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• I
1
LIBRARY
. OF THE
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
%eceivea JUN23 1892 ,189
c/lccessions No. 'Yo'</^ . Class No.
dby
Google
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ReligioEsphilosophie.
Von
Gustav Teichmllller,
ordentl. E^fessor der Philosophie an der üniTersitftt Doipat
-^^^
\,-"": ■•■'■■■■•■ -; •;
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
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^ S /y^
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Meiner Tochter Anna
gewidmet
, 29. Apnl ,„^
den ,, JT- 1886.
11. Mai
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Vorrede.
Die empirischen Forscher hatten mehrere Jahr-
zehnte hindurch so viel mit neuen Entdeckungen '^^oh^^Mr"
zu thun, dass sie erst bei dem Versuch, den er- ^^"^^^
worbenen Reichthum zusammenzurechnen und in Be-
griflPen auszudrücken, die Philosophie bemerkten, in deren Gebiet
sie plötzlich gerathen waren. Da Philosophie ja nur der gebildete,
sich selbst und seine Thätigkeiten erkennende Geist ist, so ver-
steht es sich ohne Weiteres, weshalb in allen Erfahrungswissen-
schaften die geistvolleren Forscher zu philosophiren begannen
und den Ruf nach der Philosophie laut werden Hessen; denn
ohne Geist Hessen sich ja die Dinge nicht deuten und begreifen.
Sehr beachtenswerth ist aber zugleich das Phänomen, dass
die empirischen Forscher fast tiberall auf eigene Faust zu philo-
sophiren versuchten, in derselben Weise, wie man nach dem
Ableben der mittelalterlichen Scholastik „juxta propria principia"
sogar auf den Titel der Bücher setzte. Der Grund dieser Er-
scheinung ist zwar darin zu erkennen, dass die bisherige Philosophie
eben nicht im Stande war, die erforderlichen Begriffe zu liefern;
da man aber den Grund vielleicht auch auf die Naivität und die
Ignoranz der Empiriker in philosophischen Dingen schieben
könnte, so ist es gut, zur Gonfirmation für dieses erste Zeichen
des Ablebens der früheren Philosophie noch ein zweites, sichereres
anzuführen. Es zeigte sich nämlich auch bei früheren Vertretern
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n
der Philosophie selbst eine Verzweiflung an der metaphysischen
Erkenntniss, und sie gingen deshalb bettelnd zu den Erfahrungs-
Wissenschaften, um sich empirische Methoden und etliche induc-
tive Allgemeinheiten als Principien zu holen, nannten sich offen
Positivisten, beschränkten sich auf blosse Kritik des Erkenntniss-
vermögens und suchten eine Thatsachenphilosophie einzuftihren,
d. h. sie erklärten den Banquerott der Philosophie.
Wie nun Äristophanes darüber spottete, dass die heroischen
Könige bei Euripides im Costtime und in der Sinnesart der
Armuth und des Elends auftraten, so könnten auch wir nur mit
Humor die königliche Wissenschaft in dieser tragischen Ernie-
drigung betrachten, wenn nicht ein Umstand dabei unser wissen-
schaftliches Interesse reizte. Es geht nämlich diese ganze Hin-
wendung zu der Empirie und zu den sogenannten Thatsachen
von der Unbefriedigtheit an dem Idealismus aus. Man verlangt
instinctiv nach Realität und nach einem Verkehr mit wirk-
lichen Wesen. Dieses Bedtirfiiiss ist das Wahre und Aner-
kennenswerthe an der sonst so schwachen und entarteten Richtung,
die ihr Ziel und die Wege, es zu erreichen, so wenig erkennt,
dass sie da Hülfe sucht, wo ihr, wie in der Naturwissenschaft,
nur Erscheinungen, also nur Ideelles geboten werden kann.
Man sieht daher, dass auch Diejenigen, welche den Realismus
offen auf ihre Fahne schreiben, gezwungen sind, zum Idealismus
zurückzukehren, wenn sie z.B. den vollen Begriff der Erschei-
nungen für das Reale halten. Darum müssen sie auch Raum
und Zeit, welche eine Mitgift der Anschauungsbilder sind, in
ihre reale Welt aufnehmen und auch folglich das Nichts flir
ein unentbehrliches Ingrediens der Realität halten. Kurz alle
die Fehler und Verlegenheiten des Idealismus folgen nothwendig
ihren Fersen, wie der Geruch, der die Verwesung anzeigt.
Aus allen diesen Zeichen ist es unverkennbar, dass ein Be-
dürfniss nach einer neuen Philosophie überall verbreitet ist und
dass auch in gewisser Weise die Art dieser neuen Metaphysik
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m
sich bestimmen lässt, wenn sie dem Bedürfniss gentigen soll.
Sie muss nämlich das Sein nicht, wie der Idealismus, bloss in
der Region der Erkenntniss suchen und muss unseren Verkehr
mit wirklichen Wesen ausser uns, die von allen Begriffen
unabhängig sind, zu begründen wissen.
Da dieses Ziel nur zu erreichen ist, wenn man
Die neue
eine neue Erkenntnissquelle für das Sein und das BrkenntniM-
quelle«
Wesen der Dinge findet, so scheint guter Rath theuer;
denn wie sollten in der langen Zeit philosophischer Arbeit nicht
schon alle dem Menschen überhaupt zugänglichen Quellen der
Erkenntniss gefunden und benützt sein! Und man darf doch
im Gebiete der Wissenschaft nicht vom Pferde auf den Esel
steigen, um, wie einige schwache Reiter thaten, auf dem spiri-
tistischen Grauschimmel „verkehrt statt des Zügels den Schwanz
in der Hand** in das Land der Narrheit zu reiten.
Wenn also die Erkenntnissquellen der Wissenschaft wohl
als bekannt anzunehmen sind, so könnte eine neue Quelle nicht
anders als durch Analysis, d. h. durch Zerlegung einer
alten gefunden werden. Wie aber die Chemie erst von der
Stelle gekonmien ist, seitdem sie die bekannten Körper in bisher
unbekannte zerlegte, so hoffe ich, dass auch der Metaphysik
Schwungfedern wachsen, wenn sie aufhört, mit der bisherigen
Philosophie das Bewusstsein ftlr einen Akt der Erkenntniss-
fnnction zu halten. Diese Zerlegung habe ich in meiner „Neuen
Grundlegung der Metaphysik" zu vollziehen gesucht und be-
sonders auf die Schwierigkeit aufmerksam gemacht, die von
Seiten der Sprache entgegensteht, da die naive Verwechselung
von Bewusstsein und Wissen eben so alt wie die Sprache ist.
Alle unsere Thätigkeiten aber, alle Gefllhle und alle Erkennt-
nisse und Wissenschaften können uns ebensowohl bewusst wie
unbewusst zukommen und angehören, wie z. B. der Virtuose in
jeder Kunst alle seine Bewegungen unbewusst ausübt, wie
ein Schmerz im Schlaf bestehen und uns erst beim Erwachen
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IV
bewusst werden kann, wie alles, was wir wissen, als sogenanntes
Gedächtniss unbewusst in uns vorhanden ist. In meiner Metaphysik
ist dies nun genauer erörtert; ich bemerke nur, dass es durch diese
Zerlegung des sogenannten Wissens und Erkennens in das Element
des Bewusstseins und in das Element des Denkens möglich wird,
eine neue Erkenntnissquelle nachzuweisen und dadurch die
Philosophie von Grund aus umzugestalten. Denn wir werden
nun als Erkenntnissfiinction im specifischen Sinne nur das gelten
lassen, was als Vorstellung, Meinung, Begriff, Urtheil oder Schluss
auf bestimmte Beziehungspunkte hinblickt, wie z. B. unsere
astronomischen, geographischen, grammatischen, geometrischen
Erkenntnisse immer ihre zugeordneten Beziehungspunkte haben,
da etwa die Vorstellung von der Abplattung der Erde auf etwas
anderes hinblickt, als der Begriff der Lautverschiebung. Alle
solche specifische Erkenntnisse können nun in mir sein, ohne
dass ich gerade „daran denke ^ oder mir ihrer im Augenblicke
„ bewusst "" werde. Mithin wird man sich nicht einfallen lassen,
das Bewusstsein oder Bewusstwerden dieser Erkenntnisse nun
selbst fär eine Erkenntniss zu halten; denn das Bewusstwerden
ist weder die specifische und bestimmte Erkenntniss, die ich ja
schon hatte, ohne mir ihrer bewusst zu sein, noch etwa eine
lächerlich verdoppelte Erkenntniss der Erkenntniss, da eine Er*
kenntniss nicht durch etwas anderes als durch ihre eigenen
zugehörigen Beziehungspunkte entstehen kann und deshalb einer
Verdoppelung oder Stellvertretung unzugänglich ist. Also hat
das Bewusstsein mit der specifischen Erkenntnissfunction oder
dem Wissen und Denken gar nichts zu thun.
Durch diese Analysis wird nun der Begriff des Bewusst-
seins in eine ganz neue Lage gebracht und erfordert eine neue
Topik; denn es zeigt sich, dass dem Erkennen und Wissen nicht
etwa das Unbewusste entgegengesetzt ist, während das Bewusst-
sein zum Wissen gehörte. Beides, das Bewusstsein und das Un-
bewusste, ist vielmehr seinem Gattungscharakter nach ein
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und dasselbe, d. h. das Unbewnsste mass selbst als ein gewisses
Bewusstsein betrachtet werden, da es in verschiedener Quantität
(Intensität) vorhanden sein kann. Wenn ich einen freien Vortrag
halte, so sind mir die Worte, die ich im nächsten Augenblick
sprechen werde, unmittelbar vorher unbewusst, d. h. in einem
geringeren Grade bewusst, als in dem Augenblicke, wo ich sie
anspreche. Gleichwohl müssen sie mir in einem gewissen Grade
auch bewusst gewesen sein, da ich sie aus der Menge der
übrigen möglichen Worte auswählte und doch also darauf hinblickte.
Ebenso sind sie mir beim Aussprechen selbst zwar deutlicher
bewusst, aber doch nicht in dem Grade, wie wenn mich Jemand
unterbricht und über die Etymologie und den Sinn der gebrauch-
ten Wörter Rechenschafk verlangt Mithin ist das Bewusstsein
und das Unbewnsste ein und dasselbe und nur gradweise ver-
schieden. Es wird deshalb für den Menschen ein Minimum
(Di£ferential) und ein Maximum der Bewusstheit für jeden be-
liebigen Inhalt geben und der Inhalt selbst hat mit diesem Grade
nichts zu thun (d. h. in Bezug auf qualitative Identität, obwohl
er in bestimmter Goordination dazu stehen muss). Eine Analogie
möge die Sache verdeutlichen. Der Inhalt des Bewusstseins
soll mit verschiedenen Körpern, der Grad der Bewusstheit mit
der Bewegung verglichen werden. Nun wird eine Bleikugel nicht
ihre Qualität ändern und zu Silber werden, auch wenn sie ebenso
schnell rollt, und ein Pferd wird nicht zur Kuh, auch wenn es
ebenso langsam wie diese geht Aber die Geschwindigkeit eines
Körpers kann so gering und so bedeutend sein, dass dadurch
für den Menschen die Möglichkeit der Wahrnehmung entweder
schlechthin, oder für die Unterscheidung der Theile aufhört, und
es wird auch einen Grad geben, der für die Auffassung des
Menschen am Meisten angemessen ist Ebenso verhält es sich
mit dem Inhalt des Bewusstseins, ohne dass ich etwa materia-
listisch das Bewusstsein fttr einen physischen Bewegungszustand
der Nervenelemente erklären will; es giebt aber ein dem Menschen
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gefahrliches (pathologisches) Maximum und ein flir die wissen-
schaftliche Arbeit zu geringes Mass der Bewusstheit. Wie aber
die Bewegung selbst weder eine Bleikugel, noch ein Pferd ist,
so ist auch das Bewusstsein in allen seinen Graden nicht der
ideelle Inhalt, dessen wir uns bewusst werden.
Indem ich nun so die Erkenntnissfunction mit ihrem spe-
cifischen Inhalt von dem Bewusstsein in allen seinen Graden
vollständig ablöse und jedes Element chemisch rein fbr sich dar-
stelle, wird es mir möglich, das Gebiet der Erkenntniss beträcht-
lich zu erweitern; denn die Erkenntnissfunction schliesst sich
immer an gewisse Beziehungspunkte an, die zu einem gewissen
Grade der Bewusstheit gelangt sind, und es kommt also fttr die
Erweiterung des Wissensgebietes darauf an, der Erkenntniss-
function neue Beziehungspunkte darzubieten, die sie dann nach
allen ihren Methoden zu bearbeiten hat So z. B. kann Jemand
aus dem Volke wie ein Nestor reden, aber sein eigenthümliches
ihm bewusstes Thun braucht noch nicht durch die Combinationen
der Erkenntnissfunction an andre Beziehungspunkte angeknüpft
worden zu sein, so dass er etwa selbst eine Theorie der Rhe-
torik ausarbeiten könnte. Ebenso fühlen die Kinder Scham,
Liebe, Ehrfurcht u. s. w., und sie haben sicherlich ein Bewusst-
sein ihres Gefühls; aber erst, wenn wir denkend auf diese
Bewusstseinsinhalte hinblicken und sie mit anderen Beziehungs-
punkten verknüpfen, entsteht uns auch eine Erkenntniss dieser
Gefühle, so dass sie sich benennen, definiren und nach ihren
causalen Elementen systematisch und genetisch ordnen lassen,
ohne dass diese Psychologie der Affecte etwa selbst ein patho-
logischer Vorgang wäre. In derselben Weise hat Jeder ein
Bewusstsein von seinem singulären Ich; aber dies ist nicht
etwa ein Begriff, Urtheil oder Schluss, sondern soweit davon
entfernt, dass vielmehr alle die Realisten und Idealisten, wie
Kant, Fichte, Herbart und die meisten Neueren, welche das Ich
als Product der Erkenntnissfunction suchten, es natilrlich nicht
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vn
finden konnten und deshalb jure eliminirten. Darum ist es aber
nicht de facto eliminirt, sondern es spottet bloss über die Jäger,
welche das Wild da suchen, wo es nicht ist; denn das Ich
kommt zu allen Graden der Bewusstheit, ohne irgend einen Akt
der Erkenntnissfunction dazu nöthig zu haben, und es ist nur
ein Idolen fori, wenn man z. B. Fichte flir einen Vertreter des
Ichs hält, der so wenig davon ahnte, dass er es mit dem Wissen
identificirte, d. h. völlig annullirte.
Da ich also die Erkenntnissfunction mit ihrem specifischen
Inhalte von dem Bewusstsein abgetrennt habe, so gewinnt die
Erkenntniss dadurch neue Beziehungspunkte für ihr Räsonnement,
d. h. es eröffiien sich ihr neue Erkenntnissquellen. So in erster
Linie ist das Ich, welches sich bewusst wird, eine eigene Er-
kenntnissquelle, ebenso das Bewusstsein unserer Thätigkeiten.
Die Erkenntnissfunction wird diese Beziehungspunkte wissen-
schaftlich verwerthen und daraus die Kategorien Substanz, Äcci-
denz, Activität, Passivität, Ursache u. s. w. ableiten und fär die
Psychologie, Naturphilosophie u. s. w. eine Menge der wichtigsten
Destructionen früherer Vorurtheile, wie die Handhabe zu neuen
Constructionen gewinnen. In derselben Weise hoffe ich (in meiner
später herauszugebenden „Philosophie des Ghristenthums'O zeigen
zu können, dass die Gottheit, welche nicht absoluter Begriff und
nicht unser Ich ist, uns doch unmittelbar bewusst und nicht bloss
semiotisch erkannt wird, wie die ausser uns vorhandenen Wesen,
die sich in den Perceptionen unserer Sinnlichkeit bloss symboli-
siren, ohne dass wir von ihnen selbst ein Bewusstsein hätten.
Dadurch dass bisher, so viel ich sehen kann, überall das Bewusst-
sein, d. h. der eigenthümliche Inhalt, welcher bewusst wird, mit
dem darauf bezogenen Inhalte des Wissens heillos durcheinander-
gemischt und erzartig verbunden war, konnten die Erkenntniss-
quellen, deren Producte alle schon im Umlaufe waren, dennoch
nicht als solche anerkannt und nach ihrer Autorität und ihrem
wissenschaftlichen Ort verwerthet und gebraucht werden. Es
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vin
wäre daher zwar lächerlich, wenn ein Philosoph neue Erkenntniss-
quellen entdecken oder schaffen wollte; wie es aber für die
Handschriftenkunde, Geographie und Geschichte eine Erweiterung
der Erkenntniss mit sich bringt, wenn sich feststellen lässt, dass
unter den Handschriften, die man schon kennt. Eine Handschrift
archetypisch, dass unter den Berichterstattern, die man vergleicht.
Ein Berichterstatter selbst die Reise gemacht oder selbst die
diplomatischen Verhandlungen geftihrt hat, so ist auch fllr die
Philosophie durch die Aufweisung einer Erkenntnissquelle als
Erkenntnissquelle zugleich eine Erweiterung des Wissens ge-
geben. Ein Californier würde seine Farm für wenig Dollars
verkaufen-, sobald er sich aber im Besitz einer Goldader weiss,
ist er sofort wirklich viel reicher geworden, ohne dass sein
Grundeigenthum im Mindesten verändert wäre.
Das Gebiet der Eiuc nothwcndigc Folge der Muth- und Kraft-
phiiosophie. i^jgigk^it der Philosophie war auch der Zweifel, ob
sie überhaupt noch irgend ein Gebiet besitze, auf das sie mit
Recht Anspruch erheben dürfe. Wie bei Schiller der Poet sich
verspätet, als Zeus die Erde vertheilte, und deshalb nur noch,
so oft er kommt, im Himmel willkommen geheissen werden soll,
so schien auch bei wachsender Kraft der empirischen Special-
forschung die Philosophie in's Blaue, in ein transscendentes
Spukreich jenseits der Wirklichkeit gedrängt zu werden. Allein
Schiller's Zeus hatte vergessen, dass die Irdischen den heimath-
losen Himmelsgästen gern Quartier gewähren, wenn diese nur
irgendwie zahlen können. Es handelte sich also eigentlich nur
darum, den Poeten mit einem tauschftlhigen Gute auszustatten,
damit ihm, wie dem Philosophen, der Verkehr unter den Spezia-
listen und Empirikern bereitwillig zugestanden würde. Die
Frage war also nur, ob es solch ein Gut gebe, das nicht specia-
lisirt und auf die einzelnen Gebiete der Erfahrung vertheilt
werden könnte; denn man kann es den Specialisten nicht ver-
denken, dass sie ein stark entwickeltes Rechtsgeftthl zur Schau
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IX
tragen und, wie die tücbtigen Bauern, das Eigenthum nicht dem
Gommunismus preisgeben wollen. Es beruhen ja alle Leistungen
auf einer ernstlichen Einseitigkeit, auf der Concentrirung aller
Kräfte auf einen Punkt, und es ist darum ganz in der Ordnung,
dass jeder Forscher wie einen hütenden Zaun einen eigenthtim-
lichen Namen ftlr sein Fach sucht, um sich innerhalb dieses
Eigenthumes zu verschanzen. Ohne Theilung der Arbeit in
Anatomie, Physiologie u. s. w. wäre die allgemeine Wissenschaft
nicht weit gekommen.
Bei diesem strammen Geist der besitzenden Klassen sind
nun einige Philosophen in der Noth zu dem Entschluss ge-
kommen, sich einem der anerkannten Specialgebiete anzuschliessen,
die Bearbeitung gewisser bisher yernachlässigten Erscheinungen
zu übernehmen und dies für die eigentliche Philosophie zu er-
klären. So wurde z. B. ein ausgezeichneter Physiker als grosser
Philosoph ausgerufen, und obgleich Fechner in der Philosophie
nichts geleistet, sondern nur phantasievoUe und für die Philo-
sophie werthlose Reveries geschrieben, dennoch auf den Schild
erhoben, weil er fllr die heruntergekommene Philosophie einen
neuen Erwerbszweig in den Zäunen der Physiologie durch seine
Psychophysik ausfindig gemacht hatte. Denn nun konnte man
unter dem starken Schutz einer Erfahrungswissenschaft sich un-
gescheut für einen Philosophen ausgeben, konnte Experimente
machen, messen, zählen und rechnen, ganz wie die anderen an-
erkannten Herren. Dass Fechner als unentbehrliche Voraus-
setzung seiner Gedanken sich unter der Hand die Principien
von dem halbseitig gelähmten*) Spinoza holte, von einem Spi-
noza, der wohl nie in seinem Leben einen eigenen Gedanken
gehabt hat, das wurde thunlichst vertuscht, indem man moderae
Ausdrücke an die Stelle der Spinozistischen termini setzte. Kurz
ein Theil der Philosophen war auf diese Weise wieder zu Be-
schäftigung und Anerkennung gekommen.
*) Vergl. meine Neue Studien zur Geschichte der Begr. III. Bd. S. 399.
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Nach der andern Seite war es ja natürlich, dass die Spe-
cialisten an die Gränzen ihrer Gebiete kommen und zu philo-
sophiren anfangen mussten. Ich habe darüber S. 399 ausführ-
licher gesprochen und will hier nur einen ansehnlichen Natur-
forscher namentlich anführen. So zeigt z. B. Bauber, der 1879
die wichtige Entdeckung oder Deutung des Personaltheiles und
des Germinaltheiles in dem Individuum machte, als geistvoller
Mann die Neigung, sofort die Entdeckung in philosophischer
Weise zur Erklärung der Vererbung auszubeuten, wie er über-
haupt als einer der eifrigsten Förderer der Entwickelungstheorie
die philosophischen Fragen, als sei das Sache der Biologie, un-
genirt zu behandeln liebt. Am Auffallendsten ist mir dies in
seiner kleinen Schrift „Homo sapiens ferus'^ gewesen, die ich
mit dem grössten Vergnügen und Nutzen gelesen habe. Ich
kann nicht sagen, dass darin der natürliche, noch uncivilisirte
Mensch vom Standpunkte der Anatomie oder der Physiologie
betrachtet würde; der Verfasser nimmt vielmehr in der liebens-
würdigen und geistreichen Art von Rousseau alle philosophischen
Gebiete für sich in Anspruch und schreibt rechtsphilosophisch
den Juristen vor, wie sie Staat und Recht auffassen, religions-
philosophisch den Theologen, wie sie die Religion behandeln,
pädagogisch den 'Schulmännern, wie sie erziehen und die Schul-
pläne einrichten müssten u. s. w. Ebenso vne Rousseau un-
gemein anregend gewirkt hat, kann auch Rauber's Homo ferus
wie mich, so gewiss viele Andre fesseln und zu manchen neuen
Ueberlegungen reizen, obwohl man von beiden Schriftstellern
sich nicht gerade durch eine zvringende Dialektik irgendwie
gebunden und zur Annahme ihrer Thesen genöthigt sieht. Dies
ist aber ftir unsere Frage Nebensache; unser Interesse dreht sich
an diesem Ort nur um die Thats^^che, dass die empirischen
Specialforscher selbst auf eigene Hand zur Ueberschreitung ihrer
Gränzen getrieben werden und Lust zum Anbau der Philosophie
verspüren.
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XI
Soviel Genuas man aber auch aus Arbeiten solcher Art
schöpfen mag, so ist doch in die Augen fallend, dass dabei der
Begriff der Philosophie selbst und das Bewusstsein ihres Special-
gebietes ganz verschwunden ist; und wenn wir auch gern ein-
räumen, dass die Philosophie in gewisser Weise Gemeingut
werden könne und als Ingrediens in die Bildung aller guten
Köpfe gehöre, so muss die Philosophie doch immer ein Special-
gebiet besitzen und eine eigenthümliche Function des Geistes
bleiben, weil sie sonst überhaupt nicht lehrbar und kein wirk-
licher und nennbarer Inhalt der Erkenntniss sein könnte, wie
das Blut zwar in allen Organen des Leibes verbreitet ist und
allen zu Gute kommt, dennoch aber ein eigenes und von allen
übrigen verschiedenes Gewebe bildet.
Nun hat der Vater des Idealismus, Plato, zwar die Gränzen
der Philosophie schon durch den Begriff des apriorischen oder
angeborenen Vernunftinhalts abzustecken gesucht und Kant hat
in diesem Sinne den Inhalt reiner Vernunft genau auszumessen
und abzuzählen unternommen; allein es zeigte sich sehr bald,
dass dies transscendentale Gebiet zu klein war; denn der Idea-
lismus von Piaton bis Hegel wollte nur das Allgemeine und
Formale erfassen, und obgleich er scheinbar das Leben mit er-
griff, da er das Subject nicht vergass, sondern es in dem abso-
luten Geiste in das Object durch das Denken des Denkens auf-
hob, so war dieser Geist doch bloss wieder das Allgemeine,
Ewige und Formale der Vemunftftinction, in welches alle Indi-
vidualität unterschiedslos verschwindet, und erregte gegen sich
gerade die oben erwähnte Entrüstung der Erfahrungswissen-
schaften, welche sowohl in der Natur als in dem geschichtlichen
sittlichen Leben mit Bealität und wirklichen Wesen zu thun
haben wollten, wie auch den Widerspruch der positiven Theologie,
welche nach einem lebendigen Gott und einem realen, nicht bloss
logischen Verkehr der individuellen Seele mit ihm verlangte.
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Darum muss ein Fehler in dem IdealismuB und seiner Gebiets-
bestimmung der Philosophie stecken.
Diesen Fehler wird man an den monströsen Verbildungen
der Kantischen Kritik am Bequemsten zeigen. Denn erstens
fällt wohl Jedermann gleich bei Kant auf, was man als Schielen
bezeichnen könnte, dass er mit dem rechten Auge praktisch
postulirend alle die Gegenstände erblickt, die er angeblich mit
dem linken Auge theoretisch nicht sehen kann. Dadurch ver-
setzt Kant den unglücklichen Menschen in eine heimliche Bi-
gamie mit zwei Welten, indem der Mensch jeder seiner beiden
Ehehälften das Verhältniss zur andern verbergen muss und mit
praktischer Vernunft zwar seine freie Seele zur Unsterblichkeit
und zu Gott führt, seine theoretische Vernunft aber in der Sinnen-
welt sitzen lässt Zweitens sprach Kant von der Einheit der
Apperception und vollzog mit ihrer Hülfe all* sein Denken;
dennoch fehlte ihm das singulare und individuelle Selbst-
bewusstsein des Ichs, wie wenn das Herz seine nöthigen Con-
tractionen taschenspielerisch vollziehen könnte, ohne von arteriellem
wirklichen Blut erregt zu werden. Drittens wollte Kant im
Menschen transscendentale oder „angeborene" Brillengläser der Zeit
und des Baums gefunden haben, die sich doch bei keinem gesund
geborenen Menschen nachweisen lassen, und mit diesen Brillen,
behauptete er, sollte der Mensch beständig die Unendlichkeit der
Zeit und die Unendlichkeit des Baums als Anschauung geniessen,
was doch keinem normalen Menschen jemals zu Theil werden
kann, weil ein solcher Unendlichkeits- Unsinn in der wirklichen
Welt nicht existirt und auch nie ohne Geisteskrankheit ange-
schaut oder vorgestellt zu werden vermag.
Da nun die Kantischen Fehler mit modificirtem, mehr oder
weniger gutartigem Charakter dem ganzen Idealismus anhaften,
so muss eine Beformation der Philosophie sich nicht bloss gegen
diese oder jene einzelne Bichtung, sondern gegen die gesammte
bisherige Philosophie von Plato, ja von Thaies an richten; denn
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bis auf unsre Zeit hin ist alles, was man Philosophie genannt
hat, durch die Hellenische Auffassungsweise gestempelt gewesen.
Selbst der Materialismus, Skepticismus, Positivismus und ver-
wandte Sichtungen machen davon keine Ausnahme, da sie
höchstens nur von dem Dogmatisieren im abstracten Gebiete ab-
sehen, sich aber doch nur im ICreise des ideellen Seins drehen,
welches ja die Sinnenwelt ebenso wie die intellectuale umfasst
Der Fehler der bisherigen, von dem Hellenismus abhängigen
Philosophie besteht also darin, dass sie dem Bedürfniss des
Menschen, die Wirklichkeit zu erleben und mit realen Wesen zu
verkehren, kein Gentige leistete, sondern die Welt in einen blossen
Erkenntnissprocess verwandelte; denn indem sie das Bewusst-
sein selbst als eine Art oder Stufe der Erkenntniss auffasste,
musste ihr das Reale und das Wesen in ideelles Sein tibergehen.
Sie macht es also, wie wenn Jemand einem Menschen, der in
der Fremde nach seiner Heimath und nach dem Verkehr mit
seinen Lieben Sehnsucht empfindet, alles dies nur im Spiegel
zeigte, indem sie die Spiegelbilder der Erkenntniss für das „wahr-
hafte^^ Sein der Dinge ausgiebt. Darum ist das Gebiet der
Philosophie fraglich geworden und befindet sich unter Sequester
gelegt von der Empirie, sodass allererst eine neue Definition der
Philosophie zu fordern ist.
Wenn man nun eine Reform und nicht bloss Dienene
einen An- oder Umbau der Metaphysik versuchen p^uosophie.
will, so hat man mit einem jahrtausendealten historischen Riesen-
bau zu thun und zieht den Verdruss der unzähligen Bewohner,
die in ihrer Ruhe gestört werden, auf sein Haupt; denn es kann,
wie oben erwähnt, ohne eine neue Grundlegung, d. h. ohne eine
neue Erkenntnissquelle, in der Metaphysik nicht gebaut werden.
Es ist eine sittliche Forderung, mit aller Bescheidenheit seine
Ankündigungen zu prtifen, aber auch ungescheut die Wahrheit
heraus zu sagen. Dazu kommt, dass es im theoretischen Ge-
biete ein Zeichen der Unklarheit ist, wenn ein Forscher den
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Umfang und die Tragweite seiner Begriffe nicht übersieht und
sich das Verhältniss seines Vorhabens zu den früheren literari-
schen Leistungen nicht deutlich gemacht hat. Die Wissenschaft-
lichkeit selbst fordert deshalb die bestimmteste Bezeichnung des
Neuen, welches man gegen das Alte zu setzen und zu begründen
sucht; weshalb es auch von Kant keine Prahlerei war, dass er
sein Unternehmen mit dem des Kopemikus verglich; nur fehlte
ihm die geschichtliche literarische Gelehrsamkeit, so dass er sein
Verhältniss zu den Griechen nicht erkannte.
Bei der neuen Grundlegung meiner Metaphysik bedarf ich
nun, wie ich schon am Schluss der Vorrede meines Buches be-
merkte, „keines Zaubers der Rede und keiner Bundesgenossen**
und auch keiner Protection, wie sie die Hegersche Philosophie
in Preussen, die Herbart*sche in Oesterreich in officiellen Kreisen
fand; ich wende mich mit voller Zuversicht an die ganze Ge-
lehrtenrepublik; denn es fehlt nie an selbständigen Köpfen, welche
sich durch die Tradition nicht binden lassen, sondern unberückt
wie von der Mode, so vom Nimbus des Alterthums, schliesslich
nur das brauchbar finden, was wirklich wahr ist. Für die
schwächeren Naturen aber, die ihrem eigenen Urtheil nicht völlig
vertrauen, sondern sich, wie auf den heiligen Geist, auf die
Mehrzahl der Stimmen verlassen, will ich hinzufügen, dass die
neue Metaphysik nicht bloss kriegerisch auftritt, indem sie die
früheren Weltansichten mit dem Schwerte der Kritik entwaffnet
und ihre Thttrme in den morschen Unterbau stürzt, sondern dass
sie auch mit der grössten Einfachheit und Bescheidenheit im
Bürgerkleide einhergeht, weil sie in der That des allermächtig-
sten Schutzes friedlich gemessen kann. Denn ihr erster Beschützer
ist die unvertilgbare Ueberzeugung der ganzen Menschheit
selbst, da Niemand, wenn er nicht eine paradoxe These ver-
fechten will, sich weigern wird, zuzugestehen, dass er an seine
eigene Existenz, an die Bealität seiner Thätigkeiten, an seine
Pflicht und an den wirklichen Verkehr mit anderen Wesen ausser
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XV
ihm glaubt, weshalb diese Philosophie auch mit der Erfahrung
und allen positiven Wissenschaften, wie mit dem Gefühl und
Gewissen aller besseren Naturen im Einklänge steht. Die zweite
Schutzmacht bildet das Christenth um, welches, wie der Apostel
Paulus nachdrücklich hervorhob, mit der ewigen Bedeutung der
Persönlichkeit steht und fällt; denn wenn die sinnliche Erschei-
nung des Menschen in irdischer Zeit mit dem ihr anhängenden
kurzen Bewusstseinsinhalt Alles ist — was denn auch geboren
und wieder begraben wird — so ist das ganze Evangelium eitel.
Wer deshalb vor der Neuheit und Grösse der Ankündigung er-
schrickt, der mag gutes Muthes sein, weil dies Neue das allge-
mein im Stillen Geglaubte und dies Grosse die demtithige Ueber-
zeugung jedes Christen ist. Es handelt sich aber auch bei allen
Entdeckungen nicht darum, durch unser künstlerisches Vermögen,
wie bei den Erfindungen, unsere Macht über die Natur zu ver-
mehren, sondern nur für die Erkenntnissfunction etwas, das schon
ist oder schon gilt, zur Auffassung und zum Begriff und wissen-
schaftlichen Aufdruck zu bringen. Das Gebiet der Entdeckungen
ist darum ganz uhbeschränkt, und wenn auch im Kreise der
Natur mehr der Nutzen in die Augen springt, so weiss doch der
Verstand mehr das Neue im Gebiete des Geistes zu schätzen.
Pier soll nun nicht etwa, was die vom Asthma der Zeitbildong
Gequälten verlangen, eine neue Religion empfohlen werden,
sondern es gilt, die alte, gute und wahre aus ihren hellenischen
Fesseln zu befreien und die Philosophie zu neuem Leben zu
erwecken. Diese Angelegenheit ist freilich keine ephemerische
und geht über den Gesichts- und Geschäftskreis der gerade en
vogue befindlichen positivistischen Richtungen hinaus; denn es >
dreht sich um die Philosophie der Jahrhunderte.
Die Definition ist immer, wie Leibnitz mit Recht Definition
sagt, ein Meisterstück der Wissenschaft; denn sie der phiioaopbie.
fasst die Resultate aller zugehörigen Untersuchungen in dem
kürzesten Ausdruck zusammen, in welchem nichts überfliessen
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XVI
und nichts fehlen darf. Wir haben hier nun die schwierige Auf-
gabe, die Philosophie zu definiren.
Die Definition der Positivisten *) eines Mill U.A., brauche
ich gar nicht zu erwähnen, weil sie von Philosophie keine
Ahnung haben; Kant aber und seine Anhänger, welche unter
Philosophie bloss Erkenntnisstheorie verstehen, bleiben nicht nur
in theoretischer Ignoranz über alle eigentlich wissenswerthen
Dinge, wie über das Wesen der Natur, über die Seele und Gott,
sondern sie verfallen auch, indem sie die transscendentalen Form-
demente der Erkenntniss studiren, demselben Vorwurfe, wie
Aristoteles und die Idealisten, da sie alle der Vernunft oder
der Philosophie nur das Allgemeine und Ewige und Intelligible
vindiciren; denn sie berauben auf diese Weise die Vernunft des
Rechtes, über das Einzelne zu urtheilen, und der Möglichkeit,
überhaupt zu wirklichem Gebrauch zu gelangen. Hat z. B. die
Aristotelische Vernunft nur mit den intellectuellen Principien zu
thun, so ist sie folglich abgeschnitten von den Sinneswahrneh-
mungen, den Meinungen (Sö^ot), den Begehrungen, den Hand-
lungen und dem singulären Selbstbewusstsein. Da sie nun als
*) Soeben geht mir noch ein Buch zu unter dem Titel: The final
science or spiritual materialism (Funk & Wagnalls, New- York und London
1885). weiches wahrscheinlich von Z. Test in Richmond (Indiana) verfaast
ist und mit ganz vorzüglicher Dialektik die unlogische Beschaffenheit des
modernen Materialismus, Darwinismus, Positivismus, Spencerianismus und
Atheismus aufzeigt. Der Verfasser ist von einer edlen Gesinnung beseelt
und es ist fast Schade, dass er so viel Witz und Scharfsinn an die Weg-
räumung herrschender Vorurtheile verschwendet. Das Buch erinnert mich
an die geistvollen Ironien Swift's und ist ein schönes Zeichen für den ge-
sunden Geist, der in den Vereinigten Staaten, wie auch N. Port er 's Werke
beweisen, die Oberhand zu gewinnen scheint. Besonders lesenswerth ist
auch der Abschnitt Über die Religion, wo der Verfasser den Agnosticism von
Kant, Hamilton, Hansel und Herbert Spencer als einen religio us Know-
Nothingism mit äxiht Sokratischer Ironie und gutem Humor zu Boden streckt.
Die ganze lebhaft polemische Arbeit des Verfassers wird aber von dem hohen,
christlichen Geist und einer zugehörigen Metaj)hysik getragen, so dass sie
nicht in blosser Negation stecken bleibt, sondern auf eine befriedigende
Weltausicht indirect hinweist.
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XVII
reine Vernunft nichts von allen diesen guten Dingen erfahrt, so
kann sie auch nichts darüber urtheilen, von Rechtswegen in der
Logik nicht einmal ein Beispiel anführen und folglich überhaupt
gar nicht gebraucht werden. Denselben Fehler machen Plato,
Fichte, Hegel und die andern Idealisten; sie verwandeln zum
Erstaunen für den unbefangenen Zuschauer die Seele und Gott
in unpersönliche Vemunftallgemeinheiten, wodurch denn aller
Verkehr dieser hohen und vornehmen Clique des „Allgemeinen"
mit dem Pöbel des Einzelnen und der Erfahrung gänzlich unter-
sagt ist, so dass die Ich- Allgemeinheit nicht einmal mehr äussern
dürfte: „ich bin hungrig", oder „ich gehe spazieren". Wenn
deshalb die Geschichtsschreiber der Philosophie nicht gar zu
liebenswürdig und nachsichtig wären, so würden sie als Kritiker
die naive Inconsequenz, durch welche allein es den Idealisten
möglich ist, überhaupt noch zu philosophiren, nicht durchgelassen
haben, sondern hätten längst die idealistische Vernunft mit ihren
Kategorien, Ideen oder wie sie ihre Allgemeinheiten benennen,
zu Eiszapfen erstarren lassen. Und vor diesem tödtlichen Frost
würde auch Hegel trotz seiner dialektischen Bewegung nicht
gerettet sein, da seine Dialektik ja in kyklischem Abschlüsse
ein starr identisches System von Allgemeinheiten liefert, welches
sich hoch über den warmen Pulsschlag des individuellen Ichs in
die Aetherregion des reinen Denkens erhoben hat und sich daher
zu Tode philosophiren muss.
Die Definition der Idealisten leidet an zwei Fehlern; man
sucht nämlich erstens eine völlige Abgränzung der Philosophie
von den positiven Wissenschaften durch eine selbständige Geistes-
kraft, welche die Lebensgemeinschaft mit der Erfahrung ver-
läugnet, und zweitens kennt man noch nicht die logische Chemie,
welche das Bewusstsein von der Erkenntnissthätigkeit zu trennen
vermag.
Was den ersten Fehler betriflft, so wird ausser Augen ge-
lassen, dass der Geist nicht bloss mit dem Formalen, Intellec-
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tualen, Principiellen und Universalen, sondern auch mit der
M^aterie der Erkenntniss, mit dem Sensiblen, Einzelnen, Zufälligen
und Bedingten zu thun hat, weil er nur, wenn er darauf hin-
blickt, zu den Gesichtspunkten kommt, die (wie die Zahl, Qualität,
Relation, Gesetz u. s. w.) sinnlos und unmotivirt sein würden,
wenn sie nicht als Beziehungsgründe und Beziehungseinheiten
mit den Beziehungspunkten der Erkenntniss in Coordination
ständen. Die Philosophie kann darum zwischen sich und den
Erfahrungswissenschaften das Tischtuch nicht zerschneiden, sondern
ist auf connubium und commercium mit ihnen angewiesen, da
ebenso die Emperie in demselben Masse zur Wissenschaft wird,
als sie sich mit philosophischem Geiste durchdringt. Wenn daher
Piaton die Philosophie als königliche Wissenschaft bezeichnet
hat, weil sie allein das höchste Gut des einzelnen Menschen und
des Staates in's Auge fasse, so können wir diese Bezeichnung
annehmen, sie aber zugleich gegen Piaton und den Idealismus
kehren, indem wir die königliche Vernunft nöthigen, aus ihrer
ewigen und abstracten Himmelsregion herabzusteigen und sich
auch mit den Sinnen und den Gefühlen und Trieben abzugeben,
damit sie doch wisse, was sie zu regieren hat und ob es in der
unteren Region nicht so hergeht, wie sie wünschen möchte. Die
speculative Vernunft also darf nicht mehr nach dem Vorgange
des Anaxagoras, Piaton, Aristoteles, Kant, Hegel und der andern
Idealisten in ein von den übrigen Kreisen des Seelenlebens ganz
abgetrenntes Formen - Palais geführt werden, sondern muss als
sociales Glied in dem Coordinatensystem ded geistigen Lebens
sich acht königlich auch um das Einzelne und um die gegebenen
empirischen Beziehungen bekümmern und alles selbst sehen und
nichts geringschätzen. Der Geist ist ein einiger und also giebt
es auch nur eine einzige Wissenschaft. Die Theilung in Special-
gebiete ist eine Arbeitstheilung, bei welcher jedoch alle Arbeiter
an der Herstellung eines und desselben grossen Gebäudes zu-
sammenwirken, so dass der Empiriker, welcher von der Philo-
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XIX
Sophie absehen zu können meint, nur die Tagelöhnerstellung
wählt, und der Philosoph, welcher das Einzelne der Erfahrung
geringschätzt, nur wie ein Commis in optischen oder chirurgischen
Magazinen Waaren verkauft, von deren Ursprung und Gebrauch
er keine Rechenschaft geben kann. Wie bei der Baukunst die
Fundamente in Hinblick auf das Gewicht und die Höhe der zu
errichtenden Mauer und Bedeckungen gelegt und umgekehrt diese
wieder nur in Verhältniss zu den Fundamenten aufgerichtet
werden, während beide Arbeitskreise doch in der That von ver-
schiedenem Charakter sind, so können auch die Erfahrungs-
wissenschaften, wenn sie die Erforschung des gegebenen Mannig-
faltigen auf sich nehmen, von der Philosophie, welche den
forschenden Geist selbst zu ihrem Untersuchungsobjecte wählt,
zwar getrennt werden, beide aber müssen in beständiger Ge-
meinschaft bleiben, weil die getrennten Arbeitsgebiete doch ein
einziges Ziel verfolgen und der Empiriker auch nicht ohne Geist,
wie der Philosoph nicht ohne Hinblick auf gegebenes Mannig-
faltiges denken kann.
Während nun der antike Idealismus die speculativC; das
„Allgemeine" erkennende Vernunft (voü(:) als ein von dem übrigen
Seelenleben völlig abgetrenntes Wesen (xwpt'STöv) hinzustellen
suchte, und der moderne Piatonismus HegeUs auf dem Wege
dialektischer Entwickelung zu demselben Ziele kam, ging ein
andrer Zweig der idealistischen Zunft mit Kant auf die erkenntniss-
theoretische Unterscheidung der Erfahrungswissenschaft von der
Philosophie aus. Und dabei zeigt sich der zweite Fehler, den
ich andeutete. Es fehlte nämlich bisher die Einsicht in die
Natur des Bewusstseins, welches man mit dem Wissen und Er-
kennen vermengte. Der Unterschied aber ist so zu formuliren,
dass Wissen und Erkennen nur dem Erkenntnissvermögen zuge-
hört, Bewusstsein aber sowohl der Erkenntnissfunction, als dem
Begehren (Fühlen), Handeln und dem Ich zukommen oder fehlen
kann, ohne dass diese Lebensmächte dadurch in ihrem Wesen
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XX
und Wirken aufgehoben würden. Zweitens ist Bewusstsein
einfach und ohne Hinblick auf Anderes (obgleich diejenige
Function, welche bewusst wird, natürlich realiter in Coordination
zu anderen steht), während alles Erkennen, Wissen und Denken
ein Schluss ist, also immer mindestens zwei Beziehungspunkte
und einen medius verlangt. Drittens ist das Bewusstsein von
seinem Inhalte nicht trennbar, alles Erkennen aber beruht auf
der Gegensetzung der Erkenntnissfunction gegen ihren Gegen-
stand, der sowohl unbewusst als bewusst sein kann; denn selbst
in der specifischen Erkenntniss (nicht bloss in der semiotischen)
ist eine solche Trennung nothwendig, da zwar das erkennende
Subjective mit dem erkannten Object ideell identisch, das Sub-
jective aber als einzelner realer Act von dem Object als ideell
Allgemeinem verschieden ist. Mithin kann die Philosophie nicht
als die Wissenschaft von der Erkenntnissfunction oder als Ver-
nunftwissenschaft definirt werden, weil wir in der Philosophie
semiotisch auch die anderen beiden Functionen, das Wollen (Ethik)
und das Handeln (Politik, Kunst) und auch das Ich und die
Gottheit (Metaphysik) mit umfassen, von denen das erkennende
Vermögen als solches völlig verschieden ist Wir müssen also
eine andere Definition auf anderem Wege suchen.
Nun bezeichnen wir die über das bloss Animalische hin-
ausgehende Entwickelungsstufe des Seelenlebens, auf welcher
sowohl das Ich, als die einzelnen Functionen in allen ihren
Coordinationen bewusst werden, als „Geist" oder als geistiges
Leben im weiteren Sinne, weshalb ein Mensch auch geistlos sein
kann, ohne seine Existenz zu verlieren. Wenn das im Bewusstsein
gegebene Mannigfaltige dann nach seinen Beziehungen von der
Erkenntnissfunction verarbeitet wird, so entstehen die empiri-
schen Wissenschaften. Da das Ich sich von diesen Gegen-
ständen unterscheidet, so werden in den empirischen Wissen-
schaften die Gegenstände immer nach Aussen projicirt, weshalb
sogar auch die empirische Psychologie anfänglich die Vor-
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XXI
Stellungen and Gefühle und das ganze geistige Leben naiv
wie äussere Gegenstände auflfasst, die Seelenvermögen im Kopf,*
Herzen und Bauche mit Piaton und Aristoteles logirt und auch
noch heute womöglich Alles im Gehirne localisirt und alle
geistigen Beziehungen durch eigentlich gemeinte Metaphern aus
der Sphäre des Raums, der Bewegung und der Physik und Chemie
bezeichnet. Sobald aber diese empirischen Erkenntnissfunctionen
ebenfalls wieder bewusst und als Beziehungspunkte von der
Erkenntnissftinction auf's Neue zu Beziehungseinheiten nach
dabei entspringenden Gesichtspunkten oder Beziehungsgrtinden
coordinirt werden, so ei\tsteht Philosophie und zwar zunächst
die Wissenschaftslehre. Dieser Entwickelung der Erkenntniss
entsprechen dann zugleich in den übrigen Functionen höhere
Stufen, die wiederum bewusst werden können und zusammen den
„Geist" im engeren, aristokratischen Sinne bilden. Wenn die
Erkenntniss nun auf alle diese Bewusstseinsinhalte des Geistes
hinblickt und sie wissenschaftlich bearbeitet, so ist dies die ganze
Philosophie, die also kurz als Wissenschaft des Geistes
definirt werden kann. Die Anwendung der philosophischen Be-
griffe in den Erfahrungswissenschaften giebt dann die sogenannte
geistvollere Auffassung der Natur, der Geschichte u. s. w. und
bringt die vielen philosophischen Fragen in jedem empirischen
Forschungsgebiete hervor, wodurch die allgemeine Einheit aller
Wissenschaft und der Zusammenhang aller Gegenstände der
Erkenntniss begründet mrd. Die Definition der Philosophie ist
aber nicht so zu deuten, als sollte damit nur die sogenannte
Geisteswissenschaft im Gegensatz gegen die Naturwissenschaft
abgegränzt werden; daran fehlt viel; denn die Geisteswissen-
schaft (z. B. die Geschichte, die Jurisprudenz, die Religionslehre)
kann ebenso empirisch betrieben werden, wie die Naturwissen-
schaft. Ich habe darum die weitere und die engere Bedeutung
des Wortes „Geist" unterschieden und beziehe die Philosophie
nur auf den Geist im engeren Sinne, in welchem die Sphären
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xxn
der Natur- und der Geisteswissenschaften als blosse Beziehungs-
punkte gegeben sind.
Die Eigenthtimlichkeit der neuen Philosophie und ihrer De-
finition beruht also im Gegensatz gegen den hellenischen Idealis-
mus auf der Unt^scheidung des Bewusstseins von der Erkenntniss-
function, da die Philosophie als blosse Erkenntnissarbeit den
Geist nicht in sich verschlucken soll, sondern als Glied in einem
Coordinatensystem die übrigen Functionen des Geistes und das
Ich als selbständige Mächte anerkennt.
Um dieses noch deutlicher auszuführen, möchte
Stellung
Eo Hegel, ich mit ein paar Worten das S. 517 erwähnte aka-
demische Memoire des ausgezeichneten Hegelianers Spaventa
erörtern, welches er zur Versöhnung meiner Metaphysik mit der
HegeVschen Dialektik verfasst hat. Ich gehe gleich mitten in
die Sache. Wenn Hegel die Philosophie als Wissenschaft des
absoluten Geistes bestimmt, so soll dieser Geist alle materielle
Natur und alles subjective, mit der Ichheit behaftete Seelen-
leben in sich aufgehoben haben und an der äussersten Spitze
der Weltentwickelung erscheinen, indem er nichts mehr ausser
sich lässt, sondern als absolute Wahrheit selber Alles ist. Dieser
Auffassung setze ich entgegen, dass die Philosophie nur die Arbeit
der theoretischen Function ist und deshalb von Allem, was
nicht Denken ist, nur eine Semiotik bringen kann. Der abso-
lute Geist, wenn er als Wissen bestimmt wird, kann daher nur
Gedanken in sich schliessen, aber weder die wirklichen Wesen
der Natur, noch das Ich, noch die nicht-theoretischen Functionen
unserer Seele. Durch die beste Pomologie kommt man nicht in
Besitz des kleinsten Obstgartens und durch die grösste geo-
graphische Erkenntniss wird man kein Reisender, weil man nur
semiotisch die Dinge erkennt, ihr Wesen und ihre Wirkungen
aber durch den blossen Gedanken nicht in sich hat Ebenso-
wenig ist das Ich im absoluten Geist aufgehoben und conservirt,
vielmehr verschwindet der absolute Geist, wenn das Ich ein-
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xxrn
schläft^ und das leb kann durch gewisse äussere Handlungen,
z. B. durch Herbeiholen und Lesen der Hegerschen Logik, be-
>Yirken, dass der absolute Geist im Denken geboren wird. Dass
meine Definition der Philosophie also mit der ähnlich lautenden
Hegers auch nicht entfernt verwandt ist, es sei denn wie Namens-
vettern, die aber keine Erbansprttche an einander haben, das ist
augenfiLllig genug. Ich kann das Verhältniss aber kurz noch
nach der Topik der Ideen ausdrücken, da Hegel unter die Idee
der Wahrheit Alles subsumirt, während ich lehre, dass die
Wahrheit bloss dem ideellen Inhalte des Denkens zugeordnet ist,
aber nur semiotisch die Idee des Wesens und der Realität und
die Idee des Guten und Schönen umfasst, dass alle diese Ideen
also nicht in dem Verhältniss dialektischer Unterordnung stehen,
sondern in einem Coordinatensystem einander zugeordnet sind.
Spaventa will nun seinen Meister vertheidigen und meint*),
dass das Ich als Einheit der drei Functionen, da es nicht nach
der formalen Logik bloss die nota communis sei, als Activität
sich nothwendig negativ zu seinen Functionen verhalten und die-
selben nach der Idee der Entwickelung (sviluppo) in sich auf-
heben und conserviren müsse. Ich sehe aus dieser Argumen-
tation, dass es Spaventa nicht gelungen ist, meinen neuen Ge-
dankenweg aufzufassen, weshalb er sich bloss die Alternative
der früheren philosophischen Denkweise vorstellt und das Ich
zwar nicht nach der formalen, aber wohl nach der Hegerschen
Logik begreifen zu können meint. Es handelt sich aber um
einen neuen Weg, und es dürfen die Begriffe von Sein, Thätig-
*) Esamc di un 'obbiezione di Teichmüller alla dialettica di Hegel.
Memoria del socio B. Spaventa p. 20. Ora V Jo di Teichmüller, come prin-
cipio, sostanza, la cui attivitk identica ha la forma del conoscere, del sen-
tire, del volere, h fuori di certo della logica formale: non h una nota com-
mune; b, di nome almeno, essenzialmente attivo. — E impossibile concepire
qnalsiaai xmiik di opposti, se questi non sono apuntati o negati in quella:
Jiegati, non annichiliti; cioe, se l'unitli como attivitU non h insieme una
potenza negativa.
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XXIV
keit, Entwickelung, Einheit u. s. w. nicht mehr so ohne Weiteres,
als wüBste man schon, was das wäre, gebraucht werden; viel-
mehr ist durch meine Metaphysik gezeigt, woher wir den Be-
griff des Seins und Wesens schöpfen und die Merkmale, die ihm
zukommen, bestimmen können. Demgemäss sieht man jetzt, dass
das Ich nicht eine solche Einheit ist, wie die Zahl, in welcher als in
einer Beziehungseinheit wir im Denken die Summanden oder
Factoren aufheben und conserviren, da die Zahl nur alle ge-
gebenen Theile als Ganzes zusammenfasst, sondern das Ich hat
als Wesen ein selbständiges Bewusstsein von sich und steht als
Wesen mit anderen Wesen in realen Beziehungen und ist so
wenig bloss die negative Einheit aller seiner Functionen, wie
der Hirt nicht die Einheit der Schafherde und der Oberst nicht
die Einheit der in ihn verschwundenen Soldaten seines Regi-
mentes ist; denn wenn die Functionen der Seele zwar auch
nicht, wie in diesen Analogien, selbständige Wesen bilden, so
sind sie doch sowohl untereinander real verschiedene Akte, als
sie im Yerhältniss zum Ich, wenn sie überhaupt bewusst werden,
ihr eigenes unvermischtes Bewusstsein haben. Spaventa erwidere
ich also, dass man nicht neuen Wein in alte Schläuche fassen
soll, sondern die neue Methode der Deduction der speculativen
Begriffe zuerst zu erörtern hat.
Bei Hegel, wie bei den darwinistischen Entwickelungslehrern
spielt auch die Zeit ihr Gaukelspiel, da man allerdings, wenn
die Taschenspielerkünste dieses Begriffes nicht aufgedeckt sind,
wozu auch Lotze nicht kam, in den ganzen Taüz des Werdens
und der Entwickelung, in das Verschwindenlassen und Aus-dem-
Nichts-Zaubcrn u. dergl. hineingeräth, wie man auch, was das
Schlimmste ist, nicht naiv mit Hobbes die Gegenwart als das
allein wahrhaft Seiende ruhig geniessen kann, sondern in jedem
Augenblick auf der haltlosen Kippe zwischen dem Grabe der
Vergangenheit und dem Abgrunde der Zukunft steht und seines
Lebens keinen Augenblick sicher wird, da der Augenblick keine
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XXV
Breite hat, sondern die Negativität oder der Tod dem unglück-
lichen Zeitgläubigen nicht bloss jeden Tag und jede Secunde,
sondern selbst das individuelle Differential seiner Zeiteinheit ver-
gällt. Ich verkünde aber diesen Armen und Geängsteten Ruhe
und Frieden; denn ich lehre ihnen, dass jenes Nichtsein, vor
dem sie sich fürchten, nicht ist, dass die Zeit bloss unsre Ord-
nungsform der perspectivisch aufgefassten Welt bildet, dass also
das Vergangene und Zukünftige ebenso fest steht, wie die Gegen-
wart, und dass das Unbewusste nur einen minimen Grad des
Bewusstseins -ausdrückt und je nach der Ordnung in dem heil-
samen System der Welt wieder die volle Stärke der Bewusstheit
erhalten kann, so dass Nichts verloren geht, nichts ewig vergessen
wird, dass das lebendige und selbständige Ich über alle die
negativen, summativen, organischen und sonstigen Einheitstypen
spottet, in die man es, wie unter dem Stempel, prägen will, da
der Denker umgekehrt erst aus dem Studium des Ichs die eigen-
thümliche Einheit kennen lernen muss, die dem Ich mit seinen
Functionen zukommt, um dann einen neuen Typus fbr seine
Stempelungen zu gewinnen; denn das Ich ist frei und steht über
den Kategorien, die der Verstand bei der Auffassung der Er-
scheinungen findet
Wenn Spaventa darum auch die Functionen der Seele in
eine Entwickelungsreihe stellen will, so dass die Erkenntniss
das Erste wäre, das Gefühl das Zweite und der Wille das
Dritte, da die Reihe, wie er meint, niemals umgekehrt abfolgen
könnte, so siegt mein Goordinatensystem leicht über diesen
chronologischen Schematismus, da man doch auch zuerst den
Willen haben kann, z. B. Spaventa's akademisches Memoire
kennen zu lernen, und dann erst die Erkenntniss davon ge-
winnt; oder wie man erst Zahnschmerz fühlt und dann erst er-
kennt, wer der Uebelthäter ist, wie er aussieht und dass man
ihn ausreissen lassen muss. Die Functionen sind also bloss ein-
ander zugeordnet, keine aber entwickelt sich aus der andern,
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XXVI
sondern sie haben selbständige Lebensquellen, die nicht von ein-
ander erzeugt, sondern nur in Zuordnung zueinander ausgelöst
werden.
Obgleich die neue Philosophie in allen Disci-
Deatractiver
und plinen einen neuen Standpunkt aufzeigt, von welchem
^Tharertl?^'^ aus die früheren philosophischen Auffassungen theils
der neuen g^jg falsch, thcils als Woss pcrspcctivisch richtig oder
Philosophie. ' r r o
einseitig erscheinen, so wäre es doch sehr leicht,
nach dem HegeF sehen Programm bei der Darstellung der früheren
Philosophie die Fragen hervorzuheben, wo das Bedttrfhiss nach
dem neuen Standpunkte fühlbar wird und wo auch etwa schon
eine richtige Tendenz zu misslungenen Versuchen der Annäherung
geführt hat. So z. B. zeigen Xenophanes, Parmenides, Plato
und Aristoteles schon in der Annahme der identisch abgeschlossenen
Weltkugel die Tendenz zu dem technischen Weltsystem, indem
sie das ^pag dem aneipov vorziehen; aber in der naiven räum-
lichen Fassung, in dem übriggebliebenen ^icstpov der Materie und
in der Zufalls- und Zeitillusion behalten sie das begrifflose Un-
endliche. So suchten auch Aristoteles und seine scotistischen
Gommentatoren schon das aTO{xov £i8o<; und die ultima realitas,
die haecceitas, das incommunicabile; da sie aber dem illusorischen
Begriff der Materie und der projectiven Auffassungsweise noch
preisgegeben sind, so können sie den Begriff des Wesens, der
nach dem Ichbewusstsein abzuleiten ist, noch nicht finden und
bleiben in allen Widersprüchen stecken. So suchten Piaton,
Aristoteles, die Scholastiker, Leibnitz, Hegel u. A. schon eine
series veritatum aetemarum, aber wegen des perspectivischen
Begriffs des Zufalls konnten sie immer nur einen Theil der
Welt, das ideell Allgemeine, damit umfassen und verfehlten das
Wichtigste, die wirklichen geschichtlichen Zusammenhänge der
lebendigen Wesen. So strebten auch Piaton, Aristoteles, Leibnitz,
Kant und viele Moderne darnach, dem Menschen die Freiheit
des Willens zu vindiciren, da sie aber das Wesen des Willens
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nicht gefunden hatten, so blieb der Alp der Nothwendigkeit
immer drückend über ihnen. In dieser Weise könnte man ftlr
jeden neuen Lehrsatz die Tendenzen und Versuche der Früheren
freundschaftlich aufsuchen; diese completive und exsolutorische
Leistung der neuen Philosophie mag aber später hervorgehoben
werden*) ; die erste Aufgabe ist die Destruction, da die hemmenden
Schranken falscher und einseitiger Auffassung erst niedergerissen
werden müssen, um die richtigen Tendenzen aus der Erstarrung
zu befreien. In dieser Beziehung muss eine neue Philosophie
immer auch einen destructiven Charakter haben.
Es wird aber von den Vertretern des Christen-
thums immer sehr viel Werth darauf gelegt, dass nenepwiosophie
durch Christus etwas von Gott unmittelbar offenbart ^^^ ^^
Ohristenthnm.
sei, was die Vernunft und also die Philosophie nicht
von sich aus finden könnte. Deshalb scheint eine jede Philosophie,
die sich nur auf ihre eigenen Erkenntnissquellen beruft und die
Autorität der Offenbarung nicht zu Hülfe nimmt, dem Christen-
thum feindlich zu sein, nicht bloss wenn sie auf andre Resultate
konmit, sondern auch wenn» sie den Offenbarungsinhalt vernünftig
und richtig findet; denn die Offenbarungsidee verlange eben,
dass ihr Inhalt nicht anders als nur durch die geschichtliche
Offenbarung vermittelt werden könne. Eine solche auf ihr Eigen-
thumsrecht poch%nde Monopolgesellschaft, wie demgemäss die
*) Wenn z. B. die Psychologie durch meine neue Eintheilung der
Seelenvermögen und geistigen Functionen wesentlich umgestaltet wird (vgl.
S. 26 ff.), so ist es sehr interessant zu sehen, dass die Theologen zwar nicht
durch Selbstbeobachtung, aber durch natu rliche Gruppirung der Manifestatio-
nen bei ihrer Psychiologie Gottes zu demselben Resultate gekommen sind,
indem sie allgemein potentia, amor, sapientia unterschieden. Die idealisti-
schen Dogmatiker, wie z. B. Augustin, geriethen von einer anderen Seite
auf denselben Weg, indem sie im Anscbluss an die alte Eintheilung der
Philosophie in Physik, Logik und Ethik die trinitarischen Personen in Vater
(Schöpfung = potentia), Sohn (Xo^oc z=: sapientia) und Geist (Gemüth = amor)
gliederten, was zwar unhaltbar ist, jetzt aber exsolutorisch von der neuen
Philosophie richtig gedeutet werden kann, da die Psychologie Gottes eben
die Unterscheidung der drei wirklichen Functionen des Geistes forderte.
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xxvm
Kirche ist, muss sich nun freilich recht ungesellig und unver-
träglich ausnehmen, so dass es scheint, als wenn die ehrlichen
Philosophen um keinen Preis dieses Monopol anerkennen dürften,
ohne sich um alles Ansehen und alle Selbständigkeit zu bringen.
Allein die Dinge sehen oft schlimmer aus, als sie sind. Der
Philosoph, der die Geschichte seiner Wissenschaft kennt, wird
unmöglich verkennen, dass in der That kein vorchristlicher
Philosoph die Ideen, durch welche die Oflfenbarung des Evan-
geliums ihre Metaphysik, Ethik und Philosophie der Geschichte
ausgedrtickt hat, auch nur von fem in seinem Systeme besitzt
und, ohne sein System zu zerstören, besitzen könnte. Es ist
deshalb ein einfacher Act der Gerechtigkeit und der Sach-
kenntniss, wenn man den Theologen diesen ihren Prioritäts-
anspruch ofifen zugesteht.
Eine andre Sache freilich wäre es, wenn die Theologie noch
jetzt der Philosophie gegenüber das Monopol zum Vertrieb der
überkommenen Wahrheit aufrecht erhalten wollte. Denn die
Wahrheit der evangelischen Offenbarung ist nun einmal mit
Macht überall verbreitet worden und, wenn man auch einräumt,
dass nur ein Charakter wie Columbus im Stande gewesen wäre,
bis zur neuen Welt durchzudringen, so getraut sich doch jetzt
jeder kleine SchiflFscapitän und Steuermann den Weg dahin zu
finden. Ich glaube darum, dass die Theologie, da sie nicht, wie
Schelling meinte, eine Mysterienlehre ist, sondern von jeher oflTen
Propaganda gemacht hat, nicht mehr auf ein Monopol der Wahr-
heitserkenntniss Anspruch machen darf, sondern die Philosophie
völlig freigeben muss, da ein Jeder nach seinen Kräften das zu
sehen suchen wird, worauf die Offenbarung aufmerksam gemacht
hat. Daher kann in dieser Beziehung zwischen einem Theologen
und einem Philosophen gar kein Unterschied sein; man müsste
sonst behaupten, dass ein vernünftiger Mensch diese durch die
Offenbarung gezeigten Dinge gar nicht sehen könnte, sondern
dass sie nur durch den sogenannten Glauben erblickt würden;
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XXIX
allein diese aach von der Bitschrschen Schnle getragene
Behauptung erinnert zu sehr an das so fein gesponnene,
prächtige Gewand des Kaisers von China bei dem Dichter
Andersen, das angeblich nur die Klugen und Gerechten sehen
konnten und das deshalb allgemein bewundert wurde, bis ein
Offenherziger zum Schrecken und zum Lachen damit herauskam,
dass der Kaiser ja ganz nackt einherginge. Die Philosophie
hat solchen Theologen darum den Bath zu ertheilen, den Glauben
nicht zu einem Organ von Illusionen zu machen. Die Wahrheit
kann zwar zuerst von Einem gesehen sein; wenn sie aber von
diesem offenbart ist, so muss sie mit der übrigen Wahrheits-
erkenntniss im Einklang stehen und von aller Wirklichkeit
bezeugt werden, so dass man Jedem Fehler nachweisen könnte,
der sie läugnen wollte, und es darf nicht mehr auf einen grund-
losen Glauben ankommen, wie bei den Quacksalbern.
Der Grund aber, weshalb man bisher zwißchen der Philo-
sophie und dem Christenthum das rechte Yerhältniss nicht finden
konnte, liegt tief versteckt Schopenhauer nahm die Sache zu
oberflächlich und glaubte witzig die natürliche Feindschaft zwischen
beiden Elementen dadurch zu erklären, dass sich beide wie Wolf
und Lamm im selbigen Käfig verhielten, woraus folge, dass das
Lamm unfehlbar gefressen werden würde. Allein so richtig diese
Folgerung, so irrig ist seine Annahme, als wenn die Philosophie
selbstverständlich der Wolf wäre, da die Weltgeschichte doch
genügend zeigt, dass die Kirche kein Lamm ist, dass sie viel-
mehr alle philosophischen Schulen des Alterthums durch den
Kaiser Justinian, den sie als beweglichen Unterkiefer benutzte,
schon im Jahre 52% aufgefressen hat Im ganzen Mittelalter
wurde der angebliche Wolf als knechtischer Kettenhund vom
Lamm gehalten und in der neuen und neuesten Zeit haben sich
alle bedeutenderen philosophischen Systeme trotz ihrer unbehin-
derten Freiheit vor dem Christenthum in aufrichtiger Bewunde-
rung oder aus Furcht vor dem Stärkeren verneigt. Der Vergleich
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XXX
Schopenhauer's war also, wie fast alle seine Einfillle, nur flir
Kurzsichtige überzeugend.
Der wahre Grund der Schwierigkeit, das Verhältniss zwischen
Philosophie und Christenthum zu bestimmen, liegt darin, dass
sich so schwer in Begriffen ausdrücken lässt, was eigentlich
das Christenthum und die Philosophie sei. Das Christenthum
ist nicht nothwendig bloss eins der heutigen Bekenntnisse;
es wird wohl auch nicht sicher genug durch die compara-
tive Dogmatik festgestellt, die Freiherr H. von der Goltz in
seinem interessanten und verdienstvollen Werke ( „ die christ-
lichen Grundwahrheiten") einzuführen suchte, weil das Christen-
thum schon ein paar Jahrtausende alt ist und auch ohne formu-
lirte Dogmatik auskam. Ich kann auch den Apostel Paulus
und den Verfasser des Johannesevangeliums nicht als Photo-
graphen des Christenthums, sondern nur als Theologen auffassen,
die vielleicht die ersten Versuche zu seiner theologischen Dar-
stellung machten, ohne dass man verpflichtet wäre, ihre Auf-
fassungsformen für allgemein bindend und ftir die organischen
Gewebe des Christenthums selbst zu halten. Was ist also eigent-
lich das Christenthum? Denn es wird doch kein feinerer Kopf
der geist- und gemüthlosen Definition zustimmen, die jüngst von
der herrschenden Richtung fortgerissen der angesehene Kirchen-
historiker Adolph Harnack formulirte, als wenn das Christen-
thum bloss eine abgeschmackte Illusion jüdischer Bauern gewesen
wäre, die (wie die ehstnischen Bauern hier vor etwa zwanzig
Jahren) den 'Weltuntergang und die Aufrichtung des Paradieses
in ihrem Lande erwarteten. Solche Geschichtsauffassung huldigt
zu sehr der heutigen positivistischen und dai*winistischen Mode,
als dass sie Aussicht auf längeren Beifall hätte; denn es wider-
strebt zu sehr dem gesunden Gefühl, das Grösste und Herrlichste,
was die Menschheit besitzt, aus einem verächtlichen und durch
die Geschichte widerlegten Aberglauben hervorgehen zu lassen;
und nur diejenigen, welche im Stillen wenigstens über die Wahrheit
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XXXI
des heutigen Gfaristenthams dasselbe abfällige Urtheil haben, wie ttber
seinen Ursprung, werden mit Harnack's Resultaten sympathisiren.
Das Christenthum ist also schwer zu definiren. Wer soll
es aber definiren? Weltansichten definiren kann nicht die Ge-
schichte, sondern nur die Philosophie. Dadurch kommen wir
auf den zweiten Partner; denn die bisherige Philosophie trägt
eben die Schuld der vorhandenen Schwierigkeiten. Das Christen-
thum ist Geist und hat darum seine eigene Metaphysik, Ethik,
Aesthetik, Geschichtsphilosophie; aber die Ausarbeitung der ihr
zugehörigen philosophischen Formen bedui*fte langer Zeit, ehe
sie dem mächtigen Geiste zum angemessenen Ausdruck hätten
dienen können. Um den Inhalt des Ghristenthums schnell zu
schöpfen und zu verbreiten, benutzte man daher die alten, einem
andern und weit geringeren Geiste entsprechenden Formen des
früheren griechischen Idealismus. In diesen hellenischen Formen
trat die Dogmatik auf. Was ist natürlicher, als dass sie nirgends
recht passten und dass überall Widersprüche sichtbar wurden.
An diesen Widersprüchen ergötzte sich nun der unreife Verstand
und glaubte das Christenthum sich selbst zersetzen zu lassen.
Klügere, die aber nach ihrer intellectualen Stellung der vor-
christlichen Bildung angehörten, suchten den Geist aus dem
Christenthum herauszuziehen und zogen natürlich nichts anderes
als wieder den griechischen Idealismus heraus, wie dies z. B.
Fichte und Hegel und seine Schule machte. Das Christenthum
wartet aber geduldig, bis es auch von den Philosophen ver-
standen wird; denn die dem Geiste des Christenthums hin-
gegebenen, aber nicht gerade speculativ angelegten Naturen
wissen von selbst, was sie an ihm haben, auch wenn sie dieses
mächtige Leben philosophisch nicht befriedigend auszudrücken
im Stande sind. Darum kann erst eine neue Philosophie, die
auf dem Boden des Christenthums selbst gewachsen, zugleich
aber über die Formen und Grundlagen der bisher allein herr-
schenden hellenischen Philosophie hinausgekommen ist, das
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xxxu
Christenthom definiren. Denn der Geist wird durch nichts offen
hart, als durch sich selbst.
zweck ^^° ^^^^ ^^^ *^^ ^^^ ersten Blick sehen, dass
dieses Buches. |q ^q^ \^qy Vorgelegten Religionsphilosophie ein
anderer Geist mit einer anderen Methode auf andre Ziele hin-
arbeitet, als man unter solchem Titel bisher zu suchen und zu
finden pflegte. £s handelt sich um eine logische Chemie des
religiösen Lebens; die empirisch gegebenen Religionen werden
in ihre Elemente zerlegt, die in constanten Coordinationen stehen;
dadurch werden scharfe und feste Definitionen, exacte Ein-
theilungen möglich; die Kritik verliert ihren subjectiven Charakter,
da die zu beurtheilenden Standpunkte sich selbst begränzen und
die natürlichen Typen für die gemischten empirischen Religions-
formen liefern. Eine praktische und politische ätellungnahme
zu den Parteifragen der Gegenwart wird aber hier hoffentlich
nirgends sichtbar; man wird kaum erkennen, ob der Verfasser
Katholik oder Protestant, ob er flir oder gegen den Culturkampf,
die grosse Stöcker'sche Bewegung u. s. w. ist; das Interesse ist
ein rein wissenschaftliches, vor welchem die Parteistandpunkte
in blaue Feme versinken. Etwas zu sehr in die Augen fallend
aber wird wohl die Verachtung sein, die das Modegeschwätz
der Zeit hier findet; das Urtheil der Majorität, das Coquettixen
mit den Entwickelungstheorien,*) die Huldigungen vor den Götzen
*) Ich möchte lieber mit Stillschweigen über das eben erschienene Buch
von W. Wundt »Ethik, eine Untersuchung der Thatsachen und Gesetze
des sittlichen Lebens« hinweggehen, aber als öffentlicher Lehrer der Wissen-
schaft fühle ich die Pflicht, mein Urtheil auszusprechen. Das Buch gehört
jener Richtung an, die mit Ironie jetzt, wie lucus a non lucendo, exacte
Philosophie benannt wird, und giebt ein Beispiel dafür, wie das sogenannte
Philosophieren ohne philosophischen Geist der Verwahrlosung und Verwilde-
rung preisgegeben ist.
Zum Beweise genügt es hier, ein paar Proben vorzulegen. So will
Wundt 8. 83 feststellen, was man überhaupt unter Religion zu verstehen
habe, und erklflrt dazu: »Hier sind aber nicht weniger als drei Ansichten
aufgetreten.« — Nach welcher Methode sind diese Ansichten aufgesucht?
nach welchem Fundameute eingetheilt? wie können wir erfahren, ob diese
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XXXIIl
des Positivismus, die demokratisch- geologische Geschichtsauf-
fassung ä la Buckle und Anderen, die den schöpferischen Einfluss
der grossen Naturen wegdeuten und das Leben des menschlichen
Geistes nach dem Vorbilde der Gletschertheorien erklären, ferner
die beliebten Prophezeiungen vom Sieg des Judenthums über
das Christenthum oder die Marktschreierei über die Zersetzung
des Christenthums — alle dergleichen von einer augenblick-
Ansichten überhaupt von Belang und ob nicht viele andre wichtigere ausser
Augen gelassen sind? Um solche pedantische Fragen der Logik kümmert sich das
Buch nicht und weiss nichts davon, dass die Zucht im Denken den Nach-
weis des Nicht mehr und nicht weniger verlangt, da es sich nicht um
eine Historie von drei Burschen, die über den Rhein zogen, handelt, sondern
um Begriffe und Wissenschaft.
Dann meldet Wundt S. 38: »Der natürliche Entstehungsort der reli-
giösen Ideen ist aber das Völkerbe wusstsein.« Woher mag er diese Depesche *
erhalten haben? Sind das »Untersuchungen«, wenn man ohne alle Untersuchung
Orakel zum Besten giebt? Und was für Orakel! In Zukunft darf man also
nicht mehr von Buddha, Jesus, Mohamet sprechen, sondern muss ein fabel-
haftes »Völkerbewusstsein« als Entstehungsort für alle Religion aufsuchen.
Warum nicht lieber gleich ein Erd- oder Planetenbewusstsein ! Und man
muss nach der Analogie erklären: »der natürliche Entstehungsort aller Häuser
sind die Städte.«
S. 41 giebt Wundt die Definition der Religion: »Religiös sind — so
kann, glaube ich, allein geantwortet werden — alle diejenigen Vor-
stellungen und Gefühle, die auf ein ideales, den Wünschen und Forderungen
des mensclilichen GemÜthes vollkommen befriedigendes Dasein sich beziehen.«
— Ich habe in keiner, auch der schlechtesten Logik, nicht gefunden, dass
man mit »glaube ich« Definitionen zu Stande bringt. Welche Sehnsucht
empfindet man in dieser »Untersuchung der Thatsachen und Gesetze« nach
einer wirklichen Untersuchung, nach Methode und Beweis.
Nachdem Wundt dann wieder seinen gläubigen Lesern erzählt hat, dass
»Phantasie und Gefühle« die Quellen der Religion sind, lobt er Feuerbachs
Satz: »die Götter sind die verwirklicht gedachten Wünsche der Menschen.«
Sollten die Phönicier in der That den Moloch nur so lange verehrt haben,
als sie wünschten, Menschenfleisch zu fressen und die Erstgeborenen zu
morden? Allein solche Fragen brauchen in einem Buche nicht beantwortet
zu werden, das Thatsachen und Gesetze untersuchen will; denn bald erfahren
wir wieder, dass »die Götter die sittlichen Ideale« gewesen wären und die
Religionastifter sittliche Vorbilder u. dergl, alles aber ohne Beweise, um
den Leser nicht durch unnütze Anstrengungen zu belästigen.
Wir aber sagen mit Parmenides: iUa ab rfjoS' ä^' 6Söö hl^-rpity; slpf«
v6-nua.
m*
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XXXIV
liehen Fluthbewegung getragenen Wichtigkeiten werden hier
getrost der Ebbe überlassen, die sie bald wieder vom Schauplatz
wegführen wird. Für die Aufregungen des Tages arbeitet die
Wissenschaft nicht; denn sie ist ihrem Wesen nach aristo-
kratisch und schaut in die Jahrhunderte; über den Tumult der
Vielen siegt auch immer das Herakleitische: et«; [i6p loi. Ebenso
deutlich wird sich zeigen, dass der Verfasser in dem Christen-
thum die Offenbarung einer neuen religiösen Gesinnung von
ewiger Bedeutung anerkennt, einer Gesinnung, welche man ebenso
vergeblich, wie den Menschen aus dem Affen, aus dem Juden-
thum oder aus dem Piatonismus oder dem römischen Kosmo-
politismus oder gar aus dem Buddhismus abzuleiten sucht. Das
Christenthum wird aber in diesem Buche, welches schon zu um-
fangreich wurde, nicht mehr behandelt; ich möchte deshalb die
Leser, welche meiner Methode und Auffassung ihre Sympathie
schenken, im Voraus darüber beruhigen, dass meine Philosophie
des Christenthums nicht etwa auf eine dürre abstracto Formel
im Sinne der bisherigen idealistischen Metaphysik hinauslaufen
wird, sondern die neue und wahre Metaphysik trifft gerade das
Leben im Mittelpunkt und geht auf die Persönlichkeit und die
Geschichte, weshalb zwar das historisch und specifisch Neue des
Evangeliums frei sein muss von alF den specifischen Elementen
der untergeordneten Religionen, diese Elemente aber in einem
höheren und allumfassenden religiösen Coordinatensysteme an
ihrem Orte gehörig verwerthen kann. So ist z. B. die Erlösungs-
idee und die Stellvertretung zwar nichts specifisch Christliches;
wie der Geist aber das seelische Leben, das wir mit den Thieren
theilen, und die vegetativen Processe, die uns mit den Pflanzen
gemein sind, nicht von sich abstösst, sondern in und über ihnen
lebt, so hat auch der neue Geist des Christenthums die alten
und untergeordneten religiösen Lebensformen in seinem Sinne
umgewandelt und benutzt.
Für diejenigen, welche ein Bedürfniss nach einer neuen
Philosophie lebhafter empfinden und der Arbeit des- Denkens
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XXXV
nicht abgeneigt sind, bemerke ich noch, dass die philosophischen
Voraussetzungen des Buches genauer in meiner „Wirklichen und
scheinbaren Welt" erörtert sind. Für meine Schüler habe ich
auch dem alphabetischen Inhaltsverzeichniss Sorgfalt zugewendet,
damit man die massgebenden Begriffe und Methoden immer in
vielen Anwendungen verfolgen kann.
Ich möchte noch ein Wort über meine Stellung
Schluss.
dem Geiste der Zeit gegenüber sagen. Wie sollte
man die wirklichen Arbeiten, die vielen und erfolgreichen
Forschungen der Zeitgenossen nicht aufnehmen, schätzen und
bewundem! Nur vermisse ich in den leitenden Gesichtspunkten
der jetzigen Fluthwelle den philosophischen Geist. So z. B.
verfolge ich mit grossem Interesse die feinen physiologischen
Experimente über die Functionen des Gehirns; aber es ver-
wundert mich fast die Komik der Deutungen, die man den Phä-
nomenen giebt; denn ihre monarchische und metaphysische
Psyche wollen die Forscher aus der Welt gebracht und die
geistigen Functionen alle demokratisch vertheilt und im Gehirn
localisirt haben, ganz in der Art, als wollte man etwa Bismarcks
Existenz gänzlich läugnen, da experimentell nachgewiesen wäre,
dass dies mächtige Wesen aus lauter einzelnen, von vielen Um-
ständen bedingten Functionen bestände, die bestimmt localisirt
nur in Varzin, im Reichstag, im königlichen Schlosse u. s. w.
vollzogen würden; denn wenn man die Summe dieser Phänomene
zusammenstellte, so käme gerade das heraus, was man sich bis-
her als den angeblichen Fürsten Bismarck vorgestellt hätte.
Um die Sachlage allgemeiner auszudrücken, müssen wir die
Stellung der Parteien aus den Verhältnissen der Elemente in
unserem geistigen Leben selbst erklären. Ein Jeder findet in
sich einen zur Herrschaft in der Seele geborenen Geist, der die
christlich religiöse Gesinnung, die speculative Vernunftkraft, die
höheren sittlichen Geftlhle und die frei gewordene Thatkraft
umfasst; dieser im Einzelnen mehr oder minder starken Region
steht aber nun eine bei Weitem umfangreichere mit den Wurzeln
uiymzeu uy x^j vyVjpt Iv^
XXXVI
in der thierischen und pflanzlichen Natur steckende Masse von
demokratischen Elementen gegenüber, die das nackte selbstische
Leben mit dem Tumulte der zufölligen Meinungen, den roheren
Trieben und Genüssen und den abhängigen, dem Nutzen dienenden
Arbeiten zum Bewusstsein bringt. Das politische Verhältniss, in
welchem diese beiden Elemente unseres geistigen Lebens stehen,
spiegelt sich daher nothwendig in dem ganzen Zustande der
Gesellschaft, der Staatsverfassung, den wissenschaftlichen Rich-
tungen und den Kunstbestrebungen ab. Um hier nun bloss die
wissenschaftlichen Richtungen herauszuheben, so kann Jeder, der
etwas zu vergleichen und zusammenzufassen versteht, leicht er-
kennen, dass zwar alle Forschungen als solche dem höheren
Geiste dienen, dass diejenigen Tendenzen oder leitenden Gesichts-
punkte der Forschung aber, welche darauf abzielen, den Menschen
zum Thier zu machen, den Staat auf blinden socialen Mechanismus
zurückzuführen, die Freiheit des Gewissens in den Zwang zu-
fälliger Entwickelungsverhältnisse aufzulösen, das Christenthum
als einen Kehrichthaufen aus den Abfilllen früherer Culturelemente
zu beschreiben, den Geist aus den Erzitterungen des Nerven-
gewebes zu erklären, das Denken in Verdichtungen von Vor-
stellungswolken umzudeuten, die Philosophie in Empirie umzu-
wandeln, die zweckmässigen Lebensformen aus blinden DiflFeren-
zirungen und Integi'irungen herzuleiten, die grossen Genien der
Menschheit durch Massenwirkungen unbedeutender Männlein zu
ersetzen, ich sage, dass alle diese und ähnliche Tendenzen offen-
bar das politische üebergewicht des von Natur untergeordneten
geistigen Lebens über die rechtmässigen, aber in Unmündigkeit
erhaltenen höheren Mächte des Geistes ausdrücken. In sofern
nun tritt die neue Philosphie diesen sich als Herren geberdenden
Sclaven geringschätzig entgegen und nimmt ihr rechtmässiges
Erbe hier und da scheinbar mit harter Hand wieder an sich.
Kesmo, am esthländischen Strande,
Juli 1886.
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Inhalts -Verzeichniss.
Seite
Erster Theil. Grundlegung.
EinleituDg.
Erstes Capitel. Definition der Religion 14
§ 1. Naturalistische Erkenntniss der Religion ... 14
§ 2. Frühere Definitionen der Religion 15
Modus deuin cognoecendi et colendi lö
Lebendiger Glaube an das höchste Gut 17
Schleiermacher's Definition 18
HegeFs Definition 19
Krause 20
Lotze 21
0. Pfleiderer's Definition 22
A. Ritschrs Definition 23
§ 3. Die Eintheilung der Functionen der Seele ... 26
Die elementare Wichtigkeit dieser Frage 26
Die bisherige Eintheilung der Seelenvermögen 27
Das Erkenntnissvermögen ist nicht receptiv 28
Das Begehren ist nicht spontan 30
Das GefQhl ist nicht Embryonalzustand der andern
beiden Functionen 31
Idolon fori, Gefühl als unklares Denken 32
Die Platonisch -Aristotelische Auifassung und Spinoza . 32
Der neue Lehrsatz 34
Wille und Bewegung 34
Identität von Wille und Gefühl 35
Die Ideen des Wahren, Schönen und Guten 37
Zur Methode 41
Die Analyse des sogenannten Willens führt auf das Gefühl 41
1. Erste Stufe des Begehrens 41
2. Zweite Stufe des Begehrens 42
3. Dritte Stufe des Begehrens 44
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J
xxxvm
Seite
Corollar: Der GrundbegrifF der Jurisprudenz 47
Zwaug im Recht 53
Bechtsent Wickelung] 57
Synthetische Methode 59
Erste Synthesis 60
Zweite Synthesis 62
Resultat 66
§ 4. Definition der Religion 67
Eintheilung der Definitionen 67
^1. Systematische 67
2. Individuelle, generische, ideale 69
3. Anlage, Akt, lebendige Kraft 71
Die Elemente der Coordination 72
1. Der erste Beziehungspunkt. Fundamentum relationis 72
2. Der zweite Beziehungspunkt. Terminus relationis. 78
3. Die Function 79
a. Religion als Anlage 81
b. Religion als Act 84
Excurs über eine verbreitete Häresie 87
c. Religion als lebendige Kraft 89
Conclusion . .' 91
Zweites Capitel. Eintheilung der Religionen. 93
Nothwendigkeit einer Eintheilung der Religionen. ... 93
Die genetische Eintheilung 94
Die speculative Eintheilung 97
Der Eintheilungsgrund in dem Gotteabewusstsein .... 99
1. Die projectivische Theologie 102
2. Die pantheistischen Religionen 103
3. Das Christenthum 104
Entwickelungslehre, Topik und Geschichte 107
Zweiter TheiL Projectivische Religionen.
Die projectivischen Religionen' 113
1. Die Religion der Furcht 116
Erstes Capitel. Die Ethik der Religion der Furcht 116
§ 1. Apriorische Methode 116
§ 2. Deduction des Eintheilungsprincips 117
§ 3. Deduction des ersten religiösen Motivs 117
Alle persönlichen Gefühle haben eine Beziehung auf'
die Zukunft 117
Hofinung und Furcht 118
Die Furcht bildet das erste religiöse Gefühl 119
Formulirung der zugehörigen Coordinationen .... 121
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XXXIX
Seite
Zweites Capitel. Die zugehörige Dogmatik .... 123
§ 1. Eintheilungen des Objects der Furcht im Erkenntniss-
yermögen 123
Erstens nach dem Gesichtspunkt der Macht 123
Zweitens nach dem Gesichtspunkt der Erkennbarkeit . 124
§ 2. Deduction des ersten Gottesbegriffs 125
Gott ein böser Geist ohne alle Moralität 126
§ 3. Die Zahl der Götter 126
§ 4. Die constitutiven Sätze der Dogmatik dieser Religion 128
Nicht die Phantasie, sondern der Verstand erzeugt die
Dogmatik 129
1. Veränderlichkeit Gottes 131
2. Gemeinschaft zwischen Gott und Mensch .... 131
3. Stimmungen Gottes Ton den Handlungen des
Menschen abhängig 131
4. Der Wille und das Interesse Gottes entwickelt
sich mit dem Menschen 133
5* Der Mensch ein Mitstreiter Gottes 134
Der Animismus bildet nur eine einzelne Form
der Beligion 135
§ 5. Unbestimmbarkeit des theologischen Objectes . . . 136
Scblangenkult und Thierkult überhaupt 136
Menschenkult 138
Stemdienst 139
Gott als Kind und Leichnam 140
Die Symbole 142
Drittes Capitel. Der zugehörige Cultus 144
§ 1. Deduction der Principien des religiösen Handelns . 144
§ 2. Eintheilung der Arten des religiösen Handelns . . 146
1. Versöhnung des Zornes des Gottes ....... 146
a. Durch Erregung seiner Eitelkeit 146
b. Durch Erregung seines Interesses 147
2. Die Mittel, unsere Hoflfoungen zu erreichen .... 148
a. Die Gebete 14S
b. Die Theurgie 149
§ 3. Das Priesterthum 151
Die auswärtige Angelegenheit in der Religion .... 152
Die Religion bezieht sich auf das Zufällige und Ein-
zelne, nicht auf das Allgemeine 153
Erste Aufgabe des Priesters: die Erkenntniss .... 154
Zweite Aufgabe des Priesters: die Praxis.
a. Verkehr mit dem Gott 155
b. Therapeutische Behandlung der Gläubigen . . 157
OL. Die Beruhigung 157
p. Das Orakel . . , . 158
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XL
Seite
§ 4. Die Inspiration 161
1. UnbewTisstheit des Seelenlebens 161
2. Kein specifischer Unterschied zwischen Priester und
Gläubigen 161
Wesen der Inspiration 162
Die Inspiration ist ein wirkliches Ereigniss .... 163
Dämonischer Charakter dieser Inspiration 164
Viertes Capitel. Allgemeine Fragen 166
§ 1. Das Wunder 166
Heuristische Methode 168
Erste heuristische Forderung 168
Zweite heuristische Forderung 169
Dritte heuristische Forderung 170
a. Der Begriff des Wunders in der Furchtreligion 171
1. Die Erkenntniss der Wunder 173
2. Die Psychagogie 177
b. Die Kritik der Wunder 180
Die Kritik der Zeichen 181
Kritik der Deutung 183
1. Wirkung 185
2. Die Wahrheit 186
c. Philosophischer Begriff des Wunders 191
1. Die Thatsachen-Frage 192
2. Deduction 194
a. Die Zusammenhänge und der Satz vom
Grunde 194
b. Die zweite Prämisse. Zusammentreffen
des Einzelnen 194
c. Der Satz vom Grunde und das Zufällige 195
d. Deduction der Gültigkeit des Satzes vom
Grunde für das Gebiet des Zufälligen.
Die Welttechnik Gottes 197
e. Begriff des Wunders 198
f. Normirung der Anwendung des Satzes
vom Grunde und des Zufälligen . . . 200
Speculative Erörterung d. Principien dieser Deduction.
Nachweis der Neuheit dieses Beweises . . . 203
Recapitulation 206
Kritik der angeblichen Unerklärlichkeit und
Voraussetzungslosigkeit des Princips . . . 207
1. Erklärung des Satzes vom Grunde . . 208
Kritik der Logik von Wundt .... 209
2. Begründung des Satzes vom Grunde . 214
Corollar über das Causalitätsprincip . 215
Recapitulation 217
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XLI
Seite
d. Gebrauch des Wunders in der wahren Religion 217
1. Die Erkenntnisa der Wunder 218
2. Die Psychagogie 220
Epilogus 226
§ 2. Das Schicksal 227
Zur Logik und Methode 227
Kritischer Excurs gegen die HegeFsche Dialektik
und den Darwinismus 229
Anwendung auf die Schicksalsidee 234
Erste Form der Schicksalsidee. Der Fluch 235
Drei Ursachen des Glaubens an die Macht der Flüche 238
1. Verwechselung von Voi-stellung und Wahr-
nehmung 239
2. Wahrscheinlichkeit des Eintreffens 241
3. Die Sicherheit des Todes 241
Segen 242
Der Fluch und der Ursprung der Beligion .... 243
Zweite Form der Schicksalsidee 244
Der neue Beziehungspunkt 245
Die neue Coordination 246
Religiöser Charakter dieser Schicksalsidee .... 247
Rolle der Priester 250
Dritte Form der Schicksalsidee. Auflösung der Reli-
gion der Furcht 252
Beurtheilung des Zufallsglaubens 254
§ 3. Die zugehörige mythologische Weltanschauung . . 256
Weltanschauung 256
Perspectivischer Standpunkt 256
Kosmologie 257
Entstehung und Wesen der Mythologie 258
Wieweit Mythologie ein Gegenstand der Philosophie ist 260
Stellung der griechischen Mythologie 262
§ 4. Der Islam 264
1. Dogmatik . 264
2. Ethik 267
3. Cultus 267
2. Die Religion der Sünde oder die Recbtsreligion.
Erstes Capitel. Die zugehörige Ethik 270
§ 1. Das Eintheilungsprincip der Geföhle 270
§ 2. Ursprung der Moralitftt und des Rechts ..... 273
Kant's verunglückter Erkl&rangsversuch 273
Mitleidstheorie widerlegt 274
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xLn
Seite
Ursprung des Rechts und der Moralität 275
1. Unrecht und Entrüstung 276
2. Eechtsbewusstsein 277
3. Die Sünde 277
Beweis, dass die pittliche Stufe die höhere ist ... . 278
Inhalt des Rechtsbewusstseins 280
Zweites Capitel. Die zugehörige Dogmatik .... 281
§ 1. Die Theologie der Religion der Sünde 281
§ 2. Unbestimmtheit des Gottes ' 283
§ 3. Die* numerische Bestimmung des Gottes 285
Monotheismus 285
Polytheismus 285
Dualismus 286
Der reine Monotheismus bei den Juden 289
§ 4. Die UnVeränderlichkeit Gottes 292
Das Princip der geschichtlichen Theologie liegt in der
Furchtreligion 292
Princip für die Deduction der Unveränderlichkeit Gottes 295
Drittes Capitel. Der zugehörige Cultus 299
§ 1. Der spflcifische Cult . 290
1. Die Uneinigkeit 301
2. Die Einigkeit 305
Der specifische Unterschied der Rechtsreligion in Be-
ziehung zu den höheren Religionsformen 306
§ 2. Der Priester 307
Viertes Capitel. Die concrete unreineRechtsreligion 312
§ 1. Die zugehörige Ethik und Dogmatik 312
Die homologen Glieder und ihre Verquickung .... 312
Verderbniss des Gewissens, des Gottesbewusstseins und
der Geschichtsphilosophie 313
Zur Beurtheilung der hebräischen Propheten 314
Piaton, das Christenthum und die natürliche Lebens-
kraft der unreinen Rechtsreligion . 316
Die Sophistik der unreinen Rechtsreligion 318
Das jüdisch-Eantische Ideal des höchsten Gutes . . 318
Der zugehörige Optimismus und Pessimismus. . . 319
Zur Kritik 320
§ 2. Der zugehörige Cultus 322
Die Idee der Sühnung 322
Die Einth eilung der Sühnungen 323
1. Opfer 323
2. Körperstrafen und Freiheitsentziehung *j24
3. Die Stellvertretung 324
Das Christenthum und die neue Religions-
philosophie 328
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Seite
Die Wirksamkeit der Sühnungen 330
Irreligiosität des unendlichen Schuldgefühls. ... 331
Wirksamkeit der Sühnung durch Opfer und Gebete 332
Wirksamkeit der Sühnung durch Askese 333
Wirksamkeit der Sühnung durch Stellvertretung . 333
Fünftes Capitel. Der sociale Charakter der Religion 335
§ 1. Religiöse Geselligkeit überhaupt 335
Die allgemeine Begründung und die Kritik der Schleier-
macher'schen Theorie 335
Die Arten 339
§ 2. Die specifischen Formen der politischen Organisation 342
Sechstes Capitel. Die Religionsphilosophie .... 347
Lessing's Standpunkt 848
Eant's Religionsphilosophie 349
Ritschrs Theologie 351
Dritter Thell. Die pantheistischen Religionen.
Die Uebergangsform. Der Atheismus 356
Ursprung des Atheismus 356
Ist ein religiöser Standpunkt 358
Systematischer Ort des Atheismus 359
Der Positivismus 360
Die zugehörige Ethik 364
Die zugehörige Dogmatik 367
Der zugehörige Cultus 370
Die drei pantheistischen Religionen.
§ 1. Definition und Charakteristik des Pantheismus .... 874
Voraussetzung: Die im Atheismus gegehene pessimistische
Stimmung 374
Die constitutiyen Elemente des Pantheismus: Das Ich als
Geist und das Verschwinden der Götter 375
1. Die Verlegung des Schwerpunkts des Ichs .... 377
2. Das Ich verschwindet selbst 378
Charakteristik des Pantheismus 380
1. Vergottung und ewiges Leben 380
2. Keine Gläubige mehr 381
§ 2. Division des Pantheismus 382
Das Eintheilungsfundament des Pantheismus .... 382
Die Eintheilung des Pantheismus 383
Reihenfolge und Werthbestimmung der Arten .... 384
1. Der Pantheismus der That 387
Eintheilung 387
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XLIV
Seite
ErsteB Capitel. Der Fortschrittaenthusiasmus. . . 389
Ethik 390
Dogmatik 392
Oultus 393
Zur Kritik . 395
Excurs über die letzte Revolte gegen die Philosophie. 399
Zweites Capitel. Die pantheistische Werkheiligkeit 402
Zur Methode 402
Apriorische Synthesis 403
Empirische Confinnation 404
Der Buddhismus 406
Apologie des Buddhismus gegen Oldenberg. ... 408
Drittes Capitel. Pantheistischer Staats - Enthu-
siasmus 412
Dogmatik 413
Ethik 414
Cultus 415
Die unreine Form 416
Viertes Capitel. Der pantheistische Eirchenenthu-
siasmus 418
Zur Topik 418
Aetiologie und Semiotik 419
Dogmatik 420
Ethik 421
Cultus 422
A. V. Oettingen 422
Zur Kritik
1. Erster Fehler: Die Wesen werden zu blossen
historischen Erscheinungen herabgesetzt .... 427
2. Zweiter Fehler: Die Ethik und Dogmatik werden
durch Feldherrnklugheit normirt, und es fehlt
ein Princip des Werthes und der Wahrheit . . 428
3. Dritter Fehler: Die Ethik wird Social-Ethik und
verliert ein Princip der Autorität 429
4. Das antagonistische Princip indicirt die perspec-
tivische Einseitigkeit des Standpunktes .... 430
Fünftes Capitel. Der pantheistische Kunstenthu-
siasmus 432
Definition 432
Schiller 434
Dogmatik 435
Ethik 437
Cultus 438
Zur Kritik 440
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XLV
Seite
2. Pantheismus des Gefühls.
Erstes Capitel. Definition 442
Kein Pantheismus kann Volksreligion werden .... 442
Einseitigkeit der Menschen 443
Definibilität des Gefilhls 443
Ort des Gefühls in dem Coordinatensystem der geisti-
gen Functionen 444
Die Gegensätze des GefQhls und das Coordinatensystem
der Welt 446
Allgemeine Eintheilung der Gefühle 446
Die Arten der objectiven Gefühle 447
Das religiöse Gefühl 447
Excurs über die Aristotelische Ethik 448
Fortsetzung: Das religiöse Gefühl 450
Zweites Capitel. Die reine Form 453
§ 1. Dogmatik und Cultus 453
Dogmatik. Mysticismus 453
Cultus. Quietismus 454
§ 2. Ethik 455
Ethik 455
§ 3. Die religiöse Gesinnung 456
Der Schmerz ist kein der Lust nebengeordnetes Princip 456
Die Hemmungen der Acte 458
Der quietistische Weg zur Freude 458
Die Seligkeit des Quietisten und Mystikers .... 460
§ 4. Die zugehörige Beligionsphilosophie 462
Schleiermacher 462
§ 5. Zur Kritik der Religion des Gefühls 464
Drittes Capitel. Unreine Form des Gefühlspan-
theismus.
Naturschwärmerei 469
Musikalische Phantasieschwärmerei 470
Pietistische Richtung 471
Methodismus 472
Anmerkung über Kem's »Job. Scheffler's cherubin.
Wandersmann« 473
3. Die pantheistische Religion des Gedankens.
Erstes Capitel. Die zugehörige Ethik 474
§ 1. Das ethische Motiv.
Ueberordnung der Wahrheit über das Gute, Nützliche
und Schöne 475
§ 2. Das religiöse Motiv 477
Der zugehörige religiöse Charakter des Pantheisten . 478
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XLVI
8oiU»
§ 3. HistoriBche Confirmationen.
Piaton 479
Aristoteles 480
Fichte 480
Hegel 481
Gnosis und Pistis 482
Nachweis des Paralogismus 484
Zweites Capitel. Der zugehörige Cultus 487
Piaton und die unreinen Formen 488
Drittes Capitel. Die zugehörige Dogmatik .... 491
Anfang der wissenschaftlichen Theologie 491
§ 1. Die alterthfimliche Form des Idealismus 492
Materie und Idee 493
Idee und Individuen 494
Gemeinschaft von Idee und Materie 495
Gott und Mensch 495
§ 2. Der Platonische Idealismus 497
Kein Dualismus aber Hylozoismus 503
§ 3. Theologie 504
Die Aristotelische Theologie 504
Im Platonischen Idealismus giebt es keinen Gott als
selbständiges "Wesen 509
§ 4. Von der Erlösung 512
§ 5. Moderne Idealisten 515
Fichte 515
Hegel 517
§ 6. Verlegenheiten christlicher Dogmatik 522
§ 7. Zugehörige positive Religionen 527
Brahmanismus 527
Zwei kritische Bemerkungen.
1. Die allgemein menschlichen Lebensausserungen sind
bei den Indern niemals ganz unterdrückt gewesen 52S
2. Die indische Volksreligion und der Brahmanismus
sind specifisch verschiedene Beligionsformen . . . 528
Wissenschaft und religiöse Speculation 532
Der ächte Brahmanismus 583
Aegyptische Religion 536
§ 8. Zur Kritik des Idealismus 537
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Erster Theil.
Grundlegung.
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^ .'^^ OTT . "/'
Einleitung.
Unter allen, die ttber die Religion reden, mnss zuerst der
Unterschied der Meinenden und der Wissenden hervorgehoben
werden. Wer bloss seine Überzeugung ausspricht, kann sehr
WerthvoUes und Wahres zur Mittheilung bringen; er ist aber
doch nur ein Meinender zu nennen und kann nicht lehren, sondern
nur durch Autorität oder Beifall wirken, bis er seine Behaup-
tungen begründet hat. Die Gründe, welche die allgemein zu-
gänglichen und offenbaren Beziehungspunkte des Denkens ent-
halten, gewähren dem Inhalte seiner Überzeugung den Character
des Schlusssatzes. Wenn solche Begründungen allgemein durch-
geführt sind, müssen alle Wege der Erkenntniss blossgelegt
worden sein. Damit ist dann die Methode der Forschung zu-
gleich gezeigt und eine wissenschaftliche Rede über solche
Dinge gewonnen.
Demgemäss haben wir zuerst die positive Religionslehre
und die Religionswissenschaft zu unterscheiden.
Die positive Religionslehre giebt, wie die Lehre
des positiven Rechts, bloss eine geordnete Darstel- ^**^»ve »«"■
lung des Geltenden. Ob das jetzt Geltende wahr
oder falsch sei, ist eine Frage, die gar nicht aufgeworfen werden
darf. Was gegenwärtig Rechtens ist oder gegenwärtig von den-
jenigen, deren Religion dargestellt werden soll, geglaubt wird,
das wird in den sogenannten positiven Disciplinen zusammen-
gefasst.
Telohmüller, Religionsphilosophie. ^.^.^.^^^ b^GoOQlC
4 Einleitung.
Da man aber sehr bald erkennen muss, dass
Yergleichende
Reiigions- die jedesmal behandelte Religion nicht die einzige
wisBenschaft Religion, sondern nur eine neben andern ist, wie denn
auch früher andere Religionen von den Völkern bekannt wurden:
so kann die Aufgabe einer vergleichenden Religionswissen-
schaft entstehen, wonach die Religionen aller Zeiten und Völker,
wie die Pflanzen und Thiere, in gewisse Arten, Gattungen und
Glassen geordnet und auch möglichst ethnologisch, literarhistorisch,
chronologisch und psychologisch aus einander abgeleitet werden.
Wer dies aber versucht — und es sind schon viele vergeb-
liche Versuche gemacht — , der wird bald die Schwierigkeiten
empfinden, die rechten Eintheilungsgrttnde zu bestimmen. Denn
ohne Unterscheidung des Wesentlichen und Constituirenden von
dem Zufälligen und Consecutiven ist eine wahre Eintheilung un-
möglich. Ist z. B. die Zahl der Gottheiten filr eine Religion
wesentlich? Ist das Geschlecht der Götter constituirend? Ist
die Function Eintheilungsgrund der Götter und der Religion?
Alles dies geht in den Mythologien vieler Völker durcheinander.
Die Eine Gottheit erscheint nach den Hauptcultsitzen als der
Zahl und Function nach verschieden und die verschiedenen
Functionen werden bald getrennt, bald vereinigt Kurz ohne ein
Princip der Eintheilung wird selbst die blosse Beschreibung
immer räthselhaft und rathlos bleiben.
Ausserdem hat jeder Forschende selbst eine
Religionskritik, ßgiigj^^ ^^^ jj|^gg ^q^Jj g^^^jj ^j^ jfremden Religionen
ihren Motiven nach verstehen wollen. Mithin wird sich ein Urtheil
ttber die verschiedenen Religionen einstellen, und die Religions-
wissenschaft setzt daher in erster Linie eine Reiigions kritik
voraus. Ehe wir eine Religion classificiren können, milssen wir
sie verstanden und aus unserem Gefühl und unserer eigenen
Erfahrung begriffen haben, weil dieser Gegenstand selbst Leben
ist und daher nur durch identisches oder analoges inneres
Leben erfasst werden kann. Wenn wir aber auch das Fremde
irgendwie nachfühlen könnten, so wfLrden wir es doch nur nach
unserem Standpunkte beurtheilen; denn da die Religionen eine
Offenbarung ttber Gott und Welt und die Schicksale der Menschen
und den Werth ihrer Gesinnungen und Handlungen darbieten, so
dreht es sich um die Frage, ob diese Aussagen auch wahr sind,
und hierauf wird jeder nach seinem Glauben antworten. Da
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Einleitung. 5
unsre eigene Religion aber ebenfalls als eine Religion unter
anderen mit beurtheilt werden muss, so zeigt sich, dass wie der
vergleichenden Religionswissenschaft die Religionskritik, so dieser
wieder eine Kritik der Kritik, d. h. eine höhere Wissenschaft
Yorhergehen muss, welche allererst das Fundament und die Prin-
cipien aller dieser Arbeiten in's Reine bringt.
Der wahre Anfang aller wissenschaftlichen Unter-
suchungen über die Religion liegt deshalb in der ^*«
Philosophie, welche allein die Principien alles Wissens
zu ihrem Gegenstande macht und darum über alle Wissenschaften
regiert, sofern diese nur die Aufgabe haben, die von der Philo-
sophie empfangenen Principien in den besonderen Gebieten der
Erfahrung geltend zu machen und das Erfahrungsmaterial nach
diesen Principien aufzufassen, zu beurtheilen und zu ordnen.
Da die Bildung jedes Zeitalters nun immer von den bisher
kund gewordenen philosophischen Gedanken durchdrungen ist,
so wird mit der Schule und der Specialwissenschaft und durch
die Berührung mit der Literatur und Gesellschaft von einem Jeden
inmier ein mehr oder weniger grosser Kreis von philosophischen
Gedanken aufgenommen, weshalb sich Jeder auch befähigt glaubt,
ohne weitere Beschäftigung mit der Philosophie über Alles zu
urtheilen. Zudem werden die bloss realistisch gebildeten Köpfe
durch die vielen Erfahrungskenntnisse aufgebläht und glauben
mehr zu wissen und besser unterrichtet zu sein, als die arme
Philosophie, die sich nur mit dem Allgemeinen und dem Apriori-
schen beschäftigt, ja sie glauben, weil sie ihren philosophischen
Gedankengehalt in den empirischen Fächern eingearbeitet und
versteckt aufgenommen haben, wie die Gitronensäure in und mit der
Citrone, dass sie ihre Gedanken nicht sowohl der Philosophie als
vielmehr den Sinnen oder der Erfahrung verdankten. Je weniger
sie sich nun der Quelle ihrer Erkenntnisse bewusst sind, desto
lauter wagen sie gegen die Philosophie aufzutreten und möchten
am liebsten wie durch einen Sclavenaufstand ihre Herrin absetzen
und umbringen, wodurch sie sich doch selbst nur um alle Arbeit
und Lebenskraft brächten.
Besonders wird von diesen Plebejern gegen die apriorische
Erkenntnissart der Philosophie geredet, da sie ja selber sich so
viel Mühe mit dem historischen und empirischen Material geben
und deshalb nicht begreifen können, wie man aus sich heraus ohne
uiymzeu uy V^jOOy IC
Q Einleitung.
Erfahrung etwas Wissenswerthes Bpinnen könne. Da sie nämlich
sich selbst nicht nm die Philosophie bemüht haben, so müssen sie
natürlich auch nur ganz schattenhafte und verkehrte Ansichten
und Meinungen von ihr haben, ähnlich wie die Franzosen eine
Zeit lang über die Deutschen urtheilten, die sie nur für Pen-
dulendiebe und rohe Barbaren hielten. Schon der alte griechische
Sensualist Antisthenes und nicht erst der moderne Engländer
Locke bildete sich ein, die apriorische Erkenntniss mttsste sich
als eingeborene in dem Säugling und in jedem rohen Menschen
fertig vorfinden, wenn sie wirklich apriorisch sein sollte. Dass
der Geist des Menschen an den Erfahrungen zuerst unbewusst
arbeitet, ehe er sich allmählich seiner eigenen Thätigkeit be-
wusst wird, das kam ihnen nicht in die Gedanken. Deshalb
begriffen sie nicht, dass das Apriorische nichts andres als
das Bewusstsein der Thätigkeiten des Geistes selbst
ist. Da diese geistige Thätigkeit nun bei jedem beliebigen Er-
fahrungsgegenstande ausgeübt wird, so bildet sie das apriorische
Element in aller Erfahrungswissenschaft und geht mithin aller
empirischen Erkenntniss voran, weil man ohne gebildeten Geist
überhaupt keine wissenschaftlichen Erfahrungen machen kann,
wie die Wilden beweisen, welche zwar mit ihren Sinnen mancherlei
Naturerscheinungen auffassen, aber auch nicht zu der geringsten
Naturwissenschaft gelangen. Obgleich daher menschlicher Ver-
stand unbevmsst erst viele Erfahrungen machen musste, ehe er
sich seiner Thätigkeit des Zählens bewusst wurde, so bildet doch
dieses Bewusstsein unserer geistigen Thätigkeit, des Zählens,
eine rein apriorische Wissenschaft, und die reine Arithmetik geht
a priori allen denkbaren empirischen Anwendungen voran und
beherrscht gesetzgebend alle Operationen, die in denErfahrungs-.
Wissenschaften angestellt werden. Ebenso ist nun alle Philo-
sophie eine apriorische Erkenntniss und deshalb, weil sie das
Bewusstsein des Geistes von sich selbst und seinen Thätigkeiten
ausmacht, natürlich und von rechtswegen die Königin aller
Wissenschaften, die zu ihr nicht in feindlichen Beziehungen stehen
können, sondern von ihr grade das Bewusstsein ihres Verstandes
und ihrer lebendigen Geisteskraft erhalten. Deshalb können die
Erfahrungswissenschaften zwar von einander getrennt und von
verschiedenen Forschem bearbeitet werden; keine einzelne Wissen-
schaft ist aber von der Philosophie abtrennbar, wie die Pro-
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Einleitung. 7
yinzen zwar von yerschiedenen Gouverneuren verwaltet werden,
jeder Gouverneur aber von dem Minister und dem Souverain inspirirt
wird. Die hervorragenden Forscher in den empirischen Wissen-
schaften sind sich auch zu allen Zeiten dieses natürlichen Ver-
hältnisses bewusst geworden und haben Achtung vor der Philo-
sophie und Liebe zu ihr an den Tag gelegt, weil sie selbst von
ihrem Geiste kräftiger erfüllt waren und deshalb, wie dies ja in
der Natur der Sache Uegt, die Philosophie als einen nothwendigen
Bestandtheil ihrer allgemeinen Bildung betrachteten.
Obgleich aber die Philosophie als einfaches und wahres
BewuBStsein des Geistes von sich selbst und seinen Thätigkeiten
nur in einer einzigen Gestalt auftreten kann und unfehlbar
sein muss, so finden wir sie gleichwohl geschichtlich immer
in vielen Systemen vor, die sich einander bekämpfen und
des Irrthums zeihen. Diese Thatsache einer „metaphysischen
Anarchie*', wie ein modemer Skeptiker sich ausdrückt, setzt
Viele in Verwirrung und flösst ihnen Misstrauen gegen die
philosophische Arbeit ein. Wenn man aber bedenkt, dass die
Thätigkeiten des Geistes gar nicht so leicht zum Bewustsein
konunen, dass vielmehr sowohl im einzelnen Forscher, als in
ganzen Völkern dies Bewusstsein sich nur allmählich und bruch-
stückweise ereignet, wie auch in der Regel noch die beson-
deren Gegenstandsgruppen, bei denen man sich der geistigen
Thätigkeitsweise bewusst wurde, von dieser nicht ganz los-
gelöst werden: so ist nichts natürlicher, als dass die Philo-
sophie auch ihre Entwickelung, ihre Fehden und ihre Geschichte
haben muss, wie jede andre Wissenschaft. Wo es aber je ge-
lang, eine Geistesthätigkeit ftir sich rein aufzufassen, da ist auch
eine apriorische Erkenntniss geftinden, die ihrer Natur nach noth-
wendig von ewiger und allgemeiner Gültigkeit sein muss und in
einfacher Gestalt unfehlbar alles Denken regiert. Die Geschichte
der Begriffe hat diese Funde einzutragen und den Besitzstand
der Philosophie zu verzeichnen. Aber selbst, wo die endgültige
apriorische Erkenntnissform noch nicht rein ausgeschieden ist,
da bleibt dennoch der jeweilige Stand der philosophischen
Forschung das letzte Princip, nach welchem in allen Einzel-
forschungen der Erfahrungswissenschaften gedacht wird, so dass,
wenn die Philosophie über einen Grundbegriff noch im Streite
mit sich liegt, auch die positiven Wissenschaften, welche diesen
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g Einleitang.
Grundbegriff gebrauehen, nicht zu befriedigender Klarheit und
BeBtinimtheit gelangen können (so jetzt z. B. die Jurisprudenz,
wie sie selbst klagt), da ohne das Denken nichts gedacht werden
kann und jedes besondere Gedachte die jedesmal zugehörige
allgemeine Form des Denkens voraussetzt.
Mithin bedarf jede positive Religion, wenn sie
Die Reiigions- HxiQji Bcsitzcr uicht bloss erfüllen und beherrschen,
sondern auch ihrem Werthe und ihrer Wahrheit nach
gemessen werden soll, erstens der vergleichenden Beligions-
Wissenschaft, wodurch wir statistisch auf alle ähnlichen und un-
ähnlichen positiven Religionen hinblicken können, und zweitens
der Religionskritik, durch welche gewisse Grundsätze oder
Gesichtspunkte zur Unterscheidung und Weiiihbestimmung der
positiven Religionen dargeboten werden. Um aber wieder die
Wahrheit dieser Gesichtspunkte festzustellen und die Eintheilungs-
gründe der Religionen zu beweisen und das Wesen der Religion
selbst zu begreifen, bedürfen wir allem zuvor einer Philosophie
der Religion, d. h. den Rückgang auf die apriorische Erkenntniss,
durch welche die Thätigkeiten des Geistes, welche alle Religion
hervorbringen und im Leben erhalten, bewusst werden. Ohne
diese Grunderkenntniss ist alles Reden über die Religion dilet-
tantisch, unsicher, rathlos, widerspruchsvoll, subjetiv und niemals
endgültig abzuschliessen.
Ueber die Möglichkeit einer wahren Religionsphilosophie.
