,  z.  B.,  warum  es  unmöglich  ist,  in 
der  griechischen,  römischen, ''aitindischen  und  anderen  heidnischen 
Religionen  bestimmte  Antworteh  auf  die  Fragen  nach  den  Eigen- 
schaften und  dem  Wesen  der  verschiedenen  Götter  zu  erhalten, 
auf  die  Frage,  warum  dasselbe  Werk  bald  von  diesem,  bald  von 
jenem  Gott  gethan  wird,  warum  die  Götter  kein  festes  System 
bilden  und  keine  mit  der  Vernunft  erfassbare  Ordnung  ihrer 
Gemeinschaft  innehalten  können.  Man  weiss  dadurch,  weshalb 
in  dem  ganzen  alten  Testament  keine  feste  Theologie  vorkommt, 
weshalb  unzählige  theologische  Fragen  über  die  Jehovahreligion 
nicht  unmittelbar  aus  den  Quellen,  sondern  erst  durch  uns  und 
zwar  durch  indirecte  Schlüsse  und  Interpretationskünste  beant- 
wortet werden  können;  weshalb  ebenso  der  Buddhismus  keine 
Dogmatik  hat,  und  der  Islam  erst  später  durch  griechische  und 
zwar  meist  pantheistische  Gelehrsamkeit  zu  einem  dogmatischen 
System  kam;  weshalb  die  Pietisten  und  Mystiker  und  die  übrigen 
Pantheisten  alle  nur  die  dürftigsten  und  haltlosesten  Voraus- 
setzungen über  Gottheit  und  Welt  und  Seele  und  Zeit  und  Zweck 
u.  s.  w.  gelegentlich  vortragen,  und  weshalb  es  zwar  leicht  ist, 
sie  durch  Disputation  aus  dem  Sattel  zu  heben,  schwer  aber, 
wenn  nicht  unmöglich,  sie  von  ihrem  Wege  abzubringen. 

Die  wissenschaftliche  Theologie  hat  daher  ihren  Platz  nur 
in  dem  theoretischen  Pantheismus  und  im  Ghristenthum,  welches 
harmonisch  alle  geistigen  Kräfte  in  Anspruch  nimmt.  Kritisch 
und  negativ  aber  treibt  auch  der  Atheismus  theologische  Arbeiten 
hervor,  die  nach  dieser  Seite  hin  nützlich  sind,  nach  der  posi- 
tiven Seite  freilich  nur  taube  Nüsse  bieten. 

Wer  nun  die  eigenthündiche  Kraft  der  hier  angewandten 
Methode  ausser  Augen  lässt  und,  wie  man  dies  bisher  pflegte, 
unbesonnen  oder  mit  arglosem  Empirismus  argumentirt,  der  könnte 
gleich  scheinbare  Gelehrsamkeit  anfahren  und  uns'  beweisen 
wollen,  dass  die  Talmud-Juden  und  die  modernen  jüdischen 
Philosophen,  ebenso  wie  die  Buddhisten,  doch  eine  wissenschaft- 
liche Dogmatik  ausgebildet  hätten.  Wir  werden  aber  ihre 
Bruttogewichte  nicht  anerkennen,  sondern  erst  die  Kisten  öffnen, 
um  die  Netto- Werthe  zn  bestimmen.    Dann  zeigt  sich  ganz  deut- 

u.quizeauy  Google 


492  Pantheismus  des  Gedankens. 

lieh,  daBs  der  speeulativ-dogmatisehe  Buddhismus  seinen  eigen- 
thümliehen  Charakter  ganz  verliert  und  zu  einer  brahmanisehen 
Sekte  wird.  Ebenso  sind  die  speculativen  Religionsphilosophen 
der  Juden  theils  reine  Philosophen  der  Aristotelischen  Schule, 
wie  Maimonides,  theils  Spinozisten,  oder  Herbartianer  oder  sonst 
Anhänger  eines  mit  dem  Judenthihn  nicht  nothwendig  zusammen- 
hängenden Systems;  jedenfalls  weht  in  solcher  Dogmatik  keine 
Spur  mehr  von  dem  ächten  Israelitischen  Rechtsgotte,  der  zu- 
gleich der  Furcht-  und  Rachegott  ist.  Darum  bleibt  es  dabei, 
dass  die  durch  Analyse  ein  für  alle  Mal  festgestellten  Religions- 
formen ihren  unveränderlichen  Charakter  haben  und  durch  nichts 
in  der  Welt,  durch  keine  Culturfortschritte  und  durch  keine 
Reibung  und  Concurrenz  mit  anderen  Religionsformen  auch  nur 
die  geringste  Modification  erleiden.  Wir  haben  ja  mit  den  ein- 
fachen Formen  zu  thun  und  wissen,  dass  der  Würfel  niemals 
eine  Pyramide  oder  ein  Kegel  wird.  Die  empirisch  gegebenen 
Religionen  aber  sind  immer  gemischt,  erstens  weil  sie  von 
Menschen  verschiedener  Begabung  bekannt  werden,  zweitens  weil 
bei  ihrem  Aufkonmien  immer  heterogene  Factoren  zusammen- 
wirken, drittens  weil  sie  sich  von  Geschlecht  zu  Geschlecht  auf 
immer  andere  Menschen  tibertragen  und  dort  immer  mit  neuen 
geistigen  Elementen  anderer  Art  zusammentreflfen,  so  dass  der 
Complex  des  gegebenen  religiösen  Coordinatensystems  durch  die 
neuen  Elemente  verunreinigt,  umgestaltet,  ja  ganz  aufgelöst 
werden  kann.  Alle  diese  Entwickelungen,  Entartungen,  Ver- 
setzungen und  Zersetzungen  kann  man  aber  erst  wissenschaftlich 
verstehen,  wenn  man  die  chemisch  reinen  Elemente  und  ihre  un- 
veränderlichen Coordinaten  kennt.  Darum  ist  die  hier  gegebene 
neue  Religionsphilosophie  auch  ein  unentbehrliches  Instrument, 
um  die  Diagnose  der  positiven  Religionen  zu  stellen  und  durch 
Reagentien  ihre  Natur  zur  Evidenz  zu  bringen  und  ihren  Werth 
oder  Unwerth  zu  bestimmen. 


§  1.     Die  alterthümliclie  Form  des  Idealismus. 
Der  Idealismus   ist   zuerst  durch  Piaton  vollständiger  aus- 
gebildet und  wird  deshalb  auch  häufig  schlechthin  Piatonismus 
genannt.    Wir  sahen  aber  schon,  dass  sich  in  der  Persönlichkeit 
Platon's  verschiedene  Elemente  mischten  und   dass  wir  daher 

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Dogmatik.  493 

hier  nur  die  reine  Form  des  Idealismus  ohne  die  anhängenden 
heterogenen  Elemente  zur  Darstellung  bringen  müssen.  Ich 
werde  deshalb  nicht  die  ganze  Platonische  Lehre  vortragen, 
sondern  möglichst  diejenige  Seite,  die  eigentlich  idealistisch  ist, 
absondern,  weil  uns  ja  hier  das  Platonische  nicht  als  Platonisches, 
sondern  nur  als  Specimen  des  Idealismus  interessiren  kann.  Zu 
grösserer  Deutlichkeit  wird  es  dienen,  wenn  wir  zuerst  die  alter- 
thümliche  Form  des  Idealismus,  wie  sie  sich  bei  den  hellenischen 
Philosophen  vor  der  kritischen  Periode  ausbildete,  in's  Auge 
fassen,  weil  sich  in  dieser  archaischen  Form  die  zugehörigen 
BegriflFe  in  ihrem  ursprünglichen  und  naiven  Typus  zeigen,  und 
der  Uebergang  zu  der  durch  die  Erkenntnisstheorie  vermittelten 
zweiten  Form  des  Idealismus  um  so*  durchsichtiger  wird.  Da 
Piaton  selbst  aber  auch  vielfältig  die  alte  projective  Auffassung 
vorträgt,  so  ist  die  Gränzlinie  zwischen  beiden  Formen  nicht 
leicht  zu  ziehen,  und  es  kommt  ans  hier  auch  nicht  auf  eine 
genaue  historische  Darstellung  an,  sondern  nur  auf  die  Verhält- 
nisse der  Begriffe. 

Der  Gesichtspunkt  aber,  der  meine  ganze  Darstellung  be- 
herrscht, darf  nicht  im  Dunkel  bleiben.  Es  kommt  nämlich  Alles 
darauf  an,  wahrzunehmen,  wie  der  Idealismus  immer  und  noth- 
wendig  dahin  drängt,  die  ganze  Welt  in  eine  Erkenntnissfunction 
aufzulösen  und  deshalb  die  Weisheit  (Philosophie)  für  diejenige 
Offenbarung  des  Wesens  aller  Dinge  zu  erklären,  welche  selbst 
zugleich  das  Wesen  aller  Dinge  ist,  so  dass  Subject  und  Object 
in  der  Erkenntnissfunction  verschwindet. 

Nun  ging  das  wissenschaftliche  Bestreben  zunächst  Materie 
empirisch  auf  die  Erkenntniss  der  in  der  Anschauung  und  wee. 
gegebenen  Welt  aus,  und  es  liess  sich  leicht  bemerken,  dass  in 
den  Erscheinungen  der  Dinge  ein  immerwährender  Wechsel  statt- 
findet. Diesen  Wechsel  konnte  man  aber  nur  erkennen,  wenn 
man  die  frühere  Form  in  der  Erinnerung  hatte;  hierdurch  lösten 
sich  die  Formen  von  den  wechselnden  Trägern  derselben  ab. 
Da  der  Mensch  nun  auch  selbst  in  die  Wirklichkeit  eingriff  und 
gewisse  Erscheinungen  mit  bestimmten  Formen  künstlerisch  und 
technisch  hervorbrachte,  so  lag  es  nahe,  das  was  die  Formen 
trägt  und  an  sich  hat,  nach  der  Analogie  mit  der  Tektonik  als 
Bauholz  (üXt]  Materies)  zu  bezeichnen.  Wie  aus  dem  Holze  die 
gebräuchlichen   Gegenstände   hergestellt  wurden,   so   legte   man 

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494  Pantheismus  d^  Gedankens. 

jeder  erscheinenden  Form,  den  Thieren,  Pflanzen,  Menschen  u.  s.  w. 
einen  Stoff  oder  eine  Materie  zu  Grunde.  Da  aber  die  Erschei- 
nungen der  Dinge  wechselten,  während  die  Formen  in  der  Er- 
innerung feststanden,  so  musste  die  Materie  als  veränderlich 
angenommen  werden.  Und  da  die  Natur  aus  derselben  Materie 
alles  Mögliche  machte,  so  nahm  man  an,  dass  die  Materie  ihrem 
Wesen  nach  unbestimmt  und  ohne  alle  Eigenschaften  sei,  bloss 
fähig,  jede  Form  aufzunehmen  und  zu  Allem  zu  werden.  Ebenso 
zeigte  sich,  dass  die  Erscheinungen  in  einander  übergingen, 
Holz  z.  B.  sich  in  Feuer,  Rauch,  Asche  verwandelte,  Wasser  in 
Luft  u.  s.  w. :  man  nahm  deshalb  an,  dass  allen  Formen  ein  und 
derselbe  Stoff  (Materie)  zu  Grunde  liege,  und  erweiterte  diesen 
Begriff  auf  die  ganze  Welt,  so  dass  nun  die  Welt  aus  zwei 
Elementen  bestand,  aus  Materie  und  Form.  Für  die  Form  adop- 
tirte  Piaton  den  von  den  Hippokrateern  gebrauchten  Ausdruck 
Idee  (IS^a  oder  sI8o<;). 

Die  Form  oder  Idee  hing  aber  immer  an  ihrer 
und  todwiduen.    Matcric,  wic  der  Stuhl  am  Holz.    Nun  zeigte  die 

Beobachtung  jedoch,  dass  dieselbe  Form  in  vielen 
Erscheinungen  vorkomme,  wie  viele  Menschen,  viele  Pferde, 
Feigen  n.  s.  w.  in*s  Auge  fielen.  Also  löste  sich  die  in  der 
Erinnerung  festgehaltene  Form  von  den  einzelnen  Erscheinungen; 
denn  bei  jeder  wurde  dieselbe  Form  prädicirt:  „auch  dies  und 
dies  und  dies  ist  ein  Mensch,  ein  Pferd"  u.  s.  w.  Mithin  musste 
man  nun  die  Idee  von  den  Individuen  scheiden.  Die  Idee  wurde 
also  das  Wesen  (oooCa)  der  Dinge,  d.  h.  dasjenige,  was  das 
Ding  sei,  und  die  Individuen  wurden  zu  den  wechselnden,  ent- 
stehenden und  vergehenden  Erscheinungen,  die  durch  Gegen- 
wart (Parusie)  oder  Abwesenheit  (Apusie)  der  Idee  sind  oder 
nicht  sind. 

Mithin  flössen  die  Individuen  mit  der  Materie 
^°^Materie.'*°^    zusammcu,   da   sich   die   Idee  von  ihnen   abgelöst 

hatte.  Ein  Individuum  hat  keinen  Bestand;  es  wird 
dadurch,  dass  die  Materie  unter  gewissen  Bedingungen  eine 
Form  (Idee)  aufnimmt  (Individuation),  und  es  stirbt  und  vergeht, 
wenn  die  Materie  sich  in  eine  andere  Form  verwandelt.  Alle 
Individuen  scheinen  deshalb  bloss  etwas  Selbständiges  zu  sein, 
und  an  diesem  Schein  des  augenblicklichen  Daseins  hängt  der 
sinnliche  und  mit  Begierden  erftilite  Mensch,   bis  der  Tod  oder 


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ö'" 


Dogmatik.  495 

die  Krankheit  und  allerlei  Schicksale  die  Gegenstände  seiner 
Lust  nnd  Begier,  seiner  Furcht  und  Hoffnung  verändern  oder 
vernichten  und  zuletzt  auch  ihn  ans  der  Welt  verschwinden 
lassen.  Immer  aber  bleibt  die  Materie,  weil  immer  neue  Er- 
scheinungen hervorkommen,  für  die  man  doch  die  Materie  nach 
der  Analogie  mit  der  Kunst  vorausgesetzt  hatte. 

Die  Materie  selbst  aber  ist  schlechterdings  nichts    Gemeinschaft 
Bestimmtes,  sie  würde  sonst  bloss  eine  Erscheinung      von  idee 
sein,  oder  es  liesse  sich  nichts  anderes  mehr  aus  ihr    ''"^  Matene. 
machen.     Sie  ist  ihrem  Wesen  nach  Nichts   und  darum  sind 
alle  Dinge  oder  Erscheinungen  ihrem  Wesen  nach  nichtig,  weil 
sie  aus  dem  Nichts  stammen  und  in's  Nichts  zurückkehren. 

Ebenso  schlimm  ergeht  es  aber  auch  der  Idee;  denn  was  soll  sie 
sein,  wenn  sie  in  keiner  Erscheinung  zu  Tage  tritt,  wenn  sie  nicht 
in  und  durch  die  Materie  wirkt  und  sich  offenbart?  Da  dies  nun 
wirklich  immerfort  geschieht,  wie  uns  alle  Erfahrung  zeigt,  dass 
die  Welt  immer  da  ist,  so  muss  von  den  Idealisten  angenommen 
werden,  dass  die  Materie  auch  mit  der  Idee  in  Gemeinschaft 
(xotvtovta)  steht,  in  der  Art,  dass  die  Idee  das  Wesen  der  Materie 
bildet  und  die  Materie  das  geheinmissvolle  Offenbarungsmittel 
und  der  Daseinsquell  der  Idee  sei.  Beide  müssen  deshalb  unzer- 
trennlich nnd  ewig  zusammengehören  und  doch  wieder  dem 
Ursprung  der  beiden  Begriffe  gemäss  auch  wieder  einander  ent- 
gegengesetzt sein. 

Bis  soweit  merken  wir  nun  von  dem  specifischen 
Wesen  des  Idealismus  so  gut  wie  nichts;  denn  wenn   ^,nd  Mansch 
die  Welt,  den  Menschen  eingeschlossen,  bloss  durch 
gewisse,  nach  Aussen  projicirte,   Begriffe,   wie  Stoff  und  Form, 
gedacht  wird,  so  scheint  umgekehrt  unsere  Erkenntnissfunction 
(welche  doch  im  Idealismus  Ein  und  Alles  ist)  vollständig  zu 
verschwinden  oder  überhaupt  noch  gar  nicht  zu  Bewusstsein  zu 
kommen.    In  der  That  spielt  sie  in  dem  alterthümlichen  Idealismus 
nur  die  bescheidene  Rolle   eines  Geistes  hinter  den  Coulissen, 
der   zwar    den   Zusammenhang    der   ganzen   Handlung  bedingt, 
selber  aber  nicht  sichtbar  wird.    Doch  konnte   es   nicht  fehlen, 
dass   der  Angelpunkt,   um  welchen   sich   der   ganze  Idealismus 
dreht,   wenigstens   in  seiner  Projection   auf  der  Bildfläche  des 
Welttheaters  erschien,  und  dies  wollen  wir  jetzt  noch  erörtern. 

Die  Gemeinschaft  von  Stoff  und  Form,   welche  der  Idealis- 

uiymzeu  uy  "V-j  vyVjVt  Iv^ 


496  Pantheismus  des  Gedankens. 

mus,  wie  wir  sahen,  fordern  mas8te  (Postulat),  war  nämlich  in 
deutlichen  Begriffen  nicht  voUziehbar,  und  doch  musste  man  daiUr 
eine  Veranschaulichung  in  demjenigen  Wesen  suchen,  welches 
selbst  diese  Forderung  stellt,  sich  selbst  am  Besten  kennt  und 
im  Stillen  immer  zuerst  an  sich  denkt,  wenn  es  etwas  Fremdes 
verstehen  will.  So  finden  wir  denn  auch,  dass  man  von  Anfang 
an  dazu  kam,  das  Leben,  die  Seele  und  den  Geist,  die  sich  in 
dem  Menschen  und  in  den  Thieren  zeigte,  als  die  Form  aufzu- 
fassen, und  da  die  Seele  nichts  Stoffliches  ist  und  dennoch  un- 
aufhörlich mit  dem  Körper  zusammenhängt  und  den  Körper  in 
seinen  Bewegungen  regiert,  die  gesammte  Materie  der  Welt  als 
durchdrungen,  beseelt  und  beherrscht  von  dem  idealen  Princip, 
von  der  Seele  oder  dem  Geist,  der  die  Form  bildet,  vorzustellen. 
So  nannten  sie  die  Welt  ein  Thier  (c^ov)  oder  ein  lebendiges 
Wesen,  und  das  ideale  Element  darin  den  Gott.  Dieser  hylo- 
zoistische  Pantheismus  findet  sich  schon  bei  Thaies  und  wurde  bei 
Piaton  nur  feiner  durchgefiihrt,  obwohl  die  Grundanschauung  blieb. 

Der  Idealismus  musste  aber  das  Geheimniss  seines  Ursprungs 
noch  deutlicher  merken  und  verrathen;  denn  wenn  der  Mensch 
auch  nur  als  Eine  von  den  vielgliedrigen  Erscheinungen  der 
Welt  galt,  so  stellte  man  ihn  doch,  obwohl  das  Göttliche  in  allen 
Gliedern  der  Natur  wirkte,  dem  herrschenden  Geiste  am  Nächsten, 
und  zwar  offenbar  um  so  näher,  je  höher  er  durch  Erkenntniss 
sich  hob.  Darum  finden  wir  bei  den  Pantheisten,  bei  Heraklit, 
Empedokles  und  Andern  schon  überall  die  Vorstellung,  dass  die 
Götter  zu  Menschen  werden  und  die  Menschen  zu  Göttern,  dass 
die  erkennende  Vernunft  das  reine  und  trockene  Licht  ist, 
welches  in  der  Sonne  leuchtet,  den  Himmel  beherrscht  und  Alles 
erkennt.  Der  Mensch  glaubte  demgemäss  in  seiner  Erkenntniss- 
function,  in  der  Vernunft  (voö<;,  X(5ifo<;),  den  Grund  seiner  Gott- 
verwandtschaft und  Göttlichkeit  zu  erkennen. 

Man  konnte  sich  aber  natürlich  weder  von  Gott,  noch  von 
dem  Verhältniss  der  Menschen  zu  ihm  klare  Begriffe  bilden,  und 
so  wurde  Gott  als  das  Göttliche  (^elov)  unbestimmt  aufgefasst, 
und  der  entstehende  und  vergehende  Mensch  als  vorübergehende 
Erscheinung  des  Göttlichen,  welches  gewissermassen  stirbt,  wenn 
es  in  der  Materie  als  Mensch  geboren  wird,  und  lebt,  wenn  der 
Mensch  zu  Geist,  Vernunft  und  Wissenschaft  kommt  oder  wenn 
er  wieder  mit  dem  Tode  sich  in  sein  göttliches,  bisher  verhülltes 

Element    auflöst.  u,yu,zeaüy^v.v^^L^ 


Dogmatik.  497 

§  2.    Der  Platonisclie  Idealismus. 

Der  Idealismus  konnte  nun  seine  eigentliche  Natur  nur  erreichen, 
wenn  das  Yerhältniss  der  erkannten  Welt  zu  dem  erkennenden 
Subject  untersucht  wurde,  d.  h.  nur  nach  der  sokratisch-sophisti- 
schen  Periode.  Man  muss  sich  aber  hüten  zu  glauben,  als  wenn 
nun  ein  subjectiver  Idealismus  hätte  aufkommen  müssen;  denn 
dieser  kann  überhaupt  nur  eine  vorübergehende  Betrachtungs- 
weise, einen  kurzen  Rausch  bilden,  aber  weder  in  einer  Schule, 
noch  in  einem  einzelnen  Philosophen  dauernden  Beifall  finden, 
da  in.  jedem  remünftigen  Menschen  die  Anerkennung  des  selb- 
ständigen Seins,  des  eigenen,  wie  des  fremden  ausser  ihm  unver-. 
meidlich  ist.  Ebensowenig  konnte  sich  ein  rein  kritischer  Idealismus 
halten,  sondern  von  Piaton  an  bis  auf  Hegel  und  seine  modern- 
sten Ausläufer  hin  wurde  alsbald  der  archaische  projective 
Idealismus  mit  der  kritischen  Auffassung  verschmolzen,  so  dass 
historisch  keine  reine  Formen  anzutreffen  sind.  Es  interessirt 
uns  hier  deshalb  auch  nicht,  eine  solche  reine  Form  ausführlich 
zu  construiren,  da  sie  annähernd  in  Kaufs  Kritik  der  reinen 
Vernunft  vorliegt;  vielmehr  genügt  es,  diejenigen  Elemente  her- 
auszuheben, welche  die  ganze  Goordination  der  zugehörigen 
Begriffe  bestimmen  und  zugleich  das  Licht  in  den  historisch 
gegebenen  Systemen  bilden. 

Ich  verstehe  nun  unter  dem  Platonischen  Idealismus  die- 
jenige Weltansicht,  welche  sich  des  Ursprungs  des  archaischen 
Typus  kritisch  bewusst  geworden  ist  und  deshalb  klar  und  be- 
stimmt darauf  ausgeht,  die  ganze  Welt  als  Subject  und  Object 
in  die  blosse  Erkenntnissfunction  aufzulösen.  Diese  Gedanken- 
bewegung müssen  wir  wenigstens  in  einigen  grossen  deutlichen 
Zügen  skizziren. 

Das  Neue  in  dem  Platonischen  Standpunkt  gegenüber  dem 
alterthümlichen  Idealismus  besteht  zunächst  in  der  erkenntniss- 
theoretischen Beachtung  der  Goordination  zwischen  Object  und 
Subject,  wonach  sich  die  Welt  in  zwei  Sphären  scheidet,  in  die 
Sinnenwelt  (yatvöjjLsva,  mundus  sensibilis)  und  in  die  Vernunft - 
weit  (voo6|isva,  mundus  intelligibilis),  jenachdem  die  Objecte 
durch  die  Sinnlichkeit  oder  durch  die  Vernunft  dargeboten  und 
erkannt  werden.  Piaton  will  nun  aber  nicht  etwa  die  ganze 
objective  Welt  bloss  für  eine  Illusion,  für  eine  Projection  der  in      , 

Teiohmüller,  BellgionspliüoBophie.  ui92^eu  uy  ^^OOgiC 


498  .  Pantheismus  des  Gedankens. 

unserer  Sinnlichkeit  und  in  unserer  Veraunft  gegebenen  Vor- 
stellungen und  Erkenntnissformen  erklären  und  nach  Art  des 
subjectiven  Idealismus  dieses  ausser  uns  nicht  vorhandene  Ob- 
ject  wieder  in  uns  zurücknehmen,  sondern  er  bleibt,  wie  der  in 
der  neueren  Zeit  sogenannte  absolute  Idealismus,  bei  der  Ueber- 
zeugung  stehen,  dass  die  projective  äussere  Welt  wirklich  vor- 
handen ist,  indem  er  sich  nur  dadurch  von  der  alterthümlichen 
Auflfassungsweise  unterscheidet,  dass  er  die  Correlation  zwischen 
der  subjectiven  und  objectiven  Seite  betont  und  also  das  Auge 
beständig  auf  die  Erkenntnissfunction  richtet.  Deshalb  muss  die 
subjective,  d.  h.  die  erkennende  Seite  von  demselben  Wesen 
•  sein,  wie  jedesmal  das  zu  erkennende  Object  beschaffen  ist, 
wenn  die  Erkenntniss  möglich  sein  soll;  denn  wäre  eins  von 
beiden  in  irgend  einem  Punkte  verschieden,  so  würden  wir  ja 
mit  unserer  subjectiven  Seite  den  objectiven  Inhalt  nicht  er- 
fassen. 

Daraus  folgt,  dass  die  Sinnlichkeit  etwas  Materielles  ist, 
oder  mit  dem  Körper  verwachsen  bleibt,  oder  in  den  Organen 
des  Leibes  sitzt,  weil  sie  Materielles  erkennen  soll,  und  dass  die 
Vernunft  andererseits  rein  und  möglichst  immateriell  werden 
muss,  weil  sie  das  Immaterielle  und  Reine  (stXtxpiv^«;)  zu  erkennen 
hat.  Die  ganze  Seele  aber,  welche  beide  Erkenntnissver- 
mögen, d.  h.  Sinnlichkeit  und  Vernunft,  in  sich  schliesst,  muss 
darum  einerlei  sein  mit  dem  Wesen  der  ganzen  objectiven  Welt, 
der  Mikrokosmos  mit  dem  Makrokosmos. 

Da  sich  nun  Alles  bei  Piaton  um  die  Erkenntnissfunction 
dreht,  so  müssen  die  wichtigsten  Dinge  natürlich  unerklärt  bleiben 
oder  missdeutet  werden,  weshalb  er  weder  von  Gott,  noch  von 
Seele,  Religion,  Materie,  Gefühl  oder  Willen  und  Bewegung  eine 
befriedigende  Erklärung  geben  kann  und  darum  auch  das  Er- 
kennen überhaupt  und  die  Vernunft  selbst  nicht  recht  zu  stellen 
weiss,  weil  er  fllr  sie  den  zugehörigen  Ort  in  dem  Coordinaten- 
system  unserer  geistigen  Functionen  nicht  gefunden  hat. 

Was  zunächst  die  Materie  betrifft,  so  blieb  sie  ihm,  wie 
allen  Idealisten,  nur  definirbar  als  die  Möglichkeit,  zu  Vor- 
stellungen und  sinnlichen  Formen  zu  kommen;  denn  an  sich 
musste  sie  ja  Nichts  ((itj  Sv)  sein,  da  das  Etwas  erst  anfangt, 
wenn  Etwas  erkannt  wird,  weil  ohne  Correlation  der  objectiven 
und  subjectiven  Seite  nichts  ist.    Mithin  ist  die  Materie  unseres 

uiuiüzeu  uy  "V-j  vy\J>t  Iv^ 


Dogmatik.  499 

Körpers  ihrem  Wesen  nach  durch  die  Functionen  der  Sinnlich- 
keit zu  bestimmen  und  die  Materie  der  Körper  ausser  uns  durch 
dieselben  Sinnesperceptionen  als  objective  gedacht.  Die  materielle 
Welt  ist  darum  nur  verborgene  Sinnlichkeit. 

Die  Vernunft  aber  mochte  Piaton  nicht  von  der  Materie 
gänzlich  abtrennen,  sondern  betrachtete  sie  gewissermassen  nur 
als  eine  Aussiebung  der  Sinnlichkeit;  denn  im  materiellen  und 
sinnlichen  Oebiete  gehen  alle  Eindrücke  und  Formen  durchein- 
ander. Sobald  man  aber  jedes,  was  Eins  und  einfach  ist,  von 
dem  andern  scheidet,  so  hat  man  eine  Idee,  wie  z.B.  die  Idee 
des  Weissen  und  Geraden,  die  nun  nicht  mehr  materiell  und 
sinnlich  ist.  Das  materielle  und  sinnliche  Weisse  ist  nämlich 
immer  mit  Anderem  verbunden,  z.  B.  mit  etwas  Geradem  oder 
Krummem,  mit  etwas  Lebendigem  oder  Todtem,  mit  etwas  Langem 
oder  Kurzem  u.  s.  w.  und  wird  so  als  weisser  Stock,  weisser 
Vogel  u.  s.  w.  zusammen  aufgefasst.  Sobald  man  aber  vermag, 
das  Weisse  an  und  für  sich  rein  abzusondern,  so  hat  man,  nach 
Platon's  Meinung,  eine  Vemunftthätigkeit  ausgeübt  und  eine 
Idee  erkannt.  Mithin  sind  in  der  objectiven  Sinnenwelt  alle 
Ideen  durcheinandergemischt,  wie  in  dem  sinnlichen  Bewusstsein 
alle  zugehörigen  Vorstellungen.  Und  die  Materie  ist  daher  an 
sich  gar  nichts  ausser  dem  Chaos  dieser  Ideen.  Mithin  kommt 
ein  Ding  zum  Werden,  wenn  aus  diesem  Chaos  einige  Ideen 
verbunden  und  von  anderen  Ideen  abgesondert  werden,  weshalb 
dem  Piaton  wegen  der  Absonderung  der  Satz  gilt:  omnis  deter- 
minatio  est  negatio,  obwohl  er  zugleich  die  Positio  behaupten 
musste,  sofern  die  bestimmten  Ideen  selbst,  welche  verbunden 
und  von  den  andern  abgesondert  werden,  nichts  weniger  als 
bloss  negativ  sind. 

Da  nun  aber  die  Formen  der  Verknüpfung,  die  Relationen 
und  Orcbungen  der  einfachen  Ideen  und  ihrer  concreten  und 
abstracten  Verknüpfungen  auch  wieder  erkannt  werden  und 
zwar,  ebenso  wie  die  einfachen  Ideen,  durch  die  Vernunft,  so 
erschien  ihm  die  Vernunft  als  der  eigentliche  Herr  und  Meister 
der  Welt,  da  sie,  objcctiv  oder  projectiv  gedacht,  der  Grund  der 
objectiven  Weltordnung  und,  subjectiv  beachtet,  in  uns  der  Grund 
der  Erkenntniss  dieser  objectiven  Welt  ist. 