Die Vollkommenheit in der Wissenschaft ist immer die Wahr-
heit; denn jeder Mangel der Erkenntniss beruht entweder darauf,
dass man die erforderliche Wahrnehmung des jedesmal zu-
gehörigen Gebietes der Thatsachen nicht besitzt und also einen
Theil irriger Weise fftr das Ganze hält, oder dass man von
irrigen Voraussetzungen, Begriffen, Principien, Gesetzen u. s. w.
ausgeht, oder drittens, dass man die Verknüpfungen der Begriffe
mit den Begriffen, der Thatsachen mit den Thatsachen und der
Begriffe mit den Thatsachen falsch ausführt. Die Vollkommen-
heit einer Religionsphilosophie hängt deshalb ab von der Wahr-
heit der zur Auffassung benutzten Metaphysik, von der Richtig-
keit der dialektischen Bewegung des Forschenden und drittens
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Einleitung. 9
zuletzt und zumeist von der yoUständigen Wahrnehmung des
religiösen Lebens; denn wer den religiösen Geist in allen seinen
Lebensäusserungen nicht vollständig in sich wahrgenommen hat,
der kennt die Thatsachen nicht, welche er durch metaphysische
Begriffe nach dialektischer Methode darstellen soll
Welches nun die richtige Metaphysik sei, von der man aus-
zugehen hat, darüber habe ich in meiner Neuen Grundlegung der
Metaphysik gehandelt. Die richtige Dialektik und Logik hier
zu erörtern, ist ebenfalls nicht angezeigt Der aufinerksame
Leser wird auch selbst alle Bewegungen des Gedankens und
alle Technik der Methode bei ihrer Anwendung zu prttfen haben.
Was hier aber noch besonders zu erwägen bleibt, das ist die
Kenntniss der Thatsachen oder die Erfahrung des religiösen
Lebens; denn ohne diese spricht ein Blinder von den Farben.
Da nun über die Religion die verschiedensten
und entgegengesetztesten Meinungen herrschen und »^»«iJgton«-
Jeder die Meinung des Andern nach seiner Meinung
beurtheilt, so scheint zunächst wenig Hoffiiung vorhanden zu
sein, eine wahre Philosophie der Religion herstellen zu können.
Da aber jede Meinung als eine Art Erkenntniss auf den
drei eben dargelegten Momenten beruht, so ist jede falsche
Meinung auch schlimmer daran, als der Sohn der Thetis, da sie
nothwendiger Weise an drei Achillesfersen tödtlich verwundet
werden kann. Dies ist der dreifache Grund, weshalb die
Meinungen der Menschen veränderlich sind und sich auch wirk-
lich sowohl über weltliche als über religiöse Dinge mit der
Zeit immer verändert haben. Die thatsächliche Verschiedenheit
religiöser Meinungen ist daher an sich kein Hindemiss ftlr den
Aufbau eines wissenschaftlichen Systems, da die richtigen Mei-
nungen zur Unterstützung dienen und als testimonia gebraucht
werden können, die falschen aber auf drei Wegen verschwinden,
wie im Halbdunkel entstandene Sinnestäuschungen bei anbrechen-
dem Tageslicht
Diejenigen jedoch fallen einer Illusion zur Beute, welche
noch einen vierten Weg zur Entfernung einer falschen Meinung,
nämlich den freien guten Willen, zu kennen glauben. Die Meinung
ist aber eine nothwendige Function ihrer jedesmal zugehörigen
Goordinaten in dem Lebenszustand jedes Menschen, indem ein
Jeder nach dem Umfange seiner Erfahrung und der Kraft seiner
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1 0 Einleitung.
Erkenntniss sicherlich seine Meinungen über dieses und jenes
Dogma und über diese oder jene Form des Cultus und dergleichen
haben wird und zugleich nicht anders, als er wirklich meint,
meinen kann. Die Meinung ist nicht Sache der WillkfLr, sondern
geht jedem willkürlichen Entschlüsse vorher. Wie Niemand mit
freiem Willen machen kann, dass er meint, sein Vater wäre sein
Bruder, oder eine Tanne wäre eine Weide, so kann auch Nie-
mand sich irgendwie zwingen, zu meinen, Christus wäre aufer-
standen oder die Bibel wäre inspirirt Die Meinungen flber
religiöse Dinge vom sogenannten freien Willen abhängig zu
machen, wird man verleitet, weil die religiösen Dinge zu einem
grossen Theile Zustände des Willens sind und weil deshalb
gesetzmässig das Bewusstsein des Menschen flber die in ihm
selbst vorhandene oder fehlende Gesinnung immer auch ent-
sprechende Meinungen in ihm hervorbringt. Wenn man deshalb
aber die Meinungen verurtheilt und andre Überzeugungen von
dem Menschen verlangt, so kann man höchstens eine Verheim-
lichung des Unglaubens und Zweifels, d. h. Heuchelei, hervor-
bringen, während man die Meinungen bei Seite lassen und das
Herz des Menschen ergreifen sollte, da ein verwandeltes Herz
von selbst die alten Meinungen schmilzt und oft mit Tbränen
auslöscht, um nach gewonnener tieferer Erfahrung sofort eine
andre und zuweilen bessere Meinung in religiösen Dingen zu
haben und zu bekennen.
Die Meinung der Menschen und also auch die Kritik, die
sie anderen Standpunkten gegenüber geltend machen, fusst aber
nicht bloss auf dem zufalligen individuellen Erfahrungskreise
des Urtheilenden, sondern zweitens auch auf den in's Bewusst-
sein aufgenommenen Gedanken der herrschenden Systeme. Es
ist darum ausserordentlich leicht, jeden Urtheilenden nach seinem
Urtheile sofort zu errathen und ihn mit seinem kritischen Stand-
punkte unter ein System zu rubriciren, wie wir eine Pflanze
sofort nach ihren Merkmalen in eine grössere Familie und
Ordnung bringen und sie dadurch bestimmen. Die in einem
jeden Zeitalter zur Kenntniss gekommenen philosophischen
Theorien erobern sich ja unmerklich von selbst ein Herrschafts-
gebiet in allen Geistern, da jeder genöthigt ist, das was er
denkt, unter gewissen Gesichtspunkten aufzufassen. Wenn einer
nun nicht selbst diese Gesichtspunkte entdeckt und also kein
Dig^izedbyGoOQle
Einleitang. 11
sehöpferischer philosophischer Genius ist, so benutzt er einfach
und häufig sogar unbewusst die von seinen Lehrern oder aus
Büchern flbemommenen Gesichtspunkte und wird dadurch willenlos
ein Unterthan eines philosophischen Systems. Ist er ein klarer
Kopf, so bleibt er bei einem System; ist er von etwas schwäch-
lichen Muskeln des Verstandes, so mischt er die unvereinbarsten
Gesichtspunkte durcheinander; ist er grösser als die herrschenden
Systeme, aber zu selbständiger Schöpfung nicht fähig, so wird
er die Unzulänglichkeit der bisherigen Auffassungsformen er-
kennen und zwar nicht der feigen und geistlosen Skepsis der
Positivisten verfallen, aber doch entweder mit einer gewissen
Traurigkeit auf die Arbeit der Wissenschaft blicken, oder in
glttcklicherer Wendung mit einer schönen Hoffnung dem neuen
Genius der Philosophie entgegenkommen.
Da nun die Philosophie nichts anderes als das
dialektisch ausgebildete Bewusstsein des Geistes von ^^"* christu..
sich selbst und von seinen Thätigkeiten ist, so wird Jeder eine
einseitige Philosophie haben, der bloss in einseitiger Weise geistig
thätig ist und sich nur diese Thätigkeit zu Bewusstsein bringen
kann. Daher legt jedes philosophische System zugleich Zeugniss
ab über die Begabung und den Arbeitskreis des Philosophen
selbst. Am augenfälligsten wird dies für Jeden, der die philo-
sophischen Systeme der Ethik und Keligionslehre beachtet; denn
wessen die Philosophen in ihrem eigenen Gefühl und ihrer
eigenen Erfahrung sich nicht bewusst geworden sind, weil der-
gleichen in ihnen nicht vorkam, dafür haben sie auch in ihrem
System keinen Begriff aufstellen können. Wie darum die voll-
kommene Beligion nur in einem vollkommenen Menschen an's
Licht treten wird, so kann auch die vollkommene Beligions-
philosophie nur von einer göttlichen Natur geschaffen werden.
Es wäre sonach wenig Hoffnung, eine wahre Beligions-
philosophie zu erhalten, da ein göttlicher Mann dazu erforder-
lich ist und ein solcher doch selten in der Geschichte auf-
tritt; wie aber, wenn ein Licht entzündet ist, Viele, die selber
Feuer anzufachen nicht im Stande waren, mit ihren Kerzen
herankommen können, um sie an dem schon brennenden Lichte
zu entzünden, so giebt es auch. Gottlob! eine grössere Menge
von Naturen, die wenigstens fähig sind, das von einer gött-
lichen Natur ausströmende vollkommene Leben in sich aufzu-
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J
12 Einleitung.
nehmen, es sich anzueignen und mitzageniessen, so dass sie,
wenn anch nicht als Schöpfer des göttlichen Lebens, doch
als Erben und Theilnehmer das Wesen desselben in sich em-
pfinden und zum Bewusstsein bringen können. Und glücklicher
Weise ist sogar mit dieser zweiten Stellang noch ein gewisser
Vorzug yerknüpft. Wie die Enkel eines den Adel begründenden
Vorfahren vornehmer und von älterem Geblüt sind als der ohne
Ahnen auftretende Ahnherr; so dass sich sogar Napoleon wünschte,
sein eigener Enkel zu sein: so ist es auch ftlr die Wissenschaft
von Vortheil, wenn derjenige, welcher eine geistige Lebensmacht
zu klaren Begriffen bringen soll, sie nicht selber erst erzeugt
hat. Shakespeare hätte nicht wohl vermocht,* eine dramatische
Theorie auszuarbeiten, die doch seiner Leistung und des Genusses
derselben bedarf, um zu einer höheren Stufe zu gelangen. Alle
Dinge sind eben an die Quantität gebunden, so dass, wer in
Einem Gebiete gross ist, nothwendig seine Arbeit von den andern
Gebieten zurückziehen muss. Der grosse Dichter kann nicht
zugleich gross als Philosoph sein und umgekehrt. Dies ist der
Grund, weshalb auch die Religionsstifter, die Reformatoren und
alle vorherfschend religiösen Naturen fUr die philosophische Auf-
fassung ihres göttlichen Lebens nichts oder wenig geleistet
haben, und weshalb ein in der Religion bloss receptiver und mit-
geniessender Geist ftlr die Philosophie der Religion gerade der
rechte Mann ist, weil er nicht mühsam durch die Wurzeln die
Nahrung aus dem Boden zu saugen braucht, sondern als Rebe
den edlen Saft des Weinstocks fertig empftlngt und als Erbe den
Reichthum des göttlichen Lebens nun registriren und unter wohl-
geordneten Titeln überschauen kann.
Dennoch bleibt die Wahrheit immer bestehen, dass wer die
vollkommene wissenschaftliche Erkenntniss der Religion lehren
soll, entweder zugleich die vollkommene Religion selbst in sich
offenbaren oder in Gemeinschaft und Sympathie mit einem voll-
kommenen religiösen Genius stehen muss. Denn da die Religion
Geist ist, so kann Niemand die Religion vollkommen verstehen,
der ihren Inhalt nicht als geistiges Leben in sich besitzt. Wer
niemals von Zorn und Entrüstung ergriffen wird, der kann auch
diese Affekte nicht in Wahrheit verstehen und also auch von den
Begriffen des Rechts und der Ehre niemals eine genügende Er-
klärung geben. So muss in der Geschichte nothwendig das
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Einleitung. 13
Auftreten der yerschiedenen Keligionsstifter vorhergehen, ehe die
jedesmal zugehörige Religionsphilosophie aufkommen kann. Die
YoUkonmiene Philosophie setzt deshalb eine vollkommene religiöse
Persönlichkeit voraus, von deren Lebensmacht der Philosoph
ergriffen und belebt sein muss, wenn er den Inhalt, den er sich
zu Bewusstsein und zu Begriffen bringen will, nicht verfehlen
soll. Es ist daher nicht zu verwundem, dass das Heidenthum,
Judenthum, der Buddhismus u. s. w. keine beMedigende Religions-
philosophie hervorgebracht haben und dass erst durch das von
Christus ausgehende Leben eine allgemeine Erkenntniss aller
Religionen und eine alle Religionslehren beurtheilende und sich
ihrer eigenen Wahrheit methodisch bewusstwerdende abschliessende
Religionsphilosophie möglich wird.
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Erstes Capitel.
Definition der Religion.
§ 1. Naturalistische Erkenntniss der Religion.
Wenn wir die Religion definiren wollen, so müssen wir anf
das zu Definirende als auf einen Beziehungspunkt unserer Ur-
theile hinblicken. Wir setzen also voraus, dass wir schon wissen,
was das sei, was wir mit dem Namen Religion bezeichnen.
Diese vorausgesetzte Erkenntniss ist aber keine wissenschaft-
liche, sondern nur ein Bewusstsein um gewisse Thatsachen und
Erlebnisse. Darum kann ein kleines Kind und ein reiner Realist
nichts verstehen, wenn man ihnen auch die beste Definition der
Religion mittheilte, weil sie die Bekanntschaft mit jenen That-
sachen nicht gewonnen haben und die erforderlichen inneren
Erlebnisse nicht in ihrem Bewusstsein vorfinden.
Wie nun das Kind an der Uniform und der Wehr erkennt,
was ein Soldat ist im Unterschied von einem Civilisten, so giebt
es auch gewisse, äusserlich erkennbare Handlungen der Menschen,
die wir der Religion zuschreiben. Wer z, B. irgendwo einen
Juden sieht, der sich einen Gebetsriemen um den Arm schnallt,
einen Sack über den Kopf zieht, murmelt und dergleichen thut,
der merkt sehr bald, dass dies nicht eine diätetische Übung ist
zur Erhaltung der Gesundheit, auch nicht zum Handel dient oder
zur Wissenschaft und Kunst, sondern dass sich das, was die
Menschen Religion nennen, auf diese seltsame Weise äusserlich
kund thut Wer im Orient reist, kann den mahometanischen
Kaufinann in seinem Laden täglich gewisse Handlungen ausüben
sehen, die mit dem Verkauf der Waaren nichts zu thun haben,
sondern Religion sind. Der Araber steigt auch auf der Reise oft
plötzlich vom Pferde, breitet ein Gewand auf der Erde aus, netzt
seine Lippen und Hände mit Wasser oder Wüstensand, wirft sich
nieder, berührt mit der Stirn die Erde^ ruft Allah und andere
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Frühere Definitionen. 15
Worte ans — und reitet dann weiter, ohne dass er sich hätte
ansrohen oder trinken oder irgend ein weltliches Geschäft yoU-
ziehen wollen. Was war das alles? Religion.
Ebenso kennt man anch mit dem sogenannten inneren Sinne
bestimmte Gesinnungen, Gedanken oder GefUhle, die man als
religiös oder Religion, oder als Andacht, Frömmigkeit, Gottes-
furcht und dergl. bezeichnet. Man kennt sie naturalistisch in
derselben Weise, wie man weiss, wann man sich zornig oder
traurig fühlt und wie man Hass und Liebe in sich unterscheidet
Diese Kenntniss von der Religion ist von derselben Art, wie
der Hund seinen Herrn von andern Personen wohl zu unter-
scheiden versteht Der Mensch ist aber bei dieser Kenntniss um
eine Stufe höher, da er das, was er unterscheidet, durch gewisse
Lautzeichen charakteristisch zu stempeln und sich darüber Anderen
yerständlich zu machen weiss.
Eine solche naturalistische Erkenntniss setzt voraus, dass
die religiösen Zustände der Seele qualitativ verschieden von
anderen Zuständen sind und dass der Mensch schon so weit
entwickelt ist, um, wie er z. B. Farbenempfindungen von Ton-
empfindungen unterscheidet, so auch die verschiedenen GefUhle
in sich nach ihrer qualitativen Verschiedenheit zu beachten und
davon ein Bewusstsein zu gewinnen. Da der Mensch ein ge-
selliges Wesen ist, so lernt er dann auch schnell, die bei den-
selben äusseren Veranlassungen in ihm und den Andern gleich-
massig entstehenden Gefühle mit den entsprechenden äusseren
Geberden zu coordiniren und aus diesen als den charakteristischen
Zeichen auf die entsprechenden inneren Gefühle der Andern
zu schliessen.
§ 2. Frühere Definitionen der Religion.
Wer nun keine wissenschaftliche Bedürfnisse hat, der bleibt
auf dieser naturalistischen Stufe der blossen Kenntniss der Re-
ligion stehen und würde, wie Demokrit den Menschen als das-
jenige Wesen, welches uns allen bekannt wäre, definirte, so auch
bei der Religion sich mit dem Hinweis auf unsre vorauszusetzende
Kenntniss derselben begnügen.
Die Höhergebildeten aber sind schon daran gewöhnt, die
einzelnen Acte der Seele oder die sogenannten Erscheinungen
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
16 Definition der Religion.
des änBBeren nnd inneren Lebens znsammenznfaBsen und all-
gemein auszudrücken. Allein die Wenigsten sind sieh bewusst,
dass hierbei eine sichere Methode befolgt werden muss und dass
es auch filr die geistige Welt eine ganz bestimmte Topographie
giebt, wonach jeder Begriff, wie im Raum jeder Punkt, seine
durch bestimmte Bedingungen fest und nothwendig geordnete
Lage in einem allgemeinen Systeme der Begriffe hat. Darum
findet man zwar in den wissenschaftlichen Werken über die
Beligion fast immer irgend eine Definition, in der Regel aber
eine beinahe zuföllig aufgeraffte, die weder eine methodisch ge-
folgerte Ortsbestimmung des Begriffes enthält, noch für die Er-
scheinungen, die dadurch begriffen werden sollen, hinreicht,
sondern bald zu weit, bald zu eng ist und das Wesen der Sache
überhaupt nicht deckt.
Um die Schwierigkeit, diesen Begriff zu be-
cognoBoandi et stimmcu, vor Augcn zu haben, wollen wir wenigstens
coiendL ^jn p|^j. Beispiele fehlerhafter Definitionen beurtheilen.
Die älteren Theologen definirten die Religion als modus deum
cognoscendi et colendi, also als eine Art und Weise der Gottes-
erkenntniss und Gottesverehrung.
Nun ist jede Definition durch zwei Coordinaten zu leisten,
von denen man die Eine bei abgeleiteten Dingen als Gattung
(genus proximum), die andre als Differenz (differentia specifica)
zu bezeichnen pflegt. Jedes Ding hat aber nur Eine Gattung,
unter die es untergeordnet werden muss, wie z. B. das Dreieck
eine Figur, die Lampe eine künstliche Lichtquelle ist Sobald
man daher in der Definition zwei Gattungen nennt, so hat man
nicht mit einem, sondern mit zwei yerschiedenen Dingen zu thun.
Ist der zu definirende Gegenstand nun keine Summe, sondern
von einheitlichem Wesen, so heben die angegebenen zwei Gat-
tungen sich wechselseitig auf, da die Eine Gattung eben nicht
die andre und mithin der Gegenstand weder das Eine noch das
Andre ist, wie z. B. ein Thier, das als Fisch und Vogel bestimmt
wird, weder das Eine noch das Andre und also insoweit nichts
ist. Aus dieser logischen Betrachtung ergiebt sich, dass die
angefthrte Definition der Religion nichts definirt; denn sollte die
Gottesverehrung als Gattung gelten, so wäre die Religion, da
Verehrung nicht Erkenntniss ist, auch keine Gotteserkenntniss.
Ist sie aber dies letztere, so wäre sie aus demselben zwingenden
u.quizeauy Google
Frühere Definitionen. 17
Grande keine Gottes Verehrung. Es ergiebt sich also ohne
Weiteres aas dieser schlechten Definition, dass entweder Gottes-
Erkenntniss und Verehrung dasselbe ist und man unntttz zwei
Kamen genannt hat, oder dass die Religion weder Gotteserkennt-
niss, noch Gottesverehrung ist, und dass man daher die Frage
von Neuem aufzuwerfen hat, was denn Religion sei.
Ausserdem wurde die Religion als modus, als eine Art und
Weise bestimmt Dadurch wird angezeigt, dass es ausser dieser
Modalität noch andre Arten der Gotteserkenntniss und Gottes-
verehrung giebt, die nicht Religion sind. Da wir nun durch die
Definition nicht erfahren, wie sich die Religion als Art von den
andern Arten, die nicht Religion sind, unterscheidet, so wird die
Religion definirt als gleichgültig gegen die Frage, ob damit die
religiösen oder die nicht-religiösen Acte des geistigen Lebens
begriffen würden.
Geht man aber von der Form auf die Sache, so wird die
Definition um nichts lehrreicher. Denn eine Gotteserkenntniss
ist doch die Religion nicht, da Professor und Priester, Experiment
und Sacrament nicht identisch sind. Wäre die Religion Er-
kenntniss, so würde derjenige, der am Wissenschaftlichsten
erkennt, der religiöseste sein, und die Religion wäre bloss eine
Wissenschaft, wie die Physik oder die Geographie. Ebenso ist
zweitens die Religion auch keine Gottesverehrung; denn da der
Cultus (modus colendi deum) in äusseren Handlungen besteht,
so kann, wie jedermann weiss, auch ein Unreligiöser diese Hand-
lungen ausüben, das Abendmahl nehmen, die Hände falten oder
Opfer zum Altare bringen u. dergl. Also ist durch diese Definition
die Beligion nur etwa so erklärt, wie wenn man den Sturmwind
als eine Erscheinung definirte, bei welcher man eine gewisse
Vorstellung von der Luft hätte und zuweilen seinen Hut verlöre.
Der Kantianer Krug definirt die Religion als
Lebendiger
»lebendigen Glauben an das höchste Guf Diese eunbe an dM
Definition lahmt an allen Gliedern. Denn erstens ist »»ochste Gut.
das Attribut „lebendig^^ unbestimmt und unbestimmbar, da es der
Quantität unterliegt und die Grenze nicht festzustellen ist, wann
der Glaube anfängt, lebendig, also Religion, zu werden. Da er
femer mehr oder weniger lebendig sein kann, so wäre die Re-
ligion auch mehr oder weniger Religion, was ebenso seltsam ist,
als wenn ein Dreieck dreieckiger als das andre sein sollte. Der
Teichmüller, BeUgloniphü<Mophie. uigiizeu uy GoOQIc
18 Definition der Religion.
„Glaube", zweitens, wird dabei als Überzeugung oder Erkenntniss
aufgefasst; dass aber Erkenntniss und Wissenschaft nicht Religion
sind, haben wir schon gesehen. Drittens, es bedeutet das „höchste
Gut" bei den Kantianern die Übereinstimmung der Naturgesetze
mit den Sittengesetzen in der Weise, dass auf gute Handlungen
sinnliches Glück, auf böse aber Unglück folge. Dieses höchste
Gut kann aber nicht gut sein, weil seine Verwirklichung
die Beligion aufheben würde, die nur wegen der Nichtwirklich-
keit jener erwünschten Uebereinstimmung als lebendiger Glaube
möglich ist. Beligion und höchstes Gut verhalten sich daher
bei den Kantianern wie Hunger und Speise, die man niemals
gatten kann, ohne sie beide zu vernichten. — Ausserdem wird
jeder Religiöse zu sagen wissen, dass das inhaltlose Kantische
höchste Gut mit dem inhaltreichen Wesen der Religion nichts zu
thun hat und dass Kantische Moralität nicht Religiosität ist.
Schleiermacher' s Definition der Religion als Ge-
schieiermacher'8 fuij! gj^^j ^^^^ Gcschmack flir's Unendliche würde
Definition. . . ,
erspnesshcher sein, wenn er nicht, erstens, den leeren
BegriflF „des Unendlichen" an die Stelle von Gott gesetzt hätte;
denn das Unendliche bedeutet ja bloss, dass man einen Gedanken-
gang weiter fortsetzen könnte, wobei das etwa zu erreichende
Ziel unbestimmt und also unerkannt bleibt; Gott ist aber durchaus
bestimmt und also erkennbar, sonst sollte man lieber von ihm
nicht sprechen. — Zweitens weiss Schleiermacher den Gattungs-
begriff der Religion nicht zu finden; denn schon die bunte Zu-
sammenstellung von „Sinn, Geftihl, Geschmack" beweist, dass
er im Unklaren über das Wesen der Religion war. Dies wird
noch weiter dadurch bestätigt, dass er das Gefühl in Gegensatz
gegen das Wollen stellt und sich also ebenso wie Spinoza, Kant,
Hegel und die Späteren, wie die Früheren, über das Wesen des
Gefühls nicht orientiren konnte. Deshalb musste auch HegeFs
Kritik, als wäre Gefühl bloss eine Sache des unvernünftigen
Geistes und Schleiermacher's Religion daher etwas Thierisches,
weit vom Ziele treffen; es wussten eben beide Philosophen nicht,
was Gefühl sei. — Drittens haben wir nun noch die Combination
der beiden Elemente in der Schleiermacher'schen Definition zu
betrachten und werden dabei wohl bekennen müssen, dass sich
kaum etwas Leereres angeben lasse, als ein Gefühl für das Un-
endliche. Denn da das Unendliche eine Quantitätsbestim-
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Frühere Definitionen. 19
mnng ist und so viel bedeutet, wie „nur immer weiter", so
ist der Geschmack für solche leere Unbegränztheit und Mass-
losigkeit entschieden pathologisch; denn alles gesunde Gefühl
hält sich an das rechte Mass und hat Geschmack für das gut
nnd schön Begränzte. Dächte man aber Schleiermacher zu Ge-
fallen bei dem Unendlichen auch an etwas Qualitatives, so
wäre dieser Inhalt doch jedenfalls nur negativ bestimmt, und
Niemand dürfte sagen, was er sich bei diesem Gefühl etwa
denken könnte, da jeder Inhalt ja dem Unendlichen eine Gränze
setzte. Also ist es besser, Schleiermacher bei seinem Kitt in's
Blaue und in's Bodenlose seinen Gefühlen zu überlassen.
Um weiter die Rathlosigkeit der Denker zu ver-
folgen, wenden wir uns Hegel zu. Ich habe schon Hegers
° Definition.
in meiner Grundlegung der Metaphysik gezeigt, dass
bei Hegel die ganze Welt zu einem bloss logischen Processe
wird und ihm mithin bloss das ideelle Sein bekannt war. Da
Hegel weder ftlr das reale, noch ftir das substanziale Sein die
Erkenntnissquelle gefunden hatte, sondern die specifischen und
die semiotischen Erkenntnissformen mit völliger Naivetät durch-
einander mischte, so musste sich, das Besultat ergeben, dass
auch, wie die Dinge, so der Wille und die Beligion bloss eine
gewisse Stufe des allgemeinen Erkenntnissprocesses wären. Da
die Religion nun nicht die Philosophie ist, welche den ganzen
Erkenntnissprocess beschreibt, so blieb ihr nur eine untergeordnete
Stelle übrig, nämlich die zweite, die subjective Stufe des abso-
luten Geistes zu sein, in welcher dieser aus der objectiven An-
schauung, die er in der Kunst hat, zu dem in sich vermittelten
Wissen übergeht als Offenbarung seiner selbst, als Geist flir den
Geist, aber nur in der Form der Vorstellung und nicht im Begriff.
Die Fehler der HegeFschen Theorie sind crass. Die Kunst
wird bloss als Erkenntnissfoim verstanden und daher mit den
Kunstwerken zugleich das ganze reale Wesen der Kunst völlig
übersehen. Ebenso ist ihm die Keligion völlig unverstanden
geblieben, da er als Gattungsbegriff nur Erkenntniss und als
Artbestimmung wieder nur eine bestimmte Form der Erkenntniss,
nämlich die sogenannte „Vorstellung" anzugeben wusste, von der
specifischen Natur der Religion also gar nichts merkte. Es ist
daher nur natürlich, dass die Religiösen die nicht so unrichtige
„Vorstellung" hatten, etwas Anderes und Besseres zu besitzen
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
20 Definition der Beligion.
and zu keimen, als was Hegel für Religion hielte, und von ihm
überhaupt gar nicht verstanden zu sein. Dies ist auch der
einzige Grund, weshalb sich sogar Schleiermacher, trotz der sonst
vehiichtenden Kritik Hegels, gegen ihn halten konnte. In Schleier-
macher's Gefllhl lag ein von ihm selbst nicht erkanntes reales
Element, welches trotz der dialektischen Schwäche Schleier-
macher's über Hegel triumphirte.
Die neueren Definitionen der Religion, welche in
Krause. ßg^ug auf die bisher gerügten Mängel entschieden
einen grossen Fortschritt anzeigen, scheinen, wie 0. Pfleiderer mit
Betonung hervorhebt und worin er vielleicht auch Recht hat,
durch die Philosophie von Krause beeinflusst zu sein. Ich kann
mich aber dennoch nicht entschliessen, im Einzelnen auf diese
Philosophie näher einzugehen. Sie hat einen gewissen Werth
durch mancherlei richtige Impulse und durch manche nicht un-
bedeutende Behauptungen; aber sie steht an wissenschaftlicher
Schulung nicht über Schelling; also unter der Stufe, die ich für
beachtenswerth halten kann. Von seinen seltsamen Ausdrücken
will ich gar nicht reden; denn man würde sie sich gefallen lassen,
wenn man dadurch etwas Neues lernte; das Unerträgliche dieser
Art von Philosophie ist aber die ausführliche Breite von Dar-
legungen, die mit lauter unbestinmiten und alle eigentliche For-
schung lähmenden begriffslosen Wörtern operiren. So z.B.
kann man nach Krause (Syst. d. Phil. 1828 S. 171) Wesen und
Wesenheit nicht definiren, Dasein wird ganz vergnügt als Eigen-
schaft bezeichnet, Einheit des Ichs kann nach seiner Meinung
nicht erklärt werden, ebensowenig die sogenannte „Formheit"
oder „Satzheit" des Ichs; will man erfahren, was Krause unter
Gott versteht, so hört man (Psych. Anthrop. 1848 S. 125), er sei
„überwesenliches Wesen als übergeistiges und übernatürliches
Wesen", ohne dass diese prachtvollen Wörter durch irgend eine
Erfahrung mit der Wirklichkeit verknüpft würden. Raum, Zeit,
Bewegung, Causalität, die doch Begriffe von einem gewissen Rang
sind, nimmt Krause ganz in dem volksmässigen Sinne, als wenn
Krethi und Plethi darüber verftigen könnten. Natur heisst bei
ihm „vorherrschende Ganzheit" und Geist „vorherrschende Selbst-
ständigkeit"; eine Erklärung, wie wenn er sagte, ein Rubel sei
vorherrschende Russheit und ein Thaler vorherrschende Deutsch-
heit. Was soll man lernen, wenn ein Philosoph nicht einmal
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Frühere Definitionen. 21
die Probleme stellen kann. Ich will deshalb aus Achtung vor
0. Pfleiderer, der aber die Philosophie von Krause tiberschätzt,
gern zugeben, dass die Behauptungen Krause's über die
Religion einen gewissen Einfluss auf manche Philosophen und
Theologen ausgeübt haben; dasselbe wäre aber doch auch von
jedem bekannteren Dichter zu sagen, ohne dass man die Dichter
in der Geschichte der Philosophie abzuhandeln pflegt.
Lotze's Genialität, die allgemein anerkannt ist,
besteht besonders in der Selbständigkeit seiner Ur- ^°**®'
theile, die sich von der Tradition nicht binden lassen, und in
seiner Fähigkeit, die verschiedensten Gebiete geistiger Forschung
wie ein Einheimischer zu betreten und sie zu neuen Gombinationen
fruchtbar zu vereinigen. Man wird deshalb seine Schriften immer
mit reicher Anregung lesen, das Gemüth des Mannes lieben und die
Originalität seiner Gedankenbewegung bewundem.
Es fehlt aber bei Lotze doch die Totalität der wissen-
schaftlichen Functionen, sofern er eine Antipathie gegen den
systematischen Geist der Griechen, gegen ihre speculative Archi-
tektonik hatte. Darum hat uns Lotze nicht in eigentlichem Sinne
ein System hinterlassen, und wer in der Schule der Griechen
auferzogen ist, der wird bei ihm immer die Akribie der Defi-
nitionen und die Kunst eines überall durchgeftlhrten, Alles um-
fassenden und übersichtlichen Aufbaus vermissen.
Wenn man in den „Grundzügen der Eeligionsphilosophie",
die uns aus seinen Diktaten glücklich erhalten sind, nach einer
Definition der Religion sucht, so wird man mit Erstaunen be-
merken, dass der Verfasser gar nicht das Bedürfniss, oder wie
er sich auszudrücken liebt, die Pflicht fühlt, eine Definition über-
haupt zu geben. Es ist vielmehr so seine Art, vorauszusetzen,
man wisse schon, um was sich die Sache drehe, und es handle
sich nur darum, diese oder jene Streitfrage zu entscheiden. Er
ftlngt deshalb gleich mit dem Gegensatz von Wissenschaft und
Religion an und spricht über die Streitfragen, die sich auf Offen-
barung und Glauben beziehen.
Sollten wir uns aber so etwas wie eine Definition aus seiner
Schrift heraussuchen wollen, so könnte am Besten wohl der § 4
dienen, bei dem Lotze drei Gruppen von inneren Zuständen
unterscheidet: 1) die persönlichen Gefühle der Furcht, der
schlechthinnigen Abhängigkeit von unbekannten Mächten, die das
u.quizeuuy Google
22 Definition der Religion.
rohe Motiv bilden, in einer nicht-erfahrungsmässigen Weltansicht
Trost zu suchen; 2) die ästhetischen Gefühle, die sich dem
Schönen mit Bewunderung hingeben und zur Bildung einer Ideal-
welt anregen; 3) die sittlichen Geftthle, die zu dem Versuch
führen, einen Weltbau auszudenken, der sie begreiflich macht.
Auf diese Gruppirung folgt dann die Äusserung: „Denken wir
uns nun die religiöse Wahrheit aus allen diesen Datis durch
unser Nachdenken entwickelt, so kommen wir allerdings zu dem,
was man als Religion innerhalb der Grenzen der blossen Ver-
nunft bezeichnen könnte, aber doch nicht zu dem, was man so
genannt hat.^^
Wie man sieht, hat Lotze nur in seiner Weise zu einer
überlieferten Streitfrage Stellung genommen und dabei die engere
Kantische Auffassung durch Hinzufügung der ästhetischen Ge-
fühle bereichert, eine eigene systematische Grundlegung ist damit
aber nicht entfernt gegeben. Ich will von dem nachlässigen,
obwohl charakteristischen, circulus in definiendo absehen, dass
er „Religion" mit dem Merkmal „religiöse" Wahrheit definirt;
aber soll denn nun die Religion bloss als eine Wahrheit durch
unser reich instruirtes Nachdenken entwickelt werden? Dem-
nach wäre sie doch immer bloss eine Wissenschaft, und es
ist unmöglich, aus diesen Sätzen zu einer anderen generischen
Bestimmung zu kommen. Gleichwohl wissen wir, die wir Lotze
kannten und verehrten, sehr wohl, dass er in seinem Leben unter
Religion etwas ganz anderes verstand. Wir sehen deshalb, dass
s.eine Antipathie gegen Systematik leider den üblen Erfolg ge-
habt hat, dass Niemand definiren kann, was nach Lotze die
Religion eigentlich ist.
Wenn Otto Pfleidererin seinem Werke „Genetisch-
""rlfluHiT' speculative Religionsphilosophie" (1884 S. 29) den
„gemeinsamen Kern der Religion in allen ihren Formen"
definirt als ,jene Lebensbeziehung auf die weltbeherrschende
Macht, welche zur Lebensgemeinschaft mit ihr werden will", so
ist damit ein entschiedener Fortschritt über Schleiermacher und
Hegel hinaus gemacht. Die Definition ist auch durch Analyse
der wirklichen Religionen klar und reich vorbereitet; allein es
bleiben einige dunkle Punkte darin. Denn wenn auch, abgesehen
von dem metaphorischen „will", welches die Religion auf eine
schiefe Ebene setzt, der im Vergleich mit den vorher angeführten
u.quizeauy Google
Frühere Definitionen. 23
Definitionen erfreuliche Reichthum in dem Begriff „Lebens-
beziebung^^ anzuerkennen ist, so fehlt doch fbr eine Definition
die genauere Angabe des Begriffs; denn das Thier hat ja auch
eine Lebensbeziehung zu Gott, sofern der Gläubige annimmt,
dass Gott es erschaffen, ihm seine Nahrung angewiesen und
selbst den Sperling auf dem Dache nicht vergessen hat, und
doch schreibt man dem Thier nicht Religion zu. Ebenso ist
yyLebensgemeinschaft^' mit Gott zu unbestimmt; theils weil sie
unbewusst sein kann, wie die des Kindes im Uterus mit der
Mutter; theils weil der bei einer bewussten Gemeinschaft sonst
still vorausgesetzte Antheil und Gewinn, den Gott daran haben
könnte, bei der Definition unbestimmt und unerfindlich bleibt;
theils endlich, weil das Mittel des Verkehrs zwischen den beiden
Contrahcnten nicht angegeben ist
Vielleicht ist wegen des grossen Einflusses, den
die Göttinger Theologie gegenwärtig ausübt, auch ^- R*^««^*'«
Dcflnition.
Ritschrs Definition zu erwähnen. Ritschi verhält sich
meinen philosophischen Arbeiten gegenüber noch mit keuscher
Jungfräulichkeit und kann deshalb über eine ganz unfruchtbare
Auffassung der Religion nicht hinauskommen. Er sagt (Recht-
fertigung und Versöhnung, m.Bd. 2. Aufl. 1883 S. 17): „Nun ist
der Gedanke von Gott in der Religion gegeben. Die religiöse
Weltanschauung aber ist in allen ihren Arten darauf gestellt,
dass der Mensch sich in irgend einem Grade von den ihn um-
gebenden Erscheinungen und auf ihn eindringenden Wirkungen
der Natur an Werth unterscheidet. Alle Religion ist Deutung
des in welchem Umfang immer erkannten Weltlaufs, in dem Sinne,
dass die erhabenen geistigen Mächte (oder die geistige Macht),
welche in oder über demselben walten, dem persönlichen Geiste
seine Ansprüche oder seine Selbständigkeit gegen die Hemmungen
durch die Natur oder die Naturwirkungen der menschlichen Ge-
sellschaft erhalten oder bestätigen.^^
Diese nicht sehr klaren Erklärungen erregen, wenn wir sie
gutwillig interpretiren, unsere Verwunderung; denn worauf nach
Ritschi erstens „die religiöse Weltanschauung in allen ihren
Arten'^ gestellt sein soll, das hat ja mit Religion nichts zu thun.
Der Mensch, sagt Ritschi, „unterscheidet sich in irgend einem Grade
von den ihn umgebenden Erscheinungen der Natur an Werth"; nun
ja, das ist wahr; denn wenn er sein Vieh schlachtet und den
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24 Definition der Religion.
Ofen heizt, so mugs er sich und seine Bedürfnisse doch höher
schätzen, als die Thiere und die Bäume, die er vernichtet. Damit
legt der Mensch aber nur seine physische Superiorität über
die sonstige auf der Erdrinde hausende Creatur an den Tag.
Die „religiöse Weltanschauung in allen ihren Arten" ist hierauf
jedoch, wie Ritschi meint, nicht gestellt, da z. B. in dem griechischen
Polytheismus, in allem Sterndienst und vielen Thierculten nicht bloss
Sonne und Mond, sondern auch Granges^ Krokodil, Schlange
u. s. w. einen viel höheren Werth angewiesen erhielten als der
Mensch, der ihnen geopfert wurde. Ja ein grosser, aber zugleich
frommer indischer König opfert sich selbst für eine Taube. Also
ist mit dieser Ritschrschen Behauptung, die uns auch ohne Be-
weis geschenkt wird, eben nichts anzufangen, weil sie nicht wahr
ist und das Wesen der Religion nicht trifft.
Die Ritschl'sche Definition aller Religion aber, die dann
mit vielen Gautelen geschützt und mit Einschachtelungen und
Gliederungen wohl ausgerüstet, wie ein fllr einen Monat ver-
proviantirtes Kamel daherwandelt, stellt uns erstaunlicher Weise
die Religion nur als eine Deutung vor. Eine Deutung oder
Interpretation ist jedoch immer, worauf sie sich auch beziehen
möge, ein blosser Akt des Erkenntnissvermögens, und mithin hat
Ritschi, ob mit oder ohne Absicht, die Religion bloss als etwas
Theoretisches definirt. Also gehörte sie zur Wissenschaft,
entweder als eine Function derselben, oder als eine Art mit
bestimmtem Umkreis von Gregenständen, oder in Hegerscher
Weise als eine Entwickelungsstufe derselben. Sieht man die
weitere Differenzirung dieses Gattungsbegriffes bei Ritschi näher
an, so zeigt sich wirklich, dass er sie als einen besonderen Zweig
der Wissenschaft, nämlich als sogenannte Geschichte versteht,
und zwar, wie es scheint, da er dem Menschen ja auch die
Naturwirkungen der menschlichen Gesellschaft gegenüberstellt,
als individuelle Geschichtsbetrachtung, wobei der Indi-
vidualhistoriker den Weltlauf sich dadurch erklären oder deuten
soll, dass erhabene geistige Mächte, die er annehmen muss, ihn
in seinen individuellen Ansprüchen erhalten und gegen Natur und
Gesellschaft schützen.
Gegen diese Definition ist nun vielmehr erstens die Religion
in Schutz zu nehmen, weil der Religiöse doch nicht gar so
bomirt zu sein braucht, um das ftlr eine zur „Bestätigung seiner
uiymzeu uy V^jOOV IC
Frühere Definitionen. 25
Ansprüche^' bestimmte Leitung des Weltlanfs durch die hohen
geistigen Mächte zu halten, dass ihm etwa sein Haus abbrennt,
sein Vieh stirbt, sein Weib und seine Kinder geraubt werden
und er selbst von den Blattern ergriffen oder von einem Tyrannen
gepeitscht und in die Steinbrüche geschickt wird. In der That
ist es auch gar nicht wahr, dass die Beligiösen so seltsam den
Weltlauf gedeutet hätten, sondern sie wähnten sich beim Unglück
von bösen Mächten verfolgt, die sie deshalb durch Opfer zu ver-
söhnen suchten, oder gegen die sie die guten um Hilfe anriefen,
oder sie hielten dergleichen flir eine Strafe wegen ihrer Sünden,
aber nicht, wie Ritschi, flir eine „Bestätigung ihrer Ansprüche
gegen die Hemmungen der Natur und der Gesellschaft." Und
da Beligion nach Ritschi nur eine „Deutung" ist, soll der Re-
ligiöse dann, wenn es ihm auch beim besten Willen nicht möglich
ist, sich den Weltlauf nach RitschFs Norm zu deuten, sofort ohne
Religion sein?
Damit kommen wir auf die übrigen Mängel dieser Definition;
denn es fehlen darin natürlich die beiden andern Elemente des
geistigen Lebens. Soll der anspruchsvolle Individualhistoriker,
der nach Ritschi der Religiöse ist, ausser seinen theoretischen
Interpretationsversuchen nicht auch noch bitten und wünschen,
danken, bereuen, ftirchten und hoffen, kurz seine Willensfunc-
tionen ins Spiel setzen dürfen? Und warum sollen wir ihm
im Hinblick auf alle wirklichen Religionen, an die Ritschi bei
seiner wer weiss woher entstandenen Definition gar nicht ge*
dacht zu haben scheint, alle Handlungen versagen, warum soll
der Religiöse nicht auch seinem Gotte Thiere schlachten und
ihm Lieder singen, sich in den Staub werfen u. dgl.
Ritschl's Definitition ist also ein Muster von Einseitigkeit
und Unvorsichtigkeit und verdient bloss wegen des berühmten
Namens des Stifters der Göttinger Schule die ihr hier gewordene
Beachtung.
Wenn man aber von der ganzen Ungewandtheit dieses
Theologen in philosophischem Denken absieht und mit dem Secir-
messer den Thorax der Definition eröfinet, um das Herz heraus-
zunehmen, so zeigt sich, dass Ritschi bei der Religion nur an
das persönliche Glück oder Unglück der Menschen in der Sinnen-
welt denkt, also, wie wir später sehen werden, nur die unreine,
egoistisch interessirte Rechtsreligion im Auge hat. Darum müssen
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26 Definition der Religion.
ihm alle die höheren Formen der Religion, ich meine schon die pan-
theistischen and um so mehr dann das Christenthum, überhaupt
unverständlich sein, weil in diesen das Ritschl'sche eudämonisti-
sehe Herz der Religion nur eine untergeordnete Rolle spielt und
gebührender Weise dem Leben des Gehirns zu dienen hat.
§ 3. Die Eintheilung der Functionen der Seele.
Die elementare ^^ ^^^ RcHgion in dcu Krcis der Functionen
Wichtigkeit der Seele einzuführen, müssen wir uns erst über diese
dieser Frage. puuc^Queu sclbcr orieutiren; denn bis heute ist die fast
wichtigste Frage der Philosophie in eine undurchdringliche Dun-
kelheit gehüllt, und doch wüsste ich nicht, wie man bei fast allen
Untersuchungen in der Wissenschaft ohne eine Klarheit über das
Wesen und die Arten der geistigen Thätigkeiten irgend einen
sicheren Weg einschlagen könnte. Ueberall wenigstens, wo nicht
bloss das theoretische Object, das ideelle Sein, ins Auge gefasst
wird, sondern wo man auch das forschende und irgendwie thätige
Subject mit berücksichtigt, da wird die Entscheidung über un-
sere Frage auch von cardinaler Bedeutung sein.
Sieht man die Sache aber noch etwas genauer an, so muss
man staunen über die Arglosigkeit, mit der die Forscher vorge-
schritten sind. Sie benutzen mit gutem Glauben ihre Augen und
denken nur an die Gegenstände, die sie sehen, untersuchen aber
die Augen selbst nicht, mit denen sie sehen; oder wenigstens
verfahren sie bei dieser Rücksicht mit einer solchen Sorglosig-
keit und Gleichgültigkeit, als müsse man möglichst schnell über '
diesen bedauerlichen Aufenthalt hinwegkommen; während doch
hier das eigentliche Goldland der Philosophie liegt, von dem aus
die Werthe nach allen Seiten getragen werden. Für eine Lei-
stung in der Wissenschaft hält man es ja immer, Reihen von
Erscheinungen, die früher abgesondert für sich aufgefasst und
deshalb nicht verstanden wurden, durch Auffindung einer gemein-
samen Wurzel mit andern zusammenzufassen und so die Zahl
der Principien und Gesetze, nach denen wir die Welt zu erklären
suchen, zu vereinfachen. Eine Leistung solcher Art ist schon
immer beachtenswerth und erfreulich, auch wenn sie nur die
untersten Erscheinungen betrifift, wie wenn es gelingt, ein paar
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Eintheilung der Functionen der Seele. Kritik. 27
ftir getrennt gehaltene Arten von Pflanzen oder Thieren auf eine
gemeingame Art oder Gattung,, oder auf einen gemeinsamen Ascen-
denten zurückzuführen. Die Wichtigkeit der Arbeit wird aber
natürlich die höchste Stufe erreichen , wenn es sich um die
elementaren Begriffe handelt, weil diese, wie die Buchstaben in
allen Wörtern der Sprache, in dem gesammten Umkreise der
Wissenschaft immerfort verwendet werden und weil durch eine
Veränderung in dieser gouvernementalen Kegion alles Unter-
geordnete mit verändert werden muss. In unserem Falle hier
dreht es sich nun um die elementaren Thätigkeiten des Geistes.
Da nun alle unsere Erkenntnisse im Geiste wurzeln, so muss die
Frage nach den Thätigkeiten des Geistes nothwendig von uni-
versaler Bedeutung sein und alle Wissenschaften berühren, da
die Formen des Geistes die Begriffe der Wissenschaft bilden.
Die bisherige Eintheilung der Seelenvermögen.
Nun findet man seit Kant fast überall die Eintheilung der
Seelenvermögen in Gefühl, Begehren und Erkenntnis, und es dreht
sich zunächst um die Frage, ob Gefühl und Begehren wirklich
von einander zu trennen sind. Zur Trennung glaubte man
sich veranlasst zu sehen, weil man bei dem Willen oder dem
Begehren und Verabscheuen immer an einen Impuls, einen Stoss,
der eine Bewegung hervorruft, dachte. Man stellte sich deshalb den
Willen als das active Princip vor, worin die Initiative der Be-
wegung oder die Spontaneität der Seele liege, und setzte ihm
das Erkennen als das receptive Princip gegenüber, da vnr in
dem sinnlichen Empfinden und Wahrnehmen und den höheren
Functionen des Denkens von den äusseren Gegenständen und
ihrer Einwirkung auf uns abhängig zu sein scheinen oder, wie
Aristoteles dies ausdrückte, da wir Wahres oder Falsches denken,
wenn wir die Vorstellungen verknüpfen oder trennen, jenachdem
die ihnen entsprechenden Dinge in der Wirklichkeit verknüpft
oder getrennt sind. Das Gefühl aber schien unmittelbar keine
Bewegung auszuüben, sondern ein Zustand von Lust oder Schmerz
zu sein und deshalb auch nicht unmittelbar eine Erkenntniss von
Gegenständen zu enthalten, so dass man drei Functionen des
Geistes oder der Seele trennen zu können meinte, von denen die
eine receptiv, die andere spontan oder wenigstens activ wäre,
während die dritte entweder einen eigenthümlichen Mittelzustand
u.quizeauy Google
J
28 Definition der Religion.
oder eine ursprüngliche Indifferenz der beiden anderen bildete,
wie sich dies letztere Schleiermaclier bei seiner Theorie der Re-
ligion gedacht hatte.
Am Wunderlichsten hat Herbart über diese Dinge geschrie-
ben. Denn obwohl dieser Philosoph den Kaum und die Zeit aus
dem Gebiete des Seins streicht, so beruht doch seine ganze
Theorie der Seele auf räumlichen und zeitlichen Bestimmungen.
Wenn man deshalb seine Erklärungen von dem Sinken und Auf-
streben der Vorstellungen, von den Wölbungen und Zuspitzungen
derselben, von dem Sich-einander-Drticken und Verschmelzen, von
den Geschwindigkeiten u. s. w. liest und die Begehrungen und
Geftlhle und Affecte in diesen räumlich-zeitlichen und Bewegungs-
Verhältnissen der Vorstellungen „sitzen*" sieht: so muss man mit
einigem Erstaunen fragen, ob denn Wollen und Geflihl gar nichts
Wirkliches sein sollen, da sie doch in dem Nichtseienden ihren
Sitz erhalten? Und zweitens wenn sie, wie es doch scheint,
ebensogut wie die Vorstellungen etwas Wirkliches sind, was sie
denn an sich selbst und qualitativ nach seiner Psychologie sein
sollen, da sie doch eben keine Vorstellungen sind, auf welche
er gleichwohl Alles in der Seele zurtickfllhrt Und drittens,
welche von beiden Annahmen eigentlich in Herbart's Systeme
gelten solle, die metaphysische, die den Raum und die Zeit
psychologisch erklärt, oder die psychologische, die den Ranm
und die Zeit als metaphysische Wirklichkeit voraussetzt, um
überhaupt etwas erklären zu können? Herbart's ganze Philo-
sophie besteht so bloss aus zusammenhangslosen Aphorismen, die
man nie zusammenbringen darf, wenn sie sich nicht wie Feuer
und Wasser gegen einander benehmen sollen.
Das Erkennt- ^^^ ^^* *^^^ crstcns Icicht cinzuschen, dass der
nistyermögen Gcgcusatz vou^ Reccptivität uud Spontaneität, den man
*** ceptw. ^ ^^^ Scheidung von Erkenntniss und Begehren herbeizog,
mit der Beobachtung und Auffassung der Thatsachen
nicht stimmt. Denn die Erkenntniss wäre nur dann ein receptives
Vermögen und eine receptive Thätigkeit, wenn der Inhalt der Er-
kenntniss, d. h. die empirische und speculative Wahrheit
schon draussen vorhanden wäre, wie dies z. B. bei demVer-
hältniss von Lehrer und Schüler sich wirklich findet, da der Lehrer
die Wahrheit, welche er lehrt, schon erkennt und der Schüler sie re-
cipirt Wie aber ist dies bei unserer Erkenntniss der Natur? Die
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Eintheilung der Functionen der Seele. Kritik. 29
Idealisten^ and so anch Trendelenbnrg, haben, um ihre Thesis zu
halten, die poetische Wendung gebraucht, dass sie eine geheimniss-
volle Idee oder Vernunft in den Dingen als Urbild annahmen, wel-
ches vom Menschen bloss nachgebildet und recipirt würde. Sie
haben sich auf die Sprache berufen, welche ein Nach-Denken
fordert, um die schon von Gott oder der Natur vorgedachte Wahr-
heit zu finden. Allein dies ist Poesie und gehört nicht in die
Wissenschaft.
Gehen wir kurz alle Stufen der Erkenntniss durch! Bei der
untersten Stufe, nämlich der Sinneserkenntniss, zeigt sich gleich,
dass die Empfindungen (die Farben, Töne, Gerüche u. s. w.) das
erkannte Object selber sind, welches ausser der empfindenden
Seele gar nicht existirt, also nicht von aussen her in uns herein-
genommen werden könnte. Aber auch zweitens die complexen
Anschauungsbilder der Dinge und der Vorgänge isind draussen
nicht vorhanden, sonst müsste die Wirklichkeit der nackte Wider-
spruch sein, wenn sie allen perspectivischen Anschauungsbildem
und subjectiven Vorstellungen entsprechen sollte. Gehen wir zu
der intellectualen Stufe der Erkenntniss über, so müssten auch
die Resultate des Rechnens, die Logarithmen, die Decimalstellen,
und die Gesetze der Physik draussen vorhanden sein. Wenn
ich ftlnf Finger zähle, so müsste ausser den Fingern auch die
Fünf ein räthselhaftes Dasein draussen besitzen, damit ich diese
Erkenntniss von Aussen recipiren könnte. Ebenso müsste die
Ehre, das Recht u. s. w. ausser dem Geiste mysteriös und poe-
tisch irgendwo im Lande hausen, um mich zur bloss recipirenden
Erkenntniss anzutreiben. Kurz, man sieht, dass diese Rede keine
wissenschaftliche Bedeutung hat, d. h. dass sie nicht wahr ist
Man könnte aber zur Vertheidigung der Thesis noch die
Analogie beibringen, dass die Wahrheit, welche wir durch das
Erkenntnissvermögen recipiren sollen, in Gott, wie in dem Lehrer,
vorhanden sei und dass, wie dieser durch physische Zeichen,
d. h. durch Worte oder Schrift, seine Erkenntniss vermittelt, so
auch Gott die ganze Natur als sein Buch der Welt benutzte
und dadurch docirte. Diese schöne Vergleichung würden wir
mit Vergnügen annehmen, daraus aber eine für den Defendenten
der Thesis verdriessliche Selbstwiderlegong ableiten; denn wie
in den physischen Worten des Lehrers oder in den Lettern des
Buches noch keine Erkenntniss liegt, welche der Hörer oder
uiymzeu uy V^jOOV IC
30 Definition der Religion.
der Leser vielmehr erst durch seine eigene Erkenntnissarbeit
in sich erzeugen muss, so läge dementsprechend auch in der
ganzen Welt als dem blossen Vermittelungsworte Gottes keine
Wahrheit und Erkenntniss, die man recipiren könnte, sondern
diese müsste erst in dem Erkennenden durch seine Activität
hervorgebracht werden.
Du Begehren Ich wciss uuu wohL dass solche Eateeorien wie
ist nicht . . JA.. X
spontan. Keccptivität Und ActiYität jungen Leuten ganz aus-
nehmend gefallen, wenn sie damit nur irgend etwas machen
können, und dass sie sich daher die brillante Unterscheidung
von Erkennen und Wollen kaum freiwillig werden nehmen lassen.
Wenn wir deshalb auch die Eine Redoute genügend zer-
schossen haben, so werden sie sich in die andere flüchten und
sich noch immer sicher genug fühlen, da das Begehren oder der
Wille doch di^ Activität und Spontaneität des Menschen offen an
den Tag legt; denn von welcher andern Ursache sollten wohl
die Handlungen nnd die Umgestaltungen der Dinge ausgehen,
als allein von dem selbstherrlichen Willen, der das, was noch
nicht ist, ins Dasein ruft, während die Erkenntniss das, was
schon ist, aufnimmt und sich zu eigen macht.
Unsere Aufgabe muss also sein, nachzuweisen, erstens, dass
der Wille oder das Begehrungsvermögen ebenso wie die Erkennt-
niss von einem vorher Gegebenen bedingt ist, und zweitens, dass
die Erkenntnisskraft ebenso etwas Neues in's Dasein ruft oder
Daseiendes umgestaltet. Der letztere Nachweis ist nun z. B.
sofort geliefert, wenn uns der erstere Nachweis gelingt; denn
es würde dadurch ja etwas Neues, nämlich eine neue Erkennt-
niss in demjenigen, der sie nicht schon hatte, entstehen und
seine früher daseiende falsche Meinung entfernt oder umge-
staltet werden. Das Erstere aber kann gleich an Beispielen
gezeigt werden, die man bloss zu analysiren braucht, um das
Allgemeine herauszuheben. Wer wüsste z. B. nicht, dass das Be-
gehren nach einer schönen Frucht nicht von uns selbst hervorge-
bracht, sondern durch Erinnerung an einen früheren Genuss in uns
erregt wird. Niemand will etwas von sich aus, wenn nicht in den
gegebenen äusseren Lebensverhältnissen dazu die Veranlassungen
und Aufregungen und Anregungen dargeboten werden. Wenn wir
uns also beim Erkennen receptiv verhielten, dann sicher ebenso
beim Begehren. Wo aber ein Begehren ohne thatsächlich ge-
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Eintheilung der Functionen der Seele. Kritik. 31
gründeten Anlass hervortritt, wie z. B. bei dem edlen Ritter Don
Qnijote de la Mancha, da weiss man, dass man mit einem Yer- ,
rückten zu thnn hat, und selbst bei diesem ist ein äusseres
Motiv der Auslösung der Willensenergieen immer vorhanden;
denn wenn auch kein zu bekämpfender Riese vorhanden war, so
zeigte sich doch wenigstens eine Windmühle.
Es liegt also auf der Hand, dass der Gegensatz von Recep-
tivität und Spontaneität unbrauchbar ist, um Begehren und Er-
kenntniss von einander zu scheiden.
Die Schleiermacher'sche Meinung aber, als wenn Das Gefühl ist
das Geffthl ein Zustand der Indifferenz der beiden °**^^* ^™*''y<*-
nalzustftDd der
anderen Seelenvermögen, oder ihr Embrjonalzustand andern beiden
wäre, ist nicht nur ohne wissenschaftliche Gründe ^n««onen.
vorgetragen, sondern auch nachweislich falsch. Das Falsche
muss man wie Unkraut mit seinem Grunde entwurzeln.
Den Grund des Schleiermacher'schen Irrthums kann man
aber leicht auffinden. Das Bewusstsein hat nämlich eine be-
stimmte Grösse, so dass es, wie ein Raum, nicht mehr, als nun
einmal hineingeht, fasst. Je stärker und umfangreicher nun ein
Element im Bewusstsein wird, desto mehr andere Elemente, die
sich früher mit ihm in dem Bewusstsein theilten, müssen ver-
drängt werden, d. h. verschwinden oder unbewusst werden. So
können blosse Erkenntnisse das Bewusstsein allein zu füllen
scheinen, oder blosse Begehrungen oder Gefühle. Und bei dem
Gefühl ist es ja bekannt, dass einem, wenn es sehr heftig ist,
die Besonnenheit und alle Gedanken vergehen können. Da nun
das Gefühl, wenn es aufhört zu wachsen, abnehmen muss, so ist
klar, dass dann auch, allmählich wieder das Denken und die
Motive zu Handlungen in's Bewusstsein treten, so dass nun der
Schleiermacher'sche Schein entstehen kann, als wären diese bei-
den anderen Elemente aus dem mütterlichen Boden des Gefühls
herausgeboren, was aber ebensowenig wahr ist, als wollte man
meinen, ein dicker Kerl, der bei einem Gedränge allein die Thür
verstopft, hätte die ihm nachfolgenden anderen Personen in der
Geschwindigkeit erzeugt Ist das Gefühl aber weniger stark, so
weiss Jeder, dass zugleich mit demselben auch Erkenntnisse und
Bewegungstendenzen im Bewusstsein vorhanden sein können.
Der Irrthum Schleiermacher's ist also ebenso erklärlich, wie er
abgethan werden muss.
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32 Definition der Beligion.
idoionforL Ge- Wenn man nun das Wesen des Gefllhls verstehen
fühl »18 unklare« ^jn g^ ^j^gg zunächst das Idolon fori beseitigt werden,
Denken.
wonach aach unklare Erkenntnisse als GefUhle gelten.
Diese Täuschung der Sprache hat die Meinungen der Philoso-
sophen in einem erstaunlichen Grade beherrscht, wenigstens bei
den Deutschen. Und wenn man die bekannte Stelle in Goethe's
Faust nimmt oder Jacobi, Sehleiermacher, Maass, Hegel und an-
dere vergleicht, so sieht man sie alle als Beute dieser unschul-
digen Synonymik. Die Engländer und Franzosen konnten in
dieser Beziehung exacter sein, weil ihre wissenschaftliche Sprache
auf das Lateinische zurückgeht und in diesem, wie im Griechi-
schen, zu solcher Täuschung keine Veranlassung ist; denn die
itd^Ti und affectus sind keine Stdvotoi und cogitationes.
Die Platonisch- ^^^ ^^® Erklärung des Gefühls betriflft, so ist
Arintoteiiacbe ausscrhalb der Herbart'schen Schule, deren Resultate
nnd^^toM». ^^^ Gedankengänge aber nicht den wissenschaftlichen
Anforderungen entsprechen, seit Aristoteles und Piaton
kein selbständiger Versuch aufgekommen, sondern alle modernen
Denker schliessen sich, wie Spinoza, eng an Aristoteles an.
Spinoza hat zwar keine Ahnung davon, woher ihm seine
Gedanken gekommen sind; aber das thut nichts zur Sache;
denn, wenn er die Gefühle als Lust und Schmerz (laetitia et
tristitia) scheidet und sie als die leidenden Zustände bestimmt,
in welchen der Geist zu grösserer oder geringerer Vollkommen-
heit übergeht, so hat er zwar in gewohnter Weise die Geschichte
dieser Begriffe verhtlllt, dennoch aber wird jeder Kundige un-
schwer errathen, dass als letzte Quelle Platon's Definition der
Lust als eines „merklichen Uebergangs zum Wesen'' und des
Aristoteles „Eintreten der Entelechie" hier zu Grunde liegt.
Spinoza's Definition verdeckt diese letzte Quelle dadurch, dass
er bloss das Grösser- und Kleiner- Werden der Kraft hervorhebt;
allein dies ist ein in die Augen springender Fehler, weil es sich
dabei um eine Messung und also um einen Massstab zur Mes-
sung handelte, den er doch nicht angiebt. Wenn nun der jewei-
lige vorhergehende Zustand allein als objectiver Vergleichungs-
punkt genommen werden sollte, so wäre die ganze Definition
unbewiesen; denn die Summe des jeweiligen individuellen Kräfte-
zustandes des Geistes konnte weder zu Spinoza's Zeit berechnet
werden, noch kann sie es jetzt. Zweitens sollen die Affecte als
uiyuizeu uy x^jv^v^
ö'"
Eintheilimg der Functionen der Seele. Kritik. 33
Passionen nur bei inadäquaten Ideen stattfinden (cf. IQ. 3), der
Fortschritt zu grösserer Macht könnte also auch nicht etwa an
den adäquaten Ideen gemessen werden, die dabei nicht vorhan-
den sind. Zudem entspricht diese Behauptung auch den That-
Sachen nicht, da z. B. bei einer Gefahr gar keine Lust entsteht,
wenn man sich die Gründe der Trostlosigkeit seiner Lage auch
noch so exact vorstellt, wie z. B. der banquerotte Kaufmann nicht
vergnügter wird, wenn er die Ursachen seiner Verluste bis auf
die beiden Attribute der Natur reducirt
Die Naivität, mit welcher Spinoza die Lehrsätze und De-
finitionen, welche ihm wohl gefallen, vorträgt, zeigt sich beson-
ders in der hierher gehörenden Behauptung, dass jedes Wesen
sein Sein zu erhalten strebe, und es ist geradezu komisch, wie
Spinoza mit der geometrischen Feierlichkeit seines Vortrags über
die Abgründe seines Systems hinweg stolzirt, da es ja kein in-
dividuelles Wesen und kein zu erhaltendes Sein in seinem System
geben kann. Es liegt aber seiner ganzen Vorstellungsweise un-
bewusst der Platonisch-Aristotelische Idealismus zu Grunde, den
er durch Aufhebung der Teleologie beseitigt hat, ohne zugleich
das mit dahinfiiessende Wesen und Sein der einzelnen Dinge auch
aufgeben zu wollen. Dass der Körper des Menschen nach Aufgebung
seiner organischen oder teleologischen Einheit keine Einheit mehr
hat, ebensowenig wie sein Geist, das merkte der sogenannte subtile
Denker nicht Und dass statt nach endlosem Fortschritt der
Kräfte zu streben und die Verminderung zu fliehen, der Mensch
vielmehr zwischen dem Zuviel und Zuwenig das in seinem Wesen
geforderte organische Mass suchen müsse, wenn er der Lust und
der Selbsterhaltung theilhaftig werden will, das entging dem
Geometer ebensosehr, wie die Einsicht, dass Lust und Schmerz
teleologische Bestimmungen sind, da das blosse Grösser- oder
Kleiner- Werden ja nur unsere Auffassungen und Vergleichungen
betrifft, in den Dingen aber, wenn kein innerer Massstab vor-
handen ist, nichts bedeutet Spinoza's Definition hat also über-
haupt nur Sinn, wenn man die von ihm aufgegebenen und zu-
gleich dennoch im Stillen festgehaltenen Platojiisch- Aristotelischen
Begriffe immer hinzudenkt, was denn auch mit zu grosser Gut-
müthigkeit die Historiker der Philosophie in der Regel wirklich
thun, während die Geschichte der Begriffe nicht so rücksichts-
voll sein darf.
Teiohmüller, Beliglonspblloftophie. Digitiz^ll by VjOOQIC
34 Definition der Religion.
Der neue Lehrsatz.
Wille und Be- Die Chemie giebt uns herrliche Vorbilder, um die
wegung. ^^fgabe des Forschers auch im Gebiete der Specu-
lation vor Augen zu stellen. Wer in allen früheren Jahrhunderten
hätte es auch nur im Traume ftir möglich gehalten, die Säure
aus der Citrone zu ziehen und als einen durchsichtigen Krystall
flir sich hinzustellen! Wie aber beim Genuss jener Frucht das
Zusammengesetzte als einfach betrachtet wurde, so finden wir
uns auch bei der Auffassung unseres geistigen Lebens immerfort
in Illusionen verstrickt, indem wir die in Coordination zusam-
menwirkenden Functionen für eine qualitative Einheit nehmen.
Die Function, welche fUr uns hier die grösste Bedeutung
hat, ich meine den Willen, wird bisher von allen Philosophen
und folglich auch von den Theologen, Juristen und Pädagogen
immer mit dem Bewegungsvermögen znsammengefasst, so dass
der Wille oder das Begehrungsvermögen als das Bewegende im
Menschen gilt. Ich habe nun schon in meiner Schrift über das
„Wesen der Liebe" und in meiner „Neuen Grundlegung der Meta-
physik^ gezeigt, dass Wille und Bewegung zwei verschiedene
Dinge sind. Ich kann wollen, ohne dass mein gelähmter Arm
sich bewegt. Wäre beides ein und dasselbe, so würde mit der
Lähmung des Nervenapparates auch der Wille ausgerenkt und
entwurzelt sein. Umgekehrt finden viele Bewegungen im Körper und
der Seele statt, die nicht bloss unabhängig, sondern auch gegen
unseren Willen sind, z. B. allerlei zerstreuende Zwischengedanken
oder traurige Erinnerungen, ebenso das Erröthen, das den Men-
schen so verwünscht ist, und das Erblassen und Zittern beim
Schreck, wodurch sich Mancher wider Willen verräth. Dass
sich eine solche Trennung beider Functionen aber nicht so leicht
bei jedem Akte des Willens oder Begehrens zeigen lässt, das be-
weist nichts gegen die Verschiedenheit, sondern bestätigt bloss
die Coordination unserer Vermögen und Thätigkeiten, durch
welche die logische Chemie ihre Täuschungen und Schwierig-
keiten findet
Wenn man jedoch das ganze Gebiet der Bewegungen über-
blickt, so lässt sich gleich erkennen, dass die Bewegungen all-
mählich in Kunstfertigkeiten tibergefllhrt werden, wobei dann
schon zur Ueberraschung einleuchten muss, dass die Künste doch
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt i^-
Eintheilung der Functionen der Seele. 35
nicht die Eigenschaften des Willens an sich tragen nnd von dem
gesunden Menschenverstände nicht als Tugenden oder Laster be-
zeichnet werden. Bei der ersten Bewegung der Hand auf dem
Ciavier oder der Violine wünscht und will man die Finger so oder
so trennen und in dieser oder jener Reihenfolge bewegen und doch
werden immerfort Fehler begangen, d. h. immer zeigt sich im
Anfang, dass Wille und Bewegung nicht von Haus aus constant
coordinirt, geschweige denn identisch seien. Sind die Bewe-
gungen aber erst eingelernt, so kann der Wille gar nicht so
schnell nachkommen, um den Fingern jedesmal Befehle zu er>
theilen, sondern er muss es geschehen lassen, dass das geübte
Bewegungsvermögen für sich allein arbeitet Wenn nun auch
immerhin des Kutschers Wille die Pferde leitet, so wäre es doch
lächerlich zu sagen, dass der Wagen durch den Willen des Kut-
schers und nicht durch die Pferde gezogen würde. Die Coordi-
nation von Bewegung und Wille soll nicht geleugnet werden,
aber das Kunsttalent, die Kunstausübung und die Kunstfertigkeit
sind keine Willensbestimmungen und Charaktereigenschaften.
Man wird daher gut thun, in Zukunft mit etwas feinerer
Chemie das Bewegungsvermögen von dem Begehrungsvermögen
zu scheiden; denn dass mit der Coordination, die zur Vermischung
beider geführt hat, nicht einmal eine annehmbare Ausrede oder
Entschuldigung vorgebracht werden kann, sieht man daraus, dass
ja auch das Erkenntnissvermögen zugleich coordinirt ist.
Denn ohne sich dies oder das vorzustellen, kann man ja weder
wollen, noch bewegen. Wenn man weder die Noten sähe, noch
die Tasten fühlte, noch die Töne hörte, also nicht jedesmal eine
coordinirte Erkenntnissfunction ausübte, so würden auch die
grössten Künstler ihre künstlerischen Bewegungen auf dem Cia-
vier nicht mehr ausftlhren können, und doch wird es Niemandem
einfallen, die Sinnesperceptionen und Vorstellungen für Bewe-
gungsacte zu erklären. Also soll auch der Wille von dem Be-
wegungsvermögen abgelöst und chemisch rein für sich dargestellt
werden.
Es handelt sich nun um die Aufstellung eines neuen i^g^y^j^ y^^
Lehrsatzes in der Philosophie, der bisher noch nie- wnie und ee-
mals in den Gesichtskreis der Wissenden kam, dessen ^^^'
Bedeutung aber elementar und darum universell ist. Bei dieser
Ankündigung fUUt mir natürlich sofort Horazens Frage ein: Quid
uiumzeu uy V^J W\J>t l^
36 Definition der Religion.
dignum tanto feret bic promissor hiatu? Es kann aber nicht Pflicht
der Forschung sein, die deutlich erkannte Wichtigkeit eines Prin-
cips unter dem schäbigen Mantel der Bescheidenheit zu ver-
stecken; sondern man soll das Licht auf einen Leuchter setzen,
damit es leuchte Allen, die im Hause sind. Dieser neue Lehr-
satz heisst: Wille und Gefllhl ist dasselbe.
Da dieser Satz streng bewiesen werden muss, und ftir den
Beweis auch die Methode festzustellen ist, so soll hier einleitend
nur noch einmal an die Einfachheit der Auffindung des Satzes
und an die frühere Verwirrung des Urtheils erinnert werden.
Zunächst also ist ersichtlich, dass dem Willen oder Begeh-
rungsvermögen seine sogenannte Spontaneität genommen werden
musste, womit dann auch der Gegensatz gegen die sogenannte
Receptivität der Erkenntniss verschwindet; denn die bisher von
der Philosophie angenommenen drei Seelenvermögen, Wille, Ge-
Alhl und Erkenntniss, fimctioniren eben nur, wenn sie ausgelöst
werden, d. h. wenn eine entsprechende Coordination oder eine
sogenannte hinreichende Ursache vorhanden ist. Wenn man
daher dem Willen all sein Reissen und Stossen und Ziehen
nimmt, seine angebliche Anstrengung und Energie, sein Ringen,
seine Wildheit und Lähmung, und die ähnlichen vermeinten
Leistungen, die in der lateinischen Sprache etwa wie nisus, Im-
petus, vigor u. s. w. bezeichnet werden (weil dies nach der Seite
des Bewegungsvermögens hingehört und für den Willen unwie-
derbringlich verloren ist), so wird man durch einen ganz neuen
Anblick überrascht. Die GefUhle nämlich, die man früher von
dem bewegenden Willen getrennt hatte, fangen plötzlich an sich
zu nähern und sich ganz von selbst und unauflöslich mit dem
von der Bewegungs-IUusion befreiten Willen zu vereinigen.
Welche grenzenlose Unklarheit aber über diese Fragen bis-
her geherrscht hat, kann man gleich erkennen, wenn man die
erschienenen Psychologien durchsieht. Maas z. B. ist nicht ein-
mal im Stande, die Empfindungen der Sinne (Gefllhl als Tast-
sinn) von den Geftlhlen als Affekten abzusondern, und geräth
dann in noch grössere Verlegenheiten, weil er die Gefühle von
dem Willen trennen zu müssen glaubt, was ihm denn auch nicht
gelingt. Herbart und seine Schule, Waitz, Volkmann, Drobisch,
Nahlowsky u. A. trennen die Gefühle von dem Wollen ganz
rathlos und vermischen das Wollen mit dem Bewegungsvermögen
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Eintheilung der Functionen der Seele. 37
80 anachtsam, dass sie fUr die E an st demgemäss gar keine
Seelenfanction mehr übrig behalten. So habe ich bisher nirgends
eine wissenschaftlich befriedigende Behandlang dieser Frage vor-
gefanden and sehe in der Vemachlässigang dieser wichtigsten
elementaren Erkenntniss die Ursache, weshalb aach die Religions-
philosophie nicht za einer festen Grandiegang gelangen konnte.
Die Kandigen aaf dem Gebiete der Philosophie
werden nan zwar die angeheare Tragweite dieses ^*jj"^*°^^j*^^
neuen Lehrsatzes überblicken, doch möge es mir er- und schönen.
laabt sein, selbst einige der wichtigsten Folgen vor
Aagen za stellen. So erinnere ich an die völlige Rathlosigkeit
der Alten in Betreff der Principien and Urkategorien, die sie
als geheinmissvoUe Eigenschaften oder Wesenheiten von dem
Sein selbst, von der Sabstanz oder Gott aassagten, nämlich be-
sonders die Einheit, die Wahrheit, das Gate. Diese Begriffe
bildeten nicht bloss für Aagastin, sondern aach ftir alle moderne
Idealisten ein blindes Fatum, indem gerade die principielle oder
goavemementale Region der Yemanft mit der modernen Drei-
einigkeit des Gaten, Schönen and Wahren gewissermassen nicht
vernünftig war and über den Ursprang and Sinn dieser Ideen
keine Rechenschaft gegeben werden konnte. Erst durch den
neuen Lehrsatz löst sich dasRäthsel; denn in diesen Ideen kann
auf keine Weise ein metaphysischer, logischer, physischer, oder
überhaupt blosä' theoretischer Inhalt aasgefunden werden, da sie
nichts Sachliches an und ftir sich, sondern als Werthbestimmun-
gen nur Beziehungen zum Gefühl ausdrücken.
Für die Idee des Schönen hat man diese Beziehung in
mehreren Schalen erkannt, aber nicht durchftihren können, weil
man die zugeordnete Auflösung der andern Idee nicht beherrschte.
Bei der Idee des Guten sind seltsamer Weise nicht die besten
Köpfe, wie Piaton, sondern nur die unspeculativsten, die Sensna-
listen, Hedoniker und Materialisten auf dem rechten Wege der
Erkenntniss gewesen. Weil ihre Begabung aber zu gering war,
so blieben sie auf der untersten perspectivischen Stufe des Ge-
ftihls stehen und modellirten alle Dinge in der Welt nach dem
Belieben des angenehm oder unangenehm afficirten Subjects.
Wären sie zu der objectiven Stufe fortgeschritten, so hätten sie
auch die allgemeinen und darum logisch formulirbaren Normen
des Gewissens anerkennen müssen, wären dann aber mit dieser
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38 Definition der Religion.
Anerkennung dem Idealismas in die Arme gesunken , wovor es
ihnen graute.
Der Grund aber, weshalb man weder in der Aesthetik, noch
in der Ethik und Rechtslehre über die principiellen Schwierig-
keiten hinwegkonmien konnte, lag wesentlich in der Idee der Wahr-
heit, die nicht den coordinirten Ausdruck gefunden hatte und
darum als ein auch bei Tageslicht erscheinendes Gespenst die
Combinationen der Denker lähmte; denn wenn etwas, so scheint
sicherlich die Wahrheit immer unabhängig von aller Willkür und
allem subjectiven Gefühl zu bleiben und daher, als allein fest,
auch alles Andere von sich aus normiren zu können; die Wahr-
heit aber führte in das bloss theoretische Gebiet der Logik, Ma-
thematik und Physik, mit deren Gesetzen man die ethische und
ästhetische Welt doch nicht regnliren konnte. Also lag ein Bann
auf der Forschung. Nun muss aber in Folge unseres Lehrsatzes
dies Gespenst des falschen Wahrheitsbegriffs plötzlich verschwin-
den; denn es hat kein Recht und kein Licht mehr in dem Gebiete
der Erkenntniss. Die Idee der Wahrheit ist die Erkenntniss
keines Gegenstandes und auch nicht die Erkenntniss der Er-
kenntniss; denn einen gewissen Inhalt der Erkenntnissthätigkeit
bilden allgemein gefasst auch alle sogenannten Irrthümer, also
auch die Träume und Phantasien, weil dergleichen nur vorkom-
men kann, wo ein Erkenntnissvermögen vorhanden ist; es han-
delt sich hier, um etwas als Erkenntnissinhalt^ zu bezeichnen,
überhaupt bloss um die Frage, ob es als Vorstellungsverknüpfimg
wirklich im Bewusstsein vorkomme.
Wie sollen wir diese Formen nun als wahre und falsche
unterscheiden? und was insonderheit ist demgemäss die Wahr-
heit? Gönnen wir dem früheren Standpunkte alle Freiheit und
erlauben wir seinen Vertretern sogar das Unerlaubte, um sie
nachher bereitwilliger zu finden, bei uns einzukehren, wenn sie
bei sich selbst am Ende ihres Weges die Thttre verschlossen
sehen. Lassen wir jetzt also, ohne Einspruch zu erheben, die
Erkenntniss ihre Erkenntnissgegenstände ordnen in solche Gruppen^
die sich einander widersprechen, und in solche, die sich nicht
widersprechen. Ist in der letzteren Gruppe nun die Idee der
Wahrheit gegeben, wie man meint? Giebt es innerhalb der bloss
vorstellenden Thätigkeit überhaupt irgend einen Grund, um diesen
oder jenen Vorstellungsinhalt einem beliebigen andern vorzu-
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Eintheilung der Functionen der Seele. 39
ziehen? sich mit demselben mehr za beschäftigen nnd ihn als
wahr jenem andern als falschen gegenüberzustellen? Sind nicht
vielmehr die widerspruchslosen Vorstellungsinhalte von den sich
widersprechenden bloss so verschieden, wie die Vorstellung einer
Pflanze von der Vorstellung einer andern Pflanze, etwa wie
Laubholz von Nadelholz 1 Woher kommt dieser eigenthtimliche
Beigeschmack, den die Idee der Wahrheit noch ausserdem hat
und der es mit sich bringt, dass die Wahrheit immer noch etwas
mehr bedeutet, immer noch ein anderes Element in sich enthält,
als den blossen theoretischen Charakter der Widerspruchs-
losigkeit der auf Grund der Erkenntnissquellen gebil-
deten Urtheile?
Auf diese Fragen wissen wir jetzt die Antwort; denn wenn
wir das GeAihl aus dem Geiste eliminirten, so würde sofort alle
intellectuelle Geistesthätigkeit gleichgültig sein und keine Form
könnte vor einer anderen Form bevorzugt oder höher ge-
achtet und ausgewählt werden. Mithin gäbe es dann keinen
Unterschied mehr zwischen Wahrem und Falschem. Sobald wir
aber das Gefühl wieder in den dreistimmigen Chor der geistigen
Functionen einrücken lassen, so muss sich auf der Stelle der in-
tellectuelle Inhalt dem werthgebenden Gefühl coordiniren. Es
zeigt sich nun, dass die Widersprüche und das Unbegründete
dem Gefühle nicht behagen, dass sie keine Gnade vor seinem
Auge finden, dass dagegen die Einstimmigkeit der Gedanken
und das Wohlbegründete mit Wohlgefallen und Befriedigung auf-
genommen wird. Das Bewusstsein dieser Coordination der gei-
stigen Vermögen ist die Idee, welche wir die Wahrheit nennen,
und um des zugeordneten Gefühles willen allein kommen wir
überhaupt dazu, uns zu bemühen, Widerspruchslosigkeit und Be-
gründung zu suchen und die oben angeführte Gruppirung alles
Gedankeninhalts vorzunehmen, weil sonst kein Motiv vorhanden
wäre, auf diesen Unterschied zu achten, weshalb wir eben jene
Eintheilung schon als unerlaubt hätten untersagen können, da
ohne Motiv nichts geschehen kann. Denn was hindert uns, weiter
zu gehen und alles Denken der Hegemonie des GefUhls zu un-
terwerfen ? Ohne das Gefühl würde das Denken ja keinen Schritt
thnn, da ohne Werthunterscheidung jeder Gedanke dem andern
völlig gleichwerthig wäre und alle Gedanken überhaupt gar keinen
Werth hätten, sondern wie ein todter Hund unbeachtet und re-
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40 Definition der Religion.
gangslos bleiben würden. So zeigt sich das Gefühl in seiner
Coordination sowohl znr Bewegung des Denkens als zum ideellen
Inhalte der Gedanken als die massgebende Function', ohne die
wir, weil sie den terminus relationis enthält, keine Idee der
Wahrheit haben würden, wie auch die sogenannte Gewissheit
(certitudo) nur die verschiedenen Stufen der Befriedigung des
Gefühls ausdrückt. Alles dies ist anderswo in ganzem Zusam-
menhange darzulegen, hier würde es ein Fehler der Dialektik
sein, diese Zusammenhänge alle zu entwickeln, da die Aufmerk-
samkeit nur auf einen Punkt, auf unser Problem gesammelt
werden soll.
Nun hat allerdings hier und da einmal dieser oder jener
mehr dilettantische Denker nicht umhin gekonnt zu bemerken,
dass der Wille auch im Denken eine Rolle spielt und dass z. B-
die grösseren zusammenhängenden Untersuchungen nicht möglich
wären, wenn nicht ein stranmier Wille die Gedanken zusammen-
hielte; allein Keiner, soweit ich die Litteratur kenne, hat ein-
gesehen, dass dieser sogenannte Wille nichts anderes als das
Gefühl ist. Sehr nahe hätte es doch Schopenhauer liegen müssen,
bei seiner Willensphilosophie zu dieser Einsicht zu kommen;
er ist aber himmelweit davon entfernt geblieben, wie man z. B.
daraus sieht, dass er die Idee des Schönen in allen Künsten
auf die willenlose Anschauung begründet, als wenn eine An-
schauung schön und also werthvoU sein könnte, wenn der allein
werthgebende Wille eliminirt wäre! Wer würde denn die Künste
ausüben, und wer sich bemüssigt sehen, die Kunstwerke zu be-
trachten oder zu kaufen, wenn kein Wille auf diese Anschauun-
gen gerichtet wäre! Schopenhauer steckt eben noch bis zum
Halse in dem romantischen Intellectualismus, den er von Kant,
Fichte und Schelling eingesogen hat. Dass aber auch die Idee
der Wahrheit nicht innerhalb des theoretischen Gebietes allein
verstanden werden kann, das ist bis jetzt, soweit ich sehe, noch
von Niemand geahnt, weil man als Tradition überall die Tren-
nung von Erkenntniss, Wille und Geftlhl vorfand und in Bezug
auf die letzteren beiden freilich wohl einen sachlichen Kitzel
verspürte, das Verhältniss zu prüfen, dennoch aber immer bloss
versuchte, beides in irgend eine Gausalverknüpfung zu versetzen
und etwa den Willen aus dem Gefühle herzuleiten, ohne zu
merken, dass man keinem besseren Ziele zusteuerte, als wenn
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Eintbeilung der Functionen der Seele. 41
man Friedrich den Grossen endlich als Vater des alten Fritze
ausfindig zn machen hoffte.
Die Methode, die Identität von Wille und Gefühl zar Methode.
zn zeigen, mnss zwei Wege einschlagen; denn erstens
mnss die Analyse der Function, die man allgemein als Willen
bezeichnet, nach Absonderung der nicht wesentlichen Be-
ziehungen auf denjenigen Begriff führen, dessen Umfang allge-
mein dem Gefühl eingeräumt wird; und zweitens muss ebenso
umgekehrt synthetisch gezeigt werden, dass, wenn wir zu dem
Gefühl gewisse nicht wesentliche Beziehungen desselben hin-
zunehmen, dann auch ftlr den gemeinen Menschenverstand der
Charakter des Willens hervortritt.
Den Willen analysiren wir am besten in drei Stufen, als
sogenannten Trieb, als unüberlegtes leidenschaftliches Begehren
und drittens als völlig besonnene und vernünftig freie Ent-
Schliessung.
Die Analyse des sogenannten Willens führt auf
das Gefühl.
Allgemein geht man, um die Natur des Willens d Ente stafe
zu erklären, von den höheren Formen des Willens auf ^^ Begehrene.
die untersten Formen zurück und glaubt diese in den Trieben
vorzufinden. Als einen der niedrigsten Triebe fasst man z. B.
den Nahrungstrieb auf. Dieser soll nun den Willen oder das
Streben und Begehren nach Nahrung enthalten. Da nun, wie
man einsieht, die jungen Hunde oder auch die menschlichen
Säuglinge nicht schon wissen oder ahnen, dass ihrem Körper
Milch zuträglich sein würde und dass diese Flüssigkeit durch
Saugen an dem Mutterkörper herausgezogen und in ihren Magen
durch Schlucken befördert werden könnte, so nimmt man, um
die Wunderlichkeit einer solchen vorauszusetzenden Erkenntniss
zn vermeiden, einen Instinct an, d. L ein Wissen und Wollen
ohne Wissen und Wollen. Dieser Widerspruch giebt natürlich
keine Erklärung, sondern stempelt die unbegriffene That-
Sache bloss lexikalisch durch ein Wort
Sobald man nun meinem Bathe folgt und den Willen von
der Bewegung trennt, so ist das Problem des Nahrungstriebes
gleich aufgelöst Denn der Körper ist ein Coordinatensystem von
Bewegungen und Bewegungsorganen; wird ein Muskel an-
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42 Definition der Religion.
gespannt, so kommt ein Knochen in Bewegung and jede Inner-
virung zieht Maskelthätigkeiten nach sich u. s. w. Wie nun der
Thorax ganz von selbst za athmen an&ngt, sobald die Laft in
die Bäume der Lunge eindringen kann, was wieder durch andere
Vorgänge vermittelt ist, so bilden auch die Bewegungen des
Saugens und Schluckens und die Digestionsbewegungen ein ganz
fertig vorbereites System von Coordinationea Und dieses System
kommt gleich in Gang, möge man Zuckerwasser, Fenchelthee
oder Muttermilch zwischen die Lippen schieben. Bei diesem
ganzen Bewegungsapparate und seinen Functionen ist also vom
Willen keine Rede.
Wo steckt nun der Wille? Man würde ihn ganz vergeblich
suchen, wenn man zu der Idee von Bedtlrfiuss und Nahrung und
ihrem teleologischen Zusammenhange seine Zuflucht nehmen
wollte; denn der Säugling weiss nichts davon. Aliein alles ist
gleich in Ordnung, wenn man den Willen als Gefühl fasst und
in dem Geschmack sucht; denn jenachdem das Eingeführte
schmeckt oder widerlich ist, entstehen die Schluck- oder Brech-
bewegungen. Nun brauchen wir die Mystik des Instincts mit
seinen sich selbst widersprechenden Bestimmungen nicht mehr,
da wir sehen, dass der uns wohlbekannte Geschmack, der auch
in dem kitigsten Menschen nicht kluger wird als er von Anfang
war, mit dem Bewegungssystem unseres Digestionsapparates
ohne alles Streben und Stossen in Coordination steht Das Ge-
ftlhl ist der Wille, der gar nicht weiss, dass er etwas Vernünftiges
will oder thut Ebenso wie mit dem Nahrungstrieb verhält es
sich mit dem Geschlechtstrieb und allen tibrigen Trieben.
Wir kommen jetzt an die Stufe des unüberlegten
2) Zweite stufe leidenschaftlichen Begehrens, möge es in Handlungen
' des Hasses, Zorns, Neides, der Liebe, Schadenfreude,
Bache u. s. w. erscheinen. Bei allen Handlungen dieser Art
wird ein Wille als Ursache angenonunen. Dieser Wille setzt
aber inmier gewisse Beziehungspunkte voraus, ohne welche er
nicht functionirt Man nennt dieselben die Motive. Diese Motive
sind aber nicht Wille; denn sie enthalten blosse Vorstellungen,
d. h. ideelles Sein. Der Wollende muss sich, ehe er wollen
kann, etwas vorstellen, z. B. Worte oder Handlungen anderer
Menschen. Der Dieb muss Werthsachen sehen und sich vor-
stellen, der Neidische Glttcksznstände eines Andern, der Zürnende
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Eintheilnng der Functionen der Seele. 43
mnss beleidigende Worte gehört haben. Da nun alle diese Vor-
stellungen der Erkenntnissfunction angehören, so sind sie offenbar
nicht dem Willen als einer von dem Erkenntnissvermögen ver-
schiedenen Function zuzuschreiben and mithin nicht wesent-
lich für den Willen, sondern nur Bedingungen seiner Auslösung;
denn wenn die Peitsche auch die Pferde antreibt, so ist sie
doch kein wesentlicher Theil des Pferdes,
Ebensowenig gehört zweitens die Handlung oder die aus
dem Willen folgende Bewegung zum Willen selbst, wie wir das
schon oben (S. 34) erörtert haben.
Als Wille ist also ausschliesslich die zwischen der aus-
lösenden Vorstellung einerseits und der Bewegung andererseits
liegende Function zu bezeichnen. Was ist nun diese Function?
Um dies ganz klar und deutlich zu erkennen, müssen wir uns
die sogenannten Motive oder die auslösenden Vorstellungen zum
Bewusstsein bringen. Othello z. B. stellte sich die Handlungen
der Desdemona vor. Er fLLhlte dabei einen Schmerz in seinem
Gemüthe, möge man dies Geftahl Eifersucht oder Entrüstung
nennen; einerlei, er wollte die vorgestellten Dinge also nicht.
Macbeth stellte sich vor, wie es wäre, wenn er die Krone
erhielte, und es füllte sich seine Seele mit Lust: das wollte
er also. Er stellte sich die Hindernisse und Gegner vor und
empfand tiefe Unlust: diese Umstände also wollteer nicht Was
ist der Wille bei allen den Vorstellungen, die durch ihre Seele
gehen, anders, als der Beifall oder die Lust, die bei einigen
Vorstellungen eintritt, und das Missfallen oder die Unlust, die
bei andern Vorstellungen ausgelöst wird. Jenachdem nun diese
Gefiihle im Augenblick functioniren, coordiniren sich die Be-
wegungen und zwar einerseits die des Vorstellungsvermögens,
wodurch die geeigneten Mittel und Wege nach dem Goordinations-
system der Erkenntniss ausgedacht werden, und andrerseits die
Bewegungen des körperlichen Bewegungsapparates, welche die
sogenannten Handlungen dem Resultate jener Überlegung ent-
sprechend hervorbringen. Ist Beifall und Missfallen bei den im
Bewusstsein gegenwärtigen Vorstellungen in gleichem Masse vor-
handen, 80 geschieht keine Handlung.
Man sieht also, dass die Analyse des sogenannten Willens
uns als das Gonstitutive der gesuchten Function nur das Gefühl
zeigt Und diejenigen Gelehrten, welche schon oft allen Willen
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J
44 Definition der Religion.
der Menschen auf die Gefühle von Last und Schmerz als auf
die Ursache zurückgeführt haben, wären zu loben, wenn sie
nicht von einer Abhängigkeit, von Ursache und Wirkung, also
von mindestens zwei Elementen gesprochen hätten, wobei GefUhl
und Wille als verschieden gilt, während wir nur eine einzige
Function, nämlich nur das Gefühl, als den sogenannten Willen
anerkennen dürfen. Da man dies Gefühl nun nicht objectiv
anders beschreiben kann, als durch die Vorstellungen, bei denen
es functionirt, so nennt man gewöhnlich diesen ideellen Beziehungs-
punkt den Willen, indem man z. B. sagt: Othello wollte sein
Weib erdrosseln, Macbeth wollte König werden u. dergl. Dieser
Beziehungspnnkt ist aber ein blosses Vorstellongsbild, gehört dem
Erkenntnissvermögen an und dient bloss zur ideellen Unter-
scheidung und Bezeichung der Gefühle, die ihrer eigenen Natur
nach nicht ideell sind und daher ohne Beziehung auf die in
dem Erkenntnissvermögen gegebenen Vorstellungen nicht für
unsre Erkenntniss genauer bestimmt werden könnten.
Diese letzteren Betrachtungen sind nebenbei auch dadurch
von besonderem Interesse, weil sie uns mit Einem Schlage die
Stellungnahme der bedeutendsten neueren Psychologie, der Her-
bartischen, erläutern. Denn bei Herbart müssen demgemäss die
Gefühle ihren „Sitz in den Vorstellungen" haben, weil ja zur
Auslösung und Specificirung derselben immer Vorstellungen
erforderlich sind, die auch allein zur Benennung derselben taugen.
Zugleich aber konnte diese blosse Vorstellungspsychologie der
Herbartianer das eigenthümliche Wesen und die Selbständigkeit
der Funktion des Gefühls nicht begreifen, sondern liess die Vor-
stellungen bloss gymnastische Übungen machen in einem fingirten
Räume und in fingirter Zeit und mit fingirten Bewegungs-
erscheinungen und deducirte aus diesen Fictionen recht lächer-
lich die sehr realen Gefühle, die doch genau denselben Rang
von Wirklichkeit haben wie die Vorstellungen und sich nicht
bloss nach den athletischen Leistungen derselben, sondern auch
nach dem qualitativen Vorstellungsinhalte richten.
Es bleibt uns nun die dritte Stufe, die des wohl-
3) Dritte stufe besonnenen und freien Willens, übrig. Um hier nicht
des Begehrens.
durch die Undurchsichtigkeit des individuellen Seelen-
lebens die Klarheit zu beeinträchtigen, ziehe ich immer vor, das
grössere und in seinen Akten deutlicher gegliederte Bild eines
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Emtheilung der Functionen der Seele. 45
solchen Willens in dem Gerichtshofe oder dem Parlamente, wo
viele Seelen denselben Act social vollziehen, za betrachten.
Die auslösenden Vorstellungen im Gerichtshöfe sind durch
die Prämissen, also erstens durch die Paragraphen des Gesetzes
als Obersatz und zweitens durch die Inquisition und Zeugenaussagen
und vorgefundenen Documente und die Geständnisse u. dergL als
Untersatz gegeben. Durch alles dieses hat der Richter also ein
möglichst richtiges Vorstellungsbild von dem Angeklagten und
seiner Handlung ^nd dem Verhältniss derselben zu dem Gesetze
vor Augen. Es wird vorausgesetzt, dass er selbst nicht im
Mindesten dabei persönlich interessirt ist, sondern mit voller Be-
sonnenheit, objectiv, wie man sagt, anschaut und urtheilt.
Nun kommt der zweite Akt, das sogenannte Urtheil oder
die richterliche Entscheidung, die scheinbar eine rein
logische Conclusion ist Allein man muss dabei etwas feiner
distinguiren; denn es findet zwar zunächst die logische Schluss-
folgerung statt; diese ist aber nur die auslösende ideelle Be-
dingung fbr das darauf erfolgende im Befehl, d. h. als Wille,
gesprochene Urtheil: der Dieb soll hängen, soll sitzen oder soll
verschickt werden. Die logische Conclusion gehört deshalb
noch in den ersten Akt; die Entscheidung des Gerichtshofes
in der ausgesprochenen Sentenz aber bildet den zweiten Akt
Und darauf folgt dann der dritte Akt, nämlich die Be-
wegung der coordinirten Bewegungsorgane, die hier durch die
dem Gerichtshofe zugeordneten Executivbearaten, Gensdarmen und
Gefilngnisswärter u. dergl. vertreten werden.
Nun fragt sich, was dieser im zweiten Akte vorliegende
Wille des Gerichtshofes eigentlich bedeutet Dass er keine Denk-
thätigkeit oder blosse Vorstellung ist, springt in die Augen;
denn das Sollen ist ein Begriff, der nicht in das Gebiet des
Seins und der Erkenntniss, sondern in das Gebiet des Willens
gehört Und auch die Ausdrücke, die ich in meiner Neuen Grund-
legung der Metaphysik S. 82 und 102 schon angefahrt habe:
sie volo, jubeo, placet, Soxst, car tel est notre bon plaisir u. dergl.
gehen alle auf das Gebiet des sogenannten Willens. Es wird
mit diesen Ausdrücken also eine neue Function, eine Stellung-
nahme der Seele zu dem im ersten Akte vorliegenden Urtheile
ausgedrückt Um diese Stellungnahme nun zu begreifen, müssen
wir nothwendig noch ein wenn auch flüchtig auftauchendes
u.quizeauy Google
46 Definition der Religion.
zweites Yorstellungsbild hinzofügen. Der Richter muss sich
nämlich anch das Gegentheil vorstellen, z. B. der Dieb laufe in
Znkunft frei umher. Das missfällt ihm und erregt seine Ent-
rüstung. Aber das Bild: der Dieb sitzt fest, befriedigt ihn und
löst das Gefühl aus, welches in der gerechten Seele entstehen
muss. Man sieht also, dass die Entscheidung des Bichters nicht
von seiner Logik abhängt, sondern von seinem Gewissen oder
seiner Gerechtigkeit; denn wenn der Angeklagte sein Bruder
oder Sohn wäre, so wiürde ihm yielleicht der unlogische Schluss
besser gefallen, und es ist ja bekannt genug, wie namentlich in
Russland seit Einführung der Geschworenengerichte die frei-
sprechenden Verdikte der Geschworenen aller Vernunft und Logik
zum Trotze sehr häufig wurden, und zwar aus dem einfachen
Grunde, weil die vom Gesetz angeordneten Strafen zu hart waren,
sodass es gegen das Gefühl oder Gewissen der Geschworenen
ging, einen Brief boten, der aus Noth eine Veruntreuung begangen,
nach Sibirien zu schicken. Es war ftü- sie ein weniger unbe-
friedigendes Geftlhl, den sein Verbrechen eingestehenden Ange-
klagten gegen die Wahrheit für nicht-schuldig zu erklären und
frei zu machen, als ihn einer grausamen Strafe zu unterwerfen.
Auch bei dieser höchsten Stufe des Begehrens, wo ein ruhi-
ges und ganz objectives Räsonnement der Willensentscheidung
vorhergeht und genügende Zeit verstreicht, um alle zufällig ent-
standenen unrichtigen Vorstellungen über den Angeklagten und
die Umstände der That zu beseitigen, besteht also der sogenannte
Wille auch bloss in dem Gefühl, indem die eine Vorstellungs-
verknüpfung angenehm ist oder uns befriedigt, die andere un-
angenehm ist oder uns nicht befriedigt. Der Wille wird hier
frei genannt, weil er nicht durch verworrene Vorstellungen und
falsche Einbildungen und schlechte Gewöhnungen ausgelöst, son-
dern durch möglichst unfehlbare Erkenntniss der Thatsachen be-
stinmit wird. Man sieht aber deutlich, dass gar keine andere
Ursache in letzter Instanz, warum man sich so oder so ent-
scheidet, angefllhrt werden kann, als das Gefühl, das hier ge-
wöhnlich Gewissen genannt wird.
Dies lässt sich durch indirecten Beweis völlig sicher
stellen; denn sobald man das Gefühl wegdächte, so hätte man
blosse Vorstellungsbilder, von denen das eine vor dem andern
gar keinen Unterschied an Werth und Beifall oder Missfallen
uiyiiized by VjOOQIC
Eintbeilnng der Functionen der Seele. 47
besässe, wovon also anch keins^ wie man sagt, gewählt oder
gewollt werden könnte, weil dieser Werth oder Beifall, oder
dieses Wählen nnd Wollen eben das Gefühl ist, welches wegge-
dacht werden sollte. Der Dieb sitzt gefangen, der Dieb ist frei,
er bricht in Dein eigenes Hans ein, der Mörder bringt Deine
Fran nm n. s. w., alle diese Gedanken würden völlig indifferente
Yorstellnngsyerkntipfangen sein, wenn wir kein Gefühl hätten
nnd nicht bei jedem dieser Gedanken sofort nns angenehm oder
schmerzlich bewegt fühlten. Wenn wir deshalb sagen, ich will,
dass der Dieb gefangen sitze; ich will nicht, dass er frei sei:
so bezeichnen wir bloss diejenige Yorstellungsverknüpfang als
unseren Willen, bei welcher wir jenes angenehme oder schmerz-
liche Gefühl hatten, and der sogenannte Wille ist also nur das
in den coordinirten Vorstellnngsyerknttpfnngen ausgedrückte und
dadurch beschriebene oder semio tisch angedeutete Gefühl. Das
Wesen des Willens ist aber nicht die Vorstellung, sondern das
zugehörige Gefühl, ohne welches die Vorstellung völlig gleich-
gültig wäre und bloss dem Erkenntnissvermögen zufallen würde.
Corollar: Der Grundbegriff der Jurisprudenz.
Wenn man bedenkt, wie gegenwärtig die bedeutendsten
Lehrer der Jurisprudenz an der Grundlage ihrer Wissenschaft
zweifelhaft geworden sind nnd das Wesen des Rechts nicht mehr
zu definiren wagen, so wird man diesen so merkwürdigen Zn-
stand einer so hoch ausgebildeten Wissenschaft begreiflich finden;
denn man hatte bisher das Gefühl nicht als die Grundlage dieser
Wissenschaft erkannt.
Da ich hier nur einen kleinen Seitenweg einschlage, um die
Fruchtbarkeit der neuen Theorie zu zeigen, so halte ich es für
angezeigt, auf die grosse juristische Literatur nicht näher
einzugehen; ich will nur eine Probe geben, indem ich aus dem
mit subtilen philosophischen Erörterungen reich ausgestatteten
und von einem feinen Kopfe herrührenden Werke „Irrthum und
Rechtsgeschäft von Zitelmann 1879^^ ein paar Stellen anflihre,
um zu zeigen, wie bisher überall sowohl in der Philosophie, als
in den Specialwissenschaften die Grundbegriffe unserer geistigen
Functionen in einem unerhellbaren Dunkel lagen, das selbst die
besten Köpfe nicht lichten konnten, so lange einerseits die Neben-
einanderstellung und Trennung von Gefühl und Wille fortdauert
uiuuizeu uy "V-j vy\J>t Iv^
48 Definition der Religion.
und andererseits die Bewegung, oder Handlung nicht als eigene
geistige Function aufgenommen wird.
Zitelmann sagt S. 36: ,^ie Selbstbeobachtung unterscheidet
sehr deutlich den Willensakt (Wollen, Wille) von andern
psychischen Akten, Air die wir den Namen Vorstellung und
Fühlen haben: er hat gar keine Aehnlichkeit mit diesen,
sondern ist etwas speci fisch von ihnen Verschiedenes. Zudem
bemerkt sie, dass jedesmal, dieser unbekannte psychische Akt X
(Willensakt) von einer körperlichen Bewegung gefolgt ist,
wohingegen die blosse Vorstellung, das blosse Fühlen für sich
noch keinerlei körperliche Bewegungen nach sich ziehen/^ —
Niemand wird leugnen, dass Zitelmann hier in scharfen und
klaren Linien die bisher in der Philosophie gültige Auffassung
der geistigen Functionen zum Ausdruck gebracht hat. Aber es
lässt sich gerade bei dieser Schärfe und Klarheit des Verfassers
nun auch die Verlegenheit der früheren Auffassung deutlich
zeigen.
Erstens sieht man, dass hiemach die Bewegung, die bloss
als körperliche gefasst wird, in das geistige Leben gar nicht
mit hineingehört, da sie nur eine äussere Folge bilden soll, wie
ja der Schatten kein Theil des Körpers ist. Es fehlt also bei
dieser Auffassung, wie ich oben erinnerte, die Möglichkeit, die
Kunstfertigkeiten und künstlerischen Functionen (im Denken,
Gomponiren und auch in den industriellen Arbeiten) und das Ar-
beiten überhaupt als eine Function des Geistes selbst zu ver-
stehen, so dass ein sehr grosser Theil des Seelenlebens, der
nicht dem Willen, also nicht der sittlichen und juridischen Sphäre
angehört, unbegriffen bleibt.
Zweitens tritt bei Zitelmann eine nothwendige Sophistik
hervor; denn wenn er S. 63 den Willen definirt: „Wille ist der-
jenige psychische Akt, durch welchen unmittelbar die motorischen
Nerven erregt werden," oder S. 97 „der Wille bringt unmittelbar
die körperliche Bewegung hervor," so ist doch einleuchtend, dass
die Unterlassungen keine Willensakte wären. Es kann nicht
helfen, wenn Zitelmann das Unterlassen des Schreiens beim
Ausziehen eines Zahnes als eine körperliche Bewegung nach-
weist, was wir ihm mit Vergnügen zugestehen wollen, ohne doch
die Sophistik dieses a minori ad majus schliessenden Beweises
weniger deutlich zu finden; denn wenn Jemand im moralischen
uiyiiized by VjOv
rQ.y
£intheilung der Functionen der Seele. Grundbegriff der Jurisprudenz. 49
oder juridischen Gebiet seine Pflicht zu thun unterlässt, so
liegt solche pflichtwidrige Unterlassung nicht in einer Erregung
der motorischen Nerven, deren Thätigkeit oder Unthätigkeit dabei
vielmehr gleichgültig ist oder erst in zweiter Linie Berücksich-
tigung verdient, sondern in einem Wollen, welches einen ganz
anderen Sinn hat, als bloss die Ursache von körperlichen Be-
wegungen zu sein.
Drittens ist einleuchtend, dass der Wille bei Zitehnann bloss
ein Name werden muss, der nur an einen Inhalt, an die eigent-
lich entscheidenden Geistesfunctionen erinnert, ohne selbst einen
Bestandtheil dieser Functionen zu bilden; denn zum Willen müs-
sen, damit er flir die Rechtssphäre etwas zu bedeuten habe,
erstens immer gewisse Absichten, Entschlüsse, also Erkennt-
nisse und Vorstellungen hinzugenommen werden und zwei-
tens muss der Mensch sich in seinem Gefühl dazu stellen, in-
dem er eine Unlust zu entfernen, eine Lust zu erreichen sucht
durch gewisse Bewegungen. Also kommt ein Wille, der bloss
Ursache von körperlichen Bewegungen wäre und qualitativ
weiter Nichts, in der Rechtssphäre gar nicht vor, und wenn man
die ftar alles Juridische entscheidenden drei Elemente hat, näm-
lich die bewusste Vorstellung des Thatinhaltes, die Stellung des
Geftihls (animi motus) und die Handlung selbst, so braucht man
diesen blossen Namen „Wille", der angeblich Ursache der motori-
schen Nervenerregung ist, gar nicht mehr. Wodurch sich zeigt, dass
Wille entweder überhaupt als elementare geistige Function iden-
tisch mit dem GefUhl ist, wie ich zu beweisen suche, oder ein
blosser Name, mit welchem man ein Conglomerat der eigentlichen
und elementaren geistigen Functionen zusammenfasst.
Ich will nun versuchen zu zeigen, wie der Ursprung des
Rechts aus dem Willen gleich einleuchtend wird, sobald man
das Specifische und Elementare der Willensfunction bloss als
Gefühl auffasst und die frühere Nebeneinanderordnnng und Tren-
nung von Wille und Geftthl fahren lässt.
Wenn ein Bauer einen Boden urbar macht und mit vieler
Mühe bedient, so wird er sicher ein Geflihl des Zornes und der
Entrüstung haben, wenn nachher ein Anderer kommt und die
Emdte wegführt. Demgemäss sagt man dann, er habe ein Recht
auf die Emdte, und der Andere sei im Unrecht, wenn er sie
heimlich oder mit Gewalt für sich wegnimmt, weil Jeder in
Teichmüller, RellglonBphiloeophie. ^,y 4^^ ^^ GoOQIc
50 Definition der Religion.
gleichem Falle das gleiche Gefühl haben würde. Wenn aber
z. B. nach Abführung der gefällten Bäume in einem Walde die
Armen kommen, um die liegen gebliebenen trockenen Zweige
davon zu tragen, so regt sich in dem Grundherrn kein Gefahl
des Zorns oder Unwillens, sondern er lässt es gleichmüthig ge-
schehen, weil die Arbeit des Aufsanmielns mit dem etwaigen
Verkaufswerth sich ausgleicht und ihm also weder Gewinn noch
Schaden dabei in Frage kommt. So sagt man dann, es sei kein
Unrecht, fremden Besitz in dieser Weise sich anzueignen, oder
die Armen hätten ein Recht auf diese Nachlese.
So wird man überall finden, dass immer, was in einem
Volke und in einer Zeit für Recht oder Unrecht gilt, auf dem
allgemeinen Beifall oder Missfallen, auf dem Gefühl der Befrie-
digung oder des Zorns und der Entrüstung beruht. Und zwar
ist der erste Grund alles Rechts immer die schmerzhafte
Erregung, also der Zorn; denn erst muss ein Unrecht hervor-
treten, ehe man den normalen Zustand, welcher keinen Zorn
erregt, als das Recht erkennen wird. Das Gefühl, welches den
Zorn balancirt, ist die Furcht; diese wird aber als mitwirkende
Macht der Rechtserzeugung in dem Privatrecht weniger bemerk-
lich, weil sich die Contrahenten im privatrechtlichen Verkehr
ziemlich in der gleichen Lage befinden und daher an Kraft und
Gefährlichkeit als nicht verschieden in Betracht konunen.
Genau denselben Ursprung, wie das Civilrecht, hat auch das
Staats- und Völkerrecht. Nur tritt hier noch das zweite Gefühl
zur näheren Bestimmung deutlicher hervor, ich meine die Furcht
Ein Grundherr verlange z. B. von den Bauern wöchentlich einige
Tage unentgeltlicher Arbeit. Natürlich werden sie darüber zürnen
und unwillig sein. Wenn er aber seine Bewaffneten schickt und
sie peitschen lässt, so wird das Gefühl der Furcht ihren Zorn
löschen, und es wird dem Grundherrn ein Recht auf diese Ar-
beitsleistung eingeräumt werden. Vermindert sich aber durch
Veränderung der Verhältnisse die Macht des Grundherrn, so
wirkt als vis inertiae noch eine Zeit lang die Gewohnheit weiter,
allmählich aber muss die Furcht aufhören und mithin der Zorn
und Unwillen wieder hervortreten, bis das Privileg abge-
schafft ist. Ebenso ruht alles Völkerrecht auf Handlungsweisen
der Völker, die sie ohne Erregung von Entrüstung im Verkehr
mit einander vollziehen können. Nur ist auch hier die Furcht
u.quizeauy Google
Eintheilung der Functionen der Seele. Grundbegriff der Jurisprudenz. 51
immer mit in Rechnung zu bringen; denn ein schwächeres Volk
erträgt ohne Zorn, was ein furchtloses grösseres Volk niemals
ertragen könnte. Je nach dem Geftihlszustande werden demge-
mäss die Verträge unter den Völkern abgeschlossen, wie z. B.
die Franzosen den Verlust von Elsass und Lothringen zuerst
nicht ertragen zu können schienen, während nachher durch Nach-
lassen Yon Nancy einerseits, andererseits durch Erregung von
Furcht der zu mächtige Unwille sich legte und das Becht durch
Friedensschluss festgestellt wurde. Sollte aber Deutschland durch
Coalition seiner Feinde einmal an Macht herabsinken, so würde
auch sofort die Furcht in Frankreich vermindert werden und die
Entrostung wieder wachsen und folglich der gegebene iriedens-
rechtliche Zustand als Unrecht empfunden werden, bis durch
Concessionen oder Krieg das Gefühl wieder beruhigt ist
Wollte man nun mit hochfahrendem Tone diese Begründung
des Rechts als subjectiv abweisen, da ja sachliche Gründe, be-
stinmite Zweckzusammenhänge und gewisse formulirte gesell-
schaftliche Verhältnisse immer als Principien vorhergingen, welche
dann beiläufig und nebensächlich auch etwa diese gleichgültigen
Gefühle erregten, so würde der Vorwurf der Subjectivität wie
ein Echo dem Rufenden wieder entgegentönen, da ja alle sach-
lichen Formeln keinen Schuss Pulver werth sind und keinen
Menschen zu irgend einer Handlung bestimmen, wenn sie kein
Gefühl erregen, d. h. gleichgültig sind. Wir erkennen aber die
Gefühle nicht durch irgendwelche sachliche Räsonnements, son-
dern ermitteln umgekehrt den Werth und den Inhalt aller Zweck-
zusammenhänge und aller objectiven Rechtssätze nach dem Gefühl.
Das, womit wir zufrieden sind, mag man objectiv formuliren
und in die Rechtsparagraphen aufiiehmen; wenn wir aber anfangen^
damit unzufrieden zu werden, so muss man es wieder abän-
dern und eine neue Rechtsordnung herstellen. Die jeweilige
positive Rechtsordnung ist nur der jeweilige objective und all-
gemeine Ausdruck für die Verhältnisse-, die wir ohne Zorn er-
tragen, und hat so viel Sicherheit, als mehr oder weniger Ge-
sellschaftsmitglieder dadurch zufrieden gestellt werden. Mehrt
sich die Zahl der Unzufriedenen, so kommt das Recht wieder
in Fluss. Mithin ist das Gefühl die Grundlage der Jurisprudenz.
Die positive Rechtswissenschaft hat deshalb die historischen
und überhaupt empirischen Coordinaten für das historisch und
u,(^t*euüyGOOQle
52 Definition der Religion.
überhaupt empirisch gegebene Gefühl aufzusuchen, die Rechts-
philosophie aber möglichst die apriorischen Formeln der Ver-
hältnisse zu finden, welche den zugehörigen Gefühlen coordinirt
sind. Die Definition des Rechts soll hier nicht gegeben werden,
weil wir erst das Wesen des Gefühls und seiner Arten, zu denen
ja auch das Gewissen gehört, genauer bestimmen müssten,
was hier zu weit abliegt; aber es folgt aus unsem Betrachtungen,
dass das Recht als apriorisches, unbekümmert um alle römi-
sche oder moderne Jurisprudenz zu dednciren und durch zwei
Constanten festzulegen ist, während die Definition des positi-
ven Rechts durch einen algebraischen Syllogismus eine Variable
zu construiren hat, welche durch eine Gonstante (nämlich das
apriorische Recht) und durch zwei Variablen (nämlich die varia-
blen Gesellschaf tszustände und die variablen persönlichen Geftihle)
determinirt wird.*)
*) Ein Romanist, dem ich obige Darlegungen mittheilte, erklärte sich
besonders dadurch befriedigt, dass hiermit, was durchaus erforderlich, das
Völkerrecht auf dasselbe Princip, wie das Privat- und Staatsrecht zurückge-
führt wäre, da die früheren Theorien das Völkerrecht immer abseits gelassen
hätten. Sodann machte er mich auf den Sprachgebrauch im Römi-
schen Recht aufmerksam, der mit meiner Auffassung merkwürdig über-
einstimmte, sofern das sentire, consentire und der tacitus consensus dort die
Grundlage des Vertrages und des Gewohnheitsrechts bestimmte, cf. Dig. 11
tit. 14. de pact. L. 1 § 2 Est autem pactio duorum pluriumve in idem pla-
citum oonsensus. § 9. 11 Inst, de jur. nat. (l. 2).
Obgleich die Frage hier nur ein nebensächliches Interesse hat, so er-
laube ich mir doch ein paar Worte über das Resultat, das sich mir aus
meiner darauf angestellten Untersuchimg ergeben hat, mitzutheilen. Wenn
man nämlich die lateinischen Definitionen der .Römischen Juristen genau
interpretirt, wie wir dies bei unserem Aristoteles gewöhnt sind, so kann man
weder die Auffassung Röver's und Zitelmann's annehmen, wonach der Con-
sensus nur eine „innerliche Willensübereinstimmung" oder ,,Ueberein8tim-
mung der Absichten" wäre, noch die Interpretation Leonhard's (Vergl. „Der
Irrthum bei nichtigen Verträgen" 1882 I § 2), wonach „der Consensus nichts
Innerliches, sondern ein Aeusserliches'* sei; denn so sehr Leonhard Recht
hat, die äusserliche tmd sinnliche Darlegung und Handlung bei diesem Be-
griffe zu betonen, so verhält es sich doch dabei wie bei jeder symbolischen
Handlung, bei der Sprache und bei jedem Zeichen, dass nämlich alle Zeichen
(a*r]{Uia) etwas bedeuten und dass man deshalb bei dem Consensus als
immerhin äusserlicher Manifestation doch nicht von dem, was dadurch mani-
festirt werden soll, absehen kann, ebensowenig wie bei den Worten von dem
Sinn, den sie durch articulirte Töne andeuten. Mir scheinen deshalb von
den beiden streitenden Parteien, die ich nach Leonhard angeführt habe, beide
.uy Google
Eintheilung der Functionen der Seele, Grundbegriff der Jurisprudenz. 53
Ich möchte noch eio Wort über das Obligirende ^^^^ '™
im Recht hinzufügen. Es ist nämlich eine blosse Un-
klarheit, wenn man in dem Zwang des Rechts einen ganz be-
sonderen Zauber sieht, der das Recht von der Moral unterscheide.
Diese zwingende Kraft stammt aber ganz einfach aus denselben
Geftlhlen, die das Recht erzengen. Wenn nämlich eine Hand-
lungsweise die allgemeine Entrüstung der massgebenden Ge-
sellschaftsmitglieder hervorrufen würde, so weiss man wohl, dass
aus diesem Gefühl energische Reactionen entspringen müssten,
und geräth deshalb in Furcht
je ein Moment der Sache zur Hauptsache zu machen. Soweit der Gegenstand
principieller Natur und auch die Methode der philologischen Interpretation
allgemein ist, so darf ich mir ein eigenes Urtheil zutrauen.
Für mich ist nun besonders interessant, dass in den zugehörigen Defi-
nitionen der letzte Rechtsgrund des Vertrages auf den consensus in dem
Sinne zurückgeführt wird, dass bei den von beiden Contrahenten vorge-
stellten Dingen (Bedingungen der Uebergabe, des Umtausches, des Han-
delns und Leidens u. s. w.) immer das Gefühl in beiden zufrieden ge-
stellt wird, so dass keiner von beiden etwa mit dem Modus des Geschäfts,
der dann auch in der Declaration durch äusserliche Handlung dargestellt
wird, unzufrieden wäre.
Auf diese Weise ist es ganz in die Augen fallend, dass wirklich das
Gefühl (Zufriedenheit, Unzufriedenheit) sich als Princip herausstellt. Ich
citire nur ein paar Belegstellen, indem ich die entscheidenden Wörter her-
vorhebe:
L. 7 § 19 dig. de pactis 2, 14 Ulpianus: Hodic tarnen ita demum pactio
hujusmodi creditoribus obest, si convenerint in unum et communi con-
sensu declaraverint, quota parte debiti contenti sint; si vero dissentiant
cet. Das entscheidende Wort ist contenti, d. h. negativ: keiner von beiden
Contrahenten ist unzufrieden, hat ein Gefühl der Unlust oder der Entrüstung.
Also ist es ein in idem placitum consensus, wobei placitum theils das Ge-
fühl (placere, plaisir), theils den vorgestellten Inhalt der Abmachung be-
deutet, bei welchem dies Gefühl entspringt.
L. 55 dig. de obligat, et action. '14. 7. (Javolenus). In omnibus rebus,
quae dominium transfcrunt, concurrat oportet affectus ex utraque parte con-
trahentium. Nam sivc ea conditio, sive donatio, sive conductio, sive quaelibet
alia causa contrahendi sit, nisi animus utriusque consentit, perduci ad
effectnm id quod inchoatur, non potest. Hier ist also das Gefühl (affectus
und animus) der Befriedigung von beiden Seiten ebenfalls anerkannt,
ohne welches die äusserliche Darlegung oder die blosse Vorstellung keinen
Vertrag bilden kann. Dasselbe liegt in der Definition der Conventio in L. 1
§ 3 Dig. de pactis 2. 14: qui ex diversis animi motibus in unum con-
sentiunt.
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54 Definition der Religion.
Dergleichen Handlungen werden also, auch wenn man grosse
Lust dazu hätte, unter dem Zwange dieses Geflihles unter-
lassen; denn es werden die Executivorgane der Gesellschaft
dem alle Bewegungen des Menschen bestimmenden Geftlhle mit
seinem Bechtsausdruck zur VerfUgung gestellt, um alle missfal-
lenden Handlungen nicht zu dulden. Das Recht hat daher
eine obligirende Kraft, weil es der in den Formen des Erkennt-
nissvermögens gegebene Ausdruck der in dem massgebenden
Theile der Gesellschaft herrschenden GefUhle ist Die Ent-
rüstung der massgebenden Gesellschafl»gruppe bestimmt die Be-
wegung, erregt in den anders ftlhlenden Gesellschaftsgliedem die
entsprechende Furcht und erzwingt daher auch in ihnen eine
Auslösung von Handlungen und Unterlassungen, welche aus dem
freien Process ihres Seelenlebens nicht hervorgegangen wären.
Der BegriflF Zwang bedeutet daher eine Handlungsweise, die der
Unlust und nicht dem Beifall coordinirt ist Während die mass-
gebenden Theile der Gesellschaft in dem Recht nach Möglich-
keit nur den Ausdruck dessen formuliren, was ihnen beliebt, und
für sie daher das Recht keinen Zwang bildet, das dem Recht
Widersprechende vielmehr ihre Entrüstung hervorbringt, so müssen
umgekehrt alle diejenigen in dem Recht einen Zwang anerkennen,
welche den Inhalt dessen, was ihnen geftlUt, anders formulieren
würden, und daher nur ungern und aus Furcht das thun, was
das Recht gebietet.
Aus diesem Grunde ist auch die zwingende Kraft des Rechts
variabel, wie jeder aus Erfahrung weiss. Die Geftlhle nämlich,
welche den jederzeit gegebenen Gesellschaftsverhältnissen ent-
sprechen, sind ein lebendiges und also variables Element, wäh-
rend die aus ihnen entspringenden Rechtsformulirungen und
Institutionen kein eigenes Leben haben, .sondern als abstracto
Symbolisirungen in den Formen des Erkenntnissvermögens noth-
wendig starr und mit sich identisch bleiben müssen. Wenn des-
halb im Laufe der Zeit die lebendigen Gesellschaftszustände sich
ändern, so sehen die Unerfahrenen mit, die Klügeren aber ohne
Erstaunen, dass das bisher geltende Recht allmählich oder plötz-
lich seine obligative Kraft verliert, bevor es auf dem legitimen
Wege aufgehoben oder, wie man sagt, „ausser Kraft gesetzt"
wurde; die Ursache seiner natürlichen Entkräftung liegt aber
darin, dass die Entrüstung nicht mehr hinter ihm steht und
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Eintbeilimg der Functionen der Seele Grundbegriff der Jurisprudenz. 55
Niemand den Zwang auszuüben sich geneigt fühlt, wie auch
kaum Jemand noch in Furcht vor dieser früher zwingenden
Autorität sich beugt. Der Zwang im Recht hat also seinen
Ursprung in den natarlichen Machtverhältnissen der Gefbhle, von
denen alle Bewegungen und Handlungen der Menschen abhängen,
und ist in allen Stücken, in der Ausübung überhaupt und in
dem Modus derselben und im Strafinass durchaus seinem Ur-
sprung gemäss variabel.
Daher kommt es, dass die Gränzen zwischen Moral
und Becht fliessende sind*); denn wenn z. B. die überwältigende
Mehrheit der Gesellschaftsglieder sogenannten moralischen oder
religiösen Gefühlen leidenschaftlich unterworfen sind, so wird
sofort, was man sonst dem moralischen oder religiösen GeftihI
in Freiheit überliess, zu einem zwingenden Rechtstitel, und der
*) Einen scharfen Ausdruck findet diese Unsicherheit der Jurisprudenz
über ihr Princip in der Rede von Edgar Löning (jetet Professor in Rostock),
die im Jahre 1879 von der Universität Dorpat publicirt wurde. Indem er
darlegt, weshalb (S. 5) „ganz ähnlich wie die Naturwissenschaft sich heute
auch die Rechtswissenschafb wieder veranlasst sieht, zu der lange gering
geschätzten Philosophie zurückzukehren", unterwirft er in historischer Über-
sicht alle firüheren deutschen, französischen und englischen Theorien einer
scharfen Kritik, behält aber die Lösung der Aufgabe der Zukunft vor, weil,
wie er sagt (S. 28), „die Erkenntniss der tieften Grundlage des Rechtes
nicht möglich ist, bevor nicht der Zusammenhang zwischen Recht
und Moral aufgedeckt ist."
Auch in der neueren Arbeit von Dilthey (Geisteswissensch. I. S. 68 ff.)»
wo er sagt: „das Recht ist ein auf das Rechtsbcwusstsein als eine
beständig wirkende psychologische Thatsache gegründeter Zweckzusammen-
hang**, finde ich nur den Ausdruck der Schwierigkeit, aber keine Lösung
des Problems; denn wenn man schon wüsste, was das Rechtsbewusstsein ist,
danii würde kein Mensch mehr eine Erklärung des Rechts suchen. — Über-
haupt arbeitet Dilthey mit den sogenannten Thatsachen, als wären es Er-
klärungsgründe und nicht blosse Probleme. Die ganze Welt aber ist eine
Thatsache und trotzdem die Wissenschaft von der Welt erst in den An^gen.
Psychologische Thatsachen aber sind, wenn auch von vornehmerem Stande,
dennoch nicht der Legitimation enthoben, sondern vor dem Gesetze der
Wissenschaft gleich. Alle Thatsachen sind wie Sätze, die das Kind und der
unbefangene Redner ausspricht, ohne die darin verborgene Gonstruction
mannigfaltiger Elemente zu bemerken; der pedantische Grammatiker aber
löst den Satz in die Satztheile, ihre elementaren Formen und ihre Verbin-
dungen auf. Darum sehe ich nicht, wie man eine Wissenschaft auf sogenannte
Thatsachen begründen kann, die doch bloss Probleme aufgeben, aber nichts
erklären und beweisen.
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56 Definition der Keligion.
Dreieinigkeitsleugner muss in's Feuer springen, wie der Plnder-
hosenliebhaber in's Geiängniss kommt, weil die Entrüstung der
ausschlaggebenden Gesellsehaftsglieder die Äusserung solcher
Gedanken und die Ausübung solcher Handlungen nicht dulden
kann. Die Zwangskraft des Rechts bildet deshalb keine inhalt-
liche Gränze gegen die Moral, sondern bloss eine historische,
indem es immer von dem jeweiligen Gesellschaftszustande und
den coordinirten variablen Geflihlen abhängt, was in die Sphäre
des Rechts und was in die Moral gehört. Wer da eine inhalt-
lich bestimmte Gränze sucht, der könnte auch gewiss an der
Küste der Nordsee eine Linie ziehen, bis zu welcher das Meer
in jedem Augenblicke reicht, über welche es nie hinausgeht und
hinter welcher es nie zurückbleibt. Recht und Moral ist viel-
Eine Lösung unseres Problems konnte Dilthey aber schon aus dem
Grunde nicht finden, weil er die bisherige Eintheilung der geistigen Functionen
in seine Denkweise hinübemimmt und deshalb überall vom Wollen, Fühlen,
Vorstellen spricht und den Menschen schlechtweg immer als „wollend
fühlend vorstellendes Wesen" bezeichnet. Denn bei dieser Dreitheilung
fehlt erstens die Function der Bewegung oder Handlung und damit zugleich
die Möglichkeit, die Kunst unter die geistigen Processe aufzunehmen; und
zweitens kann der Wille, da er neben das Fühlen (mit welchem er in
Wahrheit identisch ist) gestellt wird, nur zu einer höchst mysteriösen Per-
sönlichkeit werden, in welcher etwas Gefühl vorkommt, die auch etwas
vorstellt, da sie Absichten hat, und die endlich auch Handlungen verübt.
Der Wille muss also im Geheimen die Elemente der drei von mir angegebenen
Functionen auftiehmen, und jeder Autor, der das Wollen neben das Fühlen
stellt, also etwas Nichtvorhandenes in Reih und Glied einordnet, wird immer
freiwillig oder unfreiwillig den Schleier der Unklarheit Über diese Maske
werfen, weil er einen complicirten Process mit einer elementaren Function
verwechselt.
Dass ich Dilthey*s Richtung, die durch die Parole des modernen
Positivismus und Skepticismus charakterisirt wird, nicht für gesund halte,
ist selbstverständlich; denn aller Zweifel an der Wissenschaft überhaupt ist,
wie bei Agrippa ab Nettesheini , Symptom eines nicht genügenden Gebrauchs
unserer Denkfunctionen. Wenn deshalb Dilthey als Parole ausspricht: „alle
Wissenschaft ist Erfahrungswissenschaft", um bloss mit sogenannten That-
Sachen ohne Begriffe operiren zu dürfen und die Philosophie aus der Welt
zu schaffen, so kann ich diese Beschränkung des Allgemeinen auf das Specielle
nur far einen Scherz halten , da dieser Satz , als ein Oxymoron, selbst ja die
Erfahrung übersteigt, also speculativ ist, und doch die Speculation be-
seitigen will. Es ist so, wie wenn ein Heir beim Bezahlen ausriefe: „alles
Geld ist Papiergeld" und dann zum Spass ein falsches Markstück auf den
Tisch würfe.
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Eintheilung der Functionen der Seele. Grundbegriff der Jurisprudenz. 57
mehr dem Begriffe nach ganz ein und dasselbe; nur ist man
gewöhnt, dasjenige £echt, welches für den Einzelnen oder
die Gesellschaft aus dem apriorischen Verhältniss der Gefühle
specnlativ abgeleitet werden kann und welchem sich daher die
Gesinnung der höher und feiner entwickelten Mitglieder der Ge-
sellschaft mehr oder weniger annähert, vorzugsweise Moral zu
nennen, während man im Änschluss an die geschichtliche Aus-
drucksweise im Staatsleben den Inbegriff der lebendig geltenden
Bestinunnngen, welche die empirisch gegebene Gesinnung der
massgebenden und deshalb herrschenden Gesellschaftsgruppe con-
stituiren, schlechtweg als Recht bezeichnet. Obgleich daher das
Recht oder die Moral im ersten Sinne ebenso zeitlos und unver-
änderlich ist, wie die mathematischen Verhältnisse der Zahlen
und der Raumfiguren, so spricht man doch in Rücksicht auf die
empirisch und geschichtlich gegebenen und variablen Gesinnungen
der Einzehnenschen und der Staatsgesellschaften von einer
Variabilität und Ent Wickelung der Moral und des Rechts, und
aus diesem Grunde wird der Gegensatz zwischen Moral und
Recht niemals aufhören und die Gränze zwischen beiden nie-
mals endgültig aufgehellt werden können, weil man mit zwei
continuirlich variablen Grössen zu thun hat, da sowohl das augen-
blicklich geltende Recht als die augenblicklich in den besseren
Elementen der Gesellschaft gegebene Gesinnung nur eine augen-
blickliche Feststellung erlaubt, während die Thür zu weiterem
Fortschritte schon offen steht.
Genau dem Ursprung des Rechts entsprechend,
findet deshalb auch seine sogenannte Entwickelung aechta-
statt. Diese Entwickelung wird aber nur in meta-
phorischem Ausdruck auf das juristische Recht selbst bezogen,
welches viehnehr als der von dem Erkenntnissvermögen formu-
lirte Ausdruck ein an sich lebloses, weil bloss semiotisches
Element ist. Eine Analogie mag dies verdeutlichen. Wenn ein
Mensch erst erfreuliche und dann schmerzliche Nachrichten erhält,
so wechselt jedesmal sein Gefühl, und es coordiniren sich diesem
Gefühl entsprechend die Bewegungen, welche den Gesichtsausdruck
hervorbringen. Nun entwickeln sich aber nicht im eigentlichen
Sinne die Gesichtsausdrücke auseinander, sondern die neuen Muskel-
bewegungen stammen aus den neuen Gefühlen her und nur, weil
die früheren Bewegungen in dem bisherigen Autdm^ -äts- €k-
-•' • .< X "^ ' 'j '.^ -" 'üy" ^^-^ OOQ IC
58 Definition der Religion.
sichts noch fortdauerten, so wird auch der neue Ausdruck sich,
wie hei dem Parallelogramm der Kräfte, theils nach dem neuen
Bewegnngsantrieh, theils nach der noch bestehenden Form richten.
Genau nach dieser Analogie ist da^i Recht aufzufassen einmal
nach der realen Seite als der iixirte Bewegungszustand oder
die lebendige Kraft aller in der Gesellschaft gegebenen Be-
wegnngstendenzen, andererseits als der diesen Zustand semiotisch
in Erkenntnissform ausdrückende Begriff, der irgendwie als
bekannter Gebrauch oder in geschriebenem und publicirtem Aus-
druck oder in Lehrbüchern niedergelegt werden mag. Die Bechts-
entwickelung trifft aber zuerst die den variablen äusseren Ver-
hältnissen entsprechenden Gefühle, in zweiter Linie den sich
entsprechend diesen Gefühlen coordinirenden Bewegungs-
zu stand und erst in dritter Linie den formulirten Ausdruck
desselben in Bechts begriffen. Die Veränderung derselben ist
deshalb unmöglich eine rein inmianente, weil die Begriffe selbst
an sich identisch und unveränderlich sind, und das Denken nur
durch Hinzunahme neuer empirischer Beziehungspunkte den Grund
zur Hervorbringung neuer Erkenntnisse oder Begriffe findet.
Nur darf man nicht glauben, als wenn das Massgebende in
der Rechtsbildung und Rechtsentwickelung die sogenannte Ma-
jorität wäre. Wie die kleine und dünne Nadel, die man
zwischen die Rippen in das Herz sticht, den grössten Menschen
tödtet, so sind auch in der Natur die Bewegungserscheinungen
nicht an die Anzahl der Elemente gebunden, sondern von compli-
cirten Bewegungsbedingungen abhängig, wie man ja auch an
einem langen Hebelarm mit Einem Finger die grössten Massen
aufheben kann. Daher ist das Ausschlaggebende im Recht,
welches, wie wir sahen, einen Bewegungsorganismus oder auch
bloss eine sociale Maschinerie ausdrückt, zuweilen ein einzelner
Mensch, zuweilen eine Anzahl Familien, zuweilen die grosse
Masse. Wie die obligatorische Natur des Rechts zuweilen auf
den Volkswillen, d. h. auf dasjenige, womit die Menge sich be-
friedigt fühlt, zurückgeflihrt wird, so zuweilen auf das Belieben
oder das Vergnügen eines einzelnen Herrn (car tel est notre
plaisir), während das Gegentheil die Entrüstung der Menge oder
des Herrn hervorrufen würde.
Da nun die Gesellschaft allmählich eine äusserst complicirte
Maschinerie entwickelt, so ist es auch begreiflich^ dass die
u.quizeauy Google
Eintheilung der Functionen der Seele. Grundbegriff der Jurisprudenz. 59
Kenntniss von dem ausschlaggebenden und also rechtsbildenden
und rechtsentwickelnden und obligirenden Princip nicht immer
Allen zukommen kann, weshalb es denn wieder sehr begreiflich
ist, dass das Obligatorische im Recht einen mysteriösen Cha-
rakter bekommt, dem die Meisten sich beugen, während zu-
weilen erst durch eine Rebellion enthüllt werden muss, woher
eigentlich das Recht stammt und welches Princip bisher die
Zwangsmacht bildete und welches neue Geftlhl jetzt die sociale
Bewegung dirigirt.
Die Rechtsentwickelungs-Geschichte ist deshalb äusserst
schwierig, und sie hat nothwendiger Weise zwei ganz verschiedene
Principien. Das eine Princip ist rein historisch und beruht
auf del* Kenntniss der gesellschaftlichen Zustände und ihrer Ver-
änderung; das andre Princip ist apriorisch oder speculativ
und besteht in der Psychologie und Ethik, d. h. in der Wissen-
schaft von den Geftihlen und ihren Werthunterschieden« Da nun
die Geflihle, die wir hier im Allgemeinen als Furcht oder als
Entrüstung bezeichnen, nicht alle untereinander gleichartig sind,
sondern eine Reihe qualitativer Unterschiede durchlaufen, die
einem immer umfassenderen ideellen Objecto entsprechend einen
immer höheren Werth darstellen, so ist es auch möglich, dass
die Rechtsentwickelungsgeschichte nicht bloss gleichgültige Ver-
änderungen zu registriren braucht, sondern einem sich verfeinern-
den sittlichen Geftlhle entsprechend auch eine Entwickelung in
eigentlichem Sinne wenigstens in einigen Perioden der Geschichte
erforschen kann.
Synthetische Methode.
Wie nun musikalische Naturen sich nicht leicht genug thun
können im Anhören und Ausüben der Musik, so versteht es sich
von selbst, dass wir als Philosophen von einer ganz unersätt-
lichen Passion für Beweise und Methoden und ftlr alle Mittel
und Wege, die Wahrheit zu erforschen, ergriffen sind. Wenn
deshalb der neue Lehrsatz, dass Wille und Geftlhl dasselbe ist,
auch durch die analytische Methode genügend bewiesen zu sein
scheinen möchte, so wollen wir doch gern unserer Neigung, die
flir uns Pflicht ist, gehorchen und auch noch den umgekehrten
synthetischen Weg versuchen, um zu sehen, ob wir auch genau
bei demselben Ziele herauskommen werden. Wie wir vorher
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60 Definition der Religion.
vom Willen ausgingen and. auf allen Wegen das Gefühl fanden,
so müssen wir jetzt von dem Gefühle ausgehen und auf den
Willen herauskommen. Synthetisch heisst diese zweite Methode,
weil wir zu dem Gefühle gewisse nicht wesentliche Beziehungs-
punkte hinzunehmen müssen, damit der durch die Sprache irre-
geleitete Verstand bei dieser Mischung leichter erkennt, dass das
Gefllhl der sogenannte Wille ist. Wir setzen dem Dinge also
gewissermassen nur einen Hut auf; dann weiss Jeder gleich,
dass es ein Mann ist, obgleich der Hut keinen wesentlichen Theil
des Mannes bildet.
Die hinzuzunehmenden Beziehungspunkte sind uns aber durch
unsere Methode, die ein Coordinatensystem voraussetzt, fest vor-
geschrieben, da das Gefühl in der Mitte steht zwischen den aus-
lösenden Vorstellungen einerseits und den Bewegungen der
zugeordneten ausführenden Organe andererseits.
Die erste Synthesis bezieht sich also auf Ge-
Erste Syuihcsis. __, -,,x ^, -r^r-ii i tt
ftlhl und Vorstellung. Den Schmerz oder die Lust
für sich allein hält das gewöhnliche Bewusstsein der Menschen
nicht für einen Willen; sobald aber die zugehörige Vorstellung
hinzugefügt wird, ist der Wille da. Z. 6. nach Italien reisen
als blosse Vorstellung ist kein Wunsch oder Wille; sobald aber
bei dieser Vorstellungsverknüpfung in dem vorstellenden Subjecte
Lust entsteht, sagen wir, er hat den Wunsch, dahin zu reisen,
oder geradezu auch: er hat Lust dazu. Treten andere Vor-
stellungen hinzu, die sich auf die Kosten, die Entfernungen, die
hindernden Berufspflichten und dergleichen beziehen, so vermin-
dert sich vielleicht die Lust und es hört die Bewegung im Denken
auf, welche man das Plänemachen und die Ueberlegung zur That
nennt. Die Grade und Arten des Willens werden daher durch
die immer enger und bestimmter zur Bealisirung oder Vermitte-
lung erforderlichen Vorstellungscombinationen ausgedrückt und
der sogenannte Zweck ist die ideelle Goordinate des Gefühls,
d. h. die Vorstellung, bei welcher man das Gefühl der Lust in
erster Linie hat. Da nun das synthetische Ganze von Jeder-
mann in diesem Falle ein Begehren oder Wille genannt wird,
die hinzugenommenen Vorstellungen selbst aber kein Wille sind,
so muss der Wille in dem Gefühle liegen.
Um dies nicht einzuräumen, könnte man zwei andere An-
nahmen versuchen, erstens die, dass der Wille zwar nicht in der
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Eintheilang der Functionen der Seele. 61
Vorstellung und nicht im Gefllhl, aber doch in der Synthesis
beider liege, wie z. B. das Messing zwar nicht Kupfer und nicht
Zink, aber doch die Synthesis beider ist Allein dieser Versuch
würde sich als eine Gedankenlosigkeit herausstellen; denn das
Messing ist ein neuer Körper mit anderen Eigenschaften als
denen der Componenten; die Synthesis von Vorstellung und Ge-
fühl giebt aber nichts Neues und von den Goordinaten Verschie-
denes, da das Gefühl ja überhaupt ilir sich gar nicht abgelöst
werden kann, sondern erst bei der Vorstellung entspringt und
daher von Haus ans in der Synthesis mit der Vorstellung steht,
sofern es in Coordination mit den Vorstellungen so oder so func-
tionirt. Vorstellung: abreisen: Lust; Vorstellung: nicht reisen
können: Unlust
Die zweite Annahme, die man versuchen könnte, bestände
in der Ansetzung eines unbekannten X, welches in der Synthesis
mit der Vorstellung das Gefühl als sein Prodnct erzeugte. Jenes X
wäre dann der Wille. Dies Hesse sich hören, wenn das X durch
irgend eine Gedankenoperation bekannt werden könnte. Wollte
man nun etwa sagen, es sei X ein gewisses „Streben^', so
hätte man sich eines doppelten Fehlers schuldig gemacht Denn
erstens ist das „Streben^^ ein weniger bekanntes Phänomen als
das Gefühl,- und man hätte also obscura per obscuriora erklärt.
Zweitens aber müsste man fragen, wodurch wir zu diesem „Stre-
ben'^ veranlasst werden könnten; denn ohne Ursache und Grund
wird man doch nicht streben. Es würde sich dann zeigen, dass
Lust oder Schmerz alles Streben veranlassen und dass uns also
effectus pro causa angeboten wurde. Das Streben bedeutet eben
nichts anderes, als die von der Lust an einer vorgestellten Sache
angeregte Bewegung in den Bewegungsorganen, mit denen ja
das Gefühlsvermögen in Coordination steht
Ich denke also, man muss sich dabei beruhigen, dass die
Geflihle gerade das sind, was wir eigentlich meinen, wenn wir
von unserem Willen sprechen, indem wir die vorgestellten Dinge,
um die Coordination mit dem Gefühl oder Willen auszudrücken,
sprachlich in bestimmten Formen bezeichnen, wie z. B. mit dem
Imperativ: leb' wohl, stirb; mit dem Optativ, oder mit den be-
kannten Hülfsverben, oder durch die finalen Partikel, oder durch
sonstige Formen des Heischens, wie z. B. ad mit dem Gerun-
dium, oder durch das Supinum u. s. w. Denn alle diese Formen
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g2 Definition der Betigion.
sollen nichts anderes thnn, als den Inhalt der Vorstellung auf
unser Gefühl beziehen, sofern wir das, was dabei vorgestellt
wird, gern oder ungern sähen, Lust oder Unlust dabei empfsLnden.
Zweite Unsere zweite Synthesis besteht darin, zu zeigen,
synthesifl. dass diejenigen, welche in dem blossen Geftlhl den
Willen nicht leicht erkennen können, ihre Zustimmung nicht
verweigern, sobald mau zu dem Gefühl das ihm nicht wesent-
liche, aber zugeordnete Element der Bewegung hinzufligt.
Die Bewegungserscheinungen werden nämlich nothwendig zuerst
bemerkt, weil das Gefühl sich nur dem Fühlenden selbst offen-
bart, die durch das Gefühl ausgelösten Bewegungen aber in die
Sinne fallen, und so hat man ganz natürlich den Willen auch
zuerst sinnlich an seinen Aeusserungen gefasst und als Suchen
oder Fliehen, Begehren, Gieren oder Verabscheuen, sich von
etwas abwenden u. s. w. bezeichnet. Diese Handlungen oder
Bewegungen sind aber bloss Zeichen für die Modificationen
unseres Gefühls und geben an sich ebensowenig den Willen an,
wie die Marionetten durch ihre Bewegungen das Leben. Der
an die feinere Analyse nicht herantretende Verstand fasst des-
halb das Gefühl und die Bewegung wie ein Ganzes zusammen
als Willen, und so ist indirect und synthetisch bewiesen, dass
das Gefühl, welches die an sich gleichgültigen 'Bewegungs-
erscheinungen erst zu Willensäusserungen macht, eigentlich und
wesentlich der Wille selber ist.
Unter Bewegung oder Handlung meine ich hier aber
ganz allgemein das, was ich in meiner Grundlegung der Meta-
physik als das reale Sein nachgewiesen habe. Darum sind
die Bewegungen durchaus nicht auf das sogenannte Gebiet der
Sinne und speciell des Gesichts- und Tastsinns beschränkt und
nicht bloss räumlich, sondern beziehen sich auf alle Gebiete
der Realität
Man braucht aber nicht gleich die einzelnen elementaren
Akte der Bewegung aufzusuchen; da nämlich jedem Akt ein an-
derer Akt coordinirt ist und so fort, so wird eine Bewegung oft
erst bei sehr entfernten Bewegungsgliedem wahrgenommen, wie
z. B. das Lachen erst aus den Gesichtszügen oder dem zuge-
hörigen Lachgeräusch, obgleich diese letzteren Effekte eine lange
Kette von Zwischengliedern voraussetzen und die ersten Akte,
welche der komischeu Vorstellung entsprechen, gar nicht wahr-
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Eintheilung der Functionen der Seele. 63
nehmbar sind. Zweitens wird man zu erwägen haben, dass viele
Akte stattfinden können, ohne dass irgend eine sogenannte Ver-
änderung als ideelles Sein bewusst wird, indem erst eine be-
stimmte Anhäufung von einzelnen Akten einen sogenannten
psychischen Effekt erzielt. Drittens darf man nicht vergessen,
dass die Zeit überhaupt nur ideelle Ordnungsform ist und daher
alle Akte zeitlos bestehen bleiben, auch wenn man sich ihrer
nicht mehr bewusst ist Hieraus erklärt sich die Entstehung
der sogenannten lebendigen Kräfte oder Kraftmagazine, deren
Macht sich nur gelegentlich zeigt, wie z. B. erst beim Abspringen
aus dem Wagen die lebendige Kraft, mit der man vorwärts ge-
gangen war, durch den Fall bemerklich wird.
Nach diesen Vorerinnerungen wird es nun verständlich sein,
dass die Bewegungen, welche unserem Gefühl coordinirt sind,
sich nicht bloss in den in die Augen fallenden körperlichen Ver-
änderungen zeigen, sondern auch in dem sogenannten Vorstellen
und Denken verfolgt werden müssen. Diese zweite Sphäre der
Bewegung verdient deshalb eine besondere Beachtung, weil sie
bisher noch keine geftmden hat. Das Denken enthält nämlich,
abgesehen von seinem ideellen Inhalte, eine bestimmte Reihen-
folge von Akten, die eine bestimmte Einübung, ein Können, eine
Kunst verlangen. Darum mag Jemand einen Lehrsatz seinem
ideellen Inhalt nach verstanden haben, er kann ihn darum aber
noch nicht in kunstmässiger Gedanken-Bewegungentwickeln,
was vielmehr erst durch Schulung erreicht wird. Die Pädagogen
haben dies in praxi schon längst seiner Wichtigkeit nach er-
kannt, indem sie zwischen „Können'* und „Wissen" unterscheiden,
aber man hat bisher nicht die dritte Function des Geistes darin
gesehen, sondern sich mit einer blossen Analogie mit dem Ge-
schehen in der Sinnenwelt abgefunden, als wenn solche Analo-
gien überhaupt gestattet wären, wenn die Analoga nicht der
Gattung nach identisch wären.
Ebenso werden zweitens die einzelnen Akte des Vorstellens
durch gewisse Maschinentheile, die nicht fehlen dürfen, mit ein-
ander vermittelt, und dies geschieht besonders durch die Sprache,
welche als ein System von Maschinentheilen- oder Agitationsmit-
teln und reell ^ wie ideell vermittelten lebendigen Kräften ange-
sehen werden kann. Dass die Sprache an sich sinnlos ist, d. h.
kein ideelles Geftige enthält, wird ja Jedermann, der eine ihm
u.quizeauy Google
g4 Definition der Religion.
fremde Sprache hört, völlig evident finden, weil er eben bei dem
Gehörten nichts denkt und vorstellt Gleichwohl kann darch
Aneignung dieses sprachlichen Bewegungsapparates das Denken
zu einer bestimmten Reihenfolge der Auslösung des ideellen Seins,
d. h. der Vorstellungen, veranlasst werden.
Dass nun beide geistigen Functionen, die Erkenntnissthätig-
keit und die Bewegung des Denkens, trennbar sind, lässt sich
schon daraus erkennen, dass man Verse und Formeln ganz ge-
dankenlos hersagen kann, wobei sich also der Bewegungsapparat
von dem Denkinhalt reinlich flir unsre Distinction abtrennt; denn
man kann umgekehrt auch bei jedem Akte, d. h. hier bei jedem
Worte, den zugehörigen ideellen Inhalt auffassen und dann zu
neuen Gedanken kommen oder frtthere Gedanken reproduciren.
Alles dies muss man erwägen, wenn man die neue Lehre,
welche ich hier vorlege, prüfen will; denn wie der Erkenntniss-
inhalt sich von den Bewegungsakten abtrennen lässt, so auch
die Gefühle oder Wollungen. Für den Dialektiker ist die Di-
stinction leicht; es lässt sich aber auch zeigen, dass in concreto
wegen der eigenthümlichen Maschinerie in dem Bewegungs-
apparat manche Bewegungen der Extremitäten und des Herzens
und manche Äusserungen in Worten hervortreten können, die nur
als seelische Reflexbewegungen aus dem erworbenen mechanischen
Zusammenhang der Akte, nicht aber aus den augenblicklichen
Gefühlen erklärlich sind; denn sie geschehen oft ohne und gegen
unseren Willen und erregen rückläufig unangenehme Gefühle, wie
z. B. angewöhnte Bewegungen, welche Anstoss erregen, oder
zweideutige Wörter, deren zweiten Sinn wir erst, nachdem sie
gesprochen, hinterher bemerken. Keine Bewegung freilich, die
von der Seele ausgeht, kann erfolgen ohne ein coordinirtes Ge-
fühl, das jedoch durchaus nicht immer zu Bewusstsein zu kommen
braucht; denn auch jene aus der allmählich entstandenen psy-
chischen Maschinerie hervorgegangenen unfreiwilligen Be-
wegungen sind ursprünglich durch ein GefUhl ausgelöst und
erst dann in den psychischen Mechanismus übergegangen. Die
Unterscheidung der seelischen Reflexbewegungen von den schon
bekannten physiologischen lasse ich hier als zu weit abführend
bei Seite.
Es könnte nur noch eingewendet werden, dass einige Ge-
flihle doch keine Handlungen mit sich brächten und gerade wegen
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Eintheilung der {Functionen der Seele. 65
ihrer Thatlosigkeit und Verschlossenheit auf den Unterschied von
Wille und Gefühl hingeführt hätten. Obgleich nun dieser Ein-
wand eine gewisse Popularität für sich hat, so fehlt ihm doch
eben die feinere Beobachtung; denn es giebt wegen der Coordi-
nation der geistigen Functionen keine Gefühle ohne zuge-
hörige Bewegungen. Der Geist ist eine Dreieinigkeit, da
niemals Eine Function ohne die beiden andern zur Wirklichkeit
kommt und doch eine jede von der andern verschieden ist.
Hier z. B. darf man unter Handlung oder Bewegung nicht bloss
die in die Sinne fallenden Manipulationen und die auf die Aussen-
welt umgestaltend wirkenden Muskelarbeiten verstehen, sondeni
wir müssen immer auch die im Gehirn, in der MeduUa oblongata
und im Herzmuskel verlaufenden Bewegungen und die nach
Aussen hin unmerklichen Thätigkeiten des Denkens und Phanta-
sirens hinzurechnen. Die Gefühle des Forschers leiten seine
intellektuellen Operationen, die Gefühle des Dichters und Musikers
seine Compositionen in Worten und Tonbildem. Der Inhalt
dieser Gedanken ist ideelles Sein, Vorgestelltes, Gedachtes, Wissen-
schaft, Kunstwerk, Irrthum, Traum oder Wahrheit; die Be-
wegungen aber, welche all dies hervorbringen, sind reales Sein,
wirkliche Handlungen und wirkliche Veränderungen im Leben
etlicher Organe und besonders des Gehirns. Darum wird man
auch müde vom blossen lautlosen Denken und Rechnen, wie auch
der Puls Zeichen für die dem Gefühl zugehörigen Bewegungen giebt.
Ebenso sind auch die ganz stillen Gefühle der Wehmuth,
Schwermuth, der verschlossenen Liebe und Freude nicht ohne
zugehörige Bewegungen, nur dass diese nicht nach Aussen treten;
denn es werden dabei gewisse Vorstellungen festgehalten,
andere unterdrückt oder abgewehrt, so dass die gewollte
Vorstellung, das geliebte Bild im Bewusstsein bewahrt und durch
immer neue Gedankenverknüpfung wieder hervorgerufen und fort-
gesetzt wird. Alles dies ist Handlung und Bewegung, und selbst
die sogenannte Lähmung ist eine Folge der Bewegung, da ent-
weder die von entgegengesetzten Gefühlen ausgehenden Be-
wegungen sich äquilibriren, oder die bewegende Kraft des Gefühls,
z. B. des Schrecks, so gross ist, dass sie durch ihren zu heftigen
Innervationsschlag die abhängigen kleinen Agenten in den Muskel-
fasern alle zusammengenommen überwegt und wie ein Blitz die
Telegraphenapparate ausser Function setzen kann. Die feinere
Telchmäller, BeUglon.phllo«>phle. ^.J^^^ by GoOQIc
66 befinition der Religion.
Analysis zeigt also auch hier überall die Goordination des Ge-
fühls mit der bewegenden Thätigkeit, und mithin wird man nach
populärem Sprachgebrauch, wenn man von der Betrachtung der
Bewegungen ausgeht, dafür als Ursache einen zugehörigen be-
wussten oder unbewussten Trieb, Willen oder irgend eine Art
des Begehrens suchen und dann nothwendig eben das Gefühl
als den eigentlichen Agitator finden, dem man nur den Hut auf-
zusetzen braucht, da er in dieser seiner Beziehung zu den Be-
wegungen gerade unter dem Namen Wille oder Trieb wohl-
bekannt ist.
Als Resultat der synthetischen Methode ergiebt
Reauiut. gj^j^ ^jg^^ ^^gg dasjenige, was von dem gewöhnlichen
Bewusstsein als Wille angesprochen und bezeichnet wird, in dem
blossen Geflihl nicht kenntlich genug hervortritt, dass aber die
Bezeichnung des Gefühls durch die zugehörigen Vorstellungen
und die Andeutung der dem Gefühl zugeordneten Bewegungen
hinreicht, um auch von dem gewöhnlichen Bewusstsein die An-
erkennung des Charakters des Willens dafür zu gewinnen. Mit
den Combinationen der synthetischen Methode wollen wir nicht
etwa das Gefühl als ungenügend hinstellen, um uns das Wesen
des Willens zu zeigen; nein, wenn wir die auswärtigen Be-
ziehungen einerseits zur Vorstellung oder Erkenntniss, anderer-
seits zu dem Bewegungssystem hervorheben, so sollen damit nur
die Beziehungspunkte angegeben werden, welche ausserhalb des
Gefühls liegen und demselben also nicht wesentlich sind, da
sie eben nicht das Gefühl ausmachen, sondern mit demselben
nur in Beziehung stehen. Das Gefühl selbst ist Wille und ent-
hält alles in sich, was man aus der Vorstellung vom Willen
irgend herausziehen kann; es steht aber in fester Goordination
mit der Erkenntniss von Objecten und giebt die Auslösung von
zugehörigen Bewegungen. Darum dürfen wir jetzt mit grösster
Freiheit auch die Beneficien der Sprache wieder flir uns in
Anspruch nehmen, indem wir ganz nach Gutdünken die Aus-
drücke Wille und Gefühl vermischt als Synonyma gebrauchen,
jenachdem sich etwa eine gewisse Redewendung eingebürgert
hat, oder jenachdem auch irgend eine Nebenbezichung und Schat-
tierung des Gedankens durch das Eine oder das andere Wort
vortheilhafter zum Ausdruck kommen kann; denn da wir der
Tyrannei der Sprache ledig geworden sind, so können wir
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Eintheiiung der Definitionen. ßt
mit gutem Gewissen ihre etwaigen Beneficien geniessen, ohne
uns darum zu kümmern, ob nicht am Ende die vergleichende
Sprachforschung auch die Wurzeln von Fühlen und Wille, deren
Formen sehr anklingen, wie vüelen, vülen und velle u. s. w. auf
eine gemeinsame Grundbedeutung und einheitlichen Ursprung
zurückführen wird.
§ 4. Definition der Religion.
Alles bis hierher Erörterte würde bloss eine lange und un-
nütze Vorrede bilden, um auf unseren eigentlichen Zweck, die
Definition der Religion, zu kommen, wenn es sich hier um eine
praktische Unternehmung drehte; da wir aber die Philosophie
der Religion im Auge haben, so ist der Weg ebenso wichtig, wie
das Ziel. Das Philosophieren besteht eben in der Auffindung
der Gedanken wege und in der Ordnung aller Begriffe, weshalb
eine Definition, die nicht in dem ihr zugehörigen Coordinaten-
system ihren bestimmten Ort auf richtigem Wege findet, für den
Philosophen eine blosse Frage und keine befriedigende Antwort
ist. Wir haben deshalb auch jetzt noch gar keine Eile, uns auf
die sogenannten Resultate su stürzen, sondern wollen uns in aller
Müsse und Freiheit erst über unsre Aufgabe orientiren, da wir
ja gesehen haben, dass die früheren Definitionen der Theologen
und Philosophen so übel abgelaufen sind.
Eintheilung der Definitionen.
Von den Definitionen lassen wir diejenigen, welche
bloss den gebräuchlichen Namen flir die gesuchte ^- systemii-
Sache oder einige charakteristische Eigenschaften und
Wirkungen derselben anführen, ganz bei Seite, da sie es zwar
für die erste Orientirung zu einer mehr oder weniger deutlichen
Distinction einer Aufgabe von andern Aufgaben bringen, aber
keine Erklärung des Wesens der Sache darbieten.
Die systematische Definition, die wir suchen, besteht in
der Auffindung der Coordinaten, wodurch ein Begriff in derjenigen
Weise bestimmt wird, wie der Astronom den Ort eines Sterns
durch seine Rectascension und Declination festlegt. Man darf
nicht meinen, als würde von dem Astronomen das Wesen der Sache
uiymzfc^ uy x^j v-/ v^'pc l V-
68 Definition der ReligioA.
nicht gesucht, sondern bloss eine Beziehung angegeben; denn es
handelt sich dabei ja nicht um das Wesen des Sterns, sondern
nur um seinen Ort, dessen ganzes Wesen in diesen geometrischen
Beziehungen erschöpft ist. Bei den Begriffen aber sind die
Coordinaten auch Begriffe, und jeder Begriff hat in dem all-
gemeinen Coordinatensystem der Begriffe seinen Ort, so dass
ein Begriff nur durch seine Coordinaten zu bestimmen ist, da
alles Begreifen und Erkennen nur in Beziehungen und den sich
dabei ergebenden neuen Gesichtspunkten und Beziehungseinheiten
besteht. Denn alles Erkennen ist entweder specifisch oder
semiotisch. Unter specifischer Erkenntniss verstehe ich die-
jenige, deren Gegenstand selbst Erkenntniss ist, wie z. B. die
Zahlen, die Zeit, die Kategorien. Semiotisch aber nenne ich
diejenige, deren Gegenstand niemals erkannt werden kann, weil
er nicht als Theil zur Erkenntnissthätigkeit gehört, sondern als
ein ausserhalb der Erkenntnissfunction liegendes Element durch
ein unmittelbares Bewusstsein gegeben sein muss. So ist z. B. „blau,
grtin, traurig, Liebe, „Ich" niemals zu erkennen, weil alle Demon-
strationen und Definitionen eines solchen Objects der Forschung
voraussetzen, dass man durch unmittelbares Bewusstsein den
Gegenstand schon kenne und ohne dieses Bewusstsein auch dureh
die gründlichste Wissenschaft nicht zur Erkenntniss desselben
gelangen werde, wie z. B. selbst die modernste Wellentheorie
den Blinden nicht zur Empfindung von blau oder grtin verhilft.
Über diese Unterscheidung bitte ich meine „Grundlegung der
Metaphysik" zu vergleichen.
Während nun die Mathematik eine specifische Wissenschaft
ist, sofern ihr ganzer Gegenstand aus blossen Erkenntnisselementen
besteht, welchen kein andres Sein als in der Erkenntnissftinction
selbst zukommt, so ist umgekehrt die Religionswissenschaft
semiotisch, sofern ihr Gegenstand, dieEeligion, nicht bloss ein
Begriff, ein Urtheil oder Schluss, sondern eine von aller Er-
kenntniss verschiedene geistige Function ist, die, wenn sie auch
eine gewisse Erkenntniss voraussetzt, doch nicht in dieser Er-
kenntniss besteht. Wenn wir daher die Religion definiren sollen,
so kann es sich nur darum drehen, in semiotischer Erkenntniss
die Beziehungen aufzufinden, in welchen dieser uns durch un-
mittelbares Bewusstsein bekannte Gegenstand seine flir die Er-
kenntniss bestimmbare und allgemein und fest geordnete Stelle hat.
u.quizeauy Google
Elntheilung der Definitionen. 69
Allein diese Eintheilung der Definitionen ist noch
, .11. 2. Individuelle,
nicht genügend; wir müssen vielmehr einen neuen generiache.
wichtigen Unterschied hinzunehmen. Der Gegenstand, *^«*^®-
den wir definiren wollen, bildet nämlich keinen individuellen
Lebensakt, sondern wiederholt sich bei derselben Persönlichkeit
sowohl, als auch bei unendlich vielen, oder allen Persönlichkeiten
in den verschiedensten Formen. Ausserdem finden wir in uns
bei Betrachtung dieser verschiedenen Formen Äusserungen unseres
Gefühls, wonach wir über die Wahrheit, die Güte und die Schön-
heit dieser Gegenstände urtheilen. Demgemäss muss es bei der
Religion, wie bei den analogen Gegenständen, drei Arten von
Definitionen geben: erstens die individuelle, wodurch der
singulare in der Geschichte nur einmal vorkommende Akt be-
stimmt wird, zweitens diegenerische, wodurch wir alle die wirk-
lichen und möglichen Formen durch gewisse Coordinaten in einen
allgemeinen Ausdruck zusammenfassen, und drittens die Definition
des Ideals, wodurch diejenige Form semiotisch erkannt wird,
welche unser wissenschaftliches, sittliches und ästhetisches Ge-
fühl vollkommen befriedigt und deren Selbsterfahrung sich
zugleich in dem eigenen Bewusstsein über alle die andern
Formen erhebt.
Die individuelle Definition im strengen Sinne ist Sache
der individuellen Selbsterkenntniss; im weiteren Sinne aber, wo
sie das gesammte religiöse Leben eines Individuums umfasst,
kann sie jenachdem zur Aufgabe der Biographie, der Welt-
geschichte und auch, wenn die Persönlichkeit religionsstiftend
war, zum Hauptgeschäft der positiven Theologie werden. Der
Philosoph aber hat mit dieser Aufgabe zunächst nichts zu thun.
Ich sage zunächst; denn ich habe ja in meiner Metaphysik
genügend gezeigt, dass der Idealismus in der Philosophie, welcher
nur das sogenannte Allgemeine oder die Idee für das Wesen der
Dinge hält und deshalb mit Geringschätzung auf das Individuelle
sieht und es für immmer von der Philosophie ausschliesst,
nicht bloss gar kein Verständniss für die Geschichte hat, sondern
auch überhaupt eine falsche und ganz unbefriedigende Auffassung
der Welt darbietet. Ich lasse es daher zunächst offen, ob die
Erforschutig der Religion uns nicht an einen Punkt führt, wo
sich zeigen könnte, dass die Definition des Ideals der Religion
in der individuellen Erkenntniss des religiösen Lebens einer
uiymzeu uy V^jOOV IC
70 Definition der Religion.
historischen Persönlichkeit allein die zugehörigen festen Grund-
linien findet Denn da die Welt ein technisches System bildet,
so ist in ihr auch alles in der ideellen Form der Geschichte für
jeden perspectivischen Standpunkt gegeben, und mithin ist es
Yon vornherein nicht unwahrscheinlich, dass unter den vielen
Formen der Religion auch die ideale einen historischen Vertreter
hat, durch dessen Leben allein die Auslösung und Erweckung
der zugehörigen religiösen Kräfte Vielen und auch uns zu Theil
geworden ist.
Zunächst aber liegt gar keine Veranlassung vor, auf eine
Betrachtung der Geschichte überzugehen. Ebensowenig freilich
können wir sofort eine Definition des Ideals der Religion zum
Besten geben; denn wenn wir nicht vorher alle die verschiedenen
möglichen Religionsformen kennen und durch viele Beweisftlhrungen
ihren Werth oder ünwerth ausgemacht haben, so würde eine
solche Definition eine blosse Behauptung sein, die nur für einen
Neugierigen ein gewisses Interesse hätte. Wenn wir deshalb
diese Definition bis auf das Ende unserer Untersuchung ver-
schieben, so wollen wir nicht säumige Schuldner sein, sondern
die an sich gerechte Forderung ist nur vor dem Termin nicht fällig.
Andrerseits ist aber das Versprechen mehrerer Definitionen
auch keine unnütze Liberalität, da man meinen könnte, auf eine
Frage gehöre nur eine Antwort, sondern man muss wissenschaft-
licher Weise mehr als eine Frage stellen, da es nicht genügen
kann, z. B. alle Augen, die weitsichtigen, die kurzsichtigen, die
pathologisch afficirten und die gesunden bloss als Sehwerkzeuge
zu definiren, während wir doch ohne Zweifel auch zu wissen
verlangen, ob nicht eine dieser Erscheinungsformen die bessere
sei und worin die Vollkommenheit des Auges bestehe.
Die generische Definition, die wir also zunächst zu finden
haben, werden wir als Philosophen nicht durch historische Ver-
gleichung suchen, auch nicht wie Quetelet statistisch durch Er-
mittelung des Durchschnittlichen-, denn die sogenannte Abstraction,
wie sie von den früheren Logikern, z. B. von Wundt, erklärt
wird, ist eine Illusion, da wir niemals durch Elimination
von Merkmalen eines Gegenstandes abstrahieren, sondern um-
gekehrt nur durch Uinzufügung neuer Beziehungspunkte und
Gesichtspunkte. Daher würden wir durch historische und sta-
tistische Betrachtungsweise au8 der Sphäre der blossen Er-
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Eintbeilung der Definitionen. 7 1
scheinungsformen nicht heraustreten. Wir müssen also die Kennt-
niss der historischen Erscheinungen zwar voraussetzen, das Wesen
der Sache aber, welches sich nur in unserem unmittelbaren Be-
wnsstsein offenbaren kann, durch die unabhängig von allem
Historischen gegebenen apriorischen Coordinationen unserer gei-
stigen Functionen zu bestimmen suchen. Wenn wir aber nicht,
wie es in den Lehrbüchern Brauch ist, sofort eine Definition
abfeuern, sondern wieder mit einer gewissen Umständlichkeit
verfahren, so werden wir uns erinnern, dass wir keine Eile haben,
sondern philosophieren wollten, und dass nur die vollkommen
begründete Erkenntniss befriedigend ist.
In meiner Schrift „über das Wesen der Liebe" 3 Anlage. Akt.
habe ich darauf aufmerksam gemacht, dass die lebendige Kran.
Definition der Liebe entweder die Anlage und Fähigkeit zu lieben
in's Auge fasst^ oder den Akt und die Ausübung der Liebe, oder
drittens die durch viele Akte erworbene und bleibende Gesinnung
der Liebe. Da wir also drei verschiedene und sich jenachdem
widersprechende Definitionen der Liebe gewinnen, jenachdem
wir uns nämlich auf den einen oder den anderen dieser drei
Gesichtspunkte stellen, so müssen wir auch bei der Religion uns
fragen, ob wir bloss die Anlage zur Religion, wie sie schon der
Säugling im Unterschiede vom Thier besitzt, studiren wollen,
oder die Eigenthümlichkeit der Akte des hervorbrechenden
religiösen Lebens, wie dies Schleiermacher in einseitiger Weise
für das religiöse Gefühl allein in's Auge fasste, oder endlich die
erworbene lebendige Kraft und religiöse Gesinnung, die auch
im Schlaf und selbst bei irreligiöser Handlung und einzelnen
Sünden im Grunde der Seele fortdauert. Allein obgleich diese
Unterschiede von dem grössten Interesse sind und unser Urtheil
über viele Erscheinungen des religiösen Lebens allein zurecht-
iilhren können, so bringt doch unsere nächste Aufgabe, eine
gcnerische Definition zu gewinnen, einen Standpunkt mit sich,
von welchem aus jene drei Unterschiede zugleich berücksichtigt
werden und also nicht mehr in ihrer Besonderheit hervorgehoben
zu werden brauchen; denn wenn wir die Religion als ein be-
stimmtes geistiges Coordinatensystem auffassen, so ist durch
die apriorische Construction desselben sowohl die Anlage zur
Religion, als der Akt und endlich auch die bleibende Gesinnung
mit bestimmt.
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72 Definition der Religion.
Durch die generische Definition wird zugleich auch die
Frage nach dem Ursprünge der Religion zwar nicht beantwortet,
aber doch zur Beantwoi-tung vorbereitet, da die befriedigende
genetische Erklärung zwar erst durch die wahre Eeligion
geboten werden kann, die generische Definition aber doch schon
die Coordinationen aufzeigt, welche eine unerklärliche Illusion
der Menschheit bilden würden, wenn der lebendige Gott nicht
von Anfang an in dem menschlichen Geiste sich irgendwie oflFen-
barte. Doch diese Frage gehört noch nicht hierher;' studieren
wir vielmehr jetzt die Elemente der Definition.
Die Elemente der Goordination.
1. Der ereie Bc- Indem wir an unserem Auge alles das vorüber-
zieht! DgHpunkt,
Fuiidamentiim zlchcn lasscu, was die Menschen Religion oder re-
rcuuoni». ügiösc Lebensäusscrung genannt haben, so zeigt sich
sofort, dass wir davon nur eine semiotische Erkenntniss gewinnen
können, d. h., dass wir davon nur soviel verstehen, als wir durch
analoge eigene Erfahrung zu deuten vermögen. Wir bemerken
dabei, dass es sich in allen diesen eigenen oder fremden Akten
immer um eine Beziehung zwischen uns selbst und einem andern
Wesen, dem sogenannten Gott, handelt. Die genaue Feststellung
dieser Goordination ist die generische Definition der Religion.
Was zunächst den ersten Beziehungspunkt, den Menschen
betrifft, so ist der Mensch ein vielßlltig zusammengesetztes Ganzes,
und es kommt eben darauf an, denjenigen Punkt darin zu iso-
liren, der flir die Religion die Coordinate bildet.
Zunächst sind aus dem Ganzen, welches wir Mensch nennen,
die Körperbestandtheile und ihre Functionen wegzulassen, weil
diese nur physische Beziehungen haben und keine religiöse
Thätigkeit ausüben. Im geistigen Leben jedoch sind auch wieder
verschiedene Functionen zu unterscheiden und zwar Geflihl
(= Wille), Handlung, Erkenntniss. Nun haben die früheren Ge-
lehrten häufig die Religion in eine dieser Functionen eingeordnet
und sie bloss nach der dogmatischen, ethischen oder cultischen
Seite aufgefasst. Wir müssen daher zunächst fragen, ob wirklich
der gesuchte Beziehungspunkt in einer dieser Functionen liegt
Das erkennende Vermögen des Geistes und die Erkenntniss
steht aber, wie alle Wissenschaft zeigt, nur in Beziehung zu den
sogenannten Wahrheiten, also z. B. zu dem Pythagoreischen Lehr-
uiumzeu uy 'v_JvyVjVlv^
Analysis der znsammenge hörigen Elemente. 73
Satze, za dem Gesetze der Erhaltung der Kraft, zu den Gesetzen
der Lautverschiebung u. s. w. Und wenn es auch in der heiligen
Schrift heisst, dass Gott die Wahrheit ist, so bedeutet dies doch
etwas ganz anderes, als den Gegenstand und Inhalt der wissen-
schaftlichen Thätigkeit, da Gott in der Religion überall als ein
Wesen aufgefasst wird, welches nicht wie die Wahrheit blosser
Inhalt der Denkthätigkeit eines Forschers sein kann. Wenn die
Wahrheit daher auch, wie wir später erforschen werden, durch
Gottes Wesen bedingt ist, so geht sein metaphysisches Wesen
doch nicht in diese logische Function auf. Darum können selbst
die Religiösen theologische Forschungen anstellen und Gott seinen
Eigenschaften und seinem Wesen nach bestimmen und darüber
disputieren, ohne dass diese Thätigkeit zugleich eine religiöse
wäre, weil es bei der Religion, wie uns die historisch bekannten
Religionen und unser deutendes eigenes Bewusstsein bezeugt,
nicht auf die Wahrheit und Falschheit der Urtheile ankommt;
denn wir nennen selbst den Fetischanbeter religiös und zuweilen
einen theologischen Disputax irreligiös, obgleich der letztere viel
richtigere wissenschaftliche Begriffe als jener besitzt. Die logische
Erkenntniss bildet also nicht den Beziehungspunkt für die Religion.
Ebensowenig kann das Geftlhl oder der sogenannte Wille
allein ftlr sich als Beziehungsgrund der Religion gelten; denn
das Geftihl kommt eben überhaupt gar nicht isolirt vor, sondern
setzt schon immer einen Gegenstand in dem Erkenntnissvermögen
voraus, durch dessen Vorstellung erst Gefühle von Lust oder
Unlust ausgelöst werden. Schleiermacher's Isolirung des Ge-
fühls ist also schon psychologisch unhaltbar.
In derselben Weise lassen sich auch die Handlungen nicht
isoliren, da sie immer erst erfolgen, wenn vorher etwas percipirt
oder vorgestellt und dann durch das Gefühl ein Werthunterschied
constatirt ist, welchem gemäss Bewegimg oder Handlung entsteht.
Also kann das Fundament der Religion in keiner der drei
geistigen Functionen selber liegen. Ausser dieser Dreiheit ist
aber nichts Andres bei dem Menschen mehr übrig, als das Ich,
das Bewusstsein seiner selbst als Wesen, d. h. das Selbst-
bewusstsein oder das persönliche Bewusstsein. In diesem
Bewusstsein sind natürlich die geistigen Functionen alle ein-
geschlossen, aber alle bezogen auf das Ich, welches zu sich sagt:
„Ich denke, Ich ftlhle, Ich handle." Mithin müssen wir von den
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74 Definition der Religion
Functionen zu dem Herrn derselben tibergehen, wenn wir das
Wesen der Religion begreifen wollen.
Durch die neue Philosophie, von deren Gestalt ich in meiner
„Grundlegung der Metaphysik^^ den Umriss gegeben habe, ist es
möglich geworden, neben den drei Functionen des Geistes noch
diesen Herrn und Eigenthümer des geistigen Lebens kennen zu
lernen, der in der früheren Philosophie vor der zu nahen Beachtung
der einzelnen Erscheinungen des Geistes, wie der Wald vor den
Bäumen, nicht bemerkt wurde. Man hat bisher nämlich immer
Bewusstsein mit Erkenntniss verwechselt und hielt deshalb
das Selbstbewusstsein, wozu man ja durch die Sprache auch
berechtigt war, für ein Wissen und Erkennen oder Denken, kurz
für einen Akt des erkennenden geistigen Vermögens. Ich habe
aber in meiner Metaphysik schon darauf hingewiesen, dass man
die Leitung durch die Sprache gänzlich aufgeben muss, wenn
man philosophirt; denn sie enthält bloss die populären ersten
Unterscheidungen, die der Mensch bei dem Anfange seiner Cultur
macht und die deshalb jetzt ebensowenig brauchbar oder gar mass-
gebend sind, als etwa seine steinernen Aexte und seine Bögen
und Pfeile flir unsre moderne Kriegsflihrung. Es ist darum hier
nur ohne alle Verwunderung anzumerken, dass die Menschen sich
schwer aus der Gewohnheit und am Schwersten aus der durch
die angelernte und eingewöhnte Sprache begründeten geistigen
Knechtschaft befreien. Zum Philosophieren aber gehört Freiheit.
Es wird deshalb nöthig sein, wenigstens ganz kurz das
Kecht zur Abtrennung des Selbstbewusstseins von der erkennenden
Function zu beweisen. Nun ist jedes Wissen und Erkennen an
gewisse vorauszusetzende Beziehungspunkte gebunden; denn wenn
wir z. B. erkennen sollen, dass ein Planet lichtreicher ist als
die Fixsterne, in deren Nähe er augenblicklich steht, so müssen
wir sowohl den Planeten, als diese Sterne sehen können. Wenn
ihn aber eine Wolke verdeckt, so wird unser erkennendes Ver-
mögen seine Arbeit einstellen. So sind die Beziehungspunkte
bei aller Erkenntniss entweder, wie hier, unmittelbar, d. h. ohne
selbst Producte der Erkenntnissfunction zu sein, gegeben, oder
sie können auch wieder aus solchen gewonnenen Producten be-
stehen, wie man z. B. über das Verhältniss von Staats- und
Criminalrecht forschen kann, deren BegrifiFe beide selbst erst durch
einen Erkenntnissprocess gefundeii werden. Aller spätereii Er-
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Analysis der zusammengehörigen Elemente. 75
kenntnissarbeit liegen aber immer zuletzt einfache schlechthin
gegebene Beziehungspnnkte zu Grunde, die durch keine Erkennt-
nissthätigkeit erst erworben werden können, wie z. B. die oben
angeführten Sinnesempfindungen von dem Planeten und den Fix-
sternen, oder wie die Kundgebungen des inneren Sinnes, wodurch
wir uns unserer Gefühle und unseres Thuns und Leidens unmittelbar
bewnsst werden. Solche Data sind nun als einfaches Bewuss t-
sein gegeben, wobei wir das etymologisch angedeutete Wissen
eben als ein irreführendes und mit dem Sinn von Wissenschaft
unvereinbares Wort hervorheben und rechtskräftig annuUiren
müssen. Wir haben aber nicht die Leidenschaft, neue Wörter zu
bilden. Warum sollte man z. B. unseren Planeten nicht mehr
Erde nennen, obwohl Kinder, welche Wasser, Erde und Luft zu
unterscheiden gelernt haben, daran Anstoss nehmen könnten, dass
der Planet Erde nun doch auch noch Wasser und Luft mit ent-
halte? Darum wollen wir ruhig das Wort Bewusstsein und
Selbstbewusstsein beibehalten, ohne flir die falschen Folgerungen
aus der Etymologie zu haften, als wenn dadurch ein Wissen
gegeben würde.
Wenn wir uns nun soweit durch das Gestrüpp durchgearbeitet
haben, so gewinnen wir eine freie Aussicht und sehen jetzt ganz
klar, wie unser Ichbewusstsein nicht das Fichtesche, Hegeische
oder Platonische Subject — Object, oder Wissen vom Wissen
ist, sondern ein neuer einfacher, als Bewusstsein gegebener Be-
ziehungspunkt, der durch keine Erkenntnissarbeit gefunden werden
kann, sondern uns ebenso gegeben werden muss, wie der Planet,
wenn wir ihn mit einem andern Stern vergleichen sollen. Wenn
wir sagen: Ich erkenne, Ich fUhle, Ich handle, so meinen wir
nicht, das Erkennen erkennt, das Erkennen fühlt und das Er-
kennen handelt, sondern wir wissen sehr wohl, dass das Erkennen
nicht fühlen und handeln kann, dass aber das Ich alle drei
Functionen ausübt und mit keiner derselben identisch ist. Wie
sollten wir von den Farben etwas wissen, wenn wir blind wären
und sie sich nicht selbst in unserem Bewusstsein offenbar machten?
Wie sollen wir den Aerger, die Lust, die Scham u. s. w. kennen
lernen, wenn diese Geftlhle nicht selbst sich kundgäben und
unmittelbar bewnsst würden, und also nicht durch Vennittelung
eines anderen Princips, welches nichts von solcher Qualität
besitzt Ebenso wird auch das Ich oder das Selbst sich selbst
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J
76 Definition der Religion.
bewusst ohne Erkennissarbeit und Schluss. Denn, da wir sagen :
Ich denke, Ich sehe, Ich freue mich, Ich habe Schmerz u. s. w.,
so können diese prädicativen Bewusstseinsqualitäten das Ich nicht
in sich bergen, welches vielmehr dem Verschiedenen in einerlei
Weise zukommt, sich zu ihnen bloss in einem Verhältniss befindet,
und also durch ein eigenes Bewusstsein offenbar werden muss,
wenn wir überhaupt etwas davon wissen sollen.
In der Erkenntnisstheorie, Logik und Metaphysik muss
diese Frage nun ausfuhrlicher erörtert werden; hier würde
uns bei weiterer Beweisführung nur ein Tadel der Kritiker
treflfen, dass wir zu sehr abschweiften. Die Neuheit des meta-
physischen Lehrsatzes möge aber hier das Recht oder wohl auch
die Verpflichtung zu dieser kürzeren Abschweifang vertheidigen
oder erweisen.
Wenn wir nun das Ich als Ganzes mit seinen zugehörigen
Functionen nehmen und es sich seiner Beziehung zu einem
anderen Wesen ähnlicher Art bewusst werden lassen, so werden
wir ihm eine Gesinnung zuschreiben. Mit diesem Worte darf
aber ebensowenig, wie mit dem Worte Selbstbewusstsein ein
Wissen gemeint war, etwa an einen blossen Willen gedacht
werden. Die ganze frühere Philosophie und also auch die von
philosophischen Begriffen abhängige theologische Dogmatik und
Ethik hat diesen Punkt nicht in^s Reine bringen können, weil
der Begriff des Seins bisher noch keine hinreichende Erklärung
gefunden hatte. Gleichwohl haben die Theologen viel besser als
die Philosophen immer für den Begriff der Religion unsere per-
sönliche Stellung zu Gott in Anspruch genommen, nur konnten
sie diesen Begriff des Persönlichen nicht anders als durch den
Willen verstehen, weil ihnen die Philosophie keinen anderen
Begriff dafür zur Verfügung stellte. Der Wille sollte eben, wie
man sich ausdrückte, das Centrale, die Ganzheit, die Persönlich-
keit, die Centripetalkraft u. s. w. vorstellen. Durch die neue
Metaphysik wird es uns aber jetzt möglich, das Ich von seinen
Functionen zu unterscheiden und demgemäss auch den Willen
von der Persönlichkeit zu trennen.
Die Frage hat eine so grosse Wichtigkeit, dass selbst hier
wieder eine Abschweifung erlaubt sein muss. Nehmen wir also
zum Substrat der Analyse zwei Persönlichkeiten und lassen sie
durch Freundschaft oder Liebe verbunden sein, Die Frage ist
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Analysis der zuoammengehörigeii Elemente. 77
jetzt, ob sie bloss durch den Willen verbunden sind. Es ist nun zwar
richtig, dass sie sich einander gefallen und sich an einander freuen
und also durch das Geflihl oder den Willen auch zusammen-
hängen; wäre aber die VerknUpfiing möglich, wenn wir bloss das
verknüpfende Band besässen, während die Wesen, welche ver-
knüpft werden sollen, uns aus den Händen glitten? Denn wenn
der Wille die Persönlichkeit ist, so ist das Band das zu Ver-
bindende, und man würde statt der Brautleute zwei Ringe copu-
lieren können. Man sieht hieraus die Unthunlichkeit, Wille und
Persönlichkeit zu identificieren.
Ausserdem muss die Eine Persönlichkeit von der andern
doch auch Vorstellung und Erkenntniss haben; sie müssen sich
ihre Gedanken mittheilen, wenn sie sich lieben sollen. Also
gehört zur Freundschaft und Liebe auch noch das Erkenntniss-
vermögen und nicht bloss der Wille. Das persönliche Verhältniss
ist mithin kein einfaches Willensverhältniss.
Endlich müssen die Freunde doch auch etwas thun in Be-
ziehung auf einander; sie müssen sich besuchen, mit einander
reden und allerlei zusammen unternehmen. Wer wollte also
drittens das Vermögen der Handlung oder Bewegung aus der
Freundschaft wegnehmen dürfen und dann noch von einem per-
sönlichen Verhältniss sprechen!
Es zeigt sich daher, dass Wille und Persönlichkeit nicht
identisch ist Der Begriff der Persönlichkeit ist aber erst mög-
lich durch die neue Metaphysik, da man nun ein Ich hat mit
Functionen, die es von sich unterscheidet und in denen es sich
ausdrückt oder symbolisirt. Das Bewusstsein von Beiden, d. h.
vom Ich und von den Functionen, fällt auch nicht zusammen;
denn jeder Akt des Erkennens, WoUens oder Thuns hat sein
eigenes Bewusstsein, wenn er überhaupt zu Bewusstsein kommt,
und sein Bewusstsein kann nicht das Bewusstsein irgend eines
anderen Aktes desselben oder eines Aktes der anderen Vermögen
in sich schliessen. Das Bewusstsein des Ichs schliesst aber so-
wohl das Bewusstsein der andern Akte in sich, als es auch weit
entfernt ist, bloss die Summe oder Totalität dieser Bewusstseins-
akte zu sein, da das Ich sich selbst als selbständiger und blei-
bender eigener Beziehungspunkt gegeben und bewusst ist. Dies
konnte alle frühere Philosophie nicht erkennen, weil ihr dazu die
erforderliche Metaphysik des Seins fehlte.
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78 Definition der Beligion.
Ich nehme nun für das persönliche Verhalten den alten
Ausdruck „Gesinnung" in Gebrauch, und mit diesem Worte können
wir daher, wie mir scheint, am Zutreffendsten das fnndamentum
relationis in der Beziehung des Menschen zu Gott bezeichnen, weil
man bei dem Worte Gesinnung sowohl eine gewisse Erkenntniss des
Gegenstandes, als einen Willen oder ein Gefühl, und drittens auch
eine entsprechende Handlungsweise einschliesst und dies Alles
doch immer auf die Persönlichkeit selbst bezieht. Dies Wort „Ge-
sinnung" ist auch besser als Gemeinschaft, weil der Fötus auch
Gemeinschaft mit der Mutter hat, ohne darum zu wissen. Zar
Religion gehört aber Bewusstsein. Die Bedeutung des Wortes
„Gesinnung" wird auch in den verschiedenen Anwendungen klar,
z. B. bei der politischen Gesinnung und bei der Gesinnung in
der Freundschaft und Feindschaft u. s. w. Also mag dies Wort
als das passendste gelten; wer aber ein besseres weiss, dem soll
nicht präjudicirt werden unter der Bedingung, dass der zuge-
hörige Begriff der gleiche bleibt.
Da wir die Religion nicht durch eine umfassen-
2. Der zweite _ i . -rx -i . ^ . n
Beziohungfl- dcrc spcculative Deduction bestimmen wollen, so
punkt haben wir auch den zweiten Beziehungspunkt nicht
tionte. a priori abzuleiten, sondern als gegeben in dem reli-
giösen Bewusstsein anzunehmen, und es kommt nur
darauf an, flir die Definition im Gegensatz gegen die Unbestimmt-
heit und Verworrenheit der uncontroUirten Meinungen eine exacte
Isolirung des gesuchten Elementes zu erreichen.
Wenn nun Gott als zweiter Beziehungspunkt für die Religion
in den Meinungen erscheint, so könnte man zunächst Gott als
ein metaphysisches, physisches oder irgendwie real wirksames,
substantiales Wesen in Betracht ziehen. Allein als ein solches
Wesen würde Gott auch auf die Natur wirken und den Lauf der
Sonne regeln, unsere Knochen und Blutge&sse bilden u. s. w.,
ohne dass doch diese körperlich erscheinenden Dinge, die über-
haupt nur in physischen Beziehungen stehen, irgend eine re-
ligiöse Beziehung zu Gott hätten. Auch kann ein uns gänzlich
Unbekannter in der Feme durch irgend einen Umstand von uns
wissen und uns Gutes oder Uebles erweisen, ohne dass wir
irgend eine freundliche oder feindliche Gesinnung gegen ihn
haben könnten, weil wir eben von seinem Dasein und seiner Ge-
sinnung kein Wissen, keine Ahnung und überhaupt kein Be-
Analysis der ztisammengehörigen Elemente. 79
wnsstsein haben. Mithin kann Eeligion nicht eine Gesinnung
sein, die sich schlechtweg auf Grott als metaphysisches Wesen
bezieht, sondern es dreht sich um Gott, sofern er auf irgend
eine Weise in unserem eigenen Bewusstsein gegeben ist. Ich
sage auf irgend eine Weise; denn ob Gott bloss als eine Illusion,
wie bei dem Fetischismus, oder als eine falsche Vorstellung,
wie im Astarte-Cult, oder sonst als Meinung und BegriflF, durch
Schlüsse vermittelt, gegeben ist, oder sich selbst unmittelbar
im Bewusstsein offenbar macht, das muss hier, wo wir die gene-
rische Definition suchen, unerörtert bleiben. Deshalb wollen wir
zwar den Fehler vermeiden, als Beziehungspunkt für die Eeli-
gion schlechtweg Gott zu setzen; müssen aber doch die Unbe-
stimmtheit suchen, die etwa in dem Ausdruck Gottesbewusst-
sein liegt, wobei man sich irgend ein mittelbares oder unmittel-
bares, wahres oder falsches Erkennen oder Meinen über Gott
vorstellen kann.
Eine nähere Bestimmung ist aber noch hinzuzuftlgen. In
dem Gottesbewusstsein muss Gott nämlich immer als Wesen
vorgestellt, geglaubt und angenommen werden. Ob dies Wesen
als persönlich und menschenähnlich gedacht wird, wie bei den
Griechen und Römern, ob als wir selbst, wie im Pantheismus,
ja ob Gott auch, wie im Atheismus, geläugnet wird, ist dabei
einerlei; denn die Gesinnung, selbst des Atheisten, gehört als
irreligiöse dadurch in das Gebiet der Religion, dass sie sich
auf den als Wesen vorgestellten und geläugneten Gott bezieht.
Man darf aber nicht Persönlichkeit statt „Wesen" fordern,
weil im Pantheismus der Begriff der Person verschwindet, und
man doch nicht umhin kann, pantheistische Religionen als ge-
geben anzuerkennen. Deshalb ist der Begriff Wesen allein statt-
haft, wobei es aber unbestimmt bleiben muss, wie dies Wesen
gedacht werde, wenn man nur festhält, dass es den metaphysi-
schen, d. h. dem Ich analogen Grundbegriff bezeichnen soll; denn
ob man polytheistisch viele solcher Wesen annehme, oder mono-
theistisch ein einziges, oder ob man pantheistisch Wesen und
Ichheit in die Idee aufhebt, das ist ftlr den allgemeinen (gene-
rischen) Begriff der Religion gleichgültig.
Die Function endlich, welche die Gesinnung des
Menschen in Beziehung zu seinem Gottesbewusstsein
ausdrückt, ist nothwendig, da es sich um zwei Wesen handelt,
uiumzeu uy x^jvy\J>t Iv^
80 Definition der Beligiori.
ein persönliches Verhalten. Es kann dasselbe daher nur
verglichen werden mit unserem Verhalten zu einem Wesen, das
wir als einen Freund oder Feind, als Vater oder Fürsten oder
überhaupt als irgend ein selbstständig seiendes Wesen und
nicht als einen Gegenstand der Einbildungskraft oder der blossen
Abstraction betrachten. Mithin war es ganz verkehrt, dass man
diese Function in das Erkennen oder Gefühl oder Handeln setzte;
denn diese Functionen sind an sich keine persönliche, da man
ja einen Lehrsatz erkennt, bei Sonnenschein sich freut, gegen
die Winterkälte sich schützen will und diese oder jene Vorkeh-
rungen triflPt. Die religiöse Function, welche die Gesinnung des
Menschen zu dem göttlichen Wesen angiebt, kann deshalb nur
eine persönliche sein, wie sie z.B. auch in den sittlichen und
rechtlichen Beziehungen der Menschen untereinander hervortritt.
Da der Mensch aber nur drei geistige Vermögen besitzt, so
kann er auch sein persönliches Verhalten nicht anders als in
diesen Formen ausdrücken, und es ist nur der Unterschied zu
machen, dass für die Religion, wie flir jedes persönliche Ver-
halten diese Äusdrucksformen bloss symbolisch oder semiotisch
sind, d. h. Zeichen, in denen die persönliche Beziehung sich
offenbart. Wenn man z. B. dem Freunde die Hand drückt, so
kommt es nicht auf die Handlung des Drückens an, wozu man
auch einen Schraubstock verwenden könnte, sondern symbolisch
auf die Bedeutung dieser Handlung, da man das metaphysische
Wesen, die Persönlichkeit des Freundes nicht selbst berühren
oder drücken will und kann, sondern nur durch diese conven-
tioneile Behandlungsweise der von ihm abhängigen und mit
seinem Sensorium in Coordination stehenden Glieder unsere per-
sönliche Gesinnung als freundliche bezeichnet. Ebenso ist das
Gefühl der Demuth, der Furcht, der Hoffnung u. s. w. nicht als
solches ein religiöses, sondern nur, sofern diese Gefühle auf das
Gottesbewusstsein bezogen sind und unsere persönliche Haltung
zu dem göttlichen Wesen offenbaren. Endlich sind auch die
theologischen Beg-riffe, Auslegungen und Deductionen nicht schon
an und flir sich religiös, sondern nur Symbole für die persön-
lichen Beziehungen, die der Mensch zu Gott hat und als solche
erkennt, da er sich z. B. anders zu Gott stellt, wenn er ihn
flir feindlich und zornig, als wenn er ihn flir gütig und liebevoll
erkennt, anders zu Christus, wenn er ihn flir einen vortreftlichen
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Analysis der zaBammengehÖrigen fllemente. gl
Lehrer, als wenn er ihn für Gott selber hält. Ebensowenig wie
meine Freundschaft in der yorstellungsmässigen oder wissen-
schaftlichen Erkenntniss meines Freundes besteht, ebensowenig
kann auch die dogmatische Erkenntniss oder der philosophische
GottesbegriflF die Religion selbst ausmachen, weshalb z. B. Hegel
das Wesen der Religion gar nicht traf, da er sie als eine Vor-
stellungsweise neben den philosophischen Begriff stellte.
Zum Schluss muss ich noch einmal auf die all-
gemeinen Betrachtungen über die Definition zurück- *' ^^IJfJg" *^"
kommen. Wir wollen versuchen, in der generischen
Definition die drei Formen unseres Gegenstandes auf gleiche
Weise zu berücksichtigen, d. h. sowohl die Anlage zur Religion,
als den religiösen Akt und drittens, die lebendige Kraft. (Vgl.
oben S. 71). Die Anlage oder Fähigkeit zur Religion be-
steht nun darin, dass der Mensch überhaupt zu einem Selbstbe-
wusstsein und Gottesbewusstsein gelangen kann im Unterschiede
vom Thier, und dass er demgemäss auch seine Gesinnung in
den ihm zugehörigen geistigen Functionen irgendwie einmal in's
Spiel setzen wird. Da hier nun keine weitere Descendenztheorie
und vergleichende Psychologie vorgetragen werden soll, so mag
nur daran erinnert werden, dass der Säugling zwar noch nicht
actuell religiös ist, dass man aber, sobald man überhaupt mit
einem Menschen zu thun hat, das Aufkommen der beiden Go-
ordinaten der Religion voraussetzen kann.
Ein jeder Mensch ist daher als Mensch fähig zur Religion
und also religiöser Einwirkung und Erweckung in irgend einem
Grade zugänglich. Es ist eine eitle Selbsttäuschung einiger Gläu-
bigen, wenn sie meinen, nicht alle Menschen seien zur Religion
ßihig oder „berufen", sondern nur gewisse „auserwählte", denen
durch übernatürliches Geschenk ein undefinirbares Organ, das
sie Glauben nennen, inoculirt werde. Einen weiteren Grund für
diese Annahme können sie nicht angeben; sie verweisen bloss
auf ihre Wahrnehmung, dass die meisten andern Menschen ihre
eigenen absonderlichen Gefühle und Vorstellungen nicht theilen
und dass sie nun einmal von diesem Sachverhalt überzeugt wären.
Das Befriedigende und also die Wahrheit, die trotzdem in dieser
Annahme liegt, besteht darin, dass die Religion, wie alle Lei-
stungen des Menschen, in verschiedenen Graden der Begabung vor-
kommt und sich in dieser Beziehung nicht anders verhält, als die
Tcichmüller, ReUgionsphUoeophie. u^^n^A uy GoOQIc
82 Definition der Religion.
Fähigkeit zu sehen, zu hören, zu dichten, zu denken n. s. w.
Wenn es darum natürlich ist, dass ein stark Musikalischer einem
Schwachen gewissermassen den Sinn für Musik ganz abspricht,
so können auch die religiösen Naturen sich gewissermassen
allein als die „Berufenen" fühlen, während sie eigentlich nur
das Recht hätten, sich als „Auserwählte" zu betrachten, da die
Berufung oder Fähigkeit allgemein mit dem Charakter der Mensch-
heit verknüpft ist. Denn die Annahme eines besonderen Organs
für die Religion, nämlich des sogenannten Glaubens, ist natürlich
fiir die Religion selbst ganz unwürdig, weil die Religion dadurch
zu einer blossen Specialität herabgesetzt und aus den allge-
meinen Angelegenheiten der Menschheit ausgeschieden würde.
Da es überhaupt keine solche besondere Organe giebt, könnten
wir einen Vergleich also nur durch Umkehrung an dem Mangel
gewisser allgemeiner Organe illustriren und die Blinden und die
Blindeninstitute als das invertirte -ATnalogon für die Stellung be-
zeichnen, welche sich diese Gruppe von Religiösen selbst an-
weisen. Zweitens ist diese Annahme aber auch ohne rechtes
Einsehen in das religiöse Leben aufgestellt, weil der Glauben
oder die Religion, wenn sie ein besonderes Organ wäre, keine
Kunde von dem Inhalt und der Thätigkeit der übrigen Organe
haben könnte, wie das Ohr zwar hört, aber nichts vernimmt von
Farben, Gestalten und Gerüchen und nichts vom Denken und
vom Lieben und HoflFen u. s. w. Der Glaube aber hat keinen
abgesonderten Geschäftskreis, wie die einzelnen sogenannten Or-
gane, sondern umfasst das gesammte geistige Leben des Men-
schen, soweit dasselbe auf seine persönliche Stellung zu Gott
bezogen wird. Darum ist die Fähigkeit und der Beruf zur Re-
ligion mit der Anlage des Menschen zugleich gegeben, so dass
der Mensch aufhören müsste, Mensch zu sein, wenn er nicht auch
zu einer religiösen Gesinnung gelangen könnte, da die Religion
auf den wesentlich menschlichen Eigenschaften beruht, auf seiner
Persönlichkeit und seinem Gottesbewusstsein.
Ebenso eitel und unwürdig wie diese aristokratische An-
nahme, wonach die Religion als aus persönlicher Zuneigung ge-
währtes Geschenk, Gnadengehalt, Ordensverleihung und dergl.
einigen Wenigen zu Theil wird, ist die etwas plebejischere an-
dere, welche heute viele Anhänger zählt, wonach die Religion
durch ein blosses historisches Ereigniss in die Welt gekommen
Analysis der zusammeiigeliörigen Elemente. 83
Bein soll, was sie mit Vorliebe „Offenbarung" nennen und als ein
allgemein zugänglich gewordenes Gesammtgut betrachten. Sie
wollen eben von „natürlicher Religion*^ nichts mehr wissen, son-
dern sehen die Religion in der Art an, wie die historischen Ent-
deckungen, den Gebrauch des Eisens, das Herabbringen des
Feuers durch Prometheus u, dergl. Sie glauben der Religion
dadurch eine Ehre zu erweisen, dass sie als etwas Menschen-
unmögliches, oder als eine ganz besondere geschichtliche Einzelthat
der Gottheit plötzlich unter die Güter der Civilisation eingeführt
sei. Auch ftir diese Annahme lässt sich ein Motiv finden, das
berechtigt ist, nämlich die Thatsache, dass alle grossen Ent-
deckungen in der Erkenntniss und alle grossen Leistungen in der
Kunst immer nur durch diesen oder jenen einzelnen Genius in
die Welt gekonunen sind und sich erst durch Berührung mit ihm
verbreitet haben. Allein diese richtige Prämisse reicht zu dem
Schlüsse nicht hin; denn alle diese grossen Offenbarungen aus
der höheren geistigen Welt fanden ja schon mindere Leistungen
derselben Art vor und begegneten der natürlichen Empfänglich-
keit iUr ihre Aufnahme, so dass in dem Historisch -Neuen nur
eine mehr oder weniger erreichte Vollkommenheit in der Erfül-
lung schon vorhandener Leistung, Bestrebung und Erwartung ge-
boten werden konnte. So ist alle Religion, aucli die vollkom-
mene des Christenthums, nicht aus der Art geschlagen, sondeni
nur Erflillung der in der menschlichen Art gegebenen Anlage,
ohne welche der Mensch keine Hände hätte, um die Gaben des
Genius oder auch des Gottes entgegen zu nehmen. Statt also
der Religion durch diesen Ausschluss der Natürlichkeit und durch
diese Behauptung der üebematürlichkeit oder des bloss Histo-
rischen des Ursprungs einen besonderen Werth zu verleihen, ver-
eitelt man vielmehr diesen Werth; denn eine Schusswaffe wird
der Wilde zwar begehrlich finden, wenn er vorher schon Bogen
und Pfeile besass und nach besseren Waffen Verlangen trug;
der in friedlichen Zuständen lebende Ackerbauer wird aber den
besten ihm geschenkten Lancaster -Vorderlader mit allen Patro-
nen ungebraucht in seinen Kasten legen oder abweisen, weil
seine Bedürfnisse nichts damit zu thun haben. Darum hat das
Christenthum die allein wahre und ganz befriedigende Auffassung
gezeigt, indem es sich, trotzdem es die grösste Neuerung in die
Welt brachte, doch nur als eine Erfüllung einführte, also die
uguzecffi; Google
g4 Definition der Beligion.
allgemeine Anlage in der Menschheit und das zugehörige Be-
dürfhiss voraussetzte.
Was zweitens die Definition des Akts betrifft,
b. Religion tiB gQ ^yA dieser in der religiösen Function berück-
sichtigt. Da nun keine der drei specifisch ver-
schiedenen geistigen Thätigkeiten für sich isolirt Religion ent-
hält oder religiös ist, die Gesinnung des Menschen sich vielmehr
in ihnen nur symbolisiren kann, so muss der religiöse Akt in
der unauflöslichen Coordination dieser drei Thätigkeiten liegen,
so dass z. B. ein Gefühl nur dann religiös ist, wenn es bei
einer zugehörigen Vorstellung von Gott oder göttlichen Dingen
in Beziehung auf den Menschen entsteht und nur so lange diese
Vorstellung fortdauert, und wenn zugleich eine Bewegung aus-
geübt wird, die aber nicht bloss in sinnenfälligen Culthandlungen
zu bestehen braucht, sondern sich auch durch sogenannte Vor-
sätze, Betrachtungen, Gebete, oder in künstlerischer Phantasiethätig-
keit, z. B. in religiöser Poesie oder Musik u. dergl. äussern kann. So-
bald aber durch fortschreitende Thätigkeit sich entweder die Vor-
stellungen und das Denken, oder die Bewegungen und mit ihnen die
Gefühle von der zugehörigen an die beiden Coordinaten der Ge-
sinnung und des Gottesbewusstseins gebundenen Beziehung in
ihrer zusammengehörigen Function entfernen, so hört gleich-
massig auch der religiöse Charakter des zugehörigen
geistigen Lebens auf, indem es einen, wie man sich ausdrückt,
weltlichen Charakter annimmt.
Es ist ftlr die hier durch speculative Analysis entwickelte
Definition der Religion von entscheidender Wichtigkeit, dass die
drei specifischen geistigen Thätigkeiten des Menschen in einen und
denselben Akt des Bewusstseins fallen. Schleiermacher hat eine
Ahnung von diesem Charakter des religiösen Lebens gehabt; er
war aber bei seiner an Piaton und Spinoza gebundenen Auf-
fassungsweise und seiner dadurch veranlassten Unselbständigkeit
und Unfreiheit in philosophischem Denken nicht dazu geeignet,
mehr als eine blosse Anregung zu stiften, da sein Stichwort
„Abhängigkeitsgefühl" zwar unzählige Mal nachgesprochen wurde,
aber eine ganz haltlose Vorstellung und Ausdrucksweise blieb. Man
darf nun aber meine Definition nicht so deuten, als wenn die Drei-
einigkeit der geistigen Thätigkeiten in der Religion etwa so
erklärt werden sollte, wie die Trinität Gottes von den Theologen
uiymzeu uy x^j v^' v^'pt Iv^
Analysis der zusammengehörigen Elemente. 85
durch Einheit der Natur und Dreiheit der Personen ausgelegt
wird, da ich vielmehr die Einheit der Natur der geistigen Thätig-
keiten entschieden läugne und also eine wirkliche Dreiheit spe-
eifisch verschiedener Elemente nachweise. Ebensowenig wie die
drei Akte in ihrem Grunde oder in ihrer Natur eins sind, ebenso-
wenig bilden sie auch eine Einheit des Products nach der Ana-
logie einer chemischen Verbindung, indem sie etwa wie Schwefel
und Quecksilber sich zu der neuen und andersartigen Natur des
Zinnobers vereinigen, eine von ihren Componenten verschiedene
und neue Erscheinung, nämlich die des religiösen Lebens, her-
vorbrächten. Die Einheit, welche unsere Analysis verlangt, ist
anders, es ist die Einheit der Coordination. Sind die Coordi-
naten gegeben, so ist die Function gegeben und umgekehrt.
Mithin sind die drei Thätigkeiten im religiösen Leben zusammen-
gehörig und jede der andern zugeordnet, so dass keine ohne
die anderen fnnctioniren kann. Das Bewusstsein des Menschen
hat aber eine bestimmte Grösse und umfasst in einem Akt mehrere
Theilakte der einzelnen geistigen Thätigkeiten, so dass dadurch
der Schein entsteht, als wäre das religiöse Leben ein neues
von den Componenten verschiedenes und einheitliches Element,
während es doch nur das einheitliche Bewusstsein der
drei zusammengehörigen Akte bildet. In meiner „Grund-
legung der Metaphysik^' habe ich durch eine analoge Betrachtung
auch das alte Problem der Bewegung aufgelöst, die einen
bisher unauflösbaren Widerspruch für den Begriff bildete. Mithin
ist z. B. das Beten des Vaterunser als Bewegung kein religiöser
Akt, wenn es bloss mechanisch gesprochen wird und der Betende
die Vorstellungen, welche in den Worten angedeutet sind, nicht
bestimmt oder unbestimmt durch eine gewisse Denkthätig-
keit vollzieht und wenn nicht zugleich mit diesen Vorstellungen
die zugehörigen Geftihle in ihm ausgelöst werden. Ebenso-
wenig braucht eine theologische Disputation ein religiöser Akt
zu sein, sofern dieses Denken sich nicht an die Goordinaten, die
in unserer Gesinnung in Beziehung zu dem Gottesbewusstsein
liegen, anschliesst und nicht zugleich von der zugeordneten
Stimmung begleitet wird.
Diese Definition ist daher auch weit entfernt davon, das
religiöse Leben als eine blosse Summe von drei verschiedenen
und an sich nicht-religiösen Akten aufzufassen. Gleichwohl
uiymzeu uy V^jOOv IC
36 Definition der Religion.
könnte es so scheinen, als wollten wir das Religiöse aus nicht-
religiösen Elementen aufbauen, da wir doch behaupten, dass
jeder Akt in seiner Isolining nicht religiös sei, wie z. B. ein
mechanisches Gebet oder eine sophistische Disputation. Ich be-
haupte vielmehr, dass jeder dieser Gomponenten au sich religiös
sei. Dieser scheinbare Widerspruch erklärt sich leicht durch
das Coordinatensystem. Da nämlich jeder Akt überhaupt immer
einem andern Akte zugeordnet ist, so kann er auch nur in dieser
Zusammengehörigkeit sein specifisches Wesen haben. Am
Deutlichsten sehen wir dies bei den sogenannten organischen
Geschöpfen, bei denen auch der ungeübteste gesunde Menschen-
verstand sofort, was wir im Sinne haben, begreift; denn wenn
z. B. die camivorisch lebenden Menschen auf ihren Tisch eine
Ochsenzunge bringen lassen, so weiss Jeder, dass dies keine
Zunge mehr ist, da sie keine der Functionen mehr ausübt, die
sie in Zusammengehörigkeit mit dem lebenden Thier früher
leisten konnte. Dagegen übt sie jetzt in Zuordnung zu den auf-
lösenden Yerdauungssäften und zu den Geschmacksempfindungen
eine ganz neue und verschiedene Function aus. Ebenso wie dies
Conglomerat von Wesen, so hat auch jedes Elementärprincip und
jeder Akt eines derselben in dem Ganzen des Coordinatensystems
der Welt einen bestimmten und specifisch verschiedenen Cha-
rakter und darum sind auch die Gedanken, die Geftthle und die
Bewegungen, welche zu dem religiösen Leben zusammengehören,
an sich specifisch religiös, sofern diese Gedanken, Gefühle und
Bewegungen eben nur für diese Coordination dasind und nur in
dieser Zusammengehörigkeit ihr Wesen haben. Löst man daher
ein Glied aus seiner Zuordnung, so tritt es einerseits in den
Zustand, den wir Gcdächtniss und Erinnerung nennen, anderer-
seits kann es auch in neue Zusammenhänge geratheu, in welchen
es den in seiner früheren Zuordnung besessenen specifischen
Charakter verliert. Jeder Akt existirt in der ganzen Welt nur
ein einziges Mal und lässt sich nicht wiederholen, weil immer
die zugeordneten Umstände andere sind. Darum müssen auch
die Gedanken, die man früher einmal hatte, entweder nur in
perspectivischer Beleuchtung als Erinnerungen auftauchen, oder
unter neuen Umständen neu und dann auch immer anders ge-
dacht werden. Nur wegen der Aehnlichkeit bildet man sich in
der ßegel ein, denselben Gedanken in beliebig neuen Beziehungen
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Analysis der zusammengehörigen Elemente. 87
wiederholen za können. Der Professor, der nach seinem alten
Hefte docirt, reproducirt nach dem Masse der Erinnerung die
früheren Gedanken; sobald er neue literarische Erzeugnisse mit
berücksichtigt, entwickelt er neue Gedanken, bei denen die alten
nur mitwirken, und zwar meistens nur durch das Hebelwerk der
Sprache. So können auch die religiösen Gedanken als religiöse
aus ihrer Coordination mit dem religiösen Gefühl und der
religiösen Bewegung nicht gelöst werden; denn sie haben ihren
logischen Ort und ihren Sinn nur in dieser Zuordnung. So ist
z. B. das Drehen der buddhistischen Gebetsmühle eine wenn
auch falsch-religiöse, doch immerhin eine religiöse Bewegung,
weil sie von einer zugehörigen religiösen Stimmung ausgeht, die
durch die zugehörigen Vorstellungen über den Gott, seinen Cha-
rakter und was auf seinen Willen Einfluss hat, ausgelöst wird.
Trennt man diese cultische Handlungsweise von den zugehörigen
Elementen, so wird sie völlig sinnlos und kann durch keine
anderen Gedanken und durch keine Wissenschaft sonst erklärt
werden. So sind auch alle theologischen Gedanken an die zu-
gehörigen Geflihle gebunden und nur insoweit religiöse Gedanken.
Nimmt man z. B. in der unreinen ßechtsreligion die religiöse
Vorstellung von einem über unsre Sünde zürnenden Gott aus der
Coordination mit dem Gefühl der Sünde heraus, so ist dieser
Gedanke sofort sinnlos, ein blosses Wort, und kann weder
naturwissenschaftlich, noch metaphysisch, noch sonstwie als ein
durch irgend eine andre Coordination mit andern Dingen in der
Welt nothwendige oder mögliche Vorstellungsweise wiederkehren.
Diejenigen Gedanken von Gott aber, die der Philosoph durch
seine Untersuchungen in dem Coordinatensystem der Begriffe
findet, sind eben philosophische Gedanken und nicht religiöse.
Sobald sie aus ihren begrifflichen Zugehörigkeiten herausgenommen
werden, hören sie auf, philosophische Gedanken zu sein. Wenn.
z. B. die speculativen Schlüsse zu einem Begriffe von Gott führen
und dieser Gedanke nun in Coordination mit dem Selbstbewusst-
sein des Menschen tritt, so entstehen sofort die zugehörigen
religiösen Geflihle und Bewegungen, der Gedanke selbst wird
dann ein religiöser Gedanke, indem zugleich seine wissenschaft-
lichen Coordinaten aus dem Bcwusstsein verschwinden.
Auf diesem Gesetze beruht die richtig gemeinte, ^'^^"''^ ^^^'^
aber sich selbst missverstehende Behauptung vieler uäreaie.
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gg Definition der Religion.
Religiösen, als liessen sich die theologischen Wahrheiten nicht
beweisen. Durch den Beweis nämlich tritt der Begriff, um den
es sich handelt, immer aus der religiösen Stimmung heraus, indem
er in die kältere Zone der allgemeinen, wissenschaftlichen Fragen
versetzt und nach den allgemeinen logischen Methoden unter-
sucht wird. Da nun durch solche logische Arbeit das Bewusst-
sein mit ganz andersartigen Beziehungspunkten, Gedanken-
bewegungen und Stimmungen angefüllt wird, so kann der Re-
ligiöse weder diese Arbeit, noch ihr Resultat mit seiner Stimmung
und seinen Gedanken in Einklang bringen. Ebensosehr wie er
daher mit diesem seinem musikalischen Urtheil im Rechte ist,
ebenso irrig ist trotzdem seine Meinung, weil durch den philo-
sophischen Beweis zwar die religiöse Beleuchtung des Objects,
nicht aber das Object selbst verschwindet. Der Anatom, der die
Leiche eines von uns geliebten Wesens zergliedert, kann wissen-
schaftlich seine Aufgabe befriedigend lösen, ohne dass er dabei
fühlt und symbolisch in den Gesichtszügen angedeutet findet, was
den Sohn oder die Gattin bei dem Anblick desselben Gegen-
standes so tief bewegt. Wer deshalb nicht, wie die Positivisten
und die Anhänger RitschFs, seinen Gott flir eine subjective, durch
zufallige historische Umstände in Umlauf gesetzte und vom blossen
Gefiihl und Glauben der Hörenden abhängige Vorstellung hält,
sondern von Gottes wirklicher Existenz und von seinem wahren,
die Welt bedingenden Wesen überzeugt ist, der braucht auch
nicht zu fürchten, dass die weltliche Wissenschaft nirgends das
wirkliche Object seiner Gottesvorstellung antreffen würde, sondern
darf sicher sein, dass wie Leverrier die Existenz, das Gewicht
und die Bahn des den Augen bisher verborgenen Planeten Neptun
durch den wirklichen Einfluss, den dieser auf die Bewegungen
der übrigen Planeten übte, entdecken konnte, so auch der Philo-
. soph durch die Thatsachen der Natur und des Geistes gezwungen
sein wird, den wirklichen und nicht bloss mit einer Illusion und
historischer Infection als leeren Glaubensartikel überlieferten Gott
überall zu bemerken und seine Wirkungen überall zu spüren.
Wenn wir überzeugt sind, dass der Gott wirklich ist, so muss
er dem Philosophen auch ebenso nachweisbar sein, wie von dem
Astronomen die Existenz und Wirksamkeit der Sonne im Kreise
ihrer Planeten erkannt und besiegelt wird. Wer deshalb die
weltliche Wissenschaft von der Theologie ausschliessen will und
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Analysis der zusammengehörigen Elemente. 89
seinen Gott nur für ein Gebeimniss seines Glaubens bält, der ist
kein äcbter Gläubiger, dem der Gott vielmehr so gewiss und
offenbar, wie die Sonne, ist, sondern verhält sich so, wie gewisse
Schwärmer, die mit ihrer subjectiven und eitlen Vorliebe für eine
Person oder ein Volk oder sonst etwas nicht herausrücken wollen,
weil sie die gutbegründete Furcht haben, dass man ihre Illusionen
und Eitelkeiten durch vernünftige Ueberlegung zerstören würde.
Um also das Besultat dieser Argumentationen wieder zu-
sammenzufassen, so definirten wir die Religion als Akt durch die
zusammengehörige Function der drei geistigen Vermögen in ihrer
Zuordnung zur Gesinnung des Menschen und seinem Gottes-
bewusstsein.
Es bleibt daher nur übrig, die Religion auch ^ Religion ais
als lebendige Kraft zu berücksichtigen. Dieser Be- lebendige Kn».
griff liegt nun in der persönlichen Haltung und Gesinnung, die
ja die nächste Gattungsbestimmung in unserer Definition bildet;
denn eine solche Gesinnung kann zwar auch als ein vorüber-
gehender einzelner Akt aufgefasst werden, wie man ja auch über
die veränderte Gesinnung eines Freundes klagt; es ist aber
natürlich, dass die Gesinnung durch häufige Auslösung ähnlicher
Akte zu einer lebendigen Kraft wird, welche, wie die Tugend,
die Kunstfertigkeit und die Wissenschaft, eine bleibende Haltung
und Festigkeit gewinnt und ein Gesammtbewusstsein mit sich ftihrt
Durch diese Begriffe finden mehrere Probleme ihre Auflösung.
Erstens nämlich ist es bekannt, dass auch Meister in der Musik,
welche also die Kunst als lebendige Kraft besitzen, doch durch irgend
welche äussere Umstände veranlasst oder durch Affekte und Zer-
streutheit zuweilen Fehler machen, die bei dem ungehinderten Ge-
brauch ihrer Kunst unmöglich wären; ebenso muss es auch möglich
sein, dass der Religiöse trotz seiner Gesinnung einiges denke,
ftihle (wolle) und thue, was mit seiner religiösen Gesinnung in
Widerspruch steht und deshalb als irrreligiös gilt. Wollte man ihm
deswegen aber die Religiosität absprechen und ihn ftlr einen
Heuchler erklären, so müsste man auch einem Künstler die Kunst
absprechen, wenn er einmal fehlgreift. Diese Thatsachen
erklären sich vielmehr sehr einfach durch die allgemeinen
Quantitätsgesetze des Bewusstseins. Da derjenige perspectivische
Punkt unseres zeitlich aufgefassten Lebens, welchen wir den
jedesmal gegenwärtigen Augenblick nennen, eine bestimmte Aus-
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90 Definition der Religion.
lösung unserer psychischen Thätigkeiten in Zuordnung zu der
Aussenwelt und unserem inneren Zustande enthält, so wird bald
diese, bald jene Gruppe von Thätigkeiten in den Vordergrund
treten und wegen der beschränkten Grösse des Bewusstseins die
übrigen Kräfte in Schatten setzen oder lähmen. Wie dem Ge-
lehrten daher dies oder das, was er sehr gut weiss, im Augen-
blick „entfallen" sein kann, so kann auch jede Thätigkeit und
erworbene Kraft des Geistes vorübergehend unbewusst und an
einer angemessenen und erwünschten Ausübung verhindert werden.
Der Unterschied zwischen dem Nichtvorhandensein einer leben-
digen geistigen Kraft, möge sie Kunst, Wissenschaft, Tugend
oder Religion heissen, und der blossen „Zur-Disposition-
Setzung" nach den Quantitätsgesetzen des Bewusstseins lässt
sich aber leicht nachweisen, da der Nichtbesitzer der Kunst den
gemachten Fehler auch nachher nicht einsieht und der Nicht-
religiöse auch nachher nichts weiter empfindet, während der
Künstler seinen Fehler selbst mit Verdruss oder Humor bemerkt
und der Religiöse nach dem Akt die Dissonanz seines Wesens
schmerzlich empfindet und sich selbst beschuldigt.
Ausser diesen bewussten Akten des Menschen, bei welchen
die religiöse Gesinnung mehr oder weniger unbewusst vorkommt,
finden sich aber auch regelmässige und unregelmässige Unter-
brechungen des religiösen Bewusstseins, z. B. täglich im Schlaf,
dann gelegentlich in der Ohnmacht, in Fieberphantasien, im Wahn-
sinn und in dergleichen Zuständen. Obwohl dies nun ganz be-
kannt ist, so dürfen wir dennoch diese Zustände in die Definition
der Religion nicht mit einschliessen, weil der Mensch in der
That bei solchen Zuständen keine Religion hat, sondern sie erst
mit Rückkehr seines Bewusstseins wiederfindet. Nur die Mög-
lichkeit solcher Zustände wird durch den Ausdruck „Gesinnung**,
welcher sowohl den einzelnen Akt, als die lebendige Kraft be-
deutet, offen gelassen; die Religion selbst aber als eine wirkliche
kann nur bei wirklichem Bewusstsein stattfinden, weshalb wir in
der Definition immer den Ausdruck der Gesinnung durch die
geistigen Thätigkeiten des Menschen fordern müssen.
Man könnte mir zwar erwidern, dass es auch eine Religions-
ausübung gebe, wie z. B. bei den Derwischen und im Demeter-
Cult, wobei ein ekstatischer Zustand und entweder Rausch oder
eine ähnliche Beraubung des Bewusstseins stattfinde; allein wenn
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Analysis der zusammengehörigen Elemente. 91
dies auch zugegeben werden soll, so besteht die Religion doch
nicht in dieser Religionsausübung, sondern in der Gesinnung des
Menschen, welche ihn mit Rücksicht auf sein Gottesbewusstsein
veranlasst, sich cultisch in diesen Zustand zu versetzen und seine
Gesinnung dadurch zu symbolisiren, weshalb er denn auch seine
Religion nicht verloren hat, wenn er wieder zu Vernunft gekommen
ist, sondern sich dann nur der geschehenen Ausübung eines Cult-
aktes erinnert. Der Einwand würde deshalb nur unter der Be-
dingung gültig sein, dass man solche Leute, wie die Derwische,
in bewusstem Zustande ftlr religionslos erklärte und ihnen nur in
der Haschisch-Ekstase Religion zuschreiben wollte, was doch
Niemand thut Es ist merkwürdig, dass man diese Bemerkung
auch gegen den grossen Theologen Schleiermacher wenden
muss; denn wenn er die Religion bloss in das Gefiihl setzt und
beim Hervortreten der vernünftigen Betrachtungen und der zuge-
hörigen Handlungen schon ein Erkalten und Absterben der re-
ligiösen Innigkeit und geradezu der Religion selbst annimmt, so
bekommt bei ihm die Religion doch den Charakter eines Rausches,
wenn er auch kein Betäubungsmittel, wie Haschisch oder Opium,
dazu gebraucht Jedenfalls sieht man, wie wichtig das Merkmal
in der Definition der Religion ist, dass die Gesinnung sich immer
in allen geistigen Funktionen symbolisiren muss.
Aus diesen Untersuchungen erschliessen wir als
generische Definition: Religion ist diejenige Gesin- ^***'*^^"^*°°-
nung, welche sich dem Gottesbewusstsein zugeordnet in zusammen-
gehöriger Function von Erkenntniss, Geftlhl und Handlung sym-
bolisirt.
Die Merkmale, Momente oder Coordinationsglieder in dieser
Definition sind Punkt ftir Funkt von uns erörtert und bewiesen.
Zu dem Merkmal „Gesinnung^', welches das Fundament bildet,
braucht nicht hinzugefügt zu werden: „des Menschen", weil
nur der Mensch eine Gesinnung in eigentlicher Bedeutung hat.
Die Unbestimmtheit dieser Definition aber ist gerade Zweck,
weil wir eine Gleichung wie in algebraischen Ausdrücken suchten,
durch welche alle wirklichen und möglichen Fälle und Arten
von Religion zusammengefasst werden sollen. Deshalb durfte
ftir Erkenntniss, GefQhl und Handlung kein bestimmter dogma-
tischer, ethischer und cultischer Begriff an die Stelle rücken.
Deshalb wird auch das Irreligiöse absichtlich eingeschlossen,
uiuuizeu uy "»fc^j vy\J>t Iv^
92 Definition der Religion.
weil es in die Sphäre der Religion gehört; denn die imanente
Negation y wie z. B. die des Atheismus, verlässt den üoordina-
tionskreis nicht, wie deshalb ja auch das Laster der Tugend
entgegengesetzt und doch zu dem Sittlichen gerechnet wird.
Sobald aber die Zuordnung zum Gottesbewusstsein wegfallt^ ge-
rathen wir sofort in nicht-religiöse Kreise, z. B. bei der Gesin-
nung als Kameradschaft, Freundschaft, Patriotismus u. dgl.
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Zweites Capitel.
Eintheilnng der Religionen.
Viele halten es für eine unmögliche Unterneh-
mung, die Religionen einzutheilen. Es gebe einmal keu einer Ein-
eine grosse Menge verschiedenartiger Religionen, die *>»«""o« *«'
zufällig hier und da entstanden wären-, man könne
sie allenfalls geographisch nach den Ländern, wo man sie vor-
findet, ethnographisch nach den Völkern, die sich zu ihnen be-
kennen, und historisch nach den Zeiten, in denen sie aufkamen
oder übertragen wurden, gmppiren und beschreiben, aber eine
wissenschaftliche Eintheilung wäre bei einem Dinge, das von so
vielen Zufälligkeiten abhängig sei, unthunlich und widersinnig.
Diese Annahme ist aber leichtfertig oder ungebildet; denn
da man zu grossem Vortheil sogar die Formen der scheinbar
zufölligsten Gebilde, ich meine die Wolken, eingetheilt hat, so
ist es von vornherein wahrscheinlich, dass die schon Jahrhun-
derte und Jahrtausende hindurch bestehenden grossen und festen
Massen der Religionen einer Ordnung und Eintheilung zugäng-
lich sind. Und wenn man eingesehen hat, dass die Religion
überhaupt eine nothwendige Erscheinung im menschlichen Leben
ist und dass sie dem Menschen ebenso charakteristisch zugehört
wie die Sprache (da man den Menschen als das der Sprache
oder der Religion fähige lebendige Wesen definiren und ihn da-
durch sicher von allen übrigen Wesen unterscheiden kann), so
folgt, dass nur Mangel an Energie in der Forschung oder ein
falsch und unglücklich gewählter Standpunkt der Betrach-
tung verhindert hat, die natürliche und nothwendige Ordnung
und Eintheilung der Religionen zu entdecken. Denn so gewiss
die Dreiecke und Parallelogramme einer festen und ewigen Ein-
theilung unterliegen, so gewiss und ewig, unveränderlich
und erschöpfend muss die Eintheilung der Religionen sein,
u.quizeauy Google
94 Eintheilungf
die an Noth wendigkeit ihres Ursprunges und Bestimmtheit ihres
Wesens nicht im mindesten hinter den Formen des Raumes oder
der Zahlen zurückstehen. Gäbe es überhaupt keine Möglichkeit,
die Religionen wissenschaftlich einzutheilen und zu ordnen, so
wäre die Religion kein Gegenstand wissenschaftlicher Unter-
suchung; und da nichts in der Welt sich der wissenschaftlichen
Erforschung entziehen kann, so wäre folglich die Religion über-
haupt nichts in der Welt. Wir müssen daher den Verzicht auf
eine wissenschaftliche Eintheilung nur als das Bewusstsein man-
gelnder Einsicht und als eine daraus hervorgehende Bescheiden-
heit auffassen, die mit der Natur der Sache und den Aufgaben
der Wissenschaft nichts gemein hat.
Nun ist man in der neuesten Zeit immer bereit,
Eintheiiuug. die Eutstchung aller Dinge zu suchen und demge-
mäss auch eine genetische Erklärung und Eintheilung
der Religion zu fordern.
Alle Entstehung ist aber doppelt, entweder nämlich historisch
und von menschlichem Standpunkt aus zufällig, oder ewig. So
z. B. ist die Entstehung unserer Kenntnisse von dem Saturnringe
oder der Geographie des Mondes historisch und zufällig, da zuvor
natürlich das Fernrohr erfunden werden musste; wenn wir aber
die Kugel durch Umdrehung eines Halbkreises um seine Axe ent-
stehen lassen, so ist dies eine ewige Entstehung, die von allen
historischen und zufUUigen Umständen unabhängig in allen Zeiten
vorgestellt werden kann.
Nun haben die Darwinisten, weil sie philosophisch unge-
schult waren, alle Naturformen historisch durch zufällige äussere
Einflüsse erklären wollen. Diese Erklärungsweise kann aber
nur richtig sein ftir solche Formen, welche keinen Sinn und keine
innere Ordnung haben, wie z. B. für die Gebirgsformen; denn
in dem Kampf um's Dasein werden etwa die krystallinischen
Steincolosse durch Wasser und Eis alhnählich zersprengt, durch
Gletscher zerstreut, ihre durch Bindemittel verkitteten Breccien
zu Conglomeraten in zufälligen Formen zusammengeballt u. s. w.
Bei all solchen Formen ist aber keine zweckmässige Ordnung,
kein einheitliches Zusammenwirken der physischen und chemi-
schen Functionen zur Erhaltung eines organischen Systems wahr-
nehmbar, wie wir solche Ordnungen doch in den Organismen
der Pflanzen und Thiere erkennen, deren Theile eine innere
uiymzeu uy V^jOOV IC
der Religionen. 95
Beziehung zu einander haben. Wie es deswegen lächerlich wäre,
wenn mau die Entstehung der Disputa von Kafael oder des
Kölner Domes darwinistisch erklären wollte, so muss es noch
viel mehr für unbesonnen gelten, wenn man die Organismen der
Thiere und ihre Arten durch zufällige äussere Umstände, Kampf
um's Dasein, Anpassung, kleine Abändemngen, Vererbung und
dergleichen zu erklären versucht. Ich habe dies schon in meiner
Schrift „Darwinismus und Philosophie" dargelegt, und es ist auch
bisher nichts dagegen eingewandt worden.*)
*) Unter den mancherlei ßecensionen, die meine Schrift erfahren, sind
mir besonders zwei in der Erinnerung geblieben. Die eine rührt von einem
eigentlichen Philosophen her, von Eucken in Jena (Jenaer Literaturzeitung
1878 No. 8), und ist im Wesentlichen zustimmend; die andere von dem be-
kannten leidenschaftlichen Darwinisten Prof. Otto Caspari (Kosmos lU. Jahr-
gang, lieft 8 und 9). Dieser Apologet des von mir verurtheilten Stand-
punktes sagt S. 82 : „Bei dieser Voreingenommenheit gegen den grossen Re-
formator der Erkenntnisskritik (Kant) ist es denn wohl verstilndlich, dass
Teichmüller nicht in vollem Masse in sich die Erschütterungen verspürte,
die, einem Erdbeben gleich, durch die Schriften Darwins erzeugt wurden."