So  kam  es,  dass  fllr  Piaton,  wenn  es  erlaubt  ist,  das  Ge- 
sagte noch  einmal  zu  wiederholen   und  zusammenzufassen,  die 

uiuiiizeu  uy  V^JV^V^V  IV^ 


500  Pantheismus  des  Gedankens. 

Materie  unerfindlich  blieb,  ebenso  wie  der  Gott,  da  ihm  die 
Materie  bloss  die  Möglichkeit  oder  unbestimmbare  Fähigkeit 
war,  in  ihrem  jungfräulichen  Schoss  die  Ideen  aufzunehmen  und 
zu  gebären.  Die  Materie  ist  die  Vernunft  in  ihrer  chaotischen 
Auflösung,  und  die  Gottheit  ist  die  Vernunft  in  ihrer  reinen  Ab- 
sonderung und  in  ihrer  geordneten  Form.  Das  aber,  worauf 
Alles  schliesslich  hinausläuft,  der  Zweck  und  das  Ziel  (oo  evsxa), 
muss  dasselbe  sein  mit  dem,  was  sich  nach  diesem  Ziele  hin- 
bewegt,  es  sucht  und  darin  endigt  (svexa  too),  und  folglich  muss 
Materie  und  Gott  im  Grunde  Eins  sein  trotz  des  grössten  Gegen- 
satzes, so  dass  die  Vernunft  Anfang  und  Ende  aller  Dinge  ist. 

Daraus  aber  ergiebt  sich,  dass  die  Vernünftigen  und  Weisen, 
oder  die  Wissenden,  welche  die  sich  selbst  erkennende  Ver- 
nunft darstellen,  als  die  Vollendung  der  Welt  betrachtet  werden 
müssen,  weshalb  sie  auch  die  Vollendeten  (tsXeStov)  heissen  und 
poetisch  als  verkleidete  Götter  geschildert  werden,  die  zwar  von 
Aussen  sterblicher  Leib  und  wie  andre  Menschen  anzusehen  er- 
schienen, wenn  sie  aber  ihr  Inneres  aufthäten,  göttlich  und  herr- 
lich und  voll  ewigen  Lebens  wären. 

Da  nun  Piaton  die  Materie  so  fasste,  wie  es  Aristoteles 
später  bestimmter  terminirte,  nämlich  als  das  dynamische  Frincip 
der  Idee,  dessen  Wesen  nichts  Besonderes  an  sich  ist,  ausser 
dem  dass  die  Form  oder  Idee  darin  zur  Wirklichkeit,  zur  Fun- 
ction (sv^p^eta)  kommen  kann,  so  musste  ihm  die  Bewegung, 
das  beständige  Werden  mit  seinem  Entstehen  und  Vergehen  den 
Charakter  des  Materiellen  und  Einzelnen  bilden;  da  aber  alles 
Werden  doch  inmier  in  den  bestinumten  Entwickelungs-  und  Ord- 
nungsformen der  Vernunft  bleibt,  so  strebt  die  Platonische  Welt 
weder  historisch  einem  Ziele  in  der  Zukunft  entgegen  von  einem 
bestimmten  Anfange  aus,  noch  erreicht  sie  nach  gewissen  grossen 
Perioden  dieses  Ziel,  um  dann  kyklisch  von  Neuem  ihren  Kreis- 
lauf zu  beginnen,  sondern  sie  geht  in  ewiger  Bewegung  von 
einem  der  Zeit  nach  anfangslosem  Anfange  aus  einem  der  Zeit 
nach  endlosen  Ziele  zu,  indem  sie  bei  diesem  Werden  inhaltlich 
oder  qualitativ  immer  zugleich  ihr  Ziel  voll  erreicht  hat  und  also 
beweglich  und  feststehend,  unvollendet  und  vollendet,  zeitlich 
und  ewig,  sinnlich  und  intelligibel  zugleich  ist. 

Natürlich  müssen  bei  einer  so  falschen  Philosophie  eine 
Menge  Unklarheiten  und  Widersprüche  überall  auftauchen,  weil 

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Dogmatik.  501 

die  Welt  eben  nicht  bloss  die  Objectivität  unserer  Erkenntniss- 
funetion  ist,  und  weil  der  denkende  Mensch  und  Piaton  ins- 
besondere grösser  und  reicher  ist,  als  der  blosse  Denker.  So 
konnte  es  z.  6.  dem  Piaton  im  Kampfe  mit  den  zur  Auflösung 
des  politischen,  religiösen  und  sittlichen  Bewusstseins  drängenden 
Parteien  seiner  Zeit  nicht  entgehen,  dass  die  Welt  eine  ge- 
schichtliche Ordnung  haben  müsse.  Deshalb  orakelt  er  eine 
mystische  Zahl  kyklischer  Umwälzung  in  die  Welt  im  An- 
Bchluss  an  die  astronomischen  Phänomene.  Gleichwohl  wider- 
spricht diese  historische  Auffassung  seiner  ganzen  Philosophie, 
wonach  die  Welt  als  ein  immer  identischer  seliger  Gott  erscheint, 
der  ohne  Werden  in  dem  zufillligen  Durcheinander  der  irdischen 
einzelnen  Phänomene  stets  vollendet  ist. 

Ebenso  gross  sind  die  Unklarheiten  und  Widersprüche,  die 
sofort  in*s  Auge  springen,  wenn  man  nach  der  Natur  der  ein- 
zelnen Wesen  fragt  und  wodurch  sie  ihre  Einheit  und  Indi- 
vidualität erhalten.  Sowohl  Piaton  als  Aristoteles  und  die  Scho- 
lastiker konnten  auf  diese  Frage  keine-  befriedigende  Antwort 
geben,  indem  ihnen  entweder  das  Generische  und  Specifische  (die 
sogenannte  humanitas)  die  Hauptsache  zu  sein  schien,  während 
das  Individuelle  als  bloss  zuföUig  und  materiell  galt,  oder  die 
Individualität  (z.  B.  die  Socratitas)  ebenfalls  als  eine  logische 
Essenz  unbekannten  Ursprungs  in  den  Zusammenhäng  der  Er- 
scheinungen projicirt  wurde. 

Natürlich  konnte  für  keinen  Idealisten  der  Wunsch  einen 
Sinn  haben,  das  individuelle  Menschlein  oder  die  individuelle 
Seele  unsterblich  und  ewig  zu  machen,  weil  alles  Einzelne  als 
solches,  d.  h.  als  Nicht -Allgemeines,  noth  wendig  zufällig  und 
vergänglich  und  werthlos  sein  musste.  Wie  aber  die  Zeit  in 
unklarer  Weise  als  sinnliches  Bild  der  Ewigkeit  gefasst  wurde, 
da  sie  anfangs-  und  endlos  und  also  unendlich  ist,  so  suchte 
man  auch  flir  die  Ewigkeit  und  Identität  der  Ideen  Spiegel- 
bilder in  der  zeitlichen  Erscheinungswelt  und  fand  sie  in  der 
Erhaltung  der  Gattung  und  im  Ruhm.  Wegen  der  Correlation 
zwischen  der  Idee  und  ihren  Erscheinungen  mussten  diese  von 
einem  Streben  und  einem  Triebe  ergriffen  zu  sein  scheinen,  eine 
solche  Unsterblichkeit  zu  erlangen,  weil  ja  sonst,  wenn  nämlich 
etwa  eine  Species  von  Thieren  in  der  Welt  der  Erscheinungen 
verschwände,  die  Idee  ihrer  Identität  verlustig  ginge. 

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502  Pantheismus  des  Gedankens. 

Die  Krone  konnte  sich  der  Idealismus  aber  nur  dadurch 
auf  das  Haupt  setzen,  dass  er  durch  die  Philosophie  über  alles 
Einzelne  der  Erscheinungen  hinausging  und  die  ewigen  und 
identischen  Ideen  selbst  im  Denken  und  in  der  intellectualen 
Intuition  erfasste.  Dadurch  wurde  ja  mitten  im  rauschenden 
Strom  des  Vergänglichen  das  Unvergängliche  zum  Ereigniss  und 
zur  Wirklichkeit,  und  dies  ist  daher  die  Spitze  des  Idealismus, 
der  Sinn  der  Welt,  das  aufgelöste  Räthsel,  der  eigentliche  Geist, 
nämlich  dass  wir  das  Ewige  erkennen  und  somit  ein  ewiges 
Leben*)  in  der  Zeit  führen,  solange  wir  in  der  vollen  reinen 
Erkenntniss  stehen,  möge  man  diese  absolute  Vereinigung  des 
Werdenden  mit  dem  Ewigen,  des  Denkenden  mit  dem  Gedachten, 
des  Subjects  mit  dem  Objcct,  der  Materie  mit  der  Idee,  des 
Einzelnen  mit  dem  Allgemeinen,  des  Sensiblen  mit  dem  Intelli- 
giblen,  oder  der  Welt  mit  Gott  in  soliderer  Weise  durch  stramme 
Dialektik  oder  in  romantischer  Weise  durch  neuplatonische 
momentane  Verzückungen  oder  Transfigurationen  erreichen,  immer 
liegt  in  diesem  Akt  der  Apotheose  des  Menschen  in  der  Er- 
kenntnissfunction,  die' höchste  Leistung  des  Idealismus  und  das 
kürzeste  und  prägnanteste  Symbol  seiner  Dogmatik. 


*)  Soeben  geht  mir  eine  interessante  Abhandlung  zu,  die  D.  G.  Bitchie 
in  der  Aristotelian  Society  in  Oxford  gelesen  und  im  Mind  (Quarterly  Review 
of  Psychology  and  Philosophy  Vol.  XI  No.  43  p.  353—376)  publicirt  hat. 
Die  Untersuchung  dreht  sich  unter  dem  Titel  „on  Plato's  Phaedo**  besonders 
um  meine  Auffassung  der  Platonischen  Unsterblichkeitslehre  und  bietet  an- 
regende Gedanken.  Obgleich  hier  nicht  der  Ort  für  eine  Erwiderung  ist,  so 
erlaube  ich  mir  doch  ein  paar  Bemerkungen. 

Es  freut  mich,  dass  Ritchie  so  kräftig  p.  373  betont,  dass  Platon's 
Beweise  auch  im  moralischen  Gebiete  doch  immer  die  Erkenntniss  (Know- 
ledge) im  Auge  haben,  und  pag.  376  dass  Piaton  die  Seele  nicht  als  Monade 
oder  Atom  auffasse,  sondern  (p.  375)  ihr  Wesen  in  der  Vernunft  (Reason  = 
voü?)  finde;  wenn  Ritchie  trotz  dieser  principiellen  üebereinstimmung  mit 
mir  die  Unsterblichkeit  bei  Plato  zwar  nicht  mehr  als  Dogma,  aber  doch 
noch  als  eine  Hoffnung  festhalten  will,  so  möchte  ich  glauben,  dass  er 
seine  Stellimg  zur  Frage  modificiren  könnte,  wenn  er  neben  den  Studien  zur 
Gesch.  d.  Begr.,  die  er  citiert,  auch  noch  von  meinen  späteren  Schriften 
Kenntniss  genommen  hätte;  denn  da  er  p.  355  eine  Entwickelung  Piatons 
fordert,  so  müssen  ihm  gerade  meine  „Literarischen  Fehden  im  vierten  Jahr- 
hundert V.  Chr."  I  und  U  dienlich  sein,  weil  ohne  Chronologie  der  Pla- 
tonischen Dialoge  jenes  Postulat  unfruchtbar  bleibt.  Auch  die  von  mir  aus 
den  Dialogen  erhobenen  biographischen  Elemente  sind  recht  brauchbar  für 


Dogmatik,  503 

Es  ist  nun  ersichtlich,   dass   die  Welt  sofort   Kein Duaiiernns 
alles  Lebens  beraubt  würde,   wenn  wir  das  ideale  »ber 

Princip  als  das  allein  Seiende  setzten;  denn  das  ^yiozoiamua. 
Intelligible  ist  schlechthin  identisch  und  unveränderlich.  Ebenso- 
wenig könnten  wir  das  materielle  Princip  zum  alleinigen  machen; 
denn  die  Welt  würde,  ohne  die  Ideen  auszudrücken,  sofort  in's 
Nichts  zurücksinken,  da  ja  alles,  was  wir  von  der  Materie  aus- 
sagen könnten,  immer  nur  Prädicate,  Erkenntnissformen,  d.  h. 
Ideen  wären,  die  doch  als  abwesend  gedacht  werden  sollten. 
Folglich  bedurfte  Piaton  eines  ursprünglichen  und  ewigen  Gegen- 
satzes zur  Welterklärung,  eines  Princips  der  Veränderung  und 
eines  Princips  des  Seins  oder  der  Form.  Es  ist  darum  natür- 
lich, dass  man  ihn  zum  Dualisten  gemacht  hat,  und  es  lässt  sich 
auch  nicht  leugnen,  dass  er  sowohl,  wie  jeder  Idealist,  un- 
föhig  sein  muss,  diesen  ihm  unentbehrlichen  ursprünglichen 
Gegensatz  zweier  Principien  aufzuheben  und  die  Welt  auf  ein 
einziges  Princip  zurückzuführen. 

Allein  trotzdem  wäre  diese  Kritik  Piaton  gegenüber  un- 
gerecht, weil  Piaton  zu  gebildet  war,  um  seine  Philosophie  mit 
einer  Deduction  anzufangen.  Er  geht  vielmehr  von  einem  ana- 
lytischen Verfahren  aus  und  entdeckt  in  dem  einheitlichen 
Ganzen  der  Welt  diese  zwei  von  einander  unzertrennlichen  gegen- 
sätzlichen Principien.  Mithin  hat  er  von  vornherein  die  Einheit 
als   eine    erfahrungsmässig    gegebene    in    sicherem  Besitze, 


die  Interpretation,  wie  Ritchie  z.  B.  die  von  ihm  p.  375  aufgestellten  Ideal- 
bilder des  Tyrannen  und  Philosophen  als  des  schlechten  und  guten  Mannes 
erfreulich  durch  das  historische  Motiv  des  Aufenthaltes  Piatons  bei  Dionysios 
erläutert  finden  würde,  ebenso  wie  die  Frage,  ob  Piaton  Naturgesetze  kennt 
(p.  363),  die  Berücksichtigung  der  Physik  der  Erde  erfordert,  die  Piaton  im 
Anschluss  an  seinen  Besuch  des  Aetna  ausbildet.  Wenn  Ritchie  es  für 
möglich  hält,  die  Unsterblichkeit  bei  Plato  als  „a  myth  of  approximation 
for  the  philosopher"  (p.  360j  aufzufassen,  so  müsste  er  erst  meine  Ausein- 
andersetzung mit  Bonghi  (Literar.  Fehden  II)  hinzunehmen.  —  Eine  De- 
finition von  Substanz  ohne  Beweis  zu  geben  (vergl.  Ritchie  p.  366),  kann 
ich  nicht  für  räthlich  halten,  und  in  dieser  Frage  möchte  ich  ebenso,  wie 
in  Betreff  der  zu  günstigen  Meinung,  die  Ritchie  p.  367  von  Lotzens  De- 
finition hat,  eine  Kenntnissnahmo  von  meiner  Grundlegung  der  Metaphysik 
für  nützlich  halten.  Für  die  Beurtheilung  der  Unsterblichkeitslehre  bei 
Plato  scheint  mir  auch  der  Zusammenhang  der  Begriffe  von  Parusie,  Ente- 
lechie  und  „ewigem  Leben",  worüber  der  dritte  Band  meiner  Aristotelischen 
Forschungen  handelt,  unentbehrlich  zu  sein. 

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504  Pantheismus  des  Gedankens. 

weshalb  seine  Philosophie  monistisch  ist,  und  Piaton  hat  auch 
fiir  diese  thatsächliche  Einheit  des  identischen  und  beweglichen 
Elementes  den  Begriff  der  Seele,  sowohl  der  individuellen,  als 
der  Weltseele  deutlich  hervorgehoben.  Da  er  aber  nicht  im 
Stande  war,  die  Einigungsweise  der  Gegensätze  zu  zeigen,  so 
behielt  er  nothwendig  den  dualistischen  Zug  in  seiner  Philosophie. 
Ich  nenne  deshalb  sein  System  Hylozoismus,  weil  die  Materie 
darin  als  belebt  und  beseelt  und  vernünftig  vorgestellt  werden 
muss,  ebenso  wie  die  Idee  als  verflochten  in  die  Bewegung  und 
Veränderung  und  in  die  Materie,  indem  die  Einheit  nur  in  der 
empirischen  Weise,  wie  bei  Thaies,  an  den  lebendigen  Orga- 
nismen, an  Thier  und  Mensch,  und  an  allen  Functionen  derselben 
analytisch  aufgezeigt  wird. 


§  3.    Theologie. 

Wichtig  aber  ist  die  Frage,  ob  der  Idealist  nicht  doch  etwa 
noch  einen  persönlichen  Gott  ausser  sich  und  der  Welt  annehmen 
könne;  denn  man  findet  ja  unter  den  modernen  Idealisten  ganze 
Herden  von  Schriftstellern,  welche  in  dieser  scheinbaren  Ver- 
einigung mit  der  christlichen  Theologie  keine  Schwierigkeit  sehen. 
Allein  nur  der  ftlr  speculatives  Denken  weniger  begabte  Aristoteles 
ist  die  Ursache  gewesen,  dass  solche  Verwirrung  in  den  wissen- 
schaftlichen Köpfen  Eingang  fand. 

^j^  Aristoteles  konnte  nämlich  die  Unklarheit,   die 

AriBtotoiiHche  in  dcm  Platonischen  System  in  Beziehung  auf  den 
Theologik.  Begriff  des  Wesens  (Substanz,  ooala)  steckte,  nicht 
vertragen;  denn  bei  Plato  galten  zwar  alle  einzelnen  Erschei- 
nungen als  Wesen,  ihr  wahres  Wesen  aber  sollte  in  den  Ideen 
liegen,  die  doch  nur  im  Geist  und  zwar  in  der  Philosophie  er- 
kannt werden  und  also  allgemeiner  Natur  sind.  So  wurde 
Piaton  von  dem  individuellen  Dasein  der  einzelnen  Wesen  fort- 
getrieben zu  dem  Allgemeinen,  welches  er  schliesslich  nur  in 
unklarer  Weise  an  das  All  anhängen  konnte.  Dieses  Allwesen 
war  nun  dem  Aristoteles  zu  mysteriös,  und  seine  eigenthümliche 
Leistung  besteht  darin,  den  Begriff  der  Substanz,  wenn  auch 
nicht  erklärt,  so  doch  wenigstens  deutlicher  eingetheilt  zu  haben. 
Er  theilte  nämlich  alle  Wesen  zunächst  in  zwei  Classen,  in 
immaterielle  und  materielle.     Die  materiellen  schied   er  wieder 

uiymzeu  uy  V^jOOV  IC 


Dogmatik.  505 

in  zwei  Regionen,  jenachdem  sie  vergänglich  oder  unvergäng- 
lich wären. 

Die  vergänglichen,  sensiblen,  d.  h.  an  den  vier  Elementen 
hängenden  Wesen  sind  die  Individuen  unter  der  Mond- 
sphäre, wie  der  Ochs,  das  Pferd  und  der  Mensch.  Die  unver- 
gänglichen sensiblen  Wesen  aber  sind  ihm  auch  wieder  zweierlei. 
Die  Astronomie  hatte  ihn  nämlich  dazu  gefllhrt,  neben  den  vier 
Elementen  den  Aether  als  ein  im  Kreise  laufendes,  in  ewiger 
Bewegung  befindliches  fünftes  Element  (Quintessenz)  anzuer- 
kennen. Was  nun  in  dem  Aether  als  Erscheinung  sichtbar  war, 
musste  ein  zwar  individuelles,  aber  doch  unvergängliches  Wesen 
bilden.  So  nahm  er  denn,  wohl  weil  er  sich  vom  Volksglauben 
nicht  ganz  losreissen  konnte,  Stemgötter  an  und  betrachtete  auch 
die  Sonne  als  einen  lebendigen  Gott.  Die  Göttlichkeit  dieser 
Weltkörper  schien  ihm  aus  ihrer  zeitlosen  Energie,  aus  ihrer 
erfahrungsmässigen  Unvergänglichkeit,  aus  ihrem  streng  gesetz- 
lichen Thun  und  aus  dem  ätherischen  Element,  aus  dem  sie 
bestehen,  zu  folgen.  Schon  die  Pythagoreer  hatten  die  Region 
über  dem  Monde  als  die  göttliche  bezeichnet,  weil  erst  unter 
dem  Monde  die  Zufälligkeit,  die  Sünde  und  alle  Unordnung  an- 
zutreffen, in  der  Aetherregion  aber  keine  ungesetzliche  Abweichung 
jemals  beobachtet  worden  sei,  und  wir  sehen  einen  Rest  dieser 
Vorstellung  in  der  interpolirten  Stelle  des  Vaterunser,  wo  es 
heisst:  „Dein  Wille  geschehe,  wie  im  Himmel,  also  auch  auf 
der  Erde". 

Ausser  den  Stemgöttem  aber  waren  nach  Aristoteles  auch 
unter  dem  Monde  alle  Arten  (eid-q,  species)  der  Thiere  zwar 
nicht  individuelle,  aber  doch  selbständige  göttliche  Wesen,  weil 
sie  sich  durch  die  Zeugung  unsterblich  erhielten  und  nach  seiner 
Meinung  ebensowenig  einen  Anfang  in  der  Zeit  genommen  hatten. 
Unklar  blieb  ihm  jedoch  die  Gemeinschaft  dieser  vielen  Wesen 
untereinander,  da  ihm  der  BegriflF  der  Natur  durch  die  Abwen- 
dung von  Piaton  verloren  gegangen  war  und  nur  zu  einem 
Abstractum  werden  konnte. 

Dies  also  sind  die  Arten  der  mit  der  Materie  verwachsenen 
(sensiblen)  und  theils  vergänglichen,  theils  unvergänglichen,  theils 
individuellen,  theils  universalen  Wesen.  So  bleiben  nur  die  im- 
materiellen (intelligiblen)  Weseji  übrig.  Als  ein  solches  er- 
kannte  er  nun  in  Platonischer  Weise  die  Vernunft   (voö<;)   an. 

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506  Pantheismus  des  Gedankens. 

Diese  hat  natürlich  keine  Individualität,  sondern  ist  wesentlich 
Universalität  und  Identität,  und  kommt  daher  in  den  Menschen 
von  Aussen  wunderlich  zur  Thtir  herein,  wie  bei  Piaton  aus  dem 
Himmel.  Etwas  Genaueres  darüber,  wie  sie  mit  dem  Individuum 
zusammenhängt,  konnte  er  selbstverständlicher  Weise  nicht  an- 
geben; dass  sie  aber  allgemein  und  identisch  in  allen  Menschen 
war,  zeigte  die  Erfahrung  durch  die  Wissenschaft,  welche  ihr 
identischer  und  allgemeiner  Inhalt  ist.  Da  sich  die  Vernunft 
des  Menschen  aber  auf  die  ganze  Welt  als  ihr  Object  bezieht 
und  die  Welt  mithin  auch  (wegen  der  Identität  von  Subject  und 
Object  in  aller  Erkenntnissfunction)  vernünftig  sein  musste,  so 
sah  sich  Aristoteles  genöthigt,  wie  Plato,  auch  noch  eine  Welt- 
vemunft,  d.  h.  einen  Gott  für  das  Universum,  anzunehmen,  nur 
mit  dem  Gegensatze  gegen  Piaton,  dass  er  diesen  Gott  (weil  er 
die  projective  Vernunft  ist)  nicht  mit  der  Materie  verwachsen 
sein  lassen  wollte.  Da  er  aber  doch  immer  ein  Subject  brauchte, 
um  ein  Object  denken  zu  können,  so  drohte  ihm  auch  immer  die 
Platonische  Verschmelzung  des  Gottes  mit  der  Welt,  und  er 
suchte  sich  durch  den  Begriff  der  Transfiguration  der  Materie 
zu  retten.  Wenn  man  nämlich  die  Materie,  die  allem  Erschei- 
nenden zu  Grunde  liegt  (droxsijisvov,  Substrat,  Subject),  von  aller 
Besonderheit  befreit,  so  bleibt  von  ihr  zuletzt  nichts  Anderes 
übrig,  als  bloss  der  Träger  (Subject)  des  Iritelligibeln  zu  sein, 
welches  ja  als  Object  in  der  Erkenntnissfunction  mit  seinem 
Subject  identisch  und  Eins  ist.  So  lange  die  Materie  noch  eine 
concreto  Erscheinung  bildet,  steckt  immer  auch  neben  der  Ver- 
nunftform eine  sinnliche  und  zufällige  Einzelform  in  ihr;  wenn 
man  ihr  aber  immer  mehr  auf  den  Grund  geht,  so  wird  sie  ganz 
transfigurirt  oder  verklärt,  d.  h.  es  zeigt  sich,  dass  ihr  letztes 
Wesen  die  Fähigkeit  ist,  die  intelligiblen  Formen  zur  Wirklich- 
keit zu  haben.  Somit  ist  sie  endlich  reiner  Akt  (actus  purus) 
geworden  und  also  völlig  unkörperlich  (nicht -sensibel),  allge- 
mein, intelligibel  und  identisch  mit  ihrem  Object.  Obgleich 
Aristoteles  diesen  Gedankengang,  wie  ich  in  meinen  Studien  zur 
Geschichte  der  Begriffe  gezeigt  habe,  von  Anaxagoras  und  Piaton 
herübergenommen  hat,  so  benutzte  er  denselben  doch  dazu,  um 
gegen  die  Platonische  Weltseele  einen  sich  selbst  denkenden, 
von  der  wirklichen  Welt  reinlich  abgetrennten  Gott  heraus- 
zuarbeiten,  dessen  ganzer  Inhalt  freilich  auch  nur  Erkenntniss- 

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Dogmatik.  507 

fanction  war.  Eine  Folge  dieser  Theologie  war,  dass  sich  sofort 
ein  Streit  in  der  Schule  der  Peripatetiker  und  später  endlos 
unter  allen  Scholiasten  darüber  erheben  musste,  wie  sich  dieser 
projective  Vemunftgott  zu  der  menschlichen  Vernunft  verhielte, 
die  ja  auch  ein  ewiges  und  selbständiges,  von  den  Individuen 
gänzlich  abgetrenntes  Wesen  bildete;  denn  da  ihr  wesentlicher 
Inhalt  völlig  identisch  war,  so  schien  die  Möglichkeit  nahe  zu 
liegen,  den  Aristoteles  platonisch  zu  interpretiren,  d.  h.  die  gött- 
liche Vernunft  als  eine  und  dieselbige  in  allen  Menschen  und 
in  der  ganzen  Welt  anzunehmen;  allein  dagegen  sprachen  wieder 
sehr  viele  deutliche  Stellen  der  Aristotelischen  Metaphysik  und 
die  Analogie  mit  den  Sterngöttem,  so  dass  man  für  endlose  Zeit 
genügendes  Material  hat,  um  pro  und  contra  zu  disputiren.  Ich 
habe  mich  an  dieser  Disputation  aber  nicht  betheiligt,  sondern 
durch  Nachweis  der  Entstehung  der  Aristotelischen  BegriflFe  dar- 
gelegt, woher  die  Widersprüche  nothwendig  werden  mussten. 

Hiermit  nehme  ich  denn  auch  den  Faden  der  oben  ange- 
knüpften Untersuchung  wieder  auf,  da  ich  zeigen  wollte  (S.  504), 
dass  Aristoteles  allein  die  Ursache  ist,  weshalb  auch  noch  unsere 
heutigen  christlichen  Theologen  vielfach  glauben,  dass  der 
Idealismus  in  der  Philosophie  mit  dem  Ghristenthum  verträglich 
sei.  Es  liegt  nämlich  eine  fallacia  ex  accidente  vor.  Denn 
weil  Aristoteles  ein  Idealist  genannt  werden  muss  und  doch 
einen  Gott  ausser  der  Welt  lehrt,  so  scheint  der  Idealismus  mit 
christlicher  Theologie  irgendwie  tibereinstimmen  zu  können,  was 
z.  B.  bei  dem  Materialismus  ersichtlich  nicht  der  Fall  ist.  Man 
vergisst  eben,  dass  zwischen  Idealismus  und  der  Lehre  eines 
Idealisten  ein  ungeheurer  Unterschied  bestehen  kann;  denn  es 
giebt  wohl  keinen  Idealisten,  der  nichts  als  reinen  Idealismus 
gelehrt  hätte.  Und  dies  wird  gerade  bei  Aristoteles,  der  die 
Jahrhunderte  mit  seinem  Geiste  beherrscht  und  die  christlichen 
Denker  oft  mehr  als  das  Evangelium  inspirirt  hat,  völlig  evident, 
da  bei  ihm  zwar  der  Idealismus  in  den  Begriffen,  durch  welche 
er  denkt,  noch  massgebend  ist,  während  er  doch  zugleich  zu 
einem  ganz  kläglichen  Pluralismus  oder  idealistischen  Atomismus*) 
tiberging,  entweder  weil  er  nicht  im  Stande  war,  den  Platonischen 
Idealismus  vollkommen  zu   fassen,    oder,    was  man  zu  seiner 


*)  Vgl.  meine  Neuen  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe,  Bd.  III,  S.  421. 

uiuiiizeu  uy  V^J  W\J>t  Iv^ 


508  Pantheismus  des  Gedankens. 

Entschuldigung  oder  Verherrlichung  sagen  kann,  weil  der 
Piatonismus  auch  keine  Deutlichkeit  und  Annehmbarkeit  besass 
und  keine  Fortentwickelung  vertrug,  weil  er  eine  ganz  einseitige 
und  fehlerhafte  Weltansicht  enthält,  weshalb  es  kein  Wunder 
ist,  wenn  der  Aristotelische  Versuch,  die  genauere  systematische 
Durchfllhrung  zu  leisten,  zu  einem  solchen  Flickwerk  fllhrte. 