Obgleich dies ein Vorwurf gegen mich sein soll, räume ich die Thatsache
gern ein; ich bedurfte diese Erschütterung eben nicht, weil ich den natür-
lichen Tendenzen der Untersuchungen, die Darwin ausführte, nie einen blin-
den Widerstand entgegengesetzt, sondern sie immer getheilt hatte. Wer
nicht schläft, braucht also auch nicht geweckt zu werden. — Gegen meinen
Standpunkt, den Caspari als Eleatismus und Dogmatismus bezeichnet und
darum unannehmbar findet, weil dabei feste Gesetze und eine absolute Te-
leologie in der Welt herrschten, macht er nun seinerseits den Darwinismus
als einen Heraklitismus und Empirismus geltend, weil er „eine real fortstre-
bende ewige Zeit" (S. 166) liebe und „für die grosse Welttragödie" (S. 171)
„tausende von kleinen Missbildungen und das übergrosse Heer von üebeln"
brauche und eine „Werde- und Veränderungslehre" haben wolle, damit „das
sogenannte Ganze (der Welt) niemals vöUig abgeschlossen und absolut ganz"
sei (S. 173). Caspari erkennt mir dabei die Ehre zu, von allen Gegnern des
Darwinismus die consequenteste Theorie aufgestellt zu haben: „Es sind in
der Literatur seit zwanzig Jahren neben der Darwin'schen Transmutations-
und Selektionslehre sehr viele Umbildungslehren aufgetaucht, die der von
Teichmüller aufgestellten mehr oder weniger ähnlich sind; dennoch muss
zugestanden werden, dass eine consequentere Lehre über Umformung auf
Grrund von einigen Urtypen und auf Grund einer ewig herrschenden und
planmässig lenkenden Uridee nicht erfunden werden konnte." (S. 171). Auf
dieses aufrichtige Bekenntniss kann ich nur meinerseits erwidern, dass mir,
weil ich das Darwinjsche Erdbeben nicht mit erlebt habe, alle diese Bestre-
bungen von Darwin, Häckel, Caspari, Eauber u. A. durchaus ei'wünscht sind
und dass ich den ganzen Standpunkt vollkommen anerkenne als das nämlich,
uiymzeu uy "V-j vyVjpt Iv^
96 Eintheiliiiig
Wenn nun die Religionen bloss aus irrigen Meinungen,
krankhaften Geftlhlen und absurden Gebräuchen beständen, so
könnte ireilich die darwinistische Ableitung aus zufälligen äusse-
ren Umständen die allein berechtigte sein. Wenn wir aber sehen,
dass die Formen der Religionen und ihre wesentlichen Charaktere
sich bei allen Völkern und in allen Zeiten und auch bei allen
einzelnen Individuen in gesetzmässiger und constanter Weise
wiederholen, so ist von vornherein anzunehmen, dass ihre For-
men auf den wesentlichen und allgemeinen Functionen
woför er sich giebt, als Empirismus, d. h. als Versuch, möglichst viel Er-
fahrungen zu machen und perspectivisch die Linien der Naturformen zu
Überblicken. Nur darf sich dieses durchaus berechtigte Streben nicht Theorie
und Philosophie nennen, wovon es sich doch gerade abwendet. Wenn einer
auf Reisen geht, kann er nicht zugleich in der Heimath bleiben. — Darum
kann von einer Widerlegung meiner Philosophie oder auch nur von einer
Einwendung gegen dieselbe in Caspari's Becension gar keine Rede sein;
denn Begriffe können nur durch Begriffe widerlegt werden; bei Caspari sind
aber alle Begriffe wie Zeit, Gausalität, Zufall, Ganzes, Relativ, Absolut, Ge-
setz u. 8. w. nur nach dem Sprachgebrauch aufgenommen und wie ein tumul-
tuarischer Yolkshaufen gegen ein geordnetes Heer bloss durch Murren in
Bewegung gesetzt. Jede Analyse jedes beliebigen Begriffs, den Caspari ver-
wendet, würde aber sofort zeigen, dass im Denken alles fest ist, Identi-
tätsgesetz, Satz des Grundes, Methode des Begreifens u. s. w. Mithin ist
absolute Veränderung und allgemeines Werden ein nicht zu denkender Ge-
danke, eine blosse Einbildung. Denn selbst wenn das, was wir heute für
wahr halten, in hundert oder tausend Jahren nicht mehr wahr sein sollte,
so bliebe doch der Gegensatz von Wahr und Falsch ganz unveränderlich
fest und ebenso der Gegensatz von Ruhe und Veränderung, Zweck und Zu-
fall u. s. w. Mit einem einzigen festen Begriff sind aber sogleich minde-
stens zwei feste Beziehungspunkte gegeben, mit jedem von beiden wieder je
zwei und so fort, bis mit einem Schlage fOr den Denkenden das Ganze der
Welt überhaupt feststeht. Wer aber ein so grosser Freund der Veränderung
ist, dass er alle Begriffe wie alle Dinge in's Werden und Fliessen bringen
will, der wird also auch den Begriff der Wahrheit zur Veränderung treiben
mQssen und damit also nicht bloss seine eigene bisher fQr wahr gehaltene
Ueberzeugimg aufgeben und als falsch erkennen, sondern überhaupt keinen
Unterschied mehr zwischen Wahr und Falsch machen, also auf Wissenschaft
verzichten. Ebenso wird er die Veränderung zur Veränderung, d. h. zur Ruhe
treiben und zwar nicht bloss die Dinge, bei denen das ja allerdings vorüber-
gehend immer so erscheint, sondern auch die Begriffe, so dass er sich also
mit der sich verändernden Veränderung zur Ruhe setzt und seine frühere
Theorie widerlegt. Kurz von Philosophie ist bei Caspari und den Darwinisten
keine Rede; die blosse Empirie als ein Forschungsversuch wird aber von
jedem Philosophen immer gutgeheissen und anerkannt werden.
uiymzeu uy V^jOOv IC
der Religionen. 97
der menschlichen Seele beruhen, und mithin mnss wie bei
den Formen der Parallelogramme und der Winkel eine transcen-
dentale und apriorische Eintheilung nicht bloss möglich, sondern
auch nothwendig sein.
Eine mittelbare Gonfirmation dieses Resultates können wir
auch daraus entnehmen, dass in der That alle Versuche einer
bloss historischen Ableitung und Eintheilung der Seligionen
euhemeristischer Art oder auf inductiver Grundlage und nach den
Stufen der Gulturentwickelung, oder wie man es nennen möchte,
bisher verunglttckt sind. Die bloss geschichtliche Betrachtung
kann eben nur die Thatsachen constatiren, aber weder ein Ein-
theilungsprincip , noch einen hinreichenden Grund für die ver-
schiedenen Arten der Religion und ihre Zahl ausfindig machen,
noch auch einen Massstab darbieten, um den Werth derselben
abzumessen.*)
Alles dies muss eine speculative Eintheilung j^,^ gpecniative
leisten oder als unreif und ungenügend verurtheilt Eintheiinng.
werden, um endlich derjenigen Speculation Platz zu machen, die
ohne alle Schwierigkeiten die Frage lösen kann.
*) Den neuesten Versuch einer Eintheilung der Religionen
hat 0. Pfleiderer gemacht. Er hebt in seiner „Genetisch- ü»*»«'
speculativen ReUgionsphüosophie" 1884 (ö. Reimer) mit Recht E,^jf^\^i^''^
hervor, dass Sagengeschichte, Sprachvergleichung und Ethnologfie
nicht im Stande sind, uns den Ursprung der Religion zu erklären, weil wir
einer Deutung der Thatsachen bedürfen und daher die Psychologie und also
überhaupt die Philosophie in erster Linie für dieses Problem in Anspruch
nehmen müssen. Allein im weiteren Fortgang seines Werkes begnügt sich
0. Pfleiderer doch mit einer nur historischeu Gruppirung der Religionen, die
er unter den Titeln: 1. Anfänge der Religion, 2. Indogermanische Religion
(Inder, Perser, Germanen, Griechen, Römer), 3. Semiten (Juden, Islam),
4. Christenthum behandelt. Dabei liegt kein psychologisches oder meta-
physisches Eintheüungsprincip zu Grunde, was ja auch unmöglich wäre, da
die verschiedenen Völker nicht bestimmten Oertem in dem Organismus der
Seele oder in dem System der Begriffe entsprechen können. Auch die Be-
handlung der einzelnen Religionsgruppen ist von Pfleiderer nicht so durch-
geführt, dass man etwa schliesslich immer zu einem festformulirten Religions-
typus gelangte, sondern wir begegnen vielmehr nur einer anmuthigen und
kritischen Zusammenfassung aller bisherigen positiven Forschungsarbeit,
sowie an mehreren Stellen sehr interessanten eigenen Forschungsresultaten
des Verfassers. Im Ganzen also ist diese jüngste bedeutende Arbeit ein
Zeichen, dass man bis jetzt noch keine Eintheilung der Religionen finden und
kein Eintheüungsprincip aufstellen konnte, dass mithin eine grosse Lücke
in der Religionsphilosophie besteht und ihrer Ausfüllung harrt. ^-^ ,
Teichmüller. Religlonaphlloaophle. Digitized b7V^OOglC
98 Eintheilung
Nun mnss jede Eintheilnng auf das Wesen der Sache, welches
in der Definition formulirt wird, zurückgehen, sofern nicht eine
äusserliche, also zufallige Anordnung, sondern eine wesentliche, also
nothwendige und naturgemässe Gliederung erreicht werden soll.
Wesentlich für die Religion war aber die Bethätigung der dem
Gottesbewusstsein zugeordneten Gesinnung durch Handlung, Ge-
fUhl und Erkenntniss, und es müssen daher zuerst diese geistigen
Manifestationen nach ihrer Brauchbarkeit ftlr ein Eintheilungs-
princip untersucht werden.
Da nun die Handlung als religiöse nur insofern erscheint,
als sie aus einer gewissen Vorstellung von göttlichen Dingen
und aus einem damit in Zusammenhang stehenden Gefühle her-
vorgeht, so kann das Element der Handlung in der Seligion nur
als zweiter Hand und abhängig gelten, obgleich es allerdings
charakteristisch (proprium) und von dem Specifischen unabtrenn-
lieh sein mag. Wir dürfen daher zwar nicht bestreiten, dass
sich eine richtige und natürliche Eintheilung der Religionen aus
dem Eintheilungsgrunde der religiösen Handlungen ableiten lassen
könne, müssen jedoch behaupten, dass eine solche Eintheilung,
wenn sie versucht und gelungen wäre, nur als Confirmation für
die Richtigkeit einer anderen vorhergehenden gelten könne, die
aus der ursprünglichen Coordination von Geflihl und Gottes-
erkenntniss stammt, wodurch in erster Linie alle Religion be-
stimmt wird.
Wenn wir aber nun wieder diese beiden wesentlichen Ele-
mente prüfen, so möchte zunächst das Wollen oder Gefühl als
der eigentliche Sitz der Religion erscheinen, dagegen das zuge-
hörige Wissen, worin die Gotteserkenntniss liegt, nur als Be-
ziehungspunkt; denn Niemand wird etwa blosse Erkenntnisse
und Begriffe, die schulmässig definirt, discutirt und demonstrirt
werden können, auch wenn sie sich auf Gott und göttliche
Dinge beziehen, flir Religion halten. Dagegen gilt das Geflihl
überall, wo es auftritt, sofort selbst als Religion, wenn es sich
nur auf Gott und göttliche Dinge bezieht, ohne dass diese Dinge
einer schärferen, schulmässigen Fassung bedürften. Es scheint
daher, als wenn die Eintheilung der Religion am Wissenschaft-
lichsten zum fundamentum divisionis das Gefühl selbst nehmen
müsste. Allein zwei Gründe stehen entgegen. Erstens nämlich
ist das Geflihl seinem Wesen nach keine Erkenntniss und kann
u.quizeauy Google
der Eeligionen. 99
deshalb auch nnr durch Zeichen (semiotisch) oder durch gewisse
dem GefUhl selbst heterogene Beziehungen ftir die Erkenntniss
dargestellt werden. Und zweitens kann das Gefühl nur dann
als ein religiöses gelten, wenn es in Beziehung zu einer be-
stimmten Gottesvorstellung entsprungen ist. Lassen wir diese
Beziehung weg, so giebt es keinen Grund mehr, die Gefühle zu
unterscheiden, und einige als weltlich, andere als religiös zu
bezeichnen.
Mithin bleibt nichts übrig als das Element der Erkennt-
niss, welches zum richtigen Eintheilungsprincip der Eeligion
gebraucht werden könnte. Da diese Erkenntniss aber nicht selbst
die Beligion ausmacht, so muss ihr entsprechend immer ein be-
stimmtes Gefühl als zugeordnet nachgewiesen werden, mit
welchem zusammengenommen sie erst eine bestimmt charakteri-
sirende Art des religiösen Geistes ausmachen kann, ebenso wie
auch bestimmt zugehörige Handlungen als charakteristisch Air
jede gefundene Eeligionsform anzugeben sind.
Wenn wir die Gotteserkenntniss selbst als Ein-
theilungsgrund, der also wiederum eingetheilt werden theiiungsgrond
muss, betrachten, so ist klar, dass die Frage zunächst ^ **«" oottes-
_ • 1 bewusstsein.
an das Tnbunal der Metaphysik verwiesen werden
muss. Diese Bestimmung des Forums für unsere Frage könnte
vielleicht bezweifelt werden; denn es ist ja fllr die Eintheilung
selbst gleichgültig, ob das Gottesbewusstsein in der Form
strenger BegriflFe mit sicherer Ableitung auftritt, oder ob es in
dem wärmeren und dunstreicheren Elemente des Volksglaubens
athmet. Immer ist ftlr uns bei aller Betrachtung der Religion
nur das Specifische des theologischen Bewusstseins massgebend,
und wir können aus dem Volksglauben meistens ohne grosse
Schwierigkeit die verdunkelnden Nebenvorstellungen absondern
und die bildliche Ausdrucksweise in ihren eigentlichen Sinn über-
setzen; denn die speculative Vernunft, aus welcher alle Gottes-
erkenntniss hersl^mmt, ist gar nicht an Gelehrsamkeit gebunden,
sondern kann in jedem selbständigen Kopfe mit den einfachsten
Ausdrücken ihre Schauungen darlegen, wenn sie fi-eilich auch
für die Anerkennung ihres Werthes eine wissenschaftliche Aus-
einandersetzung mit den bisherigen metaphysischen Lehren be-
darf. Wenn wir deshalb hier die Metaphysik anrufen, so soll
unsre Frage damit nicht etwa aus der Region des Volksglaubens
uiymzeu uy x^_j vyVjy Iv^
100 Eintheilung
weggeführt und bloss den trockenen Disputirübungeu der Schule
übergeben werden, sondern ich will damit nur erklären, dass das
Gottesbewusstsein in den Völkern überhaupt ihre metaphysische
Vernunft ist und daher flir die Gelehrten am Kürzesten und Be-
quemsten in den speculativen Begriffen der Metaphysik aus-
gedrückt werden kann.
Ich trete hiermit natürlich den Comte'schen und verwandten
modernen Auffassungen entgegen, die aber auch keine irgend
beachtenswerthe philosophische Begabung ihrer Besitzer an den
Tag legen; denn die Metaphysik ist eine ebenso natürliche
Thätigkeit der Vernunft, wie das Sehen flir das Auge und das
Hören ftir das Ohr; es kann deshalb einem Philosophen nur
wunderlich vorkommen, wenn Jemand wie Comte behauptet, dass
es eine Zeit gegeben habe vor der Metaphysik und dass eine
Zeit nach der Metaphysik mit der Morgenröthe des Positivismus
angebrochen sei; denn solche Zeiten hat es nie gegeben. Sollte
aber der Positivismus, der ein blosser Skepticismus, d. h. ein Be-
wusstsein persönlicher Unfähigkeit ist, die Morgenröthe der neuen
Zeit bilden, so müsste der Zeitordnung entsprechend bald die
Sonne wieder aufgehen und sich also eine neue Metaphysik aus-
bilden, damit die Menschheit nicht in dem Schatten einer geist-
armen Dämmerungswelt lichtscheu verkümmere.
Der Positivismus ist aber nicht etwa zu tadeln; er bezeugt
vielmehr die Wahrheit, dass die früheren metaphysischen Systeme
in der That vor der Kritik nicht bestanden und noch keine neue
Grundlegung mit der Kraft überzeugender Wahrheit hervorgetreten
war. Darum konnte auch die bisherige Philosophie die richtige
Eintheilung des Gottesbewusstseins nicht finden, weil sie über
die Natur des Seins sich nicht berathen und mit Einschluss von
Kant, Herbart, Hegel, Krause, Lotze und wen man von den Mo-
dernen noch nennen möchte, sich immer an die Begriffe der
griechischen Philosophie bewusst oder unbewusst angeschlossen
hat. Es bleibt uns also nichts übrig, als positivistische Resi-
gnation oder ein neuer Versuch. In meiner Grundlegung der Meta-
physik habe ich nun den einfachen und natürlichen Weg in
speculativen Begriffen beschrieben, auf welchem die Idee des
Seins in der Menschheit unbefangen gewonnen ist und dadurch
die Möglichkeit einer neuen Weltbetrachtung erwiesen, die ge-
rade mit der christlichen überall zusammentrifft:.
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der Religionen. 101
Ich lasse hier aber die kritische Erörterung der früheren
Auffassungen bei Seite und gebe, indem ich auf meine Meta-
physik daflLr verweise, jetzt nur die positive Eintheilung des
Gottesbewusstseins. Dieses darf jedoch nicht allein auf die
wahre Metaphysik bezogen werden, weil man sonst nur eine
einzige Religion, nämlich die wahre Religion des Christenthums
erhalten würde. Um die einseitigen und falschen Religions-
formen mit zu umfassen, muss man auch die zugehörige Meta-
physik hinzunehmen. Demgemäss gehen wir von dem Gedanken
aus, dass zuerst unmöglich in der Menschheit ein Interesse vor-
handen sein konnte, das Sein und Wesen aller Dinge wissen-
schaftlich zu erkennen und Gott als das Seiende an sich zu be-
stimmen. Vielmehr musste alle Nachforschung nach den Ur-
sachen sich zuerst auf die Gegenstände unserer Leidenschaften
nach Furcht und Hoffnung und später auf die sittlichen Gefühle
beziehen, welche den Menschen beseelen, wenn er als erscheinende
Persönlichkeit unter anderen seines Gleichen handelt Mithin
hatte der Mensch zuerst mit der scheinbaren Welt zu thun
und musste deshalb alle Ursachen und also auch den Gott als
Gegenstände bestimmter oder unbestimmter Art in diese Welt ver-
setzen und von sich unterscheiden und sich gegenüberstellen,
d, h. projiciren. Darum nenne ich die unterste Stufe der Religion,
auf welcher der Mensch den Gott (welchen er glaubt, fürchtet
und verehrt) von sich dem Subject als ein äusserliches Object
abtrennt, projectivische Religion.
Später aber wird die Metaphysik kritisch und es stellt sich
heraus, dass der geglaubte Gott als Object eines glaubenden
oder erkennenden Subjects von diesem Subject unabtrennlich ist
als ein Subject-Object. Dadurch entstehen die pantheisti-
schen Religionen.
Beide Formen des Gottesbewusstseins gehören aber ein:r
unreifen Metaphysik an, die erste der naiven, die zweite der ein-
seitig subjectiven. Darum erhob sich siegreich über sie das
Ghristenthum, welches das ganze menschliche Bewusstsein um-
fasste und dadurch die BegriflFe von Wesen (Substanz), Sein,
Zeit und Ewigkeit, Erkennen, Object und Subject in einer neuen
und wahren Gestalt ausprägte, wodurch die Stellung des Menschen
als selbständiger Persönlichkeit Gott gegenüber ohne projectivischen
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J
102 Eintheilung
Schein and ohne pantheistische Verflüchtigung mit einem Mal
verständlich wurde.
So haben wir ausser dem Ghristenthum nur zwei specifisch
verschiedene Religionstypen. Diese lassen sich aber nach a priori
erkennbaren Eintheilungsgrtinden wieder in mehrere Gattungen
scheiden, von denen eine jede ein specifisch bestimmtes System
von zusammengehörigen Elementen bildet.
1) Die ^* nämlich von dem Religiösen das Gottes-
projecUTiBche bcwusstseiu uicht in wissenschaftlichem Interesse ans-
Theologie, g^bü^gt wird, soudem der Gott vielmehr immer nur
die Goordinate fUr die Gesinnung des Menschen ausmacht, der
diesem Bewusstsein gemäss denkt, ftlhlt und handelt, so kann es
auch keine projectivische Religion geben, die bloss unserem Ge-
fllhl für das Wahre entspräche, d, h, worin der Geist bloss als
Object schlechthin, als das Sein und Wesen der Dinge betrachtet
würde; denn eine solche Theologie würde gegen die Hypothesis
sein, sofern sie nur in Coordination zu dem Erkenntnissvermögen,
aber nicht zu der Gesinnung stände, die das persönliche Ver-
halten des Menschen zu einem solchen Wesen ausdrückt. Also
giebt es keine projectivische Theologie, die bloss dem Gefhhl
der Wahrheit coordinirt wäre.
Demgemäss bleiben, da die Theologie vielmehr selbst die
dem Gefühl der Wahrheit entsprechende Erkenntnissleistung
bildet, nur zwei Gattungen von projectivischer Religion möglieh,
nämlich erstens dasjenige Gottesbewusstsein, welches die Goordi-
nate für un^er der bewegenden und handelnden Function zu-
geordnetes Gefühl bildet, und zweitens dasjenige, welches dem
Gefühl als Gefühl, d. h. dem der Ordnung der geistigen Functionen
selbst zugeordneten Gefühle entspricht.
Durch die Bewegung und Handlung sind wir mit der Aussen-
welt verflochten und haben dadurch unsere Existenz oder unseren
Tod, Gesundheit oder Krankheit, Besitz oder Verlust, Nahrung
oder Noth, Gelingen oder Misslingen, Glück oder Unglück, Ehre
oder Schande, Freiheit oder Knechtschaft, und alles dies auch
wieder in Bezug auf jedes Ding und jede Person, die wir be-
sitzen. Da nun all dieses unser Gefühl zunächst nur nach der
negativen Seite erregt, so entspricht diesem Gottesbewusstsein
die Furcht, und ich nenne deshalb die zugehörige Religion die
Religion der Furcht,
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der Religionen. 103
Wenn wir aber dies ganze Gebiet eliminiren, so bleibt als
Coordinate für das Gottesbewusstsein nur das Gefühl als Gefühl
schlechthin übrig, d. h. die Ordnung der geistigen Functionen
selbst abgesehen von einem bestimmten Inhalt. Diese Ordnung
und die entsprechende Unordnung hat sich coordinirt immer den
Begriff des Gesetzes oder des Rechtes, des Guten und Heiligen
und umgekehrt den Begriff der Sünde und Gesetzesübertretung.
Da nun auch hier das Positive nicht zum Bewusstsein kommt
ohne vorherige Empfindung des Negativen, so muss das Gottes-
bewusstsein in seiner Zuordnung zur Gesinnung des Menschen
hier eine Religion der Sünde oder Rechtsreligion bilden.
Das Gesetz wird darin aber projectivisch gefasst, indem der
Grund und das Wesen dieser Ordnung mit seinem zugehörigen
Gefbhl unerkannt bleibt.
Eine dritte Gattung ist nicht möglich, weil der Mensch nicht
mehr geistige Functionen als drei besitzt, welche durch die Ein-
theilung erschöpft sind. Dieser apriorischen Eintheilung ent-
spricht aber die historische Wirklichkeit niemals völlig, da die
Functionen zusammenwirken und höhere Stufen schon bemerklich
werden, wenn auch die Masse der Gläubigen noch auf der nie-
deren Stufe steht, so dass die Wirklichkeit lauter unreine
Formen enthalten muss, deren Elemente, Mischungsverhältnisse
und Werthbestimmungen aber nur durch die a priori vollzogene
Eintheilung verständlich werden können.
Den Uebergang zu einem zweiten Typus von Re-
ligionen bildet nun der Atheismus, der den unge- theisttBchcn
bildeten Gährungszustand des Bewusstseins enthält, B«i*8ioncn
in welchem die frühere Auffassungsweise der Welt sich zerstört,
die neue aber noch nicht geordnet ist Der Atheist hat deshalb
nur das Geschäft des Schinders und im besten Fall des Rich-
ters, der den Delinquenten zum Tode verurtheilt Der Atheis-
mus heisst deshalb Skepticismus, Kriticismus, Positivismus, Em-
pirismus, wenn noch keine höhere Form eines gebildeten Be-
wusstseins gewonnen ist; als relativer Atheismus aber muss jeder
höhere Standpunkt dem niederen projectivischen gegenüber er-
scheinen, weil er die aussen stehenden Götter wegnimmt, wes-
halb die Kirchenväter dem Heidenthum gegenüber einen atheisti-
schen Anstrich hatten nnd auch die allgemeinen Mittel des Atheis-
mus, z. B. Spott und Hohn, anwendeten.
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104 Eintheilang
Der neue Typus des religiösen Bewusstseins besteht aber
in der Ueberftihrung des projecti vischen Objects in das Öubject
In dem Pantheismus nimmt der Geist seine Geburt, den Gott,
in sich zurück, und es ist daher der Gott unser Geist selbst.
Da der Geist aber in drei Thätigkeitsformen sich offenbart, so
lassen sich a priori drei Gattungen der pantheistischen Religion
construiren, jenachdem jede dieser Thätigkeitsformen zur Haupt-
sache und die andern beiden entsprechend zu Nebensachen oder
dienenden Begleitern gemacht werden.
Der Pantheismus der That oder Handlung erstens lässt
sich aber wieder in verschiedene Arten a priori zerlegen, weil
das bewegende Vermögen des Geistes verschiedene a priori er-
kennbare Gebiete bildet, in welchen die Bewegung einen spe-
cifisch verschiedenen Charakter besitzt Diese Division ist an
ihrem Orte zu vollziehen.
Der Pantheismus des Gefühls dagegen ist seiner Natur
nach einartig, weil die Unterschiede des Gefühls sich nur
durch Ausbildung der handelnden Function oder der Erkenntniss
entwickeln könnten, welche aber gerade in das Gefühl ver-
schwinden sollen.
Der Pantheismus der Erkenntniss endlich ist auch
einartig, weil es zwar mehr oder weniger verschiedene idealisti-
sche Auffassungen Gottes geben kann, das specifisch Religiöse
dabei aber immer das Geflihl flir das Subject-Object bleibt,
welches durch die Denkbewegung als gegenwärtiger göttlicher
Geist vorhanden ist.
Ausser diesen drei reinen Gattungen kann es keine andere
mehr geben; die bei den Menschen vorgeftmdenen pantheistischen
Religionszustände werden aber inmierhin durch mancherlei Mischun-
gen viele Nuancen enthalten, welche flir die Wissenschaft von
wenig, flir die persönliche Annehmlichkeit jedoch von grosser
Wichtigkeit sind.
In dem Pantheismus ist mit Recht der projec-
3. Dm ohriaten- tivischc Gott aus dcu Wolkcu abgcholt, um in die
That, das Herz und den denkenden Geist des Men-
schen einzukehren. Allein mit dem Object muss leider auch das
Subject, das Ich, die Persönlichkeit abhanden kommen und trans-
figurirt werden, so dass schliesslich nur die Bewusstseins -Er-
scheinung übrig bleibt, d. h. die Reihe der einzelnen Akte, in
Digitized by
Google
der Beligionen. 105
welchen das menschliche Bewnsstsein bald diesen, bald jenen
ideellen Inhalt umfasst. Das Verschwinden des Ich's, oder der
Persönlichkeit ist für den Pantheismns ebenso specifisch, wie das
Verschwinden der projectiven Aeusserlichkeit des Gottes. Es zeigt
sich also, dass dem Pantheismus die Erkenntniss des selbstän-
digen Seins fehlt; denn dem Pantheisteu gilt als Sein nur die
bestimmte (concrete) einzelne Bewusstseinserscheinung, oder die
unbestimmte (abstracto oder ideelle) Totalität des Inhalts der Er-
scheinungen, welche wegen der absoluten Unbestimmtheit einge-
standenermassen gleich Nichts ist
Es muss daher eine neue Metaphysik aufgebaut werden,
welche sich auf den Ursprung unserer BegriflFe vom Sein wissen-
schaftlich besinnt und nicht so rathlos in der Sprache vorgefun-
dene Wörter, wie Sein und Nichts, ausgiebt, ohne die Aechtheit
und Gültigkeit dieser cursirenden Münzen zu prüfen. Diese neue
Metaphysik bedarf aber keiner künstlichen Apparate und ver-
wickelten Gedanken-Constnictionen, sondern sie ist die einfache
Philosophie der Menschheit von Anbeginn bis auf den heutigen
Tag, und Jeder braucht sich nur selbst zu befragen, so kann er
die wahre und natürliche Methaphysik als Antwort erhalten.
Denn wer zweifelte daran, dass er selbst existirte und ein wirk-
liches lebendiges Wesen wäre! Welches Kind wäre nicht ebenso
wie jeder noch so kluge Mann von sich selbst aus Entdecker
und Bekenner der wahren metaphysischen Erkenntniss, dass seine
Verwandten, Freunde und alle Personen, mit denen er verkehrt,
wirkliche lebendige Wesen, „Dinge an sich" und nicht bloss Er-
scheinungen in seinem Bewusstsein sind! Diese einfache Mensch-
heitsphilosophie wird nun unsicher durch die vielen späteren Er-
fahrungen, und dies ist der einzige Grund, weshalb man sich in
den philosophischen Fragen nicht auf das unbefangene Urtheil
von Jedermann berufen kann; denn überall, wo die Gegenstände
zu mannigfaltig oder unabsehbar und die Bedingungen und Hülfs-
mittel des Urtheils zu verwickelt werden, da tritt der einfache
Mann vor dem Techniker zurück. Gleichwohl müssen die letzten
und elementaren Gründe aller Urtheile immer für Jedermann
verständlich sein und ihre Gewissheit aus der allgemeinen Ver-
nunft schöpfen. Aus demselben Grunde, weshalb die Philosophie
technisch wird, stammen aber auch sowohl die verschiedenen
und entgegengesetzten Urtheile der Techniker, als ihre zahllosen
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106 Eintheilung
Irrthümer. Und dasjenige System wird immer siegen, welches
die Quellen der Irrthümer der anderen aufdecken kann, und
wird soweit die Wahrheit treflfen, als es auf die einfache Ver-
nunft der Menschheitsmetaphysik als auf seinen letzten Grund
zurückgeht und dadurch die verwickelten Phänomene zu deuten
versteht.
Diesen Versuch habe ich in meiner ,,Neuen Grundlegung der
Metaphysik" unternehmen wollen. Da aber eine neue Metaphysik
sich erst Bahn brechen muss durch die vielen künstlichen und
einseitigen Theorien, die alle Köpfe der mehr oder weniger ge-
schulten Gelehrten erftlllen, so muss die positive Darstellung
mit einem lebhaften Gefecht nach allen Seiten, d. h. mit Kritik
beginnen. Deshalb habe ich die Quellen der Irrthümer der frü-
heren Metaphysik aufgedeckt; ich habe gezeigt, dass wir nicht
in der Weise von Xenophanes und Piaton von dem BegriflF der
Zeit ausgehen dürfen, um in dem ideellen Inhalte desBewusst-
seins das Immerbleibende dem Wechselnden gegenüber als das
Wahrhaftseiende zu bestimmen; nicht in der Weise des Aristo-
teles ein Anschauungsbild zum Modell nehmen dürfen, um an
ihm, wie an dem Bilde vom Ochsen und seiner Farbe, Substanz
und Accidenz kennen zu lernen; endlich auch nicht wie Fichte
und Hegel das Wissen und den Erkenntnissprocess als Grund-
lage brauchen dürfen, um von dieser einseitigen Function aus
das Allgemeine (Idee) als die Substanz und das Einzelne als
das Accidentelle oder Scheinende und Aufzuhebende zu begreifen.
Vielmehr erwies sich, dass der natürliche und exact wissen-
schaftliche Anfang mit dem ganzen Bewusstsein zu machen ist,
in welchem wir mit Zustimmung der ganzen Menschheit das Ich
als selbständiges und zeitloses Wesen antreffen, welches den
Typus aller Substanzbegriffe bildet, und in welchem wir auch
die realen Acte in verschiedenen Thätigkeitsformen unterschei-
den, ebenso wie ihren zugehörigen ideellen Inhalt. Dadurch
tritt das blosse Wissen von dem Throne zurück und stellt sich
zugeordnet in die Reihe der drei geistigen Thätigkeiten.
Durch diese neue Metaphysik ist der Boden gewonnen, um
den Begriff des selbständigen Wesens (Substanz) fruchtbar zu
machen; denn es ergiebt sich nun die Möglichkeit, nicht bloss
die bisher unlöslichen Probleme der Zeit und Bewegung aufzu-
lösen und die Unendlichkeit der Erscheinungen perspectivisch zu
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der Religionen. 107
erklären, sondern anch die volle Wesenhaf tigkeit and Selbstän-
digkeit andrer Persönlichkeiten und einer ausser dem Bewusst-
sein liegenden Welt zu verstehen, mit der wir, obwohl sie nur
in dem Bewusstsein erscheint, verkehren und deren Ordnung und
Gesetzmässigkeit wir semiotisch feststellen können. Zugleich
eröffnet sich durch diese Gemeinschaft der Wesen der Blick ftlr
eine weitere Fassung des Substanzbegriffes, da, wie die Akte
und ihr Inhalt dem selbständigen und zeitlosen Ich zugehören,
alle Wesen mit ihren Akten und ihrem ideellen Sein wiederum
offenbar einem einzigen Wesen zugeordnet sind, welches jedes
Wesen in seiner zeitlosen, d. h. in aller Zeit identischen Selb-
ständigkeit lässt und sich doch, wie das Ich von seinen Akten,
von allen diesen Wesen unterscheidet, und so mit eigenem, nicht
sunmiirten Bewusstsein, Kraft, Wissen und Liebe sich in aller
Natur und in dem technischen System der Geschichte offenbart.
Diese neue Basis der Theologie ist aber im Christenthum
schon historisch gegeben und von den Philosophen und philoso-
phirenden Theologen nur wegen ihrer Abhängigkeit von den
hellenischen Kategorien nicht begriffen. Die Philosophie des
Ghristenthums hat daher .die Aufgabe, diese falschen hellenischen
Auffassungsformen bei Seite zu lassen, um von dem neuen und
allgemein menschlichen Standpunkte aus das specifisch Christ-
liche zu erkennen und das ihm zugeordnete dogmatische, ethische
und cultische System zu construiren, speculativ aus den tiber-
lieferten Grundgedanken der Lehre, und philologisch und histo-
risch aus den überlieferten Schriften und der Geschichte der
Kirche. Die Philosophie des Ghristenthums braucht daher nicht
mehr bloss apologetisch zu sein, weil die philosophischen Schulen,
von welchen bisher die Angriffe gegen das Christenthum aus-
gingen, selbst in ihrer principiellen Unrichtigkeit sich ausgewie-
sen und durch ihr historisches Resultat, den Positivismus, sich
ein Armuthszeugniss ausgestellt haben; es dreht sich vielmehr
um einen positiven Aufbau in wissenschaftlicher Form.
Es ist die Frage, ob die gegebene Eintheilung E^t^ekeiunge.
nicht dadurch zu verbessern sei , dass man sie zu lehro. Topik
einer Entwickelungsgeschichte im Darwinisti- '""^ »«»cwchte.
sehen oder HegePschen Sinne umarbeitete. Gegen solches Vor-
haben muss man sich aber im Interesse der Wissenschaft ener-
gisch verwahren. Die Darwinistische von der Zeitillusion
uiymzeu uy "V-j vyVjVt Iv^
108 Eintheilung
beherrschte EntwickeluDgslehre zwar würde ich gleich annehmen,
sobald man vorher bewiesen hätte, wie die Richtungen nach
Oben und Unten sich allmählich aus den Richtungen nach Rechts
und Links entwickelt hätten und welche Art der Parallelogramme
zuerst vorhanden gewesen sei und die anderen Arten durch An-
passung und Vererbung hervorgebracht hätte. Da aber selbst
die philosophisch nicht besonders geschulten Gelehrten einsehen,
dass alles dies als sogenannte ewige Wahrheit zeitlos ist, so
könnte überhaupt nur Hegers Entwickelungstheorie in Betracht
kommen, wonach die Formen als ideelle Entwickelungsstufen
zwar ewige Momente des dialektischen Processes bilden, wegen
der Identität des Realen und Idealen jedoch eine der logischen
Ordnung entsprechende geschichtliche Abfolge beobachten, da
der historische und der logische Process nach Hegel zusammen-
fällt Doch diesen Irrthum HegeFs haben die Empiriker der
Natur- und Geschichts-Forschung ja schon überall widerlegen
können. Auch ich habe in meinen Arbeiten zur Geschichte der Be-
griffe an vielen Punkten im Einzelnen nachgewiesen, dass die
sich einander logisch folgenden Erkenntnissstufen in der Ge-
schichte gleichzeitig nebeneinander stehen bleiben, weil der zur
Geburt gelangende Mensch die Producte der früheren Geistes-
entwickelung nicht erbt und mit in die Wiege bringt, sondern
immer von vom anfängt, und auch die Seelen der kommenden
Geschlechter den Seelen der verflossenen Welt nicht tiberlegen
an natürlicher Begabung sind. Aus diesem Grunde ist der
Hegersche Versuch zu oberflächlich und kann mit der wirklichen
Weltgeschichte nicht übereinstimmen, die sich auch durch die
künstlichsten dialektischen Operationen nicht in den logischen
Process eingliedern lässt
Darum lege ich Werth darauf, nicht eine solche Darwinisti-
sche oder Hegel'sche Entwickelungsgeschichte , sondern eine
Topik aufzustellen. Denn einerseits sind die durch die Defi-
nition und die Eintheilung gegebenen Begriffe fest bestimmte
Oerter in dem Goordinatensystem der religiösen Sphäre und an-
dererseits wird durch alle Jahrhunderte jeder Mensch nach seinen
Anlagen und seiner geistigen Entwickelung immer eine religiöse
Gesinnung haben, die durch den einen oder den andern dieser
Oerter zu bestimmen ist, wie jedes mögliche Parallelogramm,
welches gezeichnet oder vorgestellt wird, immer zu Einer
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der Religionen. 109
der vier Arten gehören muss. Es ist mir deshalb gar nicht
verwunderlich, dass mitten im neunzehnten Jahrhundert eine
Menge Christen eigentlich Gläubige der Furchtreligion und selbst
Fetisch-Anbeter sind, wie andererseits dass mitten im Heiden-
thum umgeben von Götzendienern einzelne fieligiöse lebten, die
so ziemlich den Standpunkt des modernsten Pantheismus inne-
hatten, wie deshalb ja z. B. Schelling, Hegel und Schopenhauer
ihre eigentlichen Grundgedanken bei den alten Griechen oder
den Indern wiederfanden, oder z. B, die modernen Positivisten,
wie Laas, ihr Ebenbild in Protagoras anlachten.
Gleichwohl will ich den Gedanken einer Entwickelung
nicht verwerfen, sondern vielmehr befestigen. Es ist durchaus
richtig, dass die Arten der Pflanzen und Thiere auseinander
stufenweise zu erklären sind und dass die grösseren Zahlen, ob-
wohl sie zeitlos zusammen mit den kleineren in das Zahlensystem
gehören, dennoch logisch aus den kleineren abfolgen, ebenso dass
alle individuellen Organismen sich in einer Stufenfolge ihrer
Processe entwickeln. Gleichwohl sind nicht alle Formen Stufen,
sondern es giebt auch mehrere nebeneinanderstehende Formen
derselben Stufe, wie ich dies in meiner Schrift „Darwinismus
und Philosophie^' bewiesen habe. Darum ist zwar die Rechts-
religion eine höhere Stufe, als die Furchtreligion, der Pantheis-
mus höher als die projectivische Religion und das Christenthum
die höchste Stufe überhaupt; aber z. B. innerhalb des Pantheismus
giebt es mehrere Formen, die sich nicht auseinander entwickeln,
sondern gleichzeitig und gleichwerthig nebeneinander ordnen.
Es ergiebt sich hieraus, dass unsre Theorie sowohl als Ent-
wickelungslehre, als auch als Topik aufzufassen ist, da sie, was
an der Entwickelungslehre richtig ist, durchaus nicht verschmäht
und nicht entbehren kann. Das Richtige kann von der Wissen-
schaft niemals entbehrt werden. Zu diesen beiden Auffassungs-
weisen wird dann aber noch ein dritter Gesichtspunkt hinzu-
kommen, nämlich die geschichtliche Betrachtung. Soweit
freilich als sich die Entwickelungslehre mit der Geschichte ver-
quickt, verwerfe ich solche Geschichte als ungeschichtlich, da es
sich zeigt, dass alle die Oerter oder systematisch bestimmten
Grundformen der religiösen Gesinnung sich in allen Jahrhunderten
wiederholen, ebenso wie die blonden und brünetten Menschen,
die Kurzsichtigen und Weitsichtigen, die Phlegmatiker und die
u.quizeauy Google
110 Eintheilang der Religionen.
Choleriker u. s. w. Was die positivistische Culturgeschichte be-
triflft, so ist das Statistische darin von Interesse, und gewisse
Gleichförmigkeiten der Stimmungen und Vorstellungsweisen in
den verschiedenen Jahrhunderten sind ja beachtenswerth; aber
es fehlt allen diesen Geisteshistorikern eine philosophische Schulung,
da sie mit lauter unbestimmten Begriffen arbeiten und deshalb
die gröbsten Fehler machen. Es giebt auch weder eine Volks-
seele, noch nur einmal eine Familienseele und keine Kirchen-
seele. Trotz aller Bedingungen, die wie Schule, Kirche, Zeitungen
und Geselligkeit eine gewisse Gleichförmigkeit des Seelenlebens
hervorbringen, bleibt immer constant die individuelle Differenz
der Anlage und die individuelle Verschiedenheit der Arbeit. Man
vergisst eben, . dass die Seelen nicht Producte von Producten und
Erscheinungen von Erscheinungen sind, sondern die wirklichen,
selbständigen Wesen und zeitlosen Träger aller Erscheinungen.
Darum muss an die Stelle dieser eitlen und phänomeno-
logischen Geschichtsbetrachtung die ächte Geschichte treten, wie
sie das Ghristenthum zuerst erkannt hat, wonach das Ganze in
einen providentiellen Blick zusammengefasst und als ein tech-
nisches System betrachtet wird. In diesem System oder Drama,
wie der Alexandriner Clemens es nennt, hat jede Seele als Actor
eine bleibende Bolle, ist von Ewigkeit ersehen und wird bis in
Ewigkeit mitspielen. Die Geschichtsbetrachtung wird aber nicht
munkeln von Dingen, die verborgen sind, sondern nur das Offen-
bare hervorheben und die Gesetze zu finden suchen; das Uebrige
aber, was von unserem perspectivischen Standpunkt aus noth-
wendig unübersehbar und verborgen bleibt, wird sie nicht ver-
rathen; denn nur ein Narr sagt, was er nicht weiss. Die Be-
deutung der geschichtlichen Betrachtung ist aber erst durch das
Christenthum erkannt, in welchem der Gott selbst geschichtlich
wird und durch welches zuerst, als durch eine neue und wahre
Metaphysik, die Persönlichkeiten als die wirklichen Wesen und
als die Träger des geschichtlichen Lebens offenbar geworden sind.
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Zweiter Theil.
Projectivische Religionen.
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I
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Die projectivischen Religionen.
Der Mensch gelangt sehr früh zum Bewnsstsein seines
Ichs, so frtth, dass wir keine Zeit anzugeben wüssten, wann
dies Bewnsstsein nicht vorhanden wäre. Alles, was wir über
diese metaphysische Erkenntniss in Bezug auf die Zeit ihres
Ursprungs zu sagen wissen, kann sich nur um die Klarheit
und Wissenschaftlichkeit dieser Erkenntniss drehen, nicht aber
um das Bewusstsein selbst. Darum giebt es auch, wenn wir
vom Einzelnen absehen und in die Urgeschichte der Mensch-
heit blicken oder die jetzt noch uncivilisirten Völker berück-
sichtigen, keine Epoche und keinen Zustand, in denen der
Mensch ohne Selbstbewusstsein, ohne Erkenntniss seines Ichs an-
getroffen würde.
Coordinirt mit diesem Bewusstsein läuft dann auch die zweite
metaphysische Erkenntniss des Menschen, dass es andre Menschen
und andre Wesen ausser ihm giebt, die er von sich unterscheidet
und mit denen er irgendwie in einen wirklichen Verkehr tritt.
In diesem Verkehr mit den Wesen ausser ihm dreht
sich Alles um zwei Angeln, nämlich um das persönliche In-
teresse und um das Recht. Zunächst nämlich ist durch die
Thatsache der Ichheit oder Persönlichkeit ein individueller Mittel-
punkt gegeben, auf welchen die ganze Welt ausser ihm be-
zogen wird; denn da die einzelne Person nicht in völliger
Selbstgenügsamkeit und Bedür&isslosigkeit ftlr sich dasteht,
sondern durch Hunger, Durst, Liebe, Neugier, Herrschsucht und
Thätigkeitstrieb überhaupt als ein blosses Glied auf den Zusammen-
hang mit der übrigen Welt angewiesen ist, so entsteht sofort
Teichmüller, ReligionsphUoBophie. uiumzlu uy ^jOOQIC
114 Frojectivisclie Eeligionen.
eine perspectiyische Auffassung derselben, indem alle Dinge
und Menschen flir uns als nützlich oder schädlich, als Gutes
oder Uebel erscheinen.
Wenn die gesellige Entwickelung der Menschen fortschreitet,
so bildet sich denn auch allmählich das Bewnsstsein des Rechtes
aus. Da dieses moralische Bewnsstsein den höheren Bang ein-
nimmt und später in den Mittelpunkt der Lebensauffassung rückt,
wollen wir hier davon nicht weiter reden.
So lange nun das Bewnsstsein keine andren Beziehungs-
punkte verknüpft, als die unseres Ichs und der übrigen Menschen
und Naturwesen nach den Gesichtspunkten des individuellen
Interesses und des Rechts, so lange giebt es auch keine Spur
von Religion. Sobald aber wegen der Vernunftanlage des
Menschen als neuer Beziehungspunkt noch der Gott auftritt, so
entspringt sofort eine religiöse Stinmiung, ein religiöses Handeln,
kurz die Religion.
Ein Gott aber kann nicht als einzelnes Wesen dem Menschen
als einzelnem Wesen sinnenfällig gegenübertreten, sondern muss
zunächst nur als eine Vorstellung oder Auffassungsweise in dem
Bewnsstsein des Menschen vorkommen. Wie der ungebildete
Mansch aber seine Bilder von Erde und Meer, von Hinmiel und
Wolken, von Menschen, Thieren und Pflanzen ohne Umstände
nach Aussen wirft und sich von allen diesen Dingen wirklich
umgeben glaubt, obgleich alle diese Bilder nur in seinem Be-
wnsstsein vorhanden sind und sonst nirgends, so projicirt er
auch seine Gottesvorstellung nach Aussen und erschafft sich
dadurch einen Gott ausserhalb der übrigen Welt der einzelnen
Wesen. Aus diesem Grunde nenne ich diese erste Stufe der
Religion und Theologie projectivisch, weil bei derselben noch
keine Kritik der Vernunft und Erkenntniss vorhanden ist,
sondern das ganze Seelenleben nur nach den unmittelbaren
und natürlichen Beziehungsweisen der Vorstellungen, Thätig-
keiten und Gefühle abläuft.
Da es sich auf dieser Vorstufe nun nothwendig um zwei
Mittelpunkte dreht, um das Interesse und das Recht, so werden
wir auch zwei verschiedene Religionen zu studiren haben. Ich
will aber gleich nachdrücklich hervorheben, dass wir Höher-
gebildete uns nicht etwa in den Sinn kommen lassen dürfen,
diese beiden projectivischen Religionen wären bloss eine Antiquität
u.quizeauy Google
Projectiviache Religionen. 115
und gehörten nur der Urzeit oder den mehr oder weniger rohen
Anfängen der Cultur an, ohne für uns ein anderes Interesse als
das der Curiosität hervorzurufen; nein jeder von uns ist auch
ein solcher Urmensch und hat in sich auch die rohen Anlange
der Cultur behalten. Wie wir das Alterthum nur begreifen,
sofern wir das Aehnliche in uns selber erkennen, so soll auch
jeder von uns sich nur sagen: de te fabula narrat; denn nach
Abzug der alterthümlichen Vorstellungen von Natur und Himmel
bleibt als Best und Essenz immer dasjenige übrig, was jeder
in's Leben kommende Mensch immer von Neuem in seinem Busen
findet, weil es das Herz des Menschen selber ist.
Digitiz§dbyG00Qle
1. Die Religion der Furcht.
Erstes Kapitel.
Die Ethik der Religion der Furcht.
Wenn wir nun die erste und älteste Religion der
■Chi Methode. Menschen erforschen wollen, so wird es uns nicht mehr
einfallen, womöglich die prähistorischen Denkmäler
zu untersuchen-, wir werden auch nicht mehr zu den Hottentotten
und Malaien gehen, um ihre sonderbaren Gebete aufzuzeichnen
und ihre seltsamen Gottesdienste zu beschreiben: dieser Weg
würde wegen der endlosen Details scheinbar zu reicher Weide
ftihren, uns aber in Wahrheit blosse Thatsachen liefern, die erst
nach einer andern schon vorausgesetzten Erkenntniss gedeutet
werden müssten, und wir würden daher keine Sicherheit über
das Wesen der gesuchten Religion gewinnen; wir müssen einen
sicherem und fruchtbarem Weg nehmen. Da die Religion näm-
lich immer in gewissen Handlungen erscheint, die veranlasst
werden durch gewisse Gefühle oder Willensbestimmungen bei
gewissen Vorstellungen über göttliche Dinge, so zeigt sich,
dass die Gottesvorstellung immer in Goordiuation zu dem Ge-
fühle steht. Das Gefühl ist die Coordinate der Theologie und
mithin ist es specifisch, d. h. artbildend, ebenso wie die reli-
giösen Handlungen eigenthümlich, d. h. charakteristisch sein
müssen. Wegen dieser Coordination nenne ich das zugeordnete
Gefühl das Motiv der Religion, weil die Gottesvorstellungen
ohne dieses Gefühl blosse theoretische Betrachtungen, aber keine
religiöse Gedanken sein würden, und weil nur wegen dieses Ge-
Alhls der Mensch auf die Vorstellungen in Handlungen reagirt
Mithin verlangt die Methode, die Motive der Religion psycholo-
gisch darzulegen, damit man sowohl die Arten, als die Zahl
uiyiiized by VjOOQIC
Ethik. 117
derselben a priori erkennen könne. Erst wenn wir anf diese
Weise die Arten der Religion bestimmt haben, werden wir ohne
Bedenken die erfahrungsmässig bekannten Religionen zur Ver-
deatlichnng der Begriflfe als Beispiele anführen dürfen.
Um nun diese religiösen Motive zu finden, brauchen ^ ^ Bedacwo»
wir uns nicht in das induetive Studium aller mög- «•■ Einthei-
lichen Affeete psychologisch zu vertiefen, um dabei ^■■»■p'*"*'*!»"-
den Zweck unserer Untersuchung schliesslich aus den Augen zu
verlieren. Nein, wir deduciren das Gefühl. Alle Gefühle näm-
lich, die der Mensch haben kann, müssen nothwendig von zweierlei
Art sein. Entweder betrachtet er die Welt perspectivisch
nach sich als ihrem Mittelpunkt, oder er betrachtet sie objectiv
und ordnet sich selbst in das Ganze ein nach einer von ihm
selbst unabhängigen Ordnung. Die erste Stellung heisst im All-
gemeinen Selbstsucht, die zweite aber Sittlichkeit. Mithin
müssen alle Gefühle, welche der einen oder der andern Stellung
entsprechen, ihrem Wesen nach jedesmal von einem und dem-
selben Gattungscharakter sein, und wir sind der Arbeit über-
hoben, erst die ganze Psychologie der Affeete abzuhandeln; da
es sich für unsere Frage eben nur um den Gattungscharakter
dieses Gefühls dreht, und nicht um seine Modificationen und
Nuancen. Dass die selbstsüchtige Stellung des Menschen
aber die erste und älteste ist und war, versteht sich von selbst,
da schon eine höhere, viele perspectivische Lebenskreise umfas-
sende Intelligenz dazu gehört, um der sittlichen Gesichtspunkte
und Gefühle fähig zu werden.
Die Selbstsucht ist also das allgemeine Wesen ^ „ Dednction
der Geffthle, die auf dem perspectivischen Standpunkt d« %num r».
der Weltbetrachtung möglich sind. Demgemäss igt"»*^*""*»""
unsere Aufgabe jetzt, unter allen dahin gehörigen Gefühlen das-
jenige zu deduciren, welches als Motiv der ersten Religion an-
zusehen ist
Nun bezeugt sich das Gefühl oder der Wille AUopewön-
ursprünglich und nothwendig immer im Annehmen ucuen Gefühle
oder Verwerfen, Beifall oder Missfallen in Bezug auf ^^^J^^"^^^^^^
alle Objecte, die auf der Fläche des Bewusstseins die Zukunft.
auftauchen. Da der Mensch aber die Welt als ein
zeitlich geordnetes Ganzes auffassen muss, so folgt, dass die
Goordination seiner eigenen Functionen immer derart ist, dass
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118 Religion der Furcht.
die dem persönlichen Gefühl coordinirte handelnde Function
auf das Zukünftige geht and nicht auf das Gegenwärtige oder
Vergangene. Niemand kann den Willen haben, etwas in der
Vergangenheit herzustellen oder umzuändern. Ebensowenig ist
die Gegenwart Object des persönlichen Willens oder Gefühls,
da das Gegenwärtige, sobald es wahrgenommen ist, schon der
vergangenen Ordnung angehört. Mithin hat der auf die Persön-
lichkeit bezogene Wille nur mit der Zukunft zu thun. Gleich-
wohl glauben die Psychologen, dass es Gefühle geben könne,
die bloss der Vergangenheit gelten, z. B. die Wehmuth, die man
als süssschmerzliche Erinnerung an vergangenes Glück auffasst.
Hierbei wird vergessen, dass erstens die Vorstellung von Glück
nur angenehm sein kann und nichts Wehmüthiges an sich hat,
und dass nur durch einen zweiten Beziehungspunkt , nämlich
durch den Blick in die Zukunft, wo wir das Wiederauftreten
der schönen Dinge leider versagt finden, die Hemmung unserer
Thätigkeit ein schmerzliches Geftlhl mit sich flihrt. Also geht das
Gefühl der Wehmuth nicht bloss auf die Vergangenheit. Ebenso-
wenig bezieht sich z. B. die Dankbarkeit etwa bloss auf die
Vergangenheit, sondern sie ist ein allgemeiner Wille, dem Wohl-
thäter künftig Gutes zu erweisen. Auch die Reue kehrt der
schmerzlichen Erinnerung nur den Bücken zu, wendet aber ihr
Antlitz immer in die Zukunft, um sich ein andermal vor der-
gleichen zu hüten. Ohne diese zweite Beziehung ist das Gefühl
im Organismus des Seelenlebens unmöglich. Kurz alle Gefühle,
welche an die Persönlichkeit anknüpfen, müssen ihrer Natur
nach wegen der Goordination mit dem handelnden Vermögen
nothwendig auf die Zukunft bezogen sein; denn auch die soge-
nannte gegenwärtige Lust und Unlust muss sofort die Bewe-
gungstendenz auslösen, die Fortdauer der lustverursachenden
Objecte zu erhalten oder das Schmerzliche abzuwenden, wie ja
Jeder weiss, dass Thier und Mensch sich sofort dem Lustbrin-
genden entgegenstrecken, wie z. B. die Katze ihren gesträubten
Rücken an die krauende Hand des Menschen andrängt
Mithin wird sich in allen Arten der Selbstsucht
^"^r^t!*"^ nothwendig ein Element von Hoffnung und Furcht
finden, d. h. eine Beziehung auf die Zukunft durch
die Goordination mit unserer handelnden Function.
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Ethik. 119
Hofinung und Furcht sind aber nur zwei Ausdrücke für
einen und denselben Willen; denn man fürchtet nur die Ver-
wirklichung dessen, was man nicht liebt, und hofft nur auf das,
was man liebt. Der Unterschied beider Gefühle liegt also darin,
dass der Gegenstand der Liebe unter verschiedenen Umständen
vorgestellt wird, wobei aber zugleich, was die Psychologen nicht
beachtet haben, nothwendig eine Mischung des Vertrauen-
erweckenden und Misstrauenswerthen in beiden Gefühlen vor-
handen sein muss. Denn die Zukunft ist allemal ungewiss und
bietet ftlr jeden nicht völlig Gedankenlosen immer verschiedene
Chancen. Die eine Chance begünstigt, die andere hindert die
Verwirklichung des Gegenstandes unserer Liebe; wir hoffen aber,
wenn das Günstige im üebergewichte ist, wir fürchten, wenn
wir die feindlichen Ursachen vorherrschend finden. Hofinung
und Furcht durchlaufen deshalb alle Grade der Mischung von
dem Zustande des Gleichgewichts bis zur vollen Verzweifelung
und zur vollen Zuversicht.
Die Frage ist nun, welches von beiden Gefühlen ^*® ^"'>*
den Ursprung der Religion bildet, ob die Hoffnung, reugiöse oe-
oder die Furcht? Je vollkommener die Religion ist, ^"
desto mehr sehen wir die Furcht schwinden, da die Liebe und
das Vertrauen zu dem als gut erkannten Gotte die Furcht aus-
treibt Es wäre deshalb schon der mathematischen Analogie
nach zu erwarten, dass auf der tiefsten Stufe der Religion sich
auch die meiste Furcht vorfände. Allein solche Betrachtungen,
bei denen wir schon ohne Beweis klug zu sein glauben, sind
für Andersgesinnte nicht zwingend; wir müssen daher ohne
blinde Voraussetzungen über Werth und Stufe der Religionen
die Frage durch apriorische Deduction beantworten.
Zu diesem Zwecke muss untersucht werden, welches Motiv
zuerst den Gedanken an einen Gott hervorgerufen hat? Nun ist
die Lust und die Erwartung von lauter angenehmen Dingen
nicht geeignet, überhaupt eine Thätigkeit hervorzurufen, es sei
denn die, den Mund aufzumachen, um die gebratene Taube zu
empfangen. Was Mensch und Thier zuerst in Bewegung setzt,
ist umgekehrt der Schmerz und die Aussicht auf verderbenbrin-
gende Ereignisse, weshalb die Lotophagen von Odysseus nur
durch Prügel und Zwang weggeführt werden konnten. Denn
wollte man einwenden, dass Hoffnung auf Vortheile und Genüsse
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120 Beligion der Furcht.
doch auch Thätigkeit hervorrufe, so ist zu bemerken, dass der
Hoffende das, was er hofft, noch nicht besitzt, also im Zustande
des Entbehrens ist und zugleich fürchten muss, ohne seine
Anstrengung das Erwünschte nicht zu erreichen. Mithin ist die
verneinende Seite der Grund der Bewegung und Thätigkeit.
So lange wir nun in dem ganzen Vorstellungskreise von
Lust und Schmerz, Gütern und liebeln nur die jedesmal coordi-
nirten Beziehungspunkte als Ursachen anerkennen, die uns flir
Sinn und Anschauung gegeben werden und bekannt sind, so
lange wird von Beligion keine Bede sein; denn wir fUhren ja
bei jeder Lust und jedem Schmerz dieses oder jenes bekannte
Ding, diese Frucht und Speise, dieses Thier, diesen Pfeil, diesen
Menschen als Ursache von Leid und Lust an. Mithin ist die
ganze Gegenwart, welche immer den Zusammenhang mit ein-
zelnen Dingen der Sinnenwelt zur Vorstellung bringt, als Ursache
der Beligion zu eliminiren. Ebenso die Vergangenheit, weil
sie nur den in Erinnerung gebliebenen Bodensatz der Gegenwart
enthält. Also bleibt allein die Zukunft übrig und ihr coordinirt
das Gefühl der Furcht.
Die Furcht hat die Ehre, der religiösen Entwickelung der
Menschheit das Thor zu öffnen; denn da sie den Menschen an
allem, was ihm lieb und werth ist, packt und ihn dadurch in
alle seine vorsorgende Thätigkeit hinüberleitet, so erregt sie
zugleich für seine Phantasie und seine Beflection die Vorstellung
eines unbestimmten Etwas, das als mögliche zukünftige Ursache
von Schaden und Leid aufgefasst wird, dem auch die irüher
erlittenen Schädigungen und Schmerzen zuzuschreiben wären.
Die Furcht erzeugt die erste rohe Theologie; denn wir müssen
hier mit einem Punkte beginnen, der die Gränzscheide von Thier
und Menschheit ist. Wenn ein Hund sich vor einem Wolf, einem
Menschen oder sonst einem Gegenstande fürchtet, so liegt darin
nichts der Beligion Aehnliches; wenn aber etwa ein Pferd in
der Abenddämmerung bald nach rechts, bald nach links angst-
voll blickt und vor Schauder über unbestimmte, nicht wirkliche,
sondern nur in seiner Einbildungskraft erzeugte Gefahren zittert
und bebt, so ist eine gewisse äusserliche Aehnlichkeit mit der
Beligion des Wilden nicht abzuweisen, der bei dem Anblick
eines links fliegenden Vogels erschrickt, oder vor einem für un-
heilvoll gehaltenen, ganz unschädlichen Buf erzittert, oder tau-
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Ethik. 121
senderlei andre Dinge des Aberglaubens fUr todtbringend hält
und demgemäss in Gemüthsbewegung geräth. Der specifische
Unterschied liegt jedoch darin, dass das Thier bei den Gemttths-
bewegangen und den daraus folgenden blinden Beflexthätigkeiten
stehen bleibt, der Mensch aber wegen seines dem Thiere fehlenden
Ichbewasstseins im Stande ist, das unbestimmte Etwas weiter
auszudenken, eine Theologie daraus zu machen, und gemäss
diesen Vorstellungen eine Reihe von Handlungen zu yollziehen,
die keine weitere praktische Bedeutung haben, sondern als
religiöse Handlungen sich bloss auf die Vorstellung seines Ichs
im Verhältniss zu jenem zuerst unbestimmten und später immer
bestimmter ausgedachten Gotte beziehen.
Da die Ursprünge aller Begriffe von der grössten
Wichtigkeit sind, um die Bahnen des Denkens in der zugehörigen
den späteren complicirteren Formen wiederzuerkennen, coordiii»tionen.
so möge es gestattet sein, noch einmal genau das gewonnene
Ergebniss zu formuliren. Die Furcht der Thiere ist also niemals
religiös, weil sie immer entweder bloss einen sinnenfälligen
Gegenstand (z. B. die Peitsche oder den Wolf) fürchten, sofern
sie bei diesem in ihrer Erinnerung gebliebenen Bilde einst
Schmerz empfanden, oder, wenn kein vollständiges Erinnerungs-
bild reproducirt wird, sondern blosse Theile oder Accidenzen
eines solchen ihre Einbildungskraft erregen, doch immer mit
einem gegenwärtigen bestimmten oder unbestimmten Etwas der
Sinnenwelt zu thun haben und weder dieses Etwas theologisch
ausbilden können, noch irgendwelche Handlungen, religiöse Cere-
monien und dergl. in Bezug auf dieses Etwas vollbringen. Die
Furcht des Menschen aber wird religiös, wenn sie von den be-
stimmten sinnlichen Veranlassungen auf eine allgemeine un-
bestimmte Ursache tibergeht und diese durch das Selbst-
bewusstsein und Vernunftvermögen vermittelt werden kann.
Der Vernunft gehört eben die Fähigkeit zu, die Seelenzustände,
welche verflossen sind, in der Erinnerung zurückzurufen und vor
dem betrachtenden Blicke festzuhalten. Dadurch können die
Thätigkeiten und Affecte der Seele selbst zu Beziehungspunkten
einer neuen Thätigkeit, des sogenannten Denkens werden.
Durch das Denken entspringt dann sowohl die Verallgemeinerung,
als die Verknüpfung der Beziehungspunkte nach dem Gesichts-
punkte einer Ordnung, d. h. nach der sogenannten Causalität
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122 Religion der Fuixsht
Somit kann eine vermeinte Ursache von Schaden und Leid als
anbestimmtes Object der Furcht allgemein festgehalten and näher
bestimmt werden und zweitens lassen sich nun im Hinblick auf
einen wirklich in der Seele vorhandenen theologischen Gedanken
und in Beziehung auf unser Ich auch irgendwelche specifische,
d. h. religiöse Handlungen ausüben, die, wie z. B. Gebet, Opfer
und dergl., mit dem ursprünglich erlittenen Leid und Schaden
und seiner sinnen&lligen Ursache nichts zu thun haben, sondern
in dieser Rücksicht schlechterdings unnütz sind und sich bloss
auf das in dem religiösen Gedanken befindliche Object beziehen.
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Zweites Capitel.
Die zugehörige Dogmatlk.
Wie bei allen zusammengehörigen Dingen die |i. Binthei-
Beziehungspunkte nicht ohne einander denkbar sind, uagendMOn.
so konnten wir auch bei dem Motiv der Religion {Ji^ Mwlltebl!
nicht von dem Gegenstande oder der Ursache der ▼«rmogea.
Furcht absehen. Was wir aber fürchten, das sind zunächst
immer sinnenfällige Dinge, welche uns entweder selbst früher
Schmerz oder Schaden brachten, oder welche solchen Leid-
ursachen ähnlich sind, z. B. einen bissigen Hund, von dem man
schon eine Narbe hat, oder einen andern ihm ähnlichen. Nun
fragt sich, wie wir von solchen Furchtursachen zum Gott kommen,
und diese Frage ist ebenso grundlegend als anziehend.
Wir nennen die Thiere nicht religiös, obwohl sie sich
fürchten. Kleine Kinder sind auch nicht religiös. Es wäre aber
falsch, wenn man die Säuglinge irreligiös neimen wollte, wie
Heinrich Heine witzig zu sein glaubte, weim er sagte: „unschul-
diger Atheist in derWiege^^! Denn man könnte den Hund und
den Ochsen ebensogut unschuldige Atheisten nennen, was aber
ebenso falsch wäre, da sie weder eine religiöse Ueberzeugung
haben, noch gegen eine solche in unreligiöser Weise sich auf-
lehnen; der Säugling und das kleine Kind ist vielmehr in einem
Zustande vor der Entwickelung des religiösen und theologischen
Bewusstseins, kann aber, was die Thiere nicht können, zu einem
solchen Bewusstsein fortschreiten.
Die Furcht ist nun allemal ein Zeugniss dafür,
dass wir die Macht des geftlrchteten Gegenstandes l^^l^^^
anerkennen. Bei genauer Durchmusterung dieser punkte d«
psychischen Vorgänge können wir aber zwei Arten *^'**'
derselben unterscheiden. Bei einigen furchtbaren Dingen nämlich
erkennen wir den ganzen Hergang, wie sie Schaden und Schmerz
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124 Religion der Furcht.
hervorbringen, weshalb wir die Grösse ihrer Macht hinreichend
ermessen können und den Entschluss fassen, ihrer Machtäusserung
Widerstand zu leisten, sie zu bekämpfen und auszutilgen; bei
andern aber nehmen wir eine solche Grösse der Machtentfaltung
wahr, dass an einen Widerstand gar nicht zu denken ist, wie
z, B. bei dem Blitz, dem sturmbewegten Meere und dergl^ wes-
halb wir ganz rathlos sind und uns waffenlos ihren Wirkungen
ergeben. Obgleich das Eintheilungsprinzip hier nur das Mehr
und Weniger der Macht ist^ so liegt doch ein festes Princip der
Messung vor, da der Mensch mit seiner Macht zum Massstab
dient und nach diesem Massstab alles Andre entweder sich unter-
ordnet, oder es sich gleichstellt, oder es als eine tibergeordnete
höhere Macht anerkennt. Das erstere wird ohne Furcht gering-
geschätzt oder verachtet, das zweite kann wohl Furcht erregen,
aber man kämpft dagegen, das dritte aber entwaffnet uns von
vornherein und wir empfinden nicht bloss Furcht, sondern
erkennen es zugleich als übermenschlich an.
zweiteoB nach Zu dicscr crstcu Einthcilung kommt eine zweite
puiSto d!lr*Er. ^^^^ einem anderen Eintheilungsgrunde, die aber
konnbarkeit. dcunoch mit der ersten zusammengehört. Die Welt
ausser uns wird nämlich von dem Menschen ursprünglich nach
der Analogie mit dem einzigen metaphysischen Wesen, welches
wir unmittelbar kennen*), d. h. mit uns selbst, als aus geistigen
und persönlichen Wesen bestehend aufgefasst^ die in den Natur-
erscheinungen sich äussern. Nun mögen immerhin im Laufe der
Zeit schon manche sogenannte Dinge als leblos und seelenlos
betrachtet werden; gleichwohl blieb für die ursprüngliche Mensch-
heit immer der grössere Theil der Natur als Verkörperung
seelischer Naturen übrig. Unter dieser Voraussetzung können
wir nun eine zweite Eintheilung der Gegenstände der Furcht
machen. Zwischen Ursache und Wirkung liegt nämlich immer
eine grössere oder kleinere Kette von Zwischengliedern. Man
fallt z. B. auf einen Stein und verwundet sich am Knie; der
Fall ist die Ursache, und die Wirkung liegt nahe dabei. Der
Wilde aber stellt den Thieren mit Netzen nach, oder trifft sie
mit dem weithin fliegenden Pfeile. Hier ist zwar Netz und Pfeil
die nächste Ursache, aber nicht die letzte eigentliche, die man
*) Vergl. meine „Wirkl. und scheinbare Welt'* S. 129 ff.
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Dogmatik. • 125
selber wohl erkennt; es liegen also eine Menge verborgener
Kettenglieder zwischen der endlichen Wirkung und dem ursäch-
lichen Plane des Jägers. Auch lernt der Mensch bald die
lauernde Hinterlist des Nächsten kennen, der nicht unmittelbar
angreift, sondern von weiter Hand durch Gifte, abgeschickte
Mörder und dergleichen seinen Willen ausftlhrt. Mithin muss die
Furcht in zwei Arten auseinander gehen. Die erste Art bezieht
sich auf Dinge oder Personen, bei denen wir die Ursachen un-
mittelbar in Wirkung zu sehen glauben und nichts weiter dahinter
vermuthen; bei der zweiten Art der Furcht aber wird das gegen-
wärtige Object für einen blossen Boten gehalten, der von einer
unsichtbaren, gefahrlichen Macht geschickt ist. Weim z. B.
plötzlich ein Gewitter losbricht, oder die Sonne sich verfinstert,
oder ein Heuschreckenschwarm sich auf die Saaten wirft u. dergl.,
so weiss man die nächste Ursache dieser schlimmen Ereignisse
nicht zu erkennen, setzt aber voraus, dass Jematid diese Uebel
geschickt hat, indem man einen geheimen Urheber der sonst
ganz unerklärlichen Ereignisse annimmt, ebenso wie man innere
Krankheiten, plötzliche TodesßUle u. dergl. als Schickungen be-
trachtet und auf eine entfernte und verborgene Macht zu-
rttckftLhrt.
Beide Eintheilungen treffen nun das ganze Ge-
d« enteB biet aller Dinge, die wir ftirchten, und mithin können
Gotteibegriiik. gj^ combiuirt werdcu. Demgemäss erhalten wir
erstens solche Schaden- und Schmerz-verursachende Dinge, die
wir uns an Macht mehr oder weniger gleich stellen und deshalb
allein, oder mit Htilfe Mehrerer bekämpfen können und wollen.
Bei diesen Dingen liegen Ursache und Wirkung nahe bei einander.
Zweitens aber ftirchtet der Mensch Dinge, die weit über seine
Kräfte hinausgehende Wirkungen hervorbringen und also als
übermenschliche Mächte betrachtet werden. Die Wirkungen
werden dabei zugleich als geschickt von einer verborgenen,
in unbekannter und unerreichbarer Region wohnhaften Ursache
aufgefasst Die Ursache aber muss drittens nach der psycho-
logischen Metaphysik projicirt und personificirt werden.
Es ist ersichtlich, dass hierdurch die psychologische Geburt des
Gottes vollbracht ist; denn die erste Theologie der Menschen
kennt nur einen übermenschlichen, verborgenen und gefilhrlichen
Geist als Gott.
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126 * Religion der Furcht.
Da wir auf den höheren Stufen der Religion
Gott ein böser ^ -,■, ^ r^ >ii-»t -itwi
Geist ohne aue Überall dcu Gott auch als Vertreter des Rechts und
Moraiitit. ^QY Moralität antreffen, so ist die Frage natürlich,
ob nicht die ursprüngliche Gottheit der Menschen schon irgend-
welche moralische Eigenschaft besessen habe. Allein auch der
schnellste Blick auf die Geburtsstätte dieses Gottes genügt, um
uns schon hinreichend zu überzeugen, dass es nur Schmerz und
Schaden gewesen sind, welche uns einen verborgenen, macht-
vollen Beziehungsgrund dafür in das Unbekannte projiciren Hessen.
Genauer betrachtet zeigt sich der Gott dementsprechend als
böse, aber nicht als moralisch böse, weil von Moralität ursprüng-
lich überhaupt nicht die Rede sein kann, sondern bloss als Ur-
heber von Uebeln. Wenn es dem Menschen gut geht, so
nunmt er alles gedankenlos hin, wie er es findet; wenn er sich
aber in Gefahr und Unglück verwickelt sieht, so spürt er nach
den Ursachen, um sich zu wehren, oder muss dafllr, wenn er
keinen sinnenfälligen Urheber entdecken kann, eine geheimniss-
volle ihm ungünstige Macht annehmen, welche ihm das Unheil
schickt und ihn mit unsichtbaren Mittelgliedern umgarnt Die
Religion der Furcht hat nothwendig einen bösen Gott.*)
Man ist immer für die Frage sehr interessirt
fS^BieZahi gewcscu, ob die ursprüngliche Religion sich als
polytheistisch oder monotheistisch erweisen würde.
Nach unserer Ableitung dieser Theologie ist die Frage nicht sehr
wichtig; denn es liegt auf der Hand, dass die Göttererzeugung
des Menschen sich zunächst nach den Verschiedenheiten der
Wirkungen, also der Gefahren und Uebel richten werde, welche
der Mensch zu fürchten hat. Es ist darum natürlich, dass er
für die furchtbare Hitze und Dürre als X in seiner Gleichung
einen anderen Gott ansetzen wird, als für den Hagel und Schnee
und Frost Wie er, wenn er im Walde Stimmen hört, für diese
akustischen Erscheinungen sofort durch Reproduction die ent-
*) Auch wo der gute Gott später daneben tritt, spielt doch in der Religion
der böse nothwendig die Hauptrolle. So schreibt jüngst Freiherr von Bülow
aus Ost- Afrika über seine Wahrnehmungen an seine Schwester (vergl. Berl.
Tagebl. 1885): „Es giebt hier (in Mrokoro) einen guten und einen bösen
Geist. Der gute ist und bleibt gut; um den braucht man sich gar nicht zu
bekümmern. Der böse Geist dagegen muss durch Zauberer und Medicinen
beschworen werden."
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Dogmatik. 127
sprechenden optischen Bilder als yermeinte Ursachen heranzieht,
and die eine Stimme auf einen Löwen, die andere auf einen
Schakal oder einen Geier zurtickftlhrt, so wird er fär die ver-
schiedenen gefährlichen und unerklärlichen Naturerscheinungen
auch verschiedene Götter in das Unbekannte hinein projiciren
und darum Polytheist sein. Von einer bestimmten Zahl der
Götter und einer bestimmten Ordnung derselben kann aber selbst-
vertändlich keine Bede sein, da nichts im Wege steht, immerfort
neue Götter zu schaffen und die Götter anderer Völker und ein-
zelner Menschen, die man kennen lernt, auch anzunehmen und
zu fürchten.
Da nun die ganze Theogonie von der Erfahrung von Leid
und Schaden anhebt und von der Furcht inspirirt wird, so muss,
wenn die Naturerscheinungen sich verändern und entweder mit
ihrem Schrecken nachlassen oder umgekehrt Lust und Segen
aus ihrem Füllhorn giessen, auch in dem projectivischen Gott
eine Wandlung vorgehen, d. h. er muss entweder nicht mehr
böse oder umgekehrt freundlich geworden sein. Da der Mensch
von jeher social lebte, so hat er in sich oder in anderen, be-
sonders in den herrischen und gefährlichen Menschen seiner Um-
gebung immer die genügenden Vorbilder vor Augen gehabt, um
seinen Gott darnach auszumalen. Statt aber dem Gotte ver-
schiedene Stimmungen zu geben, könnte er ihm auch einen an-
dern Gott im Kampfe entgegensetzen; denn Kampf und Krieg
war doch das allergewöhnlichste Erlebniss der Urzeit. Wie
z. B. ein mächtiger Mensch allein oder mit seinen Stammgenossen
einen gefährlichen Ueberfall macht und Wunden, Tod und Zer-
störung des Eigenthums hervorbringt, dann jedoch, wenn Hülfe
kommt, etwa von einem noch stärkeren und zahlreicheren Geg-
ner vertrieben und überwunden wird, so konnten in der Phantasie
der religiösen Urahnen sehr wohl auch die Götter dualistisch
auseinander treten und verschiedene Heerlager bilden. Und diese
Theologie ist psychologisch die nächstliegende; denn jeder Wechsel
der Erscheinung bedingt schon einen Dualismus, und alles Natür-
liche lässt sich immer irgendwie in einen Gegensatz stellen, wie
Himmel und Erde, Tag und Nacht, Frost und Hitze, Sturm und
Buhe, Wachen und Schlafen, Leben und Sterben, Wasser und
Feuer u. s. w. Da nun die Erzeugung der Götter nicht eine
müssige Spielerei zur Classification der Naturerscheinungen ist,
u.quizeauy Google
128 Religion der Furcht.
sondern lediglich aus einer unwillkürlichen Nöthigung der Furcht
hervorgeht, so lag es nahe, dass für den massgebenden und
grundlegenden Gegensatz von Furcht und Hoffnung, Schaden und
Yortheil, Schmerz und Lust auch eine dualistische Ursache ge-
sucht wurde.
Bs wäre aber ungenügend, wollte man hier nur Eine Äuf-
lösungsweise der durch die Thatsachen gegebenen Gleichung zu-
lassen. Vielmehr ist das Gegebene so wenig bestimmt, dass die
Phantasie sehr wohl yerschiedene Lösungen des Problems
liefern kann. Darum mag auch inmier in Völkern, bei denen
leicht Einer vor Allen gewaltig wurde und, soweit der Blick
des Einzelnen reichte, überall despotisch, zu herrschen schien,
die Ueberzeugung aufgekommen sein, dass ein Gott die Ober-
gewalt über alle anderen Dämonen habe. Ein solcher Mon-
archismus ist immer ein Zeichen grösserer socialer Entwicke-
lung, indem die Götter, die ursprünglich jeder Mensch für sich
und seine Familie, später auch gemeinsam für Gau und Stamm
hat, sich im Kampf der Stämme durch hergestellte Friedensge-
meinschaft zu einem monarchischen Despotismus ausgeglichen
haben. Der Dualismus liegt dann entweder noch in dem Ge-
gensatz des Nationalgottes gegen die Götter des auswärtigen
Feindes oder in den Stimmungen und Launen des despotischen
Götterherm selbst.
Jedenfalls sieht man, dass die Frage, ob die Urzeit und
unterste Stufe menschlicher Religion polytheistisch war, zwar
keine grosse Wichtigkeit hat, weil die Theologie dieser Religion
der Furcht überhaupt zu keiner höheren Entwickelung gelangen
konnte, aber dennoch entschieden bejaht werden muss, da ein
streng genommener Dualismus und Monotheismus schon eine
weiter fortschreitende Arbeit des Denkens fordern. Wir werden
sehen, dass es noch besonderer Veranlassungen bedarf, damit
die verschiedenen göttlichen Ursachen zu einem grossen Gegen-
satz gruppirt und alle Götter schliesslich zur Einheit des Allge-
meinen der Macht zusammengefasst werden können.
§4.DieeoBsti- Wcuu wir uuu die Dogmatik dieser Theologie
utiTeB 8«ue gtudircu wollen, so könnten wir zwar empirisch aus
der Dognatlk _ . . -r^ ,. . >•. . , ^
dieser Bell- dcu zugchöngcn Rchgionen die emzelnen Gottesvor-
»*•■• Stellungen sammeln, wir thun aber besser, nach un-
serer Methode die Dogmatik aus derselben Erkenntnisstheorie
uiymzeu uy x^jv^'v^'
ö'"
Dogmatik. 129
specnlatiy abzuleiten, nach welcher sie sich psychologisch bei
den verschiedenen Völkern gebildet hat Denn da Niemand diese
Baals und Qiva's, diese Schu's und Setis und all die obscuren
Götter der Wilden gesehen hat, so ist klar, dass sie sich durch
einen allgemein, also speculativ, nachweislichen Gedankenprocess
gebildet haben. Da sie blosse Gedanken waren, so müssen sie
durch's Denken jederzeit neu erzeugt werden können, wenn wir
nur die Beziehungspunkte combiniren, deren Beziehungseinheit
sie bildeten. Dadurch muss auch ihre ganze Qualification und
also ihre Dogmatik sich ergeben.
Es giebt zwar einige Schriftsteller, die ihren Blick u,chtcUePh»n-
besonders auf die Abbildungen der Götzen und die dich- taaie, sondern
terischen Schilderungen der Götter in Mythen ^»d 'Jj^'^^*"!^^^ *^
Hymnen gerichtet haben und deshalb die ganze Theo- m»tik.
logie und Dogmatik für ein Werk der Phantasie halten; allein
bei solcher Annahme kommt der Verstand etwas zu kurz; denn
in der Religion ist das Bild der Phantasie, welches sinnenfällig
durch die Kunst dargestellt werden kann, von geringer Bedeu-
tung; alles aber kommt darauf an, was der Gläubige bei solchen
Bildern denkt und fflhlt Das Denken, z. B. dass der Gott
über unsere Handlungen zürnt oder sich durch Opfer versöhnen
lassen wird, kann nicht sinnenfällig dargestellt werden und ist
deshalb keine Phantasie, sondern eine Beziehung, die wir so zu
sagen zwischen die Phantasiebilder stellen, d. h. wodurch wir
dieselben auf nicht-sinnliche Weise verknüpfen. Weil nun
diese Gedanken und die zugehörigen Gefühle sich unmittelbar
an die Phantasiebilder anschliessen, ohne selbst Bilder zu sein,
so gerathen diejenigen Schriftsteller, die bloss ihre Sinne be-
nutzen und auf den Verstand nicht viel Werth legen, zu der
Täuschung, es drehe sich in der Beligion bloss um Phantasie-
bilder. Sie haben eben nur die Schale vor Augen, den Saft und
die Kraft in der Sache lassen sie ungebraucht. Alle Phantasie-
bilder der Mythologie aber müssen gedeutet werden, und diese
Deutung ist eine Enträthselung dessen, was die Gläubigen bei
jenen Bildern dachten und fühlten. So ist das Denken nicht
zu vermeiden und wenn dieses in der ältesten Religion auch
noch so primitiv und fehlerhaft ist, so muss es sich doch durch
eine richtige Methode aufdecken lassen.
Telctamüller, Beligionsptailoaopbie.
Digi^zedby Google
130 Religion der Furcht.
Wenn z. B. die Athener einen Stein oder ein Beil, durch
welche ein Bürger umgekommen war, vor Gericht ziehen, das
leblose Ding aburtheilen und es dann in gerichtlicher Procession
bis an die Oränzen des Landes tragen, um es mit Flüchen weg-
zuwerfen, so giebt uns die blosse Phantasievorstellung dieser
Dinge und Personen keinen Aufschluss über die Religion. Erst
wenn wir uns znm Bewusstsein bringen, dass sie den Stein und
den getödteten Bürger unter der Kategorie von Schuld und Ver-
brechen auf einander beziehen, also, wie man sich ausdrückt,
„etwas dabei denken^^, was man nicht sehen und hören und
in der Phantasie vorstellen kann, erst dann verstehen wir den
religiösen Akt. Es ist dabei ganz einerlei, ob wir jetzt mit
richtiger Welterkenntniss den Stein fQr leblos und unschuldig
halten und uns darüber wundem, dass solche gerichtliche Pro-
ceduren noch bei dem aufgeklärten Athenischen Volke nach der
Zeit seiner grossen Tragiker, Bedner und Philosphen vorkamen;
wichtig für unsere Frage ist nur, ob hier bloss Phantasie im
Spiele war, oder ob vielmehr gewisse Beziehungen, die nicht
sinnlich, sondern nur mit dem Verstände aufgefasst werden kön-
nen, den Erklärungsgrund bilden. Nun werden durch die Erin-
nerung bloss zwei sinnliche oder in der Phantasie gegebene
Bilder, Stein und Leiche, vorgestellt; die Verknüpfting oder Be-
ziehung derselben aber ist nicht sinnlich, sondern ein Gedanke,
eine unrichtig angewendete Kategorie. Also kann ohne Denken»
ohne Speculation die Religion nicht erklärt werden.
Wenn daher alle diejenigen näheren Ausmalungen und Er-
zählungen, welche die einzelnen Völker über ihre Götter und
deren Handlungen und Leiden liefern und durch welche sich die
verschiedenen Formen der Furchtreligion als geographisch und
national charakteristisch von einander absondern, der Phantasie
angehören und mithin als accidentell betrachtet werden müssen
weshalb die wissenschaftliche Untersuchung darüber Sache des
Ethnologen, Philologen und Historikers, d. h. mit einem Worte
Aufgabe der Empirie ist: so kann es unsere Sache hier nur sein,
die allgemeinen und nothwendigen Folgesätze zu finden,
welche sich speculativ ans der Erkenntnisstheorie dieser Religion
und den fest gegebenen Beziehungspunkten des Motivs der Re-
ligion einerseits und des zugehörigen Gottesbewusstseins anderer-
seits ableiten lassen. Diese Sätze constituiren die Dogmatik
Dogmatik. 131
der Furchtreligion, sind aber ftlr die zugehörige Theologie nur
consecutiv, da sie den Gottesbegriff in seiner allgemeinen Coor-
dination zum Motiv schon voraussetzen.
Wie nun erstens der Gott selbst als Wesen aus
der Furcht und den Furcht erregenden Ereignissen nchkeit Gotic«.
sich mit psychologischer Logik bildete, so müssen
diese Ereignisse, da sie (wie Gewitter, finstere Nacht, Seuchen,
plötzliche Todesfillle, unerklärliche Krankheiten, Dürre, Stürme,
schreckliche Kälte, giftige und reissende, in Menge oder unüber-
windlich auftretende Thiere u. dergl.) immer einem natürlichen
Wechsel unterworfen sind, auch den Gott als wandelbar er-
scheinen lassen. Erstes logisches Dogma der Religion ist also:
Gott ist zwar böse, aber veränderlich.
Da zweitens jede Veränderung immer ftir den
_. , -rr .1 .>! A. 1 * 1 . -•.▼ 1 2. Gemeinschaft
Emen einen Vortheil , für den Andern emen Nach- awi«chen oott
theil bedeutet, so muss die Projection auf den Gott "°^ Mensch.
zu dem Dogma flihren, dass Gott in Beziehung zu den Menschen
stehe und sowohl zornig als gnädig, günstig und feindlich
sein könne. Und weil die Religion ja eine Stimmung und Vor-
stellung in den Menschen ist, die entsprechend ihrer Stimmung
und Vorstellung zu bestimmten Handlungen in ihrer Angst und
Freude getrieben werden, während inzwischen auch die bedroh-
lichen Ereignisse sich irgendwie verändern, so liegt die Logik auf
der Hand, dass die Handlungen der Menschen im Zusammenhang
mit den göttlichen Gemüthsstimmungen und deren Veränderungen
stehen, dass die Menschen also durch ihre Handlungen einen
gewissen Einfluss auf Gott haben und mit ihm in einer gewissen
geheimnissvollen Gemeinschaft stehen.
Da drittens der Gott nach dem Bilde des Men-
1 1 »• • . i*i.Ai«i 3- SUmmxingen
sehen geschaffen ist, wobei die Analogie aber nur ootte« von den
auf das geistige Wesen des Menschen führt Handlungen
und nicht etwa auf menschliche Erscheinungsform, so abh&ngig.
muss bei den Göttern, wie bei den gefilhrlichen Men-
schen, ein bestimmter Wille angenommen werden. Obgleich
nun dieser Wille von der Laune eines Despoten nicht verschie-
den ist, so muss der gottesfürchtige Mensch ihn dennoch als
Zorn oder Gnade aus den jedesmaligen schädlichen oder vor-
theilhaften Naturereignissen zu erkennen glauben. Aber nicht
diese aus Zeichen geschöpfte Erkenntniss der Stimmungen der
uiymzeu uy VwJv^\JVt Iv^
132 Beligion der Furcht,
Götter, sondern die Erforschung der Ursachen ihrer gütigen
und zornigen Stimmungen ist von ganz besonderer Wichtigkeit,
weil der Mensch sich selbst in die natürliche Causalreihe der
Motivation der göttlichen Stimmungen einschieben muss. Denn
da der Gott für ihn und von ihm erzeugt ist, so muss auch jede
geglaubte Stimmungsveränderung des göttlichen Beziehungspunktes
auf die eigenen Handlungen des Menschen und die glücklichen
oder traurigen Ereignisse bezogen sein und demgemäss müssen
göttliches Leben und menschliches als zwei variable Beziehungs-
punkte mit einander in Coordination stehen. So bildet sich der
Begriff Schuld (culpa) nicht im Sinne der Moralität, sondern
im Sinne von Veranlassung oder Ursache von Uebeln, da der
Mensch ja die abhängigen Variationen von X = Gott aus den
ihm bekannten Variationen seiner selbst ableiten muss. In un-
vermeidlicher Zugehörigkeit steht damit zugleich bei glücklicher
Wendung der Dinge die Ueberzeugung, angenehm vor dem
Auge des Herrn zu sein, seiner Gnade sich zu erfreuen, oder
anders ausgedrückt, dass das Wohlgefallen des Herrn auf dem
Menschen ruhe. Dass die Beligiösen in dieser Weise schliessen
und sich demgemäss ihrer Schuld, ihres Verdienstes, ihres Gnaden-
standes und ihrer Gottesfeindschaft und ihres Verfolgtseins be-
wusst werden, ist eine unbestreitbare Thatsache. Die Logik des
religiösen Paralogismus ist aber nicht so leicht durchsichtig und
erfordert eine subtile Analyse, weil man mit vielen Beziehnngs-
gruppen zu thun hat, die zwar mit einem Schlage zusammen-
wirken, aber dennoch in die einzelnen wirksamen Fäden aufge-
löst werden können. Als Ausgangspunkt nehmen wir die Er-
eignisse in der Sinnenwelt. Setzen wir diese erstens in Corre-
lation zu unserem Gefühl, so erscheinen sie als Glück oder Un-
glück; in Correlation mit dem Erkenntniss vermögen zweitens er-
zeugen wir für sie als Ursache einen Gott. Fassen wir nun
diese beiden Correlationen combinatorisch zusammen und be-
ziehen sie drittens auf unser Ich, so erhält der Gott in Beziehung
auf uns eine Gesinnung, Zorn oder Gnade. Da viertens dieser
Gott aber kein objectiv gegebenes Wesen, sondern nur unser
Gottesbewusstsein ist, welches genau nach der Analogie mit
dem Ich gebildet wird, so muss das Gottesbewusstsein in die
Coordinationsform der drei Functionen unseres Geistes eingehen
und folglich einzig und allein von unserem handelnden Vermögen
/Goog^v
Dogmatik. 133
abhängig werden, welches Realität schafft nnd demgemäss so-
wohl die zugehörigen Gefühle als die zugehörigen Gedanken be-
stimmt. Mithin ist auf dem Grunde des gegebenen Paralogismus
die übrige Dogmatik ganz logisch vermittelt, indem die Stim-
mungen Gottes nun nothwendig von den Handlungen des Men-
schen hergeleitet werden und ihnen coordinirt sind.
Da aber die objectiven Ereignisse in der Sinnen- ^ j^^ ^^^
weit, welche auf Gott bezogen werden, unmöglich und d»a mter-
einen stetig harmonischen Zusammenhang mit den enl^ckeUBteh
subjectiven Zuständen des Einzelmenschen haben kön- mit dem Men-
nen, so muss sich die Erklärung der Stimmungen ^^'^^'
Gottes aus den Handlungen des Menschen nothwendig als unzu-
länglich herausstellen. Mithin muss der Wille Gottes, obwohl
die eben dargelegte Motivationsweise niemals verlassen werden
kann, doch zugleich auch noch als uner forschlich oder als
launenhaft oder als aus übermenschlichen anderen Einflüssen be-
stimmt erscheinen. Jedenfalls aber wird er immer post eventum,
d. h. durch die zu unserem Gefühl in Beziehung stehenden objec-
tiven Ereignisse enthüllt.
Da nun das Gottesbewusstsein in die Coordination mit un-
serem Gefühl und also mit unseren Lebensinteressen gestellt ist,
so muss es nothwendiger Weise variabel und historisch wer-
den, weil seine Goordinaten in Handlungen und den zugehörigen
Gefühlen bestehen. Das Wohl und Wehe des Menschen ist aber
nicht auf die Gränzen seines Leibes eingeschlossen, sondern steht
in nächster Beziehung zu seinem Eigenthum, seiner Hütte,
seinem Nahrungsgebiet, seinem Jagdglück in Wald und Meer
u. 8. w. Da nun an dergleichen Glück oder Unglück seine Fa-
milie theilnimmt, so muss der Gott Hausgott werden, demnächst
Dorfgott und so weiterhin Nationalgott. Der Gott bildet
sich also mit dem Menschen, und je umfassender dieser seinen
Willen ausstreckt, desto bestimmter und objectiv gewisser wird
im Allgemeinen der Wille 'des schützenden und zürnenden Gottes.
Es kann daher nicht fehlen, dass diese Religion mit der socialen
Entwickelung des Menschen nothwendig einen moralischen Bei-
geschmack bekommen muss, von dem sie ursprünglich ganz frei
war. Doch diese zweite Form der Religion lassen wir hier noch
bei Seite und betrachten den Gott bloss als mit den egoistischen
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
134 Religioxi der Furcht.
Interessen des Menschen und seiner Fandlie, seines Standes und
Volkes verwachsen.
5. Der Mensch Sofcm nun Dorf gegen Dorf, Volk gegen Volk
ein MitBtreiter kämpft, 80 wird der Gott nothwendig Kriegs- und
Gotte«. Kampfgott, da wir ihm ja nach dem vierten Dogma
unsere egoistischen Lebensinteressen attribuirt haben. Mithin
sind wir die Mitstreiter Gottes, seine Knechte und haben
ihm zu helfen bei seinem Werke. Feigheit in der Schlacht,
Weglaufen u. dergl. ist Verrath an dem Gotte. Da das Volk
aber andere Völker und also der Gott auch andere Götter sich
gegenüber hat, so wird sich dies nothwendig zuweilen in den
Naturerscheinungen, welche dem Gotte zugehören, zeigen. Es
ist darum in der Ordnung, dass wir auch bei solchen Gelegen-
heiten, die gewissermassen den Gott in seinem Privatinteresse
betreffen und uns zunächst nichts angehen, zur Hülfe verpflichtet
sind, um unseren Herrn und Helfer nicht schwächen zu lassen.
Verfinstert daher der Mond die Sonne, so haben die Gottesstreiter
mit Paucken und Trommeln und Geschrei den bösen dunkeln
Dämon zu erschrecken und zu verscheuchen, um den segnenden
Lichtgott zu befreien. Wenn jedoch 0. Pfleiderer in seiner
genetisch-speculativen Religionsphilosophie U S. 27 im Anschluss
an Schwartz „Ursprung der Mythologie" diese Unterstützung
der Götter „allem Kultus von Anfang als Motiv zu Grunde" legt
und „die allerältesten religiösen Gebräuche ftlr eine Nachahmung
des Thuns der höheren Mächte" erklärt, so fehlt mir eine Er-
klärung ftlr das religiöse Motiv; denn die blosse Nach-
ahmung ist schon längst als dem Gebiete der Kunst angehörig
erkannt Diese Annahme von Schwartz kann daher auch gar
nicht bewiesen werden; denn die Anftthrung gewisser Gebräuche
bei wilden Völkern verschlägt nichts, da auf diese Weise nicht
das Ursprüngliche von dem allmählich Hinzugekommenen unter-
schieden wird. Der Gegenbeweis aber liegt auf der Hand; denn
jedes Kind macht den psychologischen Entwickelungsprocess der
Menschheit durch, und nie wird man Kinder finden, die von
sich aus durch Beobachtung oder Nachahmung der Himmels-
erscheinungen eine Theologie ausbildeten. Vielmehr wurzelt ihr
erstes religiöses Geffthl, ebenso wie bei allen rohen Völkern, in
der Furcht, und Gespenster sind ihre ersten Götter. Nicht was
den Göttern begegnet, ist der erste Gegenstand der Gedanken,
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Dogmaidk. 135
sondern was uns begegnet, unser Wohl und Wehe, und die
Götter werden in unser Interesse verflochten, nicht wir in das
ihrige; diese letzte Wendung ist vielmehr eine spätere secundäre
Entwickelung, d^ die Interessen und das Wohl und Wehe der
Götter erst von unserem perspectivischen Gesichtspunkt aus be-
stimmt werden können.
Die Götter sind aber von jeher nie etwas an- ^'^ AnimitmuB
deres als geistige Wesen, Personen wie wir gewesen. einMine^Fom*
Ich habe diesen Satz schon in meiner Grundlegung <*«' Beiigioii.
der Metaphysik bewiesen. Steine, Bäume, Winde, Thiere u. s. w.
sind niemals Götter gewesen, sondern nur Erscheinungsformen
hinter ihnen verborgener Personen; denn der Mensch kennt ur-
sprünglich durch sein Selbstbewusstsein nur sich und personificirt
alle Dinge nach Analogie mit sich. Niemals haben darum die
Menschen Sterne verehrt, niemals die Sonne und den Mond, son-
dern immer nur geistige, persönliche Wesen, deren Auge oder
Erscheinung die Sonne war. Und dies ist so natürlich, dass
selbst der grosse Philosoph Aristoteles, der über die Theologie
des Volksglaubens nicht hinaus konnte, hinter der Sonne und
den übrigen Sternen göttliche Geister mit fester Ueberzeugung
annahm. Wenn ich nun dieses Dogma nicht als eine blosse
Hypothese zur Erklärung aller Beligionsgebräuche hinstelle, son-
dern es als einen logisch nothwendigen und völlig sicheren
Schlusssatz aus psychologisch gewissen und unzweifelhaften Prä-
missen ableite, so fragt sich, wie zu meiner Theorie der soge-
nannte Animismus steht, der die Beligion aus dem Ahnencultus
herausziehen will. Die Frage ist leicht beantwortet; denn die
Väter sterben uns ja niemals mit ihrem Tode. Ob aber Menschen
überhaupt im Leben oder Tode ausser uns und unabhängig von
uns ein selbständiges Leben ftlr sich ftlhren, das ist jedem an-
dern Menschen von Natur gleichgültig und höchstens ein Gegen-
stand seiner Neugierde, wie z. B. ob es Menschen auf dem
Monde giebt; für uns kommt immer nur in Betracht, was für
uns ist. Die Väter aber waren etwas ftlr uns. Wir sahen sie,
wir hörten sie, wir hatten Hülfe und Freude, Schrecken und
Schmerz von ihnen. Für uns waren sie da, so lange sie lebten.
Nach ihrem Tode sitzen sie noch ebenso fest in unserem Be-
wusstsein wie vorher; denn ihre Bilder, ihre Stimmen, die Erin-
nerung an ihre Thaten und an ihr Wesen, all dieses, was sie
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136 Religion der Furcht.
für uns waren, das kann ja nicht mit der äusseren Erscheinung
ihres Leibes verschwinden. Mithin müssen sie für uns noth-
wendig weiter existiren, auch wenn wir sie nicht mehr in ge-
wohnter Weise sehen und hören. So werden sie zu Gespenstern,
zu Laren und Larven. Es kann darum gar keinem Zweifel
unterliegen, dass die Penaten zur ursprünglichen Religion ge-
hörten, dass sie in vielen Visionen erschienen, und dass man
namentlich nach dem Tode von schlimmen und gestrengen Herren
vieles Unerklärliche und Schlimme auf die Einwirkung des Haus-
gespenstes zurückführte. Allein dieser Animismus bildet nur
eine einzelne Form, eine besondere Veranlassungsweise der ur-
sprünglichen Religion, die, wie ich gezeigt habe, einen allgemei-
neren Ursprung hat Wir können deshalb den Animismus gelten
lassen^ geben ihm aber nur eine Provinz in dem grossen Reiche
der Religion der Furcht
Unsere speculative Ableitung der Religion wird
•tiMMbarkeit s^bcr uicht ftLr das sicher erkannte Motiv der Religion
dM theoioffi- nim einen ebenso fest bestimmten theologischen Gegen-
' stand ausmalen wollen, als müsse der zugehörige Gott
schlechterdings bei allen Völkern die gleiche Phantasie auslösen.
Diese Thorheit folgt nicht aus unseren Prämissen. Vielmehr liegt
umgekehrt die Unbestimmbarkeit und Zufälligkeit der theolo-
gischen Vorstellung in der Consequenz unserer Gedanken; denn
alles und jedes, was Furcht erregt und zugleich das
Mass unseres Verstandes und unserer Kräfte über-
schreitet, muss in die theolologische Sphäre rücken, d. h. als
etwas Dämonisches und Göttliches betrachtet werden.
Bchiangencnit ^^ ^' ^* ^r^ählte mir hier in Dorpat ein Arme-
nnd Tbienmit nicr, dass in seiner Heimath noch jetzt auf dem Lande
überhaupt, gehlaugcncultus herrsche. An jedem Morgen und
Abend bringt unter Murmeln und Singen von Zauberformeln der
Landmann dem Schlangenkönig ein Opfer in einer Schale Milch
dar, und der König kommt, schlürft sie aus und beschützt dafür
das Haus. Dies ist mir völlig verständlich; denn die giftigen
Schlangen sind dort, wie ich von dem Armenier hörte, wegen
ihrer grossen Menge häufig eine Veranlassung des Todes von
Menschen und Vieh, also eine beständig das Leben umringende
Gefahr, die durch keine menschliche Kraft besiegt, durch keinen
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Dogmatik. 137
Verstand ihrem Ursprung nach erklärt werden kann. Wenn wir
aber dem Schlangenkönig, d. h. einer einzelnen Schlange, opfern,
80 bewahrt sie Hans and nächste Umgebung yor dem Zugang
der übrigen, wie ein Hahn und Hund keinen andern auf dem
Hofe duldet Sie beweist sich also als König und Herr, sie
yerschafit ruhigen Schlaf, Freiheit von Angst und Sorge beim
Anbruche der Nacht; sie ist ein gegenwärtiger Gott, unverletzlich,
unbegreiflich mächtig und doch nur eine Schlange. Dies Bei-
spiel mag uns verdeutlichen, wie auch ein einzelnes Individuum
aus dem Thierreich in den Bang der Gottheit rücken kann und
wie der bei den südlichen Völkern fast allgemeine Schlangen-
cultus wenigstens nach einer Seite hin zu deuten ist Die andre
Seite aber, um derentwillen Thiergattungen, wie Tiger, Krokodil
und andre zu göttlicher Ehre gelangten, liegt wohl erstens darin,
dass sie böse und gefährlich genug waren, um ein Gott zu
werden, und zweitens darin, dass sie ihrem Ursprung und ihrer
Zahl nach so verborgen sind und sich untereinander so sehr
ähneln, dass in jedem einzelnen keine Individualität, sondern nur
die ganze Gattung vorgestellt wird, weshalb die Tödtung eines
Individuums ganz unnütz erscheint, da immer dasselbe Princip
mit demselben Charakter wieder vorhanden ist und die Gefahr
und Angst also kein Ende nimmt
Interessant ist, dasa der Gott darum an seiner göttlichen
Natur Einbusse erleidet, wenn er intelligenter, gutmüthiger und
bekannter ist; denn er nähert sich dadurch dem Mittelschlage
der Menschen, und mithin muss die Theologie eine sonderbare
Mischung zeigen und der zugehörige Gultus humoristisch werden.
Man sieht dies bei dem Bären-Gult in Sibirien, wo man dem
zottigen Gk)tte zwar als einem immerhin gefährlichen Teufel mit
obligatem Bespecte begegnet, dennoch aber mit ihm, da er kein
reiner Fleischfresser, also weniger böse ist und von stärkeren
Männern auch besiegt und gebunden werden kann, allerlei possir-
liehen Gottesdienst treibt
Nicht ganz nach demselben Gesichtspunkte darf man die
humoristischen Seiten in dem christlichen Gottesdienste erklären;
denn wenn man, wie ich dies z. B. in den Weihnachtstagen in
Malaga sah, der Jungfrau ein lebendiges Lamm, welches heimlich
zum Blöken gereizt wird, auf die Bühne bringt und die zart und
sittig dasitzende Andalusierin dann mit Höflichkeit „muchisima
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
138 Religion der Furcht.
gracia Senor^' („besten Dank^ mein Herr^O sagt, so amüsirt sich
zwar Jung und Alt und das religiöse Schauspiel wird mit eben-
soviel Grandezza als Heiterkeit durchgeführt; gleichwohl wäre
dieser Humor nur einseitig yerstanden, wenn man bloss die
mangelnde Gefährlichkeit des Gottes und die Abwesenheit des
Butzemanns, vor dem man sich ängstigt, hier in Bechnung ziehen
wollte. Es liegt vielmehr in dem christlichen Humor noch ein
viel tieferer Sinn verborgen, den wir aber erst bei der Philo-
sophie des Christenthums zu erforschen haben.
Wie die Thiere, so können auch die Menschen
Henschencait. ^^ Dämoncn wcrdcu, wenn sie recht scheusslich und
boshaft sind und durch irgend einen Zufall flir die geheimniss-
volle und übernatürliche (magische) Ursache von Schaden und
Leid gehalten werden. Wenn wir die Beisebeschreibungen,
namentlich die aus den letzten zwanzig Jahren, über die Wilden
im inneren Afrika lesen, so müsste man glauben, es gäbe nichts
Dümmeres in der Welt als den Menschen, solche wahnwitzige
Vorstellungen und Gebräuche sind dort an der Tagesordnung,
die alle Augenblick einem Unglücklichen das Leben kosten.
Gleichwohl ist die dort herrschende Theologie für den Philo-
sophen völlig verständlich, da die Furcht das Motiv abgiebt und
die Gottesvorstellungen ohne alle wissenschaftliche Einsicht durch
das unwillkürliche Spiel niechanischer^Ideenassociation gebildet
werden. Es ist darum in der Ordnung, dass es Hexen und
Zauberer giebt und dass diese theils Opfer empfangen und ehr-
erbietig behandelt werden, wenn man sich vor ihnen fürchtet,
theils todtgeschlagen und verbrannt werden, wenn man dies un-
gestraft thun zu können vermeint Wie viele Götter werden
nicht geprügelt I Ich sah selbst in Spanien, dass der Gekreuzigte
an seinem Kreuze von seinen gläubigen Verehrern mit faulen
Orangen geworfen wurde, weil er keinen Begen gegeben hatta
Wenn das im Kreise der höchsten und vollkommensten Beligion
vorkommt, was soll man von den Wilden erwarten!
Es ist wohl natürlich, dass auch die Könige zu Göttern
wurden, nicht etwa bloss nach ihrem Tode, sondern schon zu
Lebzeiten, und zwar oft um so mehr, je scheusslicher und grau-
samer sie ihre unermessliche Macht ausübten. Die Macht scheint
zwar natürlich zu sein und durch Soldaten ausgeübt zu werden,
das Königskind kommt aber durch Schicksalsfügung ohne Ver-
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Dogmatik. 139
dienst zur Gebart und in den Besitz dieser unübersehbar ver-
ketteten und gleichsam magischen MachtfllUe. Ein Gott, sagten
die Inder, kann mit dem Blitz einen Menschen tödten, ein König
aber tödtet ein ganzes Dorf und verheert ein ganzes Land, er
ist mächtiger als die Götter, er ist selbst ein gegenwärtiger Gott
Im zweiten Bande meiner ,,Neuen Studien zur
Geschichte der Begriffe" habe ich namentlich die «^^^•»•^
ägyptische Religion ihrem Ursprünge nach genauer untersucht
Es zeigte sich dabei mit völliger Evidenz, von wie massgebender
Bedeutung die astronomischen Vorstellungen auf die Dogmatik
und die Formen des Cultus gewesen sind. Dass die Sonne vor
allen andern Sternen sowohl als Ursache von Licht und Wärme
und damit von Fruchtbarkeit des Bodens, Nahrungsfblle und
Lebensannehmlichkeit, wie auch im Winter, wenn sie in den süd-
lichen Zeichen des Thierkreises steht, durch ihre Abwesenheit
als Veranlassung von Kälte und Dunkel und Feuchtigkeit u. s. w.
die grösste Bolle im Leben des Naturmenschen spielen muss,
liegt auf der Hand. Der von der Dunkelheit und den unerkenn-
baren Gefahren der Nacht geängstigte Wilde sehnt sich nach
dem Lichtauge des Himmels und begrüsst den Horus-£a oder
Helios als segnenden Gott, der freilich auch im August durch
seine versengenden Strahlen wieder als böses Princip, als Seti
oder Schu betrachtet werden muss. Dass aber auch der Mond
für vieles Unglückliche und Glückliche dem armen Menschen An-
zeichen bringt, nach denen ängstlich gespähet wird, ist z. B. noch
aus des Aratos gelehrtem Werke über die Wetterzeichen v.
772 — 817 deutlich zu erkennen.
Bedenkt man noch, dass die Sonne auf ihrem Wege durch
den Thierkreis, jenachdem sie in diesem oder jenem Hause des
Himmels steht, eine glückliche oder unglückliche Lage des vom
Klima abhängigen Menschen herbeiführt und dass ihre Stellung
nothwendig jedesmal das Verschwinden oder Auftreten gewisser
anderer Sterne coordinirt mit sich bringt, so erklärt sich leicht,
wie auch den sonst so unschuldigen Fixsternen eine enge Be-
ziehung zu menschlichem Glück oder Unglück zuwachsen musste.
In analoger Weise konnten auch gewisse periodische für Wohl
und Wehe des Menschen entscheidende Ereignisse, wie z. B. das
regelmässige Austreten des Nils in Aegypten, durch das Wieder-
erscheinen gewisser Sterne, wie hier z. B. des Sirius, der lange
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140 Beligion der Furcht
in den Strahlen der Sonne verborgen bleibt, verkündigt werden,
so dass nach psychologischer Logik dadurch ein innerer Zu-
sammenhang zwischen diesem Fixstern and jenem localen Er-
eigniss mit seinen Folgen für die Menschenwelt zu constatiren war.
Dass man deshalb überall in der Furchtreligion
Gott niB Kind j^^^jj Sounencult und Sterndienst überhaupt vorfindet,
und LeiohnAm.
ist ganz selbstverständlich; dass man aber auf dieser
ersten Stufe religiösen Denkens auch der Vorstellung vom Gott-
kinde und der Verehrung des Oottleichnams begegnet, das bedarf
einer Untersuchung. Zu einer exacten Beweisführung wird man
es dabei schwerlich bringen, doch verlangt dies die richtige Me-
thode hier auch nicht, da die Dogmatik der hierher gehörigen
Beligionen durch blosse Ideenassociation gebildet wurde. Mithin
kommt es nur darauf an, solche natürliche Vorstellungsver-
knttpfungen anzuzeigen. Nun ist aber principiell schon fest-
gestellt, dass die Gottesidee immer nach dem Bilde des Menschen
geschaffen wurde; also sind auch die Sterne Himmelsherren
männlichen und weiblichen Geschlechtes. Da nun dem Menschen
Geburt und Tod zukommt, so entspricht es der Analogie, auch
den himmlischen Herrschaften Aehnliches anzudichten. Es dreht
sich daher vor Allem um das Mittelglied der Lebensdauer.
Allein diese war ja leicht durch Analogie zu bestimmen, da die
Sonne von ihrem Aufgange bis zu ihrem Untergange täglich und
vom Frühling bis Winter jährlich eine gewisse Lebensdauer hat.
So ist es denn auch verständlich, dass man den täglichen Auf-
gang und den Frühlingsanfang der Sonne als ihre Geburt und
den täglichen Untergang und den Winteranfang als ihren Tod
betrachtete und beide Ereignisse mit diesen Bildern in vielen
Liedern besang. Mithin ist die Sonne in beiderlei Anfängen der
Analogie entsprechend ein Kind und in der Nacht wie im Winter
ein Leichnam. Da aber beides zu dem eigentlichen Leben und
Wesen des Gottes hinzugehört und sich auch periodisch wieder-
holt, so muss Kind und Leichnam des Gottes schliesslich eben
so wichtig für die Vorstellung werden, wie die ursprüngliche
Hauptidee. Daher kommt es, dass bei Aegyptem, Griechen und
wohl den meisten hierher gehörenden Völkern auch Geburts- und
Todesfeste der Götter gefeiert werden und dass man ftir den
Cultus auch eine bestimmte tägliche und jährliche Periode ein-
führte. Obgleich nun die allein wahre und vollkommene christ-
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Dogmatik 141
liehe Religion mit ihrer seligen Botschaft himmelhoch über diese
rohen AniUnge religiösen Lebens hinansragt, so scheint sie sich
doch mit ihrem Kirchenjahr an diese heidnischen Galtformen
angeschlossen und auch das Gott-Kind (il bambino, Dios nino),
wie z. B. bei Homs^ und den Gottleichnam, wie z. B. bei Osiris
und Adonisy angenommen zu haben. Wollte man dies nach der
Aristotelischen Kegel: ,Les extremes se touchent^ erklären, so
hätte man ganz ohne Verstand geurtheilt, erstens weil das Christen-
thum kein Extrem ist und zweitens weil auch bei den ver-
schiedenen Religionen nicht ein Mehr und Minder, d. h.
kein blosses Quantitätsyerhältniss artbildend werden kann.
Vielmehr liegt der Grund erstens in der Geschichte, sofern das
sich ausbreitende und Völkern und Zeiten anpassende Christen-
thum wirklich fremde Elemente aufnahm, die nicht zu seinem
constitutiven Wesen gehören und zum Theil geradezu wider sein
eigen Wesen streiten, zum Theil aber durch Allegorie assimilirt
und in symbolische Darstellungsformen umgesetzt werden können.
Der zweite Grund ist aber merkwürdiger und eigenthümlicher;
da nämlich die älteste Religion von projectivischer Personification
ausging, indem der wirkliche Sinn und Ursprung des Wesens-
und Substanz-Begriffs bei dem ersten Denken der Menschheit
naiv und ungeschult angewandt wurde, so gelangte im Ghristen-
thum nach der Niederlage der falschen materialistischen und
idealistischen Metaphysik das wahre und reife Denken zum
Durchbruch, und es wurde daher die Weltauffassung historisch,
und der Gott erschien wirklich als Mensch, was für die neue
Metaphysik ebenso unentbehrlich, wie es fQr die alte wider-
spruchsvoll ist. Aus diesem Grunde erklären sich nun viele
Analogien zwischen allen den ältesten Mythologien und der ein-
zigen rein geschichtlichen Religion des Ghristenthums, soweit
nicht blosse Aufsaugung und Assimilation stattfand. Es ist hier
aber nicht der Ort, dies näher auseinander zu setzen. Ich kehre
deshalb zur Betrachtung der Furchtreligion zurück; denn es
kam uns nur darauf an zu verstehen, wie mit psychologischer
Nothwendigkeit die Analogie mit dem Menschenleben auch für
die Dogmatik dei' Naturgötter solche Freudenfeste der als Kind
zu Weihnachten wiedergeborenen Sonne und solche leidenschaft-
liche Trauerfeierlichkeiten bei dem Tode der Götter und Göttinnen
und ähnliche jährliche auf Emdte von Korn und Früchten und
Wein bezügliche Feste mit sich bringen musste. ^ ^^^ GoOqIc
142 Religion der Furcht.
Da diese ganze Religion, von der wir handeln,
JDIg Symbole«
auf die Gefühle von Furcht und Hoffnung aufgebaut
ist, so kann als theologisches Object eigentlich nur die lebendige
mächtige Persönlichkeit gelten, welche als Ursache aller uns
treffenden Wohl- und Wehethaten angenommen wird. Da diese
Ursache aber nicht durch einen wissenschaftlichen Schluss mit
naturwissenschaftlicher Methode, wie es erforderlich wäre, rein-
lich erbaut, sondern durch blinde und uncontroUirte Ideenassocia-
tion und Phantasie ausgestattet wird, so mtlssen viele zufällige
Umstände, die an sich gar nicht zu den Bedingungen des uns
treffenden Gltlcks oder üngltlcks gehören, nothwendig zu einer
mit Angst geftlhlten Bedeutung anwachsen und nach den psycho-
logischen Gesetzen der Erinnerung mit der Vorstellung von Glück
und Unglttck und deshalb auch mit der theologischen Annahme
verschmelzen. Es ist daher ganz in der Ordnung, dass sich
allerlei Symbole der Gottheit bilden werden, indem entweder
die Erscheinungsform des Gottes, wie der Sonnendiskus, oder
das Phantasiebild, womit wir es vergleichen, wie das Auge, oder
irgend eine zufällige Form, die uns ängstigt, wegen der Erin-
nerung mit dem Gott selbst so eng verknüpft wird, dass wir
keinen Unterschied mehr machen. Es ist überhaupt nicht die
Sache der Religion, auf deutliche Unterscheidungen und klare
Begriffe auszugehen, da sie nicht Wissenschaft zu ihrem Ziele
hat, sondern dieselbe nur zur Bezeichnung der persönlichen Ge-
sinnung benutzt. Mithin schiebt sich leicht die blinde Ideen-
association an die Stelle der Erkenntniss, und so wird Götzen-
dienst und Bilderverehrung eine ihr immer nahe liegende
Gefahr, und es ist darum z. B. ganz erklärlich, dass noch jetzt
der Leichnam des heiligen Antonius in Padua Wunder thut und
dass der Stein in Mekka göttliche Kräfte hat, denn wie der
Magnet einen Nagel trägt, der wieder durch Mittheilung der ge-
wonnenen Kraft andere und wieder andere Eisentheile anzieht,
so wird auch die religiöse Stimmung durch Ideenassociation weit
über ihr eigentliches Object fortgeftlhrt. Wie die Thiere mit
einer gewissen Angst oder Freude Kleidungsstücke ihrer Herren,
den Hut oder das Halstuch des Jägers beschnuppem und dann mit
dem Schwänze wedeln, wie die Spatzen den Strohmann fürchten
und wie der Verliebte den Handschuh der Geliebten ktisst, so
wird dem Religiösen alles zum Fetisch, was durch Ideen-
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Dogmatik. 143
association mit dem Gegenstande seines Glaubens sieh verknüpfen
lässt, und es ist daher natürlich, dass die Menschen sich mit
Apotropäen, Talismanen, Beliquien, Götzenbildern und
allerlei dahin gehörigen Schutzmitteln umgeben und behängen.