Die  Verkehrtheit  der  Aristotelischen  Annahme  will  ich  nun 
an  einem  Beispiele  veranschaulichen.  So  fragte  er^  womit  sich 
die  Stemgötter,  die  später  mit  den  Engeln  identificirt  wurden, 
beschäftigten,  und  antwortete,  dass  sie  nur  theoretische  Be- 
trachtungen anstellen  könnten,  da  jede  praktische  und  künst- 
lerische Beschäftigung  ihrer,  ebenso  wie  des  höchsten  Gottes, 
unwürdig  wäre.  Ihre  Bewegungen  glaubte  er  als  ein  Spazieren- 
gehen denken  zu  müssen,  das  sie  zu  ihrer  Gesundheit  noch 
nöthig  hätten,  weil  sie  noch  nicht  so  vollkommen  wären,  wie 
der  höchste  Gott,  der  gar  keiner  Bewegung  mehr  bedürfte, 
während  ihnen  Nahrung,  Schlaf  und  die  anderen  Bedürfnisse  der 
sterblichen  Wesen  freilich  auch  nicht  mehr  von  Nöthen  wären. 
Was  sie  nun  aber  näher  für  theoretische  Gedanken  hätten,  auf 
diese  Frage  liess  sich  Aristoteles  nicht  ein;  er  hätte  sie  sonst 
wohl  zu  Mathematikern  machen  müssen;  denn  ftir  den  höchsten 
Gott  reservirte  er  die  reine  Vemunfterkenntniss.  Diese  höchste 
theoretische  Beschäftigung  ist  aber  armselig  genug  für  die  Spitze 
der  Welt;  denn  da  die  Vernunft  in  den  paar  Kategorien  ihren 
Inhalt  hat,  so  muss  nun  Gott  (weil  die  Vernunft  das  Höchste  in 
der  Welt  ist  und  Gott  doch  nichts  Schlechteres,  als  was  er 
selbst  ist,  oder  gar  Irdisches  oder  Einzelnes  denken  kann)  inuner 
und  ewig  ohne  Abwechselung  diese  paar  armen  Kategorien 
denken,  und  es  macht  sich  fast  komisch,  wenn  Aristoteles  diese 
unaufhörliche  schlaflose  Energie  im  Denken,  wobei  das  Subject 
in  das  Object  rein  aufgeht,  ftir  staunenswerth,  göttlich  und  selig 
erklärt  und  dagegen  den  Menschen  verachtet,  der  in  seiner 
künstlerischen,  politischen  oder  persönlichen  Thätigkeit  an  einzelne 
und  zufällige  Dinge  und  Personen  denken  müsste  und  noch 
dazu  allerlei  Affekte  hätte,  während  nach  seiner  idealistischen 
Meinung  das  WerthvoUe  erst  mit  der  Erkenntnissfunction  anfängt 
und  mit  dem  durch  Abstraction  oder  Induction  gewonnenen 
Allgemeinen  der  Vernunft  endigt 


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Dogmatik.  509 

Doch  es  mag  hiermit  genug  über  Aristoteles  geredet  sein^ 
und  wenn  er  nicht,  wie  gesagt,  die  Jahrhunderte  und  selbst  die 
grössten  Scholastiker  beherrscht  hätte  und  noch  heute  eine 
imponirende  Autorität  bildete,  so  wäre  dies  Wenige  wohl  schon 
zu  viel. 

Kehren  wir  nun  zum  ächten  Piatonismus  zurück  ^  piatoniachen 
und  fragen  wieder,  ob  der  Mensch  noch  einen  Gott  ideausmua 
neben  sich  dulden  könne.  Wer  nun  in  speculativem  «^^^^  ^^^^^^^^ 
Denken  geübt  ist,  wird  gleich  wissen,  dass  es  sich  aisseibBtändiges 
hier  um  den  BegriflF  des  Seins  dreht.  Nun  setzt  ^^®'^' 
Plato  zunächst  die  einzelnen  in  der  Erfahrung  gegebenen  Dinge 
(d.  h.,  kritisch  ausgedrückt,  unsere  projicirten  Anschauungsbilder) 
als  das  erscheinende  Sein;  demnächst  findet  sich,  dass  diese 
Dinge  entstehen  und  vergehen,  also  bloss  Werdendes,  bloss  Bei- 
spiele und  Erscheinungen  eines  Andern,  nämlich  des  Allgemeinen, 
der  Ideen  sind,  und  somit  werden  die  ewigen  und  identischen  Ideen 
(d.  h.,  kritisch  ausgedrückt,  unsere  projicirten  Begriffe)  zu  dem 
wahrhaft  Seienden.  Mithin  wird  das  Seiende  überhaupt  nur 
als  ideelles  Sein,  als  Inhalt  der  Erkenntnissthätigkeit  aufgefasst. 
Nun  lässt  sich  dadurch  aber  die  Veränderung  der  Dinge  nicht 
begreifen;  also  wird  als  geheimnissvolles  Princip,  das  eigentlich 
Nichts,  d.  h.  kein  Inhalt  der  Erkenntnissthätigkeit,  ist,  noch  die 
Bewegung,  d.  h.  die  Materie  (oder,  kritisch  ausgedrückt,  die 
Veränderlichkeit  der  Bewusstseinserscheinungen)  hinzugenommen. 
So  sind  die  beiden  gegensätzlichen  Bedingungen  da,  aber  es 
fehlt  das  Ich,  die  Substanz,  und  dieser  Fehler  durchzieht  noth- 
wendig  den  ganzen  Piatonismus.  Denn  nun  muss  sich  die  ganze 
Platonische  Welt  der  Logik  gemäss  zwischen  dem  Einzelnen 
und  Allgemeinen,  oder  dem  Vielen  (roXXa)  und  Einen  (ev),  dem 
Sinnlichen  und  Intelligibeln,  dem  Zeitlichen  und  Ewigen,  abspielen, 
und  es  muss  das  Allgemeine,  Eine,  Intelligible,  Ewige  die  Kolle 
des  Besseren  und  des  Göttlichen  erhalten,  wie  umgekehrt  das 
Einzelne,  Viele,  Sinnliche  und  Vergängliche  die  Rolle  des 
Schlechteren  und  Irdischen  zugetheilt  bekommt.  Welche  Stellung 
hat  demgemäss  das  Ich?  die  Einzelseele?  Sie  ist  ja  ein  Einzel- 
nes, und  es  giebt  viele  einzelne  Seelen;  sie  ist  auch  in  der  Zeit 
und  in  Bewegung:  so  gehört  sie  zu  dem  Schlechteren  und  Ver- 
gänglichen;  durch  ihr  Wissen  aber  steht  sie  mit  den  Begriffen, 


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510  Pantheismus  des  Gedankens. 

also  mit  dem  Göttlichen,  in  Verbindung  und  kann  sieh  zum 
Göttlichen,  wie  zum  Himmel,  als  zu  ihrem  wahren  Wesen  und 
zu  dem  an  sich  wahren  Sein  erheben.  Kritisch  ausgedrückt 
bedeutet  dies  nichts  anderes,  als  dass  wir  unter  allem  Inhalt 
der  Erkenntniss  den  sinnlichen  für  den  werthloseren,  den  begriff- 
lichen aber  oder  das  Wissen  flir  den  eigentlichen  Mittelpunkt, 
ftir  den  Zweck  und  das  Ziel  des  Lebens  halten,  weshalb  wir 
erst  eigentlich  zu  leben  glauben  durch  das  Wissen,  in  Wahrheit 
aber  zu  sterben  meinen,  wenn  wir  zur  Beschäftigung  mit  dem 
Sinnlichen  zurückkehren.  Alle  diese  Werthbestimmungen 
müssen  aber,  und  wenn  sie  noch  so  enthusiastisch  ausgedrückt 
sind,  ihrer  Quelle  nach  verborgen  bleiben;  denn  dass  sie  bloss 
auf  den  logischen  Erkenntnissprocess  zurückgehen  und  nur 
durch  eine  instinctive  Subreption  ethisch  und  religiös  gedeutet 
werden,  darf  nicht  zum  Bewusstsein  kommen,  wenn  der  Idealismus 
bei  Kräften  bleiben  soll. 

Also  giebt  es  kein  Ich  als  Wesen,  sondern  nur  als  Erschei- 
nung, und  folglich  kann  es  kein  einzelnes  Wesen  geben,  das 
nicht  blosse  Erscheinung  und  Beispiel  eines  Allgemeinen  wäre. 
Mithin  kann  Gott  nur  als  das  Göttliche  gedacht  werden,  das 
allgegenwärtig  und  ewig  in  allem  und  jedem  Einzelnen  erscheint 
und  offenbar  wird  und  nur  im  Wissen  zu  sich  kommt  als  Geist,  der 
sich  selbst  erkennt  als  die  Wahrheit.  Mithin  kann  Piaton  und 
jeder  Idealist  von  Gott  oder  dem  Göttlichen,  bis  er  sich  selbst 
erkennt,  keine  klare  Vorstellung  oder  keinen  Begriff  haben, 
sondern  er  muss  das  Göttliche  als  in  der  Materie  verborgene, 
unbewusste  Vernunft,  als  saamenartige  Vernunft  oder  als  mit  der 
Materie  indifferenziirt  oder  sonst  in  unklaren  und  durch  kein 
Denken  erhellbaren  Bildern  und  Worten  bezeichnen,  während  es 
erst  im  Menschen,  der  sich  aus  dem  anschaulichen  Vorstellen 
zum  Begriff,  zur  Wissenschaft  und  zur  Philosophie  erhebt,  zum 
Selbstbewusstsein  kommt.  Die  Philosophen  werden  ihm  daher 
zu  den  eigentlichen  Göttern  und  der  Gott  wird  nothwendig 
Mensch,  weil  das  Göttliche  in  der  Stufenfolge  der  Erscheinungen 
nur  in  diesem  sich  in  seiner  Wahrheit  offenbart. 

Demnach  ist  bei  Piaton  der  erste,  d.  h.  höchste  Gott  das 
Intelligible,  oder  die  in  sich  einige  Ideenwelt  als  Object  gedacht 
Dieser  Gott  ist  aber  kein  einzelnes  Wesen  und  daher  auch  keine 
Person  und  hat  keine  Gemüthsbewegung,  keinen  Willen,  wie  er 

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Dogmatik.  511 

auch  nichts  thut,  und  er  hat  überhaupt  keine  anderen  Eigen- 
schaften, als  dem  objectiven  Allgemeinen  zukommen.  Der  zweite 
Gott  ist  (nach  den  „Gesetzen")  die  Seele,  sofern  sie  das  Sub- 
jective  bildet,  oder  die  Bewegung,  wodurch  das  Intelligible 
intelligirt  wird.  So  wird  der  Gott-Mensch  allerdings  noch  über 
sich  einen  Gott -Vater  anerkennen;  dieser  muss  sich  aber  in 
einem  unsagbaren  Zustande  befinden,  weil  er  erst  im  Gott- Sohn 
Sprache  und  Vernunft  erhält  durch  die  subjective  Seite.  Angelus 
Silesius  drückt  dies  in  biblischer  Form  so  aus:  „Ich  muss  Maria 
sein  und  Gott  in  mir  gebären." 

Wenn  man  daher  die  logische  Spaltung  des  Seienden  in  ein 
subjectives  und  objectives  Element,  die  ja  doch  auch  nur  zusammen 
perfect  werden,  ausser  Augen  lässt,  so  muss  Piaton  gewisser- 
massen  das  Chaos  und  die  Nacht  als  das  Erste  setzen  und  die 
Welt  sich  allmählich  zur  Vollkommenheit  entwickeln  lassen, 
indem  eine  unbewusste,  der  Welt  eingeborene  objective  Vernunft 
die  Entwickelung  leitet,  bis  durch  das  Gottesbewusstsein  das 
Licht  im  Menschen  aufgeht,  in  welchem  Gott  sich  selbst  erkennt. 
Gegen  diese  Auffassung,  die  von  Speusippos,  dem  nächsten  Nach- 
folger Platon's  auf  dem  Meisterstuhle  der  Akademie,  deutlich 
und  bestimmt  gelehrt  wurde  und  also  damals  als  Piatonismus 
galt,  trat  Aristoteles  mit  seiner  Theologie  energisch  auf.  Allein 
Piaton  selbst  war  vorsichtiger  gewesen,  nicht  bloss  dadurch,  dass 
er  seine  Lehre  in  gnostisches  Geheimniss  hüllte,  nur  auserwählte 
Schüler  einweihte  und  die  draussen  Stehenden  bloss  mit  meta- 
phorischer Darstellungsweise,  wie  sie  der  Pistis  geziemt,  abspeiste, 
sondern  besonders  dadurch,  dass  er  von  vornherein  die  Unan- 
fanglichkeit  oder  Ewigkeit  der  gegenwärtigen  Weltordnung 
lehrte.  Das  Vollkommene  ist  also  nach  seiner  Lehre  immer 
gewesen  und  kann  nur  ftir  die  Demonstration  in  einen  zeitlichen 
Process,  wie  dies  z.  B.  im  Timäus  geschieht,  auseinandergezogen 
werden.  In  dieser  Frage,  ob  Ewigkeit  der  Welt  oder  kosmo- 
gonischer  Process  undEntwickelungslehre,  schwankte  auch  sichtlich 
Aristoteles  und  konnte  nicht  wohl  damit  fertig  werden,  weil  sein 
Begriff  von  der  Zeit  in  den  Windeln  der  dialektischen  Besinnung 
stecken  blieb.  Darum  sehen  wir  dies  Schwanken  auch  in  allen 
folgenden  Zeiten  bis  heute,  sowohl  im  Ereise  der  allgemeinen 
Bildung,  als  bei  den  Philosophen,  fortdauern,  wie  z.  B.  im 
zweiten  Briefe  Petri  der  angebliche  Verfasser  den  kosmogonischen 


512  Pantheismtis  des  Gedankens. 

Standpunkt  vertritt  und  diejenigen  einzuschüchtern  sucht,  welche 
die  Unveränderlichkeit  der  gegenwärtigen  Weltordnung  annehmen; 
ebenso  überwiegen  heutzutage  die  Darwinisten  mit  ihrer  Kos- 
mogonie,  und  es  pendelt  nur  langsam  der  hinuntergedrückte 
entgegengesetzte  Standpunkt  wieder  auf.  Für  den  Philosophen, 
der  über  den  Begriff  der  Zeit  in's  Klare  gekommen,  ist  die 
Schwierigkeit  der  Frage  überwunden  (vergl.  meine  Schrift: 
Darwinismus  und  Philosophie). 


§  4.    Von  der  Erlösung. 

Die  sittliche  und  religiöse  Stellung  des  Piatonismus  besteht 
nun  nothwendig  in  der  Abwendung  von  dem  Begehrlichen  und 
Leidenschaftlichen,  welches  mit  der  sinnlichen  Erkenntniss  und 
also  mit  der  Materie  verwachsen  ist,  zu  der  idealen  Seite  hin, 
die  intellectualer  Natur  ist  und  sich  also  in  der  Erkenntniss  und 
Befolgung  von  Gesetz  und  Ordnung  in  privatem  und  Staats- 
Leben  zeigt.  Die  volle  Erlösung  aber  ergiebt  sich  erst  in  dem 
Uebergange  zu  der  reinen  intellectualen  Thätigkeit  in  der  Wissen- 
schaft und  Dialektik,  in  welcher  das  Materielle  insofern  ganz 
verschwunden  ist,  als  die  Vielheit  der  einzelnen  sinnlichen  Gegen- 
sätze und  die  Buntheit  des  Wechsels  in  den  immer  identischen 
Begriffen  aufgehoben  wird.  Das  materielle  Princip  bleibt  aber 
dennoch  insofern  auch  in  der  intellectualen  Thätigkeit  des 
Menschen  erhalten,  als  die  Intelligenz  ja  wirklich  functionirt  und 
also  da  ist.  Mithin  ist  das  Intelligible,  als  Object,  aufzufassen 
als  Verklärung  oder  Transfiguration  der  Materie  zu  ihrem  innersten 
Sein,  nachdem  sie  sich  alsSubject  in  verschiedenen  Stufen  ent- 
wickelt hat  und  zuletzt  „zu  sich  gekommen"  ist;  denn  das  wahre 
Selbst  (aorö<;)  ist  nach  Piaton  die  Vernunft.  Aristoteles  drückte 
diesen  Platonischen  Gedanken  durch  den  Terminus  Entelechie 
aus  (den  ich  in  meiner  Geschichte  des  Begriffs  der  Parusie  etymo- 
logisch und  logisch  bestimmt  habe),  und  sagte  auch,  es  sei  das 
Ziel  der  Dinge  (t^Xoc)  dasjenige,  was  das  Wesen  war  (t6  tC  f^v 
elvat),  indem  er  das  logische  Verhältniss  durch  ein  chronologisches 
Verhältniss  zu  erläutern  suchte.  In  die  Materie  wird  also  die 
Form  oder  die  Idee  der  Welt  in  einer  zeitlosen  Entwickelungs- 
ordnung  von  Formen  und  Stufen  hineingedacht,  die  dann  zeitlich 


Dogmatik.  513 

in  dem  Werde-  und  Entwickelungsprocesse  umgekehrt  abläuft  und 
80  wieder  zu  sich  kommt  Die  höchste  Stufe  ist  das  absolute 
sich  selbst  Denken  der  Idee,  wie  es  Aristoteles  bezeichnete, 
oder  die  Identität  von  Subject-Object  in  der  Erkenntnissfunction. 

Dies  weiter  philologisch  zu  erörtern,  ist  hier  nicht  meine 
Aufgabe,  ich  verweise  auf  meine  Arbeiten  zur  Geschichte  der 
Begriffe.  Es  ergiebt  sich  also,  dass  die  Erlösung  nur  auf  den 
unteren  Stufen  einen  politischen  und  sittlichen  Charakter 
hat,  auf  den  höheren  und  höchsten  aber  didaktisch  wird  und 
im  Erkennen  und  Wissen  besteht  Das  durch  die  Erlösung 
zu  gewinnende  Gut  ist  die  Wahrheit,  die  im  Menschen  ihr 
lebendiges  Dasein  haben  soll.  Es  wird  hierdurch  offenbar,  dass 
der  Piatonismus  und  Idealismus  nothwendig  zu  der  einseitigen 
Beligionsform  führt,  welche  ich  den  Pantheismus  des  Gedankens 
genannt  habe. 

Ich  möchte  nur  noch  bemerken,  dass  man  an  dem  Verständniss 
Platon's  durch  zwei  Punkte  besonders  gehindert  wird,  einmal 
durch  die  metaphorisch -mythische  (orthodoxe)  Ausdrucksweise, 
die  man  leicht  beim  Worte  nimmt,  und  zweitens  durch  den 
Widerspruch,  der  zwischen  der  tiefen  und  reichen  Begabung 
Platon's  und  der  intellectualistischen  Einseitigkeit  seines  Systems 
einhergeht  So  z.  B.  konnte  er  sich,  da  ihm  das  Göttliche  in 
das  Materielle  und  Sinnliche  metaphorisch  vergraben  war,  die 
älteren  Vorstellungen  von  einer  Reinigung  (xiftapoic).  Auf- 
erweck ung  und  Erlösung  des  Menschen  aneignen;  wenn  er 
aber  diese  Erlösung  zunächst  pädagogisch,  ethisch,  politisch  und 
religiös  beschreibt,  so  ist  diese  ganze  grossartige  und  historisch 
fast  bedeutsamste  Seite  seiner  Wirksamkeit  eigentlich  nur  acci- 
dentell,  da  sie  aus  seiner  genialen  Persönlichkeit  stammt,  aber 
nicht  aus  dem  System,  welches  bloss  eine  didaktische  Er- 
lösung kennt  und  daher  alle  anderen  geistigen  Lebensmächte 
auch  nur  zu  unteren  Stufen  herabsetzt 

Ebenso  nahm  er  zwar  den  Ausdruck  Erlöser  (£oi>n^p)  aus 
den  volksthümlichen  Benennungen  der  Götter  für  seine  höchste 
sittliche  und  politische  Thätigkeit  in  Gebrauch;  die  eigenthüm- 
lich  Platonische  erlösende  Liebe  gehört  aber  wieder  nur  seiner 
persönlichen  Gesinnung  und  nicht  seinem  Systeme  zu,  in  welchem 
die  Idee  der  Persönlichkeit  und  also  auch  die  höhere  Liebe 
keinen  Platz  hat    Auch  darf  man  nicht  vergessen,  dass  ihm  die 

Telohmüller,  ReUgloiuiplüloeophle.  u.gt.zeu^u^y GoOQIc 


514  Pantheismus  des  Gedankens. 

Erlöser  immer  im  Plural  gemeint  sind,  weil  seine  Welt  dem 
Strudel  der  unendlichen  Zeit  dahingegeben  ist;  die  historische 
Auffassung  der  Erlösung  aber,  wie  sie  im  Christenthum  offenbar 
wurde,  blieb  dem  Idealisten  ebenso  undenkbar,  wie  die  Persön- 
lichkeit Gottes,  da  sich  schliesslich  Alles  nur  um  den  nie  endenden 
Fackellauf  des  Lebens  drehte,  in  welchem  die  Fackel  des  Wissens 
von  Hand  zu  Hand  gereicht  werden  sollte,  und  wofür  das  ganze 
Reich  Gottes  nur  Mittel  und  Werkzeug  war;  denn  das  der  Welt 
eingeborene  Nichts  zerfirisst  als  Vergessen  die  innere  Habe  des 
Geistes  und  rafft  auch  die  Persönlichkeiten  unaufhörlich  in  den 
Schlund  der  Vergangenheit. 

Ich  habe  schon  vielmals  darauf  hingewiesen,  dass  eine 
wissenschaftliche  Religionsphilosophie  unmöglich  wird,  wenn  man 
statt  der  reinen  Formen,  statt  der  speculatiyen  Oerter  vielmehr 
die  historisch  gegebenen  Religionen,  Secten,  Confessionen  und 
Autornamen  behandelt,  weil  in  diesen  sich  inmier  fremdartige 
Elemente  mit  vorfinden,  welche  sowohl  eine  strenge  Eintheilung, 
als  eine  Ableitung  des  ganzen  zugehörigen  dogmatischen  Systems 
aus  einem  einheitlichen  Standpunkte  verhindern  und  daher  die 
Religionsphilosophen  zu  Verdrehungen,  spitzfindigen  Deutungen 
oder  zu  Confusion  nöthigen,  was  z.  B.  Alles  bei  Hegel  crass  in 
die  Augen  fällt  Ich  wiederhole  diese  Bemerkung  hier,  weil  ich 
zwar  Platon's  Namen  genannt  und  seine  Philosophie  dargestellt 
habe,  aber  doch  dem  historischen  Charakter  des  ganzen  Systems 
hier  und  da  nicht  gerecht  geworden  bin;  denn  ich  durfte  hier 
nur  diejenige  Seite  entwickeln,  welche  zu  der  reinen  Form  des 
Pantheismus  des  Gedankens  gehört.  In  meinen  historischen 
Schriften  wird  man  auch  die  anderen  Seiten  berücksichtigt  finden. 
Deshalb  will  ich  hier  nur  kurz  erwähnen,  dass  die  Erlösungs- 
lehre bei  Piaton  zwar  wesentlich  eine  didaktische  Frage  ist  und 
sich  um  Erkenntniss  der  Wahrheit  dreht,  dass  Piaton  aber  als 
Staatsmann  wohl  wusste,  dass  der  Irrthum  und  die  Sünden  nicht 
bloss  in  mangelnder  Erkenntniss  bestehen,  sondern  dass  diese 
mangelnde  Erkenntniss  auch  von  der  Naturanlage  und  also  von 
materiellen  Bedingungen  und  dann  von  der  Gewöhnung  und  Er- 
ziehung abhängen.  Piaton  fasste  deshalb  die  höchste  Idee,  die 
Idee  des  Guten  wesentlich  staatsmännisch  als  die  conser- 
vative  Idee  auf,  da  das  Weltall  als  höchstes  Princip  nichts 
Besseres   ausser  sich   anerkennen   und  daher  nur  auf  Selbst- 

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Dogmatik.  515 

erfaaltung  bedacht  sein  kann.  Mithin  ist  die  oberste  Bedin^ng 
der  Selbsterhaltung  zwar  die  Erkenntniss  des  Wesens  der  Welt, 
die  erhalten  werden  soll,  also  die  Weisheit,  und  so  sind  die 
Weisen  die  göttlichen  Erlöser;  in  zweiter  Linie  aber  nimmt  nun 
Piaton  die  politische  Kunst  zu  Hülfe,  welche  durch  allerlei 
physische  und  psychagogische  Mittel,  durch  Gymnastik,  Musik, 
durch  Gesetze  und  Spiele,  durch  Ordnung  der  Aemter,  durch 
ökonomische  und  sociale  Massregeln  und  religiösen  Ritus  die  mit 
der  Sinnlichkeit  verwachsenen  Begierden  der  Menschen  in  den 
Dienst  der  Erkenntniss  und  zum  Gehorsam,  zum  Maass  und  zur 
Ordnung  treibt.  Diese  ganze  Seite  des  Platonischen  Systems 
gehört  aber  nicht  in  den  Idealismus,  weil  darin  geistige  Fun- 
ctionen auftreten,  welche  mit  dem  bloss  logischen  Prozess  nicht 
begriffen  werden  können  und  bloss  empirisch  von  dem  reicheren 
Genius  Piatons  ergänzt  wurden.  Ich  habe  darüber  bei  dem 
pantheistischen  Staatsenthusiasmus  gesprochen. 


§  5.  Moderne  Idealisten. 
Wie  dieser  Platonische  Idealismus  nun  seiner  reinen 
Form  gemäss  überall  wirken  musste,  das  gehört  in      ^*^**®* 
die  Geschichte  der  Philosophie  und  der  Dogmatik,    Ich  will  nur 
an  ein  paar  Namen  erinnern,  die  das  Gesagte  zur  vollen  Evidenz 
bringen.    Nehmen  wir  z.  B.  Fichte,  so  ging  ja  mit  diesem  der 
grosse  Ich-spektakel  los,  und  es  schien  Anfangs  eine  neue  Philo- 
sophie aufgekommen  zu  sein.    Doch  fand  Fichte  sehr  bald,  dass 
Schelling  nur  seine  Ideen  sich  angeeignet  hätte,  und  Schelling 
wieder  meinte  dasselbe  von  Hegel.    Hegel   endlich   fand,   dass 
Piaton  und  Aristoteles  im  Grunde  schon  Alles,  was  er  zu  sagen 
hatte,  gelehrt  hätten.    Der  Idealismus  musste  also,  je  mehr  sich 
seine  Vertreter  historisch  bildeten,   den  Piatonismus  als   seine 
Seele  erkennen  und  zu  Plato  zurückkehren. 

Fichte  nahm  nun  zunächst  von  Kant  die  Materie  und  Form 
als  Principien  des  Bewusstseins  auf  und  zwar  in  kritischer 
Weise;  die  dogmatische  Projection  liess  er  bei  Seite.  Das  Ich 
aber  war  ihm  bloss  die  Eantische  Einheit  des  Bewusstseins  und 
also  völlig  leer  und  sinnlos;  denn  ein  Grobian  würde  gesagt 
haben,  es  möge  der  Teufel  wissen,  woher  bei  Kant  die  Einheit 
des  Bewusstseins  komme.    Wie  räthselhaft  bei  Fichte  das  Ich 


516  Pantheismus  des  Gedankens. 

bleibt,  kann  man  am  deutlichsten  daraus  abnehmen,  dass  Fichte 
dieses  Ich  völlig  in  das  reine  Wissen,  also  in  die  theoretische 
Geistesflmction  verschwinden  lässt,  wodurch  er  aber,  ohne  es 
selbst  zu  ahnen,  den  Zusammenhang  seiner  Lehre  mit  Piaton 
offenbar  macht;  denn  obwohl  er  Piaton  wenig  kannte,  so  wirkten 
doch  die  von  diesem  in  die  geschichtliche  Entwickelung  der 
philosophirenden  Vernunft  getragenen  Anregungen  derart,  dass 
die  meisten  Philosophen,  wenn  nicht  alle,  sich  entweder  entgegen- 
setzten oder  anschlössen,  jedenfalls  also  von  ihm  in  ihrer  Ge- 
dankenbewegung bestimmt  wurden.  In  dem  später  erschienenen 
„Wesen  des  Gelehrten'^  aber  nahm  Fichte  auch  offen  die  Plato- 
nischen Stempel  in  Gebrauch  und  arbeitete  mit  dem  Wort  „Idee" 
wie  ein  eingefleischter  Platoniker.  Obgleich  man  nun  bei  einem 
so  wenig  schulmässig  gebildeten  Philosophirenden,  wie  Fichte 
war,  unmöglich  eine  streng  methodische  Lehre  und  eine  eigent- 
lich wissenschaftliche  Arbeit  erwarten  darf,  so  bezeugen  doch 
seine  im  gelehrten  und  im  populären  Publikum  vielfach  anregenden 
Schriften,  dass  er  in  keinem  Punkte  zu  einer  höheren  Auffassung 
sich  erheben  konnte,  als  zu  dem  Platonischen  Idealismus;  doch 
kann  man  ihm  und  Schelling  als  Verdienst  anrechnen,  dass  sie 
wenigstens  den  speculativen  Sinn  Platon's  begriffen  und  nicht 
durch  die  der  Pistis  angepasste  allegorische  Darstellungsweise 
gefangen  gehalten  wurden.  Gott  ist  demnach  bei  Fichte  nichts 
anderes,  als  die  im  Bewusstsein  des  Menschen  zu  Geist  und 
Wissen  erwachende  Platonische  Idee,  und  obwohl  die  Ungebildeten 
und  die  Orthodoxen  ihm  dies  als  Atheismus  auslegten,  so  sah 
er  doch  selbst  ganz  klar,  dass  er  nur  den  äusseren  Gott  der 
Pistiker  aufgegeben  und  die  Fülle  der  Gottheit  im  eigenen  Busen 
pantheistisch  zur  Offenbarung  im  Wissen  gebracht  hatte. 

Wenn  Fichte  später  gegen  Schelling  (ebenso  wie  früher 
Kant  gegen  seine  Kritiker)  den  Vorwurf  des  subjectiven  Idealis- 
mus von  sich  abwehrte  und  sein  Nichtich  als  Nichtseiendes  und 
als  Materie  im  Sinne  des  projectivischen  Dogmatismus  aufgefasst 
sehen  wollte,  weshalb  gerade  er  im  Stande  sei,  die  Erfahrung 
und  die  empirischen  Wissenschaften  anzuerkennen,  so  darf  man 
doch  nicht  glauben,  als  wäre  er  aus  dem  Platonischen  Idealismus 
zu  einem  abgeschmackten  Dualismus  herausgefallen,  sondern  es 
war  ihm  ganz  in  derselben  Unklarheit,  wie  bei  Piaton  und 
Aristoteles,  die  Materie  nur  der  Vertreter  für  das  reale  Sein,  das 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Dogmatik.  517 

er  noch  nicht  definiren  konnte,  und  er  bestimmte  sie  daher  wie 
Piaton  als  blosses  Werden,  als  im  Uebergang  zum  Bewusstsein 
und  zmn  Wissen  befindlich.  Somit  war  die  objective  Idee  darin 
verborgen  als  Wesen,  und  es  fehlte  nur  die  subject- objective 
Erfassung  oder  das  zu  sich  Kommen.  Doch  all  diese  unreifen 
Gedankenbewegungen  verdienen  ja  kaum  Beachtung,  da  sie 
keinen  Schritt  über  Piaton  hinaus  thun  und  an  dem  Begriff  der 
Zeit  noch  mehr  stolpern  als  Piaton,  der  sie  wenigstens  als  Sinn- 
bild der  Ewigkeit  fasste  und  daher  zwar  keinen  historischen 
Aufbau  der  Welt,  aber  doch  die  Ahnung  einer  speculativen  Auf- 
fassung in  die  Philosophie  brachte.  Bei  Fichte  aber  gilt  die 
Zeit  ganz  dogmatisch,  und  das  Ich  ist  ihm  deshalb  sterblich  wie 
alle  Erscheinungen  und  hat  seine  Ewigkeit  nur  in  ewigen  Ge- 
danken, d.  h.  in  dem  ideellen  Inhalte  des  Geistes. 