Statt des Blitzableiters der wissenschaftlichen Menschen dient
hier ein Gmcifix oder ein Bild der Jungfrau Maria, statt Guano
zu streuen, richten sie zu unserm Erstaunen den Priapus in den
Feldern auf und statt die wirthschaftlichen Bedingungen des
Beichthums zu pflegen, bewahren sie angstyoU den Heckerling
im Beutel
Zusammenfassend können wir also sagen, dass das theolo-
gische Object in der Beligion der Furcht unmöglich deutlich be-
stimmt werden kann. Es wird aber immer nach der Analogie
mit dem persönlichen Geist des Gläubigen aufgefasst,
und wenn der Gott auch, wie z. B. bei den Griechen, als Mensch,
oder wie bei den Egyptem oft als Thier, oder wie bei den In-
dem oft gemischt aus Thier und Mensch erscheint, so sind diese
Gestalten doch immer nur Erscheinungsformen; denn auch hinter
dem Fetisch muss stets das eigentlich Wirksame als ein seiner
Natur nach unbestimmbarer, unsichtbarer aber mächtiger Geist
nach Analogie mit dem unsrigen gedacht werden.
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Drittes Capitel.
Der zngehörige Cnltns.
Mit dem Namen Cnltiis fassen wir alle Handinngen nnd Be-
wegungen, alles psychische und physische Thun in einem Worte
zusammen, um damit die specifische Beaction zu bezeichnen,
welche das religiöse GeftLhl (Ethik) nnd die religiöse Erkennt-
niss (Dogmatik) in der dritten Function des menschlichen Geistes
auslöst
§ 1. Deduction der Princlpien des religiösen
Handelns.
Um nun diese religiösen Handlungen zu verstehen, müssen
wir die zugehörigen Beweggründe ableiten. Wenn wir dem
Menschen die Lage geben, dass er Schmerz und Schaden bloss
hinzunehmen hätte, ohne dabei an eine Ursache zu denken, so
könnte er zwar convulsiyische Bewegungen und allerlei unver-
nünftige Beactionen in Folge des in ihm erregten Affekts zur
Aeusserung bringen, aber keine von Vorstellungen ' geleiteten
Handlungen vollziehen. Ebenso würde es sich verhalten, wenn
er zwar eine Ursache, also einen Bösen, voraussetzte, sich jedoch
vollständig unfähig ftlhlte, die Ursache abzuändern und die
Stimmung des Bösen zu wenden. Diese Lähmung zur That
würde natürlich noch vollständiger sein, wenn der leidende und
von Gefahr bedrohte Mensch die Ursache für leblos hielte und
sie auf allgemeine Naturereignisse zurückführte, die mit ihm und
seinem Schicksale in keinem Zusammenhang ständen, so dass
das Uebel nicht einmal für ihn selbst bestimmt wäre.
Nehmen wir nun das Gegentheil dieser Voraussetzungen an,
so erhalten wir die Principien der religiösen Handlungen; denn
jede Handlung setzt erstens eine Willensbestimmung, d. h. ein
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Der zugehörige Gultus. 145
Gefühl von Leid und Lust, voraus und zweitens eine Vorstellung,
worin die Mittel, dem Leid zu steuern oder die Lust hervor-
zubringen, vor das Bewusstsein treten. Da nun das Gefühl der
Furcht und HofiEhung uns als das ethische Motiv der Religion
schon gegeben ist, so bleibt bloss die Vorstellung zu be-
stimmen. Für diese ist aber die erste Bedingung, dass wir
unser Leiden auf eine Ursache zurückführen, die uns Leid zu-
fügen will. Diese Voraussetzung ist aber die natürlichste; denn
wie das Kind und jeder unverständige Mensch, wenn er sich ver-
letzt oder irgendwie Schaden leidet, immer anderen Dingen oder
Menschen die Schuld beimisst und gegen sie leicht in Groll,
Hass und thätlichen Zorn tibergeht, wie schon vorbildlich der
Hund den Stock beisst, den man ihm entgegen hält, so ist es
überhaupt psychologisch nothwendig, dass vor der wissenschaft-
lichen Erkenntniss der Ursachen immer nach mechanischer Vor-
stellungsverknüpfung das erfahrene Leid mit seinen näheren Um-
ständen in Beziehung gesetzt und nach der natürlichen Analogie
mit unserer eigenen Handlungsweise auf eine bewusste Ab-
sicht uns zu verletzen, zurückgeführt wird.
Die zweite Bedingung, damit Handlung entstehe, liegt in
der Vorstellung von gewissen Mitteln, wodurch wir unserem
Leide abhelfen können. So tödten wir die Mücke, die uns sticht,
weil wir sie erstens als Ursache des Schmerzes erkennen und
zweitens uns auch vorstellen, dass ein Druck oder Schlag mit
der Hand geeignet sei, diese Ursache zu vernichten.
Wenn dieses nun allgemeine Principien des Handelns sind,
so doch noch nicht die des religiösen Handelns; denn die theo-
logische Vorstellung muss uns ja eine Ursache zeigen, die an
Macht über unsere Kräfte und unsere Erkenntniss hinausgeht,
derart, dass wir sie nicht wie unseres Gleichen betrachten und
uns mit ihr nicht in einen Ringkampf einlassen könnten. Soll
nun dennoch die Möglichkeit einer Handlung von unserer Seite
vorgestellt werden, so muss sich die übermenschliche Ursache in
einer anderen Weise als veränderlich und umstimmbar denken
lassen. Hierfür haben wir wieder die Analogie in uns, da wir
uns sehr wohl dessen bewusst sind, was in unserem Gemüthe
vorgeht, wenn wir einem weit unter uns Stehenden, z. B. einem
Kinde, einem Knechte, einem Bettler und dergL, gegenüber treten.
Mithin müssen die Principien des religiösen Handelns, d. h. des
Telobmüller, BeUglontplillosopbie. 10 C^OOqIc
146 Religion der Furcht.
Cultus, nothwendig von demjenigen Verhältniss der Menschen
entlehnt werden, welches am Typischsten in dem Verhältniss des
Knechtes dem Herrn gegenüber und der Unterthanen und der Höf-
linge dem Despoten und Tyrannen gegenüber offenbar wird.
§ 2. Eintheilung der Arten des religiösea Handelns.
Die Handlungen des Höflings und des Religiösen zielen auf
Zweierlei, erstens den Zorn des gestrengen oder bösen Herrn zu
besänftigen und zweitens ihn zur Gewährung gewisser Güter,
über die er verfügt, geneigt zu machen. Das erste Ziel wird
uns durch die Furcht, das zweite durch die Hoflfeung an die
Hand gegeben.
Das erste Ziel suchen die Menschen bei Despoten
dM zomii des ^D^ Göttcm dadurch zu erreichen, dass sie entweder
GotteR. die Eitelkeit oder das Interesse des Herrn in*8
Spiel bringen; denn beide Gefühle vertragen sich nicht mit
dem Zorn.
Die Eitelkeit wird dadurch erregt, dass die aus-
regung Beiner bündigstcu Schmeicheleien vorgetragen werden; also
Eitelkeit, durch Preisen (Hymnen) aller Vortrefflichkeiten des
Herrn, durch Hervorhebung seiner alles übertreffenden Macht,
durch Erzählen seiner grossen Thaten, durch Anführung aller
Titel seiner Herrschaft, seiner Tempel, seines Keichthums. Dieser
auf den Herrn bezogenen Lobpreisung ist dann zugeordnet die
Heruntersetzung des eigenen Werthes (7cpo(;x6v7]at(;). Der Höf-
ling und der Gläubige bezeichnet sich als Gebundenen,' als
Knecht und Sclaven, als einen Schatten und ein Nichts dem Herrn
gegenüber; er wirft sich wie ein Gefangener auf die Kniee; er
beugt, wie ein ganz Unwürdiger, der den Herrn nicht ansehen
darf, ohne zu sterben, das Haupt; er wirft sich in den Staub
und berührt mit der Stirne die Erde, um seine gänzliche Be-
siegtheit und Nichtigkeit, seine völlige Niedergeschlagenheit und
Demuth zu bezeugen u. s. w. Es ist natürlich, dass man einem
Menschen gegenüber, der unsre Macht so bedingungslos anerkennt
und seine eigene Widerstandslosigkeit so augenfällig bekennt,
keinen Zorn mehr hegen kann. Der Höfling mag, wenn er schlau
ist, diese Mittel als List anwenden, ursprünglich aber ist mit
dieser Handlungsweise nur das wirkliche Verhältniss und die
u.quizeauy Google
Der zugehörige Coltus. 147
durch Schicksalsschläge in Wahrheit hervorgebrachte Stimmung
des Leidenden und Besiegten ausgedrückt, dem die Furcht ganz
von selbst dieses nützliche und erfolgreiche Benehmen an die
Hand giebt Dasselbe Benehmen dem Gotte gegenüber hat für
den Gläubigen noch den weiteren Vortheil, dass in ihm selbst
dadurch die Furcht allmählich verschwindet, weil er nach der
Analogie eigener Erfahrungen die Annehmlichkeit seiner Lob-
preisungen und Selbstdemüthigungen nothwendig fbhien muss
und daher eine Beschwichtigung des Zorns des Herrn hoffen kann.
Das zweite Mittel, den Zorn des Gottes zu be-
sänftigen, besteht in der Erregung des Interesses, Erregung seine«
d. h. es müssen dem Herrn Vortheile zugewendet i»*«'«««»-
werden, an denen er sich freut, weshalb er dann von seiner Un-
gnade zurückkommt Denn da der Gläubige sich den Gott nur
nach seiner eigenen Gemtlthsart vorstellen kann, so muss er
überzeugt sein, dass der Gott auch an gewissen Geschenken
oder Opfern seine Freude habe. Daher werden im Allgemeinen
als Opfer dergleichen Dinge dargebracht, die für die Gläubigen
selbst von Werth sind, als Hühner, Tauben, Schafe, Binder, oder
auch Früchte und Sclaven, auch die eigenen Kinder und dergl.
Diese Dinge werden in der Regel verbrannt oder in den Fluss
geworfen, jenachdem man sich den Wohnort des Gottes denkt,
damit er an dieselben kommen könne. Wenn sie von den Gläu-
bigen mit verzehrt werden, so liegt offenbar die Vorstellung zu
Grunde, dass der Gott versöhnt sei und wie bei Versöhnung der
menschliehen Feinde zu einer gemeinschaftlichen Friedensmahl-
zeit komme. Alle diese Opfer sind nicht nur bei dem Cultus
der Wilden bekannt, wo oft Hunderte von Sclaven für den Gott
geschlachtet werden, sondern es ist auch aus den Sagen der
Hebräer von Abraham und Isaak ersichtlich, dass die Opferung
der Kinder auch bei diesem Volke die älteste und später von
ihrem sittlichen Bewusstsein verworfene Versöhnungsweise des
Gottes war. Bei den Phöniciem aber dauerte die Opferung der
Kinder noch in der römischen Zeit fort.
Im Allgemeinen ist anzunehmen, dass das Interesse, auf
welches der Gläubige rechnet, wenn er sein Opfer darbringt,
nicht die Habsucht des Gottes ist, sondern die Ess- oder Fress-
lust Aus dem ägjrptischen Todtenbuch kennen wir den ftlr
uns nicht sehr anmuthenden Ehrentitel des Gottes „Fresser von
10* CooctIp
uiymzeu uy V^JV^V^pt IV^
148 Religion der Furcht.
Millionen^', aber aach der althebräische Gott, der nicht Todten-
gott ist, mass doch ,,den lieblichen Gerach vom Brandopfer des
Noah erst riechen", ehe er sich entschliesst, von seiner Ver-
flnchung der Erde und Ton seinem Zorne abzulassen. So sind
auch die griechischen Götter sehr ftlr ihre Mahlzeiten interessirt
und der Mensch ist ihnen wichtig, weil er durch seine Opfer
ihnen dergleichen Geruchs- und Geschmacksgenüsse verschafft. In
Greta und bei einigen andern Culten tritt zwar auch die Ge-
schlechtslust des Gottes auf, und die Götter stellen den schönen
Jungfrauen und Knaben vielfältig nach; doch darf man solche Ge-
schichten, die wie z. B. bei Jo und Zeus und wie bei der Jung-
frau Maria auch in höhere und in die höchste und wahre Religion
Eingang gefunden haben, nicht so einfach und roh abfertigen,
sondern muss mit höheren Motiven und complicirteren Vorstel-
lungen rechnen, auf die wir weiter unten zurückkommen; die Lust
an dem Essen ist aber flir den Wilden am Natürlichsten. Für
den Himmelsgott ist aus diesem Grunde die Verbrennung der
Opfer angezeigt; für den Wassergott die Ersäufung, wie z. B.
im Ganges.
Wenn der Gott nun durch Loben und Schmeicheln
'ävsere^Hoff-' *^ sciucr Eitelkeit gefasst und durch Opfer in seiner
iioB«eii s« er- Gcfrässigkeit befriedigt ist, so kann, nach Beseitigung
reich«.!. der Furcht, fllr den Gläubigen die Hoffnung an die
Reihe konunen.
Um die Gegenstände seiner Wünsche und Be-
• ^*® Gebete, gj^^^^jj y^^ j^^j Qotte ZU erhalten, wendet der
Gläubige zwei Mittel an, die überall bei Menschen im Gebrauch
stehen. Das erste sind die Bitten. Die Selbstbeobachtung und
die psychologische Analyse zeigen nämlich, dass der Mensch,
wenn er satt, zufrieden und ohne Zorn ist, einem Bittenden gegen-
über in eine unangenehme Stimmung kommt, wenn er die Bitte
nicht erfUUt, während umgekehrt die Gewährung ein angenehmes
Gefahl mit sich führt Darum ist es natürlich, dass der Gläu-
bige, wenn er den Zorn des Gottes beseitigt und ihn durch Fett-
dämpfe und andere Genüsse im eine behagliche Stimmung
gebracht hat, seine Bitten vorzutragen den Muth findet Dies
ist so bekannt und so allgemein im Gebrauch, dass ich
gleich zu dem etwas verständlicheren zweiten Mittel über-
gehen kann.
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Der zugehörige Gultus. 149
Da der Gläubige in der Religion der Furcht mit
einer göttlichen Persönlichkeit zu thun hat, die ohne*''^**^^*''***-
alle Moralität ist, ebenso wie der Gläubige selbst noch zu keinem
sittlichen und gerechten Leben fortgeschritten sein kann, so ist
es natürlich, dass der Mensch auch dem Gott gegenüber gewisse
Kniffe anzuwenden geneigt ist Nicht bloss, dass er versuchen
wird, ihn bei den Opfern zu betrügen, wie dies so ausserordent-
lich anschaulich in der Prometheussage überliefert ist, wie es
die unzähligen Contracte mit dem Teufel zeigen, bei denen
dieser geprellt werden soll, und wie es sich noch bei den Natural-
lieferungen der Bauern an die Kirche findet, wo sicherlich nie-
mals das Beste geliefert wird; sondern es versteht sich auch,
dass jedes Thier, jeder Mensch und also auch jeder Gott seine
schwache Seite hat, an der man ihn packen kann. Ein Ele-
phant soll sich vor der Maus fürchten, ein Löwe vor dem Hahn*,
viele Thiere fürchten gewisse Gerüche, gewisse Töne, gewisse
Bewegungen. Da nun die Aufinerksamkeit im natürlichen Zu-
stande der Menschen und Thiere niemals allumfassend ist, son-
dern immer nur die auffallenden Züge eines Objectes berück-
sichtigt, so müssen sich von selbst auch für den Verkehr der
Personen und überhaupt der belebten Wesen untereinander Ab-
kürzungen bilden, indem nach ungefährer Aehnlichkeit mit
gewissen Merkmalen des Objects Töne nachgeahmt oder Ge-
berden vorgezeigt werden, die für das unbefangene Bewnsstsein
sofort das ganze zugehörige Object in die Erinnerung rufen und
die zugehörigen AflFekte hervorbringen. So ruft* der Jäger durch
seinen Lockton den Auerhahn herbei, der nach dem blossen un-
gefähren Ton schon das Weibchen erwartet und wegen seines
Affekts erlegt wird. Ebenso können namentlich die südlichen
Völker durch Stellung der Finger, indem sie in der rohesten
Weise gewisse Theile des Körpers nachbilden, ein Weib, einen
Mann und ganze Handlungen darstellen. Es ist auch bekannt,
dass Menschen, indem sie ihr Gesicht fratzenhaft verstellen,
Kinder, Weiber und viele Männer bis zum Tode erschrecken
können. Es zeigt sich daher, dass der Mensch durch gewisse
Zeichen (Symbole) eine nicht unbeträchtliche Kraft über andere
Menschen, über Thiere und also nach der Analogie auch über
die Götter hat. Diese Mittel oder Kniffe heissen nun Zauber,
und sie unterscheiden sich von den natürlichen Ursachen (caussae
150 Eeligion der Furcfat
efficientes) dadurch, dass man die Wirkungsweise des Mittels
nicht einsehen kann. So muss man ^^Sesam, Sesam, öffne Dich^'
rufen, damit der Berg gehorcht und sich öffnet. Wer das Wort
des Zauberers vergessen hat, bringt die verzauberten Besen nicht
wieder zum Stehen. Jeder Gott liebt bei einem bestimmten
Namen gerufen zu werden, und es ist gefährlich, ihn anders zu
nennen. Ein Dämon kann in ein Baumloch, eine Flasche und
dergleichen gebannt werden, wenn man nur drei Kreuze auf den
Pfropf kritzelt. Auf bestimmte Worte oder Formeln oder bei
gewissen Zeichen muss ein Gott erscheinen, beim Beiben einer
Lampe uns dienstwillig werden, beim Drehen eines Binges uns
unsichtbar machen und so noch tausenderlei.
Aus all diesem ergiebt sich, dass der Mensch in seinem Ver-
halten zu Gott auf die schwache Seite desselben immer ein
Augenmerk gerichtet hat, um das mächtige und übermenschliche
Wesen auf irgend eine Weise sich unterthänig und willig zu
machen. Man nennt diese ganze Gattung von Handlungsweisen
Theurgie, und sie findet sich deshalb in allen Beligionen der
Furcht und als grösseres oder geringeres Element auch in den
höheren Beligionen, sofern theils Budimente der alten Beligion
darin vorkommen, theils Bückfälle in dieselbe geschehen, was
bei der Plebs unter den Gläubigen überall eintreten wird. Je-
nachdem nun der Gott als bloss in einer bestimmten Beziehung
mächtig, oder in vielen oder in allen Gebieten der Natur und
des Menschenlebens gebietend vorgestellt wird, kann begreiflicher
Weise auch die theurgische Praxis verschiedene Formen an-
nehmen. So wird der Gott Glaukos im Netz gefangen und muss
dann weissagen und Schätze zeigen, ähnlich wie der goldene
Fisch im Volksmärchen, durch welches die alte Beligion noch
abgespiegelt wird. Auch im alten Testament ist das Bingen
Jacobs mit dem Herrn noch ein Echo aus dieser Urzeit, und
das: „ich lasse Dich nicht, Du segnest nuch denn'', muss auf
erhofften Beichthum gedeutet werden, obgleich man ja diese ein-
fachen und rohen Verkehrsformen des Menschen mit Gott für
eine höhere Stufe des religiösen Bewusstseins auch sehr geist-
reich allegorisch umdeuten und befriedigend benutzen kann. So
lange Moses die Hände erhebt, siegen die Kinder Israel; wenn
er sie sinken lässt, die Feinde. Er lässt sich deshalb, um Gott
theurgisch zu leiten, von Anderen unterstützen, weil seine Muskel-
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Der sugehörige Cultus. 151
kraft nicht ausreicht, die zur Bewältigung des Gottes erforder-
liche Manipulation mit den Armen allein auszuführen. Auch im
neuen Testament ist von der Plebs unter den Gläubigen die
Stelle: ,,was Ihr bitten werdet in meinem Namen'^ u. s. w. so
missverstanden, als wenn die Anwendimg des Namens Jesus eine
Zaubermacht wäre, ebenso wie später auch die schöne Sitte der
Bekreuzigung vielfach zu einem Zaubermittel herabsank, wo-
durch man sich oder andere werthvolle Dinge vor bösem Ein-
fluss schützen wollte. In unserem Jahrhundert, und zwar in dem
letzten Jahrzehnt, ist die Theurgie besonders in einer zeitge-
mässen Art des Gebets wieder lebendig geworden. Die sogenannte
Heilsarmee nämlich ordnet bestimmte Stunden an bestimmten
Tagen an, in welchen womöglich in allen Welttheilen zu gleicher
Zeit von möglichst Vielen ein und dasselbe Gebet an Gott ge-
richtet wird, um ihn wie einen weltlichen Fürsten durch ein
Monstremeeting zu erschüttern und zur Gewährung willig zu
machen. Diese allzu schlauen Gläubigen merken nicht, dass sie
einen Kniff des rohesten Aberglaubens, der in das tiefste Heiden-
thum gehört, gegen ihren allwissenden Gott in Anwendung bringen.
§ 3. Das Priesterthum.
Die Religion hat jeder zunächst für sich, weil er seine Furcht
für sich hat. Es ist daher die Religion und die Theologie zu-
nächst keine Sache, die man wie ein Phänomen am Himmel oder
auf der Erde astronomisch oder physikalisch allgemeinverständ-
lich jedermann zeigen und erklären kann, sondern sie ist ihrer
Natur nach subjectiv wie die Gegenstände, die man im Traume
selber zwar deutlich sieht, ohne dass man sie jedoch einem
anderen zur Anschauung bringen könnte. Obgleich aber jeder
seine eigenen Träume hat, so ist das Träumen selbst doch allen
geroeinsam, und so stellt sieh auch bei der Religion heraus, dass
trotz aller subjectiven Verschiedenheiten der Veranlassung und
des Inhalts das Geftlhl der Furcht und die Beziehung auf eine
übernatürliche Ursache doch allgemein ist. Daher ist es mög-
lich, dass die Religion (wie oben S. 133 erwähnt) zunächst auf
die ganze Familie übergeht und Hausreligion wird, dann aber
auch einen mehr socialen Charakter gewinnt und auf ein ganzes
Volk ausgedehnt werden kann. Eine bestimmte einzelne Form
u.quizeauy Google
152 Religion der Furcht.
der Religion der Farcht könnte aber niemals Weltreligion wer-
den, weil sich überall schon Local- und Nationalreligionen finden
müssen, die sich nur von einer höheren, nicht aber von einer
gleich niedrig stehenden Beligion überwinden lassen.
Da es nun bei der Beligion der Furcht ganz besonders
darauf ankommt, den bösen und gefährlichen Geist zu versöhnen
oder zu bannen oder ihn geneigt zu machen, so gehört dazu
erstens, um sich die Natur und die Stimmung und Wirkungs-
weise des Gottes vorzustellen, eine mehr oder weniger beweg-
liche Phantasie und Denkkraft und zweitens, um die theurgische
Praxis auszuüben, ein mehr oder weniger verschlagener Geist
Sobald es sich aber um Unterschiede der Begabung han-
delt, so werden sofort einige Menschen bemerkbar werden, welche
die zugehörigen Eigenschaften in höherem Grade, als die übri-
gen, besitzen, und darum finden sich auch überall anerkannt
die Begenmacher, Zauberer und Priester vor.
Die auswärtige ^^ ^^ Verstehen, was das Priesterthum in der
Angeiegenbeit Meuschheit bedeuten will, muss man sich einmal vor-
inderReugion.g^^jj^j^ die Beligiou wärc bloss, wie heute die be-
schränkten Köpfe, die Bationalisten und Positivisten annehmen,
ein moralisches Verhältniss in uns zwischen unserer Sinnlichkeit
und unserer Vernunft Dann könnte natürlich ein Priester dabei
keine andere Bolle spielen, als wie der Arzt; denn wie dieser
unsere körperlichen Störungen beseitigt und die Functionen zur
Gesundheit znrückflihrt, so würde der Priester die Furcht und
die Leidenschaften uns ausreden müssen, um wieder ein rahiges
und vernünftiges Gleichgewicht der Seele herzustellen. Das Thun
des Priesters wäre dann also nur auf den Menschen gerichtet
als auf seinen Patienten. Damit wäre aber nur die eine Seite
der Beligion verständlich gemacht, während die ganze Geschichte
der Beligionen uns noch auf eine andere Seite hinweist; denn
wie der Beligiöse als solcher nicht bloss mit sich zu thun hat,
sondern mit Gott, so sollte auch der Priester vor allen Dingen
auf den Gott wirken und diesen befriedigen und versöhnen oder
zum Dienste willig machen, um dementsprechend dann erst das
Gemüth des Menschen zu beruhigen. Es giebt keine Beligion,
die sich bloss auf Moralität zurückführen liesse; in allen, auch
im Christenthum, ist die auswärtige Angelegenheit, das Verhält-
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Der zugehörige Cultus. 153
nisB zu Gott die Hauptsache. Wer dies nicht versteht, kann
auch die Function des Priesters nicht begreifen.
In der Religion der Furcht tritt natürlich die j^.^ Reugion
Aufgabe des Priesters auch deutlich hervor, allein bezieht «ich auf
wegen der niedrigen Stufe dieser Religion nur in ^^^^Xt^^t
einer fratzenhaften Erscheinung. Denn da man nur auf d» Aiige-
mit Furcht und Hoffnung hinblickt auf die Gttter "''*°**
und Uebel des Lebens, auf seine Heerden, ihre Vermehrung, ihre
Milch, auf das Wetter und den Blitz, auf Krankheiten, gefähr-
liche Thiere, auf die Feinde u. s. w., so wird ein Gott unbe-
stimmt als Ursache aller gtlnstigen oder ungünstigen Umstände
in diesem grossen Gebiete des menschlichen Interesses voraus-
gesetzt. Dieser Gott aber kann, weil jene Umstände nur acci-
dentell mit dem Weltlauf zusammenhängen, in seinem Wesen
nicht bestimmt werden; denn das Einzelne, z. B. dass jetzt
Dieser oder Jener krank wird oder stirbt, lässt sich nicht auf
ein allgemeines Gesetz des Charakters Gottes zurückführen. Nur
das Allgemeine geht auf ein Allgemeines zurück, und mithin
löst die Naturwissenschaft, welche die allgemeinen Gesetze findet,
nur die Frage, wie es im Allgemeinen oder durchschnittlich in
der sinnlichen Welt zugeht. Die Religion hat aber mit dem
Einzelnen zu thun, warum dieser oder Jener jetzt von einer
Seuche befallen wird und sterben muss und nicht ein Anderer.
Dies kann deshalb auch nur auf etwas Einzelnes und Acciden-
telles in der Ursache zurückgeführt werden; es hat einen
historischen und keinen allgemein wissenschaftlichen Grund, da
das Einzelne wegen der unübersehbaren Gomplication von der
Wissenschaft nicht berücksichtigt werden kann, sondern nur als
eine zufällige Anwendung der allgemeinen Ordnung erscheint.
Denn wenn man auch weiss, dass der Blitz tödten kann, so folgt
daraus doch nicht die Einsicht, dass und warum jetzt gerade
dieser Mensch, der mein Sohn, mein Vater, oder mein Freund
oder Feind ist, getroffen und getödtet wird. Für die reifgewor-
dene Philosophie liegt die Erklärung in einer alles Individuelle
verwerthenden Weltökonomie, die ich das technische System
der Welt nenne ; in dem früheren Idealismus Hegers und Platon's
und in dem Materialismus aber musste man, wegen der unwissen-
schaftlichen Auffassung der Materie und des Geschehens, daftlr
den Zufall der Verkettung der Dinge in Anspruch nehmen; die
u.quizeauy Google
154 Beligion der Furclit.
primitive Religion der Furcht aber kann die Ursache nur in der
Laune, d. h. in der unberechenbaren Willensbestimmung eines
Gottes suchen.
Hierdurch lassen sich die ^beiden Aufgaben des
des Priestern: Pricsters bestimmen, die wir jetzt festzustellen haben.
die Erkennt- Von ciucr Thcologic in wissenschaftlichem Sinne kann
in der Religion der Furcht nicht die Rede sein, son-
dern es dreht sich alles um die Erforschung der zeitweiligen
Launen und zufälligen Absichten des Gottes. Da das Einzelne
aber immer durch das Allgemeine erkannt wird, so konnten nur
diejenigen zu Priestern werden, welche die grösste Erfahr ungs-
erkenntniss besassen und aus der Beobachtung der Sterne und
Wolken, aus dem Vogelflug und dem Verhalten der Thiere zu
einer Voraussagung der nächsten Zukunft in Bezug auf das
Wetter befähigt waren, d. h, die angehenden Meteorologen und
Astrologen-, nur diese konnten weissagen und wurden Wetter-
macher. Ebenso konnten nur durch Erfahrungen im Gebiete
der Heilkräfte der Pflanzen und der Gifte die sogenannten Me-
dicinmänner hervorgehen. Da diese Erfahrungserkenntniss
aber ohne Einsicht in den Zusammenhang, der ja noch nicht
wissenschaftlich festgestellt war, nothwendig allerlei Accidentelles^
d. h. zufällige Umstände bei der Beobachtung der Thatsachen
mit aufnehmen musste, so war es ganz in der Ordnung, dass
die Priester dieser Religion eine so grosse und mannigfaltige
Summe von Albernheiten und Hokus-Pokus in ihre Erkenntniss
sowohl, als in die Mittheilung derselben einmischten. Denn
weder war ihre Erkenntniss ihnen selbst rein und gewiss, noch
durften sie hoffen, ohne solche geheimnissvolle und unverständ-
liche Einhüllung mit ihren geringen und unsicheren Beobachtung
gen grossen Eindruck bei den Gläubigen zu machen.
Die Erklärung der abergläubischen Gebräuche in dieser Re-
ligion kann speculativ nicht auf die Einzelheiten ausgedehnt
werden; diese entziehen sich sogar auch fast überall der empiri-
schen Erklärung, da ihre Entstehung in die ersten Anfänge
menschlicher Cultur zurückgeht, wo weder Bewusstsein des
Thuns, noch bestimmte Absicht vorausgesetzt werden darf. Gleich-
wohl kann und muss das Princip für b1\^ diese Dinge einer spe-
culativen Ableitung fähig sein. Und zwar liegt das Princip in
zwei Coordinationssystemen, welche die Aufgabe des Priesters
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Der zugehörige Coltus. 155
bestimmen und von denen das Eine die Entstehung der Er-
kenntniss in dem Priester, das zweite die Mittfaeilung an
die Gläubigen betrifft.
Die Frage nach der Entstehung der religiösen Erkenntniss
führt uns den besser begabten Gläubigen vor, der die für die
Menschen wichtigen Lebensereignisse, bei denen sich Furcht und
Hoffnung stärker regen, klug beobachtet und in Erinnerung be-
hält Er konnte als wissenschaftlich Ungebildeter den Zusam-
menhang Ton Ursache und Wirkung, von Naturgesetz und An-
wendung nicht erkennen; er beobachtete aber das zeitliche Nach-
einander der Vorgänge. Darum musste er das blosse Vorher
mit der Ursache verwechseln und konnte die nebensächlichen
Umstände nicht eliminiren. Flog deshalb gerade ein Adler auf,
als kurz nachher eine Kriegsthat glücklich ablief, so war es
natürlich, dass an diesen nebensächlichen Umstand des Anblicks
eines in der Segel siegreichen und starken Raubvogels nun später
das Gelingen eines Unternehmens geknüpft wurde. Denn da
nicht bloss objectiv die Thatsachen in die Augen traten, sondern
mit ihnen sofort wegen des Motivs der Furcht die Vorstellungen
von Göttern sich verflochten, deren Absichten, Launen, Zorn,
Hass und Neid in die zui&lligen Nebenerscheinungen durch die
Phantasie verwoben wurden, so musste bei der Erinnerung nun
die subjective Zuthat einerseits und das Wesentliche und Neben-
sächliche des Geschehens andererseits in einem unentwirrbaren
Durcheinander sich dem Bewusstsein darbieten, wie dies heut-
zutage noch ebenso die psychologische Analyse bei Kindern und
Ungebildeten überall und immer nachweisen kann, weshalb diese
Erklärung wissenschaftliche Gewissheit besitzt.
Das zweite Goordinationssystem betrifft den zweiie Aufgabe
Priester und den Gläubigen. Der Gläubige ist von ^^ Prieete«:
Furcht erfüllt über die Ereignisse seines Lebens oder ». verkehr mit
die Schicksale seines Stammes und hat mithin das ^®™ ^°"-
Bedürfhiss, von seiner Furcht befreit oder erlöst zu werden.
Da er aber den Grund seines Unglücks in den erzürnten Göt-
tern sieht, so verlangt er eine Beschwichtigung und Versöhnung
der Götter. Zweitens steht der Gläubige vorwärtsblickend vor
der Zukunft, in welcher er dies oder das, was flir ihn von der
grössten Wichtigkeit ist, zu thun oder zu leiden hat. Er ver-
langt von dem kundigen Priester eine Berathung und Weis-
Digitized by VjOOQIC
156 Religion der Furcht.
sagung, damit er möglichst ohne Besorgniss oder mit froher und
stärkender Hofihung an's Werk gehen könne. Da aber das Zu-
künftige von dem Einflasse der geheimen und viel mächtigeren
Gespenster und Götter abhängt, so verlangt er vom Priester,
dass dieser durch seine Künste die Götter banne oder geneigt
und hülfreich mache. Mithin ist die Einwirkung des Priesters
auf den Gläubigen inmier an einen Umweg gebunden, da es sich
in beiden Fällen immer zunächst um eine auswärtige Angelegen-
heit, um einen Verkehr mit dem Gotte dreht, welcher pacificirt,
befragt und herbeigerufen werden muss. Weil dieser Gott aber
nicht bestimmt erkannt werden kann, sondern nur, wie gezeigt,
durch eine ungeordnete Ideenassociation mit allerhand zufalligen
Erscheinungen verwoben ist, so folgt, dass der Gläubige von dem
Priester nur richtig behandelt wird, wenn er durch allerhand ge-
heime und abenteuerliche Gebräuche, die er nicht begreift, aber
auf einen Verkehr desselben mit der gegenwärtigen Gottheit be-
zieht, zuerst selbst in Schrecken versetzt wird, um dann später
die Entscheidung des Priesters, die er ftlr das Resultat des
Kampfes, der Beschwörung oder Bestechung des Gottes ansieht,
willig anzunehmen. Wenn unseren modernen Reisenden die
immer grässlichen Verunstaltungen des Gesichtes der Priester
der Wilden und ihre abenteuerliche Kleidung, sowie ihre grotes-
ken Tänze und wilden Bewegungen lächerlich erscheinen, so
haben sie den wahren Zusammenhang nicht verstanden und sich
nicht recht in das Gemüth der wilden Gläubigen hineinversetzt;
denn fllr diese ist es durchaus nothwendig, einen Vorgang an-
zusehen, der sich auf einen unsichtbar gegenwärtigen Partner
bezieht und deshalb einerseits ihnen immer unverständlich sein
muss, andererseits ihnen Furcht oder Vertrauen erweckt, da sie
aus den Bewegungen des Priesters und dem endlichen Ausgang
seines Ritus inunerfort auf die jeweilige Stellung, das Vorwärts-
dringen oder Zurückweichen des bösen Geistes schliessen müssen.
Ohne die heftigsten Zuckungen, Seh weiss und Zittern, Stöhnen
und Ringen konnte selbst bei den klugen Griechen die Sibylle
keine OflFenbarung von dem Gotte erlangen, der von ihr Besitz
nahm. Die Rudimente dieser Vorstellung vom Priester sind noch
in imseren civilisirten Religionen darin zu erkennen, dass der
Priester in der Regel ein von der herrschenden Tracht des Volkes
völlig abweichendes Costüm anziehen und verschiedene symbo-
u.quizeauy Google
Der Zugehörige Cultus. 157
lische Bewegungen ausführen muss, in denen, wie oft auch in
dem Gebrauch einer fremden Sprache (lateinisch oder hebräisch)
eine geheimnissvoUe Bedeutung geachtet und ein auswärtiger
£influss geglaubt wird.
Kommen die Menschen aber selbst durch weitere Cultur-
entwickelung in eine ruhigere und friedlichere Stimmung, so
brauchen sie nicht mehr in einen Ringkampf mit dem herbeige-
rufenen Gotte sich einzulassen, und er verlangt von ihnen
auch keine wilden Metzeleien der Gefangenen mehr und ver-
schmäht die Verbrennung ihrer Kinder und anderes Grässliche.
Durch ruhige Darbringung ihrer Geschenke, die sie als Tribut
dem anerkannten Herrscher zahlen müssen, und durch Beobach-
tung der geheimen Zeichen, woran der Priester das Wohlgefallen
oder Missfallen des Herrn über die Gabe erkennt, wird der Gott
versöhnt und befragt, indem dem Priester nur die Herbeirufung
des Gottes und seine Beschwörung durch feierliche Hymnen oder
geheime Worte zukommt, wie auch die Deutung des Erfolges
und die Prognose der Zukunft. Da ihm vor Allem die Ueber-
mittelung des Opfers an den Gott zukommt, so hat er auch über
die den Andern nicht erkennbare Stimmung und Gesinnung des
Gottes zu orakeln.
Wir sahen, dass in erster Linie der Priester nicht
mit den Gläubigen, sondern mit dem Gotte zu thun sehe ßThMä-
hat. In zweiter Linie aber steht dieser Verkehr mit '"°8 ^^^ ^'"-
den unsichtbaren Geistern doch immer auch in Coor-
dination mit den Gemüthem und Vorstellungen der Gläubigen.
Es fragt sich darum, was die Gläubigen durch die Kunst der
Priester gewinnen sollen. Dies ist leicht einzutheilen; denn es
dreht sich nothwendig um eine Beschwörung ihrer Affekte und
um eine Erkenntniss der Zukunft zur Leitung ihrer Handlungen.
Was zunächst die Beruhigung der Affekte betrifft,
,,.T^, , . 1 T^. ,. ^ ,.«• DieBemhi-
80 habe ich darüber m dem Bishengen schon die gang.
nöthigen Beziehungspunkte hervorgehoben; denn der
Priester muss, da die Affekte, d. h. Furcht und Hoffnung, von
den Vorstellungen über die göttlichen Geister und ihre Stim-
mung abhängen, nothwendig eine Psychagogie verstehen und
ausüben. Wenn es ihm gelingt, durch seine gottesdienstliche
Kunst dem Gläubigen gewissermassen vor Augen zu stellen, wie
der herbeigerufene Gott zuerst wild auftritt und dem ringenden
uiyiiizeu uy V^jOOv IC
158 Religion der Fiircht.
Priester die grösste Mühe und Angst macht, nachher aber sich
bannen lässt oder freundlich wird, so geht der Gläubige in fort-
währender Sympathie mit dem Cultus von seinen Angstgeftlhlen
zur Ruhe über, und die Beruhigung des Gottes ist auch seine
eigene Beruhigung. Wird von dem Priester, der sich selbst nicht
vergisst, ein bestimmtes Opfer, zu hinterlegende Geschenke»
Speise, Opferung von Menschen und Thieren u. dergl. verlangt,
so beruhigt sich der Gläubige, wenn er diese Opfer gebracht
hat. Der kluge Priester wird es den Gläubigen niemals zu
leicht machen, zum Frieden zu kommen; denn da der Gott in
genauem Spiegelbild alle die Gemtithseigenschaften der Menschen,
und zwar besonders der in der Gesellschaft vorherrschenden be-
sitzt, so wird der Gott auch noth wendig mit keiner anderen
Versöhnungsweise zufrieden sein, als wodurch die Gläubigen
selbst zufrieden sein würden. Indem der Gläubige dies vollkom-
men einsieht und zuversichtlich anninunt, so wird er auch (wenn
der Gott nicht hintergangen werden kann, was natürlich lieber
gesehen wird) mit den darzubringenden Opfern sich selber be-
ruhigen. Darum kann man aus der Grösse oder Kleinheit der
Opfer, wie wir dies z. B. noch so deutlich und bestimmt in dem
Leviticus verzeichnet sehen, einen sicheren Schluss auf die Ge-
müthsart der Menschen machen und erkennen, wie leicht oder
wie schwer sie die ihnen widerfahrenen Unbilden ertrugen, da
diese an den coordinirten Opfergaben, wie Tauben, Lamm, Ochs
u. s. w., ihr Mass finden, das sich schliesslich auf einen bestimmten
Geldwerth zurückflihren lässt.
Der Gläubige will aber nicht bloss beruhigt wer-
p. Dt» Orakel. ^^^^ sondcm auch einen bestimmten Rath empfangen.
Die drohenden Ereignisse des Lebens haben ihn erschreckt; er
erkennt die Gefährlichkeit Gottes und vermuthet, dass demselben
gewiss diese oder jene Thaten missfiillig gewesen sind. Davor
muss man sich also in Zukunft hüten, um nicht seinen Zorn zu
erregen, und es ist vor Allem wichtig zu wissen, welche Hand-
lungsweise seinen Beifall oder seine Unterstützung und daher
eine glückliche Vollendung finden könnte.
Es dreht sich also vor Allem um die Unterscheidung
unseres Thuns in gottwohlgefälliges und gottmissfäl-
liges. Nun ist aber dieser Unterschied durch keine Wissenschaft
en'cichbar ; denn die Wissenschaft stellt Allgemeines fest und kommt
u.quizeauy Google
Der zugehörige Cultus. 159
auf überall und immer gültige Gesetze. Davon kann hier keine
Kede sein, einmal, weil es im Anfange der Cultur keine ausge-
bildete und sichere Naturwissenschaft gab, und zweitens, weil,
auch wenn es dergleichen gegeben hätte, dadurch doch das ein-
zelne Ereigniss nicht hätte festgestellt werden können. Der
Gläubige will wissen, ob dies oder das den Göttern gefallen,
ob sein Fischfang gerathen, ob es ihm gelingen wird, seinen
Feind zu überfallen und zu tödten, ob die Krankheit seiner Kuh
Yon dem bucklichten Kerl mit den bösen Augen herrührt, ob sein
Stamm in diesem Kriegszuge siegen wird u. s. w. Für solche
Einzelheiten giebt es keine Wissenschaft; der Mensch hat aber
nothwendig das Bedürfniss, eine Antwort auf solche für ihn prak-
tische Fragen zu erlangen. Wenn es nun schon eine Ethik
und Rechtslehre gäbe, so könnte der Gläubige sein Thun aus
allgemeinen Gesetzen regeln. Da dergleichen aber noch nicht
vorhanden ist, so kann die Antwort auch nur durch ein Einzel-
urtheil abgegeben werden, und dies ist das Wesen des Orakels.
Es fragt sich nun, woher der Priester sein Orakel schöpfen
könne, d. h. woher er wisse, welche Handlungen dem gefähr-
lichen Dämon gefallen, und welche ihm missfallen Verden, oder
was dasselbe ist, welche Ereignisse nach Wunsch ausfallen und
welche missrathen werden. Die Frage scheint schwierig zu lösen,
und es ist auch so, wenn man nämlich voraussetzt', dass der
Orakelnde wirklich die Erkenntniss und Wissenschaft des Ver-
borgenen und Zukünftigen besässe. Wenn man aber diese Vor-
aussetzung als den Thatsachen widersprechend fallen lässt, so
ist es schon leichter zu sagen, woher er zu einem Resultat über-
haupt kommen kann. Bei allen Einzeldingen dreht es sich näm-
lich um Verkettung des Geschehens nach der wirkenden Ur-
sache. In diesem Gebiete hat derjenige, welcher der Schlauste
und Scharfsinnigste ist und die meiste Erfahrung besitzt, den
Vorzug vor allen Andern. Wenn einer also z. B. durch eigene
Anschauung oder durch Bericht von Kundigen genau weiss, wie
gross die Zahl der Feinde ist, wer sie ftlhrt, ob sie gute Waffen
und Nahrungsmittel haben^ ob sie von Muth oder Furcht erfüllt
sind u. s. w., und andererseits dieselbe Kenntniss von seinen
Stammgenossen hat, so kann er schon ein ziemlich sicheres Orakel
abgeben. Kennt einer auch die sämmtlichen Zugehörigen eines
Gaues, so kann er mit einer gewissen Menschenkenntniss, vor-
uiumzeu uy V^J v^\J>t l^
160 Religion der Fm-cht.
Züglich wenn er noch manche Einzelnheiten erfahren hat, etwa
80 sicher, wie unsere Geschworenen sagen, dass Dieser oder
Jener den fraglichen Mord oder Diebstahl verübt habe. Das
Orakel beruht also auf Analogien der Erfahrung und Con-
jecturen.
Es ist daher natürlich, dass in den Religionen der Furcht
überall die Priester in Ansehen kommen; obgleich es sich auch
ebenso erklären lässt, dass sie oft nicht bloss gehasst, sondern
auch verachtet und misshandelt werden. Es muss sich nämlich
herausstellen, dass ihre Weissagungen oft nicht eintreffen, und dass
sie Unschuldige, die ihnen feind sind, beschuldigen, um sich
ihrer zu entledigen, dass sie bestochen werden, dass sie, um den
Schein der Erfüllung ihrer Orakel zu erzeugen, eine Menge Be-
trügereien ausüben u. dergl. Mithin ist es unmöglich, dass das
Friesterthum der Religion der Furcht jemals eine ungetheilte
Achtung geniesst. Gleichwohl konnten und können die rohen
Völker auch niemals diesen Stand der Wettermacher und Zau-
berer entbehren, weil nothwendig die Erfahrung und die Schlau-
heit da geschätzt sein muss, wo sich alles um Furcht und Hoff-
nung dreht und das höchste Interesse in dem glücklichen oder
unglücklichen Ausgange der Dinge liegt
Wollte man gegen meine Deductionen einwenden, dass doch
bei den hochgebildeten Völkern in Aegypten, Kleinasien, Hellas
und Italien die Orakel eine grossartige und selbst von fremden
Völkern befragte und reich beschenkte Autorität bildeten, die
einen Vergleich mit dem Fabst in Rom gestatte, so muss ich
auf eine Täuschung des Urtheils aufmerksam machen. Jene
Orakel gehören nämlich zur Hälfte nur der reinen Religion der
Furcht an, der andern Hälfte nach aber schon der folgenden
Religion des Rechts, da sie eine Menge sittlicher Gedanken auf-
nehmen. Sofern sie aber ihre Antworten nicht bloss aus allge-
mein sittlichen Motiven ableiten, sondern auch das Zukünftige
und Verborgene errathen wollen, soweit haben sie das zugehörige
Element aus der Religion der Furcht eingemischt; und dieses
eingemischte Element ist es, welches ihnen den Todesstoss ver-
setzte, als die Völker gebildeter und sittlicher wurden.
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Google
Der zugehörige Gultus. 161
§ 4. Die Inspiration.
Wenn ich nun als Erkenntnissquellen flir die Orakel der
Priester Erfahrung und Schlauheit angegeben habe, so könnte
man mir entgegnen, dass doch in der That diese Quellen nie-
mals als Gründe von den Priestern angeführt werden und dass
auch die Gläubigen in den Priestern eine höhere Autorität an-
erkennen, als sie bloss verständigen Conjecturen zukommen dtlrfte;
denn sonst würden die Gläubigen sich über die Gründe der Con-
jecturen Bechenschaft geben lassen und mit den Priestern deli-
beriren und debattiren; kurz, es würde auch nicht entfernt so
etwas, wie ein Orakel, herauskommen.
Dieser Einwand wäre sehr überzeugend, wenn ^ unbewnB8t-
nicht dabei zwei der wichtigsten Umstände vergessen heitdeaseeien-
wären, nämlich erstens, dass unser Seelenleben im ^''^^"''*
Anfang seiner Entwickelung (noch heute und also auch im Alter-
thum der Völker) immer unbewusst functionirt Die Priester so
wenig, wie die Gläubigen, waren sich darüber klar, vrie ihre
Seele zu ihren Annahmen und Ueberzeugungen kam. Wenn wir
deshalb jetzt mit ausgebildeter Psychologie und Logik den Er-
kenntnissprocess wissenschaftlich classificiren können, so folgt
daraus nicht, dass auch die Urzeit darüber ein Bewusstsein ge-
habt hätte. Uebrigens sehen wir, dass, wo in politischen und
militärischen Unternehmungen irgend ein Anderer, z. B. ein Fürst,
selbst Erfahrungen, Kundschaft und Scharfsinn besass, seine
Autorität sofort neben oder über die des Priesters trat, den man
dann nur bei zweifelhaften Dingen befragte.
Der zweite Umstand aber liegt darin, dass ur- 2. Kein specw-
sprünglich die Priester auch Gläubige waren und *^^^^^^l'
dass sich in ihre Yorstellungsoperationen überall die scheD Priester
Phantasie der Dämonen und deren Absichten und '^^^ öiauw.
gen,
Wirkungen einmischte, so dass ihr schliessliches Ur-
theil gar nicht aus einer mit Besonnenheit angeordneten Schluss-
folge hervorging, sondern ein instinctives Resultat war. Es ist
zwar nicht zu läugnen, dass sehr bald in das Geschäft des Prie-
sters eine Masse von Lüge und Betrug sich einmischen musste;
dennoch aber konnte kein klarer und bewusster Gedankengang
herrschen, da bei allen solchen nicht wissenschaftlich geschulten
Menschen die schliessliche Meinung oder Vermuthung, die sie
Teiohmüller, Religionsphilosophie. 11 r^ ,-^r^r^Jr-^
uiyiiized by VjOOQ ivL
162 Beligion der Furcht.
haben, aus einer nnübersebbaren Menge kleiner Beobachtungen
und Erfahrungen einerseits, und andererseits aus allerlei eigenen
Absichten, die mit den Absichten der Gläubigen zusammen dunkel
vorgestellt wurden, hervorgehen mussten, wie dij Resultirende,
welche in dem Parallelogramm der Kräfte aus vielen Seiten-
kräften bestimmt wird. Der Mensch ist dabei gewissermassen
nur der Schauplatz, auf welchem ihm unbekannte Mächte ihr
Spiel treiben, und da hier nun die eingemischten theologischen
Vorstellungen immer für das Gefühl die mächtigsten sind, so
musste es sich von selbst zu ergeben scheinen, dass die Priester
von den Göttern, mit denen sie im Cultus verkehrten, ohne dass
die Gläubigen diese tibersinnlichen Wesen wahrnehmen konnten,
inspirirt wurden.
weeeu der Die Inspirationslehrc setzt daher eine Besessen-
inspiration. jj^j^ voraus odcr wenigstens einen geglaubten wirk-
lichen Verkehr mit den Göttern, die zwar hier und da allen
Gläubigen, besonders aber dem Priester in wunderbarer Weise
erscheinen, so dass er ihre Gestalten sieht, ihre Stimme hört
und ihre Absichten und Leidenschaften gewissermassen unmittel-
bar wahrnimmt. Wie der aufgeregte Mensch laut mit sich
spricht, so kamen auch die in der aufgeregten Seele des Prie-
sters gewaltig wogenden Bilder und Vorstellungen zur eigenen
Sprache, und dies ist wohl der Ursprung des InspirationsbegrifFs,
dass der in uns angeschaute und vorgestellte Dämon
oder Gott selbst spricht. Wer die ungekünstelte Weise un-
gebildeter oder aufgeregter Menschen beachtet, wird denselben
Vorgang immer von Neuem zur Erfahrung bringen können, und
so erklärt es sich auch, dass den Träumen so viel Bedeutung
beigelegt wird, deren Nichtigkeit Kinder, Ungebildete und Wilde
nicht so bald einsehen können, und dass man gewisse Stimmen
in sich ertönen hört und bestimmte Worte und Aufforderungen
veminunt. Kurz, das selbständige Leben der Vorstellun-
gen ist das ursprüngliche und darum die Inspirations-
lehre hiervon eine natürliche und nothwendige Folge.
Erst die später erlangte Oberherrschaft des Ichs und die
logische Ausbildung des Verstandes setzen die Vorstelhmgen zu
blossen Kechenelementen herab und verdrängen die Annahme
und Macht der Inspiration, die hier in der Religion der Furcht
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Google
Der zugehörige Cultus. 163
noch in der rohesten Form auftritt, dagegen erst in den höheren
Religionen zu ihrer wahren Bedeutung gelangt.
Wenn man nun fragt, ob also wirklich eine In-
« , , , , , 1 , . 1 Die Inspiration
spiration stattgefunden habe und ob es dergleichen m em wirk-
noch giebt und geben wird, so muss man zunächst "^'^^^ ^''«*«"*"-
den Gegensatz feststellen. Der Gegensatz aber wird durch
Unterscheidung des Ichs von anderen Wesen und Mächten ge-
funden; denn was ich selbst thue mit Bewusstsein meiner Mittel,
Gründe und Zwecke, das halte ich niemals fllr inspirirt. Mithin
bedeutet Inspiration, dass andere Wesen oder Mächte in mir
und durch mich ohne meine Erlaubniss und Anstrengung reden
und handeln. Darum inspirirt der Souffleur den Schauspieler
nicht, weil dieser auf die Worte wartet und sie in seinem eigenen
Interesse und mit seiner eigenen bewussten Betonung wiederholt.
Was aber die Inspirirten sagen und thun, das geht von einer
fremden Macht aus, die sie bloss zum Instrumente macht. Eine
solche Inspiration ist nun eine einfache Thatsache; sie findet
wirklich statt, und es kommt nur darauf an, festzustellen, wer
der eigentliche Thäter ist
Diejenigen, welche alle Inspiration läugnen und damit also
bekennen, dass sie das Wesen derselben überhaupt nicht ver-
stehen, das sind schlechte Beobachter und wenn auch ver-
ständige Naturen, doch mit engem Horizonte, die weder selbst
jemals etwas Grosses hervorbringen, noch zum Genüsse der
höheren Dinge in der Menschheit fähig sind. Es sind die Klein-
krämer im Leben und in der Gelehrsamkeit
Wir wollen also den Urheber der Inspiration suchen. Zu-
nächst ist die inspirirte Persönlichkeit selbst zu eliminiren;
denn sie ist sich nicht bewusst, die nöthige Wissenschaft und
Kunst zu besitzen, um ihre inspirirten Dichtungen, Weissagungen
und Aussprüche absichtlich hervorzubringen. Zweitens könnte
man auch keine andere Persönlichkeit nennen, die sich gasartig
verflüchtigte und eingeathmet von dem Inspirirten nun die Seele
desselben regierte und zu Schöpftmgen triebe. Ebensowenig
giebt es einen Baum oder ein Thier oder einen Stein und dergl.,
der in die Seele zu dringen, zu sprechen und dergleichen Wunder-
kraft auszuüben vermöchte. Mithin bleibt nichts übrig, als die
allgemeinen Kräfte der Natur, die in allen Dingen und also
auch im Menschen wirken und die von der ganzen Menschheit
11*
uiymzeu i
.uy Google
164 Religion der Furcht.
als das Göttliche bezeichnet, oder auf Gott zurückgeführt
werden. Wer daher inspirirt ist, der wird nothwendig und mit
Recht seine Thätigkeit nicht auf sich oder eine andere Creatur,
sondern auf die ausser ihm liegende göttliche Kraft be-
ziehen, und dies haben alle Inspirirte von jeher gethan. Wenn
die Gegner der Inspirationslehre aber hervorheben, dass die
Leistung des Inspirirten doch nicht über seine Kräfte hinaus-
ginge, dass er vielmehr in seiner eigenen Sprache und nach
seinen Kenntnissen und nach seiner besonderen Eigenthümlich-
keit wirkte und dass also das Eingegebene vielmehr sein eigenes
Werk sei, so ist dieser Einwand ganz kurzsichtig; denn wie der
Baumeister allerdings nur mit den vorhandenen Balken und
Steinen bauen kann und nicht mit Dingen, die nicht vorhanden
sind, so wird die göttliche Kraft auch nur mit dem in der Seele
des Inspirirten gegebenen Material wirken und nichts hervor-
bringen, was nicht aus dem Vorhandenen erklärlich wäre; trotz-
dem flihrt man das Haus auf den Baumeister zurUck und nicht
auf das Material, aus dem es gebaut ist, und ebenso ^eiss sich
der Inspirirte unschuldig an seiner Leistung, die über seine
erworbene Kunst hinausgeht und die er ebensowenig wie seine
Träume mit Absicht hervorbrachte, weshalb er sie mit Recht
Gott oder den Musen oder anderen Dämonen zuschreibt.
Um nun zu entscheiden, ob wir schon in der
cbarakter dipaer niedrigen Religiou der Furcht den Opferschauern,
Inspiration. Zaubercm, Regenmachern, Auguren und Sibyllen eine
Inspiration, zugestehen sollen, müssen wir erwägen, ob wir ihren
Versicherungen soweit trauen können, dass wir nicht Alles auf
Betrug zurückführen. Sicherlich aber wären überhaupt keine
Auguren aufgekommen, wenn sie sich von Anfang schon einander
angelacht hätten. Da aber, wie wir oben sahen, ihre Erfahrungen
und ihr Scharfsinn ihnen den möglichen oder wahrscheinlichen
Zusammenhang der Dinge zeigten und auch eine Prognose ge-
statteten, so mischten sie frühzeitig ihr Interesse, ihren Hass und
Ehrgeiz in ihren Beruf und wurden dadurch zu Betrügern.
Gleichwohl ging das Gelingen und glückliche Treffen ihrer Aus-
sprüche nicht ursprünglich von ihrer eigenen schlauen Bewerk-
stelligung aus, sondern war die Resultante der in ihnen unbe-
wusst arbeitenden geistigen Kräfte. Es ist darum nicht un-
richtig, wenn die Kirchenväter ihre Leistungen auf Dämonen
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Der zugehörige Cultu». 165
zurückführten, wenn man nur darunter die Selbständigkeit der
in ihnen arbeitenden Aflfckte, Vorstellungen und Denkoperationen
versteht. Denn da keine höheren sittlichen Mächte dabei in
Wirksamkeit kommen, so konnte auch von einem die Weltordnung
bestimmenden Gotte, der sie inspirirt hätte, nicht die Eede sein,
und sie selbst wissen auch von einer solchen Ofifenbarung nichts;
dagegen kann man als dämonisch diejenige Macht bezeichnen,
die den Elementen unseres Seelenlebens zukommt, wenn sie
selbständig, d. h. ohne bewusste Leitung und Absicht
der Persönlichkeit thätig sind und an Kraft die bewusste
Sphäre des persönlichen Lebens überragen, so dass sich der
Mensch von ihnen fortgerissen und unfreiwillig bestimmt fühlt.
Daher hat die Inspiration auf der Stufe der Religion der Furcht
mit der Leidenschaft die grösste Aehnüchkeit; denn wie die
selbständig auftretenden Erinnerungen der Wollust, des Zorns
und Hasses und dergl. mit ihren Bildern allerlei Einflüsterungen
und heftige, ja angeblich unwiderstehliche Bewegungen hervor-
bringen und den Menschen zu vielen thörichten und verderb-
lichen Handlungen fortreissen, so sind auch auf dem Gebiete der
Conjectur die selbständig wirkenden Elemente des Seelenlebens
bestimmend und machen den Menschen klüger als er sich selbst
weiss, da ohne seine bewusste Arbeit die glücklichen Treffer ihm
eingegeben werden. Mithin kann die Inspiration auf dieser Stufe
als dämonisch bezeichnet werden.
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Viertes CapiteL
Allgemeinere Fragen.
Nachdem wir nun die drei Sondergebiete, in welche das
religiöse Leben sich nothwendig gliedern muss, einzeln betrachtet
haben, bleiben einige Fragen übrig, welche alle drei Gebiete in
ziemlich gleichem Masse betreffen. Unter diesen wähle ich die
wichtigsten aus und behandle sie unter den Ueberschriften:
Wunder, Schicksal, Mythologie und Islam. Der Islam kommt
mir nämlich hier zur Untersuchung, weil eine Religion charakteri-
sirt werden muss, welche den Typus der hier behandelten Gat-
tung von Religionen am Yollkonunensten und Reinsten heraus-
stellt Die Lehre vom Wunder aber hätte auch bei dem Cultus
abgehandelt werden können; doch kommen so viele dogmatische
und ethische Gesichtspunkte dabei zur Anwendung, dass es mir
richtiger schien, es unter die allgemeineren Fragen zu stellen.
Das Schicksal gehört zwar auch zum Ressort des Priester-
thums, kann aber seiner Idee nach nicht ohne die andern beiden
Gebiete begi-iffen werden. Die Mythologie betrifft näher die
Dogmatik, doch musste der perspectivische Standpunkt, der zur
Ethik flihrt, stärker betont werden, als dies bisher üblich war,
da man gern nur die Speculation und die Phantasie als Geburts-
stätte der Mythen betrachtet.
§ 1. Das Wunder.
Wenn man die Abhandlungen der Theologen und Philosophen
liest, die noch heute über das Wunder geschrieben werden, so
findet man zu seiner Ueberraschung blosse Disputationen über
die Thesis, dass die Naturgesetze durchbrochen werden können.
Die Opponenten läugnen dies und verwerfen deshalb die Wunder,
die Dcfendenten aber räumen entweder dem allmächtigen Hcitu
selbstverständlich das Recht ein, nach seinem Gutdünken zu ver-
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 167
fahren, da er sich keine Gesetze vorschreiben lassen könne, oder
sie suchen zu zeigen, dass die Durchbrechung seiner eigenen
Gesetze zwar nur ein Schein sei, dass der all weise Schöpfer
aber durch höhere und deshalb noch mehr oder weniger ver-
borgene Naturgesetze die niedrigeren und deshalb bekannteren
Gesetze aufhebe, dass die sogenannten Wunder also nicht bloss
keinen Widerspruch gegen die allgemeine göttliche Naturordnung
enthielten, sondern zugleich als Wunder, d. h. als „aus den bisher
wirksamen Natnrursachen unerklärliche Erscheinungen'^ anzu-
erkennen wären.
Diese ganze Behandlungsweise der Wunder von Seiten der
Gelehrten muss überraschen, weil man nach den allgemeinen
Forderungen der Wissenschaft zunächst ein Studium des Begriffs
des Wunders selbst erwarten sollte; denn es dreht sich ja flir
den Mann der Wissenschaft zunächst nicht um praktische Fragen,
wie in der Politik und in der Heilkunst, sondern um die Er-
kenntniss selbst Nun ist aber weder der Begriff des AVunders
schon sicher festgestellt, noch ist es an sich selbstverständlich,
dass es überhaupt einen Begriff vom Wunder geben müsse.
Folglich ist es doch wohl unvorsichtig oder unbesonnen, wenn
man so aufs Gerathewohl das Verhältniss der Wunder zu den
Naturgesetzen bestimmt oder die pädagogische Nothwendigkeit
und Herrlichkeit der Wunder bestreitet oder feiert. Denn wie
kann man die Menschen auf dem Monde loben oder tadeln, wenn
man gar nicht weiss, ob sie existiren. Dass es aber nicht von
jedem Worte auch einen Begriff zu geben braucht, ist doch
wohl nicht schwer zu beweisen. Ich erinnere nur an die be-
rühmte Seeschlange, oder an die vielbesungene Lorelei: wer wäre
im Stande, einen Begriff für irgendwelche diesen Namen ent-
sprechende reale Wesen zu finden! Da es sich also möglicher
Weise bei den Wundem nur um eine leere Einbildung, um eine
flüchtig und unbestimmt malende Phantasie handelt, so muss die
erste Pflicht sein, den Vorstellungskreis der sogenannten Wunder
zu Studiren, um zu sehen, ob man überhaupt auf einen festen
Begriff kommt. Und wenn ein solcher hervortritt, so darf man
nicht die nächsten Veranlassungsbilder mit in die Region des
Denkens hinübernehmen; denn wenn die Pythagoreer auch den
gerechten Mann einen quadratischen nannten, so gehört der geo-
metrische Ansatz ihres Denkens doch nicht mehr in den Begriff
jiyiii2eu"uy VdOOV IC
168 Beligion der Furcht
der Gerechtigkeit Es scbeint mir daher, dass über das Wander
eine wissenschaftliche Untersuchung erforderlich ist, die nur des-
halb nicht als neu bezeichnet werden darf, weil es noch keine
frühere giebt
Meine Methode ist die heuristische, welche ich
^Mcthodk»!"* schon in meiner „Neuen Grundlegung der Metaphysik"
und für historische Fragen im zweiten Bande meines
Buches „Literarische Fehden im vierten Jahrhundert vor Christo"
an mehreren Beispielen dargelegt habe. Es kommt nämlich für
alle Erkenntniss nicht auf das Monstrum an, welches jetzt in der
Logik ein Begriff heisst und welches von Wund t als eine „kate-
goriale Verschiebung" verherrlicht wird, da aus Eigenschaften
und Verben ein GegenstandsbegriflF und eine sogenannte „Ver-
dichtung des Denkens" entstehen soll. Diese „kategoriale Ver-
schiebung" ist aber eine blosse grammatische Erscheinung und hat
mit der Logik nichts zu thun, da sich Begriffe nicht verschieben
lassen; eine „Verdichtung des Denkens" als Resultat solcher
Vorstellungsgewebe ist allerdings zuzugeben, doch leider nicht,
wie man präconisirt, in bonam partem, sondern als eine Ver-
dunkelung und Verfilzüng der Vorstellungen, wobei das ver-
nünftige Denken Luft und Licht verliert Mit erbarmungsloser
Strenge müssen diese „Verdichtungen" und „Verschiebungen" aus
der Logik ausgekehrt werden, da sie nur als blinde Passagiere
durch die ungezügelte Ideenassociation rechtlos und passlos in
den Bewegungsorganismus des Denkens abgesetzt sind.
Unsere Aufgabe ist, das Coordinationssystem zu finden, in
dem die Wunder ihre feste und gesetzlich geordnete Stelle haben.
Die Erkenntniss dieser Goordination ist der Begriff des Wunders.
Als Beligionsphilosophen müssen wir nun zunächst
heuristische fragen, ob die Wunder, wie die Sprache, sich sowohl in
ForderuDg. ^Is ausscr dcr Beligion, oder ob sie, wie die Kirchen,
sich nur im Herrschaftskreise religiöser Vorstellungen finden. Es
zeigt sich dann gleich, dass das Wunderbare auch ausser, die
sogenannten Wunder aber nur in der Religion vorkommen, dass
sie also eine specielle Frage der Religionsphilosophie bilden.
Gehören die Wunder aber zum Wesen der Religion? Vocale
und Consonanten z. B. finden sich in allen Sprachen; der
trochäische Anlaut sämmtlicher Wörter aber nur in der finnischen
Sprachgruppe. Giebt es also nicht auch Religionen ohne Wunder?
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 169
Ja freilich, den Atheismus, Positiyismus und Pantheismus. Folgt
daraus nun, dass Wunder nur eine Absonderlichkeit gewisser
Beligionsgruppen bildeten? Aber es giebt doch auch patho-
logische Erscheinungen, blindgeborene, bucklichte und verstüm-
melte Menschen; soll darum das sehende Auge, die regelmässige
Wirbelsäule und überhaupt die normale Bildung der Organe nicht
zum Wesen des Menschen gehören? Und könnten also dem-
gemäss nicht auch die Keligionen ohne Wunder zu den patho-
logischen Erscheinungen gerechnet werden? Diese Frage ist so
von der Schwelle der Untersuchung ab nicht wohl zu ent-
scheiden. Doch hilft gleich die Auffindung einer Goordinate zu
einer vorläufigen Orientirung; denn das Normale wird sich doch
in den meisten Fällen durchsetzen, während das Pathologische
als Störung accidentelle und also particuläre Ursachen hat
Die Religion, die sich in den meisten Fällen durchsetzt, ist aber
Volksreligion, und keine Yolksreligion ist ohne Wunder; also
wäre vorläufig wenigstens der Atheismus, Positivismus und
Pantheismus als eine Yerkrtippelung des religiösen Bewusstseins
zu betrachten und bildete keine Instanz gegen die Universalität
und Wesentlichkeit des Wunders für die Religion.
Bei Annahme dieses präliminarischen Resultates würden wir
dann gleich diejenigen theologischen Apologeten abweisen müssen,
welche die Wunder durch den christlichen GottesbegriflF ver-
theidigen ; denn sie argumentiren, als wenn sie die Nothwendig-
keit von Steuern aus dem Wesen der Preussischen Monarchie
und nicht aus dem allgemeinen Wesen des Staates ableiten
müssten. Es ist aber sehr wichtig zu wissen, wohin ein Begriff
gehört, und es ist die Sache der logischen Bildung, die zuge-
hörigen Coordinaten jedes Begriffs zu kennen; oder man soll
keinen Anspruch auf Wissenschaft erheben; denn es dreht sich
hier nicht um einen privatrechtlichen Process, den das Christen-
thum für sich allein zu gewinnen oder zu verlieren hätte, sondern
um eine allgemeine Angelegenheit der Religion.
Wollten wir nun, durch diese heuristischen Finger-
zeige geleitet, zur Analysis der Religion übergehen, zweite heurisu.
um die Coordinationen festzustellen, so würden wir
eines grossen Httlfsmittels entbehren, das uns erst noch zu Gute
kommen soll. Zum allgemeinen Wesen jeder Sache gehören
nämlich immer Bestimmungen von verschiedener Herkunft, und
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170 Religion der Furcht.
wenn man diese principiell scheiden kann, so hat man das beste
Licht zur Arbeit. Nehmen wir z. ß. den Menschen, so ist Ver-
nunft sowohl, wie Durchblutung des Körpers, allgemeine Wesens-
bestimmung. Aber diese letztere sogenannte generische Be*
Stimmung geht nicht auf ein fabelhaftes genas zurück, sondern
vielmehr auf einen realen, uralten und sehr unansehnlichen Vor-
fahren, dessen Abkömmlinge sich durch viele neue Verbindungen
specificirt und veredelt haben.
Wenn ich die gemeinsame Grundlage, das genus proximum
in der Definition, auf die unterste Art form zurUckftlhre, so
bedarf diese Neuerung in der Logik einer Erklärung. Die alte
Logik nahm nämlich seit Aristoteles das Generische und die
Notae communes als eine Natura secunda an, deren Substanz
und Existenz Niemand ausfinden konnte und worüber man sich
namentlich im Mittelalter ohne allen Nutzen und endgültigen
Erfolg herumstritt. Die moderne Logik hat durch den ganz
falschen Begriff der Ab str actio n zu helfen gesucht und dabei
zugleich den Boden der Kealität verloren und das alte Unding
behalten. Eine richtige Logik muss zeigen, dass in dem Ge-
biete des technischen Systems die untersten Entwickelungsstufen
ihren Typus vererben, der durch neu hinzutretende Coordinationen,
aber nicht in darwinistischer Weise, specificirt wird. Ich habe
die Grundlage dieser neuen Auffassung in meiner Schrift über
Darwinismus und Philosophie gegeben; in der ausführlichen
Logik muss dies genauer gezeigt werden. Hier genügt es ein-
zusehen, dass man von der untersten Religionsstufe ausgehen
muss, da sich erst, wenn man den Begriff des Wunders in der
Furchtreligion kennt, beurtheilen lässt, ob die Wunder in den
übrigen Keligionen von einer anderen Beschaffenheit sind, oder
vielmehr den Typus ihres Ursprunges beibehalten.
Zu ieder Arbeit muss man aber Muth haben.
Dritte
iiouriKtische Ehe wir deshalb die ausführliche Analyse des Be-
Forderuiig. g^ffg unternehmen, ist es angezeigt, eine prälimi-
narische Topik des Begriffs zu versuchen; denn wenn uns nicht
die allgemeine Möglichkeit oder besser auch die Richtigkeit des
vorweggenommenen Resultates schon einleuchtet, so wtisste ich
nicht, wie man Lust zur Forschung haben sollte.
Wer nun in speculativer Behandlung der Begriffe etwas
geübt ist, wird in dem durch vielfache Erfahrung gegebenen
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 171
Vorstellungsmaterial der Wunder sofort gewisse Bestimmungs-
stücke herausfinden, die in die Augen fallen und ihre Zuord-
nung zu den Grundbegriffen einer der verschiedenen Religionen an
den Tag legen. So ist hier z. B. auf den ersten Blick klar, dass
die Wunder zwar nur selten eine erstaunliche und gefährliche
Macht über die Natur, immer aber durch gewisse Ereignisse etwas
bekunden, was mit unseren persönlichen Interessen zusammen-
hängt und daher unsere Furcht oder unsere Hoffnung in's Spiel
setzt. Mögen die Wunder daher in gefährlichen oder gewöhn-
lichen Ereignissen zum Ausdruck kommen, immer dreht es sich
dabei um unser Wohl und Wehe, und mithin ist die Coordinate
zu diesem Begriff in keiner anderen Religion zu finden, als nur
in der Religion der Furcht. Wegen der Wichtigkeit des Begriffs
des Wunders und wegen der Neuheit der Untersuchungsmethode
und der Resultate möge man die Länge der Darlegungen ent-
schuldigen, da ich gewissermassen die früheren Arbeiten als nicht
zur Sache gehörig und das Problem als terra virgo betrachte.
a. Der Begriff des Wunders in der Furchtreligion.
Fangen wir der Ordnung gemäss mit dem Bekannten an.
Das Wunderbare steht immer im Gegensatz zu dem Gewöhn-
lichen und Alltäglichen. Beide entgegengesetzten Begriffe be-
zeichnen aber keinen Gegenstand, kein Ereigniss, keine Er-
scheinungen, sondern als Kategorien der Modalität nur eine
Auffassungs weise, d. h. wie wir uns in unserer Erkenntniss-
thätigkeit zu den Erscheinungen verhalten. Diejenigen Erschei-
nungen, die wir alle Tage sehen, begegnen, wenn sie zur Per-
ception kommen, sofort unserer Erinnerung (Apperception) an
frühere Wahrnehmungen ebensolcher oder verwandter Erschei-
nungen und werden daher ohne Weiteres, d. h. ohne Aufre-
gung des GefUhls hingenommen. Wenn wir z. B. die Sonne am
Himmel stehen sehen, so wundern wir uns nicht, weil wir diese
Feuerscheibe ja unzählige Male schon gesehen haben und unser
Wille sich dadurch also nicht in Aufregung versetzen lässt, son-
dern sich längst darin gefunden hat, dass es so ist in der Welt.
Sobald aber eine gewöhnliche oder ungewöhnliche Erscheinung
durch irgend einen Umstand eine neue Beziehimg fordert, um
ihren Zusammenhang begreifen zu lassen, so geräth das Gefiihl
in Unruhe und setzt das Denken in Bewegung. Das Nicht-
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172 Religion der Furcht.
gelingen des Erklärungsversuches versetzt uns in das GeftLhl des
Staunens, welches wir auf das Object als auf die Ursache des
ganzen psychischen Vorganges projiciren, indem wir dies Object
wunderbar nennen. So wunderte man sich schon über viele
Handlungen Bismarck's und z.B. jüngst noch allgemein darüber,
dass er den Papst zum Vermittler zwischen Deutschland und
Spanien erkor, weil diese Handlung eine verborgene Beziehung
zu ihrer Erklärung forderte, die man nicht gleich fand, indem
man an das Mittelalter erinnert wurde und doch die Coordi-
nationen der politischen Kräfte im neunzehnten Jahrhundert be-
stimmen sollte.
Allein das Wunderbare in diesem Sinne ist kein Wunder
und hat gar keinen religiösen Charakter. Dazu gehört viel-
mehr umgekehrt das Gelingen der Denkbewegung, die gelun-
gene Deutung. Da nämlich unsere ganze Erkenntniss ihrem
Wesen nach ein durchgängiges Beziehen aller ihrer Elemente
aufeinander, und das Bewusstsein dieser beziehenden Thätigkeit
das sogenannte Gesetz des Grundes ist, so verlangt der Mensch
als erkennendes Wesen, er möge wissen, was er verlangt, oder
davon noch keine Ahnung haben, durchaus eine Befriedigung
dieses Gesetzes, also eine Erklärung oder Deutung.
Die Deutungen sind aber von zweifacher Art; durch die
Eine Art verschwindet, durch die andere entsteht das Wunder.
Wenn z. B. ein Erdbeben eintritt und die Gebildeten sich dies
dadurch erklären, dass grössere Wassermassen bis auf die feurig-
flüssigen Schichten des Erdinnem durchgedrungen wären und
nun bei ihrer Verwandlung in Dampf die oberflächlicheren
Schichten der Erdrinde erschütterten oder durchbrächen, so ist
dem auffallenden und ungewöhnlichen Ereigniss durch eine ge-
lingende physikalische Deutung der Charakter des Wunderbaren
schlechthin und also auch in religiösem Sinne entzogen. Wenn
dagegen die Gläubigen das Ereigniss auf die Stimmung eines
unsichtbaren Dämons beziehen, der dadurch seinen Zorn an den
Tag lege und das Leben der Menschen bedrohe, so gerathen sie
in eine religiöse Furcht und betrachten das Ereigniss als Wun-
der, als eine für ihr Wohl oder Wehe wichtige Kundgebung ihres
gefährlichen Herrn. Durch solche Erklärung oder Deutung ver-
schwindet das Wunder also nicht nur nicht, sondern es entsteht
erst dadurch. Hieraus ergiebt sich, dass Wunder überhaupt
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 173
nicht als Objectives oder Wirkliches in der Sinnenwelt vorkommen
können, da es sich immer nur am wirkliche Naturerschei-
nungen, also um etwas Natürliches handelt. Der Sitz des
Wunders beruht in der religiösen Deutung, also in dem Ver-
stände des Gläubigen. Da nun das specifische Wesen des Gläu-
bigen am Stärksten und typisch in dem Priester heraustritt, so
gehört die Lehre vom Wunder in erster Linie zur Lehre vom
Priester, d. h. zu seiner Erkenntniss der religiösen Dinge und
zu seinem Amte, die Seelen der Gläubigen zu leiten.
1. Die Erkenntniss der Wunder. Unsere erste Auf-
gabe ist also, genauer zu erforschen, wie Wunder entstehen?
Obgleich sie in der Erkenntnissthätigkeit des Gläubigen ihren
Sitz haben und ihrem objectiven Beziehungspunkte nach Er-
scheinungen der sogenannten äusseren Natur oder der Seelen
enthalten, so können wir doch nicht mehr vermuthen, dass die
Wunder durch einen objectiven Erklärungsversuch, also durch
naturwissenschaftliche oder psychologische Hypothesen entstän-
den. Wir müssen vielmehr finden, dass seit Spinoza, Leibnitz,
Schleiermacher, Hegel u. A. die Frage am unrechten Orte ange-
fasst wird, und ich kann auch die neuesten Betrachtungen von
Otto Pfleiderer in seiner Religionsphilosophie (H S. 435) von
diesem Vorwurfe nicht ganz ausnehmen. Denn seine Polemik
gegen die Wunder setzt eben voraus, dass der Wundergläubige
,,die Lebendigkeit und Freiheit Gottes" wahren und demselben
„eine gesetzwidrige Durchbrechung der Naturordnung"
gestatten wolle, indem er dabei „der Natur Elasticität" zutraue
und sie „höherer Eingriffe für fähig und bedürftig" halte. Ich
sehe wohl, dass Pfleiderer's Kritik am Platze ist den modernen
Apologeten gegenüber*), aber ich finde nicht, dass er nöthig
*) Das Neueste, was ich in Zeitschriften über unsere Frage gesehen,
steht in den „Theolog. Studien und Kritiken vom Jahre 1886, Heft 3, S. 403
bis 646 unter dem Titel »Wunder und Naturgesetz«". Von dem Verfasser
Paul Gloatz, Lic. theol. , habe ich schon oben S. 167 die DeJBnition des
Wunders angef&hrt und bemerke, dass ich mit grosser Befriedigung S. 527
auch von ihm den Standpunkt RitschTs als unphilosophischen und leeren
„religiösen Illusionismus" charakterisirt fand. In dem systematischen Theile
aber, wo er (z. B. S. 643) wieder die „neu hervortretende Causalitat Gottes"
bei dem Wunder gegen die Naturgesetze ausspielt, arbeitet der Verfasser,
wie die übrigen Philosophen und Theologen, noch mit den Kategorien
früherer Metaphysik und bringt die Frage daher nicht vom Fleck.
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174 Religion der Furcht.
hätte, solche Kücksichten zu nehmen, und fordere deshalb eine
strengere Topik des l^griflFs des Wunders. Denn der wirklich
Wundergläubige fühlt ja nicht das mindeste Bedürfhiss, sich auf
die Naturgesetze einzulassen, und besitzt auch keine physikali-
sche oder psychologische Erkenntniss des natürlichen Verlaufes
der Ereignisse, wie er auch im Traume nicht an eine feste
Naturordnung oder an eine Elasticität der Natur u. dergl. denkt.
Die Erkenntniss eines Widerspruchs ist nur möglich, wenn man die
als eins gesetzten sich widersprechenden Begriffe beide beherrscht.
Darum können zwar die modernen Kritiker Änstoss an den
Wundergeschichten nehmen, weil ihre Seele zugleich von ße-
spect vor den sogenannten Naturgesetzen erflillt ist; das Be*
wusstsein der Gläubigen kann aber solchen Begriff von einem
Wunder gar nicht fassen, da sie ja in allen Naturereignissen
freies Schalten und Walten von Göttern und Dämonen sehen und
ohne alle naturwissenschaftliche Scrupel Zeus donnern, Garm
heulen und Wertra mit Indra Krieg in den Wolken führen lassen.
Die Wunder geschahen aber lange in der Menschheit, ehe die
modernen Kritiker sich darüber wunderten, und mithin mnss
der Begriff des Wunders etwas anderes enthalten, als den mo-
dernen Widerspruch, der erst seit Beginn exacter Naturwissen-
schaft im Bewusstsein entspringen konnte. Also hat man die
Frage, wie zu beweisen war, am unrechten Orte angefasst; denn
alle Religionen, welche ja voll von Wundern sind, wissen nichts
von dem Widerspruche zwischen unsem naturwissenschaftlichen
Hypothesen und den wunderbaren Handlungen ihrer Götter.
Folglich entsteht der moderne Wunderbegriff erst durch die mo-
derne Kritik*) und kann uns also ziemlich gleichgültig sein, da
wir von den Wundem zu handeln haben, die in dem religiösen
Glauben der Menschheit eine Rolle spielen.
'*') Ich sehe, dass auch z. B. Adolf Haruack in seinem Lehrbuch der
Dogmengeschichte l S. TiO A. 4 nur die herkömmliche Vorstellung von
einem Wunder hat und deshalb einerseits die Wunder aus dem Gebiete der
geschichtlichen Forschung ausschliessen will , andererseits« sich auch, wie er
sogt, einen starken religiösen Glauben denken kann, der koiner Wunder mehr
bedürfe. Wer möchte es ihm verargen, dass er die Wunder satt hat, wenn
er sie durchaus in der herkömmlichen Weise auffassen müsste; aber
warum verlilsst er diese ungenügende Auffassung nicht?
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 175
Daher hat die moderne ungenügende Analyse des Wunder-
begriffs noch einen zweiten Fehler. In diesem BegriflFe fehlt ein
constituirendes Merkmal, die Bedeutung oder Erkenntniss des
Wunders. Das erste Misslingen der Verstandesthätigkeit in der
Ausdeutung der Wundererscheinung löst nämlich, wie oben (S. 172)
schon angegeben, eine unbestimmte Furcht aus, welche den
zweiten Beziehungspunkt bildet; denn kaum ist diese Furcht im
Gemttthe hervorgebrochen, so kommt die Verstandesthätigkeit
wieder in Fluss, weil sie nun die zugeordneten Beziehungspunkte
finden kann. Die Furcht setzt ja eine zu fllrchtende mächtige
Ursache voraus. Der dem Gläubigen immer wohl bekannte, die
Natur beseelende Dämon ist also in Zorn und zwar sicherlich
über uns, weil wir ja Furcht haben und von unserer Furcht
aus das Ereigniss perspectivisch deuten. Mithin hat
das Ereigniss etwas zu bedeuten; es ist zu einem reli-
giösen Ereigniss, zu einem Wunder geworden. In der Be-
deutung eben besteht die Erkenntniss des Wunders und
zwar in der Bedeutung für uns; denn es ist ein einzel-
nes Ereigniss und bezieht sich auf einen in der Zeit gege-
benen einzelnen Gemüthszustand des Gläubigen, und es dreht
sich niemals um Bezeugung der abstracten dogmatischen Wahr-
heit, dass die Götter mächtig sind und die modernen Natur-
gesetze durchbrechen können. Der Gläubige und vor Allen der
Priester hat daher in dem Ereigniss ein Wunder zu erkennen,
indem er in der Handlungsweise der Gläubigen etwas heraus-
findet, was in Beziehung zu ihrem Gott steht und seinen Zorn
erregen konnte, wodurch das, was das Ereigniss von Gottes
Seite her bedeutet, sofort befriedigend zu erklären ist. So star-
ben z. B. die Maulthiere und nachher auch die argivischen Krieger
vor Troja massenhaft an der Pest Die Todesursache kommt
geheimnissvoll. Staunend sieht man die starken Helden ohne
greifbare Veranlassung ins Grab sinken, und ein Schrecken er-
fasst die Argiver. Nun tritt der Seher Kalchas auf und erklärt
ihnen das Ereigniss; denn sie haben mit Chryscs, dem Priester
des Apollo, auch den Gott selbst beleidigt, und der Gott ist es,
der sie durch seine unsichtbaren Pfeile tödtet. Das Ereigniss
ist jetzt befriedigend erklärt, es hat etwas zu bedeuten und ist
als Wunder, als eine Offenbarung Gottes erkannt.
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176 Religion der Furcht.
Die moderne Kritik ist daher an dem Problem des Wunders
vorbeigegangen. Denn die Wahmehmang eines Phänomens, das
man nicht gleich erklären kann und das daher die Aufmerksam-
keit und das Nachdenken hervorruft, braucht ja gar nicht
immer die armen Naturgesetze zu beunruhigen. Wir könnten
vielmehr die als Wunder bezeichneten Phänomene in zwei Grup-
pen scheiden. Die eine enthielte dann lauter ganz bekannte und
gewöhnliche Erscheinungen, die nur für die bestimmte Lage des
Menschen etwas Ueberraschendes haben, z. B. wenn bei einem
gefährlichen Unternehmen ein Adler aufsteigt oder der Feldherr
zur Erde föllt, oder wenn, wie Aristoteles erzählt, eine Bildsäule,
während sie einmal betrachtet wird, zulUllig umfallt, und gerade
den Mörder des Dargestellten erschlägt. Bei allen diesen und
ähnlichen Vorgängen werden die Naturgesetze nicht aufgehoben,
obwohl man solche Phänomene als Wunderzeichen betrachtete.
Die zweite Gruppe enthielte allerdings Phänomene, die heute als
unmöglich gelten, z. B. einen brennenden Busch, der nicht ver-
brennt, Auferstehung Gestorbener, hungrige Löwen, die den Daniel
nicht fressen, u. s. w. Wenn man aber aus Rücksicht auf die
moderne Kritik eine solche Eintheilung der Wunder machte,
würde sich zugleich der Fehler zeigen, dass der Eintheilungs-
grund transscendent ist und mit dem Wesen der Sache nichts zu
thun hat, ebensowenig, wie wenn man die Vögel darnach ein-
theilen wollte, ob sie auf den Hüten der Damen zur Decoration
dienen könnten oder nicht. Vielmehr wurden die Phänomene,
welche in den Wundergeschichten vorkommen, alle für natür-
lich und wenn auch fUr ungewöhnlich, doch immer für möglich
gehalten, weshalb es ja auch nach dem Volksglauben beständige
und regelmässig wiederkehrende Wunderzeichen gab, wie z. B.
AratoB in volksthümlicher Weise die Himmelserscheinungen als
Wunderzeichen des Zeus beschreibt, der offenkundig durch die
regelmässigen Aufgänge der mit den furchtbaren Elementen coor-
dinirten Gestirne dem Geschlechte der Menschen heilsame Winke
gebe und zu ihnen spreche ()i7ei). Darum ftllt bei jedem Wun-
der der Accent immer auf die Deutung und nicht auf die Er-
eignisse, welche zur Deutung Veranlassung bieten. Nicht wie
es zuging, dass die Löwen den Daniel nicht frassen, wird von
den Gläubigen hervorgehoben und gepriesen, sondern dass seine
Unschuld und seine Wohlgefillligkeit vor Gott oflfenbar werden
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Allgemeinere Fragen. Daa Wunder. 177
sollte; nicht woher die Heuschrecken überEgypteri kamen, son-
dern dass die Egypter wegen der Bedrückung der Juden ge-
straft werden sollten ; nicht wie der materielle Leichnam Christi
verschwinden und sich in einen unverweslichen neuen Leib ver-
wandeln konnte, sondern dass unsere zukünftige Auferstehung
und die jenseitige Welt der Geister dadurch in's Bewusstsein
träte und zu Hofhung und Glaube würde. Eben weil die auf-
fallenden Phänomene der Natur nur den Anlass bilden, um auf
das eigentlich Religiöse, auf die ftir das persönliche Leben allein
wichtige Deutung der Sprache Gottes, tiberzugehen, darum wer-
den jene wunderbaren Umstände auch nirgends mit einer solchen
Genauigkeit erzählt, dass ftir eine gerichtliche oder natur-
wissenschaftliche Untersuchung genügendes Material darge-
boten würde. Das Interesse des religiösen Menschen besteht ja
zunächst gar nicht in einer Vergleichung von Dogmatik und
Naturwissenschaft. Vielmehr nehmen diejenigen, welchen die
Zeichen gedeutet werden, mit den gegebenen Erzählungen immer
vorlieb, und wer den ftir das Wunder erforderlichen Gemüths-
znstand nicht besitzt, auf den können dieselben keinen Eindruck
machen. Man darf den historischen Standpunkt, die perspec-
tivische Betrachtungsweise nicht vergessen. Die Gänse
auf dem Capitol wurden nicht für Moltke geflittert, und die Auf-
erstehungsgeschichte wurde nicht für Langenbeck erzählt. Die
moderne Kritik ist deshalb mehr als einseitig, weil sie von den
vielen und verschiedenen Momenten der Sache nur ein einziges
berücksichtigt und dieses nur nach derjenigen Seite auffasst, die
nicht zur Sache gehört, sondern eine transscendente Beziehung
enthält, d. h. eine Beziehung auf Menschen einer anderen Zeit
und einer anderen Bildungsstufe. Das Wunder aber ist bestimmt
zu wirken und so kommen wir auf die Psychagogie.
2. Die Psychagogie. Ist die Idee des Wunders in der
Erkenntniss der Gläubigen erst einmal geboren, so muss sie
sich auch fi-uchtbar vermehren; denn wenn durch das Wunder
eine Sprache Gottes erkannt und ein Verkehr mit dem Gotte
hergestellt ist, so kann der Gläubige sich auch dem Willen des
Gottes entsprechend verhalten und sein Diener und Mitkämpfer
werden, und so ist es ganz in der Ordnung, dass man von dem
Gotte bei jeder wichtigen Unternehmung ein Wunderzeichen ver-
langt, damit man der göttlichen Leitung, der Ermuthigung oder
Telchmüller. BeligloiiBphllawphle. ^12^^ GoOQIc
178 Religion der Furcht.
der Abmahnung nicht entbehre. Die Wander in den Eingeweiden
der geschlachteten Thiere, die plötzlich erschallenden ünheilstöne
eines Vogels, die plötzlichen Verfinsteningen der Sonne u. s. w.
haben deshalb als ebenso viele Willenserkläningen Gottes viele
Unternehmungen plötzlich gehemmt, wie umgekehrt die siegver-
heissenden Zeichen, der rechtsfliegende Adler, der Blitz u. dergl.
den göttlichen Beistand versprachen und die Seelen der Gläu-
bigen mit unbezwinglichem Muth erfüllten.
Hieraus ergiebt sich, dass die Wunder nicht bloss zu er-
kennen, sondern auch zur Psychagogie zu gebrauchen Sache
des Priesters ist, der den Willen Gottes deuten und verkünden
muss. Darum entwickelt sich in allen Religionen der Furcht
eine sehr umfangreiche Augurenwissensehaft, eine Geheimlehre
über die Sprache der Götter, und wie unwissenschaftlich und
lächerlich uns auch eine solche Gelehrsamkeit erscheinen möge,
so musste sie nun doch einmal sich bilden; denn die Gläubigen
wandten sich in grösster Bathlosigkeit und tiefer Angst des Ge-
müthes an den Priester als den Interpreten der Götter, der aus
sicheren Zeichen ihren Willen erkannte. Mit erstaunlicher Kraft
hat uns Sophokles z. B. in seiner Antigene und in seinem Oedi-
pus diese Rolle des Priesters vor Augen gefllhrt Dem aufge-
regten Volke und dem rathlosen Könige tritt mit einer feierlich
festen Autorität der greise Tiresias gegenüber und verkündigt
mit hinreissender Gewalt, was er allein weiss und offenbaren
kann, den Grund des göttlichen Zorns. Und vor dieser Verkün-
digung bricht das Königthum zusammen; denn die Gottesfurcht
beherrscht die Welt.
Die Psychagogie des Priesters hat darum zwei Aufgaben.
Zunächst die natürlichen Ereignisse so zu deuten, dass die Furcht
erweckt, verstärkt und rege erhalten wird. Der Priester muss
daher die vergangenen und gegenwärtigen gesellschaftlichen und
persönlichen Verhältnisse, Handlungen und Lebens-Ereignisse der
Gläubigen genau kennen, um, wenn er weiss, was sie mit Leiden-
schaft begehren, demgemäss die Furcht in ihren Gemüthem er-
regen zu können; denn die Deutung der Götterzeichen und Wun-
der muss ja nach dem subjectiven Beziehungspunkte, d. h. nach
den persönlichen Sorgen und Leidenschaften der Menschen geleitet
werden und daher immer individuelle Gestalt annehmen. „Wenn Du
über den Halys gehst, wirst Du ein grosses Reich zerstören^'. Der
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 179
Gott weiss genau von den politischen Verhältnissen Bescheid
und kennt die ehrgeizigen Absichten. Zugleich rührt hierher die
berüchtigte Vieldeutigkeit der Orakel, die, wie Aristoteles mit
Recht hervorhebt, den Priestern zur Nothwendigkeit wurde-, denn
da sie doch nur durch Conjectur die Zukunft bestimmten, so
mussten sie oft durch Unbestimmtheit und Zweideutigkeit (Am-
phibolie) ihre Verkündigungen sicherstellen, damit der Gott, wie
bei Kroisos, inuner Recht behielte. Entsprechend der Furcht hat
der Priester aber auch die zugehörige Hoffnung, das Ver-
trauen, den Muth zu heben, damit die Gläubigen durch die
günstigen Wunderzeichen gestärkt mit Energie ihre Unterneh-
mungen ausführten und nicht sich, sondern den helfenden und
rettenden Göttern den Erfolg verdankten.
Die zweite Aufgabe des Priesters besteht in der Anordnung
von Handlungen, wodurch der Verkehr mit der Gottheit einen
sichtbaren Ausdruck empföngt. Davon ist schon oben gesprochen,*
und ich erwähne nur, welche Wichtigkeit die Pflege dieser
Handlungen für den Priester hat; denn durch diese Handlungen
bekommt die innerliche Frömmigkeit erst das Bewusstsein
über sich und die Wirklichkeit der Gemeinschaft mit den Göt-
tern. Mithin kann dadurch allein auch eine sociale Religion
und eine Infection der Gottesfurcht stattfinden, so dass im guten
wie im schlimmen Sinne dadurch die Macht und der Einfluss des
Priesters wie des Glaubens und Aberglaubens anwächst. Darum
müssen die Wunderzeichen und ihre Deutungen möglichst mit
den Opferhandlungen und dem ganzen Gottesdienste verwoben
werden; denn auf die vorher erfolgten Gaben und Demüthigungen
ergiebt dann erst die Opferschau, ob der Gott gnädig den Büssen-
den annehme und ihm die Erfüllung seiner Wünsche verheisse.
So muss schon die Annäherung an die heiligen Stätten, wo des
Gottes Kraft für gegenwärtig und wirksam geglaubt wird, durch
Gaben erkauft werden; denn nicht ohne Hingebung an die Ma-
jestät und Anerkennung ihrer Autorität kann der Gläubige in
Gemeinschaft mit Gott treten. Naiv sagt Jon bei Euripides v. 221:
„Sobald Ihr im Vorhof Opfer gebracht und von Phöbos ein Wort
zu vernehmen begehrt, dann schreitet hinein; doch, schlachtetet
Ihr kein Lamm, dann meidet den heiligen Raum." In den höheren
Religionen fällt nun zwar das Blut der Opferthiere weg, aber
was an sinnlicher Wirklichkeit verloren geht, muss doch im
ucMtauv Google
180 Beligion der Furcht.
Symbol und wenigstens in der Allegorie der Sprache erhalten
bleiben, weil wir auch bei höherer geistiger Entwickelung doch
immer nur als Menschen, welche fürchten und hoffen, in Fleisch
und Blut dasein können. Darum hat man vernünftiger Weise
die Pflicht, die oft seltsamen Gebräuche der Kirche zu verthei-
digen, indem man sie erklärt. So erfolgt z. B. auch in unserem
christlichen Cult erst nach der in sichtbarer Handlung symbo-
lisch dargelegten Busse und Demüthigung die Verkiindung der
Gnade, indem in der katholischen Kirche noch das Wunder-
zeichen der Messe durch die Glocke gemeldet wird.
b. Die Kritik der Wunder.
Nachdem wir die Entstehung und das Wesen der Wunder
in der Furchtreligion erkannt haben, ist es erforderlich, auch
einen Blick auf die höheren Religionen zu werfen. Es zeigt sich
dann sofort, dass auch das Jndenthum, der Islam und selbst das
Christenthum eine unzählbare Menge von Wundem aufzuweisen
haben, und zwar gerade auch von Wundem in dem alten ächten
Sinne der Furchtreligion. Wie soll man sich dies erklären?
Offenbar doch nur dadurch, dass wir die Furchtreligion auch bei
allem Fortschritt sittlicher und intellectueller Bildung nicht los
werden können. Und waram nicht? Weil diese alte Religion
auf Furcht und Hoffnung aufgebaut ist, d. h. auf die allgemein-
sten Affekte der Selbstsucht, die alle leiblichen, persönlichen und
socialen Interessen der Menschen umfassen und deren der Mensch
nicht ledig wird, so lange er „er selbst" bleibt. Folglich wird
sich in jede höhere Religion entweder rechtmässig oder unrecht-
mässig auch ein aus der Religion der Furcht stammendes Ele-
ment einmischen, und mithin ist a priori einzusehen, dass und
wamm die dahin gehörenden Wunder eine so allgemeine Ver-
breitung finden müssen. In jeder höheren Religion sind sie aber
ein dem specifischen Charakter derselben fremdes Element, da
sie, wie oben nachgewiesen, nur der Religion der Furcht eigeu-
thümlich zukommen. Solche fremde Elemente werden nun
entweder mit dem eigenen Gewebe der höheren Religion durch
eine besondere Gedankenfolge vereinigt, oder sie mischen sich
ganz unorganisch ein. In der unreinen Rechtsreligion, z. B. im
Judenthum, werden sie als Strafen oder Belohnungen für Bundes-
treue oder Bundesbmch angesehen und in die Nationalgeschichte,
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 181
wenn auch theilweise von sehr engem Gesichtspunkte aus, doch
im Ganzen mit einem grossartigen und nur den Juden eigenen
Sinn ftlr eine religiöse Weltgeschichte so wirksam verwerthet,
dass sie aus dem Gewebe der ganzen religiösen Gesinnung gar
nicht abzulösen sind. Im Islam dreht es sich meist um blosse
Spektakelstücke, da diese Keligion ja ihrem Wesen nach Furcht-
religion ist und die höheren Ideen bloss als unorganische Ele-
mente eingeschoben enthält. Im Christenthum als Volksreligion,
wenn man darunter alle die verschiedenen Gonfessionen zusam-
menfasst, welche überhaupt den Namen von Christus angenommen
haben, findet man auch alle die verschiedenen Formen der
Wunder vertreten.
Da wir nun als Beligionsphilosophen auf alle Formen der
Religion hinblicken, so werden wir auch die Frage nicht um-
gehen können, ob die Wunder wahr gewesen sind, d. h. wie wir
uns von christlichem oder von philosophischem Standpunkte zu
den früheren Wundergeschichten kritisch verhalten sollen. Das
Wunder ist aber, wie wir sahen, keine einfache Sache; es ist
deshalb ganz in der Ordnung, dass die Kritiker bald auf dieses,
bald auf jenes Element ihr Auge gerichtet und auch nach dem
Locus de pluribus interrogationibus die Gesichtspunkte durch-
einandergemischt und verwechselt haben. Unsere nächste Auf-
gabe ist daher, das Verschiedene auch fttr die Betrachtung zu
scheiden. Nun geht das Wunder als Deutung der Sprache Gottes
immer von gewissen äusseren Erscheinungen als Zeichen aus,
und mithin werden wir zwei Aufgaben zu lösen haben, die Kritik
der Zeichen und die Kritik der Deutungen.
Ueber die Zeichen möchte ich rasch hinweg- ^^^ ^^"^ **«'
gehen; denn es sind ja nur die geringeren Kritiker,
die sich an dies Aeusserliche machen. Da aber auch der grössere
Theil der Religiösen immer mehr oder weniger ungebildet blei-
ben muss, so ist es ganz . natürlich, dass man in der Regel,
wenn vom Wunder gehandelt wird, die leidenschaftlichsten Reden
ftir oder gegen die Annahme der Zeichen zu vernehmen hat, und
die Apologeten, wie ihre Kritiker, überbieten sich dabei in Ge-
schmacklosigkeit und in Unkenntniss der Sache, um die es sich
eigentlich dreht.
Die Apologeten einerseits pflegen den grössten Werth darauf
zu legen, dass die Zeichen so absurd wie möglich sind, damit
182 . Religion der Furcht.
die gefahrliche and erstaunliche Macht ihres Dämons recht haar-
sträubend werde. So mtissen Menschen von einem Orte zu
einem tausende von Meilen entfernten anderen in einem Augen-
blicke versetzt, der Mond muss vom Himmel hemiedergezogen
werden, das Meer muss, wie bei Anepu, um einer Haarlocke
willen bis auf die Berge laufen, die Leute müssen im Magen
eines Fisches, den es nicht giebt, einige Tage residiren, die
Erde muss zittern, die Sonne stillstehen, die trockenen Zweige
müssen in einer Nacht Blätter treiben u. s. w., kurz es fehlte
nur, dass sie die Sonne und den Mond Mazurka tanzen Hessen,
um so recht ihren Mangel an Sinn für die Wahrheit, ihre Un-
kenntniss der Natur und ihren niedrigen religiösen Standpunkt
an den Tag zu legen.
Die Kritiker aber machen es nicht eben besser, indem sie
wie die Aasfliegen bloss um diese armselige Speise herumsum-
men; denn was lohnt es sich, das noch weitläufig zu beweisen,
dass man heut zu Tage in der Zeit einer reichen naturwissen-
schaftlichen Bildung und einer grossen Uebung in historischer
Kritik uns durch. alte Wundergeschichten nicht mehr imponiren
kann. Was gehen uns jetzt die gestauten Wellen des rothen
Meeres an und die redenden Esel und die Himmelfahrten u. dergl.
Es ist nicht eben klug, durch solche Antiquitäten, in die sich
der moderne Mensch nur mit Mühe hineindenkt, die Gemtither
unserer Zeit bewegen zu wollen, gerade als wollte man in die
Rüstkammern laufen und die alte Lanze eines Ritters oder eine
verstaubte Armbrust holen, um damit gegen die Krupp' sehen
Kanonen zu kämpfen. Die Wunder wirken ja nicht, wenn die
Hörer nicht vorher in Furcht waren und das Bedürfhiss fühlten,
einen Seher zu befragen oder das Orakel eines apokalyptischen
Propheten zu vernehmen. Und selbst wenn dies der Fall wäre,
so würden doch nur gegenwärtige Ereignisse Eindruck machen
und nicht unbeglaubigte Geschichten aus einer Culturstufe, die
uns als kindlich und unmündig ersc&einen muss.
Da nun jeder Gebildete hierüber im Reinen ist, so müssen
die Apologeten mit ihren Kritikern, wie der Jude und der Mönch
bei Heinrich Heine, ziemlich denselben Eindruck machen; denn
sie verstehen beide das Wesen des Wunders nicht, behandeln
die Zeichen als Dinge, die in die Naturwissenschaft und Welt-
geschichte gehörten, und reissen sie so aus ihrem natürlichen
uiymzeu uy V^jOOV IC
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 183
Zusammenhange heraus. Es muss eben mit dem Wunder noch
eine andere Bewandniss haben, denn wo man nur in das reli-
giöse Leben der Menschheit hinblickt, überall findet man Wunder
in Menge, und sie haben grosse Wirkungen gethan, ganze Völker
ermuthigt, mächtige Fürsten vom Throne geworfen, Recht und
Unrecht geschieden oder geschützt und die Politik getragen;
immer aber streckten sie ihre Wurzeln in den mütterlichen Boden
des Glaubens, in die Angst der Herzen, in die Rathlosigkeit der
Köpfe. Wer sie ohne diese zugehörigen perspectivischen Um-
stände betrachtet, verfährt so klug, wie Jemand, der die östliche
und westliche Seite des Himmels bestimmen wollte, ohne auf
die Erde Rücksicht zu nehmen.
Wir sahen oben, dass das Wesen des Wunders ^^"^ **'
Deuttmg.
in der Deutung liegt, durch welche irgendeine ge-
wöhnliche oder ungewöhnliche Erscheinung, welche eine unbe-
stiminte Furcht und demgemäss ein religiöses OefQhl erregte,
als Zeichen Gottes oder als Wunder erkannt wird. Der tiefer-
blickende Scharfsinn muss sich deshalb mit der Kritik der reli-
giösen Deutungen beschäftigen; denn nur aus dieser neuen Defi-
nition des Wunders erklärt sich auch der alte Satz, dass Wunder
bloss geschehen, wo sie geglaubt werden, dass Wunder des
Glaubens liebstes Kind sind, dass die Propheten in ihrer Heimath
keine Zeichen thun u. s. w., was ja alles gar nicht wahr sein
könnte, wenn die Wunder an und für sich ausserordentliche Er-
eignisse wären, während sie vielmehr an und für sich irgend-
welche natürliche Ereignisse sind, die nur durch die Deutung,
d. h. durch den Glauben, als Zeichen oder Sprache Gottes, zu
einer Besonderheit gelangen und als Wunder betrachtet werden.
Da nun die Wunder Deutungen sind und vom Priester zur
Belebung der Gottesftircht und zur Leitung der Gläubigen be-
nutzt werden, so erklärt es sich auch leicht, dass selbst in der
Furchtreligion sehr häufig die Kritik gegen sie aufsteht Denn
wenn das Wunder, d. h. die Auslegung eines Ereignisses, etwa
einem Mächtigen zu nachtheilig ist, so empört er sich gegen den
Priester und erkennt die Auslegung und also das Wunder nicht
als wahr an, wie z. B. Agamemnon und Oedipus und Kreon \l A.
Dann hört man: „Nach Gelde giert das Volk der Priester nur^*,
oder „Um des Thrones willen schleicht mir Kreon nach, der mich
aus der Stadt zu treiben strebt, anstellend diesen Zaubermann
184 Religion der Furcht.
(Teiresias), den Ränkeschmied, den listenvollen Gaukler, der im
Wucher bloss scharfsichtig und in seiner Kunst ein Blinder ist,"
oder man lässt die Gänse, die nicht fressen wollen, ersäufen.
Darum gelten auch die Wunder der Einen Religion in einer
andern nichts, was ja natürlich ist, da sie alle vom perspectiv
vischen Standpunkte Wohl und Wehe für den Einzelnen oder
für den Stamm bedeuten und deshalb niemals eine allgemeine
Bedeutung haben können.
Wenn wir nun als Philosophen über die Wahrheit der
Wunder urtheilen sollen, so haben wir die Frage zu stellen, ob
die gegebenen Zeichen zu der perspectivischen Deutung derselben
zwingen und ob also die Wundergeschichte insofern eine rich-
tige religiöse Interpretation ist. Dass diese Art der
Stellung des Problems nicht so paradox ist, wie sie scheinen
könnte, da man bisher über die Wunder ganz anders zu raison-
nieren pflegte, lässt sich leicht beweisen, wenn man sich in
die Religionsgeschichte näher einlässt. Denn man weiss doch,
dass reiche Leute unter den Hellenen und Barbaren häufig meh-
rere Orakel mit vielen Geschenken befragten, um eine Deutung
zu finden, die ihrem Gemüthszustande, ihren Meinungen von den
Göttern und den bezüglichen Ereignissen am Besten entspräche.
So fragte auch der biblische Pharao die egyptischen Priester,
alle Wahrsager des Landes und den Joseph, um eine seinem
ganzen Zustande entsprechende, perspectivisch richtige Inter-
pretation seiner Träume zu erhalten. Es ist daher nicht paradox,
sondern gerade der Sache und der religiösen Ueberzeugung an-
gemessen, wenn ich die Kritik der Wunder in dieser Weise for-
muliere.
Freilich ist guter Rath theuer, wenn wir jetzt eine gescheidte
Antwort auf eine so schwierige Frage geben sollen; denn wir
haben, wenn wir die Gleichung ansetzen, lauter x, y, z, da die
bekannten Grössen, nämlich die Träume, die Blitze, die Adler u. s. w.
ja nicht nach ihrer naturwissenschaftlichen Qualification in Frage
kommen, sondern nach ihrer Bedeutung in der Sprache der
Götter, flir welche es weder Lexikon, noch Grammatik giebt.
Glücklicher Weise ist aber die Welt so eingerichtet, dass die
Noth die Mutter der Erfindungen ist, und so führt uns auch die
peinliche Verlegenheit unserem Problem gegenüber sehr bald zu
der Entdeckung, dass die Interpretationsgesetze der Wunder
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 185
durchatis nicht in irgend einer theoretischen Sphäre liegen. Mit
bloss didaktischem Vortrage kann man keinen Hund vom Ofen
locken und weder die Völker und Könige leiten, noch das ge-
ängstete Herz der Gläubigen befriedigen; dazu gehört vielmehr
eine grosse und mächtige Kunst, die hier in ihr Recht eingesetzt
werden muss, die unbeschränkte Herrin über alle Entschlüsse
der Menschen, die Beredtsamkeit, und folglich geht die Frage
in eine neue Fassung über, nämlich in die Kritik der religiösen
Rhetorik.
So ganz handlich und spruchreif ist uns übrigens
hiermit die Sache doch noch nicht zurechtgemacht; ^* Wirkung.
denn die Kritik der Rhetorik hat wieder ihre zwei Seiten, die
nicht mit einem Worte erledigt werden können. Zunächst sehen
wir aber sofort, dass alle Redner den Werth ihrer Leistung nach
dem Erfolge beurtheilt wissen wollen. Hätte deshalb Kalchas
bei Homer seine Rede, worin er die religiöse Interpretation der
Pest gab, flir Brettschneider, R^nan u. A. plausibel machen
wollen, so wäre seine Rhetorik verfehlt gewesen; denn diese
Kritiker würden nicht tiberzeugt worden sein; es genügte ihm
aber, dass er, der alte schwache Mann, den gössen König
Agamemnon und das gewaltige Heer der Griechen zum Gehorsam
zwang und sie durch die in ihnen erregte eigene Ueberzeugung
von der Richtigkeit seiner Interpretation dazu nöthigte, eine sehr
kostspielige und zeitraubende Expedition zur Versöhnung eines
entfernt wohnenden Priesterkönigs auszusenden. Für die Medicin
ist hierdurch zur Diagnose der Pest nichts gewonnen und nichts
für die Therapie; die vielen Generationen der Griechen aber,
die sich an solchen alten Wundergeschichten berauschten, be-
urtheilten die Leistung des Kalchas offenbar nach dem Erfolge.
Mithin müssen wir von dieser Seite der Beredtsamkeit aus-
gehend die Kritik der Wunder zu der Entscheidung führen, dass
nur diejenigen Wunder anzuerkennen sind, welche Glauben ge-
funden haben, und dass nur diejenigen Wunder noch jetzt er-
zählt und irgendwie benutzt werden dürfen, welche noch jetzt
in dem jedesmal zugehörigen Kreise Glauben finden oder eine
gemüthbewegende Wirkung ausüben können. Wenn sich deshalb
die Griechen, die Inder, die Israeliten und auch die Christen
viele Jahrhunderte lang ihrer alten Wunder bedienten und sie
in ihre Gesänge, Tragödien und Reden verflochten, so ist nichts
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186 Religion der Furcht.
dagegen einzuwenden, weil vom Standpunkt der Beredtsamkeit
dieses Mittel brauchbar und erfolgreich war; wenn man aber
heutzutage bei modern Gebildeten damit Fiasco macht, so ver-
urtheilt die Ehetorik mit Recht einen so ungeschickten Gebrauch.
Jede fiede ist ungeschickt und verfehlt, die durch Argumente
wirken will, welche nicht wirken und nicht mehr wirken können.
Deshalb würde auch heutzutage das Christenthum keinen Schuss
Pulver mehr werth sein, wenn seine Macht bloss auf Verwandeln
von Wasser in Wein, auf Todtenerweckungen, Himmelfahrten
und Auferstehungen gestützt werden müsste; denn die Religion
ist keine Antiquität, sondern eine lebendige Macht, und sie
müsste für unwahr gelten, wenn sie nicht auf gegenwärtig
wirkenden Kräften ruhte. Der Redner und also auch der Prediger
hat seine Zuhörer nicht überzeugen zu wollen mit Argumenten,
die vor zweitausend Jahren Eindruck machten, sondern mit
solchen, die jetzt unser Herz bewegen. Nirgends auch haben
die grossen Redner und Propheten ihre Beredtsamkeit auf Er-
zählung alter Geschichten begründet, sondern immer auf gegen-
wärtige Ereignisse, die sie als Wunder deuteten, und sie haben
das Alte nur als eine Bestätigung mit erwähnt, sofern sie auf
die geeignete Glauben^tmosphäre rechnen konnten.
Obgleich nun die grossen Meister der Beredt-
2. Die Wahrheit, g^mkeit als höchstes Gesetz und Kriterium ihrer
Kunst immer nur die Wirkung und den Erfolg hinstellen und
also bloss die Macht über die Gemüther in's Auge fassen, so
werden wir Philosophen dennoch der warnenden Stimme des
göttlichen Piaton folgen, der eine solche Kunst für gesinnungslos
und staatsgefahrlich erklärt und auch ihr gegenüber eine noch
höhere Norm, die Wahrheit, geltend macht
Die Frage nach der Wahrheit wirft uns aber nicht etwa in
die schon oben erledigten Schwierigkeiten zurück, sondern thürmt
uns vielmehr Berge von neuen und grösseren Schwierigkeiten
auf, die nicht so leicht zu überwinden sind. Deshalb ist es gut,
die Arbeit zu theilen, und zwar wollen wir zunächst als Kritiker
die religiösen Redner nach diesem Gesichtspunkte der Wahrheit
beurtheilen und dann erst in speculativer Forschung den philo-
sophischen Begriff des Wunders zu finden suchen.
Wenn es sich nun um die Wahrheit des Wunders dreht, so
müssen sowohl die angeführten Zeichen, als auch die darauf
uiuuizeu uy V^J vJVJ V In-
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 187
begründeten Deutungen wahr sein, beides aber darf nicht vom
Standpunkte der Naturwissenschaft oder der Geschichte, sondern
nur nach dem populären Bewusstsein beurtheilt werden, weil es
sich um Beredtsamkeit und um Lebensfragen handelt und nicht
um Erörterungen theoretischer Wissenschaft; denn Jeder richtet
sich im Leben nach dem, wovon er tiberzeugt ist, und nur in
den seltensten Fällen hat man Zeit und Veranlassung, vor seiner
Entscheidung noch Theoretiker zu befragen und Experimente
anzustellen. Auch beziehen sich die Handlungen auf das individuelle
Gebiet, von dem der Theoretiker nichts wissen kann, wie z. B.
kein Naturforscher mit aller seiner Wissenschaft zu ergründen
im Stande ist, warum mein Pferd John heisst und von wem ich
es gekauft habe. Ebenso sind die Werthabschätzungen aller der-
jenigen Dinge, die wir in jedem Augenblicke erstreben, per-
spectivischer Art, und der Nationalökonom wird den Werth eines
Ringes immer anders taxieren, als die glückliche Braut. Aus
diesem Grunde ist der logische Satz vom Widerspruch nur mit
Vorsicht zu gebrauchen, da widersprechende Urtheile sehr wohl
zu gleicher Zeit wahr sein können, wenn man nur die perspec-
tivisch gegebenen Umstände hinzunimmt. Ebendarum befindet
man sich den alten Wundern gegenüber meistens in einer ftlr
dieselben sehr ungünstigen Lage, da man die damalige augen-
blickliche Gemüthsaufregung nicht theilt und da auch die augen-
blicklichen Hoffiiungen und Befürchtungen, auf welche damals
die Deutung begründet wurde, ausser unserem Gesichtsfelde
liegen. Wie man um Mittagszeit keine Gespenstergeschichten
erzählen wird, sondern erst am späten Abend, so sind wir auch
den Wundergeschichten gegenüber in einer meistentheils ganz
ungeeigneten Gemüthsverfassung. Nun bekennen wir uns aber
zum Christenthum und haben mithin ein Interesse daran, über
die Wahrheit der in den christlichen Schriften erzählten Wunder
ein festes Bewusstsein zu gewinnen. Da es aber hier unsere
Aufgabe nicht sein kann, alle die Einzelheiten durchzugehen und
zu prüfen, so muss es uns genügen, ein Princip zu gewinnen,
nach dem wir über alle die Einzelheiten zu urtheilcn haben.