Bei  Hegel  finden  wir  nur  eine  neue  Form  der 
Darstellung  und  eine  besondere  Uebersicht  des  ge- 
sammten  Inhalts  der  idealistischen  Begriffswelt,  aber  kaum 
einen  neuen  Gedanken.  Die  Platonischen  Principien,  Idee  und 
Materie,  setzte  er  als  Sein  und  Nichts  in  ursprünglicher  Indiffe- 
renz an  die  Spitze  der  Weltanschauung,  die  er  durch  die  in  dem 
Nichts  gegebene  und  das  Sein  zur  Differenzirung  erregende 
Negativität  *)  zu  leisten  hoffte.    Nachdem  er  die  allgemeinsten 

*)  Ich  ergreife  die  Gelegenheit,  um  hier  gleich  auf  ein  Memoire  zu 
antworten,  welches  B.  Spaventa  in  der  königlichen  Akademie  der  Wissen- 
schaften in  Neapel  über  meine  Dialektik  in  ihrer  Beziehung  zur  HegeFschen 
gelesen  hat.  Das  Memoire  ist  publicirt  unter  dem  Titel:  „Esame  di  un' 
obbiezione  di  Teichmüller  alla  dialettica  di  Hegel.  Memoria  del 
socio  B.  Spaventa.  Napoli  1883".  Der  Verfasser  ist  leider,  ebenso  wie 
Vera,  durch  den  Tod  seinem  Vaterlande  entrissen,  dsw  die  Grösse  seines 
Charakters  und  den  tiefen  £mst  seiner  wissenschaftlichen  Bestrebungen  zu 
ehren  wusstc.  Er  gehörte,  wie  die  noch  energisch  arbeitenden  Philosophen 
Bonghi  und  Tari,  zu  den  vom  Platonischen  Idealismus  begeisterten  Naturen. 
Da  der  Positivismus  sich  aber  als  eine  unfertige  Weltansicht,  die  von  der 
Menge  leicht  erfasst  werden  kann,  mit  zunehmender  Verbreitung  der  soge- 
nannten Bildung  wie  die  Ciavierplage  allgemein  bemerklich  macht,  so  ist 
es  natürlich,  dass,  wie  Plato  einst  nur  mit  einem  kleineren  Kreise  von 
Freunden  aus  dem  grossen  Schwärme  Protagoreischer  Positivisten  hervorragte, 
auch  solchen  ihm  verwandten  MäJinem  nur  eine  isolirtere  Stellung  übrig 
bleibt,  die  sie  aber  unsrer  Aufinerksamkeit  um  so  würdiger  macht. 

Spaventa  war  nicht,  wie  V^ra,  ein  Hegelianer  h,  outrance,  sondern 
suchte,  wie  Tari,  das  System  gewissermassen  nach  seinem  eigenen  Modell 
zu  individualisiren.    Namentlich  lag  es  ihm  nach  seiner  tief  religiösen  Natur 

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518  Pantheismus  des  Gedankens. 

Kategorien  bei  den  verschiedenen  Stellangen  der  beiden  dialekti- 
schen Elemente  als  Stichwort  eingeschoben,  kommt  er  zu  den 
beiden  Hauptgegensätzen,  welche  die  logischen  Gegensätze  in 
der  wirklichen  Welt  wiederholen,  zu  der  Objectivität  der  Natur 
und  der  Subjectivität  des  Geistes.  Auch  diese  Begriffe  lässt  er 
nun,  ohne  sie  durch  wissenschaftliche  Untersuchung  genauer  zu 
erheben,  allerlei  Vereinbarungen  eingehen  und  nimmt  dadurch 
das  objective  Element  in  den  Geist  auf.  So  bleibt  ihm  nur  der 
letzte  Schritt  ttbrig,  den  objectiven  Geist  und  den  subjectiven 
Geist  in  dem  absoluten  Geist  aufzuheben,  welches  durch  das 
absolute  Wissen  der  Philosophie  geschieht  und  wodurch  der  in 

am  Herzen,  ftlr  das  Ich  eine  Selbständigkeit  zu  finden,  und  so  gelangte  er 
von  selbst  zu  einer  Sympathie  mit  meiner  Metai)hy8ik.  Da  er  aber  zugleich 
die  Hegersche  Grundlage  glaubte  festhalten  zu  können,  so  musste  sich  ihm 
der  Versuch  empfehlen,  meine  Dialektik  mit  der  HegeVschen  zu  versöhnen, 
was  er  in  der  oben  angezeigten  Schrift  unteminmit.  Dass  dies  aber  unmög- 
lich ist,  möchte  ich  hier  durch  Hervorhebung  der  massgebenden  Begriffe 
darlegen. 

Der  Punkt,  um  den  sich  der  Streit  dreht,  ist  die  dialektische  Be- 
wegung mit  ihrer  immanenten  Negativität  und  ihrem  Widerspruch. 
Spaventa  glaubt,  bei  Hegel,  weil  die  aufgehobenen  Momente  nicht  bloss 
negirt,  sondern  auch  conservirt  werden,  ein  meiner  Coordination  ent- 
sprechendes Yerhältniss  der  Begriffe  sehen  zu  dürfen  und  mich  zugleich 
nöthigen  zu  können,  da  ein  Begriff'  doch  nicht  identisch  mit  dem  andern  sei, 
die  HegeFsche  Entgegensetzung  anzunehmen. 

Nun  ist  aber  erstens  wohl  nicht  richtig,  dass  Hegel  die  Momente  con- 
servirt, da,  wie  es  auch  Spaventa  unbefangen  darstellt,  in  der  höheren  Einheit 
die  Momente  vielmehr  durch  Aufnahme  ihres  Gegentheils  umgestaltet 
und  entwickelt  werden  sollen,  z.  B.  p.  11 :  Tintelletto  e  la  veritä.  del 
senso;  e  giacch^  il  senso  non  isvanisce  neir  intolletto,  anzi  rimane  e  si  con- 
serva,  ma  non  tal  quäle  era  prima,  senza  o  fuori  dell*  intelletto,  e  giuco- 
forza  conchiudere  che  sia  modificato,  trasformato,  ciob  in  qualche  modo 
negato.  Diese  HegeFsche  Auffassung  entspricht  jedoch  in  keiner  Weise  der 
Wirklichkeit;  denn  wenn  z.  B.  der  Sinn  das  kleine  Lichtbüd  der  Sonne 
empfangt,  so  wird  dies  Bild  durch  den  Verstand  in  keiner  Weise  modificirt 
und  transformirt,  wenn  man  auch  dabei  durch  verstandige  üeberlegung  eine 
Kugel  von  riesigem  Durchmesser  vorstellt  und  die  Sonne  zum  Mittelpunkt 
des  Planetensystems  macht;  denn  der  Eindruck,  den  der  Sinn  von  der  Sonne 
empfängt,  bleibt  nach  wie  vor  unveränderlich  derselbe,  und  der  klügste 
Astronom  kann  nicht  mehr  sehen,  als  der  scharfsichtige  Bauer.  Ich  trenne 
also  streng  die  kluge  Deutung  des  Gesehenen  (die  intellectuelle  Arbeit) 
von  dem  sinnlichen  Eindruck  und  halte  die  Auffassung  von  Hegel  für 
eine  üngenauigkeit  und  eine  iwpulare  Ausdrucksweise  in  der  Art,  wie  man 
sagt,    dass   man   sich   nach   naturwissenschaftlichem  Unterricht    „ein 


rncnt    „ein  ganz 

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Dogmatik.  519 

der  ursprünglichen  Indifferenz  potentiell    gegebene  Inhalt    nun 
actuell  als  Geist  lebendig  sich  seiner  bewusst  wird. 

Zweierlei  ist  flir  die  Stellung,  die  diesem  System  in  der 
Religionsphilosophie  zugewiesen  werden  muss,  von  Bedeutung. 
Erstens  dass  der  absolute  Geist  blosse  Function,  reine  Actualität 
als  Wissen  ist.  Hegel  nämlich  hat  keine  Ahnung  von  dem 
Begriff  des  substanzialen  Seins,  weil  ihm  dies  in  der  Geschichte 
der  Philosophie  weder  bei  Spinoza,  noch  bei  Leibnitz,  noch  bei 
Fichte  begegnet  war,  geschweige  denn  bei  den  Alten;  er  konnte 
sich  darum  unter  Substanz  nur  das  sinnenfällige  materielle 
Einzelwesen  denken,  das  er  richtig  als  blosse  Erscheinung  er- 
anderes Bild**  von  einer  Sache  mache.  Ich  läugne  also  erstens,  dass  bei 
Hegel  eine  Conservirung  des  aufgehobenen  Momentes  stattfände,  was  viel- 
mehr gegen  den  Geist  der  HegeFschen  Dialektik  streitet,  zweitens,  dass  eine 
Noth wendigkeit  für  mich  bestünde,  eine  Negation  zu  bewilligen,  da  der 
Verstand  an  dem  sogenannten  sinnlichen  Eindruck  gar  nichts 
negirt,  sondern  bloss  deutet;  denn  wenn  der  Affe  und  das  Kind  hinter 
den  Spiegel  greifen,  um  den  gesehenen  Gegenstand  zu  ertappen,  so  beruht 
dies  auf  einer  falschen  Deutung,  und  der  Naturforscher,  der  die  Erschei- 
nung optisch  erklärt,  yerändert  und  negirt  nichts  an  dem  sinnlichen  Eindruck. 

Spaventa  will  dann  für  die  dialektische  Bewegung  eine  besondere 
Gattung  annehmen  (pag.  8:  il  movimento,  come  la  immutabilitk  deir  idea 
non  h  quella  della  semplice  rappresentazione ,  anzi  ^  una  mobilitk  e  immo- 
bilita  sui  generis.)  Als  Idee  sei  die  Idee  unveröjiderlich ,  als  gedacht  von 
dem  Denken,  welches  von  einem  Gedanken  zu  einem  andern  übergeht,  sei 
die  Idee  veränderlich;  Gedachtes  nnd  Denken  sei  aber  identisch,  und  das 
Denken  gehe  nur  zu  anderen  Gedanken  über,  weil  der  Gedanke  selbst  dazu 
antreibe.  Also  sei  die  dialektische  Bewegung  von  besonderer  Gattung.  Ich 
kann  nun  eine  solche  Besonderheit  der  Gattung  leider  nicht  zugestehen,  da 
solche  Hegersche  Bewegung  ganz  bekannt  ist  und  sich  überall  aus  der  ge- 
wöhnlichen Unklarheit  und  populären  Vermischung  von  Vorstellung  und 
Begriff  ergiebt;  denn  wenn  eine  Knospe  sich  entwickelt,  ein  Ei  sich  ent- 
wickelt, ein  Volk,  eine  Literatur,  ein  Charakter,  ein  Begriff  sich  entwickeln, 
wie  man  sagt,  so  fasst  die  Vorstellung  in  unklarer  Weise  eine  ganze  Reihe 
von  Erscheinungen  in  ein  Gesammtbewusstsein  zusammen,  stempelt  das 
Ganze  durch  ein  Wort  der  Sprache  und  macht  es  zu  einer  mythologischen 
Person,  welche  sowohl  Eins  als  Vieles  ist,  sich  verändert  wegen  der  ver- 
schiedenen Phasen  und  bei  sich  bleibt  wegen  der  angenommenen  Einheit  des 
Ganzen.  Offenbar  dürfen  wir  diese  Sprach-  und  Vorstellungsweise  nicht 
abschaffen  wollen,  da  sie  sich  nicht  abschaffen  lässt,  sondern  psychologisch 
ganz  erklärlich  und  natürlich  ist  und  dem  Menschen  ebenso  zugehört,  wie 
der  Schnee  dem  Winter;  aber  wir  können  dadurch  auch  nicht  genöthigt 
werden,  solche  Personificationen  für  eine  wissenschaftliche  und  philosophische 
Erklärung  zu  halten.    Denn  alle  diese  dialektischen  Bewegungen  und_^oge- 

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520  Pantheismus  des  Gedankens. 

kannt  hatte.  Mithin  verachtete  er  die  grobe  AuffassuDg  Gottes 
als  einer  solchen  Substanz  und  führte  sie  in  das  feinere  Wesen 
des  Geistes  über,  der  ihm  nach  dem  Vorgang  der  Alten  nur  als 
actus  purus  erschien.  So  wurde  ihm  Gott  eine  blosse  Function, 
und  darum  gehört  diese  Theologie  in  den  Pantheismus,  und 
zwar  weil  diese  Function  das  Wissen  ist,  in  den  Pantheismus 
des  Gedankens. 

Nun  ist  aber  zweitens  die  Function  nothwendig  an  die 
Goordinate  des  Functionirenden  geknüpft.  Deshalb  schwebt  die 
HegeFsche  Naturphilosophie  haltungslos  in  der  Luft,  weil  die 
Natur  als  blosse  Erscheinung  nicht  weiss,  wem  sie  erscheint  und 

nannten  Entwickelungen  beziehen  sich  nicht  auf  das  reale  Sein  und  die 
wahren  Wesen,  sondern  bloss  auf  die  Phänomene,  welche  bei  der  realen 
Wechselwirkung  der  Wesen  in  unserer  Sinnlichkeit  und  in  unseren  Vor- 
stellungen entstehen.  So  z.  B.  spricht  man  von  der  Vorbereitung,  dem 
Anfang,  dem  Fortgang,  Ausgang  und  Resultat  einer  Schlacht.  Die  Schlacht 
wird  personificirt  und  ihre  Entwickelung  geschildert.  Ebenso  verhält  es 
sich  mit  allen  Dingen,  deren  sogenannte  Entwickelung,  und  mit  allen  Be- 
griffen, deren  sogenannte  dialektische  Bewegung  dargestellt  wird.  Dabei 
müssen  dann  zwei  Maschinen  gebraucht  werden,  um  diese  Theaterdecorationen 
in  Betrieb  zu  setzen,  erstens  die  Negation  oder  Negativität  und  zweitens 
die  Zeit,  ohne  welche  keine  Bewegung  stattfindet.  Denn  dasselbe  Wesen 
muss  nicht-sein  und  sein,  schon  sein  und  noch  nicht  sein,  wenn  es  sich  ent- 
wickelt. Die  Knospe  ist  noch  nicht  Blume  und  doch  schon  Blume  der  Idee 
nach,  sie  hat  das  Negative  in  sich,  negirt  ihren  Zustand  und  geht  zu 
anderen  Entwickelungsstufen  über,  indem  sie  ebensosehr  immer  bei  sich 
bleibt,  wie  sie  immer  von  sich  weggeht,  und  wie  die  anderen  Redensarten 
heissen,  die  für  dieses  Phantasiebild  von  der  metaphorischen  Sprache  erborgt 
werden.  Nun  ist  aber,  wie  ich  in  meiner  Grundlegung  der  Metaphysik  ge- 
zeigt habe,  weder  das  Nichtsein  ein  Sein,  noch  die  Zeit  ein  Wesen  oder 
eine  Eigenschaft  oder  Realität,  sondern  Beides  sind  blosse  Kategorien,  durch 
welche  wir  die  Form  unserer  Denkthätigkeit  bei  Auffassung  jener  Bewusst- 
seinserscheinungen  bezeichnen.  Da  Spaventa  in  seinem  Memoire  diese  Be- 
griffe arglos  in  Hegerschem  Sinne  als  Ausdruck  für  das  Reale  gebraucht  und 
gegen  meine  Analyse  in  der  Metaphysik  nichts  vorbringt,  so  kann  ich  nur 
verlangen,  erst  diese  Begriffe  von  Neuem  zu  untersuchen,  ehe  man  sie  in 
der  populären  und  unklaren  Weise,  wie  bei  Hege^  anwendet;  denn  die  Unter- 
suchung dieser  Begriffe  führt  zum  Absterben  der  Hegerschen  Dialektik,  mit 
welcher  als  mit  einer  Leiche  meine  Coordinationsmethode  keine  Gemeinschaft 
eingehen  und  von  ihr  nicht  einmal  etwas  erben  soll. 

Diese  Bemerkungen  werden  als  Antwort  auf  Spaventa's  Memoire 
hinreichen,  und  ich  muss  dabei  besonders  an  Tari  denken,  dessen  ausgezeich- 
nete Ai'beiteu  einen  grossen  Umfang  des  Geistes  und  ebensowohl  eine  gewisse 
Vorliebe  für  Hegel,  wie  eine  stark  ausgeprägte  Originalität  an  den  Tag  legen. 


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Dogmatik.  521 

wessen  Schein  sie  ist  Doch  dies  will  ich  hier  nicht  weiter  in 
gebührender  Weise  ad  absurdum  führen,  da  es  in  unseren  Gang 
nur  als  Excurs  hineingehören  würde;  dagegen  müssen  wir  nun 
sehen,  dass  Hegel  wenigstens  fUr  das  absolute  Wissen  als 
Function  die  zugehörige  Coordinate  zu  fordern  nicht  nmhin 
konnte;  denn  die  Vermittelung  der  Gegensätze  bedarf  ja  des 
subjectiven  Elements,  in  welchem  der  objective  Inhalt  offenbar 
wird.  Also  konnte  der  absolute  Geist  nicht  etwa  seine  subjective 
Seite  en  bloc  in  der  ganzen  Welt  haben,  um  so  ein  Gott  mit 
allgegenwärtiger  Allwissenheit  im  Sinne  der  alten  Dogmatik  nnd 
ein^transscendentes  Gespenst  zu  werden,  sondern  er  musste  in 
dem  einzelnen  Snbject  zur  Geburt  kommen  und,  wie  bei 
Piaton,  Mensch  werden,  damit  in  dieser  concreten  Substanz 
dnrch  den  dialektischen  Process  das  absolute  Wissen  in  der  Ver- 
einigung des  objectiven  und  subjectiven  Geistes  erreicht  würde. 
Das  einzelne  Subject  ist  aber  für  Hegel  bloss  momentanes  Glied  in 
der  allgemeinen  dialektischen  Bewegung,  und  so  wird  der  absolute 
Geist  gezwungen  wie  bei  einem  Musikstück  jetzt  in  einer  punk- 
tuellen Note  wirklich  zu  werden,  um  dann  immer  auf  eine 
andre  und  wieder  eine  andre  Note  überzuspringen,  da  die  Subjecte 
wie  die  Töne  in  dem  Strudel  der  alles  fressenden  Zeit  in's 
Nichts  verrauschen.  Dieser  Gedanke  ist  zwar  auch  schon  Pla- 
tonisch und  von  dem  dichterischen  und  göttlichen  Manne  in  dem 
schönen  Bilde  des  Fackellaufes  ausgedrückt;  allein  obgleich  in 
dieser  Platonischen  Fassung  noch  ein  wichtiges  Merkmal  hinzu- 
genommen ist,  das  bei  Hegel  gänzlich  fehlt,  nämlich  die  Con- 
tinuität  der  göttlichen  Weisheit  in  der  Welt,  so  ist  doch  zugleich 
damit  erwiesen,  dass  Hegel  mit  seiner  Philosophie  unvermögend 
war,  das  Christenthum  zu  verstehen,  dass  er  vielmehr  pan- 
theistisch  das  Ich  in  seine  theoretische  Function  verschwinden 
lässt  nnd  weder  eine  ewige  Persönlichkeit  des  Menschen,  noch 
des  Gottes  begreifen  kann. 

Interessant  ist  es  auch,  dass  die  Lust  und  Seligkeit,  welche 
Piaton  zögernd  dem  höchsten  Wissen  nicht  mehr  zugestehen  mochte, 
von  Hegel  gänzlich  ausgelöscht  wird;  denn  die  Affekte  und  auch  das 
höhere  Gefühl,  wie  es  in  der  Kunst  und  der  Religion  noch  vorhanden 
ist,  verschwindet  in  dem  al)soluten  Geiste,  so  dass  Lust  wie  Schmerz 
nur  den  niederen  Offenbarungsstufen  der  göttlichen  Idee  angehören 
und  den  Charakter  der  Endlichkeit  und  des  Werdens  an  sich  tragen. 

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522  Pantheismus  des  Gedankens. 

§  6.     Verlegenheiten  christlicher  Dogmalik. 

Da  wir  nan  so  den  Idealismus  kennen  gelernt  haben,  so 
ergiebt  sich  klar,  dass  wenn  eine  Idee  an  die  Spitze  der  Welt 
gestellt  wird,  auch  die  höchste  Leistung  in  der  Welt,  das  Heil 
und  die  Vollkommenheit  nur  eine  theoretische  Function  sein 
kann  und  dass  also  der  Idealismus  nicht  die  geeignete  Philosophie 
ist,  welche  einer  christlichen  Dogmatik  zu  Grunde  liegen  darf. 
Gleichwohl  ist  es  den  Theologen  nicht  zu  verüblen,  dass  sie  von 
Anfang  an  mit  dem  Idealismus  Fühlung  suchten,  weil  diese 
philosophische  Richtung  bisher  die  bedeutendste  und  fruchtbarste 
gewesen  ist  und  auch  durch  den  Gang  der  Geschichte  die  logische 
Bildung  der  Kirchenväter  und  die  Formulirung  der  Dogmen  be- 
stimmte. Alle  Theologen  konnten  aber  ihre  ächten  christlichen 
Wahrheiten  immer  nur  zur  linken  Hand  dem  Idealismus  antrauen, 
und  keine  theologische  Dogmatik  erreichte  bis  jetzt  einen  streng 
wissenschaftlichen  Charakter,  wo  man  wenigstens  nicht  das 
Ghristenthum  zu  Gunsten  der  idealistischen  Philosophie  gänzlich 
aufzuopfern  bereit  war. 

Wie  wenig  man  aber  bisher  umhin  konnte,  von  dem  Idealismus 
Abstand  zu  nehmen,  das  will  ich  nur  durch  zwei  angesehene 
Namen  entgegengesetzter  Richtung  illustriren.  So  behauptet  z.  B. 
Alexander  von  Oettingen  (christliche  Sittenlehre  H  S.  305), 
genau  im  Sinne  und  nach  dem  Wortlaut  idealistischer  Welt- 
anschauung, „dass  auf  der  Voraussetzung  von  der  Homogeneität 
zwischen  Object  und  Subject  alle  Wissenschaft  ruht",  und  dass 
,Jede  gesunde  Erkenntnisstheorie  in  der  Gewissheit  wurzelt,  dass 
jenes  der  Welt  zu  Grunde  liegende  Ewige  und  Ideale  in  ihr 
sich  für  uns  zeitlich  und  räumlich  offenbare".  Darum  acceptirt 
er  von  Aristoteles  das  ideale  Prius  aus  der  Politik  (S.  40),  um 
die  Einzelperson  in  die  Gemeinschaft  einzuschliessen ,  darum 
nimmt  er  von  Hegel  die  logischen  Termini,  das  „Aufheben" 
(S.  38),  die  „Wahrheitsmomente"  (S.  432)  und  die  dialektischen 
Gegensätze  der  Entwickelung  auf  und  spricht  zuweilen  wie  der 
radicalste  Idealist,  z.B.  S.  306:  „Wenn  nicht  in  den  Dingen  eine 
ratio  läge,  so  wäre  eine  rationelle  Erfassung  derselben  unmöglich. 
Umgekehrt,  wenn  wir  nicht  rationell  begabt  wären,  so  bliebe 
uns  die  mit  innerer  Logik  erftlllte  Welt  ein  Buch  mit  sieben 
Siegeln".    Allein  obgleich  von  Oettingen  in  der  herkönunlichen 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Dogmatik.  523 

Phraseologie  des  Idealismus  auch  von  „göttlicher  Weltlogik" 
redet,  so  sieht  man  doch  überall,  dass  seine  christlichen  Ge- 
danken wie  die  Glieder  eines  starken  Mannes,  der  aus  Noth  den 
Bock  eines  Knaben  tragen  muss,  lang  herausragen  und  die  Käthe 
zerrissen  haben.  Und  diese  Ueberzeugung,  dass  die  christliche 
Lehre  doch  wohl  noch  einen  passenderen  Rock  als  den  des 
Idealismus  verdiene,  spricht  v.  Oettingen  auch  geradezu  aus, 
wenn  er  z.  B.  sagt,  dass  er  das  „Begriflfsalphabet  der  Zeit"  ge- 
brauchen müsse,  worin  doch  eben  die  Meinung  liegt,  dass  er 
die  Ausdrucksweise  selbst  nicht  für  allezeit  gültig  und  ge- 
nügend halte. 

Gehen  wir  nun  zu  einem  freisinnigen  Theologen  über,  der 
ebenso,  wie  der  orthodoxe,  in  der  Philosophie  wohlbewandert 
ist,  so  lesen  wir  z.  B.  bei  Otto  Pfleiderer  (Genet-specul. 
Religionsphilosophie  1884  S.  642):  „Wie  sollen  wir  uns  die 
Möglichkeit  der  Uebereinstimmung  (der  an -sich -seienden  mit 
miserer  gedachten  Welt),  deren  Wirklichkeit  wir  nicht  bezweifeln 
können,  anders  erklären  als  durch  die  Voraussetzung,  dass  die 
in  unserer  Natur  angelegten  Erkenntnissgesetze  und  die  in  den 
Dingen  liegenden  Seinsgesetze  ihren  gemeinsamen  Grund  haben 
in  einer  schöpferischen  Vernunft,  deren  Gedanken  sich  theils  ob- 
jectiv  in  den  nothwendigen  Seinsverhältnissen  der  Welt,  theils 
subjectiv  in  den  angeborenen  Functionsnormen  unserer  die  Welt 
abbildenden  Erkenntnissthätigkeit  ausdrücken?"  Aber  auch 
Pfleiderer  sucht  sich  aus  den  Schranken  dieser  einseitig  logischen 
Weltauffassung  zu  befreien,  erkennt  deshalb  von  den  beiden  Ro- 
mantikern Schelling  und  Schopenhauer  (S.  644)  die  „Urrealität 
im  Wollen"  an  und  zeigt  endlich  hier  und  da,  wie  mir  scheint, 
auch  eine  Sympathie  mit  meiner  Metaphysik.  Nun  verträgt  sich 
aber  einerseits  das  Schopenhauer^sche  Wollen  als  Substanz,  das 
seine  Kategorien  der  Intelligenz  schenkt,  auf  keine  Weise  mit 
dem  logischen  Idealismus;  andrerseits  kann  meine  Metaphysik, 
die  von  einer  Kritik  aller  bisherigen  Ontologie  anhebt  und  in 
dem  Ich  und  dem  Gottesbewusstsein  die  Quelle  der  Kategorie 
des  substanzialen  Seins  findet,  weder  mit  einer  schöpferischen 
Vernunft,  noch  mit  romantischer  Willenssubstanz  vereinigt  werden. 
Man  sieht  deshalb  schon,  ohne  unnöthiger  Weise  in  eine  subtilere 
Analyse  der  Begriffe  einzugehen,  dass  Pfleiderer  durch  die  po- 
sitive Macht  des  christlichen  Lebensinhalts  dazu  getrieben  wurde, 

uiumzeu  uy  V^J  WvJV  Iv^ 


524  Pantheismus  des  Gedankens. 

mit  einem  hohen  und  vorartheilslosen  Geiste  eine  neue  und  um- 
fassendere Philosophie  zu  suchen,  ohne  dass  er  sich  aus  dem 
Bann  des  tiberlieferten  und  in  der  Dogmatik  von  ihrer  Geburt 
an  heimisch  gewordenen  Idealismus  vollständig  befreien  konnte. 
Sehr  lehrreich  ist  aber  auch  das  Schauspiel,  welches  eine 
vom  Idealismus  sich  ablösende  Dogmatik  bietet,  welche  zwar 
die  Klippen  dieses  Standpunktes  erkannt  hat,  aber  ohne  Compass 
und  Steuer  in's  Blaue  segelt  Bitschi  kam  von  HegePs  Tische 
und  sagte  ihm  die  Gastfreundschaft  auf.  Wer  möchte  ihm  diese 
Treulosigkeit  verdenken,  wenn  er  weiss,  dass  Hegel  nicht  ehrlich 
mit  seinen  theologischen  Gästen  verfuhr  und  den  Wein  der  Philo- 
sophie unter  falschen  Etiquetten  credenzte.  Aus  Angst  vor  dem 
Idealismus  flüchtete  Ritschi  aber  soweit,  dass  er  auch  aller 
Philosophie  aus  dem  Wege  ging.  Wie  sollte  er  nun  aber  auf 
dem  grossen  Ocean  der  Meinungen  allein  seinen  Weg  finden? 
Er  hoffte  sich  nach  den  positiven  Bedtirfnissen,  Glaubensvor- 
stellungen und  Gefühlen  der  christlichen  Gemeinde  orientiren  zu 
können.  Das  klingt  zuerst  recht  vertrauenerweckend  und  nament- 
lich für  alle,  denen  das  Denken  sauer  wird,  ganz  verlockend; 
denn  es  schien  ja,  als  könne  man  nun  gleich  in's  voUe  Menschen- 
leben hineinpacken  und  immer  Interessantes  finden.  Allein  bei 
allen  ordentlichen  Dingen  ist  doch  Kopf  vonnöthen  und  so  zeigte 
sich,  dass  der  positive  Inhalt  der  Religion  ausgelegt,  bestimmt, 
irgendwie  bewiesen  und  vertheidigt  werden  muss;  Philosophie 
also  war  unentbehrlich;  denn  es  ist  einem  auch  nur  einigermassen 
gebildeten  Menschen  doch  nicht  zuzumuthen,  etwas  zu  glauben, 
was  nicht  wahr  ist,  und  jeder  Gläubige  trägt  sich  mit  dem 
Bewusstsein,  die  Wahrheit  zu  erkennen,  und  käme  in  Schreck, 
Verwirrung  und  Trostlosigkeit,  wenn  man  ihm  die  Unwahrheit 
und  Leerheit  seines  Glaubens  zeigen  könnte.  Um  nun  der  von 
der  Wissenschaft  abgelösten  christlichen  Glaubenssphäre  etwas 
Licht  und  Orientirung  zu  verschaffen,  griff  Ritschi  eklektisch  auf 
gut  Glück  nach  einigen  philosophischen  Begriffen,  die  von  nicht- 
hegelschen  Denkern  auf  den  Markt  gebracht  waren,  und  nament- 
lich gefielen  ihm  einige  Stellen  bei  Lotze,  die  er  für  seinen 
Hausbedarf  verwendete.  Allein  da  Lotze  kein  durchgeftlhrtes 
System  besass  und  überhaupt  nur  so  arbeitete,  dass  er  die  in 
seiner  Zeit  gerade  vorgefundenen  entgegengesetzten  Meinungen 
unparteiisch  beleuchtete  und  gemüthvoU  vermittelte,  so  blieb  es 

uiumzeu  uy  VwJ  W\J>t  Iv^ 


Dogmatik.  525 

immer  fraglich,  ob  die  von  Ritschi  aus  Lotze's  Schriften  oder 
auch  aus  anderen  Quellen  eklektisch  aufgenommenen  Begriffe 
wahr  seien  und  wer  eigentlich  über  diese  Frage  urtheilen  solle, 
da  doch  nicht  bloss  die  Dreistigkeit  über  die  Wahrheit  ent- 
scheiden kann. 

Wenn  Ritschi  nun  wegen  seines  Vorhabens,  die  Religions- 
wissenschaft auf  eigene  Füsse  zu  stellen  und  von  der  arroganten 
Vormundschaft  des  Idealismus  zu  befreien,  volle  Sympathie  ver- 
dient, so  brachte  ihn  doch  seine  Flucht  vor  aller  Metaphysik 
schliesslich  nur  zur  Wahl  zwischen  Scylla  und  Charybdis.  Ent- 
weder nämlich  muss  man  auf  diesem  Wege  zu  einem  Selbst- 
backenbrot von  Wissenschaft  kommen,  wie  die  Brüdergemeinden, 
in  denen  irgend  ein  Gevatter  Schuster  oder  Schneider  in  Hemds- 
ärmeln seinen  Geist  bei  der  Auslegung  der  Schrift  leuchten  lässt, 
ohne  sich  um  die  durch  Philosophie  geschulte  Arbeit  theo- 
logischer Gelehrsamkeit  zu  kümmern;  und  man  darf  sich  nicht 
einbilden,  als  wäre  der  feinere  sogenannte  Eklekticismus  über 
diesen  Standpunkt  erhaben,  da  es  principiell  einerlei  ist,  ob  ein 
Handwerksmann  oder  ein  theologischer  Gelehrter  bloss  nach 
seinem  subjectiven  Gutdünken  und  nach  dem  zuf&lligeh  Strome 
seiner  Einfälle  sich  dieser  oder  jener  ihm  gerade  aufgegangenen 
philosophischen  Begriffe  bedient.  Der  zweite  Weg  des  Dilenmias 
führt  dahin,  zwischen  der  Welt  des  Glaubens  und  der  Wirklich- 
keit einen  Vorhang  zu  befestigen,  indem  man  ftlr  sich  mit  ge- 
sunder Vernunft  irgend  eine  beliebige  Auffassung  der  wirklichen 
Welt  gewinnt,  dieselbe  aber  wie  einen  Alltagsrock  auszieht,  wenn 
man  in  die  Kirche  tritt,  wo  gewisse  alte  Illusionen  das  Gemüth 
unter  dem  Geläute  der  Glocken  plötzlich  überwältigen  und  wo 
man  in  einer  alterthümlichen  Sprache  sofort  über  alle  auf  der 
anderen  Seite  des  Vorhangs  unlösbaren  Fragen  der  Metaphysik, 
über  Gott  und  Schöpfung,  Seele  und  Seligkeit  sichere  Kunde  er- 
hält und  selbst  mit  Hülfe  dieser  Sprache  den  lieben  Brüdern 
alle  Räthsel  löst  und  ihnen  warm  zu  Herzen  spricht,  bis  man 
wieder  in  die  Welt  zurückkehrt,  seinen  AUerweltsrock  wieder 
anzieht  und  wieder  ebenso  Ignorant  oder  materialistisch  und  posi- 
tivistisch denkt,  wie  alle  vernünftigen  Leute  der  Zeit.  Die  Theo- 
logie Ritschis  schwankt  zwischen  diesen  beiden  Gonsequenzen, 
ohne  sich  weder  ihres  Eklekticismus  bewusst  zu  werden,  noch 
nach  Art  des  Kantischen  Positivismus  ehrlich  zu.  ^bekennen,  dass 


526  Pantheismus  des  Gedankens. 

die  illusorische  Glaubensmetaphysik  in  die  erste  Periode  Comte's 
gehöre  und  nur  als  Rudiment  in  unserer  aufgeklärten  Zeit  noch 
fortvegetire. 

Man  sieht  also,  dass  der  Idealismus  ebenso  gefährlich  ist, 
wenn  man  ihn  annimmt,  als  wenn  man  sich  soweit  von  ihm  ent- 
fernt, zu  meinen,  man  könne  sein  trocken  Brot  ohne  das  Salz 
der  Metaphysik  verzehren.  Die  christliche  Religion  bietet  aber 
selbst  eine  Metaphysik  und  verlangt  volle  Ueberzeugung,  woran 
Kopf  und  Herz  gleichen  Antheil  haben.  Also  darf  die  Religion 
nicht,  wie  eine  erträumte  Insel,  vor  den  unreinen  Füssen  der 
weltlichen  Wissenschaft  und  Philosophie  gehütet  werden,  sondern 
es  muss  umgekehrt  jedem  Forscher  ein  Freipass  zum  Eintritt  zu- 
konmien,  damit  die  Wahrheit  der  Glaubenswelt  auch  von  aller 
Wissenschaft  könne  bezeugt  und  besiegelt  werden.  Darum  ver- 
langt die  christliche  Theologie  nach  einer  Metaphysik,  die  auf 
freien  weltlichen  Füssen  steht  und  nur  Erfahrung  und  Vernunft 
anerkennt,  durch  ihre  eigene  selbständige  Forschung  aber  dazu 
gelangt,  die  natürliche  Metaphysik  der  christlichen  Religion  zu 
verstehen  und  anzuerkennen.  Eine  solche  Metaphysik  war  seit 
Hegel  ein  Desiderat,  und  sie  konnte  sich  überhaupt  erst  aus- 
bilden, wenn  das  Ich  sich  selbst  von  seinen  Functionen  unter- 
schied und  wenn  die  Erkenntnissfunction  sich  in  die  specifischen 
und  semiotischen  Formen  gliederte,  damit  die  seit  Piaton  Alles 
in  sich  verzehrende  Flamme  der  blossen  Erkenntnissfunction 
zwar  nicht  gelöscht  würde,  aber  in  gerechten  Gränzen  ihr  wohl- 
thätiges  Licht  auch  zur  Anerkennung  der  Persönlichkeit  selbst 
und  ihrer  übrigen  Functionen  leuchten  Hesse.  Dann  bedarf  man 
nicht  mehr  der  nächtlichen  Separatvorstellungen  König  Ludwigs, 
welche  Ritschi  für  die  Gläubigen  empfahl,  sondern  kann  Publikum 
und  Recensenten  getrost  zulassen,  da^  der  Gläubige  flir  sein 
heimliches  Evangelium  nichts  zu  fürchten  braucht.  Statt  die 
Religion  mit  Ritschi  in  eine  hausbackene  Kantische  Recht- 
schaffenheitslehre  umzuwandeln,  fttr  welche  der  Theologe  als 
Regisseur  bloss  das  correcte  alterthümliche  religiöse  Costume 
besorgen  solle,  wird  eine  muthige  Theologie  vielmehr  die 
historische  Kritik  und  die  Philosophie  offen  herausfordern,  weil 
das  Christenthum  eine  wirkliche  Wahrheit  verkündigt  und  wie 
damals,  so  heute  und  für  «alle  Zeit  in  der  wirklichen  Welt  gelten 
will  und  zu  gelten  das  Zeug  hat. 

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Dogmatik.  527 

§  7.   Zugehörige  positive  Religionen. 

Nachdem  wir  nun  die  Dogmatik  des  theoretischen 
Pantheismus  in  den  entscheidenden  Grundbegriffen  ®''**^°**"*«°^"- 
charakterisirt  und  auch  gesehen  haben,  wie  stark  diese  Richtung 
auf  die  wissenschaftlichen  Lehrer  des  Christenthums  einwirkte, 
bleibt  uns  die  Frage,  ob  nicht  etwa  eine  ganze  grosse  Volks- 
religion namhaft  gemacht  werden  könnte,  die  unter  diese  Form 
fiele.  Allein  darauf  wissen  wir  ja  sofort  die  Antwort;  denn  da 
der  Pantheismus  auf  dem  Verschwinden  des  Ichs  in  den  geistigen 
Functionen  beruht  und  ein  Uebergewicht  des  theoretischen  Geistes 
nie  bei  einem  ganzen  Volke  vorhanden  sein  kann,  so  wird  es 
auch  keine  Volksreligion  geben,  die  nicht  in  erster  Linie  die 
Elemente  der  Religion  der  Furcht  und  der  Sünde  in  sich  auf- 
genommen hätte.  Mithin  kann  es  sich  nur  um  die  weitere  Frage 
drehen,  ob  nicht  in  einer  Volksreligion  die  leitenden  Kreise,  die 
höher  beanlagten  Bekenner  oder  die  gebildeteren  Priester  dem 
theoretischen  Pantheismus  gehuldigt  haben.  Auf  diese  Frage 
muss  der  Brahmanismus  genannt  werden. 

Wenn  ich  nun  hier  aus  den  vielen  Specialforschungen  fran- 
zösischer, englischer  und  deutscher  Indologen  einen  Auszug 
machen  wollte,  so  würde  nicht  nur  mir  solche  compilatorische 
Arbeit  schlecht  zu  Gesicht  sitzen,  sondern  auch  der  Leser  würde 
ungeduldig  werden,  da  die  Gebildeten  sich  ja  seit  mehr  als  einem 
halben  Jahrhundert  an  indischer  Weisheit  und  Poesie  delectirt 
haben.  Es  kann  sich  also  nur  darum  drehen,  erstens  kritisch 
neue  Auffassungen  zu  begründen,  und  zweitens  dann  diejenigen 
Grundbegriffe  herauszuheben,  die  zur  Einftlgung  des  Brahmanis- 
mus in  die  Religionsform  des  theoretischen  Pantheismus  hin- 
reichen. 

Was  das  Erste  betrifft,  so  halte  ich  Oldenberg's 
Darstellung  (im  „Buddha"  z.  B.  S.  12  ff.)  ftlr  miss-    Bemerkungen. 
verständlich  oder  ftlr  unrichtig,  wenn  er  meint,  das  i. 

ganze  indische  Volk  hätte  keinen  Sinn  gehabt  flir  '"l^ieh^r^^^^^ 
die    natürlichen    menschlichen    Interessen,    für    die       Lebcn^- 
Arbeit,    flir  die  Freiheit   und   den  Kampf  um  das  'ZTZ'inä^ 
Recht  u.  s.  w.,  sondern  es  sei  Handeln  und  Wollen    niemAid  gans 
durch  tropische  ,Ueberftille  formloser  Phantasie  bei  "^^^^^^^^  ^^ 
dem  Uebergewicht  des  Geistes  verschüttet  und  alles 

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528  Pantheismus  des  Gfedankens. 

Leben  dem  bösen  Genius  der  Wissenden,  der  sichtbaren  Ver- 
körperung der  jenseitigen  Welt  in  der  Kaste  der  Brahmanen 
geopfert.  Zu  dieser  Behauptung  kann  man  nur  kommen,  wenn 
man  als  Quelle  bloss  die  philosophischen,  theologischen  und 
liturgischen  Werke  benutzt.  Vergleicht  man  aber  die  Poesie,  so 
sieht  man  doch  gleich,  dass  es  keine  einzige  natürlich  mensch- 
liche Empfindung  giebt,  die  sich  nicht  in  dem  Leben  des  in- 
dischen Menschen  Bahn  gebrochen  hätte.  So  in  erster  Linie  die 
Lust  am  Essen  und  Trinken,  am  Wein  und  Rausch,  dann  die 
Liebe  mit  ihren  rohen  und  ihren  zartesten  ritterlichen  und  ehrbar 
gesetzlichen  Seiten;  ferner  zeigen  uns  die  Epen,  wie  fein  das 
Ehrgeflihl,  wie  stark  der  Ehrgeiz  entwickelt  war;  wir  haben  bei 
den  Indem  auch  die  Odysseus,  die  Nestor,  die  Ajax,  die  Achill. 
Wer  weiss  nicht,  dass  sie  allerlei  weltliche  und  ritterliche  Spiele 
hatten,  Brettspiel  dazu  und  Würfelspiel,  dass  sie,  wie  die  alten 
Germanen,  zwar  ihre  Freiheit  hochhielten,  aber  doch  aus  Leiden- 
schaft schliesslich  sich  selbst  auf  den  Würfel  setzten.  Und  wenn 
Rama  auf  sein  Becht  verzichtet,  so  beruht  die  epische  Hoch- 
schätzung dieses  Opfers  doch  gerade  auf  der  starken  Empfindung, 
die  sonst  für  das  Recht  in  Geltung  war.  Wer  wahre  und  auch 
wer  machiavellistische  Klugheit  im  Regieren  gewinnen  will,  der 
muss  doch  bei  den  Indem  in  die  Schule  gehen,  die  eine  so  aus- 
gezeichnete Begabung  für  unbefangene  und  praktische  Beob- 
achtung besassen,  dass  sie  nicht  nur  die  Charaktere  der  Menschen 
in  allen  Ständen  und  Lebenslagen,  sondern  auch  das  Naturleben 
der  Thiere  in  einer  die  europäischen  Völker  tiberragenden  Fein- 
heit und  Schärfe  geschildert  haben.  Kurz,  ich  möchte  wohl 
irgend  eine  Seite  des  natürlichen  und  sittlichen  menschlichen 
Lebens  genannt  wissen,  die  von  den  Indem  nicht  ebensogut  wie 
von  den  Europäern  im  Mittelalter  gepflegt  wäre. 

Ebensowenig,   wie  in   diesem  Punkte,   kann  ich 
^*  auch  mit  der  Annahme  01denberg*s  und  der  meisten 

Die  Indische  _  tti  -i         ...  i  -i. 

voikareiigioD    audcm  ludologcn  übereinstimmen,  als  wenn  die  grosse 
und  der       rcligiösc  Kucchtung,  in  welche  die  Brahmanen  das 

Brahmanisrnns  -»tu         1111*11.         1  •       1  -r*      1 

sind  speciflsch   gauzc  Volk  allmählich  brachten,  mit  dem  Brahma- 
verschiedene    nismus  Zusammenhinge.    Wer  nicht  an  strenge  philo- 

noliglonsformen.  ,.,▼%...  1  .  .ivii. 

sophische  Distmctionen  gewöhnt  ist,  wird  allerdings 
meinen  mtissen,  dass  die  Brahmanen  doch  natürlich  ihre  brah- 
manische  Religion  und   nicht   etwa   eine  fremde   zur   religiösen 

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Dogmatik.  529 

Erziehung  und  Unterjochung  des  Volkes  benutzt  hätten;  allein 
dabei  läuft  dennoch  eine  logische  Täuschung  unter.  Es  ist  das 
Sophisma  ex  accidente,  welches  hier  dem  Urtheil  einen  Streich 
spielt.  (Obersatz:)  Bei  jeder  Sache  hat  man  zwischen  dem 
Wesen  und  den  zufälligen,  d.  h.  den  bloss  historischen,  Um- 
ständen zu  unterscheiden.  Das  Wesen  wird  in  den  constituirenden 
und  allgemein  erkennbaren  Goordinaten  festgelegt;  das  Zufällige 
kann  nur  historisch  erkannt  werden.  (Untersatz:)  Wenn  man 
nun  das  Wesentliche  der  indischen  brahmanischen  Volksreligion 
aufsucht,  so  sieht  man  sofort,  dass  ihre  Motive  die  uns  aus  der 
Macht-  und  Rechtsreligion  ganz  bekannten  Gefühle  der  Furcht 
und  Hoffnung  einerseits  und  der  Sünde  andererseits  sind  und 
dass  diesen  coordinirt  eine  Dogmatik  steht,  welche  viele  Furcht- 
und  Rechtsgötter  himmlischer  und  menschlicher  Art  zur  Vor- 
stellung bringt,  und  dass  der  Cultus  ebenso  alle  Arten  von 
Opfern,  Entsagungen,  Reinigungen  und  dergleichen  auferlegt, 
kurz  dass  nicht  ein  einziges  Element  in  dieser  Religion  vor- 
kommt, das  uns  aus  dem  Rahmen  der  beiden  projectiven  Reli- 
gionen herausführte.  (Schlusssatz:)  Folglich  ist  die  brahmanische 
Volksreligion  nicht  der  eigentliche  Brahmanismus,  sondern  es 
sind  nur  die  zufälligen  historischen  Umstände,  die  es  mit  sich 
brachten,  dass  die  wesentlichen  Volksreligionselemente  an  den 
Brahmanismus  durch  allerlei  Ideenassociation,  d.  h.  durch  die 
fallacia  ex  accidente  angeknüpft  wurden.  Wir  werden  weiter 
unten  das  Wesentliche  des  Brahmanismus  herausheben  und  dann 
erkennen,  dass  gar  kein  logisch  zwingender  Zusammenhang 
zwischen  beiden  Religionsformen  besteht.  Wenn  der  Bauer  in 
Indien  Reis,  in  Unterägypten  Baumwolle,  in  Andalusien  Orangen, 
am  Rhein  Reben  pflegt,  so  ist  und  bleibt  er  doch  wesentlich 
Bauer,  wie  verschieden  auch  die  durch  die  geogi'aphischen  Ver- 
hältnisse ihm  zugewiesenen  Feldfrüchte  und  die  Formen  des 
Ackerbaues  sein  mögen.  So  ist  auch  die  Volksreligion  in 
Griechenland,  Aegypten  und  Indien  im  Wesentlichen  die  gleiche 
gewesen  trotz  aller  Verschiedenheit  der  Namen  und  Formen; 
denn  die  Motive  des  Gcmüths,  die  zugehörigen  Begriffe  und  die 
zugetfJrigen  Handlungen  waren  ihrem  specifischen  Charakter  nach 
genau  dieselben,  und  es  erfordert  kein  anderes  Capitel  der 
Psychologie,  der  Metaphysik  und  Ethik,  um  alle  diese  Religions- 
formen zu  verstehen,   sondern  es  bedarf  bloss  historischer  Ge- 


Teichmüller,  Bellglonsphilosophle. 

uiyiiizeu 


juy  Google 


530  Pantheismus  des  Gedankens. 

lehrsamkeit,  um  für  die  gleichen  Ideen  die  verschiedenartigen 
Namen  und  eigenthümlicben  Formen  sammt  ihrer  besonderen 
geschichtlichen  Entwickelang  kennen  zu  lernen.  So  ist  ja  auf 
den  ersten  Blick  klar,  dass  die  religiöse  Knechtung  des  indischen 
Volkes  nicht  von  den  abstracten  philosophischen  Speculationen 
des  Vedantismus  ausgehen  konnte,  sondern  von  Vorstellungen, 
welche  Furcht  einzujagen  geeignet  sind,  wie  z.  B.  die  Wieder- 
geburt in  Schlangen  und  Tigern  u.  dergl.  Darum  wird  man 
finden,  dass  der  ganze  knechtende  Bitus,  wenn  er  auch  freilich 
immer  durch  irgendwelche  Eeflexionen  in  einen  künstlichen  Zu- 
sammenhang mit  dem  Vedantismus  gebracht  ist,  wesentlich  nur 
durch  die  Elemente  der  Furchtreligion  gebildet  wird.  Ob  man 
aber,  wie  in  Indien,  eine  Kuh  im  Schlaf  nicht  stören,  oder  wie 
in  Griechenland  beim  Neumond  nicht  fechten  darf,  oder  wie  bei 
den  Römern  die  Verunreinigung  einer  Quelle  durch  Hineinwerfen 
von  Silbermünzen  büssen  muss,  oder,  wie  in  christlichen  Ländern, 
beim  Läuten  der  Vesper  den  Hut  abnehmen  und  ein  Gebet 
sprechen  muss:  air  dergleichen  ist  nur  accidentell  verschieden; 
es  liegen  aber  dieselben  Gefühle  tiberall  zu  Grunde.  Ich  läugne 
deshalb,  dass  der  Brahmanismus  in  Indien  jemals  eine  Volks- 
religion gewesen  sei  und  halte  die  indische  Volksreligion  und 
den  Brahmanismus  flir  speci fisch  verschiedene  Religionen,  die 
bloss  nach  dem  Paralogismus  ex  accidente  identificirt  worden 
sind.  Für  die  Religionswissenschaft  ist  es  aber  von  der  höchsten 
Wichtigkeit,  sich  in  solchen  Fragen  nicht  vor  scheinbarer  Para- 
doxie  zu  ittrchten,  sondern  unbekümmert  um  die  historischen 
Verwachsungen  und  geographischen  Verschmelzungen  mit  sicheren 
Reagentien  die  specifischen  Charaktere  jeder  Religionsform  fest- 
zustellen, weil  man  ohne  solch  streng  methodische  Analyse 
schliesslich  auf  ein  wissenschaftliches  Urtheil  über  die  Religionen 
verzichten  muss  und  nur  lauter  Mehr  oder  Weniger  und  lauter 
Compromisse  und  sich  selbst  widersprechende  Charakteristiken 
vorbringen  kann  und  beständig  Clausein  anhängen  muss,  um  nur 
einen  Gegenstand,  der  gar  nicht  einfach  ist,  als  einfach  zu  be- 
handeln. 

Darum  kann  ich  auch  mit  Max  Müller,  dessen  geistvollen 
Schriften  wir  so  unendlich  viel  Anregung  und  Belehrung  über 
Indische  Religion  und  Weisheit  zu  verdanken  haben,  nicht  ganz 
übereinstimmen,   wenn  er  (Indien  in   seiner  weltgeschichtlichen 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Dogmatik.  531 

Bedeutung  1884  S.  215)  sagt:  „Bis  auf  den*  heutigen  Tag  erkennt 
Indien  keine  höhere  Autorität  in  Sachen  der  Religion,  des  Cere- 
moniells,  des  Rechts  und  der  Sitten,  als  den  Veda,  und  so  lange 
Indien  Indien  ist,  wird  niemand  jenen  alten  Geist  des  Vedan- 
tismus  auslöschen,  welcher  von  jedem  Hindu  von  frühester  Jugend 
an  geathmet  wird  und  in  verschiedener  Gestalt  selbst  die  Gebete 
des  Götzendieners  wie  die  Speculationen  des  Philosophen  und 
die  Sprichwörter  des  Bettlers  durchdringt" 

Was  zunächst  die  Prophezeihung  betrifft,  so  scheint  es  mir 
nicht  so  unglaublich,  dass  Indien  aufhören  könnte,  Indien  zu 
sein,  sobald  nämlich  mit  der  Zeit  europäische  Wissenschaft  und 
allgemeinerer  Schulunterricht  nebst  den  zugehörigen  gesellschaft- 
lichen Reformen  dort  eindringen  werden,  wie  jetzt  schon  das 
Ausserordentliche  geschehen  ist,  dass.  Indische  Frauen  selbst  um 
eine  würdigere  sociale  Stellung  petitionirten.  Zweitens  sehe  ich 
aus  der  Geschichte,  dass  die  Religionsform  keinem  Menschen 
und  keinem  Volke  im  Blute  liegt,  sondern  dass  die  Religionen 
internationales  Gut  und  export-,  wie  import- fähig,  wie  das 
Christenthum,  sind.  Drittens  erlaube  ich  mir,  dem  verehrungs- 
würdigen Nestor  indischer  Weisheit  in  der  Gegenwart  die  Frage 
vorzulegen,  ob  die  Religion,  die  der  Götzendiener,  der  Philosoph 
und  der  Bettler  in  Indien  bekennt,  nicht  bloss  dem  Namen  nach 
dieselbe,  dem  Wesen  nach  aber  specifisch  verschieden  sein 
müsse.  Ich  kann  nach  der  ganzen  bisher  deducirten  Eintheilung 
der  Religionen  nicht  umhin,  die  drei  vedischen  Religionsformen, 
welche  uns  M.  Müller  so  scharfsinnig  und  so  siegreich  gegen 
H.  Spencer  unterschieden  hat,  nämlich  die  Religion  der  Devas, 
der  Pitrs  und  des  Rta,  zu  den  beiden  von  mir  sogenannten 
projecti vischen  Religionsformen  zu  rechnen.  Und  es  scheidet 
sich  davon  durch  eine  tiefe  Kluft  die  specifisch  verschiedene 
pantheistische  Vedantaphilosophie,  die  nur  historisch,  aber  nicht 
wesentlich  mit  jenen  zusammenhängt,  so  dass  keine  von  beiden 
Gruppen  als  eine  logische  Folgerung  aus  der  anderen  abgeleitet 
werden  könnte,  da  vielmehr  für  die  Vedantareligion  ein  neuer 
Gedankenweg  erforderlich  ist,  um  die  projectivische  Welt  der 
Furchtgötter  und  des  Gesetzes  aufzugeben  und  erkenntniss- 
theoretisch das  Absolute  im  eigenen  Selbst  zu  suchen  und  zu 
finden. 


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532  Pantheismus  des  Gedankens. 

Der  ßeligionsphilosoph  kann  leicht  dazu  ver- 
und  leitet  werden,  einen  Unterschied  in  der  religiösen 
rciigiöBe  Speculation  zu  betonen,  der  zuerst  als  wesentlich  er- 
scheint, bei  genauerer  Betrachtung  aber  sich  als  un- 
wesentlich erweist.  Nehmen  wir  z.  B.  das  Evangelium  Jöhannis 
und  vergleichen  es  mit  der  Summa  des  hlg.  Thomas  oder  mit 
Hegers  Logik.  Auf  den  ersten  Blick  ist  der  Unterschied  unge- 
heuer gross,  weil  wir  auf  der  einen  Seite  lauter  unbestimmte  in 
Bildern  ausgedrückte  BegriflFc  und  ohne  jeden  Weg  und  Beweis 
bloss  zuversichtlich  ausgesprochene  Urtheile  finden,  während  auf 
der  anderen  Seite  jeder  Gedanke  analysirt,  jeder  BegriflF  definirt 
und  dividirt  ist  und  ausserdem  eine  Methode  ausführlich  erörtert 
wird,  wodurch  wir  der  richtigen  Ableitung  des  Urtheils  sicher 
werden  sollen  und  die  wissenschaftliche  Ueberzeugung  gewinnen, 
dass  alle  möglichen  Gegenstände  der  Erkenntniss  eingefangen 
und  nichts  aus  dem  System  weggelassen,  dagegen  alles  über- 
haupt Denkbare  an  seinem  bestimmten  Platze  im  System  geordnet 
verzeichnet  steht.  Gleichwohl  ist  der  Unterschied  zwischen  diesen 
beiden  Formen  des  Denkens  unwesentlich,  denn  es  ist  dieselbe 
Geistesfunction,  welche  arbeitet,  und  derselbe  Gegenstand,  welcher 
erforscht  wird;  es  dreht  sich  also  nur  um  verschiedene  Stufen 
der  Ausbildung,  Uebung  und  Schulung,  und  es  ist  sogar 
recht  häufig  die  Leistung  des  ungeschulten  Denkers  vorzüglicher 
als  die  des  Gelehrten.  So  waren  z.  B.  Baader  und  Schelling 
besser  geschult,  als  der  Schuster  Jacob  Böhm,  und  doch  nahmen 
sie  das  Salz  ihrer  Gedanken  von  diesem.  Wir  werden  deshalb 
in  der  Religionsphilosophie  nicht  darauf  achten,  ob  ein  BegriflF 
seinen  schulmässigen  Ausdruck  gefunden  habe,  oder  nicht, 
sondern  welcherlei  Inhalt  der  BegriflF  hat,  und  darnach  allein 
werden  wir  die  Religion  classificiren. 

Was  z.  B.  den  Brahmanismus  vor  dem  Auftreten  Buddhas 
betriflFt,  so  ist  es  augenfällig,  dass  zwar  schon  eine  Menge  dog- 
matischer Subtilitäten  vorliegen,  aber  doch  noch  keine  philo- 
sophische Disciplin  ausgearbeitet  ist,  und  man  also  die  religiösen 
BegriflFe  nicht  so  scharf  fassen  kann,  wie  etwa  die  christlichen 
Gedanken  in  den  scholastischen  Compendien.  Nichtsdestoweniger 
sind  die  theologischen  Gedanken  der  Brahmanen  keine  Phantasie- 
bilder, sondern  stammen  aus  der  Arbeit  des  Denkens  und 
geben  klare  Begriffe,  so  dass  wir  den  Lehrinhalt  durchaus  ver- 


Dogmatik.  633 

Stehen  und  die  ganze  Religionsform  ihrem  specifischen  Charakter 
nach  bestimmen  und  classificiren  können. 


Dass  nun  die  alte  Brahmareligion  pantheistisch 

Brabmaolamaa. 


war,  braucht  nicht  erst  erwiesen  zu  werden,  da  bis      ^^^  *^^^ 


jetzt  Niemand  daran  gezweifelt  hat.  Für  uns  ist  es 
nur  interessant,  feinere  Unterschiede  hervorzuheben.  Es  fragt 
sich  nämlich,  ob  die  Brahminen  auf  dem  naiven  projecti  vischen 
Standpunkte  geblieben  sind  und  bloss  die  äusseren  sogenannten 
Dinge  alle  in  die  Eine  projectivische  Substanz,  die  also  den 
Charakter  der  unbestimmten  Materie  annehmen  musste,  ver- 
schwinden liessen,  oder  ob  sie  schon,  wenigstens  in  der  späteren 
Zeit,  auch  die  kritische  Stellung  einnahmen  und  die  Dinge  als 
Erscheinungen  des  Bewusstseins  erkannten.  Diese  Frage  finde 
ich  meistens  nicht  scharf  genug  hervorgehoben,  und  auch  bei 
Oldenberg  ist  die  philosophische  Auffassung  nicht  subtil  genug. 

Eine  Antwort  ergiebt  sich  aber  erst,  wenn  wir  den  zweiten 
Charakterzug  des  Brahmanismus  feststellen.  Der  Pantheismus 
desselben  ist  nämlich  nicht  derart,  dass  im  Fortschritt,  in  Werk- 
heiligkeit, in  Staat,  Kirche  oder  Kunst,  auch  nicht  im  Geflihl 
das  Heil  und  die  Vollkommenheit  gesucht  worden  wäre,  sondern 
es  ist  keinem  der  Indischen  Forscher  verborgen  geblieben,  dass 
der  Brahmine  die  Vollendung  seines  Lebens  und  der  Welt  in 
die  Erkenntniss  setzt,  dass  wir  also  einen  theoretischen 
Pantheismus  vor  uns  haben.  Es  ist  aber,  wie  oben  erinnert, 
hier  ganz  gleichgültig,  ob  diese  Richtung  auf  Erkenntniss  sich 
in  den  gelehrten  Bahnen  methodisch  -  wissenschaftlicher  Arbeit 
oder  naturalistisch  in  ungeschulter  Speculation  vollzogen  habe. 

Wenn  vnr  nun  unter  den  ächten  Anhängern  des  Vedantismus 
die  mehr  philosophisch  angelegten  Naturen  verstehen,  in  denen 
das  Vermögen  zur  Handlung  und  das  zugehörige  Gefühl  schwächer 
reagirten,  so  können  wir  vollkommen  begreifen,  dass  die  äusseren 
Dinge  und  Ereignisse,  in  deren  Getriebe  sie  sich  nicht  mischten, 
ihnen  bloss  als  Bewusstseinserscheinungen  vorkommen  mnssten 
und  dass  sie  bei  dem  fortwährenden  Wechsel  der  Dinge,  wie 
Piaton,  das  flir  den  Gedanken  Bleibende  suchten  und  so  endlich 
das  Eine,  welches  seinem  Wesen  nach  ganz  unbestimmt  ist, 
fanden.  Diesem  Einen,  objectiv  genommen,  entspricht  aber, 
subjectiv  genommen,   die   erkennende  Thätigkeit,    die   hier  als 

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58  4  Pantheismus  des  Gedankens. 