Zunächst ist darum aus dem früher Bewiesenen in Erinne-
rung zu bringen, dass die Zeichen für die Wunder immer nur
Anlass und Nebensache sind, da das Wunder in der Deutung
besteht Mithin muss uns als Princip gelten, die Nebensache
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
188 Beligion der Furcht.
für die Nebensache zu halten und die Hauptsache für die Haupt-
sache. Es dreht sich daher um die Deutungen und diese zer-
fallen in zwei grosse Gnippen. Die erste Gruppe gehört der
Furchtreligion und umfasst alle diejenigen Deutungen, die nur
für die Damaligen ein perspectivisches Interesse hatten, z. B. ob
sie siegen oder unterliegen würden, ob ein Kind ihnen vom Tode
gerettet oder sterben werde u. s. w. Die zweite Gruppe aber
findet sich in den höheren Religionen und bietet Deutungen, die
ein sittliches oder allgemein menschliches Interesse berühren.
Für unsere Kritik kommt natürlich nur diese zweite Gruppe in
Betracht und wir können als Princip aufstellen, dass der
Glaube an die sogenannten Wunder nur von dem Werthe
ihrer Deutung abhängt. Je tiefer die sittlichen Ideen sind,
die der Prophet dabei erschliesst, je wichtiger das allgemein
menschliche Interesse der Furcht und der Hoflhung ist, das dabei
erregt wird, je schöner und geistvoller die Allegorie erscheint,
welche sich an die Wundergeschichte anschliesst, desto lieber,
desto wichtiger, desto überzeugender werden uns auch die Wunder;
denn nicht der Glaube an die angeblichen wunderbaren That-
sachen trägt den Inhalt und Sinn des Wunders, sondern die
geraüthbewegende Macht dieses geistigen Werthes verklärt auch
die oft trivialen und für die moderne Auffassung unerträglichen
Zaubergeschichten und wirft den Glanz der Poesie, den warmen
Hauch des Herzens und den tiefen Ernst des Gedankens wie
einen schützenden Mantel über sie.
Um diese Principien für die Kritik der Wunder zu erläutern,
wollen wir ein paar Beispiele analysieren. Savonarola befand
sich 1496 in Florenz mit seinen Gläubigen in der äussersten
Bedrängniss; die Hungersnoth war so gross, dass die Landleute
nach Brot in die Stadt kommen mussten und dort elend in den
Strassen lagen; die Pest wüthete; der Hafen war von den
Feinden fest blockirt; die Franzosen kamen nicht zu Hilfe;
nirgends Hoffnung. Da lässt Savonarola eine ungeheure Pro-
cession durch die Strassen ziehen und plötzlich sprengte ein
Reiter mit grünem Zweige, den er schwenkte, durch das Ge-
dränge der Menschen und verkündete jubelnd die Landung eines
Getreideschiffes. Die Noth war zu Ende; Gott hatte durch ein
Wunder geholfen und sich seinem Propheten Savonarola zu-
geneigt. — Hier ist gegen das Zeichen nichts einzuwenden, und
Allgemeinere Fragen. Das Wnnder. 189
die Deutung ist perspectivisch richtig; aber das ganze Wunder
wirkte nur auf die Betheiligten, stärkte sie in ihrer Ueberzeugung
und ihrem Muthe, und gehOrt, weil es sich bloss um Furcht und
Hoffnung in Bezug auf äusserliche Dinge dreht, wesentlich in
die Furchtreligion.
Betrachten wir jetzt das Wunder, ohne welches, wie der
Apostel Paulus sagt, die Predigt des Evangeliums eitel sein
soll. Was sind die Zeichen? Er und viele Gläubige haben den
Auferstandenen gesehen. Man braucht aber kaum von den
juridischen Schwierigkeiten, Indicien und Gautelen etwas zu
wissen, die bei jeder Frage der Identification einer Person auf-
tauchen, um sofort darüber im Beinen zu sein, dass auch nicht der
Schatten eines gerichtlich oder wissenschaftlich gültigen Beweises
ftr die Auferstehungs-Thatsache zu erkennen ist Denn da
Paulus jenen Jesus, so lange er lebte, niemals gesehen oder ge-
hört hatte, so konnte er auch nicht darüber urtheilen, ob das
Bild in seinem Gesichtssinne und die Stimme in seinem Gehörs-
sinne dem ihm Unbekannten angehörten. Um über Aehnlichkeit
oder Identität zu urtheilen, muss man das zu Vergleichende
kennen. Allein gerade an diesem Beispiele kann man sehen,
wie nebensächlich die Zeichen sind, und wie verkehrt die
modernen Apologeten verfahren, die daraus eine Zänkerei mit
den Naturforschern machen und die Kanzeln mit leeren Dispu-
tationen entweihen; denn der religiöse Beweis gehört in die
Beredtsamkeit, und was dem Gemüthe genügt, das genügt
schlechthin. Des Paulus Beweis war deshalb bloss eine kurze
Appellation an die Glaubwürdigkeit derer, welche das Ereigniss
verkündeten: „Ich, dem ihr glaubt, hab' ihn gesehen; viele, die
ihr kennt und denen ihr glaubt, haben ihn gesehen.^^ Kein Wort
von gerichtlicher oder naturwissenschaftlicher Beweisftlhrung; es
genügt, wenn Paulus selbst überzeugt war und als Meister der
Beredtsamkeit seine hohe religiöse Begeisterung den Gläubigen
mitzutheilen verstand. Diese Begeisterung entsprang aber aus
der Deutung, in welcher das Wesen des Wunders liegt; denn
Gott eröffnete damit den Blick in die jenseitige Welt, in die
Welt, wo wir unverweslich weiter leben sollen, wo die Macht
und die Tyrannei der Menschen aufhört und Gott in seinem
Königreiche herrlich und beseligend regiert.
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190 Religion der Furcht.
Sollen wir uns nun an die Kritik der Zeichen hängen?
Sollen wir eine Frage, die der Beredtsamkeit und der unmittel-
baren Ueberzeugung angehört, vor das gerichtliche und natur-
wissenschaftliche Forum bringen, oder gar durch die Analogien
des albernen Spiritismus die Sache herabziehen? Ich denke,
wir überlassen diese Geschmacklosigkeiten solchen Leuten, die
weder der Wissenschaft, noch der Religion zu dienen fähig sind
und der Schulung der Methodik entbehren 5 denn wir können ja
gleich a priori erkennen, dass nach allem Für und Wider sich
nur ergeben wird, dass die angeftihrten Beweise der Auf-
erstehung für einen gerichtlichen Urtheilsspruch und für eine
naturwissenschaftliche Erkenntniss nicht ausreichen, und dies
wussten wir ja schon, da es sich um ein Wunder dreht, also
um eine Deutung, bei welcher die Zeichen als blosse Veran-
lassung nur nebenbei mit weiser Beschränkung angeftihrt werden
dürfen, da jedes Vordrängen dieser Nebensachen den Eindruck
des Wesentlichen, die Erftilluug der Seele mit dem Inhalte der
Deutung beeinträchtigen muss. Und welches Urtheil hat die
Geschichte über die Beredtsandteit des Paulus gefällt? Wir
könnten daraus ein neues Wunder machen; denn mit einem
Strohhalm von Beweis hat seine eigene Ueberzeugung Tausende
seiner Zeitgenossen überwältigt, hat die christliche Kirche be-
gründet und schon Jahrhunderte, ja ein paar Jahrtausende hin-
durch die ganze höher gebildete Menschheit ergriffen, getröstet
und zu der schönsten und kräftigsten Hofihung begeistert.
Spricht daraus nicht Gott, der mit den schwächsten Mitteln die
grössten und theuersten Wahrheiten zur Anerkennung bringt und
mit seinen gering beglaubigten, aber mit unmittelbarer Kraft
überzeugenden Geheimnissen ein die Welt überwindendes und be-
seligendes Leben begründet?
Wir können deshalb als Princip der Kritik aufstellen, dass
die Richtigkeit der religiösen Interpretation eines Zeichens und
mithin das Wunder anzuerkennen ist, wenn erstens die Zeichen
für den Zweck der Beredtsamkeit genügen und das mehr oder
weniger gebildete gläubige Publikum nicht abschrecken und
nicht zu nicht- religiösen Reflexionen veranlassen und zweitens
wenn die Deutung den perspectivisch gegebenen Umständen ent-
spricht und zugleich auch eine ftir uns werthvolle religiöse Wahr-
heit enthüllt. So z. B. sind bei dem Paulinischen Auferstehungs-
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 191
wunder die Zeichen in der Art angegeben, wie sie für Leute,
die nicht erkenntnisstheoretisch und kritisch geschult sind, in der
Regel genügen. Es bleibt nämlich die Gränzlinie zwischen der
Subjectivität und Objectivität des Phänomens unbestimmt, da der
blosse Eindruck und die unmittelbare Ueberzeugung entscheiden,
ohne dass ein naturwissenschaftliches Interesse zu kritischer
Nachforschung wachgerufen würde. Mithin wird durch die zweck-
entsprechende Kürze in der beredten Mittheilung der Zeichen
unsere moderne Kritik entwaffnet, weil der Apostel sogar auch
etwa die Subjectivität der Erscheinung zugeben und dennoch
daraus seine Deutung ableiten könnte. Die Deutung aber ent-
hüllt ein Geheimniss, das viel grösser und merkwürdiger als das
Zeichen ist, nämlich die ewige Bedeutung der Persönlichkeit,
die neue Metaphysik des Christenthums, welche die sinnlichen,
sogenannten Gegenstände oder Erscheinungen als bloss vergäng-
liche Beziehungen hinstellt und die ewige Welt der wahrhaften
Wesen zu einer entzückenden Anschauung bringt. Wegen der
Wahrheit dieser Deutung hat Paulus mit seinem Wunder gesiegt;
diese Wahrheit, welche von einer wirklich exacten Philosophie
anerkannt wird, muss das offenbare Geheimniss und die geheim-
nissvolle Offenbarung des Evangeliums bleiben, und mit diesem
Wunder steht und fällt, wie der Apostel sagt, die Wahrheit des
Christenthums.
c. Philosophischer Begriff des Wunders.
Nachdem wir den Begriff des Wunders in der Furchtreligion
bestimmt und die allgemeinen Grundsätze der Kritik der Wunder-
geschichten abgeleitet haben, bleibt uns die Frage übrig, ob wir
uns auch eine Beligion ohne Wunder denken können. Es giebt
ja unter den sogenannten Gebildeten immer noth wendig eine
grosse Masse von Plebejern, wie sie Cicero nennt, die fiir die
höchsten Gesichtspunkte der Menschheit kein Auge haben und
die deshalb auch die Beligion auf blosse Moralität zurückftihren
möchten, weil, der unmittelbare und tageshelle Verkehr des
Menschen mit Gott, den jede Beligion fordert, ihnen eine Schatten-
welt bleibt, während sie, wie die Fledermäuse nach Aristoteles
Metapher, in dem Dämmerlicht der Sinnlichkeit sich mit ihrem
Gesichte wohl zurechtfinden können. Da nun die Wunder noth-
wendig und immer einen vermeinten oder wirklichen Verkehr
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192 Religion der Furcht.
mit dem göttlichen Wesen bedeuten, das durch Menschen oder
Naturerscheinungen zu uns spricht, und ohne solchen Verkehr
zwar ein achtbares Verhalten der Menschen untereinander und
eine verständige Erkenntniss der Naturerscheinungen, aber keine
religiöse Stimmung möglich ist, so dürfen wir die Mühe nicht
scheuen, noch den philosophischen Begriff des Wunders zu er-
örtern, mit welchem die Religion unzertrennlich verknüpft ist.
1. DicThat- Erörtern wir zunächst die Thatsachen-Frage, ob
Mcben-Fragc. in uuscrcr aufgeklärten Zeit und zwar nicht etwa
bloss bei den verschrieenen Gläubigen, sondern auch bei den so-
genannten Ungläubigen noch Wunder geschehen. Das oberfläch-
liche Urtheil wird zwar sofort bereit sein, das Aufhören der
Wunder zu constatiren, weil die kindliche Form der Auffassung
und Mittheilung von Wundem im Grossen und Ganzen aufgehört
hat; der Philosoph aber, dem die Urtheile der Presse und über-
haupt alle die Tagesmeinungen, welcher Art sie auch sein
mögen, vollständig gleichgültig sind, wird gerade, weil er seine
Schlusssätze auf besseres, nämlich auf ewiges Fundament zu legen
hat, die allgemeinen und unveränderlichen Goordinationeu in dem
menschlichen Geiste selbst studiren, um dann zu erkennen, dass
Wunder geschehen werden, so lange Menschen vorhanden sind,
für die sie sich ereignen können, ganz einerlei, in welcher Zeit
sie leben mögen, und ob sie gebildet oder ungebildet, Natur-
forscher oder was auch immer sind. Ehe ich diesen Satz be-
weise, will ich an die äusseren Thatsachen erinnern. Als Philo-
soph wird man natürlich für die Constatirung einer Wunder-
geschichte nicht den ganzen scenischen Apparat der verschie-
denen einzelnen Religionen mit ihren zugehörigen Götter- und
Dämonen-Vorstellungen fordern, sondern nur die allgemeinen Be-
dingungen, die in der Definition des Wunders liegen.
Da wir aber Wundergeschichten bei ganz Ungläubigen nach-
weisen sollen, so müssen wir natürlich die Gottesvorstellung
durch die dem Unglauben zugehörige Coordinate ersetzen, weil
die Gleichung sonst fehlerhaft würde. An die Stelle des per-
sönlichen Gottes tritt also bei dem trivialen Ungläubigen als
homologes Glied der Zufall. Sobald man diese noth wendige
Correctur angebracht hat, kann nun Jedermann auch heute noch
überall die Wunder mit Händen greifen, wohin er nur auch mit
geschlossenen Augen seine Finger ausstrecken möge. Denn ganz
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 193
abgesehen von solchen bedeutenden Natnren, die, wie Göthe, von
der Bildung vieler Jahrhunderte berührt, doch zu keinem streng
wissenschaftlichen Abschluss ihrer Ueberzeugung gelangt sind,
weshalb bei den wunderbaren Fügungen in ihrem Leben,
die sie zu erzählen pflegen, der eigentliche Agent unklar bleibt,
so kann man auch tagtäglich auf der Strasse hören, wie Crethi
und Plethi sich über irgend einen wunderbaren Zufall unter-
hält. Bald dreht es sich um grosse und wichtige Ereignisse,
wie eine gewonnene oder verlorene Schlacht, deren Entscheidung
an einem Haare hing, durch einen wunderbaren Zufall zu Gun-
sten des Einen, zum Unglück des Andern gewendet wurde;
bald aber betrifft der wunderbare Zufall auch nur die kleineren
Privatangelegenheiten, z. B. wie seltsam es sich fügte, dass der
Hans seine Grethe fand, oder wie der sich schon verloren Ge-
bende durch zufölliges Vorbeikommen eines Andern aus den Hän-
den eines Banditen gerettet wurde, oder wie es sich fügte, dass
ein Reicher plötzlich sein Vermögen verlor und ein Armer zu
Gelde kam u. s. w.
Um nun den Schluss zu begründen, dass diese Zufalls -Ge-
schichten der Ungläubigen ächte Wundergeschichten sind, müssen
wir den terminus medius, d. h. die in der Definition des Wun-
ders gegebenen constitutiven Beziehungspunkte herausheben. Nun
dreht es sich in allen diesen imd unzähligen anderen Fällen um
Ereignisse, die für uns ein Unglück oder Glück in sich sdiliessen
und also auf Furcht und Hoffnung bezogen sindj zugleich
wird hier trotz der völligen Natürlichkeit der Vorgänge das
Ereigniss dennoch überall wunderbar genannt, d. h. also als
ein Wunder betrachtet, weil die Vorgänge nicht nach ihrer natur-
wissenschaftlichen Seite in Frage kommen, sondern nach der
perspectivischen Beziehung, sofern sie flir unser persönliches
Wohl oder Wehe etwas bedeuten. Und es wird die Ursache
des Ereignisses auch ganz wie bei den angeblich prähistorischen
Wundem nicht in den physischen Agentien gesucht, weil diese
ja nach allgemeinen Naturgesetzen wirken, gleichgültig gegen
das Individuelle sind und also mit unserem Wohl und Wehe
nichts zu thun haben, sondern in dem Zufall, der hier die Stelle
des Gottes vertritt. Die Zweifler und Spötter thun also gut,
sich stille zu verhalten und zu beruhigen; denn die Gläubigen
könnten ihnen den Spott reichlich zurückgeben, da die wunder-
Teichxnüllor, RellgionsphlloBophie. 13 C^ r\r\rs}r>
uiyiiizeu uy Vj WvJV IC
194 Keligion der Furcht
barcii Zufiille als triviale Wundergeschicliten heute noch ebenso
dicht gesäet sind, wie einst die poetischen und gemüthvolleren
Wunder.
Um nun unserer zweiten Aufgabe zu genügen,
nämlich die unentbehrlichkeit der Wunder für den
religi()8en Menschen schlechthin mit mathematischer Gewissheit
zu beweisen, so gehen wir am besten von dem Begriflf aus, der
bei dieser Constatirung der Thatsachen hervorsprang, nämlich
von dem Begriflf des Zufalls.
a Die zusam- ^^^ Mcusch ist durch seine Fähigkeit zu denken
nienhauge und in vicl höherem Grade als das Thier darauf ange-
^^Grimdc^"^ legt, den Zusammenhängen von Allem, was ge-
schieht, nachzuspüren; denn wenn schon das Thier in
seinem beschränkten Lebenskreise sich unbewusst dazu getrieben
fühlt, so geht bei dem Menschen dieser Trieb in's Unendliche,
da der Mensch seinen Lebenskreis mit dem Universum in Con-
gruenz setzt und alle Zusammenhänge in der ganzen Welt zu
erforschen sucht, wie er selbst die entfernten Nebelflecke jeiiseit
der Milchstrasse dazu benutzt, um sich die Vorgänge bei der
Bildung unseres Sonnensystems und überhatipt den physischen
Bau der Welt zu erklären. Im Anfang der Cultur freilich wird
nur, was nützt oder schadet, beachtet, und die Furchtreligion
steht deshalb noch hart an der Gränze der Thierheit, da sie auf
die selbstsüchtigen AflTecte von Furcht und Hoflfnung aufgebaut
ist, wenn auch die Erhebung zur Gottesvorstellung schon eine
tiefe Kluft an dieser Gränzregion reisst, über welche das Thier
nie in das Gebiet des Menschen hinübergelangen kann. Bei
höherer Bildung aber kommt der Mensch dazu, alles Geschehen
auf Gesetze zurückzuführen, und so hält er sich für klug, wenn
es ihm gelingt, darin die sogenannten Gründe zu erkennen.
b Die zweite Unübertrefflich wäre nun diese Klugheit und viel-
präiiiiwe. leicht sogar hinreichend, die Religion auf den Aiis-
trTffeuTc" Sterbeetat zu setzen, wenn die empirischen Schlüsse
Einzelnen, uicht dic unglticklichc Mitgift von zwei Prämissen
besässen, von denen bloss der Obersatz den Gesetzen eingeräumt
wird, während der Untersatz immer durch die nicht erschliess-
bare Oflfenbarung der Sinne gegeben werden muss. So weiss
ich z. B. durch den Obersatz nur, dass brennbare Körper ver-
brennen können; dass aber im Jahre 1G92 gerade in der Ab-
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 195
Wesenheit Newton's ein Leuchter umfallen und sein fertiges Manu-
seript über Optik Feuer fangen musste, das kann in keinem
Lehrbuche der Physik jemals bewiesen werden. Wenn nun aber
schon die Nothwendigkeit des Untersatzes, d. h. die Kenntniss
der Thatsaehen und der unerschliessbaren einzelnen Existenz
und des wirklichen Zustandes der Dinge, der Wissenschaft eine
untibersteigliche Gränze setzt, so noch mehr der leidige Umstand,
dass die einzelnen Dinge sich nicht bloss in ihrem Gebiete halten,
sondern in das Gebiet der anderen Dinge irgendwo, irgendwann
und irgendwie hinübergreifen und so die Erscheinungen hervor-
rufen, die wir zufällige zu nennen gewöhnt sind. Was hat
das Feuer seiner Natur nach mit Newton und seinem Manuscript
zu thun? Und wenn aucli, dass die Hunde beissen können, in
jeder Naturgeschichte steht, so kann doch, dass Euripides bei
seinem Aufenthalt am macedonischen Hofe von Hunden zerrissen
werden musste, keine Wissenschaft auf Naturgesetze zurückführen
und aus einem einleuchtenden Grunde erklären, weil die Gründe
immer nur das Allgemeine, aber weder das Einzelne, noch
die unübersehbaren Möglichkeiten des Zusammentreffens der
einzelnen Dinge darzulegen vermögen. Wenn dies gelingen
könnte, so würde sofort der Begriff des Zufalls aus der Welt
verschwinden, und der Name Zufall würde nur als eine cultur-
geschichtliche Antiquität schwerverständlicher Art überliefert
werden, wie etwa seit Torricelli der „Abscheu der Natur vor
dem leeren Kaum" nicht mehr bei der Anlage von Brunnen im
Munde gefiihrt wird. Wenn aber die Wahrscheinlichkeit des
Nichtgewinnens bei einer Prämienanleihe für ein oder mehrere
Loose und ebenso die wahrscheinliche Sicherheit vor dem Blitz-
strahl leicht auszurechnen ist, so ist damit auch nicht entfernt
der Zufall erklärt, und kein Statistiker und kein Physiker hat
jemals ergründet, warum gerade Hinz und nicht Kunz das grosse
Loos gewann und warum gerade Melanchthon vom Blitz nieder-
geworfen wurde.
Wir stehen hier vor einer sehr wichtigen Frage
^ ° c. Der Satz
der Beligionsphilosophie, vor einer Frage, die den vom orunde
Schlüssel des Wunderlandes des Glaubens in Gewahr- ™^ ^** ^""
fällige.
sam hält, und müssen daher mit Vorsicht und exacter
Wissenschaftlichkeit die Untersuchung führen. Besinnen wir uns
also auf den Ausgangspunkt. Es handelte sich dort um die
uiyiiized by VjOOQIC
196 Religion der Furcht.
Privilegien der Menschheit, alle Zusammenhänge aller Dinge zu er-
forschen und den unbedingten Gebrauch vom Satze des zureichen-
den Grundes zu fordern. Demgemäss verlangen wir zunächst
die mechanische Erklärung alles Geschehens nach den Gesetzen
der Physik und Chemie und nach allen erreichbaren Wissen-
schaften. Nun kommt aber die Thatsache der einzelnen Dinge
und ihres ZusammentreflFens. Sollen wir hier die Waffen strecken?
d. h. sollen wir die Forderung des Gebrauchs unseres Verstandes
und unserer Vernunft hier fallen lassen und auf Gründe ver-
zichten?
Der Gläubige der Furchtreligion hält nun die Forderung des
Vernunftgebrauchs aufrecht-, aber er erlaubt seiner schweifenden
Phantasie, die Ursachen durch uncontroUirbare Vorstellungen zu
bestimmen, indem er z. B. den Schiffbruch des Odysseus, der
durch das ZusammeAtreffen von Meer und Sturm und Schiff ent-
stand, auf den .Zorn Poseidons als auf seinen hinreichenden
Grund zurückführt, weil dieser ja zürnte und ein Zürnender
seinem Feinde immer Gram, Noth und Schaden zu bereiten
sucht. Wir können daher in der Furchtreligion nur das Geltend-
machen der Vemunftforderung loben, müssen aber die naive
Methode ihrer theologischen Interpretation der Naturerscheinungen
aufgeben.
Was sagt jedoch der Klügling unserer Zeit? Was weiss er
Wissenschaftlicheres an die Stelle zu setzen? Es ist zum Lachen
und zum Spotten; denn er weiss Nichts als ein Wort auf den
Markt zu bringen, den Zufall. Dass alle Ereignisse, die uns
Wohl oder Wehe verursachen, das Resultat mechanischer oder
chemischer Kräfte und nach allgemeinen Gesetzen aus den Eigen-
schaften der zusammentreffenden einzelnen Stoffe oder Dinge
möglich sind, das wussten wir ja freilich; aber weshalb dies Er-
eigniss uns oder unseren Freunden und Feinden jetzt gerade hier
und unter diesen Umständen nützen oder schaden musste, das
wollten wir gern erfragen. „Das war zufällig und hat weiter
keinen Grund", lautet die Antwort. Da sind wir also an die
Rechten gekommen, d. h. an die Schlechten, die nicht den Muth
haben, die Forderungen der Vernunft unbedingt geltend zu
machen. Wir werfen sie daher bei Seite zu den Uebrigen; denn
sie erklären bloss, was unserer Frage vorher geht, und halten
sich bei der weiter vorwärts drängenden Frage ausser Schussweite.
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 197
Giebt es denn aber eine Möglichkeit und ein
d. Deduction
Recht, den Satz des Grundes wirklich auch auf das der Gültigkeit
Gebiet des Zufillligen zu erstrecken, und ist der «^o« »•t.e« vom
TT iT^, . -ii-i. * rw Grunde für dafi
Hunger nach Erkenntniss, d. h. hier einen Zusammen- oebict den zu.
hang von Grund und Folge, Ursache und Wirkung, ftiüRen.
Zweck und Mittel einsehen zu wollen, nicht vielleicht Gottes.
eine durch übertriebene Wissenschaftlichkeit entstan-
dene krankhafte üeberreizung der Nerven? Das ist jedoch nur
die Frage und das Bedenken der Denkmatten und Yemunftlah-
men; Vernünftige aber können ein für alle Mal nicht ohne Ver-
nunft auskommen, und dies Bedürfniss ist ihre Stärke und giebt
ihnen auch das Gefühl ihrer Stärke. Vernunft aber ohne Gründe,
ohne Zusammenhang der Erkenntnisse ist ein Eunuch, der als
Sclave im Harem dient. Also wollen wir die Zufallsgläubigen
dorthin senden und unsererseits die Forderungen der Vernunft
unbekümmert weiter durchftihren.
Alles also, was die Menschen Zufall nennen, müssen wir,
wenn Vernunft gebraucht werden soll, als ein vernünftig Geord-
netes betrachten. Wie in einer grossen Fabrik alle einzelnen
Functionen der Arbeiter und alle Maschinen ineinandergreifen,
indem z. B. die Spannkraft der Dämpfe bei einem gewissen
Drucke das Ventil öfihet und dadurch die Wände des Kessels
entlastet, so muss auch, wenn wir unsere Vernunft nicht bekom-
men haben, um sie nicht zu gebrauchen, angenommen werden,
dass alles naturgesetzlich nothwendige Zusammentreffen der
Dinge mit allem Wohl oder Weh, was dadurch auf die einzelnen
Betheiligten zurUckfliesst , einen vernünftigen Zusammenhang
habe und sich mithin für die vollendete Erkenntniss in der Ord-
nung von Grund und Folge darstellen lasse. Da nun der Grund
des Zusammenhangs nicht in dem einen und nicht in dem an-
deren der zusammentreffenden Dinge oder Ereignisse liegen kann,
weil dabei ein jeder Theil bloss mechanisch sein Werk thut,
ohne im Mindesten verantwortlich zu sein für die zufälligen
Nebenerfolge, die dadurch fiir Drittß entstehen, so muss eine über
den Theilen und vor ihnen vorauszusetzende Ursache von der
Vernunft gefordert werden, welche die Gemeinschaft und Zu-
sammenhänge der Theilwirkungen geordnet hat. Ein Baum z. B.
entwickelt sich nach seinem Gesetz, ohne als Ursache daftir in
Anspruch genommen zu werden, dass ein Fink sein Nest darin
uiymzeu uy V^jOOV IC
198 Religion der Furcht.
baut oder ein Unglücklicher sich an einem seiner Aeste erhängt.
So lebt das Mädchen ahnungslos flir sich, ohne durch ihr Wissen
und Wollen die Ursache zu sein, dass ihr Anblick flir schön ge-
halten wird und bei den Männern Liebe erregt, wie auch die
Männer ursprünglich nicht im Traum daran gedacht haben wür-
den, flir Nachkommenschaft; zu sorgen, wenn nicht dieser zu-
fallige Nebenerfolg der Coordination der Geschlechter zur Er-
fahrung gekommen wäre, worauf er dann auch mit Absicht gesucht
werden kann. Wie aber die Coordination des Geschlechts im Allge-
meinen und die einzelnen zugehörigen Thatsachen von Jedermann
als nach Grund und Folge zusammenhängende Ereignisse beur-
theilt und von jedem Unbefangenen auf einen Zweck der Natur
zurückgeführt werden, so müssen wir auch jene anderen Zufällig-
keiten, deren zweckmässiger Zusammenhang nicht ersichtlich ist,
ohne Zögern auf die ganze Einheit der Natur beziehen und nach
der Analogie aus dem Ganzen und der darin waltenden Vernunft
alle Coordinationen aller Dinge mit allen zuföUigen Nebener-
folgen und allem perspectivischen Wohl und Wehe ebenso ab-
fliessen lassen, so lange wir nur im Besitze unserer Vernunft;
bleiben. Denn die Vernunft besteht ja in der Beachtung der
Zusammenhänge und also in der Ausübung des Satzes vom zu-
reichenden Grunde und fordert mithin eine Anerkennung der
Vernünftigkeit der Welt, weil jeder Punkt, den wir davon
ausnehmen möchten, sofort die Vernunft zur Unthätigkeit und
Ungültigkeit verurtheilen würde. So lange Jemand aber bei
Vernunft ist, lässt er sie auch nicht um ihr Recht kommen.
Der vernünftige Zusammenhang der Welt ist aber nicht die
Summe ihrer einzelnen Theile, da diese ja gerade durch den
Zusammenhang erst ihre Existenz und ihren Platz und ihre den
anderen Theilen entsprechende Coordination erhalten. . Mithin
muss der Grund des Zusammenhanges noch über und ausser den
Theilen vorhanden sein, und die Vernunft hat flir diesen allge-
meinen Beziehungsgrund aller Dinge früh den Begriff Gottes ge-
funden und deshalb alles Zufilllige auf die Weltteclmik Gottes,
auf seine Oeconomie oder Regierung zurückgeführt,
e Bc riff des ^^ '^* darum schlechterdings vernünftig, nicht
Wunder«, bloss cineu vernünftigen Zusammenhang zwischen der
Sonne und dem Thier- und Pflanzenleben, zwischen Auge und
Hand, zwischen Ohr und Sprache und zwischen dergleichen
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 199
oflFenkundigen Coordinaten anzunehmen, sondern wir müssen, so
lange wir bei Vernunft sind, auch bei den vielversehlungetien
Fäden des Gewebes unseres Lebens, deren Woher und Wohin wir
nicht enträthseln können, immer als letzten Beziehungsgrund Gott
setzen, durch dessen Vorsehung alle individuellen Verkettungen
der Dinge mit ihrer perspectivischen Beziehung auf unser Wohl
und Wehe bestimmt sind, und mit dem wir durch diese Auf-
fassung unsererseits in einen persönlichen und lebensvollen Ver-
kehr treten, da andererseits alles was geschieht, Zeichen und
Sprache Gottes ist, die wir zu deuten und in Beziehimg worauf
wir Stellung zu nehmen haben. Da wir nun in solcher Sprache
des Gottes und ihrer Deutung für unser persönliches
Leben das Wesen des Wunders erkannten, so befinden wir uns
bei aller nüchternen naturwissenschaftlichen Erklärung der Phä-
nomene doch durch die tiberall gegebenen zufälligen Neben-
erfolge der Dinge, welche weder heute noch jemals zur Natur-
wissenschaft gehören, in einem übernatürlichen Verkehr mit Gott,
sofern wir als metaphysische Wesen zu ihm als metaphysischem
Wesen Stellung nehmen, seine physisch wahrnehmbaren Zeichen
deuten und perspectivisch in die objectiven Phänomene der
Natur und Geschichte auch noch einen für uns bestimmten gött-
lichen Sinn hineinlegen.
Ich will dies noch an dem Beispiele des Dichters erläutern;
denn dass z. B. Kraniche zuweilen über unseren Köpfen hin-
ziehen, ist ein natürliches Ereigniss, dessen Erklärung keine be-
sondere Mühe erfordert; damit ist aber nicht ausgeschlossen,
dass vom perspectivischen Standpunkte Timotheus sich dabei
seines Mordes erinnerte und diese Erscheinung darum mit dem
Hilferuf des Ibikus in Verbindung setzen musste. Da er nun
an Götter glaubte, musste er auch in dieser für die übrigen Zu-
schauer ganz gleichgültigen und gewöhnlichen Erscheinung ein
Wunderzeichen, eine Fügung des rächenden Gottes erkennen,
was in seiner durch die Tragödie erschütterten Seele die Furcht
mächtig auslöste, ihn zum Bekenntniss der Schuld trieb und so
einen Wendepunkt in seinem Leben herbeiführte. Wer weiss
nicht, dass in dem Leben der bedeutenden wie der unbedeuten-
den Menschen immer einmal Zeiten äusserster Bedrängniss oder
Beklemmung eintreten; wenn dann durch ganz natürliche, aber
nicht vorgesehene und nicht allgemein bestimmbare Umstände,
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
200 Religion der Furcht.
die wir zufällig nennen, ein Mensch erscheint, der nns beiläufig
Rettung bringt, so wird derselbe vom perspectivischen Stand-
punkte aus immer als ein Engel Gottes angesehen werden. Und
diese Auffassung widerspricht nicht der natürlichen Erklärung
durch die näheren Umstände, bleibt vielmehr neben derselben zu
Recht bestehend, weil ja nur die Beschränkung des Blicks auf
die einzelnen Theile und Umstände der Sache den Begriff des
Zufälligen erzeugt, während diese scheinbaren Zufälligkeiten,
wie alles Einzelne mit einem Plane und einer Regierung des
Ganzen zu verknüpfen sind.
So scheint es, wenn wir nur das Einzelne, z. B. die Zähne
betrachten, zufallig zu sein, dass unter dem Zwerchfell sich ein
Magen befindet und dass auf dem Felde ein Bauer Korn mäht und
dass der Wind eine Mühle treibt u. s. w., gleichwohl gehören
alle diese Zu&Uigkeiten zu einem technischen Systeme zusammen
und sind nothwendige Schlusssätze zwingender Prämissen für
eine das Ganze und das Einzelne ordnende Intelligenz. Darum
kommen wir zu dem mit streng philosophischer Methode gefun-
denen Resultate, dass die Wunder unentbehrlich sind in jeder,
auch der höchsten Religion, weil Religion immer den Vernunft-
gebrauch voraussetzt und weil nur die Bomirtheit auf freien
Vemunftgebrauch verzichtet, indem sie Wunder läugnet und
dafür den hirnlosen Gott, ich meine den Zufall, walten lässt.
Wenn in einem Staate Gesetze gegeben werden,
der Anwendung 80 kommcn die Wirkungen derselben bei tausend Ge-
dea Satzes vom legcnheitcn jedem Einzelnen einmal zu Gute; gleich-
de«™afÄi»gen. wohl wird sich kein einzelner Bürger einbilden dürfen,
dass der Gesetzgeber ihn gekannt, seine zukünftigen
Wünsche bei dieser oder jener Gelegenheit vorgesehen und in
seinem Interesse berücksichtigt hätte. Deshalb wird er es auch
nur einen glücklichen Zufall nennen können, wenn er bei
solchen Gelegenheiten aus dem Zusammentreffen der Institutionen
und Gesetze mit seinen Lebensverhältnissen einen Vortheil zieht,
und es wäre lächerlich, wenn er darin ein politisches Wunder
sehen wollte, d. h. eine über die natürlich erkennbaren Gesetze
des Staates hinausgehende geheime Kundgebung der souveränen
Staatsgewalt, die mit ihm in einem übernatürlichen persönlichen
Zusammenhange stände und durch solche Zeichen ihre Gunst
ihm offenbaren wollte; denn der Souverän und die Gesetzgeber
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 201
haben auch im Traume nicht an Hans und Peter gedacht, die
bei der Zolterhöhung nun etwa gerade ihre gr<5sseren Yorräthe
mit Glück absetzen können. Wenn hier also der Begriff des
Zufalls und des Glücks und Unglücks am rechten Platze
ist, so folgt dies aus der unendlichen Mangelhaftigkeit des mensch-
liehen Staates, der nur das Allgemeine nothdürftig berücksich-
tigen kann, weil das Individuelle gänzlich über den Bereich
seiner Intelligenz hinausgeht Die Vernunft darf hier darum
nicht bloss, sondern muss auf die Geltendmachung der Vernunft-
forderung verzichten, weil sie die natürliche Schwäche und die
Schranken der Vernunft in dem Gesetzgeber erkennt, der das
Leben der Einzelnen nujr nach wenigen gemeinsamen Beziehun-
gen mühsam und oft recht misslungen zu ordnen versucht.
In der grossen Natur der Welt ist die Sache aber Gottlob 1
anders bestellt, und es ist noch Niemand aufgetreten, der die Welt
hätte besser einrichten können. Die erste Handlung eines solchen
klügeren Weltschöpfers hätte auch sein müssen, die Vernunft in
dem Menschen abzuschaffen, um zu verhindern, dass der Satz
vom Grunde • überall geltend gemacht und eine durchgehende
Vemünftigkeit alles Geschehens in der Welt verlangt würde;
denn dann wären die Wunder und das Bedürfniss nach Wun-
dem verschwunden und dafür der Zufall und die Dummheit zur
Anerkennung gekonunen und somit das Becht, den Weltverbes-
serer zu kritisiren und auch eine individuelle Berücksichtigung
und Leitung von ihm zu erwarten, beseitigt Wir werden daher
jenem grossen Menschenkenner und klugen Staatsmanne zwar
nicht widersprechen, wenn er sagt, „es sei erstaunlich, mit wie
wenig Verstand die Welt (d. h. der Staat oder die Menschen-
welt) regiert werde"; da wir aber durch die Ordnung der Natur
selbst unsere Vernunft mit ihren logischen Forderungen erhalten
haben, so können wir der Natur der Welt gegenüber, die nicht
von Menschen regiert wird, auf unsere Vemunftforderung nicht
verzichten. Es ist darum zweifellos, dass wir den Zufall als ein
unwissenschaftliches Erklärungsprincip der Ereignisse verwerfen
müssen, da er bloss aus dem Gebiete menschlicher und
mangelhafter Vernunftthätigkeit seinen Ursprung genommen
und nur aus Unwissenheit über die Coordinationen der Begriffe
und nach uuberechtigter Analogie auf die Natur übertra-
gen ist
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202 Religion der Furcht.
Die Naturforscher, welche so gern die menschlichen Vorur-
theile und Illusionen verspotten, sind deshalb, weil ihnen die
philosophische Schulung fehlt, und weil sie die Geschichte der-
jenigen Begriffe, die sie arglos gebrauchen, nicht studiren, selbst
in eine solche Illusion geratheu und haben, mit Ausnahme natür-
lich der grossen, philosophisch gebildeten Forscher, den perspec-
tivischen und subjectiven Begriff des Zufalls harmlos auf die
ganze Natur ausgedehnt, obwohl sie den zugeordneten Begriff
des Zweckes und der Absichten bei der Erklärung der Natur-
erscheinungen nicht geltend machen, was ebenso lächerlich ist,
als wenn ein Schulmeister zwar Fehler constatiren, aber die
zugeordnete Regel über das Richtige verleugnen wollte. Wie
wir aber in der Natur tiberall die strengste Ordnung nach den
Gesetzen antreffen ohne das mindeste Versehen, ohne die min-
deste Beschränktheit der Kraft und der Wirkung, so haben wir
auch keinen Grund, um auf die natürliche Vemunftforderung
ihr gegenüber zu verzichten. Streichen wir aber den nach dem
Vorbilde menschlicher Verhältnisse in die Natur hineingedichteten
Begriff des Zufalls, so verschwindet sofort die Bomirtheit der
Naturordnung und mithin die sinnlose Blindheit des Zusammen-
treffens der Körper und der Ereignisse, und wir stehen staunend
vor dem Riesenwerke göttlicher Technik, welches wir die Welt
nennen und in welchem, wie in einer klug organisirten Fabrik,
alle Vorgänge in sinnvollem Zusammenhange stehen und für
einander etwas wirklich und wahrhaft bedeuten, weil sie alle
auf einander berechnet und durcheinander vermittelt sind. Der
Ausdruck Znfall bedeutet dann, wenn wir ihn im Gebiete der
Natur gebrauchen, nicht mehr einen Tadel der Weltordnung, son-
dern weist nur auf die Schranken der menschlichen Erkenntniss
hin, welche allerdings nicht hinreicht, dies grösste Kunstwerk
ganz zu durchschauen und zu erklären; denn wir müssen, indem
wir einige Ereignisse als zufallig bezeichnen, mit diesem Aus-
druck bloss die Gränze unserer Fassungskraft angeben, da es
uns nicht mehr geziemt, was unser menschliches Können über-
steigt, auch der Natur abzusprechen.
Diese Normirung der Anwendbarkeit des Begriffes des Zu-
fälligen und die Begränzung des subjectiven und objectiven Ge-
brauches können wir aber nur finden, sofern wir eine unbedingte
Anwendung vom Satze des Grundes machen, d. h. sofern wir
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 203
denken; denn wir müssen immer einen hinreichenden Grund
haben, um auf einen hinreichenden Grund Verzicht leisten zu
wollen. Dem Denken aber entspricht das Denkbare und das
Denkbare ist die Welt; mithin ist die absolute Vemtinftigkeit
der Welt ebenso sicher, wie die Vemünftigkeit der Vernunft, da
das Denkbare als Denkbares nur im Denken vorhanden ist. Wie
aber alles Sichtbare unbedingt den Gesetzen des Auges unter-
liegt, obgleich nicht alles von uns gesehen wird, so braucht
auch die Vemtinftigkeit aller Dinge nicht von unserer Vernunft
überall erkannt zu werden. Die Vernunft kann deshalb ihre
eigenen Gränzen abmessen, da sie einen absolut gültigen Mass-
Stab besitzt, und kann mit derselben unfehlbaren Sicherheit sich
zur Bescheidenheit verweisen, wie sie mit schrankenloser Kühn-
heit den Begriff der absoluten göttlichen Welttechnik aufbaut.
Speculative Erörterung der Principien dieser
Deduction.
Ich will das Neue in dieser Argumentation exact
hervorheben. Früher hatte man mit Kant das Zu- der Neuheit
fällige als dasjenige definirt, was durch keine Ur- «»ieae« Beweises.
Sachen bestimmt wird, und dagegen die apriorische Gausali-
tätsforderung geltend gemacht, um eine allgemeine mechanische
Noth wendigkeit alles Geschehens anzunehmen, wonach bei ge-
nügender Kenntniss der Daten alle Ereignisse wie eine Sonnen-
und Mondfinstemiss im Voraus bestimmt werden konnten. Man
hatte zweitens auch ausser dem Gegensatz des Zufälligen gegen
die mechanische Ursache noch den Gegensatz gegen die Zweck-
ursache gefunden und gestützt auf die organischen Erscheinungen
und einige in der Natur wahrgenommene Zweckmässigkeiten
die empirische Hypothese gewagt, dass alle Dinge nach
einem Zwecke könnten hervorgebracht sein, weshalb auch die
Nachforschung nach Zwecken in der Natur als regulatives
Princip für den Gebrauch der Vernunft zulässig sein sollte.
Ich erkenne nun erstens einen Fehler Kant's darin, dass er das
Zufällige in Gegensatz zu dem mechanisch Nothwendigen stellte,
während der Begriff des Zufalligen nur und ausschliesslich in
Coordination zu dem Begriff des Beabsichtigten, d. h. des nach
einem Zweck Bestimmten gedacht werden kann. Denn was
uiymzeu uy V^nOOy IC
204 Religion der Furcht.
nicht verursacht ist, das ist auch überhaupt nicht geschehen und
nichts Wirkliches; was aber nicht beabsichtigt war, das ist zu-
fallig. Zweitens erkläre ich den apriorischen Satz vom zu-
reichenden Grunde als zugeordnet nicht der mechanischen Ur-
sache, sondern der Vernünftigkeit überhaupt, d.h. der Ein-
heit des in jeder Beziehung zusammenstimmenden und geordneten
Ganzen, wobei der mechanische Zusammenhang nur eine zwar
selbstverständliche, aber« doch nur abhängige und untergeordnete
Folgerung bildet Ich kann daher das Resultat meiner Beweise
auch so ausdrücken, dass statt der früher angenommenen pro-
blematischen Behauptung einer Teleologie, di&auf eine empi-
rische Hypothese gestützt war, jetzt eine apodiktische For-
derung der Teleologie tritt, gestützt auf eine apriorische Er-
kenntniss der Vernunft. Die Nothwendigkeit des mechanischen
Zusammenhangs der Dinge, die für Kant schon befriedigend er-
schien, erweise ich als dreifach zufällig, erstens wegen des bloss
thatsächlichen und also zufälligen Charakters jedes Naturge-
setzes an sich selbst betrachtet, zweitens wegen der im Unter-
satze zu liefernden bloss thatsächlichen und also zufälligen Um-
stände, bei denen das Naturgesetz erst zur Anwendung kommen
kann; drittens wegen des bloss thatsächlichen und also zufälligen
Vorhandenseins der Kategorie selbst, auf welche Kant das
Gausalitätsgesetz begründete.
Es ist aber nicht nur interessant zu erforschen, warum eine
gewonnene Erkenntniss nicht schon früher gefunden wurde, son-
dern es ist auch die Pflicht ftir denjenigen, der die Neuheit einer
Erkenntniss behauptet, zu beweisen, weshalb dieselbe früher nicht
gewonnen werden konnte. Ein solcher Beweis erscheint nun für
Nichteingeweihte ausserordentlich schwer, da sie glauben, es
müssten unzählige literarhistorische Untersuchungen angestellt
werden; die Sache ist aber für Dialektiker leichter anzufassen,
weil sie wissen, dass jeder Begriff seine zugehörigen Coordinaten
hat, und man daher durch Hervorhebung derjenigen Begriffe,
welche mit unserem Satze unverträglich sind, die Frage sofort
entscheidet, ebenso wie die Unschuld eines Angeklagten sofort
feststeht, sobald sein Alibi erkannt ist.
Nun kann Jedermann einsehen, dass der apriorische Cha-
rakter des Beweises alle diejenigen Schulen unverzüglich von
der Concurrenz ausschliesst, die der empirischen und positivisti-
schen Richtung huldigen. ^,^, .^^^ ^^ GoOqIc
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 205
Es bleiben also nur die speculativen Systeme übrig. Diese
lassen sich darnach scheiden, ob sie das Unendliche und mithin
Zeit and, Baum und Nichts in den Begriff des Seins aufnehmen
oder nicht Die erste Richtung ist durch den antiken und auch
den modernen Idealismus von Fichte, Schelling, Hegel,
Lotze u. A. vertreten, und alle diese Philosophen können von
vornherein für eine etwaige Concurrenz nicht in Frage kom-
men, da sie durch den Begriff der Sealität von Zeit, Baum,*)
Unendlichkeit und Negativität immerfort ein verschwindendes,
unnützes und zufalliges Sein gebrauchen, das durch seinen nicht
bloss perspectivischen, sondern realen Contrast diö Idee in ihrer
Lebendigkeit und Würde erhalten muss. Die Unendlichkeit ist
der Todfeind des Zwecks und die Negativität im Sein tödtlich
jeder bleibenden Bedeutung des Individuellen und jeder Provi-
denz des individuellen Geschehens im Sein, weshalb die idealisti-
sche Welt ja auch wie von der Tarantel gestochen in rasender
Bewegung ist und immerfort in die nichtseiende Vergangenheit
zerstiebt, wie sie sich athemlos in die nichtseiende Zukunft
stürzt und dort umsonst zu retten sucht
Ausser diesen auf solche Art sich selbst eliminirenden Nega-
tivitäts- oder Unendlichkeitssystemen bleibt nur das Herbarti-
sche übrig, welches vernünftiger Weise das Seiende individuell
fixirte, dagegen Zeit und Baum und Unendlichkeit idealisirte.
Allein dieses System, welches nun allein noch concurriren könnte,
wird dadurch sofort ausgeschlossen, dass es den Ursprung des
Seinsbegriffs nicht entdeckte und darum die realen Wesen wie
sinnenföUige Körper in bloss mechanische Zusammenhänge brachte
und überhaupt wegen speculativer Schwäche des Urhebers in
nackten Mechanismus und mathematische Spielerei verfiel, wo-
durch eine apriorische und apodictische Forderung der Teleologie
für alles individuelle Dasein unmöglich wurde, was Herbart ja
selbst erkannt und offen bekannt hat, indem er Kant's regula-
tives Princip bloss in eine ästhetische Auffassungsform umwandelte.
*) Lotze giebt in seiner Metaphysik zwar den Raum auf, behält aber
die Zeit und das Nichts als Ingredienzen des Seins zurück und rechnet sich
daher selbst unter diese Idealisten, die es ihm freilich verdenken werden,
dass er den schönen unendlichen Raum sich hat rauben lassen.
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206 Religion der Furcht.
Somit glaube ich hinreichend gezeigt zu haben, weshalb
weder die antike noch die moderne Philosophie den Gedanken-
gang finden konnte, der in dem obigen Beweise eingeschlagen
ist. Für denjenigen, der meine „Neue Grundlegung der Meta-
physik" kennt, war dieser Beweis nicht erforderlich; denn die
neue Erkenntniss des Seins, die dem individuellen Wesen einen
ewigen Platz in Gottes technischem Weltsystem einräumt und
die neue Auffassung des Denkens, das nicht mehr die übrigen
Functionen des Geistes zu verschlucken sucht, sondern sich be-
scheiden als eine Function neben den beiden andern der Ein-
heit der Persönlichkeit unterordnet, verbürgen von selbst einen
nach allen Seiten gerichteten Neubau der Philosophie.
Die Religion erfordert das Wunder: das Wunder
erfordert den schrankenlosen Gebrauch der Vernunft;
dieser erfordert als Voraussetzung die Vemünfkigkeit der Welt;
die Vemünftigkeit der Welt erfordert die Abhängigkeit aller
mechanischen Ursachen von einem letzten Zweck. Die Frage
ist daher: wie lässt sich die schrankenlose Zweckmässigkeit
alles Seins und Geschehens in der Welt erweisen? Wir haben
die Antwort darauf gefunden; denn die Vernunft ist der Mittel-
begriflf (terminus mcdius) aller hierzu erforderlichen Schlüsse.
Die Vernunft ist uns thatsächlich gegeben und hat als zuge-
hörig den Satz vom Grunde, der nur durch unbedingte Zweck-
mässigkeit der Welt befriedigt werden kann; andererseits ist die
Keligion nur wahr, wenn sie mit der Vernunft übereinstimmt, so
dass nichts Religiöses gegen die Vernunft streitet und nichts
Vernünftiges gegen die Religion.
Was also die früheren Philosophen zu Gunsten des Glau-
bens an die unbeschränkte göttliche Weltregierung, d. h. an die
unbedingte Zweckmässigkeit der Welt, angeführt haben, das
haben wir als noch ungenügend erkannt. Kant's Spiel zwischen
Einbildungskraft und Verstand und seine subjective Maxime zur
Beurthcilung der in der Sinnlichkeit gegebenen organischen Formen
ist ebenso wie Herbart's ästhetische Auffassung gewissermassen
eine pneumatische Exegese des allegorischen Platonischen Mythus,
wonach Gott die Materie zu überreden sucht, sich der Idee zu
fiigen; denn die Materie bedeutet Philonisch und Kantisch die
Sinnlichkeit oder die Einbildungskraft, die Idee aber die Ver-
nunft, und die Ueberredung bedeutet den Mangel der Nothwendig-
* uiyiiizedby VjOOQIC
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 207
keit oder das Spiel und die Subjectivität. Ebenso unbefriedigend
war uns die moderne Ausdrucksweise, wonach in Gott die Idee
der Güte und Liebe den Vorzug haben sollte vor der Idee des
Gesetzes und der Nothwendigkeit; denn obwohl man demgemäss
wohl auch mit Güte und Liebe den bei solchen Versicherungen
her\^ortretenden Mangel an einem gesetzlich zwingenden und
nothwendigcn Beweise zudecken müsste, so geht uns dies doch
gegen das Gewissen und widerstreitet unserer Neigung zur reinen
Wissenschaft
Mithin bleibt als einzig genügend nur der oben ausgeführte
neue Beweis übrig, dass vernünftige Wesen sich nur als solche
benehmen können, wenn sie gemäss dem Satz vom zureichenden
Grunde eine unbedingte Zweckmässigkeit alles Denkbaren fordern,
weil dieser Satz vom Vemunftgebrauch unabtrennbar ist; mithin
ist jeder Verzicht auf einen Zweckznsammenhang, d. h. jede An-
nahme eines Zufalls, unvernünftig und beleidigend fbf Jeden, der
Vernunft besitzt; mithin sind Wunder nothwendig flir vernünftige
Welt- und Geschichtsauffassung; Leugnung der Wunder aber ist
ein Zeichen unreifer Vernunft.
Diese Wiederholung der obigen Argumentation
soll die Frage einleiten, die wir nun als das schwie- Kritik
rige speculative Problem zu erörtern haben, ob sich ifneAi&rulhkei"
nicht auch über den Urspnmg dieses so ungeheuer nnd vorau«-
weit gebietenden Satzes vom zureichenden Grunde ^^^eH^principa!^*^
eine Bechenschaft geben lasse. Logiker von ge-
wöhnlichem Schlage werden nun zwar glauben, dass jetzt an sie
die Reihe zum Lachen gekonmien sei, da die Frage nach dem
Ursprung oder dem Grunde des Satzes vom Grunde ja die
Gültigkeit dieses Satzes schon voraussetze. Allein die selbst-
ständigeren Köpfe werden sehen, dass uns solche schon von
Aristoteles her ererbten Einwendungen*) natürlich nicht .fremd
sind und dass es sich um ein neues Problem handelt, das nicht
einmal leicht aufzufassen, geschweige denn zu lösen ist ftir
Jemand, der bloss die bisherige Philosophie beherrscht.
Denn um zunächst den alten Einwand des Aristoteles zu
beseitigen, als könne man über ein Princip, nach dem man sich
*) Aristot. Metaphysicorum lib, IV C, 1011 a 13 a::oo*i|s(i>; y«P ^VJi
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208 Religion der Furcht
immer richtet, nicht hinausgehen and als wäre deshalb der Satz
vom Grunde ein voraussetzungsloses und unerklärliches
Princip, welches erklären zu wollen, widersinnig sei: so ist der
Gedankengang dieser Instanz nach beiden Seiten sehr mangel-
haft. Erstens nämlich steht nichts im Wege, das Princip, nach
dem man sich richtet, zu studieren, es in eine Reihe von
Gleichungen aufzulösen und es dadurch zu erklären, so dass
es zwar noch voraussetzungslos bliebe, aber nicht mehr uner-
klärlich heissen könnte. Was zweitens die Yoraussetzungs-
losigkeit betrifft, so konnte sie von Aristoteles natürlich nur
indirect bewiesen werden, nämlich nur dadurch, dass Jeder, der
einen Grund (eine Voraussetzung) daftLr giebt oder fordert, das
Princip selbst schon voraussetzt. Dieser Beweis vernichtet sich
aber selbst, weil wir uns dadurch nur jau eine Kette angeschmiedet
fUhlen würden, ohne zu begreifen, weshalb wir gefangen sind,
d. h. ohne den Satz vom Grande anzuwenden, der ja als Gesetz
keine Ausnahme gestattet. Der Satz vom Grunde verlangt des-
halb gerade begründet zu werden, wenn er ein Gesetz ist und
befolgt werden soll.
Unsere neue Philosophie kann nun diese Schwierig-
1. Erkiiran^ keitcu leicht aus dem Wege räumen; denn erstens
Tom Grunde. ^*®^* ®^^^ ^^® Priucip durch Glcichung vollkommen
erklären. Bei einiger Besinnung muss man nämlich
darüber bald in's Beine kommen, dass kein Denkender sich. im
Denken durch irgendwelche Gesetze einschränken lassen wird;
das Denken ist ja eine freie Thätigkeit, wie das Sehen und
Hören. Wenn jenes Gesetz also angeblich über alles Denken
herrschen soll, so kann dies nur bedeuten, dass es das freie
Denken selbst beschreibt und fremdartige Elemente ab-
wehrt. Solche fremde Elemente sind aber die gedankenlos ein-
gemisphten Producte der mechanischen Ideenassociation und der
schaffenden Phantasie. Das Gesetz * gilt also nur fllr seine Ueber-
treter, oder für die Fremden, die nicht zu den Kindern des
Hauses gehören. Das Denken selbst kennt kein Gesetz, sondern
seine eigene Natur ist das, was dem Fremden als das Gesetz
erscheint. Das Denken besteht in Vergleichung von Beziehungs-
punkten (minor und major), die nach einem Gesichtspunkte
(medius) vereinigt oder getrennt werden. Diesen Gesichtspunkt
nennt man den Grund, und weil wir auf diese Weise denken
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AllgemeineFe Fragen. Das Wunder. 209
im Unterschiedo von blinden Associationen und Phantasien^ so
sagt man, es sei ein logisches Gesetz anzuerkennen, das Gesetz
des Grundes. Mithin ist uns jetzt dies Gesetz durch eine
Gleichung vollkommen erklärt, und wir begreifen seine ausnahms-
lose Allgemeingültigkeit, weil es ja nur ein anderer Ausdruck
ftir das Denken selbst ist. Ich will es erläutern an einem Bei-
spiel concreten Denkens.
Wenn der Arzt an das Krankenlager tritt, nach dem Puls
flihlt, nach dem Athem horcht, die Wärme misst, die Muskel-
reactionen prüft und dann zu den Kindern sagt: „Euer Vater
ist todt", so hat er zwei Beziehungspunkte verglichen, die An-
schauung von dem Menschen dort und die Begriffe von Leben
und Tod. Der Satz, den er ausspricht, wäre aber kein Urtheil,
wenn er nicht den Gesichtspunkt oder Grund (medius), nach
welchem er das Subject mit dem Prädicat verknüpft, in dem
selbigen Bewusstsein vereinigte. Ebenso verhielte es sich, wenn
der Arzt sagte: „er ist nicht todt, er lebt" Denn immer musste
er die beiden Beziehungspunkte nach dem Gesichtspunkte ver-
gleichen, ob ein Puls merkbar, ob der Athem hörbar oder irgend-
wie wahrnehmbar, ob die erforderliche Wärme vorhanden wäre
u. 8. w. Lässt man den Gesichtspunkt unausgesprochen, so
nennt man den Satz ein Urtheil, fligt man ihn durch einen cau-
salen Satz hinzu, so heisst das Ganze ein Schluss. Ein Denk-
act aber ist das Urtheil nicht, wenn der Gesichtspunkt oder
Grund dem Urtheilenden nicht gegenwärtig war. Deshalb ist
jeder Denkact ein Schluss. Da er aber als Ganzes mehrere
Beziehungspunkte enthält, so kann man seinen Blick auch bloss
auf einen Punkt richten und diesen dann in Beziehung zu dem
Ganzen nach dem Gesichtspunkt der Theilung einen terminus
nennen, wie man auch auf die Verknüpfung und Trennung von
zwei termini blicken mag, um diese Beziehung in ihrer Isolirung
in Hinsicht auf das Ganze ein Urtheil zu nennen. Folglich ist
das Denken ein Schliessen und mithin gehört zum Denken immer
ein Grund. Also ist das Gesetz vom zureichenden Grunde bloss
eine Beschreibung des freien Denkens selbst.
Um aber nicht den Schein zu erregen, als ob
wir bloss aus Neigung neue Wege suchten, müssen ^»^"^ «^«^ ^o«*"^
wir erst darlegen, weshalb die jetzt betretenen und
üblichen Wege nicht an's Ziel flihren können. Wir vergleichen
Teicbmäller» Religiouspbilosopbie. uiymzelAjy ^^.jOOQIC
210 Religion der Furcht.
dazu das Compendium von Wundt Da werden ¥jir nun sofort
nicht begreifen, wie Wundt (Logik S. 515) sagen konnte: «Der
Satz des Grundes als allgemeines Gesetz der Abhängigkeit der
Begriffe beherrscht dieser seiner Bedeutung gemäss insbesondere
auch diejenige Denkform, in welcher die Abhängigkeit der
Urtheile von einander ihren Ausdruck findet, den Schlüsse Denn
es müsste darnach doch erstens Denkformen geben, die keinen
Schluss in sich enthielten, also nicht gedacht wären. Und
zweitens scheint nach Wundt der Schluss unter der Herrschaft
jenes Gesetzes zu stehen, also nicht vollkommen frei zu sein und
bloss seinen Ausdruck oder seine Beschreibung in demselben zu
finden. Auf die Freiheit wollen wir aber nicht verzichten und
bedürfen beim Denken auch keines Parlamentes, um uns eigenen
Zwangsgesetzen zu unterwerfen.
Wir wollen aber genauer auf die herrschenden Gedanken-
gänge eingehen, um sie erst nach vollständiger Erkenntniss ihrer
Unzugänglichkeit zu verlassen. Sehen wir also zunächst, wie
Wundt (Logik L S. 517) den „Satz vom Grunde" definirt: „er
ist das Grundgesetz der Abhängigkeit unserer Denkakte von
einander^^ Bei dieser Definition kann ich nicht vermeiden, an
zwei Punkten Anstoss zu nehmen; denn erstens bedeutet das
Wort „Abhängigkeit" doch die Bedingtheit durch eine Ursache,
die, wenn sie von einem Denkenden geltend gemacht wird, einen
Grund bildet, weshalb ein circulus in definiendo vorliegt;
zweitens werden in der Definition „Denkakte" genannt, die von
„Denkakten" abhängig sein sollen, so dass es also, wie Wundt
auch sonst annimmt, Urtheile ohne Grund gicbt, d. h. Denkakte
vor dem Schluss, also Denkakte ohne Denken. Er zerlegt
das Denken in Denkakte, wie einen äusseren Gegenstand in
seine Theile, die auch äussere Gegenstände sind. Nun ist jeder
Theil eines Körpers von den anderen Theilen physikalisch und
chemisch abhängig, und so soll auch jeder Denkakt von einem
anderen abhängig sein. Es giebt aber keinen Denkakt ohne
Grund, und dieser Grund liegt nicht draussen, wie im Raum der
andere Körper, der etwa weit entfernt als Sonne die Bahn der
Erde bestimmt, sondern der Grund gehört in den Denkakt selbst
hinein.
Wenn darum Wundt sagt (I S. 516): „Der Satz vom Grunde
drückt aus: Mit dem Grund ist die Folge gegeben; mit der Folge
uiyiiized by VjOOQ i^
Allgemeinere tVagen. Baa Wunder. 211
ist der Grund aufgehoben; aber nicht: mit der Folge ist der
Grund gegeben^', so ist dies ebenfalls gar zu ungenau ausgedrückt,
wie schon der Indicienbeweis zeigt. Es wird bei all diesen
Lehrsätzen immer das Sprachliche mit dem Logischen ver-
mischt Denn man kann bei complicirten Denkakten allerdings
mit blossen Worten einen Theil als eine Folge bezeichnen und
allein für sich aussprechen, ohne dass man damit sofort die
Gründe wüsste. Man hat dann zwar zwei Wörter, die zu einem
Satze verknüpft sind; aber man weiss darum diesen aus einem
Gedankenzusammenhang sprachlich abgelösten Theil nicht als
Folge, sondern kann ihn These oder Problem nennen und
muss, um etwas dabei zu denken, durch Hypothesen die er-
forderlichen Gesichtspunkte oder Gründe suppliren, sofern dies
thunlich ist Sagt Jemand : „also ist der Kreis viereckig*', so hat
er keine Folge (conclusio), d. h.. keinen Gedanken, sondern nur
einen grammatischen Folgesatz ausgesprochen, weil man wegen
der Natur des Denkens nichts isolirt, d. h. ohne Coordination,
denken kann. Soll die Folge als Folge gelten, so muss der
die Coordination bestimmende Gesichtspunkt mit angegeben oder
supplirt werden.
Wenn man z. B. hört: „Die Freiheit ist Nothwendigkeit", so
supplirt man, dass diese Leute dabei an die Motivation aller so-
genannten freien Entschlüsse denken. Daher kommt es auch,
dass bei einer seltsamen Behauptung geäussert wird: „Du denkst
wohl, dass u. s. w.", oder „er denkt da1)ei an u. s. w." weil
man immer voraussetzen muss, dass zu einem Denkakt auch ein
Gesichtspunkt oder Grund gehört, wenn man nicht sagen soll:
„es sind leere Worte".
Um aber zu zeigen, wie Wundt's Auffassungsweise auch
tiberall Selbstwiderspruch hervorbringen muss, will ich an
den Abschnitt über „die logische Evidenz*' erinnern. Dort er-
klärt Wundt (I S. 72 ff.): „Da die logische Evidenz nicht in den
Processen des Denkens liegt, so kann sie nur auf dessen Re-
sultaten beruhen. In der That zeigt es sich uns an jedem
beliebigen Beispiel, dass die Sicherheit der Resultate des
Denkens die einzige Quelle dessen ist, was wir logische Ge-
wissheit nennen." Hier wird jeder denkende Leser einen kleinen
Schreck zu überwinden haben, weil er früher, wie z. B. beim
Lesen dieser Argumentation bei Wundt, die Resultate seines
212 Religion der Furcht.
Denkens arglos in seinem Denken selbst zn besitzen glaubte,
während nun plötzlich wie mit einem Ruck „die logische Evi-
denz'^ und „Sicherheit^' aus seinem Gedankenzusammenhang her-
ausgerissen und wer weiss wohin geschleudert wird. Es ist aber
wichtig zu wissen, wohin diese Sicherheit fliegt. Wir lesen des-
halb weiter S. 75: „Die unmittelbare Evidenz dieses Denkens
hat ihre Quelle stets in der unmittelbaren Anschauung.^'
„Die äussere und innere Erfahrung ist die einzige Quelle der
unmittelbaren Evidenz." — Also in die Anschauung und Erfah-
rung soll die Sicherheit versetzt werden, d. h. in diejenige
Region, welche die Thiere bewohnen. Wir wollen gewiss auf
diese breite Grundlage der menschlichen Entwickelung nicht ver-
zichten, legen auch hohen Werth auf Anschauung und Erfahrung
und glauben, dass Wundt gewiss an etwas Vernünftiges bei
Formulirung seiner Thesis gedacht hat Wenn aber die empi-
rischen Forscher ihm gleich zustimmen werden, so hat der Philo-
soph leider die üble Rolle, sein Veto geltend zu machen, weil
alle seine Begriffe in keiner Anschauung anzutreffen sind. Mit
welchem Sinne könnte das Gute, Schöne, die Freiheit, Noth-
wendigkeit, die Beziehung, Eigenschaft, das Sein u. s. w. an-
geschaut werden, da alle diese Ideen oder Begriffe ohne Farbe,
geruchlos, unfassbar, unhörbar u. s. w. sind und auch durch
keine innere Erfahrung gegeben werden! Wenn Wundt aber
unter „innerer Erfahrung" etwa das Denken meinte, so würden
die Philosophen freilich ihm auch zustimmen, dann jedoch nicht
mehr begreifen, weshalb die Sicherheit der Resultate des Denkens
nun noch ausserhalb des Denkens liegen könnte. — Bei der
ersteren Interpretation ist also Wundt's Behauptung für alle Ver-
nunftwissenschaft zu cassiren; bei der zweiten Interpretation ent-
hält sie einen Selbstwiderspruch.
Machen wir einmal die Probe der Wundf sehen Behauptung
bei seinem Axiom oder Satz vom Grunde ! An der äusseren Er-
fahrung lässt er sich nicht prüfen, weil „Gründe" weder als
Elemente oder Processc der Chemie, noch als Pflanzen oder
Thiere bekannt sind; ebensowenig aber reicht die innere Erfah-
rung Hülfe, denn wer hätte jemals „Gründe" erfahren, ich meine
solche Zustände, die weder Zorn, noch Neid u. s. w. sind, sondern
keine andere Eigenschaft besässen, als nur „Gründe" zu sein.
In der Erfahrung ist der Satz vom Grunde also nicht anzn-
uiymzeu uy V^jOOV IC
Allgemeinere Fragen. Dos Wunder. 213
treffen; aber gesetzt, er wäre es, d. h. wir hätten die nöthigen
Exemplare der Species Grund im Hinterlande von Zanzibar oder
irgendwo aufgefunden, so würde daraus der Satz vom Grunde
durch Induetion abzuleiten sein, dann aber zugleich aufhören
ein Axiom zu bilden und unbedingte Gültigkeit zu besitzen; er
würde nur problematische oder inductive Gewissheit beanspruchen
können. Mit welchem Recht hätten wir dann aber die Induetion
als Beweisverfahren anwenden dürfen, da der Begriff „Beweis"
schon den Satz vom Grunde voraussetzt? Auch hier also läuft
die Auffassung Wundt's in einem Cirkel.
Wir legen Wundt's Auffassung daher vernünftiger Weise nur
die gute Schulung des ausgezeichneten Physiologen zu Grunde,
der dabei an die vielen Hypothesen der Physiologie dachte und
natürlich Beweise dafür ad oculos oder durch's Mikroskop oder
durch's Experiment forderte. Allein bei allen Gedankenprocessen
zur Erklärung der Naturerscheinungen werden die philosophischen
Fragen schon als abgemacht Yorausgesetzt, und so hat Wundt's
Behauptung nur eine praktische, aber keine logische Bedeutung.
Denn eine Anschauung oder eine äussere und innere Erfahrung
hat ja an und fUr sich genommen niemals Evidenz, da sie eben-
sowohl Hallucination und Traumvision sein kann, und da erst
das Denken Sicherheit und Evidenz der Erkenntniss
verleiht. Evidenz ist kein Prädicat der unmittelbaren Anschauung,
wie Wundt behauptet, sondern des Denkens in seiner Coordi-
nation mit dem Gefühl. (Vgl. oben S. 39.) Die Thiere haben
auch Anschauungen, aber wissen nichts von Evidenz und Er-
kenntnisssicherheit, weil dergleichen dem Denken zugehört.
Wundt's Logik ist deshalb zwar flir angehende Naturforscher
ausserordentlich schätzbar, weil er sie mit den Methoden und
der Anwendung vieler philosophischen Begriffe auf die Erfah-
rungswissenschaft bekannt macht; die Philosophie selbst aber
findet ihr eigenes Gebiet darin nicht bearbeitet. Für den Philo-
sophen können die sogenannten Resultate des Denkens nicht in
sogenannten Anschauungen und Erfahrungen zur Evidenz ge-
bracht werden, weil Anschauungen und Erfahrungen, wenn man
sie auch dem Thier zugesteht, nur blinde und mechanische Ver-
einigungen von Empfindungen sind; wenn man sie dem Thier
abspricht und nur dem Menschen vindicirt, selbst durch Denk-
akte zu Stande kommen und jedenfalls in den Denkakt als
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214 Religion der Furcht.
Beziehnngspuukte mit hineingehören. Denn wenn man auch
dem Bauer das Kesultat des Experiments zeigt, so gewährt ihm
die Anschauung doch keine Evidenz, weil er sie nicht als Mo-
ment in den ganzen complicirten Denkakt, der z. B. das Gesetz
des Falls betrifft, einschliessen kann. Dass ich Wundt so aus-
führlich berücksichtige, möchte ich als ein Zeichen der Achtung
und als Anerkennung seiner durch lange Schulung in der Natur-
forschung erworbenen Umsicht und Sorgfalt angesehen wissen;
denn z. B. solche ungeschulte und stammelnde Versuche in der
Logik, wie die eines Lange, halte ich der Erwähnung flir un-
werth.
Es fragt sich nun, weshalb das Princip des zu-
2. Begründung reichenden Grundes flir voraussetzungslos ge-
vom"G^ndo. ^^^^^^ wird. Die Frage scheint schnell abgemacht,
weil es nämlich bei jeder weiteren Erforschung seines
Grundes schon selbst vorausgesetzt wird. Es ist darum zwar
keine Frage mehr, dass es wirUich für unser Denken all-
gemeingültig ist; voraussetzungslos braucht es darum aber noch
nicht zu sein, und nur der falsche Idealismus, der schliesslich
alles Sein und Geschehen auf das Denken oder auf die Idee
zurückflihrt, ist daran schuld, dass man nicht einmal den Ver-
such machte, das Princip auf eine höhere Instanz zurückzuführen.
Wie hätte man auch an einen solchen Versuch denken können,
da man bisher zwischen der Sphäre des Wissens und Erkennens
einerseits und der Sphäre des Bewusstseins andererseits noch
nicht zu scheiden vermochte, sondern das Bewusstsein auch als
einen Erkenntnissprocess auffasste.
Für die neue Philosophie aber liegt die Lösung der Frage
auf der Hand; denn das Princip vom Grunde ist das blosse Be-
wusstsein der Function des Denkens überhaupt, welches in der
Wahrnehmung und Auffindung von Coordinationssystemen beruht,
wodurch immer zwei Punkte durch einen Gesichtspunkt einander
zugeordnet werden, wie Sohn und Vater durch die Erzeugung.
Mithin gilt das Princip flir alles Denken. Da aber auch Ge-
dankenlosigkeit, Confiision und allerlei Vermengung von Gedanken
mit den Einschiebseln mechanischer Reproduction stattfindet, so
fehlt dem Princip der autoritative Charakter, wenn nicht noch
etwas hinzukommt; denn an sich genommen bildet das richtige
Denken nur Eine Gruppe unter den verschiedenen Formen von
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Allgeraeinere Fragen. Das Wunder. 215
Vorstellungsverknüpfungen und hat an sich keinen Vorzug vor
den anderen, da es nur anders, aber nicht besser ist, als das
Uebrige. Diese Quelle der Autorität kann unsere neue Philo-
sophie nun angeben, während der Idealismus, der bisher in dieser
Frage allein das Wort führte, dies nicht vermag; denn die kriti-
sche und empirische Richtung in der Philosophie brauche ich
nicht zu erwähnen, da sie entweder überhaupt nicht mehr zur
Philosophie gerechnet werden darf oder sich der BegriflFe des
früheren Idealismus bedient. Der Grund der Autorität oder
Geltung des Satzes vom Grunde, d. h. des Vorzugs des Den-
kens vor dem bloss thierischen Beproductionsmechanismus und
seiner Einschiebung in die Denkarbeit, liegt einfach in der
Coordination der Functionen unseres Geistes, da sich je nach
dem ideellen Inhalt und nach den realen Bewegungen ein zu-
gehöriges Gefühl auslöst und das dem Denken zugeordnete Ge-
fühl befriedigender und stärker ist, als alle die übrigen, so
dass dieselben vor ihm verschwinden. Demgemäss erkennen wir
das dem mächtigeren und allein befriedigenden Gefühle zu-
geordnete Denken als das Wert h vollere an und nennen seinen
Inhalt wahr oder die Wahrheit. (Vergl. oben S. 40). Hier-
durch ist die Autorität des logischen Princips erklärt. Es ist
zwar voraussetzungslos für das Gebiet der Erkenntniss, weit es
nichts anderes bedeutet, als eine Beschreibung des Denkens und
Erkennens selbst; es ist aber nicht voraussetzmigslos seiner
Autorität nach; für diese bildet vielmehr die Voraussetzung eine
andere geistige Function, das Gefühl, welches allein den Begriff
von Werth und Autorität begründet.
Durch diese AuflFassung wird uns nun auch das
Causalitätsgesetz verständlich; denn durch die dMCauHaiuäte-
Coordination der bewegenden Function mit dem prfncip.
ideellen Inhalt ist das Bewusstsein von Ursache und Wirkung
gegeben, da die Veränderung als ideelles Sein in's Bewusstsein
tritt und in Zuordnung zu unserer Bewegungsfunction, welche
Ursache heisst, Wirkung genannt wird. Indem wir aber durch
unsere Bewegung jetzt dieses, jetzt jenes Phänomen unseres Be-
wusstseins auslösen, nennen wir uns jedesmal die Ursache und
jenes die Wirkung und projiciren die Wirkungen in die soge-
nannte Aussenwelt. Wenn nun die Bewegung durch das Er-
kenntnissvermögen unter Leitung des Gefühls auf eine bestimmte
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216 B«ligion der Furcht.
Wirkung als Zweck gerichtet ist, die das Gefühl befriedigt, aber
nicht durch eine einfache Bewegung erreicht wird, so sind wir
genöthigt, mehrere Bewegungen auszuflihren, welche die ge-
wünschte Wirkung vermitteln. Es sei z. B. der Apfel am Baum
Zweck; nun müssen erst die Bewegungen des Gehens und Klet-
terns ausgeführt werden, dann das Greifen und Brechen des
Zweiges, und endlich ist das Ziel erreicht. Diese Vermitte-
lung zwischen Zweck und Bewegung giebt die Idee des Nütz-
lichen, und die Zugehörigkeit jeder Veränderung zu jeder Be-
wegung die Idee des Nothwendigen und Mechanischen, die
aber nicht so einfach entspringt, sondern durch eine Reihe an-
derer Coordinationen fest bestimmt wird. Alles Nothwendige
und Mechanische muss sich aber wegen der Goordination unserer
Functionen als dem Zweck untergeordnet darstellen, weil es nur
dadurch begriffen wird; denn ohne das dem Zweck zugeordnete
befriedigende Geflihl und die vorhergehende Unlust würde keine
einzige Bewegung ausgelöst werden. Mithin verstehen wir zwar
präliminarisch die mechanische Causalität ohne den Zweck-
begriff, nämlich als die blosse Goordination zwischen unserer be-
wegenden Function und der im Bewusstsein auftretenden Ver-
änderung des ideellen Inhalts; aber wir begreifen sie nur voll-
ständig, wenn wir den vollständigen Inhalt des Bewusstseins
vergleichen und die bewegende Function als ausgelöst erkennen
in jedesmaliger Zuordnung zu einem Gefühl, so dass der Zweck
den ganzen Zusammenhang des in uns vorhandenen Goordinaten-
systems ausdrückt.
Diese ftlr unsere perspectivische Auffassung nothwendigen
Begriffe wenden wir aber ohne Bedenken auf die wirklichen
Wesen ausser uns und also auf die ganze Welt an, weil ja der
Verkehr mit diesen wirklichen Wesen erst unsere Functionen in's
Spiel setzt, und die auswärtige Ordnung also mit unserer indivi-
duellen Ordnung tibereinstimmt; denn jedes Nichtübereinstimmen,
z. B. das Nichterreichen eines Zieles, bestätigt uns ja die Rich-
tigkeit unserer Begriffe, z. B. den Begriff der Nothwendigkcit
und des Mechanischen. Es ist daher undenkbar, dass in der
äusseren Welt eine andere Ordnung herrsche, als die Begriffe
anzeigen, welche uns durch unseren Verkehr mit der äusseren
Welt entsprungen sind.
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AJIgemeinere Fragen. Das Wunder. 217
Wir suchten also den Satz vom aOireichenden
_,_. __, _ •_ TT-. RecapituUUoir.
Grunde, wie er selbst es verlangt, zu begründen. Da
nämlich dieses Gesetz für das Denken gilt, das Denken aber
semiotisch die ganze Wirklichkeit umfasst, so kann das Denken
nur dann eine Erkenntniss der Wirklichkeit enthalten, wenn es
in seiner Form die Foim der Wirklichkeit ausdrückt. Die Form
der Wirklichkeit ist aber, wie wir gesehen haben, die Coordi-
nation, indem eine jede Coordinate ihre Function in Zuordnung
zu ihrer zugehörigen Coordinate hat Folglich müssten die ein-
zelnen Elemente des Erkenntnissvermögens sinnlos, also keine
Erkenntnisse, sein, wenn sie, wie einzelne Farbenempfindungen
oder Töne, für sich sollten gedacht werden und nicht mit ein-
ander durch einen Gesichtspunkt in Coordination träten. Die
durch Coordination begründende Forüi des Denkens ist deshalb
die Zeichensprache der Wirklichkeit und wiederholt in seiner
specifischen Natur, als ideelles Sein, die in Wirklichkeit gege-
bene Coordination aller Functionen, wie die Schriftzeichen in
ihrem eigenthümlichen Wesen dennoch das eigenthümliche Wesen
der Töne oder der Gedanken zu einem entsprechenden Ausdruck
bringen. Da nun in dem jedesmal zugehörigen Gesichtspunkte
der sogenannte Grund angegeben wird, so kann nichts ohne zu-
reichenden Grund gedacht werden, was als Denken und Erkennen
gelten soll, und mithin ist das Gesetz zureichend begründet
d. Gebrauch des Wunders in der wahren Religion.
Durch diese Untersuchung des Begriffs des Zufalls wird nun
der Religion, was ihr gehört, zurückgegeben, der Begriff und der
Gißbrauch des Wunders. Die Philosophie übt damit nicht bloss
einen Akt der Gerechtigkeit aus, indem sie die Ucbergriflfe kurz-
sichtiger und beschränkter Köpfe abweist, sondern sie befriedigt
zugleich ihren eigenen Trieb, der auf unbedingte Forschung aus-
geht und also unbedingt und überall Gründe und Zusammenhänge
in dem technischen System der Welt fordert Es bleibt uns des-
halb hier zum Schluss wieder die doppelte Aufgabe übrig, die
schon bei dem Ursprung der Wunder in der Furchtreligion ge-
stellt wurde, nämlich erstens die Erkenntniss der Wunder und
zweitens die Psychagogie für den Gebrauch in der höchsten, der
christlichen Religion, wenigstens im Umriss anzudeuten.
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218 Religion der Furcht.
1. Die Erkennt- ^^ ^^ ^^^^ gczcigt hat, dass clic Wunder wesent-
niua der wun- lich ZUF Rcligion gchörcD, 80 kanu kein religiöser
*^®'* Mensch gedacht werden, der nicht Wunder erlebt
und erkannt hätte, weil er sonst überhaupt keinen Glauben an
die lebendige Wirksamkeit Gottes in der Welt haben könnte.
Zugleich aber ist auch einleuchtend, dass die Erkenntniss der
Wunder auf einer individuellen und also perspectivischen
Interpretation beruht. Ein jeder christlich gebildete Mensch
wird, wenn er auf sein Leben zurückblickt, hier und da Knoten-
punkte seiner inneren Entwickelung wahrnehmen, wo es, wie
mit den Sternen, entweder abwärts oder aufvfärts mit ihm ge-
gangen ist. An diesen Punkten wird er zwar nicht die Constel-
lationen der Planeten beachten, aber doch immer in dem natür-
lichen und doch wunderbaren Zusammentreffen der Ereignisse
die Zeichen göttlicher Fügung und Leitung ausgestellt sehen,
denen er folgte, oder deren Weisung er zu widerstehen suchte,
und deren Spuren in dem Wohl und Wehe seines inneren Le-
bens eingegraben sind, bis er endlich zum Frieden mit Gott ge-
langte und sein Leben als von Gottes Hand geleitet sich selber
im Gebet oder seinen Kindern darlegt. Eine solche Interpretation
ist nothwendig perspectivisch, weil sie erstens die volle Kennt-
niss des individuellen Seelenlebens voraussetzt und zweitens anch
die individuelle Persönlichkeit zum Gesichtspunkt nimmt, sofern
alle übrigen Menschen und alle Ereignisse der grossen Welt nur
als dienende Mittel flir die individuelle Entwickelung und für
das Heil der Einzelpersönlichkeit zur Geltung kommen. Wer
nun nach seinem kleinen geistigen Horizonte eine solche Be-
trachtungsweise für logisch falsch und lächerlich erklärt, weil
der Einzelne ja in dem grossen Ganzen nur eine verschwindende
Rolle spiele und kaum der Rede werth sei, der spricht eben,
wie er's versteht, und kann eine gute ehrliche Haut sein, bleibt
aber natürlich weit von wahrer Philosophie und Christenthum
entfernt und muss noch viel lernen, um einzusehen, dass in dem
vollendeten technischen System jeder Theil als unentbehrliches
Glied das Dasein des Ganzen mitbedingt und dass jeder Theil,
wie er dem andern dient, auch selbst Zweck der übrigen ist.
Dieses souveräne Recht der individuellen Wesen ist das
Geheimniss der wahren Philosophie und nur deswegen Geheim-
niss, weil die philosophischen Sekten, der Naturalismus, der
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 219
Idealismus und der Positivismus von den oberflächlicheren An-
schauungsbildern der Sinne oder den verständigen Abstractionen
des Denkens ausgehen, um sich darnach eine Vorstellung von •
der Substanz zu machen, während die wahre Philosophie den
Ursprung aller SeinsbegrifiFe in dem den Sinnen und dem Ver-
stände verborgenen und doch so einfachen und offenkundigen
Selbstbewusstsein erkennt und daher dem individuellen Wesen
die zeitlose Ewigkeit und mithin auch das Recht und die Gtiltig-
keit seiner perspectivischen Auffassung der Welt verbürgt. Die
perspectivische Auffassung aber vermittelt die Zeichensprache
des einheitlichen Ganzen durch die natürlichen Lettern der ein-
zelnen Ereignisse, die nicht bloss nach dem äusserlichen und ge-
meinsamen Resultat und den allgemeinen Gesetzen, sondern auch
nach dem Reflex auf das innere Leben der einzelnen Seele ge-
deutet werden dürfen und sollen. So ist durch eine umfassen-
dere metaphysische Topik der Sitz und das Recht des Wunders
und seiner Literpretation begründet und gegen alle Kritik der
beschränkteren philosophischen Confessionen sicher gestellt.
Da nun die Wunder in der Leitung der Seele durch die
weltregierende Hand Gottes der individuellen Interpretation über-
lassen sind, so ist es auch angezeigt, sie nicht an die grosse
Glocke zu hängen; denn durch solche eitle und äusserliche
Schaustellung würde ja das innere Leben der Seele selbst pro-
fanirt. Der Vater mag daher in vertrautem Gespräch seinem
Kinde die wunderbare Hand Gottes, die ihn geleitet, zeigen, um
die junge Seele zu höherem Sinne und tieferem Verständniss des
Lebens zu entwickeln. Die öffentliche Mittheilung aber mag
bloss den grossen Genien der Menschheit zugestanden werden,
die, wie ein Augustin und ein Göthe, es verstanden, ihr inneres
Leben wie ein sichtbares Kunstwerk vor Augen zu stellen, wo
denn auch die Fügungen Gottes Anderen ebenfalls verständlich
werden können. Das ist aber nicht Jedermanns Sache, sondern
die Meisten sind wegen ihres unreifen Verstandes und wegen
der Unreinheit ihres Herzens, das noch von den niederen Motiven
der Furchtreligion befangen ist, nicht im Stande, eine richtige
Interpretation ihres Lebens zu liefern, und bringen daher Wunder-
geschichten zu Markte, fiir die sie bloss Spott und Züchtigung
verdienen. Darum werden von solchen sogenannten Christen,
die aber eigentlich Gläubige der Furchtreligion sind, die Wunder,
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220 Beligion der Furcht
welche sich bei der Deutung unseres Lebens von selbst finden
müssen 7 absichtlich gesucht und, wie einst die Auguren nach
Wunderzeichen forschen mussten, so schlagen diese rathlosen
Köpfe und friedlosen Herzen irgend ein ihnen heiliges Kalender-
buch oder die Bibel auf und meinen in dem ersten besten Vers
oder Wort, das ihnen in die Augen ßllli und sich irgendwie zu
einem für sie passenden Sinne deuten lässt, ein wunderbares
Losungswort aus göttlicher Höhe erhalten zu haben.
Wie für den Einzelnen, so ist wegen der Gemeinschaft des
Lebens auch für die Familie, die Nation und die Menschheit
eine perspe(!tivische Deutung der Weltgeschichte erlaubt. Allein
hier liegt die Gefahr nahe, zu der jüdischen Philosophie der Ge-
schichte (S. w. u.) zurückzukehren, oder die äusserlichen und für
das Leben der Seele geringwerthigen sogenannten Fortschritte
der Civilisation zum Massstab zu nehmen. Diese Frage erfor-
dert deshalb eine grössere Untersuchung, die erst bei der Philo-
sophie des Christenthums geliefert werden soll-, ich bemerke
daher hier nur, dass die christlichen Theologen mit Recht die
adäquate Auffassung der Wunder mit dem Namen „Heilsgeschichte"
abgränzen, dass sie aber mit grossem Unrecht das Heil an die
Kirch thürme hängen, als wäre die äusserliche Institution der
Kirche nicht ebensoviel Eitelkeiten und pathologischen Verderb-
nissen ausgesetzt wie die übrigen natürlichen Mittel, wodurch
Gott sein Reich regiert. Es ist ohne Zweifel ein unzerstörbar
gesunder Saft in der Kirche, aber die jeweiligen Gärtner thun
gut, sich nicht einzubilden, dass sie selbst die süsse Wurzel
Josse wären und dass die Heilsgeschichte sich nur innerhalb der
ihnen bekannten kleinen Gartenzäune abspielte.
Da nun auch in der höchsten Form der Religion
2. Die Phycha-
gogie. das Wesen des Wunders erhalten bleibt, indem es,
wie aus den Windeln der Furchtreligion entlassen,
ohne die kindischen Illusionen und ohne die abergläubischen
Ammenlieder zu edler Freiheit und kraftvoller Männlichkeit im
Umgang mit wissenschaftlicher Einsicht sich erhebt: so muss
auch neben der Erkenntniss des Wunders sein psychagogischer
Gebrauch geregelt werden. Für die selbsterlebten Wunder ver-
steht sich dieser auch von selbst; die Schwierigkeit liegt nur
darin, wie die in den kanonischen Schriften unserer allein wahren
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 221
christlichen Religion überlieferten Wunder wahrheitsgemäss und
heilsam gebraucht werden können.
Nun giebt man den Kindern unbedenklich die Grimmischen
Märchen und die Odyssee und Ilias in die Hände, und es gilt
mit Recht für abgeschmackt, statt sich an dem Sinn dieser Er-
zählungen zu erfreuen, mit altkluger Kritik auf die Fabelhaftig-
keit derselben aufinerksam zu machen. Man soll aber nicht
meinen, als müssten die heiligen Schriften, welche die christliche
Gemeinschaft tragen und erleuchten, in dieselbe Linie rücken.
Vielmehr wird Kind und Gemeinde den mächtigen Unterschied
sofort in ihrem Gefühl und Gewissen empfinden, da sich sowohl
beim Lesen selbst, als auch durch die Autorität, welche die Lehrer
der Kirche diesen Schriften beilegen, der Werth und Sinn und
die Gültigkeit derselben mit unzweifelhafter Deutlichkeit heraus-
stellt. Wenn gleichwohl bei einigen Geschichten die Aehnlich-
keit heidnischer und christlicher Wunderberichte zum Vorschein
kommt und die Kritik sich regt, so scheint es mir im Allge-
meinen pädagogisch richtig zu sein, die vorzeitige Aufinerk-
samkeit der Kinder von dieser Seite der Sache abzulenken, da
sie kein sittliches und religiöses Interesse bietet, sondern in
naturhistorische , astronomische , physikalische und chemische
Fragen hinüberführt. Der junge religiöse Mensch hat genug zu
thun, mit sich selbst in Ordnung zu kommen, und braucht diese
höchste Angelegenheit nicht von Erörterungen weltlicher Wissen-
schaft, deren Arbeit noch lange nicht abgeschlossen ist und die
er auch selbst noch nicht in competenter Weise beherrscht, ab-
hängig zu machen. Sollten aber wegwerfende Aeusserungen
competenter Naturforscher gerade die Oeflfentlichkeit beschäftigen,
so hat man der Jugend gegenüber wohl das Recht, auf die
Nichtigkeit solcher Autorität hinzuweisen, da immer nach ein
paar Menschenaltem alle früheren Naturforscher den späteren
als unwissend*) erschienen sind, während die heilige Schrift ihr
Haupt ruhig über Jahrtausende erhebt und das heilige Feuer
der religiösen Gesinnung unerloschen und unverlöschlich erhält
Auf diesen Sinn und diese unendliche und zeitlose Grösse des
*) Auch als lächerlich, wenn sie inzwischen das Richtige genauer
erkannt zu haben glauben, wie denn z. B. des Cartesius Zirbeldnlse und
Wirbel und esprits animaux und Swammerdamms Samenthierchen- Männlein
nur mit einer komischen Sauce in den akademischen Vorlesungen servirt zu
werden pflegen. ^^ GoOqIc
222 Religion der Furcht.
inneren Werthes hat man den Ton zu legen und die kritische
Untersuchung dem Streite der Gelehrten zu tiberlassen.
Den Erwachsenen und höher Gebildeten oder den Gelehrten
muss man aber natürlich Rede stehen tiber alles, was sie fragen
wollen. Unsere erste Pflicht wird demgemäss sein, dem preussi-
schen Könige Friedrich Wilhelm nachzuahmen, der 1713 bei
seinem Regierungsantritt die Etatliste aller bisher bestehenden
Hofbeamten von Anfang bis zu Ende durchstrich, indem wir
unsererseits die bisherigen Apologeten verabschieden, meinet-
wegen auf gnädige Art mit Pension und Uniform. Wie jene
Hofschranzen durch die kostspieligen Würzen des Hofjargons
das Unwahre mundgerecht und das Ueberflüssige unentbehrlich
zu machen verstanden, so suchen diese mehr einfältigen als ge-
sinnungslosen Apologeten das fromme Publikum zu überreden,
dass die Wundererzählungen und der ganze Bericht, den wir von
Leuten einer längst überwundenen, unreifen und volksmässigen
Bildungsstufe überkommen haben, alle Ansprüche der Wissen-
schaft überbiete imd neben Newton's Gesetze, wie neben die
officiellen Berichte des preussischen Generalstabes gestellt werden
könne. Solche höfische Apologeten brauchen wir nicht mehr.
Wir werden uns vielmehr der königlichen Worte erinnern: „aus
dem Munde der Unmündigen und Säuglinge hast Du Dir ein Lob
zubereitet", und werden deshalb auch die ungeschulten und un-
kritischen Wundererzählungen nur fttr das nehmen, was sie sind,
für Auffassungen der Dinge, wie sie noch heute bei Kindern
und im Volke erzählt werden und Glauben finden. Statt mit
der unvertilgbaren Missbilligung des Gewissens diese Berichte
für baare Münze auszugeben, werden wir den Ursprung und Sinn
derselben beachten und statt eines unerfreulichen und im Grunde
verlogenen Gezänkes mit den Vertretern der exacten Wissen-
schaften in die sittliche und religiöse Sphäre übertreten, wo
sofort die Naturforscher und Historiker ehrerbietig zurückweichen,
und wo das Leben und die unbestrittene Wahrheit dieser Ge-
schichten wohnt. Nur dadurch kann auch verhütet werden, dass
die Christen bloss als eine Sekte bomirter und von der geschicht-
lichen Entwickelung der Menschheit losgelöster Leute erscheinen,
während das Christenthum vielmehr die offenkundige Macht sein
will, die bei der hellsten Beleuchtung nur immer werthvoUer und
mächtiger heiTortritt.
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Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 223
Mithin werden die höher Gebildeten, wenn sie sehen, dass
man ihre Gesichtspunkte theilt und als Gleichgebildete theilen
muss, auch von der Geschmacklosigkeit abstehen, die naive
Aussenseite der Wunder immer wieder der Kritik zu unterwerfen
und mit den Thürhütem zu zanken, statt in die Wohnung zum
Gespräch mit dem Herrn des Hauses einzutreten. Die Prediger,
denen die Benutzung der Wunder zur Psychagogie anvertraut
ist, haben also die Pflicht, den Sinn und Geist derselben zum
Zwecke der Erbauung herauszuheben und mithin nur die. sitt-
liche und religiöse Bedeutung zu betonen. Ich muss gestehen,
dass die katholische Kirche darin zuweilen der protestantischen
überlegen erscheint, und bitte um die Erlaubniss, eine kleine
persönliche Erfahrung zu erzählen. Ich trat in die Katheclrale
zu Schwyz, wo ein Kapuziner die Kanzel bestieg und die drei
Wundergeschichten von der Erweckung von Jairi Töchterlein,
vom Jüngling zu Nain und vom Lazarus verlas. Während ich
mich nun schon darauf gefasst machte, die abgedroschenen und
gewissenlosen Phrasen über Gottes Durchbrechung der Natur-
gesetze und dergleichen unerbauliche Sophistik anhören zu müssen,
wurde ich aufs Höchste überrascht, weil dieser Mann im. ein-
fachen wollenen Hemd, ohne eine Silbe über alle nicht in das
Gebiet der Religion gehörige Streitfragen zu verlieren, die Ge-
schichten ganz unerörtert stehen liess und aus ihnen, wie aus
Parabeln, nur die tieferregende Schilderung zog, wie der Mensch
in die Sünde und den Tod der Sünde in drei Stufen verfällt,
was er an den Lebensaltem deutlich machte, wie aber die
wiedererweckende Kraft Gottes auch den schon in stinkende
Verwesung tibergehenden Verbrecher noch erreichen und zum
Leben der Liebe und des seligen Friedens zurückführen könnte.
Mit sichtlicher Aufinerksamkeit und innerlicher Erregung folgte
die Gemeinde seinen Worten, die als Frucht nicht den Stoff zu
einem werthlosen theoretischen Salon -Geschwätz hinterliessen,
sondern eine dem Worte der Wahrheit zukommende lebendige
Kraft bildeten zur Leitung des Lebens und zur Einreihung
unserer Persönlichkeit in den Dienst des Reiches Gottes. Dies Bei-
spiel möge hier genügen; die genauere Anweisung, wie die Wunder-
geschichten der heiligen Schrift zur Psychagogie zu benutzen sind,
gehört in die christliche Homiletik, wo noch einige andere Wege
des Gebrauchs ausser dem parabolischen gezeigt werden müssen.
uiuuizeu uy "V-j vy\J>t Iv^
224 Beligion der Furcht.
Ich liebe nicht das Yersteckspielen, welches sowohl Kant
als Hegel mit den Theologen trieben, indem sie die dogmatische
Ausdrucksweise gebrauchten und doch etwas Anderes dabei im
Sinne behielten. Deshalb erlaube ich mir immer an deutlichen
Beispielen die Begriflfe zu illustrieren, und möchte auch hier
noch gern ein Beispiel ausfllhren. Da nämlich z. B. bei jenen
Todtenerweckungen gar nichts Geschichtliches herauskommt, da
weder das Mägdlein, noch der Jüngling, noch der Lazarus nach-
her irgend etwas leisten, was in der Geschichte ruchbar und
von Einfluss geworden wäre, so haben diese Erzählungen auch
nur eine allgemeine, d. h. parabolische Bedeutung und können
nicht als Wunder in achtem und strengem Sinne der Heils-
geschichte angehören. Wenn dagegen Paulus durch ein Wunder
vom Verfolger zum Anhänger Jesu wird und durch seine mächtige
Persönlichkeit das Christenthum durch die ganze griechische
Welt trägt, so darf ein solches Wunder, auf welchem gewisser-
massen noch die heutige Christenheit steht, nicht als Parabel
oder Illusion abgethan werden. Vielmehr liegen hier alle Ele-
mente eines wahren und grossartigen heilsgeschichtlichen Wunders
zu Tage, das sich deshalb offen besehen lassen kann. Zunächst
haben wir gewisse zwar natürliche, aber für die individuelle
Lage des Saulus überraschende und erstaunliche Phänomene oder
Gesichte zu constatiren. Da er durch dieselben in Furcht und
in eine tiefe Erschütterung des Gemüthes gerieth und dieselben
perspectivisch als Zeichen und als Kede Gottes an ihn deutete,
wodurch sein Leben geleitet und er aus einem Verfolger zu
einem Bekenncr und Apostel gemacht werden sollte, so kommt
hier das ganze Wesen des Wunders in volles Licht Dieses
Wunder ist aber nicht blos für die individuelle Lebensentwicke-
lung des Paulus ein Knotenpunkt gewesen, sondern ein Wende-
punkt der Weltgeschichte, da wir ohne die Persönlichkeit und
die Apostelschaft des Paulus weder die christliche Kirche, noch
die ganze christliche Cultur in der Weltgeschichte besässen.
Obgleich nun die von Paulus erlebten Erscheinungen und Ge-
sichte an sich ganz mögliche und natürliche Ereignisse sind
und deshalb einer mechanischen Erklärung nichts in den Weglegen,
so sind sie doch nach den obigen Auseinandersetzungen ftir die per-
spcctivische Auffassung als zufällige zu bezeichnen und müssen
uns doshalb, soweit wir unsere Vernunft gebrauchen und jetzt den
Allgemeinere Fragen. Das Wunder. 225
grossen historischen Zusammenhang übersehen, als zweckmässig
und beabsichtigt, als wahre Wunder, als Sprache und Verkehr
Gottes mit der Menschheit erscheinen. Wir werden aber freilich
nicht, wie Kinder und Pöbel, die natürlichen meteorologischen
und die pathologischen Phänomene anstaunen, nämlich Blitz und
Donner, Blendung, Ohrensausen, Ohnmacht u. dergl., sondern die
Fügung und ihre Interpretation, worin die religiöse und welt-
geschichtliche Bedeutung dieses Wunders besteht. Denn wie das
jungfräulich-majestätische Himmelsbild der Sixtinischen nicht in
den Oelflecken besteht, die der Bafaelische Pinsel auf der Lein-
wand zurückliess, sondern in der enthusiastischen Phantasie des
Künstlers, der das Licht, das ihn erleuchtete, auszustrahlen ver-
mochte, und in unserer nachschaffenden Phantasie, welche die
Strahlen wieder zu der Himmelserscheinung zusammenfügt: so
ist auch das ßuchstabenmaterial, durch welches die Gottheit
spricht, ganz gewöhnlicher Art; die Deutung aber verlangte
einen, so grossen Mann, wie Paulas, den sich Gott auserlesen
hatte, und der nun in der ganzen Weltgeschichte einzig dasteht,
weil er den Sinn der Sprache Gottes vernahm, das ausströmende
Licht der Heilswahrheit fasste und sie in zündenden Worten
und mit kräftiger, durch die Jahrhunderte reichender Stimme
auslegen und verkünden konnte.
Solche Wunderthaten Gottes, in denen sich das, was wir
mit beschränktem Sinne Zufall und Fügung nennen, zu einer
welthistorischen Bedeutsamkeit erhebt und eine über das indi-
viduelle Seelenleben hinausgehende, die Menschheit umfassende
Regierung Gottes offenbart, muss der Homiletiker aussondern
aus dem übrigen Haufen und so überhaupt eine jede Art der
als Wunder bezeichneten Erzählungen der heiligen Schrift mit
wahrhaft christlichem Sinne studiren, um die verschiedenen Wege
ihres richtigen Gebrauches aufzufinden. Blitz, Donner, Erdbeben
u. dergl. können auch einen Hund und einen Ochsen in Schrecken
versetzen; für den Christen aber wird nur das als Wunder gelten,
was uns das Wort Gottes in dem specifisch christlichen Sinne
offenbart; denn nicht der alte heidnische Furchtgott und nicht
der jüdische Rechtsgott mit seiner Rp,che und seinen Ver-
heissungen thun christliche Wunder, sondern nur der Gott der
•Erfüllung, der Liebe, des Friedens, der Wahrheit, der Gott, der
Teichmüller, Religionfiphilosophle. 15
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226 Religion der Furcht.
Mensch geworden ist, die Welt tibewunden hat und in der
Geschichte lebendig regiert
Ich schliesse diese Betrachtungen, indem ich die
Epüogni. Regiiitate zusammenfasse, mit einer Warnung an die
christlichen Prediger, nicht durch unaufrichtige Apologetik zum
Judenthum und Heidenthum zurückzukehren; denn dem Sohne
des Menschen waren die Wunder der Furchtreligion verhasst,
und er forderte keine Legionen Engel zu seiner Befreiung vom
Sclaventode und schalt die Juden wegen ihres Verlangens nach
Zeichen und Wundern. Wenn das Christenthum gebunden wäre
an die Auffassung des Paulus und seine Erwartung einer un-
mittelbar bevorstehenden Rückkunft Christi zur äusserlichen Auf-
richtung des Messiasreiches in dieser Welt, so würden wir, da
fast zwei Jahrtausende jetzt seit diesen jüdischen Illusionen ver-
gangen sind, keinen Gebrauch mehr von solch einer Beligion
machen können. Das ist aber das Grosse in dieser Reli^on,
dass sie nicht wie die mohamedanische in directen Aufzeich-
nungen des Meisters überliefert ist, sondern als ungeschriebener
lebendiger Geist in der persönlichen Gemeinschaft da ist und
wirkt, unabhängig selbst von dem ältesten Kanon, da auch die
kanonischen Schriftsteller, Evangelisten und Apostel, wie Körper
von verschiedener inneren Structur das von ihnen nur auf-
genommene göttliche Licht zum Theil absorbiren und es in ver-
schiedenen Brechungsexponenten durch sich durchgehen lassen,
wobei ihre eigene individuelle, nationale und zeitgemässe Be-
sonderheit mit zu Tage kommt. So ist uns hierdurch die Mög-
lichkeit gegeben, das Christenthum nicht als eine todte und
stereotype Edition zu betrachten, sondern mit historischer Kritik
und liebevoller Vertiefung den ursprünglichen und ftlr alle Zeiten
gültigen Sinn divinatorisch zu erfassen und alle die im Laufe
der Geschichte entstandenen bloss zeitgemässen und unreifen
Auffassungen und Formulirungen als entbehrliche, vergängliche
und zum Theil unwürdige Hüllen abzustreifen. Das Christkind
wird ja in einer Krippe geboren, und Bauern und Hirten, Ochs
und Esel stehen in seiner nächsten Umgebung, und dennoch
war es der Herr der Welt. Unter Juden, die von allen ihren
Yorurtheilen und nationalen Leidenschaften besessen sind, muss
sich zeitlebens der Gottmensch zerren und quälen und endlich
hängen lassen, und doch war er flir alle Welt gekommen und
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Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 227
wird als König der Wahrheit in allen Völkern und Zeiten re-
gieren. Darum verschone man uns mit den Zeichen und Wundem
der Furchtreligion, die ftlr die Juden eine grosse Bedeutung
hatten, aber nicht ftir Christen; man trete auch nicht über auf
den Standpunkt der Gegner des Christenthums, welche in den
Wundem nur Durchbrechungen der modernen Naturgesetze sehen,
und suche nicht in diesem von den Feinden herübergenommenen
Sinne die Wunder zu verherrlichen, die doch nur nach der da-
maligen Naturauflfassung für möglich galten und beachtenswerth
waren, aber nichts für die Weltgeschichte im Ganzen und für
die unermessliche Zukunft der Religion bedeuten können. Das
Reich Gottes besteht nicht in solchen Wundem und Zeichen,
sondem in einem umgewandelten Geiste, in Leben, .Wahrheit
und Kraft. Viele Wunder, welche die dem Volke angehörigen
Berichterstatter der heiligen Schrift erzählen, stammen nicht aus
dem Geiste Christi, sondem aus dem Munde von Unmündigen
und Säuglingen, die seinen Geist nicht anders als in dieser ihnen
angemessenen Form erfassen konnten. Geben wir einem Jeden,
was ihm gebührt, dem darin geoffenbarten ewig wahren Geiste
Gottes das Lob, das er sich aus ihrem Munde zubereitet hat,
die Wundergeschichten aber der Furchtreligion, der sie gehören.
§ 2. Das Schicksal.
Da die sogenannte Schicksalsidee sich in vielen
Religionen und auch in der Form der Prädestination ^^' ^°^^ ^^^
in einigen christlichen Confessionen findet, so ist es
eine Frage der Logik, ob diese Idee bei jeder dieser Religionen
aus der Art schlage und deshalb wegen ihrer specifischen Diffe-
renz jedesmal besonders behandelt werden solle, oder ob sie
etwa in ihrer identischen Allgemeinheit abgesehen von aller
Religion vorher für sich erörtert werden könne. Nun ist nach
der Dialektik, die ich zuerst in meiner Metaphysik ausführte,
jeder Begriff durch seine Beziehungspunkte festzulegen, wodurch
ihm ein bestimmter Ort in dem System aller Begriffe zukommt.
Ich meine dies nicht in dem Sinne der Aristotelischen Topik,
nach welcher die Oerter die Gemeinplätze sind, auf denen das
logisch Einzelne und Particuläre sich sammelt, sondem ich will
hier ohne Rücksicht auf die Kategorie der Quantität die Orts-
uiumzeu uy V^J v^WV i^
228 Religion der Furcht.
bestimmang in einem Goordinatensystem logisch zur Geltung
bringen. Denn wie z. B. die Reetascension nur in Beziehung
auf den Himmelsäquator der Declination zugeordnet ist, so kann
man auch keinen Begriff genügend verstehen, bis man seine zu-
gehörigen Goordinaten aufgefunden hat Leider lässt sich nun
nicht behaupten, dass die Schicksalsidee nach dieser Methode
bisher schon von den Theologen oder den Philosophen bestimmt
sei, und wir mtlssen daher die Frage von vom an erörtern.
Bei den früheren Gelehrten finde ich drei Punkte zur Gharak-
terisirung der Schicksalsidee bemerkt und hervorgehoben, erstens
die Nothwendigkeit, zweitens die Vorherbestimmung aller
Ereignisse, drittens die Blindheit dieser nicht von Vemunfk
oder Liebe geleiteten Vorherbestimmung. Allein hiermit sind
blosse Gharakterisirungen gegeben, d. h. consecutive und viel-
leicht auch eigenthümliche Merkmale; aber das Wesen des Be-
griffs ist dadurch ebensowenig bestimmt, als wenn man den
Löwen als gelbhaarig, grossmüthig und sehr stark definiren
wollte, ohne zu melden, was wir zuerst wissen müssen, dass er
eine Katzenart bildet. So verlangen wir auch die Schicksals-
idee zuerst an ihrem systematischen Orte durch die zugehörigen
Beziehungspunkte festgelegt zu sehen.
Nun zeigt die analytische Behandlung des Schicksalsglaubens
in der Menschheit sofort, dass diese Idee nicht etwa unabhängig
von aller Eeligion als ein metaphysischer oder naturphiloso-
phischer Begriff festgestellt und den religiösen Meinungen etwa
wie das Causalitätsgesetz, oder wie der Begriff des Seins vor-
angeschickt werden müsste, sondern dass dieser Glaube, den
man eine Idee nennt und recht gut auch eine Meinung nennen
könnte, sich nur im Kreise der Beligion findet und daher zur
religiösen Dogmatik gehört, da von Schicksal nur die Rede
ist, wenn, der Mensch sein Leben in Beziehung auf sein Gottes-
bewusstsein betrachtet und zu dem irgendwie aufgefassten gött-
lichen Wesen Stellung nimmt.
Zugleich aber ist klar, das die Schicksalsidee nicht in allen
Religionen vorkommt und folglich kein zur Definition der Religion
gehöriger Begriff ist Daraus aber ergiebt sich, dass diese Idee
einer bestimmten Religion allein angehört; denn die Religionen
wären nicht wissenschaftlich scharf unterschieden, wenn ihre
Goordinationssysteme sich einander nicht ausschlössen. Wie kein
u.quizeauy Google
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 229
Dreieck zu den Vierecken oder Fünfecken gerechnet werden
kann, so müssen auch die fieligionen durch ihre zugehörigen
Coordinaten als bestimmte Formen erkannt werden, wenn auch
immerhin in dem einzelnen Gläubigen alle Vorstellungen und
Gefühle in einander überfliessen und sich mischen können; denn
diese Nichtunterscheidung des subjectiven Seelenlebens von den
sich darin verwirklichenden objectiven Formen ist die Ursache,
weshalb bisher in der Religionsforschung keine Klarheit und Be-
stimmtheit herrschte, sondern immer nur fliessende Unterschiede,
gewisse hervorstechende Charaktere und durchschnittliche Züge
angegeben wurden, wodurch alle reine Wissenschaft unmöglich
und die Philosophie in eine mehr oder weniger geistreiche, im
Ganzen aber zuchtlose Culturgeschichte verwandelt wird. Wer
Wissenschaft, also feste Begriffe liebt, wird die Geometrie ab-
sondern von dem Mischmasch der empirisch gegebenen Formen
und ebenso eine reine Keligionsphilosophie begehren, die endlich
einmal der in lauter unbestimmten Begriffen lallenden Cultur-
geschichte die Thüre weist.
Die Einwendungen, welche hiergegen von der
Hegel'schen Dialektik und von dem Darwinismus Äriuuoher
gemacht werden könnten, wird man nur mit Ironie Hegei'schc nia-
zu erörtern haben. Denn erstens werden die Hege- ^^^^^ ^"^ ^®^
lianer, da sie alle Begriffe undlormen ausemander
entwickeln und ineinander tiberflihren wollen, auch wissen, welcher
Negativitätstrieb in dem Dreieck steckt, so dass es sich aufhebt
und zur höheren Wahrheit des Vierecks übergeht, welches durch
die Diagonale ja die in ihm enthaltene und aufgehobene Natur
des Dreiecks offenbart. Die Begriffe haben aber keine Beine
und gehen nicht von der Stelle, an die sie gehören. Nur durch
Hinzunahme neuer Beziehungspunkte kommt man zu einer be-
stimmt zugeordneten neuen Form; die Formen selbst aber stehen
so fest wie die Zahlen, von denen auch keine in die andere
überzugehen die Gewohnheit hat; denn die Welt der Wahrheit
ist kein hin und her wackelnder Trunkenbold, womit Hegel, ohne
die Selbstironie zu bemerken, seine Welt verglichen hat
Die Darwinisten aber hängen sich an das Princip der
Continuität, das eine unfertige Philosophie ihnen geliefert hat,
und füllen, da die Erfahrung nirgends Continuität zeigt, die
Lücken durch den Unverstand unendlicher Zeiträume aus. AVären
uiumzeu uy x^j vy\J>t Lv^
230 Religion der Furcht.
sie etwas geübt im Philosophieren, so würden sie gleich sehen,
dass ein Gesetz des Sprungs ebenso nothwendig zur Conti-
nuität hinzugehört, wie das Links zum Rechts und das Unten
zum Oben. Denn wenn auch eine grosse Latitude quantitativer
Unterschiede in den einzelnen Lebensformen zulässig ist, so er-
fordert doch jede qualitative organische Neubildung einen neuen
Beziehungspunkt draussen und damit zugleich eine coordinirte
Abänderung in dem ganzen Lebenssystem. Wenn die Gattungen
der Thiere auch gewiss auseinander entsprungen sind, so musste
bei jeder neuen Form doch eine neue äussere Lebensbedingung
die zugehörige organische Umformung auslösen. Wenn man erst
zeigen wird, dass die Farbenempfindungen nur quantitativ ab-
geänderte Tonempfindungen und diese wieder Geschmacks-
empfindungen u. s. w. sind und die Musik im Grunde nur quan-
titativ von der Malerei verschieden ist, wenn erst das Denken
auf gewisse quantitative Verhältnisse von Lust und Unlust zurück-
geführt ist und das Gehirn auf den Herzmuskel u. s. w., dann
wird man glücklich am Ende alle Qualitäten abschaffen, um bloss
Quantitäten übrig zu behalten, und dann zugleich mit Lachen
bemerken, dass man auch mit ihrem Gegensatze die Quantität
selber verloren hat; denn ohne Unten giebt es halt kein Oben,
ohne Links kein Rechts, ohne Sprung keine Gontinuität und ohne
Qualität keine Quantität Wer also die Wahrheit lieb hat, der
wird bescheiden jedem Begriff seine zugehörige Sphäre anweisen
und sich nicht lächerlich machen durch Selbstvemichtung.