Ich  oder  als  die  ganze  Seele  erscheint  Sie  nannten  diese  snb- 
jective  Seite  Atman  und  die  objective  Brahma.  Sofern  nun  in 
dem  Ich  noch  irgend  eine  Besonderheit,  etwas  Individuelles  vor- 
handen ist,  trennt  es  sich  nothwendig  von  einem  Andern  ab  und 
geht  also  nicht  rein  in  das  Object  auf.  Mithin  ist  der  noth- 
wendige  Schluss  dieser  Speculation,  wie  wir  dies  ja  auch  bei 
allen  Idealisten  gefunden  haben,  dass  die  in  das  rein  Allgemeine 
und  Unbestimmte  sich  verlierende  Ichheit  sich  ftir  göttlich  oder 
vereint  mit  Gott  erkennen  muss,  wenn  sie  in  das  rein  Allgemeine 
und  Unbestimmte,  in  die  leere  Einheit  des  ideellen  Objects  ver- 
schwunden ist.  Atman  und  Brahma  müssen  congruiren;  denn 
das  Vorgestellte,  der  ganze  Inhalt  und  das  Wesen  der  Welt 
müssen  von  einem  Vorstellenden,  einem  „Erkenner*'  erkannt  und 
vorgestellt  werden.  Dies  vorstellende  Wesen  darf  aber  nichts 
Besonderes  mehr  an  sich  haben,  weil  es  sonst  nur  einen  besondem 
und  von  Anderen  verschiedenen  Gegenstand  zum  Inhalt  hätte; 
also  muss  das  reine  Subject  mit  dem  reinen  Object  zusammen- 
fallen, der  Gott  im  Menschen,  im  Brahmanen,  seine  lebendig 
gegenwärtige  Wirklichkeit  haben  und  der  Mensch  die  Fülle  und 
Kraft  der  ganzen  Gottheit,  deren  Erscheinung  die  Welt  in  allen 
ihren  Wesen  ist,  sich  aneignen  und  in  sich  besitzen.  Die  un- 
glaubliche Arroganz  der  Brahminen  und  zugleich  die  unfrucht- 
bare Leerheit  dieser  Religion  ist  durch  solchen  Gedankengang 
durchaus  verständlich.  Es  ist  dieser  Standpunkt  aber  nicht 
bloss  indisch,  sondern  er  wiederholt  sich  nothwendig  tiberall, 
wo  man  sein  Ich  in  die  blosse  erkennende  Thätigkeit  ver- 
schwinden lässt.  Auch  bei  Piaton  hat  man  überall  die  Ver- 
achtung des  Vielen,  des  Zerstückelten,  des  Wechselnden  und 
damit  der  Welt,  da  das  Eine,  das  Ganze  und  das  Ewige  in  uns 
durch  die  Allgemeinheit  der  Erkenntniss  vorhanden  ist.  Auch 
Schleiermacher  hielt  deshalb  die  Welt  und  die  Weltgeschichte 
nur  für  eine  Beispielsammlung  für  das  Allgemeine  der  ethischen 
Ideen  und  für  die  Dialektik. 

Da  nun  alles  Einzelne  im  Allgemeinen  enthalten  ist,  so 
folgt  sehr  natürlich,  dass  die  Brahminen  auch  die  Herrschaft  über 
die  Götter,  die  sie  als  Symbole  flir  die  einzelnen  Reiche  des 
psychischen  und  physischen  Lebens  auffassten,  ebenso  über  die 
äussere  Natur  und  die  Menschenwelt  in  Anspruch  nahmen. 
Zugleich  mussten   die  Handlungen ,   welche   den  Gedanken  des 

uiymzeu  uy  "V-j  v-zv^'pt  iv^ 


Dogmatik.  535 

Verschwindens  des  Menschen  in  das  Göttliche  oder  die  Gegen- 
wart des  Göttlichen  im  Substrat  ausdrückten,  im  Cult  eine  be- 
sondere Heiligkeit  erhalten,  wie  z.  B.  vor  Allem  das  Opfer; 
ebenso  aber  auch  alle  die  Akte,  welche  die  Annihilirung  des 
Ichs  vorbereiteten  oder  beförderten,  wie  das  Vedalesen  und  das 
Gebet  oder  die  besonderen  Positionen  des  Körpers  u.  s.  w. 

Wenn  man,  wie  Oldenberg,  die  Brahmanen  Pessimisten 
nennt,  so  ist  das  eigentlich  nicht  ganz  zutreffend,  da  sie  mit 
demselben  Kechte  Optimisten  genannt  Werden  könnten,  sofern 
sie  ja  bloss  kein  Heil  in  der  äusseren  Welt  der  Erscheinungen 
fanden,  dagegen  das  absolute  Heil  in  der  Versenkung,  in  dem 
Verschwinden  des  Ichs  in  Brahma,  feierten.  Mithin  waren  sie 
insofern  Optimisten,  da  sie  das  Beste  erlangt  hatten  und  die 
Zugänglichkeit  des  Besten  lehrten;  denn  diese  Vernichtung  war 
ja  nicht  eine  Aufhebung  des  Lebens  und  Denkens,  sondern  der 
lebendige  Inhalt  ihres  Denkens.  Es  war  dasselbe,  was  die 
griechischen  Philosophen  in  dem  Begriff  des  „ewigen  Lebens" 
verherrlichen,  das  nicht  ausser  der  Welt,  sondern  mitten  in  der 
Zeit  erlebt  und  genossen  wird.  Sofern  dann  der  physische  Tod 
eintrat,  so  konnte  selbst  dieser  dem  Optimismus  keine  Schranke 
setzen,  da  die  Welt  selbst  doch,  wie  man  sah,  immer  bestehen 
blieb  und  mithin  auch  das  Princip  derselben,  Brahma,  in  den 
sich  das  Subject  ja  aufgehoben  und  gerettet  hatte,  so  dass  auch 
nach  dem  Tode  keine  Gefahr  zu  fürchten,  sondern  nur  das  Beste 
und  Erwünschteste,  nämlich  die  völlige  Einheit  mit  dem  Gött- 
lichen, sicher  war. 

Der  Pessimismus  bezieht  sich  deshalb  nur  auf  das  Gebiet 
der  äusseren  Dinge,  in  denen  das  Eine  zerstückelt  und  deshalb 
im  Kampf  und  in  Selbstzerstörung  erscheint.  Mit  dieser  Welt 
der  Erscheinungen  und  Illusionen  sind  wir  aber  nur  verknüpft 
durch  die  anderen  Geistesvermögen,  die  bei  dem  philosophisch 
Angelegten  einen  schwächeren  Einfluss  ausüben,  nämlich  durch 
das  Begehren  (Käma)  und  die  Handlung  (Karman).  Das  Be- 
gehren oder  die  Lust  steht  immer  zugeordnet  einer  bestimmten 
einzelnen  Anschauung,  z.  B.  Speisen,  Geld,  Mädchenaugen,  Ehren 
u.  dergl.,  und  demselben  Kreise  zugeordnet  sind  dann  immer 
die  Functionen  des  Thuns  und  Leidens.  Da  nun  dieser  ganze 
auf  die  einzelnen  Lebenserscheinungen  bezogene  Kreis  geistiger 
Function  nothwendig  allerlei  Wechsel   unterworfen  ist  und   so 

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5^6  Pantheismus  des  Gedankens. 

kein  Begehren  sicher  erfüllt  wird,  keine  Lust  vor  Ueberdniss 
bewahrt  bleibt,  keine  Handlung  ihren  Erfolg  verbürgt,  sondern 
vielmehr  nothwendig  alles  Einzelne  im  Zusammentreflfen  mit  dem 
Ganzen  der  übrigen  Dinge  sich  immer  einschränken,  durchkreuzen, 
verhindern  lassen  muss,  so  folgt,  dass  das  Ich,  wenn  es  sich  durch 
Käma,  d.  h.  durch  Liebe  und  alle  Arten  des  Begehrens,  gefangen 
nehmen  lässt,  in  die  Welt  der  Verwirrungen  und  der  Ktinuner- 
nisse,  der  Illusionen  und  Täuschungen  gerissen  wird  und  dass 
die  zugehörige  That  (Karman)  sein  Leben  bestimmt  und  ihm 
den  zugehörigen  Charakter  und  die  zugehörige  Portion  von  Lust 
und  Leid  gewährt.  Dies  wird  von  den  Brahminen  in  tausend 
Geschichten  illustrirt,  und  es  ist  derselbe  Gedanke,  den  Piaton 
im  10.  Buche  des  Staates  bei  der  Wahl  der  Lebensloose  ausdrückt 

Im  Einzelnen  diese  Religionsform  durchzugehen  ist  flir  die 
Religionsphilosophie  nicht  von  Belang,  sondern  es  würde  uns 
diese  Aufgabe  zunächst  in  langwierige  und  von  Weber  und  den 
anderen  Autoritäten  noch  nicht  abgeschlossene  chronologische 
Untersuchungen  führen,  da  ohne  Zeitbestimmung  der  Quellen- 
schriften eine  wissenschaftliche  Darlegung  nicht  thunlich  ist. 
Für  unsere  allgemeine  Gruppirung  aber  gentigt  es,  dass  auf 
diese  Weise  der  Charakter  des  theoretischen  Pantheismus  fest- 
gestellt ist. 

Da  diese  Religionsform  nun  nothwendig  Gnosis  sein  muss, 
so  ergiebt  sich  für  die  empirisc*hen  Religionsforscher  die  inter- 
essante Aufgabe,  zu  untersuchen,  wie  die  zugehörige  Pistis  des 
geistig  geringeren,  an  Zahl  aber  unendlich  überwiegenden  Theiles 
der  Bevölkening  mit  den  brahmanischen  Ideen  vermittelt  wurde 
und  wie  weit  sich  die  wirkliche  Herrschaft  der  Brahmanen  über 
das  Gemüth  der  Pistiker  erstreckte. 
Egyptiacho  Ich  vcrmcide  es  lieber,  genauer  auf  die  Religion 

Religion.  ^QY  Egjptcr  einzugehen,  weil  die  Forschung  über  die 
Heiligthümer  und  die  Theologie  dieses  Volkes  noch  zu  sehr  in 
den  Hemdsärmeln  der  Arbeit  steckt.  Gleichwohl  ist  im  Allge- 
meinen für  die  Religionsphilosophie  das  Resultat  schon  sicher, 
dass  die  Gnosis  der  egyptischen  Theologen  ebenfalls  den  theo- 
retischen Pantheismus  enthielt;  denn  wer  das  Todtenbuch  hiero- 
glyphisch oder  auch  nur  in  Uebersetzungen  gelesen,  kann  darüber 
nicht  mehr  in  Zweifel  sein,  dass  die  Seele  (das  Ich)  in  alle 
G()tter  und  zuletzt  in  das  Eine  verschwindet,  dessen  Erscheinung, 

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Dogmatik.  537 

Verkörperung,  Zersplitterung,  Grab  oder  Geburt  die  Welt  ist.  Wie 
weit  aber  die  Speculation  dieser  Theologie  sich  ausgebildet 
hatte,  darüber  wird  noch  geforscht*) 

Neben  der  Gnosis  steht  dann  in  grossem  Uebergewicht  die 
Pistis,  da  die  Priester  die  Beherrschung  der  Gläubigen  kräftig 
in  die  Hand  nahmen  und  eine  unter  verschiedenen  Göttemamen 
und  Gülten  reich  ausgebildete  Religion  der  Sünde  und  der 
Furcht  besassen,  in  deren  Formeln,  Gefühlen  und  Handlungen 
sie  Fürst,  Adel  und  Volk  in  bewunderungswürdiger  Weise  zu 
leiten  wussten. 


§  8.    Zur  Kritik  des  Idealismus. 

Max  Müller  (Indien  18S4  S.  210)  sagt:  „Die  Philosophie 
ist  in  Indien,  was  sie  sein  soll,  nicht  die  Verneinung,  sondern 
die  Vollendung  der  Religion;  sie  ist  die  höchste  Religion, 
und  der  älteste  Name  des  ältesten  philosophischen  Systems  in 
Indien  ist  Vedänta."  In  diesem  Ausspruch  haben  wir  die  exacte 
Auffassung  der  Religion  von  Seiten  des  Idealismus.  Nehmen 
wir  noch  eine  zweite  Stelle  hinzu  (S.  217):  „Namen  (der  Götter 
—  Devas  — ),  die  etwas  bedeuten  sollten,  was  den  Menschen 
sehr  theuer  war,  was  ihnen  eine  Zeit  lang  als  ihr  wahres  Selbst 
erschienen  war,  mussten  sie  aufgeben,  ehe  sie  das  Selbst  der 
Selbste  finden  konnten,  den  Alten  Mann,  den  Zuschauer,  ein 
von  aller  Persönlichkeit  unabhängiges  Subject,  eine  von 
allem  Leben  unabhängige  Existenz.  Das  Selbst  im  Innern  (der 
Pratyagätman)  wurde  zu  dem  höchsten  Selbst  (dem  Paramätman) 
emporgezogen;  es  fand  sein  wahres  Selbst  in  dem  höchsten  Selbst, 
und  es  wurde  erkannt,  dass  die  Einheit  des  subjectiven 
mit  dem  objectiven  Selbst  aller  Wirklichkeit  zu  Grunde 
liege,  als  der  dunkle  Traum  der  Religion  —  als  das  wahre 
Licht  der  Philosophie." 

Wir  haben  hier  bei  dem  berühmten  Indologen  die  reine,  mit 
Wärme,  ja  mit  Begeisterung  vorgetragene  Lehre  des  Idealismus, 
der  die  Religion  zu  einer  Erkenntnissart,  wie  die  Philosophie, 
macht,  nur  zu  einer  dunklen  und  unvollkommenen.    Darin  liegt 

*)  Vergl.  darüber  den  zweiten  Band  meiner  „Neuen  Studien  zur  Ge- 
schieb te  der  BegriiFe",  wo  ich  nach  den  Quellen  den  Sinn  der  Egyptischen 
Theologie  und  die  Abhängigkeit  des  Ilerakleitos  von  ihr  festzustellen  suchte,  t 

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538  Pantheismus  des  Gedankens. 

aber  zugleich  das  hinreichende  Argument,  um  den  Idealismus  zu 
widerlegen;  denn  die  Aufzehrung  aller  Wirklichkeit  und  aller 
selbständigen  Wesen  in  blosse  Vorstellungen,  Erkenntnisse  und 
Begriffe  ist  eine  so  handgreifliche  Einseitigkeit,  dass  Jeder  leicht 
einwilligen  wird,  mit  mir  das  Ich  und  die  übrigen  Functionen 
des  Geistes  vor  dieser  hypertrophischen  und  tyrannischen  Er- 
kenntnissfunction,  in  die  Alles  verschwinden  soll,  zu  beschützen. 

Da  ich  die  Kritik  wohl  schon  genügend  in  die  Darstellung 
eingeflochten  habe^  indem  uns  der  Idealismus  bei  seiner  Ent- 
stehung sofort  seine  scheinbar  vornehme,  in  Wahrheit  aber  un- 
ehrliche Abkunft  offenkundig  machte,  so  brauche  ich  jetzt  nur 
die  Hauptpunkte  zu  sammeln. 

Zuerst  also  sei  wiederholt,  dass  der  Idealismus  die  Religion 
nicht  versteht,  weil  er  sie  ganz  verstehen,  d.  h.  sie  zu  einer 
blossen  Erkenntnissstufe  und  Vorstellungsweise  herabsetzen  will. 
Die  Religion,  die  sich  als  persönliche  Gesinnung  in  den  geistigen 
Functionen  offenbart,  wird  nun  zwar  zur  Ausbildung  ihres  wissen- 
schaftlichen Ausdrucks  Eine  Hand  dem  Philosophen  reichen,  sich 
aber  für  die  reale  Gemeinschaft  mit  Gott  im  Cultus  die  andre 
Hand  freihalten  und  auch  das  Herz  nicht  mit  verschenken.  Es 
ist  eben  bloss  die  dem  religiösen  Gefühl  zugeordnete  Vor- 
stellungssphäre, die  der  erkennenden  Function  gehört, 
und  deshalb  muss  sich  der  Idealist  als  Kläger,  der  auf  die 
ganze  Erbschaft  Anspruch  machte,  mit  einem  blossen  Legat  abfinden. 

Sodann  erinnere  ich  wieder  an  die  völlige  Leerheit  der 
sogenannten  höchsten  Erkenntniss,  da  die  absolute  Identität  des 
Subject-Object  von  dem  reinen  Nichts  nicht  verschieden  ist.  Die  ent- 
zückende Formel  des  Denkens  des  Denkens  (v(5Y]at<;  voTjasöx;),  welche 
die  Schwärmerei  für  den  absoluten  Geist  hervorbrachte,  ist  doch 
schon  von  Aristoteles  bis  zu  einer  solchen  Erhabenheit  aus- 
staffirt,  dass  der  Schritt  zum  Lächerlichen  unvermeidlich  wurde, 
da  die  Sinnlosigkeit  in  doppelter  Bedeutung  für  dieses 
höchste  Denken  verhängnissvoll  sein  musste.  Ein  Geist,  der 
weiter  nichts  zu  thun  hat,  als  sich  selbst  zu  denken,  und  dabei 
von  allem  Leben  der  Welt,  welches  uns  durch  die  Sinne  offen- 
bart wird,  und  von  aller  Persönlichkeit  abstrahiren  soll,  der  ist 
doch  wohl  ein  unnützer  Geselle  und  gehört  auch  nicht  in  die 
Welt,  aus  der  er  sich  mit  Recht  verbannt.  Lassen  wir  ihn 
draussen  sitzen  und  sich  selbstlos  am  selbstlosen  Nichts  delectiren; 

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Dogmatik.  539 

denn  ein  solcher  Philudenist  kann  weder  psychiatriscb  behandelt, 
noch  wie  die  Eremiten  in  den  dunklen  Zellen  von  Troitzkii 
Sergiewskii  wenigstens  gefüttert  und  verehrt  werden. 

Aber  auch  diejenigen  Idealisten,  die  dem  absoluten  Geiste 
die  Negativität  wie  eine  Bremse  unter  den  Schwanz  setzen, 
damit  er  in  Bewegung  komme  und  zur  Beschäftigung  mit  den 
logischen  Kategorien  und  demzufolge  mit  der  Weltschöpfung  und 
der  Geburt  des  subjectiven  und  objectiven  Geistes  übergehe,  auch 
diese  Mjthologen  sind  nicht  brauchbarer;  denn  sie  verwandeln 
bloss  die  träge  und  indifferente  Kuh  in  die  unstet  umherlaufende 
lo  und  verlieren  in  der  That  bei  dieser  rasenden  Wanderung 
der  Göttin  alles  Eigenthum  und  Wesen;  denn  da  die  Er- 
scheinungen und  alle  Momente  der  dialektischen  Entwickelung 
durch  das  Gesetz  der  Entwickelung  selbst  inuner  zum  Ver- 
schwinden genöthigt  werden,  indem  bei  keinem  Gliede  der 
Kette  eine  selbständige  in  sich  nihende  Substanz  hervorkommt, 
so  ist  auch  kein  Punkt  gegeben,  an  welchem  die  Kette  hangen 
könnte,  sondern  es  existirt  immer  nur  das  jedesmal  dialektisch 
nothwendige  Glied,  um  dann  ebenfalls  zu  verschwinden.  So  ist 
auch  bei  diesem  Taumel  der  Dinge  keine  Hoffnung,  einen  vom 
Rausche  und  von  der  Bremse  befreiten  ruhigen  und  vernünftigen 
Gott  und  eine  wirkliche  Welt  zu  erhalten,  sondern  der  Gott 
muss,  da  er  Alles  ist  und  in  Alles  übergeht,  immer  zugleich  sein 
und  nichtsein,  so  dass  sein  Wesen  mit  dem  inhaltlosen  abstiacten 
Werden  oder  dem  Nichts  zusammenfilllL 

Dieser  pantheistische  Gott  ist  uns  deshalb  nicht  gross  genug 
und  kann  uns  nicht  mehr  imponiren,  da  wir  eingesehen  haben, 
dass  er  aus  der  alleingelassenen  und  preisgegebenen  theo- 
retischen Function  gleichsam  unehelich  geboren  ist  Legitim 
wäre  die  Geburt  nur,  wenn  der  Begriff  des  substanzialen  Seins, 
welcher  der  Idee  des  absoluten  Geistes  zukommen  soll,  seine 
Abkunft  aus  dem  Vorbilde  des  Ichs  und  des  nicht  durch  Schlüsse 
gewonnenen  Gottesbewusstseins  durch  die  Aehnlichkeit  seines 
Typus  nachweisen  könnte  und  wenn  die  theoretische  Function 
bei  ihrer  Selbstverherrlichung  nicht  die  geschwisterlichen  Fun- 
ctionen der  Handlung  und  des  Gefühls  in  eine  unwürdige  Ent- 
fremdung und  knechtische  Stellung  brächte.  Wir  wollen  dies 
uns  noch  durch  einen  Vergleich  deutlich  machen.  Vergleichen 
wir  die  Welt  mit  dem  System  der  Zahlen   und  bewundem  die 

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540  Pantheismus  des  Gedankens. 

unendlichen  Reihen,  die  schön  gegliederten  Gegensätze  der  nega- 
tiven und  positiven,  der  geraden  und  ungeraden,  der  ganzen  und 
gebrochenen  Zahlen  u.  s.  w.  und  ebenso  die  unendlichen  Com- 
binationen,  die  aus  den  Elementen  durch  die  verschiedenen 
Operationen  gewonnen  werden.  Zu  dieser  schönen  Welt  suchen 
wir  nun  nach  idealistischer  Methode  den  Gott  und  müssen  ihn 
dann  der  Analogie  gemäss  finden  in  der  leeren  und  unbestimmten 
Einheit,  die  Alles  und  Nichts  ist;  denn  sie  ist  Eine  Drei,  Ein 
Tausend,  Eine  Million,  Eine  unendliche  Reihe  und  so  bei  jeder 
Operation  ist  sie  die  Einheit  des  Elements  und  die  Einheit  des 
Products  und  des  Differentials  und  der  Gleichung  und  der 
Operation  selbst.  Jedes  ist  Eins.  So  ist  der  Gott  des  Idealismus 
Alles  in  Allem  und  doch  Nichts,  leer  und  wesenlos.  Zu  dieser 
trostlosen  Consequenz  kommt  der  Idealist,  weil  er  das  Denken 
oder  die  Erkenntniss,  worin  nur  Eine  Function  des  Geistes  liegt, 
ftir  das  Ganze  nimmt  und  daher  über  den  letzten  Ursprung  seiner 
Resultate  keine  Rechenschaft  geben  kann.  Wir  aber  sehen  sofort, 
dass  diesem  ganzen  idealistischen  Zahlensysteme  aller  Werth 
fehlt;  denn  man  setze  nur  Einen  Thaler  statt  der  unbenannten 
Million,  und  sofort  ist  ein  Interesse  und  ein  Werthunterschied  in 
der  Welt,  der  auf  dem  Willen  oder  Gefühl  beruht.  Setzt  man 
dann  noch  die  Person  hinzu,  welche  die  Werthe  ausgiebt  und 
empßingt,  so  kommt  Sinn  und  Verstand  in  die  Welt,  und  wir 
sind  frei  von  dem  Taumel  der  Maja  und  von  der  Leerheit  des 
Subject-Objects. 

Darum  ist  der  Idealismus  durch  eine  höhere  und  legitime 
Philosophie  zu  ersetzen,  die  sich  nicht  auf  Erscheinungen  auf- 
baut und  nicht  in  blossen  Abstractionen  von  Erscheinungen 
arbeitet.  Diese  höhere  Philosophie  soll  hier  nicht  in  vollständiger 
Rüstung  hervortreten;  es  genügt,  wenn  sie  vorläufig  die  Usur- 
patoren in  den  Sand  wirft.  Ich  sage  darum  hier  nur,  dass  eine 
Mutter,  die  ihr  Kind  an*s  Herz  drückt,  unbewusst  eine  höhere 
Metaphysik  besitzt,  als  in  dem  Parmenides  Platon's,  im  zwölften 
Buche  von  Aristoteles'  Theologie  und  in  HegeFs  Logik  und  in 
den  Upanischaden  vorgetragen  wird;  denn  sie  hat  das  feste  Ver- 
trauen zu  der  metaphysischen  Substanzialität  ihres  Kindes,  und 
das  Geftlhl  ihrer  Liebe  lässt  sie  an  der  Realität  ihrer  Thätig- 
keiten  nicht  zweifeln.  Dadurch  hat  sie  ein  naives,  aber  durch- 
aus  richtiges   Bewusstsein   von    dem,   was   wahrhaft   ist,   unter- 

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Dogmatik.  541 

scheidet  Wesen,  Thätigkeit  und  Vorstellungsinhalt  und  steht  also 
über  dem  grössten  Idealisten,  der  durch  einseitige  Hingabe  an 
die  Erkenntnigsfunction  die  Welt  nur  als  Yorstellungsinhalt  und 
das  wahrhafte  Sein  nur  als  das  Allgemeine  auffasst. 

Mithin  ist  die  Beligionsfoim  des  Idealismus  nicht  höher,  als 
die  der  Mystik  und  die  des  praktischen  und  künstlerischen  En- 
thusiasmus; sie  zeigt  uns  nur  die  dritte  mögliche  Einseitigkeit, 
die  intellectualistische  Religion.  Wie  aber  die  projectivischen 
Religionsformen  durch  den  Atheismus  zerstört  werden,  so  fallen 
alle  Formen  des  Pantheismus,  sobald  man  ihren  Ursprung  auf- 
deckt und  die  täuschende  Grundlage  durch  Kritik  vernichtet 
Also  müssen  wir  jetzt  entweder  als  Atheisten  zweiter  Potenz  auf 
Religion  überhaupt  verzichten,  oder  eine  bessere  Grundlage  durch 
eine  wahre  Metaphysik  besitzen,  auf  welcher  dann  mit  sicherer 
Statik  und  stilvoller  Architektonik  die  wahre  Theologie  aufgebaut 
werden  könnte.  Damit  aber  kommen  wir  zur  dritten  und  letzten 
Stufe  religiöser  Bildung,  zur  Philosophie  des  Christenthums. 


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Sach-  und  Namen -Verzeichniss. 


Abendmahl  251,  252,  421. 

Abhängigkeitsgefühl  84. 

Ablass  323. 

Abner  315. 

Abraham,  Opfer  des  Isaak  147,  327. 

Abscheu  276. 

Abstraction,  keine  Elimination  70, 
286  f. 

Accidenz  106. 

Achtung  283. 

Aegypt.  Todtenbuch  147,  Theologie 
536. 

Aeschylos  342. 

Aesthetisch  438,  447. 

Agamemnon  327. 

Agrippa  ab  Nettesheim  56. 

Ahriman  287. 

Akt  71,  84,  86,  actus  puros  506. 

Alchemie  329. 

Alexander  d.  Gr.  369. 

Alibi  204. 

Allah  265  ff.,  339. 

Analogie  63,  160. 

Analyse  387,  403,  406,  473,  503. 

Anerkennung  309. 

Angeboren  232. 

Animismus  135. 

Anlage  71,  81,  232. 

Antagonismus  430. 

Antisthenes  6. 

ätcdö-eux  479. 

Apollo  175,  in  Delphi  (bei  Piaton)  483. 

Apologetisch  107,  181,  schlechte  Apo- 
logeten 222. 

Apostel  226. 

Apotheose  402,  479,  480. 


i   Apotropäen  143. 

Appellativ  238. 

Apriorisch  5  f.,  52,  Rechtsbegründung 
59,  Coordination  71,  232,  249,  287, 
322,  402. 

Araber  265. 

Arabische  Märchen  247. 

otpai  238. 

Aratos  139,  176. 

Arbeit,  coordinirt  dem  Glück  und 
der  Noth  389,  396. 

Archaischer  Idealismus  497. 

Architektonik  d.  Wissens  fehlt  bei 
Lotze  21. 

AristoteleSjPsychologie  32,  Metaphysik 
106,  dem  Volksglauben  unterworfen 
135,  Berührung  der  Gegensätze  141, 
falsch  natura  secunda  170,  Wunder 
176,  Orakel  179,  Fledermäuse  191, 
GränzederttTCoSstStc  207,  Topik  227, 
falcher  Begr.  d.  Ehre  240,  Stellung 
zur  Religion  263,  Tragödie  328, 
Atheist  gegen  die  Volksgötter  368, 
Ethik  448,  Apotheose  des  Philos. 
480,  Theologie  504,  Pluralismus 
506,  Atomismus  ideal.  507,  gegen 
Platon's  und  Speusipp's  Theologie 
511,  Entwickelungslehre  511,  voiQan; 
voY|oea>5  538. 

Armenier  (Schlangencult)  136. 

Artform  170,  505. 

Askese  324,  333,  410. 

Astrologie  139,  154. 

Atheismus  92,  103,  123,  mit  dem 
Kopfe  234  f.,  253,  Relig.  357—373 
407,  478,  541. 

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Athen  —  Chnstenthum 


543 


Athen,  abergläubisch  130. 

Atman  534.  . 

Atome  370,  Atomismus  507. 

Auferstehung  177,  189  f. 

Augenblick  89,  Vorrede. 

Augui-en  164,  Wissensch.  178,  220. 

Augustin  219. 

Aurinia  250. 

Auserwählte  82. 

Auslösen  232. 

Autorität,  Quelle  der  215,  429. 

athxo^  512. 

Azazel  341. 


Baader  Philos.  532. 

Bärencult  137. 

Baidur  317. 

Bambino  il  141. 

Begehren,  nicht  spontan  30. 

Begriff,  nicht  von  jedem  Vorgestellten 
167,  falsche  Auffassung  168,  haben 
keine  Beine  229,  durch  Denken 
284,  nichts  Empirisches  an  sich 
362,  und  Gegenst.  405. 

Beifall  43,  276,  446. 

Beispiele,  wichtig  zur  Deutlichkeit 
224,  444. 

Bekreuzigung  151. 

Beredsamkeit  185. 

Berufene  82,  Berufung  309. 

Besessenheit  289. 

Bewegung,  im  Geiste  34,  Uebergang 
in  Kunst  34,  sx)ecif.  Kriterien  35, 
coordinirt  dem  Willen  und  der  Er- 
kenntniss  35,  im  Denken  40,  Exe- 
cutivorgane  45,  geistige  48,  49, 
Kunst  56,  Streben  61,  und  Wille 
62,  Kealität  62,  Bewegungsapparat 
64  geistiger,  reales  Sein  65,  Problem 
der  Bewegung  85. 

Beweis,  indirect  46,  213. 

Bewusstsein,  Gränzen,  Quantität  31, 
persönl.  73,  nicht  =  Erkenntniss 
74,  nicht  Wissen  75,  214,  444, 
Quantität  89,  302,  Vorrede. 