Die Darwinisten haben vollkommen Recht, wenn sie eine
Entwickelung aller Dinge und auch der Begriffe zu erforschen
suchen, und sie haben deshalb viele neue Einsichten verbreitet
und viele alte Vorurtheile zum Verschwinden gebracht.*) Gleich-
wohl fehlt ihnen an zwei cardinalen Punkten die rechte Auf-
*) Mir selbst ist dies sehr merklieb geworden, und ich bitte um £r-
laubniss, Persönliches zu erzählen. Als ich, es war etwa 1852 oder 1853,
den Professor der Zoologie Blasius in Braunschweig besuchte und als be-
scheidener Student ihn fragte, wie er sich die Entstehung der Säugethier-
species dächte, die doch nicht von Ewigkeit vorhanden gewesen wären, da
antwortete er mit Emphase, die exacte Wissenschatt kümmere sich um solche
Fragen gar nicht, und es sei ungehörig und unwissenschaftlich, sie aufzu-
werfen; die Naturwissenschaft hätte genug zu thun, das wirklich vorliegende
Material zu erforschen und zu bestimmen, und die Arten würden durch die
Zeugungsmöglichkeit nachweislich von einander abgegränzt; es sei aber nicht
uiyiiized by VjOOQIC
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 231
fassuDg. Erstens haben sie keinen Begriff von dem Wesen der
Zeit und tragen sieh noch mit der alten Auffassung des Aristo-
teles, wonach die Zeit ein wirksames , veränderndes und zer-
störendes Princip ist, das nach Anfang und Ende hin in's Un-
begränzte sich verliert. Sie wissen nicht, dass die Zeit bloss
eine Auffassnngsform, eine ideelle Ordnung ist, die an den Dingen
gar nichts verändert, und dass, weil keine Zeit zwischen Ursache
und Wirkung verfliesst, die Welt als technisches System voll-
kommen fertig und abgeschlossen ist. (Vergl. hierüber meine
Neue Grundlegung der Metaphysik.) Zweitens fehlt den Dar-
winisten die Erkenntniss desjenigen Princips, welches Piaton die
Ideen nannte. Wir werden zwar bei der Kritik des idealistischen
Pantheismus sehen, dass Piaton das Wesen der Idee noch nicht
befriedigend bestimmen konnte, da er mit dem Begriff der Materie
nicht in's Beine kam, die bloss theoretische Idee deshalb als
Formelement und Wesen der sinnlichen, fliessenden Welt dachte
und das Ich und die individuellen Wesen nicht erkannte. Gleich-
wohl hat Piaton das unbestreitbare Verdienst, zuerst auf die
Natur der Ideen aufmerksam gemacht zu haben. Um den Dar-
winisten gegenüber dies ideale Element geltend zu machen,
wollen wir zunächst die allmähliche Entwickelung alier Begriffe
in der Menschheit voraussetzen. Es gab also eine Zeit, wo man
noch nicht zählen konnte; allmählich kamen die Zahlen und die
Operationsformen des Rechnens auf, und bei den höchsten und
letzten Stufen mathematischer Erkenntniss weiss man auch genau,
wer sie aufbrachte und welche ähnliche, aber geringere Leistungen
und Versuche vorhergingen. Was sollen also nun die ewig fest-
stehenden Ideen bedeuten, wenn doch Alles fliesst und sich all-
mählich entwickelt? Das ist aber dennoch nicht schwer zu
sagen; denn die Erkenntniss der Zweiheit war zwar früher, als
Sache der Naturforschung zu fragen, wie die Formen entstanden wären; mit
solchen unnützen und nebelhaften Fragen und Hypothesen, so fügte er in
etwas bitterem Spotte hinzu, möchte sich vielleicht die Naturphilosophie ab-
geben. Kurz, mein vordarwinistischer Darwinismus, der jedem Denkenden
im Blute liegt, wurde im Namen der exacten Naturwissenschaft schroff ab-
gewiesen. Und heutzutage! welcher Contrast! Was in aller Welt soll sich
jetzt nicht entwickelt haben? Aus den Stasioten sind die Fliessenden ge-
worden, so dass man wegen der continuirlichen Liquidationen nur mit
energiachem Kampf sich noch einen festen Punkt erobern kann.
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232 Religion der Furcht.
der Begriff der Drei und Vier, und es konnten sich zwar die
Vorstellungen grösserer Zahlen erst bilden, nachdem vorher die
kleineren erkannt waren; lächerlich aber würde es doch jedem
Mathematiker sein, wenn man ihm erzählen wollte, die Drei
selbst sei aus der Zwei entstanden. Er weiss zu gut, dass
die Zwei immer und ewig Zwei bleibt und nicht den geringsten
Kitzel verspürt, sich zu verändern und zu entwickeln; er weiss
ebenfalls zu gut, dass die ganze Zahlenreihe zu gleicher Zeit,
d. h. unzeitlich, fertig ist, weil die Zahlen in der Natur des
menschlichen Verstandes liegen, so dass an ihrem Wesen da-
durch gar nichts geändert wird, ob sie von den Menschen ge-
funden werden oder nicht. Wie Amerika ganz ruhig dalag, auch
ehe es Golumbus fand und während man noch über die Möglich-
keit seines Vorhandenseins disputirte, so liegen die Ideen in den
allgemeinen Bedingungen des Denkens, und es ist ganz gleich-
gültig dabei, ob im Laufe der Zeit ein Mensch einmal dazu
kommt, die zugehörigen Beziehungspunkte aufzufassen und die
Idee zu finden, um einen sogenannten Begriff von der Sache zu
gewinnen. Die Auffindung einer Idee ist, wie wenn ein Opera-
teur einem angeblich Blinden durch einen kleinen Schnitt das
Auge öffnet Der Chirurg kann die Sehkraft und die innere
Organisation des Auges nicht schaffen; er vermittelt nur den
Gebrauch des Vorhandenen. So wird durch alles Lernen nur
die Function der ewig in ihren Bedingungen vorhandenen Denk-
formen ausgelöst, und alles, was man von Entwickelung und
Fortschritt und Culturerbschaft u. dergl. zu erzählen pflegt, ist
eine blosse Fabel, ein Kindermärchen, wenn man es auf die
Ideen selbst bezieht, da es nur Sinn hat, wenn man dabei
an die Individuen denkt, die allmählich im Lauf der Geschichte
dazu konmien, die zeitlos vorhandenen, in der Natur des Ver-
standes liegenden Zahlen, Figuren und Ideen aufzufinden.
Diese sogenannten angeborenen Ideen mit Locke zu bestreiten,
weil sie nicht von Haus aus von Kindern und Wilden erkannt
würden, ist ein Zeichen derselben Verwechselung, welche die
Darwinisten sich zu Schulden kommen lassen; denn es handelt
sich nicht um Begriffe, welche im Bewusstsein der Erkennenden
vorkommen oder nicht vorkommen, sondern um Ideen, d, h. um
die allgemeinen Formen der Acte des Denkens selbst, abgesehen
von ihrem empirischen Inhalt; diese Formen bilden, zu Bewusst-
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Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 233
sein gekommen, die immer feststehenden Begriffe, wie Sein,
Denken, Zahl, Ursache, Gegenstand, Zweck, Mittel u. s. w., und
es wäre lächerlich, diese Ideen auch einer Entwickelung zu unter-
werfen, wobei die Zweihcit allmählich im Laufe der Jahrtausende
zur Dreiheit werden mtlsste u. s. w. Die Geschichte der Be-
griffe zeigt bloss, durch welche Personen und unter welchen Be-
dingungen diese oder jene Idee so oder so zur Erkenntniss ge-
kommen, nebelhaft oder falsch bestimmt und in ungenügendem
Begriffe formulirt ist, bis wieder Der und Der die Fehler ge-
sehen und theilweise verbessert oder vielleicht endgültig die
Idee durch einen Begriff ausgedrückt hat. Eine solche Geschichte
der Wissenschaft ist nothwendig, und sie zeigt das allmähliche
Werden, Wachsen, Sichreinigen und Sichbefestigen unseres
Denkens; der zu erkennende Gegenstand ist aber zeitlos fest
und unterliegt keiner Veränderung und keiner Geschichte, eben-
sowenig wie die Naturgesetze dann erst entstehen, wenn sie von
einem Forscher gefunden werden.
Wenn die neuere Naturwissenschaft das Bestreben zeigt,
über die engen Gränzen, welche ihr Kant setzte, hinauszugehen
und in der Natur vielmehr eine mit dem Seelenleben identische oder
nah verwandte Welt nachzuweisen, so kann ich dies vom Stand-
punkt meiner Metaphysik aus nur anerkennen und die reichsten
Aufschlüsse davon erwarten, da es mir zweifellos ist, dass die
der sogenannten Natur zu Grunde liegenden Wesen, die sich
uns durch die Sinneserscheinungen wie durch eine Zeichensprache
kundgeben, von derselben Art wie unsere Seelen sind und dass
deshalb die Psychologie die Grundlage der höheren Functionen,
die sie erforscht, von den Naturforschem entlehnen muss, diie
wiederum die Deutung der Zeichen von dem Psychologen zu
lernen haben. Allein gerade an diesem Verhältniss wird es auch
einleuchtend, dass ebenso in der Natur, wie im Geiste gewisse
allgemeine Formen in dem inneren Leben und in den Beziehun-
gen der Naturwesen untereinander ein für alle mal feststehen,
während die einzelnen Naturwesen sich allmählich verändern und
entwickeln und zu diesen Formen hingelangen, dass sie aber zu
gewissen anderen Formen, die man sich etwa einbilden möchte,
überhaupt nicht gelangen können, weil dieselben nach dem Sinn
und Zusammenhange des Ganzen ein flkr alle mal unmöglich
sind, und alle Veränderungen überhaupt in den ewigen Gränzen
uiuiiizeu uy "V-j vy\J>t Iv^
234 Religion der Furcht.
der gesetzlich feststehenden allgemeinen Coordinationselemente
verlaufen. Der Fehler der Darwinisten besteht also darin, dass
sie dieses immer feststehende Element, welches als Gesetz in
der Natur und als Idee im Geiste gilt, nicht genügend beachten
und in einem gewissen Entwickelungsiieber auch die Gesetze
und die Ideen selbst der Veränderung und Entstehung preis-
geben wollen, da sie zwischen den einzelnen Dingen, welche all-
mählich gewisse Formen annehmen, und den Formen oder Ge-
setzen selbst in ihrem Eifer nicht mehr unterscheiden können.
Anwendung auf Gcgcu dic HegeVschc Dialektik und gegen die
die Schicksal»- Darwiu'sche Entwickelungstheorie muss deshalb die
Idee. Philosophie geschützt werden. Die wahre Dialektik
besteht in der Auffindung der Coordinationssysteme, in welchen
jeder Begriff seinen festen Ort hat; denn die Welt wartet nicht
darauf, durch irgend einen Zufall von der Stelle gestossen oder
durch inneren Widerspruch vorwärts getrieben zu werden, um
mit gutem Glück zu etwas zu kommen; nein, die Welt ist von
Ewigkeit fertig und braucht nichts mehr zu werden; der Schein
des Werdens stammt aus der Lebendigkeit und Realität der
Wesen, die zwar ihren festen Sitz im Ganzen haben, die Ord-
nung des Ganzen aber perspectivisch und also immer wechselnd
zur Erfahrung bringen. Doch dies gehört in die Metaphysik
und soll hier nicht bewiesen werden. Unsere Sache ist hier
bloss, die Formen der Religion in ihrer specifischen Reinheit zu
halten, damit sie sich nicht einfallen lassen, mit der im Trüben
fischenden Hegerschen Sophistik in einander überzugehen, oder
sich gar durch Darwin'sche Anpassungen allmählich zu verän-
dern. Jede Form ist ein ewiger Typus, eine unveränderliche
Idee; zu jeder neuen Form gehört aber ein neuer Beziehungs-
punkt, der in der vorhergehenden Form fehlte. Jede Religions-
form hat daher ihr eigenes Goordinatensystem und eine bestimmte
Ordnung von Beziehungspunkten. So gehört auch die Schicksalsidee
als dogmatischer Begriff nur in eine einzige bestimmte Religions-
form. Wo deshalb angeblich andere Religionen ebenfalls diese
Idee in sich aufnehmen, hat man mit Mischformen zu thun, die
in dem Seelenleben der Gläubigen sich beliebig zusammenfinden,
ohne dass die Formen selbst ineinander übergingen. Man hat
z. B. oft gesagt, es sei Jemand mit dem Kopfe Atheist und mit
dem Herzen Christ. Dergleichen kann man sagen, aber nicht
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 235
denken; denn zum Christen gehört auch ein Kopf und zu dem
Atheisten auch ein atheistisches Herz. Solchen Leuten darf man
deshalb zugestehen, dass in ihrem Seelenleben ein Mischmasch
von allerlei widerstreitenden Gefilhlen und Gedanken vorhanden
sei und dass sie also keine genügende Durchbildung besitzen;
damit ist aber keine Gemeinschaft von Atheismus und Christcn-
thum bewiesen und überhaupt kein Uebergang einer Form in
die andre illustrirt.
Die Analyse der in der Menschheit verbreiteten Schicksals-
idee zeigt nun sofort, dass es sich dabei immer um zukünftige
Ereignisse dreht, die ftir den Menschen Glück oder Unglück
bedeuten, also pcrspectivisch auf den Willen in seiner Form von
Furcht und Hoffnung bezogen sind. Da diese Gefühle aber
(wie oben S. 228 erinnert ist) bei dem Schicksalsglauben nur
ausgelöst werden, sofern der Mensch in seiner Gesinnung eine
bestimmte Stellung zu dem göttlichen Wesen einnimmt, so sym-
bolisirt sich in ihnen eine bestimmte Art der Religion, und es
kann keinem Zweifel unterliegen, dass demgemäss die Schicksals-
idee ihren einzigen festbestimmten Ort nur in der Religion
der Furcht hat, und dass alle übrigen Religionen nur insoweit
auch vom Schicksal und von der Prädestination Gebrauch machen,
als sie unreine Formen bilden und die Furchtreligion als ein
Element in sich aufnehmen, während sie durch die ihnen eigen-
thümlich und wesentlich zukommenden Elemente keine Be-
ziehung zu dieser Idee haben können. Mithin fordert die
Methode, die Schicksalsidee hier bei der untersten Religion zu
erörtern und bei den höheren Religionen nur allenfalls die Modi-
ficationen zu erwähnen, die durch Hinzutritt der neuen und eigen -
thümlichen Elemente derselben in den unreinen Religionsformen
erfolgen müssen.
Um das Wesen der Schicksalsidee aus dem ^„te Form
Grunde, d. h. aus ihren natürlichen Beziehungs- *«■*
punkten, zu verstehen, müssen wir uns in die ersten i^^e.
Anfänge der Religion zurückversetzen; denn die civi- »«rFineh.
lisirten Verhältnisse des Menschen sind so verwickelt, dass man
schwer die einfachen Coordinationselemente herausfindet. Da
nun der Wilde, ebenso wie das Kind, in der Welt ausser sich
nur geistige Wesen kennt, die ebenso, wie unser eigener Geist
in unseren Körper, in die Naturerscheinung versteckt sind und
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j
236 Religion der Furcht.
sich dadurch zeigen: so ist a priori einzusehen, dass in den Ur-
zeiten von keiner abstracten Naturnothwendigkeit, von keiner
Weltordnung u. dergl. späteren Ideen die Eede sein konnte.
Vielmehr wird der Mensch alles, was geschieht und was dem-
nächst geschehen wird, auf die vermutheten Absichten und
Willenszustände der anderen Menschen und der Dämonen zurück-
führen.
Da nun der Mensch der alten Zeit und auch noch das Kind
unserer Zeit von den gegenwärtigen Dingen und Ereignissen nur
das beachten, was angenehm oder unangenehm ist, so kann auch
das Zukünftige, soweit sie daran denken mögen, nur in der
Hinsicht ihre Aufmerksamkeit erregen, als sie Glück oder Un-
glück, Gutes oder Böses, Vortheil oder Schaden zu erwarten
haben, d. h. als ihre Furcht oder Hoffnung in's Spiel kommt;
denn ein objectives Geschichtsinteresse ist auf der ersten Stufe
der Cultur und Religion nicht vorhanden. Und da der Wille
überhaupt nicht mit der Vergangenheit, sondern nur mit der
nächsten oder der nicht zu weit entfernten Zukunft zu thun hat,
so kann auch die Schicksalsidee sich nur auf die perspectivisch
aufgefasste, d. h. auf unsere Furcht und HoflFnung bezogene Zu-
kunft erstrecken. Die Atropos niuss die erste Parce sein, nicht
Lachesis und Klotho.
Weil aber die Furcht in der Religion den Vorrang vor der
Hoffnung hat, wie oben nachgewiesen, haben wir jetzt die er-
forderlichen Beziehungspunkte in der Hand, um den Ursprung
des Schicksals psychologisch zu construiren. Denn es kann
nicht fehlen, dass der Mensch im Verkehr mit Anderen sehr
bald dem Zorn, der Habsucht, Wollust u. dergl. Leidenschaften
verfallt und daher, wenn sein schwächerer Gegner ihm nicht
gleich widerstehen kann, von demselben eine Drohung, eine
Unheilsverkttndigung, eine Racheverheissung, d. h. einen
Fluch anzuhören hat. Dies ist das Schicksal in der ursprüng-
lichsten Form; denn der bedrohte Mensch wird von nun an,
weil er sich an das Geschehene erinnert und sich selbst als
Ursache des Leides, der Wunden, Qualen, oder des Todes des
Andern weiss, bei jedem Blick in die Zukunft die Drohung seines
Feindes oder die UnheilsverkUndigung und den Fluch der von
ihm Gekränkten nicht vergessen können, da die Furcht die Er-
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Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 237
innerung lebendig erhält. Endlich erAlllt sich dann einmal die
Drohung und diese Erfüllung bleibt in der Erinnerung,
während die vielen Fälle eitler Drohung vergessen werden. Die
ErfllUung ist die Nemesis (Zutheilung), welche dem Bedrohten
seinen Theil giebt, d. h. dasjenige, was ihm nach dem Fluche
zukommt. So ist die ursprünglichste Schicksalsidee verständlich
durch die Verknüpfung der zugehörigen Beziehungspunkte; denn
die Verschuldung ist da, welche den Fluch hervorruft; die Furcht,
welche die Erinnerung lebendig erhält und die Erwartung spannt;
endlich die Nemesis, welche die erftillte Rache mit der anfäng-
lichen Schuld verknüpft.
Es ist nun wohl möglich, dass die Menschen in vielen Fällen
die in der Zukunft eingetretene Rache einfach auf die sich
rächende Person als Ursache zurückftihrten. Da aber diese Fälle
doch verschwindend klein sind gegen die grosse Menge der-
jenigen Fälle, in welchen die Beschädigten sich selber nicht
rächen können, während ihre Flüche und Unheilsanwünschnngen
doch durch andere Ursachen in Erfüllung gehen, so wird der
Mensch die Ursache des ihn treffenden Leides, weil er es nicht
auf den Fluchenden persönlich, und gewöhnlich auch nicht auf
die nächsten Umstände, zurückführen kann, auf keine andere
Sache so sehr beziehen, als auf den gehörten Fluch selbst,
weil ihm dieser wegen der Furcht in der Erinnerung fest ein-
geschrieben ist und diese Erinnerung sofort in's Bewusstsein
tritt, sobald die Unheilsanwünschung zur Erfüllung kommt. Mit-
hin muss der Fluch nun zu einem lebendigen und personenartigen
Wesen werden, und was uns jetzt als eine seltsame Abstraction
und Allegorie erscheint, das ist vielmehr nach richtiger Psycho-
logie der natürlichste Vorgang; denn der Fluch lebt ja in der
Erinnerung, und da er wirkliches Unheil hervorzubringen scheint,
so ist nichts natürlicher, als dass der Mensch ihn nach Aussen
in die wirkliche Welt als eine geheinmissvoUe, geistige, von
Entsetzen umgebene Macht projicirt. Dieser Thatsache begegnen
wir überall in den Religionen, bei den Germanen, den Indern,
den Juden, den Griechen und Römern, und diese Idee war so
stark, dass man selbst durch die ganze Zeit des gebildeten
klassischen Alterthums die höchste Angst vor einem Fluche und
vor jedem unheilvollen Worte empfand. Ja wir lassen noch
jetzt im Katechismus die Kinder lernen, dass des Vaters Segen
uiumzeu uy x^jvy\J>t Iv^
238 BeÜKion der Furcht.
den Kindern Häuser baut, aber der Fluch der Mutter sie nieder-
reisst.
Wie der Polytheismus nun den Anfang der Theologie zu
bilden scheint, so sind wohl auch die Fltlche ursprünglich in
der Vielheit gedacht worden; denn es gehört eine gebildetere
Denkthätigkeit dazu, um diese vielen und einzelnen Aussprüche,
mit denen man in der Wirklichkeit zu thun hat und die sich in
die Erinnerung eingraben, auf die Einheit einer Idee zurückzu-
fahren. Es könnte daher als zweifellos gelten, dass die im
Singular gebrauchte Idee der Parce, der Erinnys, der Nemesis
eine spätere Schöpfung wäre, und dass vielmehr der Plural die
Nornen, die Parcen, die Mören, die Erinnyen, die Flüche (apai),
die Keren u. s. w. die ältere Vorstellung bildeten. Denn die
Flüche hatten ja immer einen bestimmten einzelnen Vorstellungs-
inhalt vom Unglück, wie Todesarten, die man anwünschte, Seuchen,
Gift, Misswachs u. s. w. Diese Vorstellungen konnten von den
Aussprüchen nicht getrennt werden, weil sie deren Inhalt bildeten,
und so scheint die Mehrzahl ftlr die Flüche das Natürlichste
und Erste zu sein. Man darf aber, wie schon oben erinnert,
keinen grossen Werth auf die Frage legen, ob die polytheistische
Phantasie den Anfang des religiösen Bewusstseins gebildet habe.
Denn der einfache Mann schiebt überall das Gleichartige in die
Einheit der Auffassung und Bezeichnung zusammen, da es ja
nicht auf das einzelne Object ankommt, sondern auf das Be-
wusstsein des von uns vollzogenen Auffassungsactes,
der in seiner Form und in seinen Beziehungspunkten
einheitlich ist. Darum sagt das Volk bei uns, „der Franzose^
fiel in's Land, „der Russe" will Konstantinopel, undVirgil sagt:
„Römer", denke daran, die Völker zu beherrschen u. s. w. So
werden auch die in einer Vielheit wahrgenommenen Thiere durch
den Singular eines Appellativs bezeichnet, und mithin ist es nicht
wohl festzustellen, ob nicht sofort auch die Mehrheit der Flüche
wegen der Gleichartigkeit der Beziehungspunkte und der zu-
gehörigen Stimmung als Einheit der Vorstellungsweise zu Be-
wusstsein gekommen ist.
Es ist eine interessante Frage, wie es zuge-
dM o^u^^m" ga^ngen sei, dass man so fest an die Macht und das
udieHMhtder Eintreffen der Flüche glaubte. Ich finde drei Gründe
''^''''' hierfür.
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Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 239
Erstens ist bei allen Wilden und Kindern der
Unterschied zwischen Vorstellung und Wahrnehmung ^ Ji^'^^^uunK
nicht beträchtlich. Was einem* angewünscht wurde, un<x
das stellte man sich leibhaftig vor, erschrak darüber ^**»™«'»™°°8-
und hatte es überhaupt gewissermassen an sich und bei sich,
Weil es im Bewusstsein lebte und auch von Andern gehört und
gewusst war, wodurch es schon eine äusserlich vorhandene Macht
wurde. Um sich dies ganz deutlich zu machen, was der modernen
Sinnesart nicht so leicht gelingt, muss man an die in unserer
Gesellschaft noch so bedeutsamen Wortinjurien denken. Wenn
selbst in unserem neunzehnten Jahrhundert ein Mensch einen
anderen schimpft;, so hat er Prügel zu erwarten. Warum? Die
unwahre Auffassung eines Anderen könnte demjenigen doch ganz
gleichgültig sein, der zu wissen glaubt, wie die Sache sich ver-
hält Ausserdem würden Prügel die Sache ja nicht ändern,
wenn der Beleidiger die Wahrheit gesagt hätte. Sagt Jemand:
„Du schielst, Du liinkst, Du hast einen Wasserkopf" u. dergl.,
so sollte man denken, dass durch solche Unwahrheiten ein Ge-
sunder gar nicht berührt werden könnte. Aber es verhält sich
anders; denn kein Mensch bleibt dabei ganz gleichgültig; viel-
mehr ist bei Kindern und Ungebildeten der Uebergang zu Thät-
lichkeiten der nächste Erfolg. Wie ist das zu erklären?
Es ist eine Täuschung, wenn man glaubt, bei den Ehren-
händeln und Duellen verhalte es sich anders. Der an seiner
Ehre Gekränkte versucht, wie die Rittergeschichten zeigen, möge
er mit dem Beleidiger allein im Walde sein oder sich in Ge-
sellschaft befinden, durch einen Waffengang die Beschmutzung
mit Blut abzuwaschen. Ist er denn aber wirklich beschmutzt?
Wozu braucht er vor der Herstellung der Ehre an einem tiefen
Schmerze zu leiden und sich zu schämen vor den Augen anderer
Menschen? Er ist ja ganz unverändert geblieben, ebenso wie
eine Tanne nicht zur Birke wird, wenn Jemand sie auch hundert
mal so nennen wollte.
Man sieht hieraus, dass die Worte wegen ihres Inhalts, den
man sich zu Herzen nimmt, eine reale Macht ausüben. Wahr-
genommene Wirklichkeit und blosse Vorstellung oder Einbildung
werden nicht recht unterschieden, und die gleich gesinnte Ge-
sellschaft, die auf derselben Stufe des Bewusstseins steht, unter-
stützt und ti'ägt diese Macht. Es ist aber ganz unhistorisch und
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240 Religion der Furcht.
unpsychologisch, wenn man seit Aristoteles in abstractem Rä-
sonnement bloss die Rücksicht auf die gesellschaftliche Meinung
der Ehre zu Grunde legt; denn erst muss in dem eigenen
Bewusstsein die Sache gelten; hernach beachtet man auch,
dass die Anderen in demselben Sinne gestimmt sind, und ftihlt
dadurch in sich selbst die Sache um desto nachdrücklicher. In-
teressant ist es deshalb, dass die Kinder in dem Alter, wo sie
illr gesellschaftliche Ehre noch nicht empfänglich sind, nicht nur
alles, was sie hören, glauben, sondern auch durch das, was über
sie gesagt wird, wie durch etwas Schreckliches in Aufregung
gerathen. Mithin wirkt der Inhalt des Gedachten, als wäre es
ein wirkliches Ereigniss. Daher muss die Thatsache, dass man
den Schimpfenden schlägt, nicht auf die verletzte gesellschaft-
liche Ehre zurückgeführt werden, sondern auf den Glauben,
beschädigt zu sein; weshalb man den Beleidiger zwingen
will, seine Incantation zurück zu nehmen. Hielte man die Worte
für Luft und den Inhalt der Worte flir blosse Gedanken, so
würde man nicht in Aufregung gerathen. Das von dem Beleidiger
Gedachte wird aber auch von dem Beleidigten gedacht und
wegen der Anschaulichkeit der Vorstellung sofort wie etwas
Wirkliches empftinden; also ist man geschädigt und beschmutzt
und versinkt entweder in Traurigkeit und Angst, oder man raffi
sich auf, die Verzauberung durch Schläge zu entfernen, indem
der Beleidiger nun alles durch eine Recantation wieder wegsingen
muss. Ich habe diesen psychologischen Hergang am Deutlichsten
in der Kalewala (B. III. v. 285 flf.) erhalten gefunden, wo der
Lappenjüngling Joukahainen durch den alten finnischen Zauber-
sprecher Wäinä^nöinen mitsammt seinem Schlitten verzaubert wird,
indem der Alte Wagen, Pferde, Mütze und Mann durch lauter
Vergleichungen in Zweige, Stroh, Wolken und Sumpf verwandelt
und erst für kräftiges Lösgeld den Unglücklichen wieder durch
eine Recantation befreit. Der ganze Zauber bestand aber offenbar
nur in den Worten, deren ideeller Inhalt das Bewusstsein des
jungen Lappen in eine Erstarrung versetzte. Weil man diesen
psychologischen Process nicht beachtete, konnte man auch bisher,
soviel ich sehe, bei dem Duell die Ehrenrettung durch Kampf
und Sieg nicht begreifen; denn es ist ja freilich unsinnig, dass
der Sieger in seiner Ehre wiederhergestellt werden soll durch
irgendwelche Wunden, die sein Gegner erhält. Bezöge sich
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Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 241
daher, wie man meint, die Ehrverletzung nur auf das Urtheil
der Gesellschaft, so könnte auch nur ein Ehrengericht etwas
helfen. Wenn die gesellschaftliche Ehre aber, wie ich hier
zeige, schon eine spätere Entwickelungsstufe ausdrückt, so
ist es nothwendig und natürlich, dass sie die Rudimente der
früheren Entwickelung in sich behält, die nun unverständlich
geworden sind. Diese Rudimente im Ehrenhandel bildet
die Vorstellung der Ehrverletzung durch Incantation, und diese
wird natürlicher Weise am schnellsten durch Prügel beseitigt,
wenn man dadurch die Recantation, d. h. die Herstellung
seiner persönlichen Integrität erreichen kann. Die Ehren-
erklärung ist deshalb aus der Recantation entsprungen, wo-
durch die Verzauberung weggesungen wird. Und alle diese
Vorgänge werden durch die Psychologie begreiflich, welche es
zu erklärend hat, wie das bloss Vorgestellte ebenso stark auf
das Gefühl wirken kann, wie etwas mit den Sinnen Wahr-
genommenes, weil bei einfachen Menschen eine Verwechselung
beider Elemente, des Sinnlichen und des Eingebildeten, wie im
Theater, ganz natürlich ist. Darum lassen sich noch heute Viele
auch sofort z. B. eine ihnen gut schmeckende Speise verleiden
und zum Ekel verkehren, wenn man etwas darüber sagt, etwa
dass Würmer darin seien, oder dass die Wurst so und so be-
reitet werde u. s. w. Der in dieser Weise Verzaubernde ist
aber auch nicht immer vor Prügeln sicher.
Diese Analogien werden das Verständniss ftir den Glauben
der Menschen an die Macht der Flüche dem modernen Bewusst-
sein näher bringen; denn man sieht daraus, dass der Fluch sich
in gewisser Weise sofort erfüllt durch die Belastung der Seele
des Verfluchten.
Der zweite Grund liegt darin, dass dem Fluch
doch immer wirkliche Beschaffenheiten des Ver- üchkeit
fluchten zum Anlass dienen. Dieser wird grausam, ^^ Eintreffena.
treulos, neidisch, roh, wüthend und überhaupt leidenschaftlich
sein und mithin im Verkehr mit seines Gleichen und der Welt
tausend Gelegenheiten bieten, bei denen das ihm Angewünschte
in ErftlUung gehen kann, so dass des Fluches Eintreffen recht
wahrscheinlich ist.
Der dritte Grund scheint mir aus der Auffassung 3. dic Sicherheit
von Leben und Tod hervorzugehen. Das Leben ist ^^ ^**^**-
TeichmüUer, BeliglonBphUoeoplxie. 16 C^ r\r\rs}r>
uiyiiizeu uy VJvJvJV IC
242 Religion der Furcht
nämlich dem Lebenden immer gewiss; der Tod aber ist etwas
Unnatürliches und Räthselhaftes, das eigentlich nur durch ein
Verbrechen oder eine Schuld eintritt. Keissende Thiere, giftige
Schlangen, böse Menschen, oder Blitz und Fluth und andere Un-
fälle ftihren den Tod herbei; dass er aber nichts als ein natür-
licher Process der Functionen und Reibungswiderstände des
physiologischen Lebens wäre, das kann dem Wilden und dem
Kinde nicht einleuchten. Da nun in der ältesten Beligion auch
alle Naturursachen belebt und persönlich gedacht wurden, so be-
greift man leicht, dass der Tod immer auf menschliche oder
dämonische Gewalten zurückgeftlhrt werden musste, und dass
man für deren böse Gesinnung nur eine Schuld des Menschen
voraussetzen konnte. So wird ja auch z. B. in der Genesis der
Tod an eine Schuld und an einen Fluch angeknüpft. Da nun
Verschuldungen einerseits und Zorn und Furcht andererseits in
der ältesten menschlichen Gesellschaft immerfort vorkommen
mussten, so konnte sich auch der Glaube an die Macht und Er-
füllung des Fluches sicher befestigen, weil kein Mensch in der
That dem Tode und mithin der Erfüllung eines Fluches entrann.
Die Keren ereilten Jeden.
Die älteste Form, in welcher die Schicksalsidee
^^^''' auftrat, waren also die Flüche. Da diesen der mäch-
tigste Affect, die Furcht, entspricht, so konnte die Hoffnung mit
dem ihr zugeordneten Segen nicht zu gleicher Bedeutung ge-
langen. Was der Segen aufbaut, wird vom Fluch niedergerissen;
der Fluch ist das mächtigere Element. Es ist aber immerhin
a priori vorauszusetzen und wird auch durch die Thatsachen
überall belegt, dass der Segen und die Segenssprüche ebenfalls
als dämonische Mächte, jedoch als solche, die Schutz verleihen und
Glück bringen, betrachtet wurden. Man sieht dies z. B. sehr
deutlich an dem vor Betrug nicht zurückscheuenden Eifer, mit
dem sich Jacob um den Segen des Alten bemüht. Dement-
sprechend wurden denn auch die blossen Gebärden des Segens
von magischer Bedeutung, und es hat sich aus dieser alten Zeit
auch noch heute das Einsegnen der Kinder, der Hostie und selbst
das Gratuliren erhalten. Denn dieses Glückanwünschen sollte
vor Schaden bewahren, weitere Wohlfahrt bringen und überhaupt
als eine gewisse Schicksalsmacht das Leben leiten. Die Gratu-
lationen bieten negativ ein Zeugniss daftir, dass kein Neid ent-
sprungen und also die häufigste Ursache zukünftigen Unglücks
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 243
beseitigt ist; positiv aber versichern sie Wohlwollen und also
Hülfe in der Noth. Daher ist auch die Wtinschelruthe und der
Caduceus des Hermes u. dergL in die Menschheit gekommen, da
irgendwelche Gebärden " und irgendwelche Werkzeuge zur Dar-
reichung erwünschter Dinge gebraucht werden mussten, die dann
in abgekürzter Zeichensprache zu Symbolen oder in abgekürztem
Gedankengang zu Segensworten übergingen.
Man könnte sich leicht einbilden, als ob Fluch ^^^^ ^j^^,^ ^^^
und Segen nur eine ganz vereinzelte Erscheinung im der Ursprung
Leben des Menschen wäre und nicht für das Be- ^^'^«"8*°°-
wusstsein zu einer allgemeinen, das Leben regierenden Macht
erhoben und zur Religionssache gemacht werden dürfte. Allein
nach der psychologischen Analyse, die wir an der Furcht vor
dem Fluche übten, zeigt sich doch sofort, dass mit Fluch und
Segen erst überhaupt die Sinnenwelt, die dem Thier und dem
thierischen Menschen die einzige ist, übersprungen und in eine
höhere, von dem Gefühl und der Phantasie eröffnete, der Weg
bereitet wird. Durch Fluch und Segen wird die Zukunft an
die Vergangenheit geknüpft und mithin das Land der Ver-
nunft, wenn auch anfangs noch tastend und blind, betreten.
Der Mensch erhebt sich über die blosse Gegenwart durch Er-
innerung, indem er, von Furcht und Hoffnung geleitet, in Ge-
danken sein Schicksal erzeugt. Während der Urmensch thierisch
in die beständige Sorge für Nahrung und in die brutale Be-
friedigung augenblicklicher Leidenschaft versunken ist, wie sollte
sich da anders Religion erheben, als durch Wachrufen von Er-
innerungen, in denen die Flüche und später dann auch Segens-
sprüche laut wurden? Diese geistigen Mächte, die in den Ge-
danken und Geftlhlen des Menschen lebten, projicirte er aus sich
heraus, und so vermischten sich die Fluchgötter mit den dunklen
Gewalten, die er sonst noch ftlrchtete. Die Psychologie muss
hier die Wiege der Religion finden. Da aber bei allen dogma-
tischen Formen dieser untersten Stufe des Lebens die Furcht
massgebend ist, welche immer über die Zukunft, also über das
Schicksal brütet, so kann auch die Verschmelzung der Fluch-
idee mit der sonstigen Theologie der Furchtreligion nicht als
schwierig betrachtet werden. Ich sage „Verschmelzung", weil
es sich hier nur um psychischen Mechanismus und nicht um
logische Begriffe handelt
DigMedby Google
244 Religion der Furcht.
Um diese psychologische Analyse historisch zu confir-
miren, will ich zu den oben beigebrachten Erinnerungen nur
noch ein paar Belege für die Verschmelzung der theo-
logischen Vorstellungen hinzufügen und zwar aus der bekannten
hebräischen Religion. So wird gleich im dritten Capitel der
Genesis die Bestrafung der Schlange und der Menschen von
Gott nicht anders, als durch einen Fluch vollzogen: ^jWeil Du
solches gethan, seiest Du verflucht vor allem Vieh, auf Deinem
Bauche sollst Du gehen" u. s. w. „Verflucht sei der Acker
um Deinetwillen! mit Kummer sollst Du Dich darauf nähren
Dein Leben lang". Ebenso im vierten Capitel über Eain: „Was
hast Du gethan? Die Stimme Deines Bruders Bluts schreiet zu
mir von der Erde. Und nun verflucht seiest Du auf der Erde,
die ihr Maul hat aufgethan und Deines Bruders Blut von Deinen
Händen empfangen." So mag man die mythischen Ueberbleibsel
weiter verfolgen bis in die historischen Zeiten hinein, ja bis zur
Verfluchung des Feigenbaumes im neuen Testamente und bis zu
solchon auch uns geläufigen Sentenzen, wie z. B. „an Gottes
Segen ist alles gelegen" u. s. w. — tiberall wird man finden,
dass das Gottesbewusstsein sich derartig mit der untersten
Schicksalsidee, die in Vorstellung von Flüchen und Segens-
sprüchen besteht, verschmolzen hat, dass die Wirksamkeit des
Gottes an ihre Vermittelung gewissermassen gebunden ist, oder
dass die Macht des Gottes überhaupt in seinem Fluch und
Segen besteht.
Es wäre eine thörichte Empfindlichkeit, wenn man sich dieser
Kudünente der Urzeit schämen und sie durch sophistischen Plunder
beschönigen wollte, als wenn nämlich das Segnen imd Fluchen
in der höheren Religion nur eine Ausdrucksweise sei, wie sie
die Sprache nun einmal zur Benutzung darbiete; denn darum
gerade handelt es sich, dass die sonst so reiche Sprache nur
diese Ausdrucksweise bewilligt, und dass man also durch die
Natur der Sache und die geschichtliche Entwickelung gezwungen
ist, die uralten Religionsvorstellungen, wenn auch nur in rudi-
mentärer Form, beizubehalten und sie sich gefallen zu lassen.
Zweite Form ^^^® ^^^^ Form, sci CS im physischen, sei es
der Schicksals- im gcistigcn Gebiete, kann sich immer nur durch
*"***' Hinzunahme eines neuen Beziehungspunktes bilden,
nach welchem eine andere Coordination erfolgt. Da nun die
Digitized by VjOOQIC
Allgememere Fragen. Das Schicksal. 245
historisch gegebenen Schicksalsvorstellungen durch die archaische
Fluchidee nicht erschöpft werden, so kommt es darauf an, den
neuen Beziehungspunkt herauszufinden, der die zweite Form der
SchicksalsYorstellung nach sich zieht.
Wir werden uns aber nicht auf rathloses Suchen
legen, sondern nach einer Methode den gesuchten Bori^un^punkt.
Punkt citiren und zum Erscheinen zwingen. Da
die Flüche nämlich in das rein individuelle Leben verwoben sind
und eine bloss perspectivische Auffassung des Geschehens
aller Dinge voraussetzen, so muss der nächste Beziehungspunkt
in der objectiven Auffassung der Wirklichkeit liegen, weil die
fortschreitende Welterfahrung des Menschen nothwendig immer
mehr Beachtung des Lebens und der Schicksale Anderer mit
sich bringt und also allmählich ein von unserem persönlichen
Interesse unabhängiges Weltbild erzeugt. Es dreht sich zwar
nicht sofort um exacte Naturforschung und kritische Weltgeschichte,
welche überhaupt niemals als lebendige Kräfte eines Volkes,
sondern immer als die Prärogative einer Minderzahl von Begab-
teren auftreten-, vielmehr handelt es sich überhaupt nur um die
Befreiung aus der tiefen Knechtschaft der blos perspectivischen
und selbstsüchtigen Auffassung und Gesinnung. Eine solche
Emancipation des armen Naturmenschen wird aber allmählich
durch die Erweiterung seines Interesses auf seine Familie und
die Gesellschaft herbeigeftlhrt, sobald die Nothdurft des Lebens
leichter zu befriedigen ist, und der beständige Kampf um das
nackte Dasein durch die Theilung der Arbeit und durch andere
glückliche Folgen der Geselligkeit aufhören kann, und mit einer
verhältnissmässigen Müsse auch das Auge ftlr die uninteressirte
Beachtung der Wirklichkeit geöflßaet wird.
Nachdem wir nun psychologisch das Gebiet bestimmt haben,
auf welchem der neue Beziehungspunkt zu suchen ist, so kann
es nicht fehlen, dass er uns von selbst entgegenkommt; denn
die objective Beachtung des wirklichen Geschehens zeigt überall
die causa efficicns, die mechanische Verkettung der Dinge.
Es entsteht der Begriff der Zeit, und der Mensch vergleicht das
Vergangene, das er in Erinnerung behielt, mit dem Gegenwärtigen,
das ihm die Sinne darbieten, und mit dem Zukünftigen, über
welches er nach Analogien seine Vermuthungcn hat. Da das
Zukünftige in kurzer Zeit auch vergeht und zur Erinnerung wird,
uiumzeu uy x^jvyVjVlv^
246 Religion der Furcht
80 kann der aufinerksaine Mensch bald eine gewisse Ordnung
der Dinge erkennen, in welcher alles Geschehene zusammenhängt,
so dass der Kluge flir jede Lebenslage immer frühere Beispiele in
Erinnerung hat, wie dies besonders anschaulich die Hitopadesa zeigt
Wenn wir diesen neuen Beziehungspunkt mit dem
cJ^dtolutn. früheren, der unser persönliches Interesse vor Augen
stellt, verknüpfen, so muss sich eine neue Idee bilden.
Durch unser Interesse ist nämlich der Lauf der Dinge anders
zu bestimmen, als die Erfahiiing ihn vermuthen lässt Der leiden-
schaftliche Mensch wirft sich deshalb mit äusserster Energie in
den Kampf mit den Dingen, um sie nach seinem Willen zu
gestalten. Gleichwohl erreicht er sehr oft das Gewollte nicht
Die Erfahreneren kommen deshalb zu der Einsicht, dass der
Wille des Menschen, seine Wuth, seine Wollust, sein Ehrgeiz,
sein Hass, seine Hab- und Herrschsucht selbst zu den wirkenden
Ursachen alles Geschehens gehören und von dem einzelnen
Menschen unabhängig sind. Da vdr nun eine religiöse Welt-
anschauung vorauszusetzen haben, so ist es natürlich, dass der
Gläubige nicht materialistisch und positivistisch bloss die Er-
scheinungen betrachtet, sondern überall die göttliche Einwirkung
hinzudenkt Also wird Paris von der dämonischen Macht der
Aphrodite zur Entführung der Helena verleitet, Ajax wird von
einem Dämon zur Raserei gebracht und so wird überhaupt der
Wille und die Handlung des Menschen immer auf einen Gott
oder einen Dämon zurückgeführt, wie dies Piaton, der den
Standpunkt theilte, so wunderbar anschaulich darstellte, indem
er die Menschen mit Drahtpuppen verglich, welche von den
Göttern bald an erzenen, bald an silbernen Drähten gezogen
werden, nämlich bald durch gemeinere, bald durch edlere Leiden-
schaften und Geftlhle.
Indem nun der sogenannte freie Wille nicht mehr gegen die
Ordnung der Dinge auftreten kann, sondern selbst nur ein Glied
in der allgemeinen Ordnung des Ganzen ist, so muss der Mensch
die Vorstellung gewinnen, dass von den dunklen Mächten über
ihn verfügt werde, und dies ist die religiöse Idee des
Schicksals.
Bei den Hebräern ist diese Idee nicht so deutlich nach-
weisbar, obwohl ihr Gott den Menschen auch bald dies, bald
jenes in's Herz giebt, sie verstockt, mit Blindheit des Geistes
uiymzeu uy x^jv^' v^'pc iv^
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 247
schlägt, sie mit Feigheit oder Uebermnth erfüllt n. s. w., damit
ihr Wille in diejenige Ordnung des Geschehens sich füge, die er
beschlossen hat. Dennoch wird überall auch noch die ältere
Form der Schicksalsidee eingemischt, da die Flüche über viele
Geschlechter Verderben bringen und der Segen einige Gott-
geliebte zu besonderem Wohlsein bringt oder rettet Ebenso
wird die zweite Form des Schicksals bei den Hebräern durch
moralische Elemente yerunreinigt, die schon der höheren Rechts-
religion angehören und das Schicksal dem Maasstabe der Sünde und
des Gesetzes unterwerfen. Dagegen findet sich die hier definirte
zweite^ Form der Schicksalsidee in grösserer Reinheit bei den
Indern, in deren Sagen die wunderbarsten Zufillle schliesslich
doch das herbeifbhren , was durch irgend eine Vorhersagung
bekannt war, aber von den Betheiligten mit der grössten Energie
des Willens und mit Ehrlichkeit oder Schlauheit yermieden werden
sollte. Ebenso zeigen die sogenannten arabischen Märchen
durchaus diese religiöse Auffassung des Schicksals, wobei nur
selten eine geringe Verunreinigung der Idee durch moralische
Auslegung vorkommt, in den meisten Fällen aber die blosse, von
Dämonen geleitete, ein für allemal feststehende Verkettung der
Dinge den Menschen mit seinem Willen nur zu einem Gliede
der Kette macht und über ihn völlig ohne absehbare Zwecke
verfugt Auch bei den Hellenen ist diese Schicksalsidee in
grosser Reinheit anzutreffen; ich erinnere nur kurz an den Mann
mit einem Schuh, als einzige Rettung von der Sphinx, an das
brennende Holzscheit Meleager's, an Philoktet's Pfeile, die über
Troja entscheiden, u. s. w. In späterer historischen Zeit blieb
dieselbe religiöse Auffassung stehen, wie am deutlichsten Herodot
an den Tag legt; aber auch die grossen Tragiker huldigen im
Ganzen dieser Idee, obwohl sie, von der Philosophie gebildet,
durch ethische Auslegungen die archaische Form verunreinigen,
ohne eine höhere Religion finden zu können. Dass die Edda
von derselben Stufe des religiösen Bewusstseins Kunde giebt,
braucht nicht bewiesen zu werden; wer erinnert sich nicht an
den blinden Schützen und sein harmloses Geschoss, das allein
den Tod Baldur's verursachen kann.
Unser Interesse ist aber nicht , ansprechendes j^^j, ^.^^^
Material zu sammeln und den Leser zu den ver- ohanikt«r dieser
schiedenen Völkern zu führen, um ihn dort in das «*'»"^^^"<'^^-
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248 Religion der Furcht.
Dickicht der seltsamen Schicksalsvorstellangen hineinschauen
zu lassen, sondern diese lobenswerthe Anfgabe und Leistung
setzen wir voraus, um dann über das Geschaute zu philo-
sophiren. Es fragt sich also^ wiefern die Schicksalsidee nicht
bloss eine historische oder naturphilosophische Auffassung sei,
sondern einen religiösen Charakter habe; denn wenn der Mensch
bloss theoretisch überzeugt wäre, dass Alles in der Welt
nothwendig, vorherbestimmt und ohne leitenden Zweck geordnet
sei, so läge darin ebensowenig eine religiöse Auffassung, wie
wenn er über die arithmetischen Reihen, über die endlichen, die
unendlichen, "die periodischen u. s. w. eine Einsicht gewonnen
hätte. Das Religiöse liegt in der Stellung unserer Persönlichkeit
zu dem göttlichen Wesen. Es darf also das Schicksal nicht als
eine Abstraction, als eine allgemeine Charakterisirung des Welt-
laufs betrachtet werden, sondern ein Gläubiger muss dem Schicksal
als einem metaphysischen Wesen gegenüber in seinen Gedanken,
seinen Gefühlen und Handlungen Stellung nehmen. Es ist freilich
nicht nothwendig, dass das Schicksal von dem Gläubigen als
eine Persönlichkeit aufgefasst werde, aber es muss zunächst mit
den sonst schon geglaubten Göttern in einen wenn auch dunklen
Zusammenhang treten, in der Art, dass der Gläubige die ihm
bevorstehende und dann ihn erreichende Zukunft auf eine Ver-
anstaltung und Fügung der göttlichen Wesen zurückfuhrt, wie
er selbst bei dem Fallen der Loose und der Würfel auf eine
göttliche Lenkung hinblickt. Es ist aber wahrscheinlich, dass
viele Menschen nicht die erforderliche religiöse Phantasie haben,
um alles Geschehene immer gleich an die unsichtbaren Götter,
deren Stimmung, Gunst und Ungunst sie zu kennen glauben, mit
Zuversicht anzuknüpfen ; da man vielmehr die Tragweite des
Geschehenen in Bezug auf zukünftiges Glück und Unglück nicht
leicht durchschauen und es auch in sehr vielen Fällen nicht wohl
auf den specifischen Vorstellungskreis der besonderen Götter deuten
kann, so fehlt für die Phantasie auch die Möglichkeit, einen
Beziehungsgrund zu entdecken, und sie kommt daher nicht in
Gang. Also bleibt nur eine allgemeine Beziehung auf die un-
sichtbaren und in ihrem Vorhaben unerforschlichen Mächte übrig.
Da somit das Persönliche, welches nur durch bestimmte Willens-
zustände vorstellbar wird, mehr und mehr wegfiillt: so bleibt
nur die Idee eines gewissermassen unpersönlichen göttlichen
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 249
Princips, das man Dicht definiren und nicht aus Gründen erklären
kann, im Bewusstsein zurück. Und dies ist die ei(jLap(jivir), das
Fatum, das Schicksal. Die Etymologie verräth jedesmal einen
bestimmten Gedankengang. So deutet die sliiapiievr^ auf die
Theile hin, die einem Jeden von dem in der Welt ausgespielten
Wohl oder Wehe „zu Theil werden", oder wie beim Würfelspielen
und bei den Loosen „zufallen". Daher stimmt der griechische
Ausdruck so ziemlich mit dem deutschen „Zufall". Das Wort
„Schicksal" bedeutet wohl nicht das Geschickte oder Gesendete
sondern vielmehr „was sich schickt", d. h. was sich zusammen-
fügt, und ist also der „Fügung" verwandt. Das Fa tum aber
erinnert bei dem Eintreten der Wirklichkeit an die früheren
Aussprüche der prophetischen Spinnerinnen, welche die schon
damals fest beschlossene Zukunft voraussagten.
Blicken wir also, um den religiösen Charakter der zweiten
Schicksalsform zu bestimmen, auf die Entwickelung des religiösen
Bewusstseins der Gläubigen hin, so geht in allmählichem Fort-
schritte die Beachtung der Zukunft in ihrem Zusammenhange mit
der Vergangenheit von der Fluchidee weiter zu einer immer
unbestimmteren Anknüpfung an die Götter in der Art, dass zuerst
die einzelnen Götter das Schicksal herbeifuhren, nachher nur der
höchste Gott, etwa Zeus, über das allgemeine Geschehen in
der Welt verfügt, bis auch dieser selbst von der Phantasie nicht
mehr recht in Zusammenhang mit der Weltgeschichte gebracht
werden kann, und das Schicksal sich über ihn und über die ganze
Götterwelt erhebt, wie es z.B. in der Prometheussage den Zeus
ängstigt und wie es offenkundig und mit furchtbarer Grösse in
der Edda die germanischen Götter zum Untergange treibt.
Diese psychologische Entwickelung des religiösen Bewusstseins
kann aber a priori construirt werden, da wir die speculativen
Beziehungspunkte in der Hand haben, um die Coordinationen
festzustellen. Denn sobald der perspectivische Standpunkt, der
bei der Fluchidee Beziehungsgrund war, wegfallt und die objective
Beachtung der Welterscheinungen an die Stelle tritt, so müssen
die Beziehungen auf die perspectivisch bestimmten Götter noth-
wendig verschwinden und zwar in strenger Proportion zunehmend
mit der wachsenden Objectivität der Auffassung. Die Schicksals-
idee in dieser zweiten Form gehört aber noch der Religion der
Furcht an, erstens weil und sofern der Gläubige das Schicksal
250 Religion der Furcht.
noch als ein dunkles einheitliches göttliches Wesen ansieht,
welches Handlungen ausübt und einen wenn auch unerforsch-
lichen Willen hat, und zweitens, weil und sofern der Gläubige
diesem geheimnissvollen Wesen gegenüber in Bezug auf die zur
Sphäre der Furcht und Hoflfhung gehörigen Güter und ücbel
eine gewisse Gesinnung hat, die Ergebenheit oder Resignation,
je nachdem auch göttlicher Schauder oder allgemeine Gottes-
furcht genannt werden kann.
Nachdem wir den dogmatischen Inhalt der
der^iltter. S<ibi<5ksal8idee und die zugehörigen ethischen Gefühle
betrachtet, bleibt die Function des Cultus zu unter-
suchen, bei welchem sich nothwendig die Erhebung der Schicksals-
idee deutlich abspiegeln muss, da die Priester immer die Auf-
gabe vertreten, welche zwar jedem Gläubigen zukommt, aber
doch nur von den höher Begabten wirklich erfüllt werden kann.
Nun ist sofort klar, dass in den Flüchen und Segenssprtichen,
also in den ältesten Schicksalsraächten, zwei Elemente stecken,
erstens die Intelligenz, da es sich um die nur durch eine ge-
wisse Vernunft und Besonnenheit zu erkennende oder zu be-
stimmende Zukunft handelt, und zweitens das Gefühl, da der
Grund, um fluchend oder segnend über die Zukunft etwas aus-
zusagen, in einer Erregung des Gemüthes liegt. Mithin müssen
sich die Priester, welche überhaupt in Schicksalsfragen Ansehen
erhalten sollen, durch Intelligenz und feines und starkes Gefühl
auszeichnen.
Es ist nun gewiss merkwürdig, dass für dieses Amt in den
ältesten Zeiten besonders die Frauen hervortraten. Ich erinnere
an die Pythia und die Sibyllen, femer an die Feen und Parcen
und Nornen und Walkyrien und an die Aurinia und Veleda im
alten Germanien, ebenso wie an die bösen Zauberinnen und
Hexen des Mittelalters. Der Grund liegt wohl darin, dass die
Männer in der ältesten Zeit weniger Müsse zum Nachsinnen hatten,
sondern im Kampfe um's Dasein mit Kraft und Leidenschaft
ringen mussten, während das Weib an den Webstuhl gebannt
war und das Schicksal der Männer zu tragen hatte. Die
Spinnerinnen bildeten also das Echo des grossen Lebens draussen,
und alle Freude und besonders alles Leid klang in ihnen wieder.
Da sie nun die Männer, welche zum Streit auszogen, am ge-
nauesten kannten, so wusst^i sie auch um ihre Stimmung, die
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal, 251
in der Regel schon über den Ausgang des Kampfes entscheidet ;
denn wer sich schwach flihlt, wer zweifelt, fürchtet oder unbe-
sonnen prahlt, der ist schon halb besiegt. Es ist darum natür-
lich, dass tausend kleine Zeichen der äusseren Umstände und
der Natur des Menschen das Gemüth der Frau in Erregung
setzten und in ihrem Geiste Ahnungen und Gesichte des Zu-
künftigen aufsteigen liessen. Da nun ihre Aussprüche (fata
von fari) häufig, je begabter die Frauen waren, in Erfüllung
gingen, so musste die Spindel zu Ehren kommen, und es ist
daher ganz in der Ordnung, dass Clotho, Lachesis und Atropos
und auch die Nornen spinnen; denn es ist willkürlich und ober-
flächlich, dass man in dieser Spinnerei des Schicksals nur einen
zufälligen Vergleich der Dichter sieht, während gerade mit
natürlicher Nothwendigkeit durch die Frau auch der Webstuhl
in die Allegorie kam.
Ebenso natürlich aber ist es, dass in den späteren Zeiten,
wo die Orakel zu Instituten wurden und das Yölkerleben im
Grossen in's Auge fassten, die Sibyllen bloss die Rolle der
Geflihlserregung behielten, während kluge und weltkundige
Männer als Priester die sinnlosen Aussprüche der Besessenen
zu formiren und mit Vernunft zu deuten hatten.
Wenn nun auch im Allgemeinen jeder Erregte seinem Gefühl
entsprechend fluchen oder segnen und die Zukunft irgendwie
verkünden mag, so ist es doch in der Ordnung, dass auch diese
Function allmählich ofBciell wurde und theils einzelnen von Gott
unmittelbar Designirten, theils einem bestimmten Stande zukam.
Dass die Frauen im Anfang vorzugsweise mit dem Fluchen oder
mit den Unheilsworten zu thun hatten, bezeugen die bösen Feen,
die, wenn auch vorher viel Gutes angewünscht war, hinterher
kommen und plötzlich durch ein böses Wort die ganze Zukunft
in's Schlimme kehren. Aber auch die Besprechungen, wozu man
Hexen brauchte, sind wohl als fluchabwendende oder segenbringende
Worte zu deuten. Durch die ganze Geschichte der Religionen
erhält sich dann das Rudiment des Fluchens und Segnens, auch
wo das Schicksal schon objectiv gefasst oder selbst schon als
göttliche Providenz erkannt ist. Ich erinnere z. B. an die furcht-
baren officiellen Flüche, mit denen Spinoza aus der Synagoge
ausgestossen wurde, und an den noch bei unserer Abendmahls-
feier üblichen Fluch über den unwürdigen Genuss, wie auch, an
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252 Religion der Furcht.
den allein vom Priester zu sprechenden Segen über die Gemeinde,
und endlich auch noch an die fast regelmässigen jährlichen
Flüche und Segnungen des heiligen Vaters zu Rom, wodurch
das Schicksal der Völker gelenkt wird.
Es ist sehr interessant, die Gränzlinien zu ver-
scwc^ta^wdl? folgen, die eine dritte Form der Schicksalsidee um-
Anfiosans schliesscn. Bei der Fluchidee waren die Flüche
***' FMcht! ^^'^ selbst dämonische Wesen, und die perspectivische
Betrachtung bezog die Zukunft auf den engen Kreis
der persönlichen Furcht und Hoffnung; bei der objectiven Schicksals-
idee dagegen verlor das göttliche Wesen jedes akustische und
optische Zeichen, es zog sich in' s Dunkel zurück; aber trotz der
Dunkelheit des theologischen Begriffes war ein religiöses Gefühl
und ein Cultus möglich und wirklich. Die Mören, welche über
Geburt und Tod verfügen, wurden überall verehrt und empfingen
reichliche Opfer, weil man auf irgend eine Weise durch Hin-
gebung oder durch geheime Zeichen das GefUrchtete abwenden
zu können hoffte. Denn wenn auch nicht mehr göttlicher Zorn und
menschliche Verschuldung als Ursache der Schicksale geglaubt,
wenn das Schicksal auch als ein Despot, den man nicht mehr
sicher mit Hymnen und Opfern gewinnen kann, gefürchtet wurde:
so nahm man doch wenigstens an (und dies ist der Rest des
Bewusstseins der Willensfreiheit, die zum Schicksal beitragen
muss), dass durch Gulthandlungen gewisser Art die Zukunft ab-
geändert werden könne. Daher findet sich das Nägeleinschlagen,
die Befestigung eines Hufeisens an den Thüren und tausenderlei
Zeichen, wodurch der Mensch in religiöser Gesinnung dem Schicksal
gegenüber Stellung nimmt. Selbst die Vermeidung der Dreizehn
bei den Mahlzeiten (in Erinnerung an das Abendmahl Christi mit
dreizehn Personen, von denen Einer sterben musste) bildet noch
heute einen Cultakt für das Schicksal, der natürlich jetzt als
Aberglaube bezeichnet wird.
Damit nun eine neue Form auftrete, muss ein neuer Be-
ziehungspunkt das Auge treffen. Dieser zeigt sich aber, sobald
der Mensch die Beziehungen der Ereignisse untereinander nicht
mehr als planmässige auffasst. Die anfangliche perspectivische
Betrachtung hatte bei allem Geschehen die Beziehung auf die
Zwecke des Eigenlebens vorausgesetzt, bei der objectiven
Schicksalsidee war zwar die individuelle Teleologie mehr und
u.quizeauy Google
Allgemeinere Fragen. Das Schicksal. 253
mehr verschwunden, weil der Blick in's Grosse schweifte und
das Völkerleben, wie die Naturereignisse weit über die Bahnen
des individuellen Kreises unerforschlich hinausreichten, dennoch
aber hatte sich die Vemunftforderung eines einheitlichen Zu-
sammenhanges erhalten und das Schicksal war ein Dämon ge-
blieben, dem gegenüber man eine religiöse Gesinnung haben
kann. Sobald nun diese stille Vemunftforderung fallt und die
einheitliche Ordnung des Ganzen verschwindet, so tritt der so-
genannte Zufall auf, d. h. die Meinung, dass die Ereignisse ftlr
einander nichts zu bedeuten und mit den Interessen des Menschen
keinen von göttlicher Hand geleiteten Zusammenhang haben.
Wenn sich aber dieser neue Beziehungspunkt durch die
Ohnmacht des Geistes, den Gang der Welt und der eigenen
Erlebnisse zu deuten, im Bewusstsein befestigt hat, so entspringt
die dritte Form der Schicksalsidee. Mit dem Zweck und dem
bedeutungsvollen Zusammenhang in der Welt verschwindet noth-
wendig der coordinirte Begriff des göttlichen Wesens in dem
Gottesbewusstsein; mit diesem föUt die Möglichkeit der zugeord-
neten Gesinnung des Menschen, A h. die Religion, da ohne Ge-
sinnung nun die theoretischen Vorstellungen, die Gefühle und
Handlungen nichts Religiöses mehr symbolisiren können. Also
ist mit der dritten Form der Schicksalsidee die Religion der
Furcht aufgelöst.
Das Coordinatensystem, welches dem Zufallsglauben ent-
spricht, lässt sich aber leicht feststellen. Statt des Gottes treten
nun die einzelnen Weltdinge auf, mögen sie grob sinnlich oder
feiner atomistisch gedacht werden, und mit mehr oder weniger
deutlich ausgebildetem Bewusstsein lässt man sie nach blinden,
d. h. auch zuiUlligen Naturgesetzen auf einander wirken. Dieser
Vorstellung gemäss ist der Schaden oder Nutzen, den die Dinge
in unserem Interessenkreise stiften, ebenfalls zufällig, und der
Wille des Menschen reagirt deshalb zwar auf die Ereignisse in
denselben Gefühlen von Schmerz und Lust, Furcht und Hoffnung,
wie bisher, ohne aber zugleich ein religiöses Geftihl zu bilden.
Dementsprechend .sind auch die Handlungen nicht mehr cultiseh,
sondern bloss praktisch und technisch, um die Uebel abzuwehren,
soweit es der Zufall zulässt, und Güter zu schaffen, soweit die
Kräfte reichen. Dieser Standpunkt wird nun mit Erinnerung
an die Mhere Gottesvorstellung Atheismus genannt, mit
u.quizeauy Google
254 Religion der Furcht.
Erinnernng an die Vernunftforderung von Gründen und also von
Werthen, Pessimismuß.
Um zu zeigen, wie die dritte Form der Schicksalsidee, der
Zufallsglaube, entsteht, mag eine auschauliche Stelle aus der von
A. F. V. Schack tibersetzten Sage vom Königssohn („Stimmen
vom Ganges'^ S. 176) dienen. Der König hat seinen einzigen
Sohn verloren trotz aller Opfer an die Götter. Sein Weib Kri-
tadjuti kniet mit Händeringen neben ihm und „Thränenströme
rannen ihr vom Auge, und auf die Brahmanen bald, die voll
von Trauer sie umstanden, bald auf den verzweifelnden Gatten
blickend, bald den todten Sohn umklammernd, rief sie: 0, wie
sinnlos, Gott, ist all Dein Handeln! Thoren Jene, welche Dich
den weisen Weltenschöpfer und Erhalter nennen; denn dem Zu-
fall giebst Du Macht, die Erde zu beherrschen und nach seinen
Launen Tod und Leben zu vertheilen. Blindlings lassest Du aus
Deiner Hand die Loos'e von Geburt und Sterben nun auf Diesen,
nun auf Jenen fallen und zerreissest selbst das Band der Liebe
und Verwandschaft, das doch Du geknüpft hast! Wehe! Wehe!
Nur in wtistem Taumel kreis't das Weltall und in stetem schwindel-
erregendem Wirbel werden wir mit ihm umhergetrieben."
Da die Religion der Furcht in jeder Beziehung
Beurtheuung j^^ AnftLugeu meuschUcher Entwickelung angehört,
zufaiiBgiaubens. SO ist CS natürlich, dass ihre Götter und ihr Schicksal
für die Erkenntniss völlig unbestimmte und unbe-
stinmibare Wesen bleiben müssen; auch ihre zugehörigen reli-
giösen Gefühle sind von der niedrigsten Stufe und von der
Selbstsucht nicht verschieden; endlich muss auch der zugehörige
Cult als thöricht und theils abscheulich, theils abgeschmackt
gelten. Trotzdem liegt in dieser Religion ein tiefer Sinn und
sie entspricht überall der vernünftigen Natur des Menschen, wenn
man nur die rohe Ausdrucksweise auf die höheren Formen geistiger
Entwickelung zu beziehen versteht Wie der Tischler schon mit
gutem Verstände den Tisch rundet, indem er den Kreis mit Stift
und Faden zieht, ohne die Zahl it berechnen zu können, so
werden wir auch in der Religion der Furcht und. in dem Schicksals-
glauben die rohen Umrisslinien einer vernünftigen Weltauftassung
anerkennen dürfen.
Um dies deutlicher einzusehen, vergleichen wir damit den
Zufallsglauben. Hier sind nicht nur die Götter mit ihren kleinen
u.quizeauy Google
AUgemeiBere Fragen. Das Schicksal. 255
örtlichen und gelegentlichen Ftigungen verschwunden, sondern es
ist auch das Schicksal als allgemeine, die Welt umspannende
Idee im Bewusstsein erloschen. Der Zufallsgläubige steht nun
vor einem blinden Mechanismus, dessen Uhrwerk er nicht erkennt
und von dessen Schlägen er ohne Sinn und Zweck zermalmt
wird. Dieser Zufallsglaube bildet aber keine höhere Vorstellung
als die Keligion, sondern ist eine Erschlaffung des Denkens, in-
sofern als der Mensch dabei nur auf die Verkettung der einzelnen,
mechanisch wirkenden Dinge seinen Blick richtet, also nur auf
die Theile und Mittel der Welt und ihres Geschehens, während
der fieligiöse mit seiner Vernunft das Ganze und den Zweck
erfasst und eine gewisse Vemtinftigkeit des Geschehens fordert
und voraussetzt. Somit ist z. B. die Weltanschauung von Strauss
in seinem „Alten und neuen Glauben" unvernünftiger und geist-
loser als selbst die Religion der Wilden, weil diese doch die
natürlichen Forderungen der Vernunft, die uns nun einmal inne-
wohnt, auf eine Vemünftigkeit der Welt nicht aufgeben, sondern
mehr oder weniger sinnreich einen zweckvollen Zusammenhang
des Ganzen zu erforschen und zu enträthseln suchen, während
Strauss die Vernunft ausser Thätigkeit setzt und nur mit dem
Verstände, als dem niedrigeren und dienenden Erkenntniss ver-
mögen, die mechanische Vermittelung der Erscheinungen der Welt
zum Gegenstande nimmt Dabei nimmt er denn auch mit blindem
Glauben die Hypothesen und jeweiligen Resultate der modernen
Naturwissenschaft an und vergisst ganz, dass die Naturwissen-
schaften in raschem Fortschritt begriffen sind und fast nach jeder
neuen Generation neue Hypothesen aufstellen und ihre früheren
Resultate lächerlich finden. So z. B. wäre zu Newton's und
Goethe^s Zeit nichts lächerlicher gewesen, als die Annahme, die
Sonne könnte an Licht und Wärme einbüssen und bedürfte einer
Heizung und Speisung; heute aber findet man die Annahme der
Unveränderlichkeit der Sonne lächerlich und lässt sie sich con-
trahiren oder wenigstens Sternschnuppen verschlucken, um die
nöthige Wärme, die sonst verloren ginge, wieder zu erhalten.
So fest auch die exacten Einzelbeobachtungen der Naturforscher
stehen mögen, so schwankend und wandelbar sind die allgemeinen
Hypothesen, und je höher ein Naturforscher steht, um so mehr
ist er sich dieses hypothetischen Charakters bewusst. Strauss
setzt deshalb einen geistlosen Köhlerglauben an die Stelle der
uiymzeu uy V^jOOV IC
256 Religion der Furcht.
Religion, da für ihn die Hypothesen der Naturforscher nicht
Hypothesen, sondern Glaubensartikel sind, während die wahre
Religion vielmehr auf jeder Culturstufe erst zu Worte kommen
soll, wenn man die jeweilige exacte Verstandes- Wissenschaft schon
vernommen hat und darüber hinaus noch die weitergehenden For-
derungen der Vernunft nach einem allgemeinen zweckmässigen
Zusammenhange aller Dinge befriedigen will. Die Religion kann
man nur fallen lassen, wenn man auf Vernunft verzichtet, und
Strauss will dem Menschen rathen, seine Augen auszureissen, um
bloss mit den Händen zu tasten.
§ 3. Die zugehörige mythologische Weltanschauung.
Obgleich die Religion der Furcht ursprünglich
WeltansctuiUunK. x o
im kleinsten Kreise des Einzellebens geboren wird
und deshalb roh und ganz ungebildet erscheint, so muss sie sich
doch, wie alles, was in unserem Bewusstsein entsteht, allmählich
in Zusammenhang mit allen anderen Functionen des Seelenlebens
setzen und dadurch eine gewisse Vemttnftigkeit erlangen. Dieser
Charakter der Vemtinftigkeit nimmt zu, wenn die Beziehungen
zwischen allen Elementen des Seelenlebens zum Bewusstsein
kommen und Cregenstand der Erkenntniss werden, wodurch das
Ganze unseres Bewusstseinsinhalts eine gewisse ideelle Ordnung
erhält. Eine mechanische und natürliche Ordnung entsteht ja
von selbst immer; wenn uns aber erst das Bedürfiiiss des Denkens
geweckt ist, so wird auch der Versuch gemacht, möglichst alles
im Bewusstsein Gegebene imter einen umfassenden Gesichtspunkt
zu bringen und dadurch eine ideelle oder logische Ordnung her-
zustellen, d. h. eine Weltanschauung zu bilden. Es ist daher
nothwendig, dass bei unserer Religion der Furcht die Gläubigen,
wenn sie sich durch weiter gehende sociale und politische Fort-
schritte zu einem höheren Bewusstsein und grösserer Weltkenntniss
erhoben haben, auch zu einer ihrer Religion entsprechenden Welt-
anschauung gelangen.
Das Nächste, was sich ganz allgemein über diese
^'standpunkt!*'' Weltanschauung sagen lässt, ist ihr perspectivischer
Standpunkt; denn da diese ganze Religion alle Dinge
als Uebel und Güter auf den Menschen bezieht und noch keiner
objectiven Betrachtung fähig ist, so muss auch die logisch weiter-
uiyuizeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Allgemeinere Fragen. Mythologie. 257
gesponnene Weltanschauung einen perspectivischen Charakter
haben, jedoch mit der Erweiterung, die durch Fortschritt des
Menschen aus seiner Einzelheit zur Familie, zum Gau, Stamm
und Volk sich von selbst ergiebt. Wenn der Einzelne zunächst
glaubt, dass alle Dinge seinetwegen daseien oder wenigstens in
Beziehung zu ihm allein aufgefasst werden, wie er z. B. sagt,
dass Gott ihm diese Krankheit geschickt und ihn mit dieser
Dürre oder diesem Frost heimgesucht habe, oder dass der Gott
ihn für seine Opfer und frommen Anbetungen und gottwohl-
gef&lligen Handlungen mit reicher Emdte gesegnet, ihm Sieg über
seinen Feind gegeben habe, so versteht sich, dass wenn sich erst
Familien- und Stammbewusstsein entwickelt hat, dieselbe Denk-
weise auch auf die Familie und das ganze Volk ausgedehnt
wird. Demgemäss werden alle Uebel, die das Volk treflFen, als
Strafe und Zorn Gottes betrachtet, alles Gute und Glück als
Belohnung und Gnade des Herrn. Und mithin muss die Kunst
und Methode dieser religiösen Logik darin bestehen, alle Dinge
und Ereignisse, die irgendwie in's Bewusstsein der Menschen
treten, unter einen Gesichtspunkt zu stellen, wodurch sie mit den
beiden alles beherrschenden Beziehungspunkten, nämlich der
Selbstsucht des Ichs und dem zugehörigen Gott des Zornes oder
der Gnade vermittelt werden können. Stirbt z. B. das Vieh an
einer Seuche, so ist dies ein Uebel. Dem Uebel entspricht aber
subjectiv die Furcht, also die Schuld (culpa); objectiv der Zorn.
Also war Gott in Zorn und sendete dem schuldigen Menschen
die Strafe, und das Ereigniss ist so von der religiösen Per-
spective aus erklärt.
Der Mensch hat im Anfang nur mit lebenden
Wesen, wie er selbst ist, zu thun. Trotzdem wird
er, wie die alten Religionen tiberall bezeugen, die Welt alsbald
in zwei Gebiete trennen. Das erste Gebiet umfasst ausser den
Menschen auch die Thiere, die er als seines gleichen im engeren
Sinne betrachtet, da er mit ihnen zusammen lebt und sie leicht
versteht, wie Kinder, die nicht zu voller Vernunft kommen. Das
zweite Gebiet umfasst die übrigen Dinge. Diese theilen sich
wieder in Himmel und Erde, die Erde in Land und Wasser, der
Himmel in Luft und Sterne. Jedes von diesen aber kann wieder
in viele verschiedene Erscheinungen unterschieden werden. Im
Anfang wird der Mensch nun seine Aufmerksamkeit nur dem zu-
Telcbmnller. BellgionaphikMophie. u g ,zdl7üy GoOQIc
258 Religion der Furcht.
wenden, was ihm gefahrlich oder erfreulich wird, und das Uebrige
als gleichgültig Gegebenes ausser Acht lassen. Welches Element
aber gerade die Aufmerksamkeit in seinen Wandlungen beschäftigt,
das wird zu einem Dämon, der mit ihm in näherer Lebens-
beziehnng steht. So ist es natürlich, dass ilir Menschen an
grossen Strömen oder am Meere der Wassergott die Hauptrolle
spielt, für andere, die etwa durch Gewitter besonders leiden oder
durch Waldbrände und entsetzliche Petroleumquellen mit ihren
Entzündungen geängstigt werden, der Feuergott, Agni, Indra
oder Surtur oder wie er genannnt werden möge, der wich-
tigste sein. Wo Erdbeben häufiger sind und in der Nähe der
Vulkane, da muss Pluton oder Hades obenan stehen. Für alle
Völker aber wurde ursprünglich nothwendig Sonne und Mond
ein Gegenstand grösster Aufmerksamkeit und Verehrung, weil
die Nacht und die Kälte ftir den Menschen schrecklich ist und
das Licht und die Wärme die wichtigsten Lebensbedingungen
sind. Daher ist f^onnencult bei allen Naturvölkern ohne Weiteres
vorauszusetzen; denn auch wo die Sonne wegen ihrer Gluth Ver-
derben bringt, ist sie grade als der gefährliche und böse Gott
verehrt. Damit steht dann in Zusammenhang, dass die täglichen
und jährlichen Schicksale der Sonne und die monatlichen des
Mondes überall die religiöse Aufmerksamkeit erregt und überall
die Mythologien mit mehr oder weniger hübschen Geschichten
überschwemmt haben.
Enutohnn Obgleich nun alle kosmischen Phänomene noth-
und Wesen der wcudig pcrspccti visch auf dcu Mcnschcu bezogen
Mythologie, ^^„j.^^^jj^ g^, ^^^^^^^^ ^^j^ obcu S. 134 ausgcftlhrt, die
Elemente doch in Kampf gegeneinander, so dass oft erst aus
dem Sieg des einen oder des anderen der glückliche oder un-
glückliche Ausgang für den Menschen sich ergab. Dadurch allein
wurde es miiglich, dass sich eigentliche Göttergeschichten, d. h.
eine objective Vorstellung von dem Charakter, dem Leben und
den Schicksalen der Götter, bilden konnten, wie z. B. der Kampf
des Indra mit Wertra oder in der Edda der Kampf Thor's mit
Thrym; denn da der Mensch häufig nicht unmittelbar mit leidet,
sondern nur mit Aengsten und Schauder die Naturereignisse be-
trachtet, 80 musstc sich ihm nach der Analogie mit menschlichen
Vorgängen, welches die einzig mögliche Analogie für seine Logik
war, eine Göttergeschichte ergeben.
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Allgemeinere Fragen. Mythologie. 250
Zu diesen Göttern aber kamen noch andere, die man fiilsch-
lich flir Abstractionen einer späteren Zeit hält. Da das Leben
nämlich durch die reichere Zahl der Familicnglieder gefördert
und widerstandsfähiger wurde, so war die Sorge für Nach-
kommenschaft eine der wichtigsten. Es zeigte sich aber, dass
die Fruchtbarkeit durchaus nicht von dem Menschen allein abhing.
Bei dem Menschen wie bei dem Vieh traten Versagungen der
Wünsche ein ; also war eine unsichtbare Macht im Spiele. Darum
erhalten die Götter und Göttinnen der Geburt, und zwar meist
in rohen Symbolen vorgestellt, in vielen Culten eine hervor-
ragende Rolle. Ebenso geheimnissvoll, wie die Geburt, kam der
Tod. Da nun das Sterben flir die Zuschauer schreckensvoll ist,
so wurde der Tod auch von Jedem gefürchtet und als ein grosses
oder das grösste Uebel betrachtet, und mithin die verborgene
Ursache als Gott verehrt. Der Todesgott als Jama oder als die
Keren musste dann nothwendig in der Erde seinen Sitz erhalten,
wo er als Hei oder Hades alles empfing, weil die Ideenasso-
ciation mit dem Grab den Beziehungsfaden knüpfte. Wo die
Leichen regelmässig von Geieni gefressen ^vurden, konnte der
Tod nicht unter der Erde thronen, sondern musste im Unbe-
stimmten hausen. Ueberall hier ist aber nicht, wie man wähnt,
eine bloss logische Abstraction vorgenommen, indem man etwa
die vielen vorkommenden Geburten und Todesfiille zu der allge-
meinen Vorstellung Tod und Geburt vereinigt und personificirt
hätte, sondern der Gedankengang war von der Furcht getrieben
und spürte den Ursachen nach, um sie in ganz lebendigen Göttern
zu finden,* die ihre Eigenschaften, Sitten und, was sie lieben oder
hassen, ganz natürlich aus den näheren Umständen der Phänomene
selbst und aus den zugehörigen Gefühlen des Menschen erhalten
mussten. Ich kann nicht umhin, auch solche Götter und Dämonen,
wie die Wuth (Lyssa) und die Eris nicht ftir Abstractionen zu
halten; denn wer das verzerrte Gesicht, die rothen Augen, das
wilde Haar, die grässlichc Stimme des Wüthenden zuerst mit
Schrecken erblickte, der konnte das Phänomen nicht aus dem
sonst wohlbekannten früheren Gesichte, das ja ganz anders war,
erklären; ebenso also wie für den plötzlich eintretenden Sturm
ein Gott gefordert wurde, weil das Phänomen aus der früher
ruhigen Luft nicht erklärt werden konnte, so musste sich auch
die Wuth als ein Dämon ergeben, der plötzlich den Menschen
260 Religion der Furcht.
ergreift und seine eigenen grässlichen Züge in dem Wüthenden
zum Ausdruck bringt. Und es ist ja auch von heute bekannt,
dass die Jähzornigen ihre Anfälle fürchten und das Gefühl haben,
von einer fremden dämonischen Macht besessen zu werden, da
sie, zur Vernunft gekommen, die Verwüstungen und Verletzungen,
die sie angerichtet, mit Schmerz betrachten und nicht auf sich
beziehen können, weil sie „nicht bei sich" oder weil sie „ausser
sich" waren.
Wenn wir nun diese verschiedenen Götterentstehungen zu-
sammenfassen und als zweiten Beziehungspunkt hinzunehmen,
dass sich, wie oben S. 131 gezeigt, die Vorstellungen im Bewusst-
sein immer nach der Ideenassociation und hier im Besonderen
nach der Analogie mit dem menschlichen Leben verknüpfen, so
ist einleuchtend, dass sich die Götterlehre in der Religion der
Furcht zu einer Mythologie ausbilden musste, d. h. zu einer
phantastischen Welt, in welcher Götter und Dämonen die Helden
waren, Himmel, Erde und Unterwelt den Schauplatz bildeten und
Menschen und Vieh theils als Zuschauer, theils als Mitagenten
erschienen.
Man hat nun früher häufig geglaubt, dass die
^**^ to ^^^^°' Erforschung dieser verschiedenen Mythologien ein
ein Gogenaund Gcgeustaud dcr Philosophic wäre. Dafür gäbe es
phuosopwe ist *^^^ keinen anderen Grund, als dass die exacten
Specialwissenschaften sich früher mit diesem Gegen-
stande noch nicht abgegeben hatten und man gewohnt war, das
allgemeine Interesse an der Erforschung aller Dinge Philosophie
zu nennen. Darum bildete man sich auch ein, es hätten all-
mählich die Specialwissenschaften, wie die Medicin, Astronomie,
Mathematik u. s. w. der Philosophie, die früher Alles in sich
gefasst hätte, ihren Inhalt weggenommen. Das ist aber eine un-
gebildete Auffassung, denn wenn auch ursprünglich die soge-
nannten Weisen oder Philosophen allen Wissensstoff umfassten,
so thaten sie dies doch nicht durch Philosophieren oder durch
Philosophie, sondern durch die jedesmal zugehörigen Erkenntniss-
quellen, nach denen sich damals, wie jetzt, ein specielles Gebiet
des Wissens erforschen Hess. Darum könnte man die ersten
Philosophen ebenso gut Aerztc und Musiker und Astronomen
nennen und behaupten, die Medicin oder die Astronomie hätte
alle übrigen Wissenschaften früher mit umfasst Es wäre dies
uiyiiized by VjOOQIC
Allgemeinere Fragen. Mythologie. 261
ebenso falsch^ wie wenn man dies jetzt von der Philosophie be-
hauptet. Die Philosophie ist nur das Bewusstsein des Geistes
über sich selbst, seine Thätigkeiten und ihre Formen; hat aber
nichts zu thun mit irgend einem durch die Sinne gegebenen be-
sonderen Gegenstande, der phänomenologisch neben anderen
Gegenständen aufgefasst und erkannt wird. Ebenso wenig wie
die Mathematik mit den Bewegungen der Sterne zu thun hat,
(obwohl früher allein die Mathematiker sich mit diesen Fragen
beschäftigten, und die Astronomen sogar schlechtweg die „Mathe-
matiker** genannt wurden,) ebenso wenig hat die Philosophie mit
Medicin, Philologie u. s. w. zu thun. Und ebenso wenig wie
jemals der Mathematik ihr Wissensgebiet entrissen werden könnte,
so kann auch der Philosophie niemals das kleinste Stück ihres
Gebietes entzogen werden, da eine Annexion nur möglich wäre,
wenn der Annectirende die Gegenstände der Philosophie betriebe
und die philosophische Erkenntnissquelle und Methode benutzte,
d. h. wenn er die Philosophie in ihrer Integrität anerkannte*
Es ist aber ungebildet, zwischen Philosophie und Philosophen
nicht unterscheiden zu können und das, was die Philosophen
thun und lassen, der Philosophie zuzuschreiben. Darum war es
ein logischer Fehler, die Philosophie mit der Erforschung der
Mythologien zu belasten. Die Philosophie allein von allen Wissen-
schaften kann sagen, was Mythologie ist und wie sie entsteht,
sie hat aber mit keiner einzelnen Mythologie zu thun, sondern
diese gehört den Specialgebieten der Wissenschaften an, und ihre
Erforschung hängt von den speciellen Kenntnissen der Sprachen,
der Litteratur, der Geschichte, der Archäologie und Ethnologie
ab. Die Philosophie hat in diesen Fachuntersuchungen nicht
mitzusprechen. Auch die Eintheilungen, nach denen man diese
mythologischen Religionen ordnet, indem man sie ethnographisch
oder geschichtlich oder sprachlich oder archäologisch gruppirt,
gehen die Philosophie nicht an. Wenn aber über den Werth
und Sinn der Mythologien gesprochen werden soll, so ist dies
sofort die Sache der Philosophie, da die kritischen Gesichts-
punkte im Gebiete des reinen Geistes liegen. Die Philosophie
kann darum keine Classification der Religionen nach ihrem Werthe
oder ihrer Wahrheit irgend einer Specialwissenschaft jemals
überlassen, sofern die Specialwisscnschaft nicht vorher die Ge-
sichtspunkte der Kritik von der Philosophie entlehnt hat, was
u.quizeauy Google
262 Religion der Furcht.
80 viel heisst, als dass diese Ordnung eine Sache der Philo-
sophie ist
Q^j^jj Ich will hier nun die Eintheilungen der Reli-
der griechitfcben gioueu uicht wcitcr vcrfolgcu, da sie unserem spe-
Mythoiogie. cujativcn Interesse fern liegen. Es sind nur zwei
Punkte, welche unsere Aufmerksamkeit verdienen. Zunächst die
merkwürdige Bewunderung, welche man seit dem Wiederei'wachen
der schönen Künste und in der Philosophie besonders seit Schelling
und Hegel deq Griechen und ihrer Mythologie gewidmet hat.
Der Grund liegt auf der Hand; man berauschte sich nämlich in
den griechischen Dichtungen und in der Schönheit der plastischen
Kunstwerke und schrieb nun seine Genüsse den Göttern unter
ihr Guthaben. Die Kunst und ihre Gesetze wurden dadurch
zum Kriterium, um den Werth einer Religion zu messen, und
man eilte, die unförmlichen Götzenbilder und die vielköpfigen,
vielarmigen, elephantenrüsseligen und thierartigen Götter der
Aegypter, Inder und der ganz barbarischen Völker herabzusetzen.
Allein es ist völlig unphilosophisch, die griechische Religion, wie
Hegel thut, eine Religion der Schönheit zu nennen und den Brah-
manismus und Buddhismus als Religion der Zauberei herunter-
zusetzen, da die eigenthümliche Form der Frömmigkeit und die
zugehörige Dogmatik mit der Entwickelung der Kunst nicht
wesentlich zusammengehören. Bei Homer werden uns durch die
Poesie die Götter als menschlich schön dargestellt, wie später
in der Bildhauerkunst; die Vorstellungen von den Göttern blieben
aber, wie bei Homer, noch viele Jahrhunderte lang so roh, dass
die Seele der Götter mit allen Leidenschaften und Verbrechen
beladen wurde, wie bei den verworfensten Menschen, und dass
die Zauberei bei der Wirksamkeit der Götter und im Cultus immer
eine grosse Rolle spielte. Hegel sagt: „Im Zeus des Phidias
schauten die Griechen ihren Gott an. Was für die Phantasie
manifcstirt und hingestellt wird, ist die Gestalt eines Gedankens.
Dadurch ist die griechische Religion die Religion der Schönheit*'
(S. 103 II). Dies Räsonnemcnt ist unglaublich leichtfertig; man
könnte darnach ebenso schliessen, dass das Christenthum, weil
Michel Angelo den Christus und die Maria nackt dargestellt habe,
die Religion der Nacktheit sei. Aber nicht nur die Folgerichtig-
keit fehlt dem Heger sehen Schluss, sondern er ist auch materiell
unrichtig; denn es gab Jahrhunderte lang vor Phidias und vor
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Allgemeinere Fragen. Mythologie. 263
aller schönen Bildhauerkunst eine griechische Religion, die also
damals keine Religion der Schönheit hätte sein können. Auch
waren die eigentlichen Cultgötter, wie der vom Himmel gefallene
Pallasklotz, keine schönen menschlichen Gestalten. Auch kann
man seinen Gott in einer schönen Bildsäule anschauen und doch
in seinen Gedanken sehr hässliche Dinge von ihm fürchten, wie
dies die griechische Religion überall an den Tag legt. Die Bild-
hauerkunst hat sich darum zwar an die Religion angeschlossen,
aber insofern auch Medusen und Gorgonen hervorgebracht, Zeus
als Schwan und Stier dargestellt u. dcrgl., und man thut gewiss
besser, anzunehmen, dass die Bildhauerkunst sich nicht unmittel-
bar und nicht allein durch die Religion, sondern ndttelbar durch
die Dichtkunst und fremde Kunsteinflüsse entwickelt hat. Wer
Pindar und Platon's Staat gelesen, wird unmöglich der griechischen
Religion die Schönheit des Gottes zuschreiben, und wer des
Aristoteles Absagebrief an die griechische Religion kennt, der
kann Hegel's Classificinmg nicht mehr anYiehmen. Im Grunde
ist bei Hegel ja auch nur das Bedtirfniss vorhanden, der Religion
des Erhabenen, wie er die Jehovahreligion nennt, eine Religion
der Schönheit gegenüberzustellen, und da fielen ihm die schönen
Bildsäulen der Griechen ein; in der Ausführung im Einzelnen,
die ausserdem sehr dilettantisch ist, merkt man bei Hegel nichts
von der Schönheit des Gottes.
Geht man aber wirklich auf den Geist des griechischen
Cultus ein, so erkennt man gleich, dass er im Wesentlichen aus
einer Religion der Furcht stammt, obgleich sich später allerdings
auch sittliche Elemente einmischten. Die Griechen selbst wurden
aber früher gesittet als ihre Götter, die nur die Widerspiegelung
davon abbekamen. Wenn die Götter sittliche Gesetze vertreten
hätten, so wäre z. B. der Witz des Euripides im Jon (v. 442)
nicht möglich gewesen. Er sagt: „Wenn Ihr Götter flir jede
Nothzucht Busse gäbt den Sterblichen, Du Phöbos, wie Poseidon,
oder Zeus, des Himmels Herr: so müsstet Ihr, um Euer Unrecht
zu bezahlen, die Schätze Eurer Tempel ausleeren!" Und an
einer anderen Stelle (v. 1290) drückt er sehr deutlich die traurige
Lage aus, in der sich der Fromme in Griechenland befand, der
keine göttlichen Gebote vom Sinai erhalten hatte : „Schlimm, dass
ein Gott den Menschen nicht, wie's billig ist, und nicht in weis-
heitsvollem Sinn, Gesetze gab." Wir können daher über die
uiymzeu uy V^jOOV IC
264 Religion der Furcht.
griechische Religion kaum anders als die Kirchenväter urtheilen,
die unter dem unmittelbaren Eindruck des heidnischen Gultus
standen und daher den wirklichen Zustand des religiösen Gemüthes
des Volkes wohl erkannten. Deshalb müssen wir die abenteuer-
liche Bewunderung dieser „Religion der Schönheit^^ aufgeben und
uns nicht durch die nebenherlaufende Kunstentwickelung irre
machen lassen. Die Götler der Griechen sind ursprünglich ohne
Sittlichkeit, ihr Verhältniss zu dem Froumien ist durch Dienst
und Opfer oder durch Vernachlässigung ihrer angeblichen Interessen
entstandene Gunst oder Missgnnst, Freundschaft und Gefälligkeit
oder Hass und Rache. Die Götter sind bestechlich und neidisch,
untereinander feindselig, zu Betrug geneigt und gegen die Menschen
unzuverlässig. Was wir an Adel der Gesinnung, an Ehrwürdig-
keit von Gesetz und Recht, an Weisheit und Schönheit bei der
griechischen Götterlehre anerkennen, das stammt grösstentheils
aus der Philosophie, sofern es nicht vom Auslande entlehnt ist.
§ 4. Der Islam.
i)a es, wie gesagt, unsere Aufgabe nicht ist, die einzelnen
in der Geschichte aufgetretenen Religionen der Furcht zu studiren
und einzutheilen, so bleibt uns nur ein letzter Punkt zur Er-
örterung ül)rig. Ich möchte nämlich gern die höchste und
historisch bedeutsamste Religion namhaft machen, an welcher
wir die EigenthUmlichkciten, welche allen Religionen der Furcht
zukommen, in der reinsten und gebildetsten Form vor Augen
haben. Von den grossen Religionen, die noch heute leben, nämlich
der christlichen, brahmanischen, buddhistischen, jüdischen und
arabischen, ist es aber nur die letztere, welche das ganze Wesen
der Furchtreligion in typischer Reinheit und grundsätzlich enthält.
Um unser Urtheil darüber zu befestigen, betrachten wir den
Islam nach seiner Gottesvorstellung, nach der ethischen Seite
und nach dem Cultus.
1. Dogmatil Dass der Islam die höchste Furchtreligion
ist, sieht man daraus, dass die unklaren Vorstellungen der einzel-
neu Götter alle verschwunden sind und das Object des frommen
Gemtiths zu einem einzigen in der ganzen Welt und über sie
gebietenden Gotte, zu Allah, geworden ist Dieser Gott blieb
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AUgemeinere Fragen. Der Islam. 265
aber der alte Furchtgott, weil das einzige Motiv, auf welches alle
religiöse Vorstellungen im Koran begründet werden, die Macht ist.
Es werden zwar manche wohlmeinende Menschen, die vor jedem
strengen und herben Urtheil erschrecken und überall auch etwas
Gutes anerkennen möchten, im Koran viele auf die Weisheit und
Gerechtigkeit und Güte Allahs hindeutende Sprüche hervorheben;
allein wir können ihnen nicht willfahren; denn diese schönen
Beigaben sind aus den reichen Schatzkammern der jüdischen und
christlichen Keligion geholt und gehören nicht wesentlich zum
Islam, da der Moslem seinen Allah nicht deswegen verehrt, weil
er gütig und weise ist, sondern weil er die höchste Macht hat
Deshalb wird die völlige Unbegreiflichkeit der Rathschläge
Gottes, seine völlige despotische Willkür, die durch kein
erkennbares sittliches Gesetz und durch keine ideale Wahrheit
motivirt ist, überall in den Vordergrund gestellt. Gäbe es im
Islam noch irgend ein anderes Princip ausser der Macht, so
müsste eine vernünftige Weltordnung und Weltökonomie hervor-
treten; wir finden aber bloss das starre Schicksal, d. h. die
dem Zufall und der Laune gleichende Machtäusserung Allahs.
Ich habe hierüber schon in einer Abhandlung (Charakteristik der
Araber, in der Baltischen Monatsschrift, Bd. XXVI, Heft 1) ge-
nauere Rechenschaft gegeben und verweise darauf zurück.
Es ist aber interessant zu erforschen, wie dieser immerhin
grossartige Monotheismus entstehen konnte; denn die Furcht-
religion fordert eigentlich einen Polytheismus, da die ganze pro-
jectivische Theologie immer den Inhalt des projicirenden Geistes
mitnehmen muss und also der Gott nothwendig die ganze phan-
tasievolle Umgebung der Furcht als Ausstattung und Mitgift
empfangt, wie dies auch alle die verschiedenen Religionen dieser
Stufe bei • ihrer Gottesbijdung offen zeigen. Ich kann daher nicht
ftlr möglich halten, dass Allah sich hätte durch blosse Denkkraft
eines gut abstrahirenden Arabers bilden können, da selbst, wenn
Mohammed erobernd vordrang und sich vornahm, alle Völker zu
unterwerfen und sie entweder zu bekehren oder zu vernichten,
oder tributär zu machen, dabei etwas anderes, als ein Mon-
archismus nach der Art des Zeus entstehen konnte, vor dem
die übrigen Götter zittern. Es fehlt also durchaus ein hin-
reichender Erklärungsgrund ftlr die Abschaffung des Götzen-
dienstes und die Einführung des reinen Monotheismus bei einem
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
266 Religion der Furcht.
Propheten, der wie sein Volk gänzlich auf dem Standpunkte der
Religion der Furcht stehen blieb.
Da nun keine Psychologie und Logik unser Problem lösen
kann, so mtissten wir einen weiteren Schritt thun; denn nur die
zweite Stufe der Religion ist fähig, die Götzen zu vernichten
und eine monotheistische Theologie zu schaffen. Allein dieses
Lösungsmittel, welches allerdings sehr einfach und zwingend wäre,
könnte uns dennoch nicht dienen, da im Islam das Rechtsbewusst-
sein und die Sünde nirgends hervortritt und mit dem Wesen
dieser Religion überhaupt nichts zu thun hat. Also versagt uns
auch dieser Versuch.
So bleibt nur die historische Erklärung übrig, die aber auch
Alles leistet, was wir hier verlangen müssen. Der Prophet
wurde nämlich durch das Juden thum, also durch eine
moralische Religion, mit der Einheit Gottes bekannt und
konnte daher den Polytheismus abschütteln. Da ihm aber das
Christenthum nur in ganz verrotteter Gestalt, in Legenden und
Mariacult, entgegentrat, und er auch nicht die Bildung besass,
eine höhere Einsicht in die Lehre der Kirchenväter zu nehmen,
so blieb ihm der Sinn des Christenthums verschlossen. Da er
zugleich in seiner ganzen Persönlichkeit und durch die Instincte
seines Volkes nur auf Macht und Herrschaft ausging und die
sittlichen Motive nicht die Quelle seiner religiösen Ueberzeugung
gewesen waren, so konnte es gar nicht anders kommen, als dass
sich in strenger Coordination mit diesen gegebenen Beziehungs-
punkten der kahle und despotische Monotheismus des Islam aus-
bildete, der hierdurch vollständig erklärt ist.
Dieser Ursprung Allahs wird nun auch dadurch confirmirt,
dass es weder Mohammed noch seinen späteren theologischen
Interpreten je gelingen konnte, ein denkbares Wesen aus ihrem
Gottc zu machen, der bloss die Abstraction der Macht und des
Despotismus in sich enthält, ohne dass irgend eine gebildete
Metaphysik oder sinnige Naturbetrachtung ihn zu einem wirk-
lichen Wesen und zu einer gewissen Natürlichkeit hätte erziehen
können. Er bleibt vielmehr ein von einer fremden,, höheren
Religion erborgter Begriff, der mithin völlig undurchdring-
lich und unverständlich ist und über dessen Zusammenhang
mit der uns bekannten Welt, sowie über seinen Wohnort, seine
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Allgemeinero Fragen. Der Islam. 267
Natur und Eigenschaften sich kein yernünftiges Wort sagen
lässt, da er mit der alten Religion der Furcht nur insofern ver-
knüpft wurde, als man den geforderten Grund der Furcht in ihn
projiciren konnte. Mithin muss nun Alles vor ihm zittern, wie
er andrerseits auch alle die Belohnungen verleiht, die man sonst
von den Götzen erhielt.
2. Ethik. Dementsprechend ist der Gemtithszustand des
Gläubigen nur durch die beiden Gefühle der Furcht und der
Hoffnung zu charakterisiren. Der Macht gegenüber giebt es
eben keine andere zugehörige Empfindung als Furcht, und diese
Furcht muss vor der unbedingten, durch keine Ueberredung zu
leitenden Macht zur stumpfen Resignation werden. Allah ist
gross, es giebt keinen Gott ausser Gott;, er straft seine Feinde
hier, er macht ihre Gesichter gleich dem Hintern (d. h. er lässt
ihnen Nase und Ohren abschneiden); er bedroht sie mit dem
Tage, wo die Herzen und Augen der Menschen unruhig werden,
wo sie in brennendem Winde und siedend heisscm Wasser sitzen
müssen. Er verlangt unbedingte Unterwerfung, indem die Gläu-
bigen, d.h. die in Furcht Versetzten, ihre Selbstsucht zu Rathe
ziehen und sich überzeugen, dass es am Vortheilhaftesten ist,
sich diesem Einen allermächtigsten Wesen ganz zu ftigen. Darum
werden ihnen für ihre Unterwerfung dann auch irdische und
himmlische Belohnungen in Aussicht gestellt, um sie durch die
zugehörige Hoffnung zu reizen; denn die Frommen werden im
Paradiese Schalen fliessenden Weines trinken, der den Kopf
nicht schmerzen und den Verstand nicht trüben wird; sie werden
Jungfrauen, die immer Jungfrauen bleiben, erhalten mit grossen
schwarzen Augen, und werden ruhen auf weichen Kissen und
mit Seide und Gold bekleidet sein u. s. w.
Es ist also in dieser grossen Religion der Furcht keine Spur
sittlichen Geistes, sondern nur die Selbstsucht massgebend mit
der Berechnung von Lohn und Strafe nach den Affekten von
Furcht und HoflFnung.
3. C u 1 1 u 8. Dass wir nicht mit einer moralischen Religion
zu thun haben, sieht man aus dem Verkehr des Menschen mit
Gott; denn es dreht sich dabei nirgends um die Sünde und die
Schmerzen des Gewissens, sondern nur um den Willen eines
Despoten, dem man blind gehorchen muss, und den man, wenn
u.quizeauy Google
268 Religion der Furcht.
sein Gebot tibertreten, durch gewisse Opfer an Geld und Gut
leicht wieder versöhnt, da es ihm bloss darauf ankommt, dass
seine unbedingte Macht und öouveränetät anerkannt wird. Dem-
gemäss ist der Cultus nur Lobpreisung des Einen allerhöchsten
Herrn und cynische Selbsterniedrigung, indem die Gläubigen sich
in den Staub werfen vor Allah, dem einzigen Herrn. Es kann
nicht fehlen, dass bei der Abwesenheit von allem Verständniss
Gottes auch die Zauberei in dieser Religion wuchern musste.
Darum sind diese Verächter des Götzendienstes selbst in die
Knechtschaft von allen möglichen rituellen Vorschriften gekommen,
die sie ängstlich beobachten. Beschneidung, Richtung beim Gebet,
die Zeiten des Gebetes, die KoransprUche, die heiligen Oerter
u. s. w., alles dies hat Zauberkraft, und die Zauberei wird von
ihren Derwischen öffentlich ausgeübt. Von einem reinen Herzen
und sittlicher Gesinnung ist im Lande der Moslemin nicht die
Rede; wie ihr Gott, so sind sie selbst unverantwortliche Despoten
im Hause und über ihre Sclaven und unterwerfen sich selbst als
Sclaven ihren Kalifen und ihrer hohen Pforte. Ein Freistaat ist
für Mohamedaner undenkbar.
Der Islam ist der reinste Typus für die Religion der Furcht,
die wir als die unterste Stufe des religiösen Lebens erkannten,
und er ist die höchste Form desselben, weil er mit der von
einer höhern Religion erborgten zwingenden Logik die Phantasie-
figuren der Götzen und Götter beseitigte und den Einen und
allgemeinen BegriflF des Mächtigen, d. h. Allahs, an die Spitze
stellte und demgemäss nüchtern und klar die Motive der Furcht
und Hoffnung als Grund der Religion offenbarte.
Dieser ganzen Art der Religion entspricht auch die zugehörige
Beschaffenheit des Propheten, der sie offenbart und verkündigt.
Es dreht sich nämlich nirgends um eine höhere Natur, die sich
gesetzgebend an Menschen niedrigerer Sinnesart wendete und die
durch Umgang mit Gott zu einer aus dem Gemeinen empor-
gehobenen Form heiligen und vergöttlichten Daseins gelangte;
nein, der Gesandte verkündigte nachdrücklich, dass er ein ganz
gewöhnlicher Mensch wäre, was wir ihm auch glauben können.
Er lässt deshalb seinen Allah sagen: „auch vor Dir (Mohammed)
haben wir (Allah) keine anderen Gesandten geschickt, als nur
solche, die Speise zu sich nahmen und in den Strassen einher-
gingen." So macht er au^h in keiner Beziehung höhere An-
uiuiiizeu uy V^J v^\J>t Iv^
Allgemeinere l^Vageii. Der Islam. 269
Sprüche ; er stellt sich überall als ungelehrt hin, als leichtgläubig,
und er will nicht einmal, wie ein Zauberer, die Schätze Gottes
in seiner Gewalt haben und bekennt, dass er Gottes Geheimnisse
nicht wisse und dass er kein Engel sei u. s. w. Kurz es ist
von einer aus höherer Natur stammenden Offenbarung und In-
spiration gar nicht die Rede, sondern nur von der Trivialität,
dass Gott sehr mächtig und sehr fürchterlich sei, so dass man
ihm gehorchen müsse, um Furcht und Trauer los zu werden, und
dass man durch Almosen und andere äusserliche Opfer sich
den Schutz dieses Herrn leicht verschaffen könne. Um Lohn und
Strafe, sinnliche Lust und sinnlichen Schmerz, Macht und Herr-
schaft, Furcht und Hoffnung dreht sich der Islam.
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2. Die Religion der Sünde oder
die Rechtsreligion.
Erstes Capitel.
Die zugehörige Ethili.
§ 1. Das Eintheilungsprincip der GefQhle.
Da wir sehen, dass alle Geflihle immer gewissen Vorstellungen
zugeordnet sind und dass aus beiden wieder zugehörige Hand-
lungen hervorgehen: so muss es unsere Aufgabe sein, die Gefühle
in solcher Weise einzutheilen, wie sie ihrer Natur nach wirklich
von einander verschieden sind, um ihnen entsprechend dann die
zugehörige Gottesvorstellung zu bestimmen.
Nun haben wir schon (oben S. 117) erkannt, dass der Mensch
ursprünglich der Welt gegenüber auf dem perspectivischen Stand-
punkte steht, d. h. dass er alle Dinge nur so weit beachtet, als
sie fllr ihn da sind. Er ist nicht von Anfang an Zoolog und
Botaniker, sondern Thiere und Pflanzen und so auch alles
Uebrige erfasst er nur nach der Seite, wie er daraus Vergnügen
oder Schmerz, Nutzen oder Schaden gewinnt. Er selbst steht
in dem Mittelpunkte und bezieht alles auf sich. Dieser Auf-
fassungsweise entspricht als Gefühl die Selbstsucht, wozu wir
die ganze grosse Gruppe von Gefühlen rechnen wollen, die wie
Zorn und Hass, Schadenfreude, Neid, Furcht und Hofl'nung,
Wehmuth, Sehnsucht u. s. w. bloss auf Förderung oder Hinde-
rung unseres Eigenlebens Bezug haben. Denn da das Gefühl
oder der Wille seinem Wesen nach eine Beifalls- oder Miss-
fallensbezeugung ist zu dem, was wir wahrnehmen oder vor-
stellen, so ist dieser Wille als selbstsüchtig zu charakterisiren,
uiymzeu uy x^jv^'v^'^
Ethik. 271
wenn er bloss die Beziehung zwischen dem Vorgestellten und
dem Ich ausdruckt, und das Ich also nicht mit in den vor-
gestellten objectiven Zusammenhang aufgenommen wird, sondern
von einem solchen Zusammenhange noch keine Rede ist Auf
diese Weise muss nämlich das letzthin Massgebende die körper-
liehe Lust und Unlust sein, sofern das Ich in einer sinnenfälligen
Persönlichkeit erscheint, und alle Gegenstände in Beziehung auf
dieselbe als Gutes oder Uebel charakterisirt werden. Wie der
Hund, so wird auch der bloss selbstsüchtige Mensch Zorn em-
pfinden und Uass, wenn man ihm die Nahrung wegnimmt oder
ihn verletzt. Auch die häufig als geistig betrachteten Gefühle
der Habsucht schliessen sich zunächst an die sinnliche Ursache
an, da das Habenwollen sich doch zunächst nur auf solche
sichtbare oder tastbare Dinge bezieht, die in unserem körper-
lichen Organismus einen Genuss hervorbringen, wie der Hamster
und das Eichhörnchen ja ohne astronomische Bildung und Kalender-
kenntniss ihr Futter anhäufen. Denn es ist wohl eine recht fabel-
hafte Auffassung, wenn man fUr diese Anhäufung von Mitteln
zukünftiger Nahrung jetzt in den Kreisen der Naturforscher immer
den Verstand und die Klugheit jener Thiere verantwortlich macht,
während die Thatsachen sich viel einfacher erklären, wenn man
bedenkt, dass die Augen immer einen grösseren Appetit haben,
als der Magen. Der Anblick der Eicheln und dergleichen Nah-
rangsmittel associirt sich mit dem zugehörigen Gefühl des Genusses,
und mithin wird durch blinde Ideenassociation die occupirende
und sammelnde Thätigkeit des Thieres ausgelöst, sobald es nur
ein zugehöriges Object sieht, wenn demselben auch im Augen-
blick kein Genuss entspricht. Auch die Herrschsucht beruht
zunächst auf dem unangenehmen Geflihle, dass durch Andere
unser Vorstellungslauf gehindert und unterbrochen wird, und wir
zu anderen Auffassungen als den unsrigen genöthigt werden;
denn wer recht herrschsüchtig ist, der will, dass alles so ge-
schieht, wie er es sich gedacht hat, und er zürnt selbst dem
Diener, der es in des Herrn Interesse besser, als befohlen war,
machen wollte. Die Art, wie wir alles denken und auffassen,
ist eben unser eigen, und der Vorstellungslauf hat eine mechanische
Seite, weil er mit den ImieiTationeu im Gehirn zusammenhängt
und darum eine sinnliche Lust bei bequemem, ungehinderten
Lauf, eine sinnliche Unlust bei allen Stockungen und erzwungenen
uiuuizeu uy "V-j vy\J>t Iv^
272 Religion der Sünde.
Abänderungen hervorbringt. So ist auch bei Habsucht und
Herrschsucht die nächste Ursache sinnlich, obwohl diese Leiden-
schafken bei weiterer Ausbildung des Bewusstseins von der Welt
natürlich auch durch nicht sinnliche Vorstellungen und Begriffe
vermittelt werden können.
Es muss sich demgemäss eine ganz neue Art von Gefßhl
bilden, wenn der Mensch den perspectivischen Standpunkt der
Selbstsucht verlässt und sich selbst mit all seinem Eigenthum
ebenso betrachten kann, wie er andere Menschen betrachtet. Wir
nennen diese neue Betrachtungsweise in der Wisserfschaft vom
Räume die geometrische, flir die allgemeine Wissenschaft aber
können wir siedle objective nennen, da der Mensch auf diesem
Standpunkte sich selbst mit zu den Objecten rechnet. Eine
solche Auffassungsweise kann nur bei vorgeschrittener Bildung
stattfinden und tritt deshalb auch bei unsem Kindern erst später
ein, wenn sie sich als Glied der Schule anderen Schulen gegen-
über, oder als Glied des Hauses und der Nation andern Familien
oder Nationen gegenüber fühlen. Es ist aber nur möglich, von
der perspectivischen zu der objectiven Weltbetrachtung über-
zugehen, wenn wir an der Stelle der Beziehung der Dinge auf
uns die Beziehung der Dinge untereinander beachten.
Diese Beziehungen haben nur Sinn, wenn es gewisse Zusammen-
hänge giebt, die wir unter den Gesichtspunkt des Zweckes
stellen. Da es nämlich für die Ethik nicht auf naturwissen-
schaftliche Erkenntniss der Welt ankommt, sondern auf die
Sphäre des Menschen, so zeigt sich die objective Betrachtungs-
weise, wenn der Mensch zuerst im Stande ist, die Zwecke und
Interessen der Familie, des Dorfes, des Stammes, der Nation,
des Staates oder eines Standes in der Gesellschaft aufzufassen
und sich bloss als eingeschlossenen Theil mitzunehmen, indem
er sich nur so, wie auch die übrigen Einzelnen, miteinrechnet.
Die Geftlhle, welche der Mensch bei dieser Betrachtungs-
weise hat, nenne ich die moralischen oder Rechtsgefühle,
weil wir sie sprachlich immer durch Recht und Unrecht bezeichnen
und sie durch unsere Zugehörigkeit zum Ganzen ausdrücken;
denn moralisch bedeutet, was der Sitte (mos, mores) entspricht,
d. h. wobei der Einzelne von dem Geist und dem Gefühl des
Ganzen getragen und getrieben wird.
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Ethik. ' 273
§ 2. Ursprung der Moralität und des Rechts.
Da der Gegensatz dieser Geflihle gegen die selbstsüchtigen
nun klar zu erkennen und auch das Eintheilungsprincip, wonach
wir die Gefühle in die beiden Gruppen scheiden konnten, dar-
gelegt ist; so wird unsere nächste Aufgabe sein, den Ursprung
der moralischen Gefühle abzuleiten.
Man hat diesen Ursprung mit gutem Grunde in
der Vernunft gesucht, aber auf verkehrtem Wege; vcningiäckter
denn wenn Kant das Moralische darin sieht, dass »pwirimg»-
man bei jedem Vorhaben generalisiren solle und
fragen, ob das, was wir eben wollen, auch Alle thun dürften,
wodurch unsere Maxime zu einem Gesetze würde, so ist mit
dieser Kategorie der Universalität nur eine Beziehungsweise des
Denkens bezeichnet, die äusserliche der Quantität. Diese Seite
ist aber so ungenügend zur Bestimmung des Moralischen, dass
vielmehr oft gerade das Particuläre und Individuelle den Charakter
der Moralität ausmacht Denn ein Fürst z. B. muss vieles thun,
was nicht alle Menschen thun dürfen (also nicht nach der Norm
der Universalität), zuweilen auch, was den übrigen Fürsten nicht
erlaubt ist (also nicht einmal nach particulärer Totalität), sondern
was gerade nur ihm allein geziemt (also Individualität). Wollte
man einwenden, dass es sich nur um die Maximen und nicht um
die Handlungen drehte, so können wir leicht zeigen, dass die
meisten moralischen Menschen gar nicht nach Maximen handeln,
da es zu den allerschwierigsten Denkoperationen gehört, die
Motive zu einer Handlung in einer Maxime auszudrücken. Es
wären sonst nur die geübtesten Dialektiker moralisch. Stellte
man aber wirklich seine Motivation in einer Maxime dar, so
würde das lächerliche Gesetz durch Universalisirung heraus-
kommen, dass ein jedes vernünftige Wesen, welches meine
Stellung in der Gesellschaft, mein Lebensalter, meinen angebore-
nen Charakter, meine Vergangenheit und meine Beziehungen zu
allen übrigen Menschen hat, so oder so handeln muss, d. h. es
würde die Universalität eben die Individualität sein, weil ohne
Rücksicht auf alle diese individuellen Bedingungen die Handlung
unrichtig würde. Zweitens aber liegt auch darin eine gränzen-
lose Unbesonnenheit von Kant, dass er die blosse Quantität zur
Norm des Denkens macht; denn woher weiss ich, ob Alle so
oder so handeln sollen? Der eigentliche Massstab, wonach die
TeiohmüUep. ReUgioMphUoBophle. ^18^^ GoOQIc
274 Religion der Sünde.
Maxime als richtig oder falsch erkannt wird, liegt ja in der
Auffassung der objectiven Lebenszwecke und nicht in irgend
einer Generalisiruug. Denn auch die allgemeine Uebereinstimmung
aller Gesetze kann ja nicht durch die Allgemeinheit, sondern
nur durch den Begriff und Inhalt des Gedachten eingesehen
werden. Es ist ja durch die Universalität des Princips, dass
jeder, wo er kann, ein Depositum behalten sollte, nicht bewiesen,
dass dies Princip falsch ist Und Kant's naiver Einwurf, weil
sonst Niemand mehr ein Depositum einem Andern anvertrauen
würde, geht gerade auf die Gefühle und auf die sachlichen
Zwecke des Lebens zurück, um danach erst die Gesetze zu
prüfen. Kant's Versuch ist also völlig missglttckt.
Ausserdem würde dadurch auch der Ursprung
"" wwer!e^°''' dcr MoraUtät in der Menschheit nicht eingesehen
werden. Darum ist die Erklärung von Lessing,
Schopenhauer und ihren englischen Autoritäten fast vorzuziehen,
wonach der mitleidigste Mensch der beste Mensch und das Mit-
leid der Ursprung und Mittelpunkt aller MoraUtät sein soll
(1) Allein so empfehlenswerth das Mitleid auch im Allgemeinen
sein mag, so kann es doch als natürlicher Affekt, der bei
einigen Menschen stärker, bei anderen schwächer auftritt, un-
möglich das Princip der MoraUtät bilden. (2) Das Mitleid ist ja
ein Princip, das sich selbst ura's Leben bringt; denn wenn das
Mitleiden Erfolg hätte und alles Uebel verhütet würde, so gäbe
es kein Mitleid und also keine MoraUtät mehr; das Gute aber
muss doch gerade dann herrschen, wenn das Böse beseitigt ist.
(3) Das Mitleid muss auch erst moralisch gebildet werden, um
zu unterscheiden, was man bedauern soU und was nicht; denn
wenn das Mitleiden allein herrschte, so könnten die schönsten
Thaten des Heldenmuthes nicht geschehen, bei denen man ja
mitleidswürdige Wunden und Schmerzen und zuweilen das Leben
selbst einsetzt Also kann das Mitleiden nicht Erklärungsgrund
und Quelle der MoraUtät sein. Mitleiden mit sich bringt Ver-
weichlichung, Feigheit u. dergl. moralische Schwächen hervor;
Mitleiden mit Andern als alleiniges Princip verhindert alle Er-
ziehung, aUe Strafe, aUe Gesetzgebung, jede Anstrengung. Mitleid
ist darum ein Affekt, der wie jeder andere der Vernunft zu
unterwerfen ist, aber ihr nichts vorzuschreiben hat, oder gar an
ihre Stelle zu setzen ist
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Ethik. 275
Ich will die Kritik nicht gegen alle weniger u^pruDg de«
wichtigen modernen Theorien wenden, sondern lieber Rechu und der
kurz von meinem Standpunkte den Ursprung des ^0»^»^»^-
Rechts darlegen. Der Mensch, der zuerst die Welt ausschliesslich
nach ihrer Wirkung auf ihn selbst betrachten musste und noch
heute als Kind ebenso zur Welt steht, kommt allmählich zur
Vernunft, d. h. er lernt, sich auf den Standpunkt der Andern zu
stellen und nach Analogie mit sich zu beurtheilen, was ftlr jeden
Andern ein Glück und ein Unglück, ein Gut und ein Uebel sein
muss. Dadurch wird er allmählich eine objective Ordnung
erkennen, nicht indem er mit Kant universalisirt, sondern indem
er die Zusammenhänge der Handlungen der Menschen in den
Goordinationen von Zwecken und Mitteln versteht, da den
Vorstellungen von den Ereignissen jedesmal Gefühle von Freud
und Leid, Wünsche und Beängstigungen und diesen wieder
psychische und physische Anstrengungen und Bemühungen zu-
geordnet sind.