Beziehungspunkte ,    auswärtige    66 , 


fund.  relat.  72,,  Beziehungsgrund  73, 
237,  238,  244  f.,  295. 

Bilderverehrung  142. 

Bismarck  172,  Vorrede. 

Blasius,  Zoolog  230. 

Böhm,  Jac  532. 

Bonghi  503. 

Böses,  Princip  288  f.,  Sünde  301, 
radicales  349. 

Brahma  534. 

Brahmanismus  382,  407,  527,  530. 

Bretschneider  185. 

Buckle,  Vorrede. 

Buddhismus  406  ff.,  ohne  wissenschaft- 
liche Dogmatik  491  f. 

Bülow,  Frhr.  v.,  126. 

Busse  323,  327,  Bussgefühl  305,  Buss- 
predigt 307. 

Büsser,  keiner  religiös  befriedigt  333. 

Butzemann  138,  317. 


Cartesius  221. 

Caspari  Otto  95. 

Causa  efficiens  245. 

Causalitätsgesctz  215,  mechan.  Gausa- 
litätsgesetz  216. 

Chaos,  Materie  und  der  Ideen  499. 

Charakter  (proprium)  406. 

Chemie  und  Alchemie  329,  402,  406. 

Christenthum  83,  100  f.,  104,  110, 
humorist.  Mariacult  137,  Crncifix 
als  geprügelter  Götze  138,  Cultus 
jährl.  Periode  140,  rein  histor.  141, 
Verhältniss  zu  den  heidnischen  Ele- 
menten 141,  Gott  und  Maria  148, 
auswärtige  Angelegenheiten  152 
Wunder  nichts  specifisch  Christ- 
liches 169,  Leichnam  Christi  177, 
Symbole  im  Cult  180,  Wunder 
180  f.,  worauf  seine  Macht  nicht 
beruht  186,  Wahrheit  der  Wunder 
187,  Auferstehung  189,  neue  Meta- 
physik 141,  191,  Gebrauch  der 
Wunder  217,  Christen  als  Gläubige 
der  Furchtreligion  220,  keine  bor- 
nirte  Sekte   222,    Bekehrung  des 

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544 


Ghristenihuin  —  dii  inferni 


Paulus  224,  nicht  gebunden  an  die 
Illusionen  des  Paulus  226,  kein 
stereotyper  Kanon  22(3,  mit  dem 
Her/en  2;U  f.,  bei  Mohamed  266, 
dasllistorische  nicht  auf  Allegorisches 
zurückzuführen  293,  steht  über 
Idealismus,  Pessimismus,  Optimis- 
mus und  Piatonismus  321,  keine 
Armuthsforderung  323,  keine  Stell- 
vertretungsidee 328,  für  alle  Men- 
schen 330,  Aneignung  im  Glauben 
333,  Pajwtthum  346,  unreine  Formen 
359,  neuplatonisch  gefasst  380,ewiges 
Leben  409,  christlicher  Gott  414, 
pathologischeFormen  418,  Deduction 
der  drei  pantheistischen  Verimingen 
419,  Iteligion  nnd  Staat  419  f.,  con- 
ti nuirlicher  Gebrauch  439,  allegor. 
spielerisch  gebraucht  460,  Humor 
464,  bei  Fichte  480,  wissenschaftl. 
Theologie  491,  526,  mit  dem  Idealis- 
mus nicht  vertniglich  507,  christ- 
liche Denker,  von  Aristoteles  in- 
spirirt.  Erlösung  514. 

Christus  13,  177,  323,  330. 

Cicero  191,  326. 

Citrone  5,  34. 

Civilisation  389. 

Civürecht  50  ff. 

Clemens  Alexandrinus  110. 

Commune  328,  Logic. 

Comte  A.  100,  362,  526. 

Confirmation  97,  98,  289  historisch, 
404  empirisch. 

Conjectur  160,  165. 

Congestion  im  Bewusstsein  302. 

consensus,  c.  tacitus,  consentire  52. 

Continuität  230. 

Contract  446. 

contritio  cordis  305. 

Coordinatensystem  42,  coordinirt  54, 
60,  Beispiel  66,  154,  Religion  71  f., 
Einheitd.85f.,  Wesen  d.  Denkens  214, 
Form  d.  Wirklichkeit  217,  Dialektik 
228,  234,  244,  des  Zufalls  253,  des 
Islam  266,  300  f.,  der  Functionen 
309,  336,  338,   zwei  Systeme  312, 


Religion  und  politische  Organisation 
342,  zeitlos  385,  Störung  420,  Be- 
wegung 4  23,  Ortsbestimmung  im  444. 

cftlpa  132. 

Culturgeschichte,  positivistisch  110, 
abzuweisen  von  der  Philosophie  229. 

Cultus,  Definition  144,  Perioden  140, 
299,  spielerisch  415,  kirchenenthu- 
siastisch 422,  im  Idealismus  487, 
im  Brahmanismus  535. 


Dämonen  und  dämonisch  165,Definition 
259,  287. 

Dankbarkeit  118. 

Darwinisten  94  f.,  107,  229,  512. 

David  300,  315,  317. 

Decii  326. 

Deduction  117. 

Definition  16,  Eintheilung  d.  Definition 
67  ff.,  individuelle,  generelle,  ideale 
09  ff.,  noth wendig  mehrere  von  dem- 
selben Gegenstande  7U,  genetisch 
72,  Definibilität  443. 

Demetercult  90. 

Demokrit  15. 

Denken,  immer  unter  Leitung  des 
Gefühls  39,  58,  65,  als  Bewegung 
und  Können  63,  Inhalt  und  Be- 
wegung trennbar  64,  und  Vernunft 
121,  unbeschränkt  im  Menschen  194, 
denkmatt  197,  hinreichender  Grund 
203,  durch  keine  Gesetze  einge- 
schränkt 208 ,  Bewusstsein  des 
Aktes  238. 

Depositum  274. 

Derwisch  90,  268. 

Despotismus  342. 

Deutschland  51. 

Deutung  172. 

Diagnose  423. 

Diiüektik  64,  204,  227,  234,  518. 

Dianoetisch  449. 

Dichter,  vom  Gefühl  geleitet  beim 
Componiren  65. 

Differenz  403,  443. 

dii  inferni  326. 


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Dilthey  —  Formen 


545 


Dilthey,  metaphysische  Anarchie  7, 
Kechtsbegriff,  Thatsachen,  Wille, 
Positivismus  55  f.,  angeblich  histo- 
rische Schule  361. 

Diogenes  Cyniker  367. 

Dionysios  Areopagita  454. 

Distinction  64» 

Diven  289. 

Dogmatik  228,  Dogma  buddhistisch 
408,  falsche  Norm  421,  435. 

Drahtpuppen  246. 

Dreieck,  dreieckiger  17. 

Dreieinigkeit  des  Geistes  65. 

Dreizehn  252. 

Drobisch  36. 

Dscharatkaru  827. 

Dualismus  127,  286,  291,  503. 

DueU  239. 

Durst  buddhistisch  407. 


Ebers  Georg  324,  346. 

Edda  247,  249,  258,  317. 

effectus  pro  causa  61. 

Ehe  421. 

Ehre  Begriff,  abhängig  vom  Gefühl 
13,  falscher  und  richtiger  Begriff 
240,  Ehrenerklärung  241,  Ehrfurcht 
283,  Ehrgeiz  413. 

elXmptvi(;  498. 

Einheit  85,  das  Eine  538. 

Eintheilung  93,  genetisch  94,  transc. 
Eintheilungsprincip  176, 443,  Inter- 
esse 382,  ohne  Werden  385,  setzt 
Analyse  voraus  387. 

Einsegnen  der  Kinder  242. 

Einseitigkeit  443. 

Eklecticismus  525. 

Ekstase  91,  464. 

empir.  Wissen ,  abhängig  von  der 
Philosophie  7. 

Empirismus  96,  215,  Revolte  gegen 
die  Philosophie  399  ff.,  empirische 
Voraussetzung  503  f. 

evipY^ia  500. 

Engel  Gottes  200,  Stemgötter  508. 

Entelechie  512. 


Enthusiasmus  191,  413. 

Entrüstung  50,  59,  276,  282,  358. 

Entwickelung  57 ,  Entwickelungs- 
geschichte  107,  231,  anzuerkennen 
109,  241. 

Epaminondas  416. 

Erdmann  in  Halle  481. 

Erfahrungswissenschaft  56,  s.  Empi- 
rismus. 

Ergänzung  838. 

Erinnyen  238. 

Eris  259. 

Erkenntnissvermögen ,  nicht  recept. 
28,  38,  44,  specif.  und  sendet.  Er- 
kenntniss  68,  nicht  religiös  72,  nicht 
=  Bewusstsein  74,  semiotisch  217, 
opp.  Bewusstsein  444,  idealistische 
Erkenntnisstheorie  498,  Vorrede. 

Erlösung  407,  412,  bei  Piaton  488, 
512  ff.,  513  f. 

Erscheinung  opp.  metaph.  Wesen  336, 
projectivisch  494. 

Ethik  59,  im  Islam  267,  buddhistische 
410,pantheistiBche  414,sociaJethische 
429,  künstlerische  437,  Aristotelisch- 
hellenische 448  ff. 

Etymologie  von  Wille  und  Gefühl  67. 

e^daifjLoyia  449. 

Eucken  95. 

Euripides  179,  195,  247,  263. 

Evangelisten  227. 

Ewiger  Jude  897. 

Ewiges  Leben  (QuaHtät)  381,  502. 

Extreme  428. 


fallacia  ex  accid.  507,  529. 

Fatum  249. 

Fechner,  Vorrede. 

Feen  250. 

Fetisch  142  f. 

Fichte  75, 205,  Sittengesetz  =  Gott 369, 
Staatsenthusiasmus  414,  Gnosis  419, 
apecul.  Idealismus  480  f.,  515. 

Fluch  285  ff.,  Tod  242,  schwarzer 
Bock  327. 

Formen  233  f.,  Bedingung  neuer  244,  j 


546 


Formen  —  Gott 


reine  und  unreine  404,  432,  des 
PantheijBmus  490,  Idee  493. 

Fortschritt  der  Civilisation  220,  389, 
391,  415. 

Franclin,  Beig.  319,  391. 

Frankreich  51. 

Frauen  250. 

Freiheit  46,  freiwillig  325,  freie 
Thätigkeiten  326. 

Freude  409. 

Friedrich  Wilh.  Preuss.  König  222. 

Frömmigkeit  405,  415. 

Fügung  193,  218  f..  249. 

Functionen  der  Seele  26,  232,  403, 
433,  436  f.,  Uebeigewicht  443,  474. 

Fundament  490. 

Furcht  50,  53,  59,  102,  118  f.,  530, 
Gegenstand  d.  123  ff.,  Wunder  180, 
Islam  267,  Furcht  und  Sünde  ho- 
molog 312,  Furchtrelig.  Gesellig- 
keit 389,  Furchtgott  407. 

Gebet,  mechanisch  85,  Wirksamkeit 
148,  unrein  333,  bei  Kant  371  f. 

Geburtsgötter  259. 

G  e  f  ü  h  1 ,  bei  Arist«,  Plato  und  Spinoza 
32,  G.  u.  Wille  27,  36,  43  def., 
58,  synonym  66,  symbol.  80,  kein 
G.  ohne  Bewegung  65,  nicht  schlecht- 
hin religiös  98,  Motiv  der  Religion 

116,  relig.  447,  alle  persönl.  G. 
haben  Beziehung  auf  die  Zukunft 

117,  begründet  allein  Werth  und 
Autorität  215,  Yerhältniss  zur  Ge- 
selligkeit 337,  unpersönlich  379, 
Genuss  der  Heiligkeit  405,  En- 
thusiasmus 413,  imPantheismus451, 
kurzlebig  465,  im  Idealismus  als 
niedrigere  Erkenntnissstufe  482, 
def.  444,  Eintheilung  270  ff.,  446  ff. 

Gegensätze,  angebl.  höchste  383. 

Gegenwärtig  89, 

Gehorsam  410  f. 

Gelten  3,  215,  352. 

Geist  bei  Krause  20,  opp.  projectiv 
376,  hlg.  420,  Trennung  der  Fun- 
ctionen 436  f.,  absol.  bei  Hegel  482. 


Generisch  170,  Gattung  403. 

Genetisch  72. 

Gerecht  167,  Gerechtigkeit  291. 

Gerichtshof  45. 

Geschichte  70,  geschichtl.  Betrachtung 
97,  109,  427,  Phüos.  d.  220,  347, 
291,  294,  314,  317,  Weltgesch.  224, 
religiös.  332,  Gesch.  d.  Philos.  360. 

Geschlechtstrieb  42. 

Geschmack  42. 

Geschworenengericht  46. 

Geselligkeit  335  ff.,  motaphys.  336  ff. 

Gesellschaftsordnung  412. 

Gesellschaftswissenschaft  400. 

.Gesetz  des  Sprungs  230,  Gesetze 
moral.  274,  Jurist.  323. 

Gesinnung,  Begr.,  nicht  Willen,  76, 
Sprachgebrauch  78,  verdorben  313, 
relig.  456  ff. 

Gespenster  134  ff.,  187. 

Gewissen  300,  311,  verdorben  313, 
Wirksamkeit  404,  unveränderliche 
Keaction  423. 

Gewissheit  40,  Def. 

Gewohnheit  50. 

Glaube  82,  183,  411,  414. 

Gläubige  307,  nicht  im  Pantheismus 
381. 

Glaukos,  im  Netz  gefangen  150. 

Gleichnisse  409. 

Gloatz,  Paul  173. 

Glückseligkeit  390,  415,  449. 

Gnosis  419,  482  ff.,  536. 

Goethe  82,  193,  219,  Faust  394,  435, 
439,  461,  465. 

Goltz,  von  der,  Freiherr,  Vorrede, 

Gott,  GottesbewuBstsein  79,  99,  132, 
447,  relig.  u.  philos.  87,  variabel 
133,  offenbart  sich  72,  Gewissheit 
88,  Sprache  der  Götter  178,  184, 
Wort  Gottes  309,  Anfang  der  Re- 
ligion 114,  projectivisch  111,  306, 
erster  125,  Böse  126,  veränderlich, 
in  Gemeinschaft  mit  dem  Menschen, 
abh.  vom  Menschen  131,  unerforsch- 
lieh  133,  306,  als  Hausgott  und 
Nationalgott  133,   294,   wir   seine 

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Gott  —  Heuchelei 


547 


Mitstreiter  134,  Penaten  135, 
Schlangen  u.  Thiere  136,  Menschen 
138,  Könige  138,  geprügelt  138, 
Sterne  139,  Leben,  Geburt,  Tod, 
Kindheit,  Leiche  140  f.,  293,  Mensch- 
werdung 293,  510,  Götterwelt  im 
Ich  verschwunden  376,  Vergottung 
380,  im  Fantheismus  382,  als  theo- 
retische Function  478,  i^rspectiv. 
Stellung  134,  Götzendienst  142, 
Fresslust  147,  Geschlechtslust  148, 
durch  Gebete  bestimmt  148,  vom 
Priester  pacificirt  156,  Wirksam- 
keit an  Fluch  und  Segen  gebunden 
244,  betrogen  326,  Götter  als  Diener 
287,  Abbildungen  292,  geschicht- 
lich 292,  294,  Unver&nderlichkeit 
295,  Entfernung  von  uns  305,  nicht 
in  der  Wolkenregion  371,  Zufall 
192,  Einheit  ausser  der  Weltsumme 
198,  Reich  Gottes  227,  übematürl. 
Verkehr  mit  G.  199,  drei  Eigen- 
schaften 385,  Geschäftskreis  427, 
verlorener  Glaube  an  Gott  414,  Un- 
bestimmtheit des  Rechtsgottes  283, 
bei  Aristoteles  480,  Gott  und  Mensch 
im  archaischen  Idealismus  496,  als 
Philosoph  510,  idealistisch  539. 

Gottlosigkeit  358. 

Gratulieren  242  f. 

Grund,  Satz  vom  G.  196,  Beweis  207, 
209. 

Gut,  höchstes  bei  Kant  18,  Beziehung 
zum  Gefühl  37,  Stufenfolge  der 
Gater  279,  Güterlehre  398,  Idee 
447,  dem  Wahren  untergeordnet 
im  Idealismus  475  f.,  Def.  389. 

Güterverkehr  325. 


Haakh  326. 

Habsucht  271. 

Hades  259. 

Haeckel  95. 

Handlung  religiös  98,  116. 

Hartmann  v.  360. 

Hamack,  Adolf  174  Wunder,  Vorrede. 


Haschisch  91. 

Hebräische  Relig.  Kinderopfer  147, 
Opfergeruch  148,  Jacob's  Ringen 
mit  Gott  150,  Mosis  Theurgie  150, 
Juden  181,  Philos.  d.  Gesch.  220, 
315,  Schicksalsidee  246,  Monotheis- 
mus 286,  höchstes  Gut  318,  schwarzer 
Bock  327,  Inhalt  der  prophetischen 
Schriften  340,  Feste  341,  Elemente 
d.  Furchtrel.  371,  keine  wissensch. 
Theologie  491  f. 

Heckerling  143. 

Hedonisten  gelobt  37,  410. 

Hegel  versteht  das  Gefühl  nicht,  über 
Schleiermacher  18,  versteht  die 
Kunst  nicht  19,  durch  die  Sprache 
getäuscht  32,  Subj.-Obj.  75,  Relig. 
als  Vorst.  19,  81,  Metaphysik  100, 
106,  dialekt.  Entwickelung  108, 
Grundgedanken  von  den  Griechen 
entlehnt  109,  Zufall  153,  Idealismus 
205,  speculativer  481,  517,  pro- 
jectiver  497,  Versteckspiel  mit  den 
Theologen  224,  Kritik  seiner  Dia- 
lektik 229,  ReHg.  d.  Schönheit  262, 
religionsphil.  Methode  329,  514, 
dialekt.  Schema  384,  Eintheilung 
der  Religionen  402,  Staatsidee  414, 
Gnosis  419,  Vorrede. 

Heilige,  pantheist.  405. 

Heiligkeit  404. 

Heiligkeitsgenuss  405. 

Heilsarmee  151. 

Heilsgeschichte  220,  224. 

6l|j.apjjivYj  249. 

Heine  Heinrich,  Juden.  Mönch  182, 396. 

Hei  259,  317. 

Helios  139. 

Hellenische  Cultur  237,  247,  Schick- 
sal 249,  Religion  262,  Redner  315, 
Feste  341. 

Herbart,  Psychologie  28,  32,  36,  Vor- 
stellungspsychologie 44 ,  Metaph. 
100,  System  205  f.,  Eidolologie'377. 

Hermhuter  462  f. 

Hemchsucht  271,  413. 

Heuchelei  10. 

uiyiu^V  Google 


548 


Heuristisch  —  Joab 


Heuristisch  168. 
Hexen  138,  251. 
Hierarchie  345. 
Himmelfahrt  182. 
Hiob  291,  318. 
Hippokrateer  494. 
Hippolytos  380. 

Hitopadesa  246  v.  Max  Müller  über- 
setzt. 
Hölderlin  439. 
Hofl&iung  118  f.,  267. 
Holzmann,  ind.  Sagen  326 
Homer  185,  196,  262* 
Homiletik  223,  225. 
Homolog  282,  388. 
Horaz  35. 

Horus  Ra  139,  141. 
Hostie  242. 
o5  svexa  489. 
Hufeisen  252. 
Hugo  Victor  416. 
humanitas  501. 

Humoristisch  christl.  Cultus  137  f. 
Humor  464. 
Hut  aufsetzen  60. 
Hylozoismus  361,  496,  503  f. 
Hymnen  146. 
Hypertrophie  420. 
6icoxeifjk6vov  506. 
Hypothesen  255,  hypothetisch  420. 


Jacob,  Bingen  mit  Gott  150,  Segen 
des  Isaak  242. 

Jacobi  32. 

Jajati  327. 

Jama  259. 

Javolenus  53. 

Ibikus  199. 

Ichheit  73,  Herr  und  Eigenthümer 
des  geistigen  Lebens  74  f.,  Zeit  u. 
Klarheit  113,  ist  eine  metaphysische 
Erkenntniss  113,  verschiedene  Stel- 
lung 288,  mit  dem  niedrigeren 
Element  identificirt  304,  306,  setzt 
sich  in  den  Geist  375,  Bruttoauf- 
fassung 377,  Verschwinden  des  Ichs 


378  f.,  im  Schlaf  380,  als  Erschei- 
nung 403,  und  Welt  446,  kann 
nicht  in  der  Function  verschwinden 
464,  Vorrede. 

Ideal  69,  70. 

Idee  projectiv  494. 

Ideen  231,  447,  499. 

Idealisten  29,  479. 

Idealismus  33,  falsche  Weitaus.  69, 
214,  219,  321,  Grundfehler  484, 
archaische  Form  492,  subj.  497, 
539  f. 

Idolon  fori  32. 

Jehovahreligion  263. 

Jephtha  326. 

Jeremias  315. 

Jesus,  Wunder  der  Furchtreligion 
verhasst  226,  kein  Gott  der  Furcht- 
religion 226,  Reinheit  316. 

ignoratio  elenchi  430. 

Illusion  88. 

Immaterielle  Wesen  505. 

Incantation  241. 

Inder  247,  Schicksal  286,  SteUver- 
tretung  327. 

Indication  430. 

Indirecter  Beweis  46,  470. 

Individualistisch  429. 

Individualitäl,  im  Idealismus  uner- 
klärt 501. 

Individuation  494. 

Individuelle  Definition  69,  Wesen  u. 
Interpretation  219. 

Indra  286. 

Inductiv  299. 

Inhalt  412. 

Iigurien  239. 

Intelligibel  497,  Wesen  505. 

Integration  338. 

Interesse  339. 

Internationale,  die  415. 

Interpretationsgesetze  184  f.,  219. 

Inspiration  161  ff.,  Wesen  162,  ist 
Thatsache  163,  Islam  268,  prophet 
309. 

Jo  und  Zeus  148,  539. 

Joab  315. 

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Jogi  —  Löning 


549 


Jogi  381. 

Johannes  Evang.  532. 

Joseph  184. 

Joukahainen  240. 

Iphigenie  827. 

Irreligiös  91. 

Isaak,  Opfer  147,  327. 

Islam  181,  264  ff.,  286,  339,  343,  346, 
hei  Lessing  348. 

Jadenthnm  266. 

Jüdisch  s.  Hehräisch. 

Jurisprudenz  47,  juristisch  322  (tech- 
nische Function),  Versöhnung  333. 

Justitia  blind  379. 

luvenal  326. 


Kain  282. 

Ealchas  175,  185. 

Kalewala  240. 

KaXon^faBia  448. 

Käma  535. 

Kant  versteht  das  Qefühl  nicht  18, 
Metaphysik  100,  Teleolog.  203,  206, 
Versteckspiel  mit  den  Theologen 
224,  Eeligionsphil.  Methode  329, 
Relig.  349  f.,  Gott  Postulat  869, 
Gebet  372,  Gränzen  der  Natur- 
wissenschaft 233,  Begründung  der 
Moral  273,  Ideal  des  höchsten 
Gutes  318,  Moral  438,  Streben  319, 
kritischer  Idealismus  497,  Vorrede. 

Kantianer  17  f. 

Karman  585. 

Kapuziner  223. 

Katechismus  237. 

Kategorie  273. 

Kd^ai(  513. 

Kathol.  Kirche  180,  404,  421,  423. 

Keren  238,  259. 

Kern,  Franz  über  Joh.  Scheffler  473. 

Keuschheit  421. 

Kindschafbsidee  317,  jüd.  nur  dem 
Namen  nach  gleich  mit  der  christl. 

Kirche  220,  und  Paulus  224,  Verderb- 
niss  316,    def.  345,    umfasst   auch 


Ungläubige  386,  def.  420,  426,  und 
Philos.  485. 

Kirchenväter,  atheistisch  103,  Dämon 
164. 

Eirchenenthusiasmus  418  if. 

Köhlerglauben  255. 

Könige,  göttl.  Macht  138  f. 

Körper  def.  41. 

Koran  265. 

Kosmologie  257. 

Kraft  lebd.  63,  71,  89  f. 

Kraftmagazin  63. 

Krause,  Philos.  20,  Metaph.  100. 

Krita<yuti  254. 

Kritik  4,  182,  191,  261,  357,  533. 

Kriticismus  103,  215. 

Kroisos  179. 

Krug,  Def.  d.  Relig.  17. 

Kunst  56,  48,  s.  Bewegung,  Kunst- 
werk und  Phantasie  225,  Aufgabe 
321,  nur  indirect  gesellig  338,  Def. 
434,  Symbol.  475  opp.  Kritik,  erster 
Sclavenplatz  477,  und  Theorie  478, 
482. 


Laas  109,  861. 

Lähmung  65. 

Lange  214,  Logik. 

Langenbeck  177. 

Laie  338. 

Laren  136. 

Larven  136. 

lebendig,  Glaube  17,  Kraft  63,  71. 

Lebenszweck  274. 

LegaUtät  403. 

Leibnitz  falsch  über  Wunder  173,  331. 

Leiden  325. 

Leidenschaft,    Aehnlichkeit   mit    der 

Inspiration  165. 
Leonhard  über  consensus  52. 
Lessing  274,  319  ewige  Höllenstrafen 

331,  Relig.  348. 
Leverrier  88. 

Liebe  dreif.  Def.  71,  339,  850. 
Ijocke  6,  282. 


Löning  55  über  den  Begr.  d.  Rechts. 


uiymzeu  uy  x^jv^/v^ 


Si« 


550 


Logik   -  Motive 


Logik,  kategoriale  Verschiebungen 
und  Verdichtungen  des  Denkens 
168,  Topik  227,  Denken  als  han- 
delnde Thätigkeit  445,  log.  Geföhle 
447  — -  Abstraction  70,  genus  und 
unterste  Artform  170,  Satz  vom 
Widerspr.  187,  empir.  Untersatz 
194,  Satz  vom  zureichenden  Grunde 
207  ff.,  Commune  828,  Defiuibilität 
896,  443,  Eintheilung  886  f.,  omnis 
determ.  est  negat.  499,  Satz:  aus 
Falschem  Richtiges  ableiten  463, 
Dilemma  525,  Methode  287,  329, 
religiöse  257,  indirect  470,  Analyse 
470  f.,  specul.  Analyse  488,  492, 
Analogie  493,  projectivische  Auf- 
fassung 495,  Sophisma  485,  ex  acci- 
dente  507,  529,  Paralogismus  484, 
Bruttogewichte  491,  fall,  de  plur. 
interrog.  181. 

Loki  317. 

Loose  248. 

Lotophagen  119. 

Lotze  21  Def.  d.  Relig.,  Metaph.  100, 
Idealist,  Zeit,  Nichts,  Raum  205, 
Hellenismus  336,  Sommer-  und 
AVinterresidenz  des  Ichs  880,  524. 

Lucian  365,  371. 

Lucretius  364. 

Lust  bei  Spinoza  33,  zu  etwas  60, 
409  f.,  positiv  456  f. 

Lykurg  413. 

Lyssa  259. 


Psychologie  32,  36. 
Macbeth  43. 
Macht  265. 
Majorität  58,  429. 
Malaga  137. 
Mandat  308. 

Maria,  Jungfrau  143,  137,  339. 
Maschinentheile  63. 
Materie  493  bei  Piaton  498,  506. 
Materialismus  153,  Zufall,  Atome  370. 
Mathematik  specif.  Wiss.  68. 
Maximen  273. 


Mechanismus  64,  216,  243,  245,  255, 
271. 

Medicinmänner  154. 

Medius  terminus  208. 

Meinung  opp.  Wissen  3,  78,  falsche 
Meinung  3  Achillesfersen  9,  nicht 
abhängig  vom  Willen  9  f.,  Classi- 
fication der  Meinung  10. 

Melanchthon  195,  363. 

Mensch  und  Thier  81,  Menscbencult 
188,  homo  sapiens  275,  Mensch- 
heitsidec  414,  Einseitigkeit  443. 

Messing  61. 

Metaphysik  99,  105,  199,  219,  227, 
233,  320,  Geselligkeit  336,  383, 
Sein  425,  464,  legitim  540. 

Methode,  analyt.  473,  analyt.  und 
synthet.  41,  45,  402,  synthet.  59, 
66,  heuristische  168,  indirect.  Bew. 
46,  Abstraction  287,  specul.  295, 
induct.  299,  deduct.  300,  Aetiolog. 
und  Semiotik  419,  Diagnose  423, 
strategische  428,  Indication  480, 
Fehler  der  histor.  488,  feste  Formen 
492. 

Methodismus  472. 

Minerva  339. 

Missfallen  43,  275. 

Mitleid  274. 

Mitte  428. 

Mittel  408. 

Mönch  424. 

Mören  238,  252. 

Moltke,  Graf  von  177,  415. 

Monarchismus  128,  265. 

Mondcultus  258. 

Monotheismus  126,  265,  285,  289. 

Moral  55  und  Recht  272,  Moralität 
Ursprung  273,  297,  306,  falsches 
Kriterium  291,  d.  moral.  Verhält- 
niss  296,  starker  als  das  leiden- 
schaftliche Element  302,  Granzen- 
losigkeit  331,  dualistisch  438,  mo- 
ralische u.  polit.  Tugend  475. 

Motive  42,  265,  274,  284,  407,  412, 
415,  475,  477,  478,  d.  Relig.  116, 
273,  408,  410,  529.      Q^^^\^ 


Moses  —  perspectivisch. 


551 


Moses  290. 

Mrokoro  126. 

MüUer,  Max  289,  406,  530,  537. 

Mundos  sensib.  et  intell.  497. 

Musikalische  Phantasieschwftrmerei 
470- 

Mysticismus  419  def.,  453,  460, 
Mysidker  und  Atheist  467. 

Mythologie,  Ursprung  nicht  aus  Phan- 
tasie allein  129  f.,  Entstehung  und 
Wesen  258,  und  Philosophie  261. 

Nägeleinschlagen  252. 

Nahlowsky  86. 

Nahrungstrieb  41. 

Nahuscha  327. 

Napoleon  413. 

Nationalidee  339. 

Nationalökonomie  398. 

Natura  secunda  170. 

Naturalistisch  14,  Naturalismus  218. 

Naturerscheinung  235. 

Naturforschung  233,  255,  271. 

Naturgesetze  233. 

Naturschwärmerei  468. 

Natur  bei  Krause  20. 

Negation  Grund  der  Bewegung  120, 

277,  407. 
Negativität  205,  229,  518,  539. 
Nemesis  237. 
Neptun  88. 
Neuplatonismus  380. 
Newton  195,  222. 
Nimbus  416. 
Nichts  495,  498. 
Normale,  die  169. 
Nomen  250. 
Noth  184. 

Noth wendigkeit,  die  216. 
Noö<;  496,  vooüjjieva  497, 505,  Inhalt  508. 
Novalis  440. 

Nützliche,  das  216,  Bef.  389,  475. 
Nullpunkt  303. 

Objectiv  414. 
Obligirendes  im  Recht  53. 


Obscura  per  obsc.  61. 

Odysseus  119,  196. 

Oettingen,  Alex.  v.  422  ff.,  522. 

Oldenberg,  Buddha  406,  408,  533, 
535,  527. 

Opfer  147,  158,  179,  323,  407,  411. 

Optimismus  535. 

Orakel  158,  Vieldeutigkeit  179. 

Ordnung  246,  opp.  Zufall  253,  mechan., 
log.  256,  obj.  275,  gestörte  276,  301, 
420,  Coordinatensystem  446. 

Organ  fingirtes  81. 

Ort  der  Begriffe  68,  87,  423. 

Othello  43. 

od  ivsxa  500. 

o&ota  494. 

Oxymoron  56. 


Pädagogik  Wissen  und  Können  63, 
Behandlung  des  Anfangs  des  Zweifels 
221,  Prügelknaben  334. 

Pantheistisch  101,  Formen  104,  def. 
376,  425,  441,  Eintheü.  382,  Ich 
414,  die  drei  christl.  Formen  de- 
ducirt  419,  Eintheil.  431,  keine 
Volksrelig.  442,  Gefühl  447  f.,  opp. 
Atheismus  und  Pessimissmus  455, 
quietistisch  459,  und  Atheismus 
vergl.  478,  Formen  490. 

Papst  172,  346,  483. 

Parabolische  Bedeutung  224. 

Paralogismus  132  f.,  Beisp.  484. 

Parcen  238,  250. 

Patholog.  Erscheinung  169. 

Patriarchalische  Regierung  343. 

Paulus  189  ff,  224  f.  Illusion  der 
Wiederkunft  226,  Akropolis  363. 

Penaten  136. 

Perser  292. 

icsicXov  389. 

Persönlichkeit  69,  73,  Begr.  77,  pers. 
Verhalten  80,  metaph.  101,  HO, 
191,  religiös  248. 

perspectivisch  117,  177,  183  f.,  187, 
199,  Interpretation  218  f.,  224, 234  f., 

uiyuizeu  uy  x^j  v^ v^p^  Iv^ 


552 


perspectivisch  —  Prometheismus 


245,  249,  252,  256,  religiöse  Per- 
spective 257,  272,  opp.  objectiv 
275,  288,  412,  413,  427,  431,  459. 

Pessimismus  254,  319,  375,  455,  535. 

Pfleiderer,  Otto,  über  Krause  20,  21, 
Definition  der  Religion  22,  Eintbei- 
lung  der  Religion  97,  Ursprung  des 
Cultus  134,  über  Wunder  173, 
Methode  329,  523. 

Pflicht  339,  405,  409. 

Phantasie  129,  phantastisch  414. 

Pharao  184. 

Philo  206. 

Philosophie,  Begriff  5,  11,  261, 
Vorrede,  Ghrund  ihrer  Anarchie  7, 
abhängig  von  der  Individualität  11, 
Passion  für  59,  kann  keine  Minde- 
rung ihres  Gebietes  erfahren  261, 
Privatsysteme  362,  Zahl  der  An- 
hänger 363,  starker  als  die  Empirie 
399,  ist  der  Anerkennung  schlecht- 
hin sicher  401,  Verhältniss  zur  Reli- 
gion 12,263,undM7thologie261,und 
Erfahrungswissenschaft  56,  Goldland 
der  Philosophie  26,  Stellung  zum 
Individuellen  69,  Philosophie  und 
Christenthum  218,  485,  Geschichte 
294,  neue  Aufgabe  der  Geschichte 
der  Philosophie  329,  hat  keine 
solche  Perioden  wie  die  Cultur- 
geschichte  360. 

Phönizier  Einderopfer  147. 

Pietismus  471. 

Pindar  gegen  die  griechische  Mytho- 
logie 263,  Umdeutungen  342. 

Pistis  482  ff.,  511,  536. 

plaisir  53,  58. 

placitum  def.  53. 

Piaton  Psychologie  32,  Ethik  37, 
rein  316,  Staatsenthusiasmus  413, 
415,  Kriton  417,  pädagogische  Em- 
pfehlung des  heidnischen  Gottes- 
dienstes 419,  Stellung  zur  Religion 
483,  Soteriologie,  Platonische  Liebe 
488,  Philosophen  als  Götter  510, 
^loq  479,  Rhetorik  186,  Protagoras 
gegen  die  Richtung .  Spencer's  396, 


gegen  die  Volksgötter  atheiBtisch 
gesinnt  868,  Metaphysik  106,  509, 
Zufall  153,  Subject-Object  75,  Mythus 
im  Timäus  206,  Ideen  231,  499, 
Drahtpuppen  246,  projectiv.  Idealis- 
mus 321,  493,  schwankt  zwischen 
Optimismus  und  Pessimismus  321, 
bei  Laas  361,  Hylozoismus  496, 
504,  piaton.  Idealismus  497  ff., 
Materie  498,  Vernunft  499,  Welt 
500,  534,  Zeit  501,  Theologie  504, 
kein  persönlicher  Gott  509,  Ich  509, 
Lebensloose  536,  Parmenides  540, 
Idee  des  Guten  514  als  conservative 
Idee,  speculative  Auslegung  516. 

Plebejer  191. 

Plethora  302.  f. 

PoHtik  420,  426. 

Polytheismus  120,  238,  265,  285,  288, 

positiv  3,  Recht  52,  Satzungen  367. 

Positivismus  11,  56,  88,  100,  103, 
HO,  219,  246,  296,  336,  als  Atheis- 
mus 360  ff.,  Rausch  370,  Ichheit  377. 

practische  Function  433. 

Praedestination  227. 

Prediger  s.  Priester. 

Priapus  143. 

Priesterthum  151,  erste  Aufgabe  Er- 
kenntniss  154,  zweite  Aufgabe  Praxis 
155,  Verkehr  mit  dem  Gott  paci- 
ficirend  156,  therapeut.  Behandlung 
der  Gläubigen  157,  Orakel  158, 
zweifelhaftes  Ansehen  in  der  Furcht- 
religion 160,  Rolle  der  Priester  bei 
Bestinmiung  des  Schicksals  250  ff., 
Erkenntniss  u.  Gebrauch  der  Wunder 
178,  Psychagogie  der  Prediger  223, 
Priesterthum  in  der  Rechtsreligion 
307  ff.,  priesterliches  Volk  310, 
Geselligkeit  338,  Eüerarchie  344. 

Principien,  ürkategorien  37,  des  Han- 
delns 145, 

projectivisch  101  f.,  114,  214,  265. 
284,  287,  297,  301,  304,  319,  332  f., 
359,  369,  471,  472,  531. 

Prometheus  149  Betrug. 

Prometheismus  393.  ^  t 

uiyiiized  by  VjOOQIC 


Propheten  —  Religion 


553 


Propheten  im  Islam  268,  hebräigche 
291,  315,  345,  in  der  Rechtsreligion 
310,  344,  Streit  untereinander  310, 
höhere  Wörde  als  die  Priester  der 
Furchtreligion  311 ,  Inhalt  der 
Schriften  340,  Götzendienst  371, 
höhere  Erregung  381. 

icpo^vYjot^  146. 

Protagoras,  Patron  der  Positivisten, 
361,  Atheist  368. 

Providenz  332. 

Prügelknabe  334. 

Psychagogie  157,  177,  217,  223,  322, 
331,  334. 

psychischer  Mechanismus  64,  243. 

Psychologie  118,  119,  155,  223,  243, 
301,  speculative  312,  381. 

Pythagoreer  167,  505. 

Pythia  250. 


Quäcker  471. 

quadratisch  =  gerecht  167. 
Qualität  296,  230,  278,  406. 
Quantitätsgesetze  89  des  Bewusstseins, 
opp.  Qualität  230,  278,  297,  406. 
Quietismus  454,  459. 
Quintessenz  505. 


Rache  237. 

Rafael  Sixtinische  225. 

Rauber,  Prof.  in  Dorpat,  95,  Vorrede. 

Reaction  305. 

realistische  Bildung  5. 

Realität  133,  336. 

Recantation  241. 

Receptivität  36. 

Recht  13  (abhängig  vom  Gefühl), 
Begriff  47,  Zufriedenstellung  323, 
Ordnung  446,  Ursprung  49  f.,  276 
ff.,  Furcht  im  Staats-  u.  Völkerrecht 
50,  posit.Rechtswissensch.51 ,  Rechts- 
philosophie 52,  römisches  Recht  52 
Grundlage,  obligirend  53,  Moral 
und  Recht  55  ff.,  Rechtsentwicke- 
lung   57,    Rechtsbewusstsein    114, 


277,  308,  343,  Gefühle  272,  ver- 
änderlich 280,  moralisch  800,  408, 
Verfassungsformen  342  ff. 

Rechtsreligion  unreine  87,  103,  180. 

Rechtsgott  305. 

Rechtsreligion  wahre  Religion  311. 

Reflexbewegungen  seelische  64,  opp. 
physiolog. 

Regenmacher  152. 

Reich  Gottes  227,  306,  308. 

Relation  230. 

Religion  qualitativ  von  andern  Arten 
verschieden  15,  mod.  deum  cog.  et 
col.  16,  nicht  Gotteserkenntniss  17, 
nicht  Lebensgemeinschaft  23,  nicht 
Lebensbeziehung  23,  nicht  Deutung 
oderGeschichtsbetrachtung  23,  Reli- 
gionswissenschaft semiotisch  68,  als 
Anlage,  Act  und  lebendige  Erafb  71, 
als  Act  84,  als  Anlage  81,  als 
lebendige  Kraft  89,  Religion  auch 
bei  Sünden  71 ,  als  Gesinnung, 
persönliche  Stellung  76,  Gott  und 
Gottesbewusstsein  78,  nicht  über- 
menschlich, nicht  bloss  historisch, 
sondern  Erfüllung  83,  religiös  opp. 
weltlich  84,  87  f.,  92,  gener.  Defi- 
nition 91,  Eintheilung  noth wendig 
93,  geschichtl,  97,  speculative  Ein- 
theilung 97,  projectiv.  114,  subject. 
und  doch  allgemein  151,  Weltreli- 
gion 152,  auswärtige  Angelegenheit 
152,  Religion  geht  auf  das  Zufällige 
und  Einzelne  153,  als  Volksreligion 
169,  social.  Infection  179,  Religions- 
philosophie 347  ff.,  Eigenthümlich- 
keit  meiner  229,  234,  329,  Schicksal 
248,  die  moralische  kann  die  Ge- 
schichte nicht  erklären  293,  Alle- 
gorisirung  der  Naturereignisse  293, 
Religion  und  Moral  331,  Geselligk. 
336  ff.,  Religion  internationales  Gut 
531,  Religion  d.  Sünde,  Kritik  365  ff., 
Werkheiligkeit  402  ff.,  Grund  der 
Entartung  418,  politische  Auffassung 
428  ff.,  Eintheilung  432,  pantheist. 
Gefühl  447  f.,  und  Moral  451,  und 

u.quizeuuy  Google 


554 


Religion  —  Sokrates 


theoretische  Function  477,  538,  kein 

logischer  Process  484. 
Bdnan  185. 
Resignation  267. 
Reue  118,  278,  304. 
Rhetorik  185,  343,  352. 
Richterliche  Entscheidung  45. 
Rischi  327. 

Ritchie  D.  G.  in  Oxford  502. 
Ritschi,   Definition  der  Religion  23, 

Gott  Illusion  88,  als  Illusionismus 

erkannt  173,  Standpunkt  851,  524, 

Vorrede. 
Romanist  in  Dorpat  52. 
Romantik  862,  439. 
Rossmässler  panth.   Naturschwärmer 

469. 
Rover  über  Gonsensus  52. 
Rudimente  150,  241,  251. 
Ruhmsucht  416,  Ruhm  417. 


Sacramental  416,  Sacrament  421. 

Sacrifido  dell'  intelletto  commentirt 
423. 

Saul  332. 

Savonarola  188. 

Schack  V.  254. 

Scheffler  Joh.,  Angelus  Silesius  459 
ff.,  473. 

Schelling  20,  109,  205,  262,  532. 

Schicksal  227  ff.,  gehört  in  die  Furcht- 
religion 235,  ursprüngliche  Form 
236,  höhere  Form  249,  im  Islam  265. 

Schiller  199,  374,  434  ff.,  477. 

Schlangenkult  136. 

Schlegel  Ludnde  440. 

Schleiermacher  Definition  der  Religion 
falscher  Begriff  vom  Unendlichen, 
kein  Begriff  vom  Geftthl  18,  Gefühl 
nicht  Embryonalzustand  31,  falsch 
über  die  Kürsse  der  Gefühle  465,  kein 
Tribunal  über  die  Gefühle  466, 
durch  die  Sprache  getäuscht  32, 
einseitig  Religion  als  Akt  71,  Ab- 
hängigkeitsgefühl 84,  Religion  als 
Rausch  91,  falsch  über  Wunder  173, 


Geselligkeit  335,  ehrlich  353,  Mysti- 
cismus  419,  Pantheist  425,  und 
Spinoza  462,  Centaur  seiner  Theo- 
logie 486,  weltgeschichtliche  Bei- 
spielsammlung 534. 

Schluss  45,  209,  445. 

Schmerz  Null  bis  Unendlich  303, 
nicht  ebenbürtig  der  Lust  456, 
nothwendig  458. 

Schönheit,  Beziehung  zum  GefOhl  37> 
Religion  der  262,  447,  475. 

Schopenhauer  Romantik  40,  109,  Mit- 
leidstheohe  274. 

Schreck  65. 

Schnfb  hlg.  und  Naturwissenschaft 
221,  Deutung  226. 

Schuld  culpa  132,  283,  unendlich  331. 

Schwartz  Ursprung  der  Mythologie  134. 

Seelenwanderung  380. 

Seelenvermögen,  Eintheilung  26  ff. 

Segen  242. 

Selbst  aÖTo^  512. 

Selbstbewusstsein  73,  kein  Wissen  74, 
219. 

Selbsterhaltung  428. 

Selbsterhaltungsprincip  33. 

Selbstsüchtig  117,  Selbstsucht  267, 
270,  279  f.,  288. 

Selbstzweck  433. 

Seligkeit  460  f.,  479. 

Semiotisch  47,  68,  80,  217,  233,  430. 

Sentenz  45. 

Seti  287. 

Sibirien,  Bärencult  137. 

SibyUe  250. 

Sicherheitsgefühl  364. 

Sinneserscheinungen  233,285,242,320. 

Sirius  139. 

sittlich  117,  273  ff.,  höher  als  das 
selbstsüchtige  278,  447. 

Skeptiker  7,  100,  cf.  Positivisten. 

Skepticismus  357. 

Skopzi  324. 

Socialethik  421,  424. 

Sodalismus  415. 

Sokrates  331 ,  Sokratitas  501 ,  sokratisch 

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Sollen  —  Theologen 


555 


Sollen  45,  277. 

Sonnenkultus  258. 

flophisma  de  plurib.  inierrog.  485. 

Sophistisch  48,  318. 

Sophokles  178,  183. 

oioxtjp  286,  Soteriologie  Platon's  488, 
513. 

Souveränität  218. 

Spaventa,  B.  517,  Vorrede. 

Specifisch  68,  86,  306,  338,  342,  388, 
407,  412,  433,  443. 

Speculativ  56,  59,  116  f.,  Beispiel  130, 
Eintheilung  des  speculat.  Systems 
205,  Methode  295,  Gegenstand  477. 

Spencer,  Herbert,  Weltansicht  392, 
Data  of  Ethics  395,  531. 

Speusipp  511. 

Spiel  434. 

Spinnerinnen  250. 

Spinoza  versteht  das  Gefühl  nicht  18, 
kennt  seine  Quellen  nicht  32,  Ab- 
hängigkeit von  Plato  u.  Aristoteles 
33,  fehlerhafte  Darstellung  der 
Historiker  33,  falsch  über  Wunder 
173,  Verfluchung  251,  Modus  336, 
Skeptiker  367,  u.  Schleiermacher  462. 

Spiritismus  190. 

Spötter  358. 

Si)ontajieität  36. 

Sprache,  Täuschung  durch  die  Sprache 
32,  semiotisch  6 1 ,  sinnlos,  Maschinen- 
theil  63  f.,  Bewegungsapparat  64, 
Beneficien  66,  ihre  Leitung  beim 
Philosophiren  au&ugeben  74,  Hebel- 
werk 87,  der  Götter  178,  184. 

Staatsenthusiafimus  412  ff. 

Staatsidee  412. 

Staatsrecht  50,  Staat  277,  Staat  und 
Religion  420. 

Staflioten  231. 

Staunen  172. 

Stellvertretung  307,  325  ff.,  405. 

Stemgötter  505,  508. 

Strategische  Methode  428. 

Strauss  David  255,  360,  Cultus  372. 

Streben  61. 

Subject  506,  Subject-Object  538  ff. 


Substanz  106,  219,  320,  425,  505  ff., 
521,  539. 

Substrat  506. 

Sühnung  Definition  322. 

Sünde  87,  schliesst  die  Religiosität 
nicht  aus  89,  277  f.,  800  ff.,  Sünde 
und  Furcht  homolog  313,  Zeichen 
der  Humanität  340,  Sündenbock  341. 

supererogationis  opera  405. 

Swammerdamm  221. 

Symbol  80,  symbolisch,  symbolisiren 
91,  253,  419,  Symbole  142,  Ab- 
kürzungen 149,  Zeichensprache  243, 
christliches  460,  Bekreuzigung  151, 
Bewegungen  156  f. 

Symptom  431. 

Synthetisch  Methode  59  ff.,  66,  287, 
295,  403. 

System  technisches  153,  231. 


Tarantel  des  Idealismus  205. 

Tari  in  Neapel  517. 

Tauler  461. 

Technisch  106,  System  153,  218,  231, 
Welttechnik  198,  Beziehungspunkt 
388. 

^tot  382,  479,  496. 

Teleologie  337. 

terminus  maj.  min.,  med.  208  f. 

Terra  parens  326. 

Test,  Z.  in  Richmond  Indiana,  Vorrede. 

Testament  N.  Fluch  244,  A.  244. 

Teufel  betrogen  149,  Ahriman  287, 
pädagogisch  421,  antagonist.  Prin- 
cip  431. 

Thaies  361,  496,  504. 

Thatsachenphilosophie  400,  55  ff. 

Theater  439. 

Theokratie  unsichtbare  345. 

Theologen  gelobt  76,  theol.  Gegen- 
stände nicht  von  der  weltl.  Wissen- 
schaft auszuschliessen  88,  Theologie 
107,  project.  114,  erste  Theologie 
von  der  Furcht  erzeugt  120,  polyth. 
oder  monoth.  unwichtig  126,  dua- 
listische   127,    Monarchismus    128, 

u.qiuzeuuy  Google 


556 


Theologen  —  Voltaire 


Rechtsgott  281  ff.,  Theologie  ge- 
schichtlich durch  Furchtreligion  292, 
Vermischung  der  Furcht-  und  Bechts- 
religion  314,  Annahmen  404,  Brah- 
manismus  407,  Anfang  der  wissen- 
schaftl.  490,  idealist.  Theologen  504. 

Theoretische  Function  474. 

Theurgie  149,  moderne  347,  472. 

Thiere  Q ranze  gegen  die  Menschlich- 
keit 118.  120  f.,  123,  Thiercult  136, 
spürt  Zusammenliängen  nach  194, 
keine  Gottesvorstellung  194,  keine 
Evidenz  und  Sicherheit  213,  Gränze 
der  Thierheit  243,  als  Kinder 
ohne  Vemunftentwickelung  257, 
Instinkte  271,  Entrüstung  279. 

Thöck  317. 

Thor  (Edda)  258. 

Thrym  258. 

Thun  325,  403,  434. 

Tieck  440. 

Tiresias  178,  184. 

Tod,  Unnatürlichkeit  des  242,  Todes- 
gott 259. 

Topik  108,  Topographie  der  Begriffe 
16,  219,  227,  423,  434. 

Torricelli  195. 

Tragödie  321,  328. 

transfigurirt  479,  e*v02,  506,  512. 

transsubstanziiren  478. 

Trendelenburg  29. 

Trieb  Definition  41,  335,  457. 

Trinitat  84. 

Trostlosigkeit  332. 

Tugend  403,  448,  bei  Aristoteles  449. 


Ulpianus  53. 

Unbewusstes  Leben  161,  Vorrang  445. 

Uneinigkeit  der  Menschen  mit  sich  305. 

Unendliches  18  =  nur  immer  weiter 
19,  das  Unendliche  Todfeind  des 
Zweckes  205,  303,  unendl.  Schuld- 
gefühl 331. 

Unpolitischer  Gesellschaftszustand  342. 

Unrecht  276. 

Unsterblichkeit,  fehlt  nothwendig  im 


Pantheismus  379,  scheinbar  im  Pan- 
theismus 380,  nothwendig  427,  im 
Idealismus  502  ff. 

Unterlassung  48  f. 

Unzufriedenen,  die  51. 

Urmensch  243,  perspect.  Auffassungs- 
weise 245. 

Ursache  215. 

Urtheil  209,  445. 

Usinara  326,  327. 

Utilitarismus  393,  397. 

vacuum  —  horror  vacui  195. 

Variabel  54. 

Vaterunser  505. 

Vedantismus  530. 

Veleda  250. 

Vera  517. 

Verbalinjurien  239. 

Verdienst  326. 

Vergebung  324. 

Vergilius  415. 

Vergleichende  R.  4,  Vergleichungs- 
punkte 279. 

Verheissung  308. 

Verneinung  120. 

Vernunft,  gouvemementale  Region 
37,  Festhalten  des  Vergangenen  be- 
gründet d.  Möglichkeit  d.  Denkens 
121,  Vemunftlehre  197,  Vernünftig- 
keit der  Welt  198,  203,  bestimmt 
ihre  eigenen  G  ranzen  203,  bei 
Plato  499. 

Verschmelzung  243. 

Versöhnung  des  Zornes  Gottes  146, 
156,  des  Menschen  158,  juristisch 
323  ff.,  332. 

Verstand  129. 

Veratehen  4. 

vis  inertiae  50. 

Völkerrecht  50. 

Volksglauben  99,  Volksreligion  530. 

Volksseele  HO. 

Volkmann  Psychol.  36. 

Vorstellung  und  Wahrnehmung  239, 
241. 

Voltaire  368. 

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Wahrheit  —   Zorn 


557 


Wahrheit,  drei  Bedingungen  8,  Be- 
ziehung zum  Gefühl  37,  102,  215, 
Definit.  39,  der  Wunder  184,  opp. 
gelten  352,  nicht  durch  Majorität 
bestimmt  362,  Denkthätigkeit  388, 
Idee  447,  Subject  als  W.  478,  als 
Wissen  480,  in  der  Gnosis  484. 
Wahrnehmung  und  Vorstellung  239, 

241. 
Waitz  Psychol.  36. 
Walkyrien  250. 
Weber,  Sanskritolog  530. 

Webstuhl  250. 

Wehmuth  zugl.  Bewegung  65,  118. 

Weihnachtsfeier  in  Malaga  137  f. 

Welt,  Vemünftigkeit  D.  198,  203, 
Welttechnik  198,  203,  äussere  er- 
kennbar 216,  als  Trunkenbold  bei 
Hegel  220,  229. 

Welt  von  Ewigkeit  fertig  234,  obj. 
249,  opp.  perspectiv.  Auffassung, 
Deutung  253. 

Weltordnung  bei  Fichte  481. 

Welt  als  Cüiov  496,  Weltseele  506. 

Werden  kyklisch  500. 

Werkheiligkeit  403. 

Werth  215,  Normen  420,  428. 

Wertra  258,  286. 

Wesen  individ.  souverän  218,  233, 
wirkl.  287,  ideal.  494,  Eintheil.  bei 
Arist  504,  520. 

Wettermacher  154. 

Wiedergeburt  380,  407. 

Wille  und  Gefühl  27,  u.  Bewegung 
34,  im  Denken  40,  willenlose  An- 
schauung 40,  Def.  43,  Charakter, 
Ausdruck  45,  Conglomerat  d.  drei 
Functionen  bei  Zitelmann  49,  Wille, 
Wunsch  =  Lust  60,Defin.  6^,  falsch 
als  Gesinnung  def.  76. 

Windthorst  422. 

Wirklichkeit,  unreine  Formen  103  f., 
wirkl.  Wesen  287. 

Wirkung  215. 

Wissen  480,  d*  Wissenden  500. 

Wissenschaft,  Abmessungd.Leistungen 
26. 


Wohlsein  475. 

Wort  Gottes  309. 

Wortinjurien  239. 

Würfel  248. 

Wunder,  herkömmliche  Behandlung 
und  Auffassung  166  f.,  vorläufige 
Erklärung  171,  erfordert  gelungene 
Deutung  172,  Beispiel  175,  allgem. 
Voraussetzung  183,  setzt  Glauben 
voraus  183,  Wahrheit  184,  alte  W. 
185,  W.  bei  Ungläubigen  192  f., 
Schlüssel  des  Wunderlandes  195, 
nothw.  200,  207,  idealistische  205, 
der  Relig,  durch  d.  Philos.  zurück- 
gegeben 217,  jeder  Religiöse  hat 
solche  Erfahrung  218,  Wunder- 
geschichten als  Parabeln  behandelt 
223,  Beispiel  wahrer  Wunder  224, 
christl.  225,  keine  Durchbrechung 
der  Naturgesetze  227. 

Wundt  falsch  über  Abstraction  70, 
Logik  168  üb^r  kateg.  Verschiebung, 
Verdichtung  des  Denkens  168,  Satz 
des  Grundes  210,  Denkacte  ohne 
Denken  210,  Sprachliches  und  Lo- 
gisches 211,  Evidenz  211  ff.,  innere 
Erfahrung  212. 

Wunsch  60. 


Xenophanes  106,  368. 


Zauberer  138, 149,  151  f.,  Zauberei 268. 

Zeichen  62,  80,  Kritik  der  181,  233. 

Zeit,  Zeitillusion  107,  120,  231,  243, 
249,  408  f.,  501,  521. 

Zerknirschung  305. 

Zeus  spricht  mit  den  Menschen  176, 
262,  265  Monarchismus. 

Zeus  und  Jo  148. 

Zitelmann  47,  Definit.  der  Seelenver- 
mögen 48,  des  Willens  48,  über 
consensus  52. 

Cu)Y]  aUttVMx;  409,  502. 

Zorn  146,  313.  r^^^^T^ 

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558 


Zufall  —  Zweifel 


Zufall  153,  für  Gott  192,  Zusammen- 
treffen 194,  modern.  Gebrauch  196, 
Normimng  der  Anwendung  dieses 
Begriffs  200  f.,  Zufall  nicht  ohne 
Anerkennung  der  Zwecke  202, 
Gränze  unserer  Erkenntniss  202, 
nicht  d.  mechan.  Nothw.  entgegen- 
gesetzt 203,  alles  mechan.  ist  zu- 
fallig 204,  opp.  Ordnung  253,  Zu- 


fallsglauben   beurtheilt     254,     in 

Aristot.  Ethik  449. 
Zufrieden  5 1 ,  53,  zufriedenstellend  323. 
Zugeordnet  85. 
Zusammengehörig  85. 
Zwang  54  def. 
Zweckzusammenhänge,  durchs  Gefühl 

bestimmt  51, 216, 272, 408, 410,  457. 
Zweifel  357. 


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Seite  65  Zeile  2  von  unten  lies:  überwiegt, 

„115      „     5     „         „  „  :  narratur. 

„    148      „2     „        „  „  :  unverständlicheren. 

„   257      „     6    „     oben  „  :  werden  müssten. 


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Von  demselben  Verfasser  sind  erschienen: 

Die  Aristotelische  Eintheilung  der  Verfassungsformen  1859. 

Die  Einheit  der  Aristotelischen  Eudämonie.    Im  Bulletin  der  kaiserl. 

Akademie  d.  Wissensch.  St.  Petersb.  1859. 
Beiträge  zur  Erklärung  der  PoStik  des  Aristoteles  1867. 
Aristoteles'  Philosophie  der  Kunst  1869. 
Geschichte  des  Begriffs  der  Parusie  1873. 

Letztere    drei    Bände    unter    dem    Gesammttitel    »Aristotelische 
Forschungen«  (bei  W.  Koebner,  Breslau). 

Studien  zur  Geschichte  der   Begriffe,  667,  IX  S.    1874.   (Baer, 

Frankfurt  a.  M.).    l.  Anaximander.    2.  Anaximenes.    3.  Xenophanes. 
4.  Platon's  Unsterblichkeitslehre.     5.  Piaton  und  Aristoteles. 

Ungedruckte  Briefe  von  Kant  und   Fichte.    (Zeitschrift  für  Philos. 

Fichte-Ulrici  1875.) 
Die  Platonische  Frage.    Eine  Streitschrift  gegen  Zeller.    1876.    (W. 

Koebner,  Breslau). 
Neue  Studien  zur  Geschichte  der  Begriffe.    Drei  Bände  (W.  Koebner, 
Breslau). 

I   Herakleitos  1876. 

IL  Pseudohippokrates  de  diaeta  —  Herakleitos  als  Theolog,   oder 
über  den  Einfluss  der  ägyptischen  Theologie  auf  die  griechische 
Philosophie.    1878. 
III.  Die  praktische  Vernunft  bei  Aristoteles  1879. 
Frauenemancipation.    1877.    (Köhler,  Leipzig). 
Darwinismus  und  Philosophie  (Köhler,  Leipzig). 
Wahrheitsgetreuer  Bericht  Über  meine  Reise  in  den  Himmel.    Von 

Immanuel  Kant.     1877.     (W.  Koebner,  Breslau). 
Charakteristil(    der    Araber.      Eine    yölkerpsychologische    Skizze. 

Baltische  Monatsschr.    Bd.  XXVI,  Heft  1. 
Unsterblichkeit  der  Seele.   2.  Auflage.    1879.  (Duncker  &  Humblot). 
Das  Wesen  der  Liebe.    1880.    (Duncker  &  Humblot). 

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Pädagogisches.  1881.  Zur  Bevision  des  Lehrplans  unserer  Gymnasien. 

(Köhler,  Leipzig). 
Die  Reihenfolge  der  Platonischen  Dialoge.    1879.    (Leipzig,  Köhler). 
Literarische  Fehden  im  vierten  Jahrhundert  vor  Chr.    (Erster  Band) 
1881.    (W.  Koebner,  Breslau). 

Chronologie  der  Platonisclieii  Dialoge  der  ersten  Periode,  Piaton 
antwortet  in  den  Gesetzen  auf  die  Angriffe  des  Aristoteles. 
Der  Panathenaikas  des  Isokrates. 

Die  wirkliche  und  die '  scheinbare  Welt.  Neue  Grundlegung  der 
Metaphysik.     1882.    (W.  Koebner,  Breslau). 

Literarische  Fehden  im  vierten  Jahrhundert  v.  Chr.  1884.  (W. 
Koebner,  Breslau). 

Zweiter  Band.  Zu  Platon's  Schriften,  Leben  und  Lehre.  Die 
Dialoge  des  Simon. 


LresUaer  OenoBsenachafts-Bachdrackerci,  Elng.  Qeu, 

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