Diese Erkenntniss ist die natürliche Folge der Vernünftigkeit
des Menschen, wonach er homo sapiens im Gegensatze zum Thiere
genannt wird, welches niemals seinen perspectivischen Stand-
punkt aufgeben und sich niemals auf den Standpunkt der anderen
Wesen versetzen und die für sie gegebenen Goordinationen er-
kennen kann. Allein diese Klugheit des Menschen ist weder das
Kecht, noch die Moralität
Nun entspricht aber dem erkennenden Vermögen in uns das
Gefühl oder der Wille und diesem die Bewegung, wodurch alles
geschieht, was geschieht. Daher wird der Mensch zwar im An-
fang die Dinge nach der Selbstsucht auffassen, wie wir dies bei
der Religion der Furcht gesehen haben; wenn er aber bei fremden
Menschen Ereignisse anschauen muss, die ihn nichts angehen,
die aber seinen schon gewonnenen Vorstellungen von der objec-
tiven Ordnung zuwider laufen, so kann sein Gefühl dabei keinen
Beifall äussern, sondern er muss wegen der Zugehörigkeit von
Erkenntniss und Wille ein Miss fallen empfinden. Er hat noth-
wendig die Stimmung des unbefangenen Zuschauers und Richters,
der bei den Vorgängen nicht selber mit seinem Interesse be-
theiligt ist, und muss jede Störung der Ordnung mit einem nicht
egoistischen Missfallen betrachten. Sieht er einen Mord an, so weiss
er, dass der Ermordete leben wollte und um sein Dasein als ein
uiumzeu uy V^J W\J>t l^
276 Religion der Sünde.
hohes Gut rang, dass seine Glieder nicht zur Zerfleischnng da sind,
dass sein Blut im Körper und nicht dranssen fliessen soll, dass
die schreienden und händeringenden Angehörigen in ihrem Gefbhl
und Leben beeinträchtigt werden durch den Tod ihres Vaters
u. s. w. Kurz, er sieht eine Störung derjenigen Ordnung, die in
der Natur des Menschen liegt, und muss dabei ein mehr oder
weniger grosses Missfallen empfinden. Die Empfindung wird
stärker werden, wenn seine Vernunft hinreicht einzusehen, dass
der Mörder ein ander Mal ihn selbst zum Ziele nehmen könnte
und dass dann Andere die Zuschauer sein wtlrden, die mit Miss-
fallen darauf blickten. Die natttrliche Uebertragung auf sich, die
durch die nachahmenden Triebe im Menschen begünstigt wird,
giebt dieser Erkenntniss der Analogie den kräftigsten Eindruck,
indem das Geftlhl der Selbstsucht .seine erworbene Kraft hinzu-
ftlgt, so dass jenachdem Entrüstung, Entsetzen, Abscheu und
dergleichen Geftlhle entstehen können. Es befestigen sich all-
mählich dadurch aber eine ganze Reihe von zusammengehörigen
Erkenntnissen und Geftihlen und auf dieser Goordination beruht
Recht und Moralität
Wenn wir die natttrliche Entwickelung dieser
^ ^°Xtlig°** 8^**^^^®° Geflihle und Ideen verfolgen, so ergeben
sich zwei Stufen. Zuerst nämlich ist ersichtlich,
dass die meisten Menschen auf der unteren Stufe der Cultur
bleiben und alles, was geschieht, perspectivisch mit dem Auge
ihrer Selbstsucht betrachten werden. Mithin können nur wenige,
feiner begabte Naturen die Dinge, sich selber eingeschlossen,
objectiv betrachten und eine gewisse Ordnung derselben nach
natürlichen Zwecken erkennen. Da diese Ordnung aber noch
nicht in dem Zusammenleben der Menschen staatlich verwirklicht
ist, so werden sie auch keine deutlichen Begriffe davon haben
können, sondern die Ordnung nur durch Verletzungen der Ordnung,
also durch das angeschaute Unrecht erkennen. Das Unrecht
ist daher der erste moralische Begriff in der Menschheit
und ihm zugehörig das Geftlhl des Absehens und der Ent-
rüstung. Es darf dies Geftlhl nicht aus gekränkter Selbstsucht
oder aus Mitleid abgeleitet werden, weil es sonst über die untere
Sphäre des Lebens nicht hinausgehen würde, sondern aus der
Vorstellung von einer gestörten Ordnung, die man wegen der
natürlichen Gewöhnung mit Liebe und Beifall bisher genossen
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Ethik. 277
und angeschaut hat nnd die udb nnn erst bei ihrer Dnrch-
brechnng zum Bewusstsein kommt. Es entwickelt sich
zwar natürlich der Begriff yom Rechten zu gleicher Zeit in un-
trennbarem Acte mit dem Begriff des Unrechts; dennoch hat man
die Veranlassung zur Geburt dieser beiden Begriffe in der nega-
tiven Seite zu suchen. Daher bleibt der positive Begriff zunächst
unbestimmt; der negative aber tritt klar und deutlich heraus:
„er hat ihn geschlagen, beraubt, ermordet, seine Felder verwüstet,
seine Hütte verbrannt^^ u. s. w. Darum sind auch nothwendig
alle sittlichen Gebote, welche die positive Seite vertreten, zuerst
negativ gefasst: „Du sollst nicht stehlen, nicht todten, nicht ehe-
brechen" u. s. w.
Die zweite Stufe des sittlichen Lebens entsteht,
bewDBBtaelo.
wenn durch die Störungen der natürlichen Ordnung ^' ^^^'^
ein Bewusstsein von dem positiven Inhalt der Ord-
nung, d. h. ein Rechtsbewusstsein sich ausbildet. Es wird
allmählich klar, was das ist, was nicht, ohne Entrüstung hervor-
zurufen, durchbrochen werden darf. So entsteht eine deutliche
Erkenntniss von dem, was sein soll und was man darf. Was
daher auf der ersten Stufe als Brauch und Sitte unbewusst
in Geltung war, das wird nun in bestimmten Ideen als die rechte
Ordnung oder als Recht erkannt.
Dieser Erkenntniss zugehörig entwickelt sich der Wille oder
das GeHlhl. Wir können diese Seite das Rechtsgefühl oder
die Moralität nennen. Sobald dieses Gefühl eine gewisse Stärke
gewonnen hat, wird es sich nicht bloss in rechtmässigen oder
sittlichen Handlungen und in der Vermeidung von Rechtsver-
letzungen äussern, sondern, da diese ganze ethische Sphäre den
perspectivischen Standpunkt überschritten und die Ordnung als
eine objective gefunden bat, die Nachachtung von Seiten der
ganzen Gesellschaft fordern und erzwingen, d. h. dies Rechts-
bewusstsein und Recbtsgeflihl treibt nothwendig zu einer socialen
Rechtsordnung oder zum Staat, zur Gesetzgebung, Verwaltung
und Executive.
Wo aber in dem Einzelnen die frühere Stufe der
Selbstsucht noch so mächtig wirkte, dass er eine
Verletzung des Rechts und Gesetzes beging, während doch zu-
gleich in ihm das Rechtsbewusstsein und Rechtsgeflihl schon
uiyiiized by VjOOQIC
278 EeligioD der Sünde.
lebendig war, da mnss als zugehörig ein früher unbekanntes Ge-
fühl, nämlich das der Sünde auftreten. Dies (xefühl hat schein-
bar mit dem Schuldgefühl der ersten Stufe eine Verwandtschaft
und ftlhrt daher auch denselben Namen der Beue; allein die
Aehnlichkeit beruht bloss auf der Proportionalität und nicht auf
der Qualität Was dort der mächtige Wille und das Gefallen
des Herrn ist, das ist hier das Recht; was dort die uns Schaden
brmgende Uebertretung ist, das ist hier Bechtsverletzung; was
dort Furcht vor Rache und Nachtheil ist das ist hier, auch wenn
kein Nachtheil entsteht, das schmerzliche Bewusstsein, das von
uns selbst anerkannte Gesetz durch ein von uns selbst ver-
worfenes und verabscheutes Begehren verletzt zu haben. Also
ist hier eine qualitative Verschiedenheit anzuerkennen und nur
die Gleichheit der Stellung in der Proportion veranlasst, die
homologen Glieder für gleich zu nehmen. Freilich wird die
wissenschaftliche Unterscheidung der Begriffe dadurch erschwert
und umgekehrt die falsche Identification dadurch unterstützt, dass
in der historischen Entwickelung der Menschheit Macht und
Recht selten rein geschieden waren, so dass auch alle die zu-
gehörigen Vorstellungen in der Regel unrein vorkommen. Da
wir aber hier nicht Empirisches und Historisches erforschen wollen,
sondern mit philosophischer Strenge die Gliederung des geistigen
Lebens speculativ bestimmen, so haben wir auch mit aller Schärfe
die qualitativ gesonderten Functionen von einander zu trennen.
Dies Gefühl der sittlichen Reue oder das Bewusstsein der Sünde
ist aber seiner Quantität (Intensität) nach schwach und stark,
jenachdem die Moralität oder das Rechtsgeftlhl schwach oder
stark entwickelt war.
,, , , ,, Man könnte nun den Beweis fordern, dass die
Bewetim, dass die '
aittiiobe Stufe sittUchc' Stufc dcs Bcwusstscins wirklich die höhere
die höhere tat. ^^j ^^^ Sclbstsucht gegenüber; denn es giebt ja
Selbstsüchtige genug, welche die Sittlichkeit nur für eine zu-
filllige Eigenthümlichkeit einiger Menschen erklären und den
Unterschied der Sittlichen und Selbstsüchtigen in gleiche Linie
stellen mit dem Unterschiede der Blonden und Brünetten, von
denen doch keiner besser als der andere sei.
Der Beweis muss von dem Begriff des Höheren und Besseren
ausgehen. Wir treten deshalb auf den Standpunkt der Selbst-
süchtigen hinüber und setzen zunächst erst beide Stufen gleich,
indem wir nur eine Ordnung der Begehrungen und der Güter
uiymzeu uy x^_j\^ v^pc iv^
Ethik. 279
überhaupt fordern, wonach ein niederes Gut flftr ein höheres auf-
gegeben wird, ein Huhn für eine Kuh, eine Kuh flir ein Kind
u. s. w. Diese Ordnung muss Jeder einräumen, er möge auf
einem Standpunkte stehen, auf welchem er wolle, weil sonst über-
haupt alle Yemünftigkeit in der Auswahl der Handlungen auf-
hören und der Mensch auf die Stufe der Pflanze herabgedrückt
würde, während schon das Thier eine Wahl vollzieht, wenn auch
ohne bewusste Ueberlegung. Ist nun dies Princip zugegeben, so
ist unser Obersatz fest, nämlich, dass das höhere Gut dasjenige
sei, für welches wir alle übrigen fallen lassen. Der Untersatz
hat jetzt bloss die Thatsache zu constatieren, dass der Mensch
in seiner Entrüstung, d. h. im Gefühl des gekränkten Rechtes,
bereit ist, sein Eigeuthum, seine Freiheit, ja sein Leben, ohne
welches doch alle sonstigen Güter nicht genossen werden können,
kurz sein Gut und Blut in die Schanze zu schlagen. Dies ist
allbekannt und braucht nicht durch Beispiele erhärtet zu werden,
da ein schwaches Analogen sich schon bei dem Hunde zeigt,
der auf seinem Hofe, gewissermassen im Bewusstsein seines
Rechts, auch stärkeren Yierfasslem gegenüber muthiger wird
Er wird getragen durch das Gefühl der Zusammengehörigkeit
mit dem socialen Ganzen des Hauses und der fiLr ihn das Recht
bildenden Gewohnheit. Bei den Kindern aber kommt auch Er-
wachsenen gegenüber, welche die Macht haben, zuweilen der
Rechtstrotz hervor: „es ist aber doch wahr!", und sie betheuem
unter Thränen und mit Verachtung der Schläge, dass sie Recht
haben. Ueberall endlich sieht man in der Geschichte, dass Air
einen Mann, der das Rechte erkannt hat, die Gegenstände der
Furcht nicht mehr fürchterlich sind, weil ein höheres Gut, das
sein Gefühl viel stärker aufregt, in ihm lebendig geworden ist
Mithin ist der Beweis erbracht, und wenn man erwidern wollte,
dass die Selbstsüchtigen doch nicht ebenso denken, sondern gleich
bereit sind, das Recht ihres Standes, ihrer Nation u. s. w. preis-
zugeben, wenn sie bei seiner Behauptung ökonomischen Nachtheil
oder gar Gefahr an Leib und Leben hätten, so sind sie daran
zu erinnern, dass hier nur derjenige urtheilen kann, der beide
Vergleichungspunkte kennt Ob Neapel oder Malaga schöner
liegt, kann nur der entscheiden, der beide Städte gesehen hat
In dem sittlichen Manne liegt aber auch die Selbstsucht als eine
ihm wohlbekannte Triebfeder; der Selbstsüchtige aber kennt die
Moralität nicht DigitizedbyGoOQk
280 B<eligioii der Sünde.
Der zweite Beweis ist dadurch za führen, dass in der ganzen
menschlichen Gesellschaft Niemand die Selbstsucht als seinen
Grundsatz öffentlich bekennen darf, ohne sofort alles »Vertrauen,
alle Achtung und allen Einfluss zu verlieren, weil man ihn fbr
eine niedrige und gemeine Natur hält. Deshalb müssen die
Selbstsüchtigen öffentlich selbst die Moralität als die höhere Stufe
anerkennen, indem sie ihren Handlungen wenigstens den Schein
und Vorwand des Bechts umhängen.
Drittens folgt der Beweis aus dem Begriff des Moralischen
selbst, da es ein Urtheil über die selbstsüchtigen Begierden und
den Gebrauch der Macht enthält. Der Richter steht aber immer
über dem, der vor sein Tribunal kommen muss. Und so kommen
alle Handlungen der unteren Stufe vor das kritische Tribunal
des Bewusstseins, welches Becht und Unrecht scheidet, anklagt
oder freispricht
Inhalt des ^* ®® ^^® Wahmchmung der natürlichen Zweck-
Rcchtabevuest- mässigkeit in den Beziehungen der Menschen ist^
***"'' welche zuerst die Idee einer Ordnung und dem-
gemäss das Rechtsbewusstsein entstehen lässt, so kann sein Inhalt
auch nur die socialen und politischen Verhältnisse der Menschen
imifassen. Es dreht sich also um die Familie und ihre Ord-
nung, die gebietende Stellung der Eltern, den Gehorsam der
Kinder; sodann um die Stände, ihren Fleiss, ihre wechselseitige
Hülfe und Freundlichkeit, ihre Achtung und Ehrbarkeit, endlich
um die Nation und den Staat, also um den Patriotismus, die
Heiligkeit der Gesetze über Eigenthum, Freiheit der Person, Un-
verletzUchkeit der Person und der Verträge untereinander, um den
Gehorsam gegen die Obrigkeit, die Einrichtung der Aemter u. dergl.
Der Inhalt des Bechtsbewusstseins ist deshalb nach den
Entwickelungsstufen der Gesellschaft nothwendig veränderlich
und läuft immer parallel mit dem positiven Rechte, welches
fllr die stärksten sittlichen Geftthle den zugehörigen Vorstellungs-
inhalt in Gesetzes- Paragraphen formulirt und die zugehörigen
Handlungen erzwingt oder die Uebertretungen straft. Mit dem
geschriebenen Becht ist natürlich die Sitte oder das Gewohnheits-
recht von diesem Standpunkte aus homolog, wie denn auch in
den Bömischen Institutionen die Athenische und die Spartanische,
die geschriebene und die bloss gedächtnissmässige Bechtsfest-
Setzung in die gleiche Linie gestellt wird.
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Zweites Kapitel.
Die zugehörige Dogmatik.
§ 1. Die Theologie der Religion der Sünde.
In dieser ganzen Sphäre des Rechts and der zugehörigen
Moralität haben wir nun bisher keine Spur eines religiösen Geistes
gefunden, und es fragt eich daher, wie der Uebergang zur £e-
ligion vor sich gehe, d. h. wie eine Anknüpfung des Kechts an
die Gottesidee gemacht werden könne. Allein dies ist sehr ein-
fach; denn die in uns sich bildende Idee des Bechts wird ja in dem
unentwickelten Bewusstsein immer von selbst nach Aussen pro-
jicirt, so dass die innere Verpflichtung, die uns das GefUhl auf-
erlegt, als ein aussen vorhandenes Gebot aufgefasst wird. Für
dieses Gebot bedürfen wir nach dem die Bewegung unserer Ge-
danken bezeichnenden Satze des Grundes eine Ursache, die wir
nicht finden können; denn es handelt sich ja um eine Idee in
unserem Geiste und um ein GeftLhl unseres Gemüthes. Mithin
müsste das Gesetz ein fabelhaftes Dasein führen, wenn nicht
aus dem Erwerb der unteren Stufe schon die Gottesvorstellung
fertig vorläge. Da aber dieser Gott der Macht, dem unsere
Gottesfurcht entspricht, schon geschaffen ist, so versteht es sich
nun von selbst, dass wir das nach Aussen projicirte Gebot des
Bechts, welches für uns Autorität ist, auf den Gott der Macht
beziehen und so den strengen Herrn zum Gesetzgeber erheben.
Der alte Furchtgott erhält nun den Heiligenschein, der von unserem
Bechtsbewusstsein und unserem Kechtsgefühl ausstrahlt. So ent-
steht die zweite, höhere Stufe der Beligion, die moralische oder
Bechtsreligion.
Allein obgleich dieser Ursprung der Beligion so einfach er-
scheint, so ist doch die Beziehung des Bechts auf den Naturgott
nicht der nächste Vorgang; denn man hat inmier den Anfang
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282 Religion der Sünde.
mit der negativen Seite zu machen. Das Nächste ist, wenn die
natürliche Ordnung, die wir als Brauch oder Sitte oder auch nur
als gewohnte Wahrnehmung kannten, verletzt wird, z. B. durch
einen Todschlag, wie er in dem Mythus von Kain erzählt wird.
Bei solcher Gelegenheit muss einerseits das Gefühl der Sünde,
andererseits das unbestimmte Bewusstsein eines verletzten Rechtes
entstehen. Nun hat aber die Vernunft des Menschen im Anfang
gar keine Müsse, um über die Vorstellung des Rechts weiter
zu grübeln und sie speculativ mit irgend einem metaphysischen
Subjecte zu verknüpfen; dagegen ist die Sünde ein mächtig
drängendes Gefühl, welches den Geist in Aufruhr bringt, da sich
die selbstsüchtige Leidenschaft von der Veniunft, in welcher die
Vorstellung von der Ordnung lag, losgerissen hat und so das
Gemüth des Menschen in zwei Heerlager getrennt ist. Mithin
erscheint nun der Leidenschaft gegenüber die Vernunft als etwas
Anderes und dies Andere, welches allererst die Möglichkeit und
den Grund der Entrüstung bildet, wird ganz natürlich projicirt
und vereinigt sich daher von selbst mit dem Gotte der Macht,
der schon fertig im Bewusstsein ist
Dazu kommt, dass die Entzweiung des Bewnsstseins, welche
wir bei der Sünde erkennen, ursprünglich nicht wohl in einem
und demselben Menschen stark genug vorgehen konnte, um daraus
die Gottesvorstellung allein abzuleiten; sondern es erscheint als
natürlicher anzunehmen, dass die Entrüstung über die Sünde
zuerst in einem anderen Menschen, entweder in dem Verletzten
oder in den Zuschauem, entstand und sich dann erst durch
Sympathie dem Sündigenden mittheilte. Wie nun die Entrüstung
homolog mit dem Zorn und der Rachlust ist, so muss demgemäss
das Geftlhl der Sünde homolog mit der Furcht werden, die aus
der Entrüstung die Rache wie ein Gespenst aufsteigen sieht.
Mithin verwachsen diese beide Geftihle ganz von selbst und so
muss die Furcht, auch wenn der Beschädigte oder die Zuschauer
nicht in Thätlichkeiten übergehen, doch nach der Analogie in dem
Bewusstsein den Furchtgott hervortreiben und ihn aus dem bloss
gefährlich zürnenden wegen des dämmernden Rechtsbewusstseins
zu einem nach dem Recht und der Ordnung strafenden machen.
Nehmen wir z. B. den ersten Todschlag. Das Weheschreien des
Sterbenden und die starre, kalte und blasse Leiche geben den
Schreck und die Furcht. Jetzt kommt das Bewusstsein, selbst
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Dogmatik. 283
die Ursache der gestörten Ordnung zn sein, welches mit dem
schon bekannten Schuldgefühl die Idee des Unrechts associirt
und also 'das Gefllhl der Sttnde hervorbringt. Die Sttnde mit
dem Bewusstsein der Schuld und die zugehörige Furcht müssen
daher nothwendig die weitere Verknüpfung mit dem Furchtgotte
schliessen, so dass der Ursprung des Gottes in dieser zweiten
Religion durchaus verständlich und natürlich erscheint
Es giebt daher in dieser Keligion keinen Gott, der bloss
abstract das Recht vertrete, sondern dieser Gott des Rechts ist
unmittelbar auch zugleich der Gott der Macht. Man kann die
Religion aber positiv die moralische oder Rechtsreligion
oder nach dem nächsten Ursprung die Religion der Sünde
nennen, weil sie sich ohne das specifische Gefllhl der Sünde
niemals gebildet haben würde.
§ 2. Unbestimmtheit des Gottes.
Wenn wir nun die Gottesvorstellung gewonnen haben, so
fragt man sich, was wir Bestimmtes dabei denken. Da ist nun
sofort einleuchtend, dass sich aus der Projection unseres Rechts-
bewusstseins in den Himmel droben kein Begriff von einem wirk-
lichen Wesen bilden lässt. Durch die Verknüpfiing mit dem
Naturgotte kann aber die moralische Färbung, die wir ihm nach
der Analogie mit unserem eigenen RechtsgefUhl geben, schon
eine lebendigere und inhaltsreichere Persönlichkeit hervorbringen,
die wir verstehen und die uns versteht, weil wir ihr ja unser
Herz in die Brust gethan haben. Der Gott ist daher unserer
Achtung sicher und erweckt in uns, sofern er mit dem Natur-
gott verwachsen ist, zugleich Furcht, zusammengenommen also
Ehrfurcht. Die weiteren Gefühle und Vorstellungen, die zum
Verkehr ndt dem Gotte führen, müssen wir bei Betrachtung des
Gultus erörtern; hier können wir nur noch feststellen, dass trotz
dieser Vermenschlichung des Gottes, den der unbefangene Mensch
ja nach seinem Bilde schafft, dennoch der Schatten einer merk-
würdigen Unbestinmitheit auf die ganze Theologie fallen muss.
Wir können dem Gotte nämlich, obgleich wir ihn nach Analogie
mit uns als Geist und Persönlichkeit vorstellen, keine irgend
bekannte Figur und Erscheinungsform geben, da er durch seine
moralischen Eigenschaften zu hoch ist, um als Ochs, Löwe, Adler,
uiyiiizeu uy V^nOOy IC
284 Beligion der Sünde.
oder gar als Wasser und Starm, oder als Stemscheibe zu er-
scheinen; durch die allgemeine Wirksamkeit des Bechtsbewusst-
seins und durch Verschmelzung mit dem Naturgott aber ist er
auch wieder zu gross, um als ein kleiner oder riesiger Mensch
von einer bestimmten Länge und von bestimmtem Alter und
Wüchse vorgestellt zu werden. Mithin muss der Gott unsicht-
bar und gestaltlos sein, so dass kein Bild und Gleichniss von
ihm gemacht werden kann. Wie für die Sinne, so verliert er
deshalb aber auch fllr die Vorstellung und Phantasie jede Form
und Natur, da er ttber den Naturgott durch seine moralischen
Eigenschaften hinausgewachsen ist. Also müssen wir bekennen,
dass dieser Gott, möge er als Jehovah oder sonstwie verehrt
werden, nothwendig eine unbestimmte und jeder Verdeutlichung
widerstehende Vorstellung bildet; denn auch als Begriff der
Vernunft, der durch das Denken und Schliessen kund werde,
können wir ihn nicht vertheidigen, da die Projection unseres
Bechtsbewusstseins nach Aussen in eine unerfindliche Persönlich-
keit hinein kein logischer Schluss ist, der sich über seine Methode
auszuweisen vermöchte. So bleibt nur übrig, dass der Gott als
das homologe Glied dem zugehörigen Gefühl der Sünde in uns
entspricht und dass er seine Natur als ein wirkliches Wesen, in
welchem die Bechtsgefühle den Charakter oder die Eigenschaften
bilden, von dem Naturgotte entlehnt hat und deshalb an einer
doppelten Unbestimmtheit leidet
Diese Unbestimmtheit kann der Bechtsgott niemals verlieren,
weil und sofern es keine andern Motive giebt, die als religiöse
zur Ausbildung einer speculativen Theologie führten. Das einzige
Motiv ist das Geftihl der Sünde, und diesem entspricht zugeordnet
der Bechtsgott, der nur in dieser, sonst aber in keiner Beziehung
bestimmt ist. Wie nun die Menschen Jahrhunderte lang gewisse
Kräuter wegen ihrer Heilkraft suchen und brauchen, sich aber
um die sonstigen Eigenschaften dieser Kräuter, um ihren Species-
Charakter und um ihre aus wissenschaftlichem Interesse aufzu-
findenden chemiBchen, physikalischen, anatomischen und physio-
logischen Eigenthümlichkeiten, wie um ihre Ordnung und Glasse
in der Pflanzenwelt gar nicht bekümmern, sondern nur dies von
ihnen wollen, dass sie Blut stillen, Schweiss treiben, kühlen,
Wunden reinigen und dergleichen bestimmte nützliche Dinge
leisten: so verhalten sich die Gläubigen auch zu ihrem Gott, um
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Dogmatik. 285
dessen Herkunft, Wohnung, Nahrung, Lebensweise und Beschäf-
tigung sich nur unnütze und nicht religiöse Gedanken bewegen
würden, während das einzige bestimmte Motiv der Sünde ihm
die einzige ftir diese Religion brauchbare Bestimmtheit des Rechts-
charakters giebt, wogegen alle andern theologischen Speculationen
ausserhalb dieser Religion liegen müssen, weil sie fQr das Gefühl
der Sünde ohne Nutzen sind. Es dreht sich bloss um die Heilkraft
des Krautes.
§ 3. Die numerische Bestimmung des Gottes.
Obgleich nun die zugehörige Theologie dieser
Religion ihrem Gegenstande keine nähere metaphysische
und sonstige Wesens-Bestimmung geben kann, so ist es doch in
Beziehung auf den Gesichtspunkt der Quantität sehr interessant
zu erkennen, wie der Rechtsgott nothwendig ein einiger werden
muss und wie also durch die Religion der Sünde der Poly-
theismus zu einem Monotheismus übergeführt wird. Um dies
einzusehen, müssen wir vorläufig die erzartige Verquickung unseres
heiligen Gottes mit dem Naturgotte lösen und ihn chemisch rein
darstellen, weil wir sonst die specifischen Eigenschaften dieser
Religion verfehlten. Nun ist klar, dass das Rechtsbewusstsein
in seiner specifischen Energie, wo es das Geftlhl der Sünde
erzeugt, oder positiv thätig in der Gesetzgebung ist, immer nur
als ein im Einklänge mit sich stehendes Bewusstsein auftritt. Wer
sich sündig ftihlt, hat immer nur die Eine Stimme des Rechtes im
Herzen, die ihn verklagt; denn das Missfallen, das vielleicht ein
Entrüsteter draussen zeigt, muss mit unserem eigenen Missfallen
übereinstimmen, wenn wir die Sünde ftihlen sollen, und dies
Geftihl ist ein einiges. Mithin stehen wir dabei auch nur dem
Einen projicirten Rechtsgeiste gegenüber. Ebenso ist der Gesetz-
gebende von der Einheit des Willens gefllhrt, und es kann sich
innerhalb des moralischen Gebietes niemals der Dualismus von
Geboten finden, wie ;p. B. etwa: Du sollst nicht tödten und Du
sollst tödten. Mithin kann die Projection unseres Rechtsbewusst-
seins auch immer nur einen einigen Gott liefern, und der reine
Monotheismus ist das logisch noth wendige Dogma dieser
moralischen Religion.
Wenn wir nun aber bedenken, dass der reine
und einige Gott des Rechtes eine Verquickung mit
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286 Religion der Sünde.
dem Gotte der Macht nicht venneiden kann, so ist es ganz be-
greiflich, dass der reine Monotheismus sich selbst bei denjenigen
Völkern, die ein höher entwickeltes Kechtsbewusstsein haben,
dennoch nicht vorfindet, sondern dass der Polytheismus vielmehr
überall verbreitet ist, und der moralische Monotheismus eigentlich
wohl nur bei den Juden vorkommt. Die Erklärung liegt darin,
dass, wenn das Bechtsbewusstsein sich bildet, die Götter der
Naturreligion schon da sind. Wie nun der Freund des Rechtes
im Kampfe steht mit den vielen Vertretern der Selbstsucht und
der Gewalt, so muss auch ihr Gott nothwendig ein Heer von
Gegnern sich gegenüber haben, mit dem er in beständiger Fehde
liegt. So hat Indra auch da, wo er nicht bloss als Lichtgott,
sondern schon als Vertreter der Moralität gefasst wurde, immer
mit den feindlichen Naturgewalten, die z. B. in Wertra symbolisirt
werden, zu kämpfen und die olympischep Götter, bei denen Sinn
für Becht und für das Schöne und Gute herrscht, mit den Titanen
und Giganten. Denn es ist zwar richtig, dass wir diese Kämpfe
auch schon in der Furchtreligion genügend ableiten konnten (vergl.
oben S. 127); sie erhalten aber jedenfalls durch die moralische Reli-
gion eine neue Belebung, indem der Gott, der bisher bloss unser
Gott, unser Beschützer, unser Erlöser (ocotTjp) und überhaupt die
perspectivisch aufgefasste Ursache unserer Furcht und Hoffiiung
war, nun auch die Vertretung der moralischen Interessen und der
Bechtsidee übernehmen muss. So verwandelt sich in jedem Volke
entweder der Nationalgott oder einer der Götter mit dem er-
wachenden sittlichen Geist zu dem Gotte des sittlichen Gesetzes.
Mithin ist der Polytheismus ganz natürlich selbst auf dem Stand-
punkte einer sich schon bildenden Bechtsreligion, wie wir diesen
Zustand daher auch bei den Indern, den Germanen, Griechen,
Bömern und auch den Aegyptern vorfinden.
Es muss nun aber gezeigt werden, wie der
Dualismus. '
Dualismus entsteht, der sich z.B. bei den Persern
findet. Dieser lässt sich scheinbar sehr einfach erklären. Wie
nämlich in der Furchtreligion scheinbar durch die blosse Macht
des Denkens alle die vielen Götter und Dämonen sublimirt werden
können zu dem Einen allgewaltigen Herrn des Islam, so scheint
auch der Gegensatz der Naturgötter, die der Bechtsgott vorfindet,
durch die zur Zeit der Ausbildung des Bechtsbewusstseins schon
gereifte Abstractionskraft sehr wohl in den einigen Begriff des
uiymzeu uy V^jOOV IC
Dogmatik. 287
dem Rechten widerstrebenden, bösen und rechtsfeindlichen Princips
zusammengefasst werden zu können, und wir hätten daher bequem
und glücklich den Dualismus aus einem in der Natur des Denkens
liegenden und gewöhnlichen Vorgänge abgeleitet. Allein es darf
uns nicht einfallen, auf diese kraft- und geistlose Manier das
Gottesbewusstsein bloss als Product einer sogenannten logischen
Abstraction zu erzeugen; denn es ist zwar leicht, die £nten,
Kaben, Sperlinge u. s. w. unter dem Begriffe Vogel zusammen-
zufassen, nicht aber die vielen Götter unter den Einen
Begriff Teufel, weil der Gattungsbegriff Vogel nirgends als
wirkliches Wesen existirt, und auch kein Mensch an seine
verborgene Existenz glaubt, während der Begriff Teufel oder
Ahriman ein wirkliches Wesen bedeuten soll, das man furchtet
und wogegen man kämpft. Femer ist der durch Abstraction
gefundene Begriff das Prädicat zu jedem Artbegriff, d. h. jeder
Sperling ist ein Vogel, jeder Babe ein Vogel; es wäre aber
absurd zu sagen, dass jeder der alten polytheistischen Dämonen
ein Ahriman sei, weil dadurch das böse Princip in seiner Einheit
verschwinden und sich wieder in eine Vielheit von Dämonen
auflösen müsste, gerade wie der Begriff Vogel in die Vielheit
der wirklichen Vögel zergeht. In dem Dualismus aber ver-
schwinden umgekehrt die vielen Götter und lassen als eigent-
lichen Acteur dem Bechtsgott gegenüber nur den Bösen zurück.
Sofern die vielen Götter aber in der Erinnerung und durch die
Gewöhnung und Tradition noch fortleben, verwandeln sie sich
nur in Diener und Werkzeuge des bösen Dämons, durch
welche er seine Absichten ausAlhrt Also ist bewiesen, dass die
logische, sogenannte Abstraction keinen genügenden* Erklärungs-
grund für die Entstehung des Dualismus bietet.
Sobald man aber meine Methode befolgt, so löst sich das
Bäthsel und man kann den Dualismus a priori construiren und
zwar in solcher Weise, dass das wirklich historische religiöse
Bewusstsein mit der Synthesis sich vollständig deckt. Wir werden
deshalb auch die Elemente unserer Synthesis nicht durch irgend *
welchen Einfall in die Gedanken bekommen, sondern mit voller
Besonnenheit selbst bestimmen. Da nämlich der Teufel, Ahriman,
Seti oder sonstwer natürlich eine blosse Vorstellung ist, welche
die Bolle eines wirklichen Wesens spielt, so muss die Gottes-
erzeugung auf einer Projection beruhen. Dies ist unser leiten-
uiymzeu uy V^jOOV IC
288 Religion der Sünde.
der Gesichtspunkt Mithin muss erstens in dem Bewnsstsein des
Menschen eine reale einheitliche Macht nachgewiesen werden,
welche genan den Charakter des bösen Princips besitzt, und
zweitens muss ein Grund sich zeigen, weshalb man diese in uns
wirksame Macht nach Aussen projiciren konnte.
Was nun die erste Forderung betrifft, so werden wir dem
Bewnsstsein des objectiven Rechtes gegenüber sowohl in uns als
in Andern die einzelnen Leidenschaften und alles Widerstrebende
schliesslich auf die bloss perspectivische Stellung zur Welt,
also auf ein einheitliches Princip, die sogenannte Selbstsucht,
zurückführen müssen, so dass nun die Vielheit der einzelnen
Begehrungsmächte in uns und Andern sich ganz natürlich in
blosse Werkzeuge, Diener und Erscheinungsarten des Einen bösen
Grundwillens verwandeln. Da aber die einzelnen polytheistischen
Dämonen früher immer den einzelnen Leidenschaften im Menschen
zugeordnet waren, und die Gläubigen sich, je nachdem sie dies
oder das fürchteten oder ersehnten, immer an diesen oder jenen
Dämon betend und opfernd wandten, so müssen nothwendig beide
einander zugeordnete Glieder auch miteinander in die neue
Stellung eintreten, die durch den Ursprung der objectiven sitt-
lichen Weltanschauung entsteht, und mithin begreift sich, weshalb,
wo Dualismus in der Weltgeschichte auftritt, die früheren Dämonen
entweder verschwinden, oder, was natürlicher ist, zu blossen
Erscheinungsarten und Dienern des souveränen bösen Princips
herabgesetzt werden.
Hierin liegt aber noch nicht die gewünschte Erklärung; wir
müssen vielmehr etwas feiner jetzt auch noch den Grund der
Projection erforschen. Nun konnte der Kechtsgott nur entstehen,
weil das Ich sich in den Aeusserungen seiner Selbstsucht wieder-
fand und den moralischen Geist in sich als etwas Fremdes be-
trachtete und deshalb nach Aussen projicirte. Demgemäss kann
also das böse Princip erst dann im Ahriman oder Seti als Gott
hervortreten, wenn das Ich seine Stellung verändert hat
und zwar nicht etwa den schon entstandenen und verehrten
Kechtsgott wieder in das Bewnsstsein der eigenen Seele zurück-
nimmt, sondern sich auf seine Seite neigt und sich daher im
Ganzen als fromm und ehrbar und rechtlich betrachtet,
weshalb nun die in dem Menschen aufsteigenden Gewalten der
Leidenschaft vielmehr als etwas Fremdes, als Verftlhrong und
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Dogmatik. 289
Besessenheit angesehen werden müssen und daher sehr natürlich
auf die Wirksamkeit eines demjGuten widerstrebenden dämonischen
Princips, eines Gottes in zweiter Linie zurückgeführt werden
können. Nur hieraus erklärt sich auch die unbedingte Superiorität^
welche der Rechtsgott immer diesem bösen Dämon gegenüber
erhält, der niemals in bloss numerischer Oleichwerthigkeit neben
dem guten auftritt, sondern genau entsprechend der Taxation
unserer leidenschaftlichen Interessen seine ethisch abgemessene
Stellung zu dem Rechtsgotte erhält. Aus diesem Grunde mnss
auch sowohl der Ursprung als die metaphysische Beschaffenheit
und die physische Machtgränze des bösen Dämon in der dua-
listischen Religion immer unbestimmt bleiben, was höchst merk-
würdig ist, sich aber aus unserer Gonstruction mit Nothwendig-
keit ergiebt.
Die Richtigkeit dieser speculativen Synthesis lässt sich
historisch confirmiren. Bei allen Völkern mit dualistischem Gottes-
bewusstsein findet sich nämlich immer die vorwiegende Verehrung
des guten Gottes, zu dessen Mitstreitern und gehorsamen Dienern
sich der Gläubige rechnet, während er die früher verehrten
Naturgötter nun als Diven in einem herabsetzenden Sinne an-
sieht, da er sein Ich von ihrer Verehrung zurückgezogen hat, ohne
ihre Macht und Wirklichkeit läugnen zu können. Die historischen
Nachweisungen findet man in vorzüglicher Klarheit bei Max Müller.
Da der durch das entstehende Rechtsbewusst-
sein geforderte Monotheismus sich nicht so leicht von ^^ '^«*"«
_ r>tt % TAI t , ^ /•• Monothelamna
dem Glauben an die früher verehrten Götter frei- bei den Juden.
machen kann, weshalb die meisten geschichtlichen
Völker mehr einen Monarchismus des Rechtsgottes, als einen
ächten Monotheismus haben, so bilden nur die Juden eine Aus-
nahme; denn wenn man auch archäologisch bei ihnen einen alten
Polytheismus nachweist und selbst ihre besten Propheten mit-
unter die Götter der fremden Völker oder die Sterne noch als
wirkliche Götter oder Dämonen von beschränkter Kraft gelten
lassen, so erfordert doch die wissenschaftliche Gerechtigkeit,
ihnen grundsätzlich den reinen, unverfälschten Monotheismus
zuzugestehen. Dies eigenthümliche Phänomen kann philosophisch
nicht erklärt werden, da der Ursprung des sittlichen Bewusst-
seins nicht sofort die Naturmächte der Leidenschaft in uns ver-
tilgt, und da sogar die Möglichkeit einer Projection des Rechtes
Tel Ohm all er, Bellglonspbiloeophle. 19 OOQIC
290 Religion der Sünde.
auf ein göttliches Wesen die Hinübernahme dieser Idee Gottes
aus der Furchtreligion, die also mit vorausgesetzt wird, erfordert
Also stehen wir vor einem historischen Räthsel, für welches die
blosse Speculation keinen Schlüssel hat.
Wenn man nun von orthodox - theologischer Seite uns den
Schlüssel in die Hand drückt, da ja Gott sich durch Mosen
offenbart habe, so können wir diese Erklärung wirklich rück-
haltlos annehmen, weil die Offenbarung, wie wir später sehen
werden, sich ja in der That durch die Geschichte vollzieht. Wir
müssen also die Erklärung in der Geschichte suchen. Wenn
wir nämlich den Fall setzen könnten, dass ein ganzes Volk seine
Religion nicht allmählich durch die bisher betrachteten psycho-
logischen Vorgänge erwtirbe und fortbildete, sondern wie ein
unbeschriebenes Blatt durch einen einzigen weisen, gereiften und
gerechten Mann die höhere Rechtsreligion aufnehmen dürfte,
dann möchten wir auch nicht anstehen, die Möglichkeit des
reinen Monotheismus bei einem Volke als denkbar einzuräumen.
Ob man aber so aussergewöhnliche und fast unglaubliche Be-
dingungen zugestehen könne, das muss eben die Geschichte
prüfen. Nun scheint es in der That wirklich geschehen zu sein^
dass sich unter Führung einer grossartigen Persönlichkeit eine
in miserablen socialen Verhältnissen fast verkommene Volksmenge
zur Auswanderung oder Flucht überreden liess. Durch lang-
jähriges Wandern und viele Kämpfe wurde sie, wie erzählt wird,
allmählich ihrem alten Bestände nach aufgerieben, und nur die
Jugend, die ja in der That immer ein unbeschriebenes Blatt ist,
blieb übrig, in welche der Gesetzgeber seine neue höhere Religion
einschreiben konnte, ohne dass die alten Gewöhnungen und der
alte Aberglaube mit seiner sonst unvertilgbaren Macht mit hin-
übergenommen wäre. Mit dieser grösstentheils jungen, in ein
neues Land und in neue Verhältnisse verpflanzten Generation
wurde nun ein neues Volk ansässig mit einer neuen eigenen
Religion, die daher mit der Religion keines anderen Volkes ver-
wandt sein konnte und keine Wurzeln in der polytheistischen
Naturreligion hatte und nicht wie bei den Germanen, Indem und
Griechen einen Mischmasch von moralischer Theologie und wüstem
Aberglauben bildete, sondern die ihrem Ursprünge und Wesen
nach den reinen Monotheismus des Rechtsbewusstseins enthielt
und deshalb auch als eine wahre Offenbarung Gottes gelten kann.
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
Dogmatik, 291
Da die sittlichen Gefühle und die Ideen des Rechts und des
Unrechts aber durch Projection keine Theologie bilden können, so
musste die moralische Religion nothwendig von der Furchtreligion
den Gott der Macht übernehmen und darum auch von ihrem
Gott des Gesetzes irdische Güter und Uebel als Lohn und Strafe
erwarten. Die dadurch entstandene Verunreinigung der reinen
und höheren Religion werden wir später untersuchen.
Ich will nur noch erwähnen, dass es trotz der wunderbaren
und einzigartigen Entstehung dieser moralischen Religion nicht
gut möglich war, sie rein zu bewahren; denn die mächtigen An-
triebe der Begierden mit ihrer Thorheit mussten in der Menge,
wie in vielen hervorragenden Einzelnen, immer wieder die Motive
der Furchtreligion in Umlauf bringen und daher vielfache An-
näherung an den Götzendienst der umwohnenden Völker hervor-
rufen. Es ist daher in der Ordnung, dass die Propheten uns
dies auch immerfort verkünden und dass sie mit der Stärkung
des Rechtsbewusstseins zugleich auch stets einen Kampf gegen
die Infection des Götzendienstes der Naturreligionen unternehmen
müssen.
Darum kann es als eine Niederlage der prophetischen Kraft
oder als ein Compromiss und eine Anpassung und Concession
betrachtet werden, wenn endlich der Dualismus zur öfFentlichcn
Anerkennung gelangte, indem man den bösen Dämon als ein
irgendwie mächtiges, natürlich unklar vorgestelltes göttliches
Wesen neben den wahren und einzigen Gott des Gesetzes stellte.
Der Grund dieser nothwendigen Niederlage ist aber nicht schwer
zu sehen. Da nämlich der moralische Gott mit dem Gott der
Macht verschmolzen war, so mussten alle geschichtlichen Ereig-
nisse und alle privaten glücklichen und unglücklichen Erlebnisse
als Lohn und Strafe für Sünde und Gerechtigkeit erklärt werden,
was jedoch zu beweisen oder einigermassen glaublich zu machen
in der That unmöglich ist, weil dabei der bloss perspectivische
Standpunkt zum objectiven aufgebauscht wird. Denn es ist eine
logisch unstatthafte Methode und eine naive und fast lächerliche
Arroganz der niedrigen Natur des Menschen dem höheren sitt-
lichen Geiste gegenüber, wenn die Gerechtigkeit eines Menschen
aus seinem materiellen Wohlstande, seinen Schafheerden und Häusern
erkannt wird und die Hiobsleiden aus seiner Sünde und Gott-
losigkeit folgen aollen. Eine solche Philosophie der Geschichte
uiymzeu uy x^j vyVjpt Iv^
292 Religion der Sünde.
ist oflfenbar von den alten Motiven der Furchtreligion eingegeben
und nicht von dem sittlichen Geiste. Um daher die nothwendig
entstehenden Widersprüche and Unerklärlichkeiten zu deuten,
kam man entweder von selbst, oder durch den Einfluss der
Perser zu der dualistischen Hypothese und verdarb damit die
Reinheit der moralischen Religion.
§ 4. Die Unveränderlichkeit Gottes.
Ich habe schon oben die nothwendige Unbestimmtheit der
Gottesvorstellung in der moralischen Religion abgeleitet. Während
die Furchtreligion den Gott unmittelbar an die in den Sinnen
und der Phantasie erscheinenden Naturgestalten anknüpft und
dadurch die reich ausgebeutete Veranlassung gewinnt, um ihren
Gott oder ihre Götter plastisch, malerisch und dichterisch dar-
zustellen: so kann die moralische Religion ihrem einzigen Gott
keine Gestalt geben, und er muss gegen die bildenden und dra-
matischen Künste in ein feindliches Verhältniss gestellt werden,
wie sich dies im Judenthum zeigt Mithin kann die Darstellungs-
weise Gottes höchstens in Verneinungen bestehen, indem alle
sinnliche Götzengestalt oder Sinnenform von ihm geläugnet und
er über alle diese Pracht, wie über etwas Untergeordnetes, das
nur sein Fussschemel oder bloss sein Thron sei, hoch erhoben
wird. Wo wir aber, sei es im Judenthum oder bei den Griechen
und andern Völkern, dennoch bildliche oder dichterische Dar-
stellungen des Rechtsgottes in männlicher oder weiblicher Gestalt
mit Modius und Wage oder mit Sccpter und Diskus u. dergl.
finden, da kann man gewiss sein, dass man keinen voUbürtigen
Abkömmling der zweiten Religion vor sich hat, sondern einen
Bastard, bei welchem der barbarische Ascendent der Furcht-
religion den Typus vererbt hat.
Daher sind selbst alle Zeichen einer Veränder-
dfr**gfwhitbu licl^keit Gottes als Bastardbildungen zu betrachten;
liehen Theologie dcuu der Gcsctzesgott kann nur das unveränderliche
FarThtwiigfon. sittUchc Bcwusstscin vertreten und daher weder
freundlich und gnädig, noch zornig und rachlustig
sein. Da wir aber nach der unaustilgbaren selbstsüchtigen Natur
in uns immer auch die Furchtreligion im Stillen behalten, so
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Dogmatik. 293
furchten wir sinnlichen Schmerz, Schaden, Krankheit, Nieder-
lagen und Tod und betrachten in solcher Gemtithslage den Rechts- '
gott mit den Attributen des Naturgottes als ztimend und rächend,
wie bei den umgekehrten Stimmungen der Hofihung als gnädig
und mild, weil er sinnliche Güter verleiht, uns aus Gefahren
rettet und als unser Stab und Schild, als unser Hüter und Hirt
uns leitet und bewahrt.
Wie alle Veränderungen des Rechtsgottes, der am Reinsten
und typisch in der Religion des Volkes Israel auftritt, undenkbar
sind, so ganz besonders die für uns so wichtige Menschwer-
dung. Denn die sittlichen Geftihle und die zugeordneten Rechts-
begriflFe haben gar kein wesentliches, d. h. in ihren constitutiven
Merkmalen begründetes Verhältniss der Identität oder Aehnlichkeit
mit der sinnlichen Gestalt eines Menschen. Mithin ist es un-
denkbar, dass der reine Rechtsgott als Kind geboren werden
könnte und dass er als Mann oder Weib, Jüngling oder Greis
in dieser oder jener Stadt etwas Einzelnes thun und erleiden
dürfte. Wo wir daher, wie bei den Aegyptem, den Indern, den
Germanen und im Christenthum den das Recht vertretenden Gott
als Menschen oder wenigstens in bestimmten Lebensschick-
salen dargestellt finden, da müssen wir ohne allen Zweifel eine
Erklärung daflir anderswo als in der moralischen Religion suchen.
Nun bietet sieh zur Erklärung der Schicksale von Indra, Osiris,
Baidur u. A. sehr leicht, wie man dies auch bisher schon allge-
mein erkannt hat, die Naturreligion an, da sie die Jahreszeiten,
welche flir den natürlichen Menschen die gefährlichsten und glück-
lichsten Ereignisse bilden, dichterisch in ein Drama verwandelt
hat, in welchem der Gott geboren wird, blüht, stirbt und wieder-
ersteht. Dies ist alles sehr leicht mit der Phantasie nach-
zuerzeugen. Dagegen kann die Lebensgeschichte Christi nur zum
Theil als Legende auf diese Vorbilder der Naturreligion zurück-
geführt werden, ihrer Hauptsache nach aber verlangt sie eine
über alle anderen Religionen hinausgehende und ihr allein an-
gehörige historische Erklärung, wovon wir später ausführlich zu
handeln haben.
Da nun das moralische Bewusstsein, welches in den edleren
Naturen entsteht, niemals das ganze Volk durchdringen und auch
in den Edelsten niemals die natürlichen Erregungen von Furcht
uiumzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
294 Religion der Sünde.
und Hoffiiung entwurzeln kann, so ist es auch unmöglich, dass
die moralische Religion jemals rein und unvermischt mit der
Furchtreligion auftrete. Mithin wird, wie schon wiederholentlich
hervorgehoben, Lohn und Strafe von Seiten Gottes in dieDog-
matik aufgenommen werden, und es kann der moralische Gott
auch, obgleich er der sinnlichen menschlichen Natur untheilhaftig
bleibt, dennoch in ein geschichtliches Verhältniss zum Einzel-
menschen und zu einem Volke treten. Wenn nämlich die ge-
schichtlichen glücklichen oder unglücklichen Ereignisse sich in
bestimmter Ordnung an die wirklichen EntSchliessungen und Be-
mühungen, an die tugendhaften oder verbrecherischen Handlungen
der Menschen anschliessen, so muss sich eine Art Philosophie
der Geschichte von selbst bilden, indem der Gott als unser Gott
oder als Nationalgott fiir das ihn verehrende Volk, in dessen
Bewusstsein er lebt, als gemeinsame Ursache der früheren und
gegenwärtigen Schicksale betrachtet wird und wir mithin die
Regeln und Motive seiner Entscheidungen durch das Rechts-
bewusstsein begründen können. So giebt ja auch die typische
Rechtsreligion der Israeliten in den geschichtlichen Büchern des
alten Testaments und in den Räsonnements der Propheten überall
dieselbe Philosophie der Geschichte, dass Gesetzestreue mit Sieg,
Wohlstand und nationaler Freiheit; Götzendienst aber und alle
Gesetzwidrigkeiten mit Besiegtwerden, Hunger, Elend und Exil
verknüpft sei. Und der Gott wird insofern geschichtlich, als
das Volk sich seiner eigenen Geschichte erinnert und sie sich
unter diesem theologischen Gesichtspunkte zurechtlegt. Mithin
ist er der Gott, der die Väter aus Egypten geführt, der die Ge-
setze durch Moses gegeben hat, er ist der Gott von Abraham
und Isaak und auch der Gott David's ; kurz soweit die Geschichts-
erinnernng reicht, soweit geht die Philosophie der Geschichte und
soweit gewissermassen die Geschichte Gottes.
Diese ganze geschichtliche Auffassung unseres Verhältnisses
zu Gott ist aber nur möglich durch die Verschmelzung der Re-
ligion der Furcht und Hoffnung mit der Rechtsreligion. Aus
dieser Verschmelzung allein kann auch der sogenannte Bund
erklärt werden, den der Rechtsgott mit seinem Volke in der
typischen Rechtsreligion abschliesst. Principiell und contractlich
wird dabei die Erfüllung des Rechtsgesetzes mit den Gaben der
Hoffnung, die Sünde umgekehrt mit dem schlimmen Kelchinhalte
J.quizeauy Google
Dogmatik. 295
der Furcht verknüpft; was so viel heisst, als dass der alte Furcht-
und Machtgott sich dem paoralischen Bewusstsein nntcrordnet,
ohne doch seine Macht und seinen Gultus zu verlieren.
Wenn nun, wie oben nachgewiesen, der Mono-
,. T .. 1.1. i.T» j-Tfci PriDcip für die
theismus die einzige logisch richtige Form der Rechts- Deduction der
religion ist so zwingt dieselbe Logik, auch die Un- ünveränienich-
-.7. i,.i ^ /., 1 keit Gottes.
Veränderlichkeit des Gottes zu fordern; denn
das moralische Bewusstsein ist schlechterdings unveränderlich.
Nun werden zwar die Skeptiker, die Empiriker und Positivisten
kommen und uns vorhalten, dass das moralische Bewusstsein
doch entschieden eine geschichtliche Entwickelung zeige und
dass mithin der projectivische Gott auch einem Fortschritt zu-
gänglich sein und sich civilisiren mtisse. Allein diese Positivisten
sind ihrer empirischen Herkunft entsprechend nicht stark im
Denken. Um sie aber auf ihrem eigenen Gebiete zu schlagen,
nehme ich nur die reinste und zum Typus am besten geeignete
jüdische Religion und frage, ob Jehovah sich im Laufe der Jahr-
tausende civilisirt hat, ob die Juden zu Christi Zeit und dann
wieder zu unserer Zeit ihren alten Bundesgott verläugnen oder
verläugnet haben, ob sie nicht immer dieselben religiösen Ur-
kunden brauchen und immer Mosen und die Propheten citiren,
um ihr religiöses Bedtirfiiiss zu befriedigen. Die anderen mora-
lischen Religionen eignen sich schlecht zum Beweise, weil sie so
ausserordentlich unrein sind und die Abscheidung der tiberwuchem-
den Elemente der Furchtreligion den zu führenden Beweis er-
sticken würde.
Da es hier aber nicht unsere Aufgabe ist, mehr oder weniger
gelungene historische Analysen und Descriptionen zu bieten, son-
dern die wissenschaftlichen Gesichtspunkte festzulegen, nach
denen alle historischen Auffassungen und Beurtheilungen normirt
werden müssen: so haben wir unsere Frage auch nur speculativ,
d. h. durch Nachweisung der einfachen und allgemeinen Be-
ziehungspunkte im menschlichen Geiste zu lösen ; denn ohne den
zugehörigen Geist entsteht keine Religion und ohne die jedesmal
zugehörigen Beziehungspunkte entstehen nicht die jedesmal zu-
geordneten bestimmten Formen der Religion.
Nun zeigt sich das moralische Bewusstsein in dem Gefllhl
der Sünde durch die Beziehung zwischen dem selbstsüchtigen
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296 Boligion der Sttnde.
Begebren und Handeln einerseits und dem zur alleinigen Leitung
berufenen vernünftigen Denken andererseits, wobei der Wider-
spruch und Zwist ein über die selbstsüchtigen Geflihle erhabenes,
einer höheren Ordnung angehörendes Gefühl des Missfallens aus-
löst. In diesen drei Beziehungspunkten besteht das moralische
Verhältniss, und dieses Verhältniss ist unabänderlich, es ist
allgemein und einzig, weil es die von jedem denkbaren
empirischen Inhalte unabhängige Beziehung zwischen den zeit-
losen, coDStitutiven Elementen des geistigen Lebens ausdrückt.
Wer nun, wie die Positivisten, die Veränderlichkeit der Mora-
lität der Völker betont und deswegen einen entsprechenden Fort-
schritt der Theologie fordert, der müsste auch fordern, dass wir
mit fortschreitender Bildung nicht mehr dieselben Farben-
empfindungen hätten und Rothes und Blaues nicht mehr als roth
und blau empfänden, da ja durch die wachsende Welterkenntniss
unsere Ansichten z. B. über Zinnober sich sehr geändert hätten
und wir jetzt die Bestandtheile desselben chemisch als Queck-
silber und Schwefel bestimmen könnten und daher doch sicherlich
nicht mehr die ungebildete Empfindung der rothen Farbe bei
dem Zinnober haben, sondern dabei vielmehr Silberglanz und
Gelbheit empfinden würden. Wie dies nun eine lächerliche For-
derung wäre, weil die Farbenempfindungen, obgleich wir sie ge-
schichtlich immer genauer unterscheiden und bezeichnen, dennoch
eine ganz bestimmte und unabänderliche allgemeine Qualität
unserer Sinnlichkeit bilden, die gleichgültig gegen alle zufalligen
Objecte, gegen deren Veränderungen und unsere Ansichten darüber
sind: so ist es auch verkehrt, bei derMoralität an den zufalligen
empirischen Inhalt des Bewusstseins zu denken, bei welchem
gerade einmal die moralische Qualität des Geistes zur Auslösung
kommt; denn nicht darin besteht die Moralität, ob Esau ein Linsen-
gericht dem Erstgeburtsprivileg vorzog, oder Jacob umgekehrt
dachte, und ob man am Sonntag nicht pflügen, oder ob man seine
Frau nicht für die Schwester ausgeben darf u. dergl., sondern
dies sind ganz zufallige und gleichgültige Vorstellungen; das
Wichtige und Entscheidende besteht aber darin, dass bei solchen
äusseren Veranlassungen die qualitative Beziehung der allgemeinen
Elemente unseres Geistes zu einem Zwiste und Widerspruche
führt, der das Gefühl der Sünde auslöst. Dies Gefühl und diese
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Dogmatik. 297
qualitative Beziehung ist überall gleich bei allen möglichen zu-
fälligen Veranlassungen und unterscheidet sich nur durch die
Stärke der Erregung, ebenso wie die optischen Qualitäten der
Empfindung immer die gleichen sind, wenn auch verschiedene
Objecte dabei vorgestellt und verschiedene Bezeichnungen der
Empfindungen eingeftlhrt werden. Darum entspricht dem Gefühl
der Sünde die Idee des Becbts und Gesetzes, und die Fähigkeit,
diese Beziehungspunkte des geistigen Lebens aufzufassen und
die entsprechenden Geflihle dabei zu haben, ist das Wesen der
Moralität. Diese ist mithin unabänderlich und hat die gleiche
Natur im Kinde und Greise, in der Frau und im Manne, im
Menschen des Alterthums und im Gebildeten des neunzehnten
Jahrhunderts. Die Positivisten denken an die einzelnen positiven
Gegenstände der Sitte und der Gesetze, die sich im Laufe der
Zeit verändein, und halten deswegen die Moralität für ein bloss
geschichtliches Phänomen, als wenn der Schmelzungspunkt der
Metalle sich darnach änderte, ob rohe Putzartikel der Wilden
oder feine Kunstwerke der Civilisation daraus fabricirt werden.
Sofern nun der projectivische Gott des Gesetzes nicht die
Projection dieses oder jenes bestimmten Vorstellungsinhalts über
Linsenbrei und gestohlene Esel und Ackerbau am Sonntag u. dgl.
ist, sondern die Projection unseres moralischen Bewusstseins,
welches sich bei solchen zufälligen Veranlassungen äussert, so
kann auch der heilige Gott nicht veränderlich und civilisirbar
sein, obwohl das vernünftige Denken der Menschen mit der Zeit
Fortschritte macht und nicht mehr inmier bei denselben Ver-
anlassungen, wie früher, den Conflict der Sünde vermitteln wird.
Darum ruft Gott seine Propheten und trägt ihnen, je nach den
historisch gegebenen Umständen, bald dies, bald jenes auf, bald
den Saul, bald den David zu salben, bald zu fluchen, bald zu
segnen; die Moralität und Gesetzestreue besteht aber nicht in
diesem Salben und Reden, sondern in dem richtigen Verhältniss
der geistigen Functionen, wonach ihr Begehren d^m Rufe der
Vernunft oder des aus ihnen sprechenden göttlichen Geistes ge-
horcht, so dass dieser Einklang als wohlgefällig, der Zwist als
unerträglich oder als Sünde empfunden wurde. Darum können
die Handlungen der Gläubigen sich vollkommen widersprechen,
wie wenn erst Saul, dann David gesalbt wird, und dennoch folgt
Digitized by
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Religion der Sünde.
beides aus dem religiösen Bewusstsein und drückt die unver-
änderlich gleiche Qualität des Gehorsams gegen Gott aus.
Da also der Gott der moralischen Religion nicht irgend
einen bestimmten Vorstellungsinhalt wirklicher Dinge, sondern
bloss das identische und formale Bewusstsein der unbedingten
Gültigkeit des moralischen Verhältnisses zwischen unseren
Geistesthätigkeiten ausdrückt, so gewährt dies Princip den zwin-
genden Beweis der Unveränderlichkeit des Gottes der Rechts-
religion.
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Drittes Capitel.
Der zugehörige Cnltus.
Unter Cultus verstanden wir den Verkehr des Menschen mit
Gott oder diejenigen Handlungen, die sich weder aus wissen-
schaftlichen und künstlerischen Interessen, noch aus den Auf-
gaben des praktischen, politischen und socialen Lebens und
dessen Bedürfnissen, sondern allein durch eine Beziehung der
Pers()nlichkeit auf ihre Gottesidee erklären lassen. Da nun die
Cultusgebräuchc der Furchtreligion sehr einfach und verständlich
aus der zugehörigen selbstsüchtigen Gesinnung folgten, so fragt
sich, wie auf der höheren sittlichen Stufe der Religion ein Verkehr
mit der Gottheit stattfinde.
§ l. Der speciüsche Gült.
Wollten wir, um den Cult des Gesetzesgottes zu bestimmen,
das inductive Verfahren einschlagen und uns durch Betrachtung
der Cultgebräuche bei den Germanen, Griechen, Juden, Persem,
Egyptern, Indern und einigen andern Völkern zu unterrichten
suchen, so würden wir die breite und gewöhnliche Heerstrasse
einschlagen, auf der aber bis jetzt Niemand die richtige Antwort
gefunden hat und finden konnte. Denn die wirklichen historischen
Keligionen bilden keine reinen Formen, sondern enthalten bloss
wie Erze das gesuchte Metall in sich, welches aber erst rein
ausgeschieden werden muss, ehe man seine specifischen Reactionen
erkennen kann. Wer deshalb inductiv verfahren wollte, müsste
erst die Methode angeben, wie er alles Nichtspecifische zu eli-
miniren vermöchte. Zu diesem Zwecke müsste er aber das
Specifische selber schon kennen und es also auf einem anderen
Erkenntnisswege in seinen Besitz gebracht haben. Woran soll
man den specifischen Cult als artbildende Beaction von den
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300 Beligion der Sünde.
Reactionen der beigemischten Elemente unterscheiden? So z. B.
finden wir Opfer bei den Juden, wie bei den Griechen, bei den
Hindu, wie bei den Baalsdienem und allen Naturvölkern. Nach
inductivem Verfahren müssten wir also in dem Opfer eine
generische und keine specifische Reaction der Religionen
erkennen, d. h. wir wären mit Blindheit geschlagen und ver-
ständen dadurch weder das Wesen des Opfers, noch die spe-
cifischen Unterschiede der Religionen. Darum speisen uns auch
die Lehrbücher mit solchen Trivialitäten ab, dass einige Völker
und Zeiten Menschenopfer darbrächten, andere Thiere, andere
Körner und Kuchen und dergleichen, wodurch man über alle mög-
lichen schönen Dinge aus der Culturgeschichte, aber nicht über
das Wesen der Religion unterrichtet wird. Also ist der induc-
tive Weg hier nicht der wissenschaftlichere, sondern, wie in der
Mathematik, völlig unstatthaft und erfolglos.
Mithin bleibt nur der deductive Weg der Speculation übrig,
der aber nicht darin besteht, dass man irgend welchen mehr
oder weniger geistvollen Einfall zu Markte trägt, sondern dass
man, wie in der Mathematik, die in der Gleichung gegebenen
Bestimmungen analysirt und ihre gesetzlichen Coordinationen zur
Auflösung des Unbekannten gebraucht. So haben wir hier von
dem gegebenen und bekannten Wesen der Religion auszugehen,
um demgemäss den Cult zu bestimmen.
Nun wäre es nie zu einer Rechtsreligion gekommen, wenn die
Menschen immer gerecht und in vollem Einklänge ihrer leiden-
schaftlichen Natur mit ihrem moralischen GefiLhle gelebt hätten.
Erst die Sünde, d. h. der Zwiespalt, weckte das Bewusstsein des
Rechts. Da aber unser Ich sich mit der körperlichen mensch-
lichen Erscheinung, welche in die Sinne fällt und uns immer
begleitet, ursprünglich eins weiss und sich deshalb als Thäter
der leidenschaftlichen und sündlichen Handlungen betrachtet,
dagegen sich nicht bewusst ist, irgendwie die moralischen Urtheile
und die zugehörigen Gefühle des sogenannten Gewissens, dessen
Natur verborgen und räthselhafl; bleibt, hervorgebracht zu haben,
vorzüglich da dies Gewissen sich auch nur bei besonderen Ge-
legenheiten kräftig kundgiebt und sonst schweigt, so ist es ganz
natürlich, dass sich das Ich mit der sündigen Seite identificirt
und die moralische Seite des Rechtes als etwas Neues und
Fremdes, dessen Ursprung es nicht kennt, dessen Einfiuss es
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Cultus. 301
sieb aber nicht entziehen kann, auf eine andere Ursache, und
zwar notbwendig auf eine höhere, zarttckflihrt.
Da nun diese höhere fremde Ursache projicirt wurde und
also den Charakter eines äusseren Wesens erhielt, ebenso wie
alle Menschen ihre Sinnesanschauungen projiciren und deshalb
eine äussere Welt mit vielen Dingen gegenständlich vor sich zu
haben glauben, während diese Bilder doch nur in ihrem eigenen
Bewusstsein existiren: so wurde notbwendig dies neue Subject
des Rechtes personificirt und mithin nach der Analogie des schon
bekannten unsichtbaren Naturgottes gedacht.
Wie musste nun der Cultus, d. h. der Verkehr mit diesem
Gotte werden? Um das Specifische zu finden, müssen wir alle
Vorstellungen, Willensbestimmungen und Handlungen, die dem
Naturgotte zugeordnet sind, weglassen und bloss die Data in's
Auge fassen, welche der neuen Kechtstheologie zugehören. Diese
Data beziehen sich aber in erster Linie auf das negative Ver-
hältniss, die Sünde, zweitens erst auf das positive.
Wir gehen davon aus, dass das Oefbhl der Sünde i* nio uneinig-
wie die moralische Theologie nicht in jedem beliebi- *®"'
gen Menschen entspringen konnte, sondern als eine höhere
Schöpfung, wie bei den höheren Leistungen der Künste und
der Wissenschaften, eine höhere Begabung voraussetzt, durch
welche sich alle Thätigkeiten zu einer gewissen Stärke ent-
wickeln und eher bemerklich werden. Nun gehört in einem
jeden Menschen, wie wir wissen, das Geftlhl des Rechtes mit
dem übrigen Begeliren und Fühlen zusammen; es sind in unserer
Natur die beiden Factoren, das leidenschaftliche natürliche Be-
gehren einerseits und das sittliche Gefhhl andererseits, zu einer
Coordination bestimmt, auf eine natürliche Ordnung der Abhängig-
keit des ersteren von dem zweiten Factor berechnet, wodurch
das menschliche Wesen Einigkeit in sich trotz der Selbstständig-
keit der Factoren besitzen würde. Wird nun diese Einigkeit
gestört, so kann dies nur durch eine Aeusserung des natürlichen
Begehrens geschehen, welches sich f)ir sich vollzieht, ohne die
Ordnung und Regulirung durch den eingeborenen und zum Mit-
wirken bestimmten zweiten Factor abzuwarten. Da dieser nun,
wie nachgewiesen, der höhere ist, so ist also die Störung der
Einigkeit notbwendig eine Unbotmässigkeit oder Empörung
des zum Gehorchen bestinmiten Elementes gegen das von Natur
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302 Beligion der Sünde.
zur Herrschaft befähigte und befehlende Element. Das herr-
schaftliche Element wird aber seinem Wesen nach auch das
stärkere, und es ist, wo es auftritt, tiberhaupt unmöglich,
dass ihm nicht gehorcht werde. Mithin kann die Störung
der Einigkeit nur gedacht werden, wenn das moralische Gefühl
zeitweise im Bewusstsein nicht auftritt. Da nun jeder weiss,
dass im Bewusstsein immer nur eine bestimmte Menge von
Vorstellungen und Gefühlen auf einmal Yorkommen können, so
dass jedes weiter hinzukommende Element nothwendig das Aus-
treten eines früher vorhandenen mit sich führt: so folgt, dass
zum Zustandekommen der Sünde nothwendig eine einseitige
UeberfüUung des Bewusstseins mit den Vorstellungen der sinn-
lichen Welt und den dazu gehörenden angenehmen und unange-
nehmen Gefühlen erforderlich ist. So kann z. B. ein im Ganzen
sonst dem moralischen Geftlhl zugänglicher Mensch durch ein-
seitigen Kitzel seiner Triebe in den Vorstellungen von dem Wein
oder den Reizen des Weibes oder dem Vortheil des Besitzes
oder dem Inhalt eines beleidigenden Wortes u. s. w. nebst den
zugehörigen angenehm berauschenden Gefühlen der Völlerei, der
Wollust, der Habsucht, oder den unangenehm zornigen Erregungen
u. dergl. sein Bewusstsein dermassen füllen, dass für eine ge-
gebene Zeitdauer die moralischen Gefühle mit den ihnen zugeord-
neten vernünftigen Gedankeij der sittlichen Ordnung nicht in's
Bewusstsein dringen und deshalb vorübergehend ihre natürliche
Uebermacht und Herrschaft nicht ausüben können.
Sobald aber die Congestion des sinnlichen Vorstellungslebens
und die daraus resultirende Plethora vorübergegangen ist, so
müssen die moralischen Elemente wieder in's Bewusstsein treten,
und nun erst entsteht die Uneinigkeit des Menschen. Der wieder-
gekehrte vernünftige Geist besieht sich, was inzwischen ohne
sein Gebot angerichtet ist. Da tauchen nun die Erinnerungen
auf: man hört Wittwen und Waisen schreien, die beleidigt und
benachtheiligt sind; es schreien die geschändeten Jungfrauen,
die beraubten Nachbaren oder Fremden; es schreien die brutal
behandelten Genossen, die im Zorn Verhauenen und Verstümmel-
ten; und es steigen auf die Bilder der Wollust und Völlerei nach
ihrer schmutzigen und ekelhaften Seite. Der Geist aber erhört
all dies Geschrei und ersieht all diese Bilder des Bewusstseins,
und es ist vor ihm keine Decke und Vorhang, kein Verbergen
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Coltus. 303
und Entfliehen möglich. Er ist allgegenwärtig; denn er ist das
Bewusstsein und die Beurtheilung alles Bewussten, so dass der
Sünder weder an das Ende der Erde entfliehen, noch sich in
die Tiefen der Hölle betten könnte, ohne sein Bewusstsein mit
sich zu nehmen, welches sofort auch da ist und ihn richtet.
In diesem Zustande der Uneinigkeit der Seele mit sich
selbst muss sich nun nothwendig das Gefühl oder der Wille in
zwei Akten entfalten.
Zuerst muss die Uneinigkeit eines zur Einigkeit organisirten
Wesens das Gefühl dieser inneren Unordnung hervorrufen, d. h.
einen moralischen Schmerz von verschiedenen Graden, jenachdem
die moralischen Geilihle vorher überhaupt stärker oder schwächer
entwickelt waren und je nach der Grösse des plethorischen Zu-
standes, in welchem die Leidenschaft zeitweilig mehr oder weni-
ger die vernünftige objective Auffassung und die zugehörigen mora-
lischen Gefühle aus dem Bewusstsein verdrängt hatte. Das Ge-
fühl der Sünde wird in strenger Coordination den quantitativen
und qualitativen Bedingungen dieser Zustände entsprechen und
sich daher in allen Graden von Null bis Unendlich entladen
können. Der Nullpunkt tritt ein, wenn die Uneinigkeit über-
haupt unmerklich war und keine mechanische Verdrängung
der moralischen Mächte stattfand. Der unendliche Schmerz
über die Sünde beruht auf einer zeitweiligen Alleinherrschaft der
moralischen Vorstellungen im Bewusstsein, wobei die in unserer
leidenschaftlichen Natur begründete Lust an dem eigensüchtigen
Thun ganz zurückgetreten ist, wie ja z. B. die Erschöpfting und
Traurigkeit nach den Akten der Leidenschaft den ganzen Inhalt
solcher Begehrungen zeitweilig als nichtig und völlig werthlos
erscheinen lässt, während die Ziele der Vernunft die unbedingte
Anerkennung des Gefühls finden, und daher die lustlose Erinne-
rung an das Geschehene nur eine durch nichts eingeschränkte,
also unendliche Missbilligung, und eine durch keine Regung der
Begierde eingeschränkte, also unendliche schmerzhafte Entladung
des GeftLhls herbeifuhrt. Die zwischen diesen Gränzen liegenden
Grade des Geftlhls der Sünde hängen theils von der qualitativen
Feinheit der moralischen Ausbildung, theils von der mehr oder
weniger grossen Gewalt, oder dem mehr oder weniger grossen
Umfang der zeitweiligen Verdrängung des moralischen Geistes
ab, der dann allmählich oder stossweise in's Bewusstsein zurück-
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304 Eeligion der Sünde.
kehrt und demgemäss verschiedene Arten von SündegeiUhl her-
vorbringt. Jede Meinthat, oder jede bloss angeziemende Hand-
lung, jedes unrechte Wort, ja jeder üble Gedanke wird dement-
sprechend akut in raschen stechenden Schmerzen, oder chronisch
in allmählich aufsteigender Missbilligung oder in irgend sonsti-
gen verschiedenen Arten und Weisen verworfen. Der sich in
diesem sogenannten Gefühl der Sünde kundgebende Wille bringt
aber sofort neue Goordinationen mit sich, indem das Erkenntniss-
und Bewegungsvermögen sich in zugehöriger Ordnung entwickelt
und daher zunächst das Geschehene nach Möglichkeit wieder gut
zu machen, d. h. es nach den Erfordernissen des Gesetzes durch
seine That so umzugestalten sucht, dass die Veranlassung des
moralischen Missfallens thunlichst aufhöre. Die Veränderung des
WoUens, indem nach dem Uebergewicht der blinden Triebe und
ihrer Lust nun das moralische Gefühl wieder die Herrschaft
übernimmt, verlangt daher zunächst das Zugeständniss der
Schuld und demgemäss den Versuch, die Beschädigten, Ge-
kränkten, Beraubten u. s. w. zu versöhnen, das Schreien der
Uebelthat zu beruhigen, indem der Schuldige sich und seine
Mittel hergiebt, um den angerichteten Schaden und den Schmerz
oder die Erbitterung in dem Gemüth der Verstörten zu tilgen
und auszulöschen, damit die schmerzliche Erinnerung nicht durch
das Bild der bleibenden Wirklichkeit immer wieder frisch werde,
sondern durch Versöhnung der Wirklichkeit sich lege und an Kraft
verliere. In diesen zwei Beziehungen möchte sich also das soge-
nannte GeftLhl der Reue festlegen lassen, in dem Schmerz einerseits
und dem Bekenntniss und der Opferwilligkeit andererseits. Beide
zusammengenommen bedeuten die entstandene Willensänderung.
Der religiöse Ausdruck. Wenn wir nun diese morali-
schen Zustände auf den Ausdruck der projecti vischen Theologie
bringen, so ergiebt sich dadurch das specifische cultische Ele-
ment dieser Rechtsreligion. Das Ich muss sich nämlich noth-
wendig mit dem niedrigeren Elemente der Persönlichkeit iden-
tificiren, weil ich Unrecht that, und doch das höhere moralische
Geftlhl kein Unrecht hervorbringen kann. Darum wird, wie
schon gezeigt, das moralische Gefühl vom Ich getrennt, per-
sonificirt und projicirt, und ist deshalb die höhere über dem Ich
herrschende und es richtende Gottheit Mithin steht nun Per-
son der Person gegenüber. Das Ich hat jetzt das Missfallen
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Cultus. 305
Gottes erregt und ist betrübt durch die Entfremdung und Ent-
fernung des Herrn, der sich vor ihm zurückzieht Denn die Ge-
setzwidrigkeiten sind ja von dem Verschwinden oder dem Ver-
schattetwerden der moralischen Geistesmächte begleitet, so dass
sich also Gott von dem Sünder abwendet, ihn verabscheut.
Das Gefühl der Sünde, der Schmerz über diese Uneinigkeit der
Seele könnte aber gar nicht vorhanden sein, wenn nicht das
moralische Bewusstsein doch schon Macht gewonnen hätte. Also
muss Sehnsucht nach dem Gotte, nach seiner Nähe, seinem Frie-
den empfunden werden. Mithin demüthigt sich der Sünder vor
ihm. Er bekennt ihm seine Schuld. Er schreit nach ihm, wie
der Hirsch nach frischem Wasser; es brennt ihm seine Sunde,
wie glühende Kohlen, auf dem Haupte. Mithin ist er nun be-
reit, alles zu thun oder zu lassen, was erforderlich ist, um den
Gott, dessen Willen tibertreten ist, wieder zu versöhnen, ihn
wieder bei sich wohnen zu haben und seinen Frieden zu ge-
messen.
Da nun diese moralischen Zustände nicht anderswo als bloss
im Innern der Persönlichkeit vorkonunen, so besteht auch der
specifische Cultus nach dieser Seite bloss innerlich im geistigen
Leben als eine Zerknirschung des Herzens (contritio cordis),
welche eine Reaction der beiden anderen Vermögen des Geistes
als zugehörig nach sich zieht, nämlich erstens eine energischere
Beschäftigung mit der Erkenntniss Gottes, d. h. seines Willens
oder seines Gesetzes, und zweitens eine energischere Entfaltung
dieses Gesetzes durch die Moralität der Handlungen. Wozu frei-
lich noch hinzukommt, dass die schlimmen Folgen der Unge-
rechtigkeit nach Vermögen aufgehoben werden müssen durch
Versöhnung derer, die durch unser Unrecht gelitten haben, also
durch möglichstes Wiederaufrollen der Sünde. Gott gegenüber
können aber in dieser Beligion keine Opfer und dergleichen
dargebracht werden, da er als Rechtsgott nicht der Lämmer und
der Böcke Blut, sondern nur ein reuiges und reines Herz ver-
langen kann und mit nichts Anderem zufrieden ist, als mit einem
Herzen, das Gott liebt über Alles und seine Gebote hält. Damit
kommen wir auf das positive Verhältniss.
Wenn nämlich die Uneinigkeit des Menschen
durch die Sünde erstens Schmerz und das Geflihl
der Gottverlassenheit und Gottentfremdung und zweitens Sehn-
!uy Google
Teicbmüller, Beligionaphilosophle. 20
uiyiiizeu L
306 Religion der Sünde.
sucht nach der Anwesenheit Gottes hervorbringt: so mnss die
Einigkeit die entgegengesetzten Gemüthszustände in sich schliessen.
Das moralische Gefühl beherrscht und beseelt das Thun des
Menschen; es ist kein Widerspruch und kein Widerstreben in
seinem Wollen. Folglich muss dieser Einklang religiös ausge-
drückt und Yorgestellt erstens als von Gott konmiende Freude
empfunden werden, als Frieden mit Gott und zweitens als Ge-
fühl des Wohnens Gottes bei uns!
Für diese Geflihle ist aber keine andere cultische Handlung
denkbar, als der künstlerische Ausdruck in Lobpreisungen,
die dichterisch und musikalisch unsere Dankbarkeit für Ueber-
windung der Sünde, für die W^iederkehr des Kechts und für den
Frieden in der Nähe Gottes ausführen. Auch durch religiösen
Tanz kann, wie David vor der Bundeslade einhertanzte, die reli-
giöse Freude und das Gefühl der Versöhnung und Vergebung
ausgedrückt werden.
Um aber das Element der moralischen Religion
Der apeciflBche . -i..!..
ünterecbied der Tcm hcrauszuscheiden, darf man zweierlei nicht aus
Rechtareiigion (j^jj Augcn Verlieren. Erstens bleibt der Gott für
in Beziehung tt x ii • t^
Ru den höheren uuscrc Vorstcllung immer ausser uns. Er mag
Boiigiona- ][jgj ^jjg wohueii, wir mögen zu seinem Heiligthum
formen. , ... -wt tt
treten, er mag gewissermassen bei seinem Volke
und in unserem ganzen Lande seinen Sitz aufschlagen: immer
ist und bleibt er ausserhalb des Menschen selbst; denn es ist
wesentlich eine projectivische Religion, und die Anwesenheit oder
die Nähe Gottes muss deshalb immer dunkel und unbe-
stimmt bleiben, da man nicht ihn, sondern nur seine Ge-
setze erkennt.
Zweitens kann die positive Seite immer nur so empfunden
werden, wie die wiedergewonnene Gesundheit nach der unmittel-
bar vorhergegangenen Krankheit und nur in Erinnerung und in
Beziehung auf die Krankheit, da in dieser Religion der Ursprung
der frommen Erhebung in dem Gefühl der Sünde liegt. Es kann
diese Religion also nicht etwa ausgehen von der frohen Bot-
schaft des Königreiches Gottes, sondern dieses darf nur als eine
Hofluung und Verheissung erscheinen. Denn der Mensch stellt
sich in dieser Religion, wie oben gezeigt, nothwendig auf die
niedere Seite seines Wesens; das Ich vertritt die Sünde; das
Sinnen des Herzens ist böse von Jugend auf, und das Bewiisst-
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Culfcüs. 307
sein des Rechts wird projicirt als Gott des Gesetzes, dessen An-
wesenheit deshalb nie sicher und vollkommen sein kann, nie in
einem wirklichen Menschen oder Volke erfüllt nnd wesenhaft
wird, sondern immer nur als Trost zeitweiliger Nähe nach dem
Schmerz der Sünde und als Bild der Sehnsucht wegen seiner
Feme in's Bewusstsein kommt. Sobald sich der Mensch auf die
positive Seite stellte und das Ich sich mit dem Rechtsbewusst-
sein identificirte, so wäre das Motiv der Religion verloren und
der Gott sofort verschwunden, wie wir diesem Ergebniss in den
pantheistischen Religionen begegnen werden.
§ 2. Der Priester.
Während nun in der Furchtreligion der Priester entweder
selbst ein dämonisches Wesen oder ein Mittler und Vermittler
zwischen dem furchterföUten Menschen und der zürnenden Gott-
heit ist: so kann in der Religion des Rechts der Priester weder
das Eine, noch das Andere sein. Denn erstens ist er nur ein
sündiger Mensch, wie es Alle sind, der in keiner Weise auf Hei-
ligkeit, Sündlosigkeit und Gerechtigkeit Anspruch erheben dürfte,
weil sonst für ihn der Gott nicht mehr vorhanden wäre.
Ein Vermittler zwischen Gott und Menschen kann er auch
nicht sein, da sich wenigstens nach der Seite Gottes hin nichts
vermitteln lässt; denn der Gott des Rechts ist schlechthin unver-
änderlich. Das Gesetz kennt kein Erbarmen, es hat keine Reue
und lässt keine Stellvertretung zu.
Also kann der Priester nur mit dem Gläubigen, dem Ein-
zelnen oder dem Volke, zu thun haben und zwar nur sofern sich
diese als Sünder fahlen. Nur als solche sind sie auch Gläu-
bige zu nennen.
Der Priester hat nun dem gläubigen Volke gegenüber zwei
Aufgaben zu erfüllen, die aus dem specifischen Wesen der Re-
ligion jfliessen. Die erste Aufgabe ist die Busspredigt. Denn
da die Religion auf dem Erwachen des sittlichen Bewusstseins
bei vorherrschenden selbstsüchtigen Lebensmächten beruht, so
muss der Prediger den Unglauben strafen, d. h. überhaupt erst
das sittliche Bewusstsein erwecken und, wo es schon vorhanden
ist, schärfen und klarer und bestimmter machen, indem er die
Sünden als Sünden zur Erkenntniss imd zum Gefllhl bringt. Er
u,yaOe*aüy Google
308 Religion der Sünde.
muss Schmerz und Reue und Scham hervorbringen. Zu diesem
Zweck muss er nicht nur das Gesetz vor ihnen aufstellen, die
Gebote aufzählen und erläutern und ihnen dadurch kund thun,
was Gott will, sondern er muss auch ihre Handlungen ihnen vor-
malen und vorrechnen, allen Mord und Diebstahl und Raub und
Ehebruch u. s. w., um ihnen das Gefühl der Sünde lebendig zu
machen und sie zu peinigen, zu strafen und zu beleidigen, damit
sie sich unwürdig, verworfen und elend fühlen, wie in tiefer
Nacht, um dem Gefühl ihrer Nichtigkeit gemäss sich in Sack und
Asche zu hüllen und sich völlig zu demttthigen.
Auf die Posaune der Busspredigt folgt dann die Harfe
der Verheissung. Denn das kräftig erwachte Rechtsbewusst-
sein könnte ja zur Macht kommen und so würde dann ein schönes
und friedliches Reich der Gerechtigkeit entstehen. Allein dieses
Reich ist eben, so lange die Rechtsreligion gilt, immer noch nicht
da. Mithin kann dies Reich des Friedens, des Segens und der
Gottesnähe nur verheissen werden und zwar auch immer nur
hypothetisch. Unter der Bedingung nämlich, dass die Menschen
ihre gottlosen Werke und Gräuel abthun, sich gläubig dem Gesetze
und Willen Gottes hingeben und ihm in ihrem ganzen Wandel
gehorsam und treu sind, wird die herrliche Heilszeit eintreffen,
dies Ziel der Sehnsucht, dies Wohnen Gottes auf Erden, das
Reich des Herrn. Der Priester hat nun diese Verheissung zu
verkünden, die Herzen dadurch wieder zu ermuthigen, sie durch
Trost aufzurichten und zu stärken zum Kampf und sie zu er-
quicken mit der Hofihung auf künftigen Sieg. Zu diesem Zwecke
wird er ihnen die Herrlichkeit dieses Reiches ausmalen und ihre
Augen entflammen lassen beim Anblick des fernen gelobten Lan-
des; er wird es schildern können, wie es die Sehnsucht sieht,
nicht aber wie ein Bürger und Bote aus diesem Reiche der Hoff-
nung und Vollendung.
Mandat. Es fragt sich nun, wer dem Priester den Auftrag
giebt, ihn beruft und bevollmächtigt zu seinem eigenthttmlichen
Werke. Dass der Priester überhaupt immer nur die Eigen-
schaften in höherem Grade besitzt, welche sonst dem Gläubigen
in jeder Religion zukommen, das haben wir schon oben gesehen.
Es folgt also, dass der Priester der Rechtsreligion ein kräf-
tigeres Rechtsbewusstsein besitzt, dass er demgemäss die Sünde
tiefer empfindet und mithin den Willen und die Gebote Gottes
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CultDs. 309
schärfer erkennt. Um aber sowohl die Gesetze als die Sünde
zu erkennen, mass er sich selbst und also den Menschen über-
haupt nach seinem Seelenleben, nach seinen Trieben und Leiden-
schaften, seinem Dichten und Trachten verstehen und mithin
auch, da der Mensch nur in der Gesellschaft sich entwickelt,
das ganze Leben des Volkes, die Beschäftigung und besonders
die Regierung des Volkes und die äusseren geschichtlichen Ver-
hältnisse der Völker und die Wandlungen des Lebens nach der
Beziehung zu den handelnden Charakteren durchdringen, um alles
dies immer auf die ethischen Gesichtspunkte, auf Recht und Ge-
horsam zurückzuführen.
Die geistigen Vermögen stehen aber in Coordination und so
entspricht das Gefühl einerseits der Erkenntniss, wie es anderer-
seits zu Bewegungen und daher zunächst zur Sprache überführt.
Da nun das Rechtsbewusstsein nicht ein dumpfes Gefühl bleibt,
sondern auf die deutlichen Bilder des anschaulichen Lebens be-
zogen eine deutliche Erkenntniss der Zwecke und der Ordnung
der Gesellschaft herbeiftihrt, und da diese Erkenntniss uns durch
die Sprache vermittelt wird, die wir kaum von dem Inhalte der
Erkenntniss abzusondern vermögen: so ist es natürlich, dass
die Bewegung zunächst in Reden sich äussert und dass den
höher begabten Gläubigen zuweilen beim Anblick der Verworren-
heiten des Lebens und der schweren Lagen des Völkerlebens
eine tiefere Erregung beföUt und das Wort Gottes zu ihm
kommt und ihn zum Verkündiger des göttlichen Willens beruft.
Denn diese Erkenntnisse, welche er in heftigen und mit tiefem
Geflihl und lebendiger Phantasie ausgestatteten Reden dem Volke
übermittelt, stammen ja nicht von ihm selbst, von dem armen
Menschlein, sondern sie kommen aus der höheren sittlichen Natur,
die in dieser Religion in ein göttliches Wesen projicirt wird.
Also kommt das Wort von Gott unmittelbar, und der Mensch
fllhlt sich benifen, das Wort zu verkündigen und das Volk zu
strafen oder es zu trösten. Mithin ist die Inspiration einer-
seits und die göttliche Berufung andererseits fUr den Priester
die nothwendige Bedingung ftlr das Geflihl der Vollmacht, mit
welcher er auftritt.
Darin liegt nun zugleich auch die Erklärung ftlr die Aner-
kennung, welche er im Volke der Gläubigen findet. Denn ein
äusserlich beglaubigtes Mandat kann er ja nicht vorweisen, und
uiyiiizeu uy V^nOOy IC
310 Religion der Sünde.
Niemand ist gebunden, ihm zu glauben und zu folgen. Seine
Anerkennung als Prophet ist aber eben so unmittelbar von
Gott herbeigeführt, wie sein Beruf; denn da er und sofern er
das sittliche Bewusstsein in den Gläubigen kräftig aufrührt durch
anschauliche und mit packenden Farben angestrichene Schilde-
rung der Sünden und durch einleuchtende Erklärung dessen, was
der Ordnung Gottes gemäss geschehen sollte, so musste ja der
Gläubige von der Macht dieses Kechtsbewusstseins ergriffen und
also von Gott selbst zur Anerkennung seines Propheten, der
ihnen das Wort Gottes brachte, getrieben werden. Es giebt also
kein officielles Mandat für den Priester der Bechtsreligion und
keine bürgerliche Form seiner Herrschaft und Autorität, sondern
Gott befiehlt unmittelbar im Herzen dem Einen zu predigen und
dem Andern zu glauben und zu gehorchen.
Da nun aber doch in der That dieses Wort Gottes in der
Seele des Priesters wohnt und nach Sinn und Macht der Ver-
nunftbegabung des Priesters entspricht, so ist klar, dass alle
Gläubigen mehr oder weniger einer priesterlichen Thätigkeit
fähig sind, dass das ganze Volk ein priesterliches ist und
dass daher in die göttliche Offenbarung sich auch viel mensch-
licher Irrthum, mangelhafte Auffassung der wirklichen Verhält-
nisse, dürftige und unrichtige Deutung der göttlichen Gebote und
wechselnde Ansichten einmischen können. Daher ist es ganz
in der Ordnung, dass es kein Prophet zu einem allein beachteten
Ansehen in diesem Volke der Gläubigen bringen kann, theils
weil Viele die Ohren des Geistes verschlossen haben, theils weil
es eine Menge anderer Propheten geben wird, die andere An-
sichten und Beurtheilungen der gegebenen Zustände des Volkes
haben und mehr oder ebensoviel oder etwas weniger Anklang
finden. Mithin wird Streit unter den Verkündern des göttlichen
Willens entstehen, und es werden sich die Einen die wahren
Propheten nennen, während sie die Andern als die falschen
Propheten und Träumer und Lügenredner bezeichnen müssen, die
nicht Gottes Wort empfangen haben, sondern die aus ihren eigenen
von der Sünde bethörten Gedanken reden.
Wenn wir die Priester dieser Bechtsreligion mit denen der
Furchtreligion vergleichen, so zeigt sich ein gewaltiger Unter-
schied. Die Zauberer und Gaukler, die Begenmacher, Ein-
geweideschauer, Vogelflugschauer und andere Seher konnten nach
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Cultus. 311
der Natur der Sache nicht immer, ja häufig durchaus nicht die
Wahrheit erkennen und verkünden und waren deshalb zu allerlei
Betrug gezwungen, um ihre Macht zu erhalten. Die Priester der
Eeligion der Sünde aber können allemal die Wahrheit sagen,
und was sie als Gottes Wort an sie verkünden, das wird noch
heut zu Tage als recht und wahr und als göttliches Gebot an-
erkannt, weil die Offenbarung des Gewissens, das Gefühl der
Sünde und der Pflicht eine wahre und wirkliche Offenbarung
Gottes ist. Während die Zeit fortgeschrittener Bildung es dahin
brachte, dass die Vogelschauer sich einander spitzbübisch an-
lachten, da Jeder um die Betrügereien des Andern Bescheid
wusste: so lassen sich umgekehrt die Propheten von ihren Vor-
gängern erziehen und belehren, halten sie heilig und bezeugen
immer trotz der veränderten Zeitverhältnisse ein und dasselbe
Wort Gottes, das Abthun der Sünde und die Verheissung des
künftigen Reiches und lehren die Geschichte im Lichte dieses
Wortes zu betrachten. Ein solcher Stand hat deshalb unvermeid-
lich eine grosse Ehrwiirdigkeit, und obgleich die ßechtsreligion
bei keinem Volke in ganz reiner Gestalt aufgetreten ist, so haben
dennoch die Propheten bei allen den Völkern, in welchen neben
der Furchtreligion auch Elemente der Bechtsreligion eingemischt
waren, viele Sprüche und Reden hinterlassen, die noch heute
bewundert werden und die Gemüther der Hörenden demüthigen
und erheben. Diese Beligion ist deshalb eine wahre Religion
zu nennen, weil sie auf zeitloser Grundlage ruht und von einem
ewigen Gesetze, das sich im Menschen offenbart, unverwerfliches
Zeugniss ablegt. Wenn sich der Gott des Gesetzes auch pro-
jectivisch im Bewusstsein bildete, so steckt dahinter doch wirklich
der lebendige Gott, dessen Wesen sich in allerlei Vorstellungs-
weise und Auffassungsart offenbart, und man irrt sehr, wenn
man um der schwachen Ausdrucksweise und Interpretation des
Boten willen die Botschaft des Königs der Welt nicht vernehmen
und verehren will.
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Viertes Capitel.
Die concrete anreihe Rechtsreligion.
Wir haben bisher ans wissenschaftlichem Interesse, nm das
Elementare für die Synthesis zu gewinnen, die Rechtsreligion in
ihrer Reinheit betrachtet. Da aber das Rechtsbewusstsein nur
entstehen kann, nachdem in einem Volke sich schon vorher die
Furchtreligion entwickelt hat, so ist es ganz natürlich und un-
vermeidlich, dass sich das neue sittliche Element mit der vor-
gefundenen Grundlage der Selbstsucht und der zugehörigen Ethik,
Dogmatik und Cultweise zurechtfindet und erzartig vermischt,,
wie dies denn auch alle in der Menschheit aufgetretenen Rechts-
religionen beweisen. Es ist deshalb hier noch unsere Aufgabe,
in der Kürze die unreinen Vorstellungen, Gefühle und Handlungen
in dieser vermischten Religion zu charakterisiren, die der reinen
Rechtsreligion historisch vorangeht und allein überhaupt in den
Völkern wirklich vorhanden war, während die reine Rechtsreligion
nur eine wissenschaftlich construirte Religionsform ist und sich
daher als sogenannte Vemunftreligion nur in einzelnen Individuen
vorfinden kann.
§ 1. Die zugehörige Ethik und Dogmatik.
Die Methode, nach der wir die Ethik dieser unreinen Religion
zu erforschen haben, ist sehr einfach, denn wie sollten wir anders
verfahren, als mit speculativer Psychologie. , Wir haben eben
zwei Systeme von Coordinationen, das ethische und das selbst-
süchtig perspectivische. Indem wir bei beiden die homologen
Glieder zusammenlegen, ergiebt sich ganz natürlich die Misch-
religion.
Die homologen ^^^ Schmcrz habcu wir auszugehen. Dieser,
Glieder und ihre auf die Vorstelluug dcs Zukünftigen übertragen, ist
verqx^ickung. ^j^ Furcht. Nuu ist das homologe Glied in der
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Die unreine Hecbtsreligion. 313
ethigehen Religion das schmerzliche Gefühl der Sünde. Wenn
sich diese Gefühle nun in demselben Herzen zusammenfinden,
so legen sie sich in eine entsprechende Coordination derart, dass
die Furcht durch das Bewusstsein der Sünde erregt wird und
umgekehrt bei entstandener Furcht gleich eine Sünde zum Be-
wusstsein kommt. Mithin werden nothwendig dem Sündigen zu-
gleich äussere Gefahren drohen, und er wird fürchten für seinen
Leib und sein Leben, ftlr sein Eigenthum, seine Familie, sein
Land u. s. w.
Da nun sowohl die Furcht als die Sünde auf Gott bezogen
werden, so wird auch der Gesetzesgott nothwendig zugleich der
Gott der Furcht sein. Mithin wird der Gott nicht bloss Miss-
fallen haben an der Sünde, sondern er muss auch in Zorn und
Grimm gerathen und sich rächen wollen. Nun wird er Schwert,
Hunger und Pestilenz über sie schicken; die Gottlosen sollen
gefangen und gebunden werden; ihre Weiber sollen an den Frem-
den kommen ; sie müssen zum Fluche, zum Wunder, Schwur und
Schande werden; er wird sie ausrotten beides Mann und Weib,
beides Kind und Säugling, dass nichts von ihnen übrigbleibe;
er wird noch ihre Kinder und Kindeskinder strafen u. s. w.
Umgekehrt wird nun auch das Bewusstsein der Gerechtig-
keit und des treuen Gehorsams und guten Gewissens verbunden
werden mit der Freude an den irdischen Gütern, an wieder-
hergestellter Gesundheit, milchreichen Kühen, fruchtbaren Weibern,
guter Emdte, Sieg über die Feinde, Besitz vielen Landes, wo
Milch und Honig fliesst, und an aller äusseren Glückseligkeit.
Also muss, da auch dieses an die Gottesvorstellung angeknüpft
wird, der Gott nun gnädig und mild sein, er muss die Gerechten
lieben; er ist ihr Vater, Freund, Beschützer, Erlöser, ihr Stecken
und Stab u. s. w.
Auf diese Weise wird die sittliche Gesinnung ye^derbniss de«
nothwendig verfälscht, da die selbstsüchtigen Inter- o«wi8»eni.. de«
essen sich mit dem sittlichen Urtheil derart ver- ®^f*7^„7der
knüpfen, dass jedes äussere Unglück als Zeichen oeschichto-
des Grimms Gottes betracht.et wird und also auf die p''"°*^p"«-
Spur einer begangenen Sünde hinweist, wie andererseits jedes
äussere Glück die Gottesfreundschaft und Frönmiigkeit beweist.
Mithin weiss der Fromme nicht mehr, ob er das Gesetz hält,
weil es das Gute und Rechte anordnet, oder damit es ihm wohl
u.quizeauy Google
314 Religion der Sünde.
gehe und er lange lebe auf Erden, und ob er das Böse und
Gottlose meidet, weil sein Gewissen dies gebietet, oder damit er
nicht der Bache des Zomesgottes verfalle. Denn Recht und
Unrecht sind nun derart mit Lohn und Strafe verwachsen, dass
die Frömmigkeit selbst zum Interesse der Selbstsucht wird, wäh-
rend die Ungerechtigkeit und Gottlosigkeit schon aus Schlauheit
zu vermeiden ist, damit man den gnädigen Herrn nicht erzürne
und bei seiner despotischen Yertheilung der Güter und Uebel
nicht den Kürzeren ziehe. Entsprechend diesem allgemeinen
Goordinationsgesetze wird aber nicht bloss das Leben des Ein-
zelnen, sondern natürlich auch das ganze Leben der Familie, des
Standes und Volkes, welches demselben Gotte dient, unter die
gleiche, wissenschaftlich und sittlich falsche Geschichtsphilosophie
gebracht Der Gott wird nämlich Bundesgott des Volkes und
verspricht, wenn sie ihm dienen und seine Gebote halten, alles
Gedeihen, Reichthum und Herrschaft, wenn sie aber von ihm ab-
fallen und anderen Göttern dienen, Niederlagen, Gefangenschaft
und Vernichtung. In diesem Sinne betrachten dann die Priester
die ganze Geschichte des Volkes und wissen die Frönunigkeit
so zu einem selbstsüchtigen, ökonomischen und politischen Inter-
esse zu machen.
Da diese auf natürlichem psychologischen Wege erfolgte
Verkoppelung aber nicht immer der Wirklichkeit entsprechen kann,
weil die beiden zusammengemischten Elemente ja ihrer Natur
nach nichts miteinander zu thun haben, so muss die Theologie
demgemäss zurechtgelegt werden. Der Gott muss, weil die er-
wartete Strafe natürlich nicht gleich eintrifft, langmttthig und
geduldig werden; er schiebt sein Strafgericht auf aus Barm-
herzigkeit und weil er noch auf die Besserung und Umkehr
wartet; er wird aber später um desto furchtbarer sich rächen.
Ist die kommende Strafe schon vorausgesagt, während die Gläu-
bigen sich schon wieder dem nationalen Gottesdienste hingeben,
so muss folglich Gott bereuen, dass er so schrecklich strafte
und drohte, und er ninunt dann wieder seine Drohungen zurück
und verspricht, von jetzt an milde und gnädig zu sein u. s. w.
zurBeurtheiiuDg Dicsc küustlichc uud unwahre Verdrehung des
der bebr&ischen sittlichcu Urthcils uud der Geschichtsauffassung findet
Propheten. ^^^^ ^^^ ,^^^^ j^^. ^jj^^ Völkcm, wclchc au der
Kechtsreligion theilnahmen, ganz besonders ausgebildet aber bis
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Die unreine Rechtsreligion. 315
zn einem sittlich ekelhaften, juristischen und ökonomischen
Calctil bei den Juden. Man lese z. B. was der König David
(2. Samuelis 3, 29) sagt beim Tode Abner's: „Ich bin unschuldig
und mein Königi'eich vor dem Herrn ew^iglich an dem Blute
Abner, des Sohnes Ner, es falle aber auf den Kopf Joab und
aaf seines Vaters ganzes Haus; und müsse nicht aufhören im
Hause Joab, der einen Eiterfluss und Aussatz habe und am
Stabe gehe und durch das Schwert falle und an Brot mangele/
Ein reines, sittliches und religiöses Gemüth wird deshalb auch
z. B. viele Declamationen bei Jeremias nicht ohne Entrüstung
und Abscheu lesen können, obgleich derselbe Prophet an manchen
Stellen fast lührend an den Tag legt, dass seine Beredtsamkeit
unter dem Fluche dieser nationalen Verbindung des Furchtgottes
mit dem Gesetzesgotte stehe, während er selber schon den Stand-
punkt der reinen moralischen Religion im Herzen trage und nur,
weil er zugleich als Staatsmann zu einem religiös und sittlich
heruntergekommenen Volke rede, ihre egoistischen und nationalen
Interessen mit den moralischen Motiven verquicken müsse, um
gehört und verstanden zu werden. Die Propheten waren ja nicht
bloss Ileligionslehrer und Prediger, sondern im eigentlichen Sinne
Staatsmänner, welche König und Volk über die innere und äussere
Politik zu Orientiren und zu leiten hatten. Deshalb darf man
ihre volksmässige Beredtsamkeit nicht vom Standpunkt der
Kathederweisheit aus beurtheilen, sondern muss sie als Bedner
oft, wenn sie das reine moralische Geftlhl empören, um desto
mehr anerkennen, weil sie durch ihre das selbstsüchtige Herz
des Volkes packenden und erschütternden Worte dennoch immer
auf Gerechtigkeit drangen und nach den gegebenen Zuständen
eben nichts Höheres und Beineres bieten konnten. Ein reiner
Moralprediger hätte da eine lächerliche Rolle gespielt, wo ein
selbstsüchtiges Volk unter der Macht der Furchtreligion zum
Besseren geleitet werden musste. Während daher griechische
Redner ihr besseres Rechtsbewusstsein unterdrückten und beug-
ten, um dem Volke nach dem Sinne zu sprechen und durch
Schmeichelei selbst zu Ehre, Macht und Reichthum zu gelangen,
indem sie den Leidenschaften des Volkes gemäss die Geschichte
auffassten und die äussere Politik steuerlos und ruchlos der
augenblicklichen Majoritätsmeinung unterordneten, so haben wir
die hebräischen prophetischen Volksredner und Staatsmänner zu
uiyiüzeu uy "V-j vyVjpt Iv^
316 Religion der Sünde.
bewundern, dass sie niemals die Frömmigkeit und Gerechtigkeit
aus den Augen Hessen, sondern die Leidenschaften des Volkes
straften und ihre Furcht und Hoffiiung an den Wagen spannten,
um doch nur den reinen Gott des Gesetzes im Triumph auf den
Thron zu führen.
puton. dM ^* ^^® Furchtreligion die erste und natürliche in
GbriHteuthuin u. der Mcuschheit ist, so kann man sich nicht wun-
^Lbl^BkÄft** dern, dass sie trotz aller geschichtlichen Entwickelung
der aDreinon der Mcnscheu uuausrottbar bleibt und sich mit den
BeiiRion. höheren Religionsformen verquickt. In allen ge-
schichtlich bekannten Rechtsreligionen ist deshalb diese Ver-
quickung unlösbar geblieben, und nur ein einziger Philosoph hat
überhaupt den Fehler und die Verderbniss der Gesinnung in ihrer
Wurzel erkannt, ich meine Piaton, der dementsprechend mit
stolzer Einfachheit und in tadelloser Selbstverherrlichung erklärt,
dass von den Zeiten der mythischen Heroen an durch die ganze
Geschichte der Hellenen hindurch er selber der erste und einzige
Mensch gewesen sei, welcher Recht und Unrecht von äusserem
Vortheil und Nachtheil geschieden habe.*) Trotzdem erhob diese
gewonnene Erkenntniss und Gesinnung nur den kleinen Kreis
seiner Anhänger und Leser; die ganze Nation aber wurde von
Piaton nicht ergriffen, ja er sah sich auch sofort durch seine
Erfahrung an den Menschen seiner Zeit dazu getrieben, aus
pädagogischen Gründen zur Leitung des Volkes wieder die Motive
der Furchtreligion in die Beredtsamkeit einzumischen, wenn er
auch ftlr die Götter oder die göttlichen Menschen, wie er seinen
philosophischen Kreis nannte, die höhere Erkenntniss vorbehielt
Nur in dem Volke der Juden erhob sich ein grösserer Meister,
der die ganze Menschheit ergriff und mit seinem Namen erneuerte.
Dieser allein vermochte es, eine religiöse Gesinnung zu be-
gründen, welche auch fUr den einfachen Gläubigen die Reinheit
des sittlichen Lebens herstellte. Aber selbst in der christlichen
Kirche bleibt das specifisch Christliche immer nur wenigeren
Frommen vertraut, während die grosse Menge der Gläubigen
die höhere Religionsform mit den niedrigeren und niedrigsten
Formen inuner wieder verquickt. So muss z. B, selbst in dem
Jüngerkreise Jesu, als sie den Blindgeborenen erblickten, sofort
*) Vergl. meine „Literar. Fehden im vierten Jahrh. v. Chr.** U. S. 40.
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Die unreine Bechtsreligion. 317
die jüdische Geschichtsphilosophie in der Frage hervortreten:
n Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, dass er
ist blind geboren ?^^ (Joh. Ev. 9, 1 ff.). Jesus heilt ihn durch eine
einfache Salbe, die er aufschmiert; er thut aber zugleich mehr,
indem er die Augen der Jünger öfihet und die blinde und falsche
Geschichtsphilosophie, wonach die Sünde an äusserem Unglück
erkannt wird, beseitigt und eine wahre religiöse Auffassung an
die Stelle setzt. Für den selbstsüchtigen Menschen ist es aber
ganz natürlich, dass er den Gott des Rechtes nicht anerkennen
kann, wenn derselbe nicht zugleich der Machtgott oder Furcht-
gott ist, der ihm Vortheil zuwendet oder ihn mit Schaden bedroht
Als bei dem Tode Baldur's (Edda, Simrock S. 320) alle Wesen
weinten, so wollte der interessirte Loki, der sich in die Thöck
verwandelt hatte, nicht weinen, weil er keinen Vortheil von Baidur
gehabt hätte: „Thöck muss weinen mit trockenen Augen über
Baldur's Ende. Nicht im Leben, noch im Tode hatt' ich Nutzen
von ihm : behalte Hei, was sie hat." So ist es auch dem Könige
David durchaus nicht gleichgültig, was bei seinen Sünden der
Rechtsgott als Machtgott über ihn verfügen könnte; vielmehr
liegt ihm alles an einer so vortheilhaften Stellung, wie sie der
Sohn einem Vater gegenüber geniesst. Der Gott sichert deshalb
dem Könige trotz seiner Missethaten eine privilegirte Behandlungs-
weise zu (2. Sam. 7, 14): „Ich will sein Vater sein, und er soll
mein Sohn sein. Wenn er eine Missethat thut, will ich ihn mit
Menschenruthen und mit der Menschenkinder Schlägen strafen;
aber meine Barmherzigkeit soll nicht von ihm entwandt werden,
wie ich sie entwandt habe von Saul, den ich vor Dir (David)
habe weggenommen. Aber Dein Haus und Dein Königreich
soll beständig sein ewiglich vor Dir und Dein Stuhl soll ewig-
lich bestehen.^' Ein solches kindliches und väterliches Verhält-
niss ist nur nach den Vorstellungen vom Familien- und Stamm-
gott gedacht, beruht auf den socialen und politischen Gegensätzen
von Herr und Sclave, Vater und Sohn, Freund und Feind, Ein-
heimischen und Fremden und hat mit der im Evangelium hervor-
tretenden Kindschaftsidee nur den Namen gemein. Sehr deutlich
zeigt sich das natürliche Verlangen des Menschen nach dem
Butzemann auch bei dem Tode Christi, wo sich nach der Erzählung
in den Evangelien der kalte Spott hören Hess, weil der Vertreter
des Rechtes und der Wahrheit nicht zugleich die Macht in der
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318 Beligion der Sünde.
Hand hatte, und der Furchtgott also mit ihm nicht verschmolzen
war: „Er kann sich selber nicht helfen". Man erwartet immer
Vertheilung äusserer Güter und üebel und die Attribute des ge-
fährlichen Oottes der Furchtreligion, um das selbstsüchtige Herz
zu beugen.
j^j^ Man sollte nun glauben, dass die Vermischung
sophisiik der Rechtsidee mit der äusseren Macht nur ein natür-
nn^e^inen ^^^^^^) psychologisch erklärbares Phänomen in dem
ReeiBts- Entwickelungsgange der Civilisation bildete, dessen
reiiKion. Zähigkeit einfach darauf beruhte, dass die höhere
Stufe des Bewusstseins immer die niedrigere voraussetzt und
sich daher ursprünglich immer erzartig damit verbindet, allein
es findet sich bekanntlich der Verstand stets zur Verfügung des
Willens, und so ist es doch nicht erstaunlich, dass sich auch
alles Schlechte und Unreine immer durch irgend welche ver-
ständige Gründe sophistisch vertheidigen lässt. Zuweilen darf
man sogar nicht einmal eine Sophistik dabei annehmen, sondern
muss wegen der ehrlichen Meinung der Schliessenden nur einen
Paralogismus in dem Käsonnement anerkennen, der freilich seinen
letzten Grund in ihrer irdenen Natur hat.
Man räsonnirt nämlich so, und wir können gleich
KanTi8che*ideai Kaut als den Hauptrepräsentanten dieser unreinen
des höchhun Religionsvorstellung hinstellen, dass der moralische
Gesetzgeber, wenn er wirklich monotheistisch gedacht
werde, mit dem physischen Urheber der Welt zusammenfallen
müsse. Folglich würde es in seiner Hand liegen, mit der Ge-
rechtigkeit, die er von dem Menschen will, auch ihre sinnliche
Glückseligkeit zu vereinigen, wie umgekehrt mit der Ungerechtig-
keit alles äussere Unglück. Die jüdische Religion fordert nun
überall diesen Zusammenhang, und man glaubt daran bei der
Erklärung der jüdischen Geschichte und hofft darauf in Bezug
auf die zukünftigen Ereignisse. Kant aber war zwar darin
klüger, dass er den Widerspruch zwischen dem moralischen Zu-
stande eines Menschen und seiner äusseren socialen und öko-
nomischen Lage als thatsächlich vorkommend und überall möglich
erkannte; er glaubte darin aber nur einen pädagogischen Kunst-
griff Gottes sehen zu dürfen, da Gott ähnlich wie bei Hiob die
Reinheit der moralischen Gesinnung des Menschen dadurch prüfen
uiyiiized by VjOOQIC
Die unreine Rechtsreligion. . 310
and erhalten wollte, dass er nicht immer dem Frommen die
änsseren Güter schenkte , sondern ihm auch allerlei Leid und
Unglück sendete, damit die Menschen nicht schliesslich um der
äusseren Vortheile willen gerecht leben möchten. Allein abge-
sehen von dieser witzigen Entschuldigung Gottes nimmt doch
Kant, ganz wie ein ächter Jude, an, dass das höchste Gut in
der vollen Harmonie des sittlichen und sinnlichen Wohlseins
liege und dass uns dies für die Zukunft verheissen sei oder aus
den praktischen Prämissen als unumgängliches Postulat folge.
Wenn man an dies ganze eudämonistische Gebäude j^^^ «ui^ehörjge
anklopft, so klingt es nicht nach Metall, sondern optimismu« und
lässt ein bedenkliches Klappern wie irdene Waare ^«■«*™*"™^"-
hören. Es schliessen sich an diese Denkweise nun nothwendig
die vulgären Weltansichten an, indem die Einen optimistisch
doch an den Sieg der guten Sache glauben (indem sie auch
etwa, wie z. B. Benjamin Franklin, die Ehrlichkeit, Gerechtigkeit
und Tugend überhaupt als nützlich zum Reichwerden und zur
Gesundheit empfehlen), oder wenigstens, nach Lessing's und
Kant's Vorschrift, das ehrliche Streben fordern und auf den be-
ständigen Fortschritt der Civilisation hoflFen; während Andere
pessimistisch, weil sich ihr jüdisch-Kantisches Ideal nicht ver-
wirklichen will, an dem Werthe der Welt selbst verzweifeln und
alle Mheren Hoffnungen und Bestrebungen als ebensoviele Illu-
sionen auflösen. Ueber diese beiden Weltansichten streiten die
Unklugen nun immer hin und her, und keine Partei kann die
andere ganz aus dem Felde schlagen, weil bei solchem Dilemma
nothwendig immer ein Fehler in dem Princip des Zwistes selber
steckt. Diesen principiellen Fehler, worin die Thorheit beider
Annahmen liegt, habe ich in meiner Schrift „Unsterblichkeit der
Seele" nachgewiesen, indem ich den ganzen Ursprung und die
Nothwendigkeit dieser entgegengesetzten Annahmen aus den
fehlerhaften metaphysischen Voraussetzungen erklärte, aus den
Voraussetzungen, die auch hier in dem jüdisch-Kantischen Ideal
des höchsten Gutes vor Augen liegen.
Wenn man nämlich auf den Standpunkt der projectivischen
Religion oder der zugehörigen Metaphysik steht, welches eben
der vulgäre Standpunkt der Menschen ist, so muss man die sinn-
lichen Bilder von der Welt, die man in seinem Bewusstsein hat,
als die ausser uns existirenden Wesen und dieMfüig^ei^Intie
320 Religion der Sünde.
sinnenf&llige Welt als die einzige wirkliche Welt ansehen. Mithin
werden dann auch alle moralischen Ideen nur zu Forderungen,
die in der Sinnenwelt realisirt werden sollen, da diese die einzige
Welt ist Darum folgt, dass das Ideal des höchsten Gutes in
der vollkommenen Harmonie und Proportion zwischen Gerechtig-
keit und äusserem sinnlichen Glücke besteht und dass der
Optimist an diese Harmonie glaubt, während der Pessimist, weil
er sie nicht verwirklicht sieht, auch die Hoffnung fahren lässt
Alle diese Ansichten hängen auf's Genaueste zusammen und
beruhen, um's kurz zu sagen, auf dem projectivischen Empirismus
und Idealismus.
Alle diese Ansichten fallen deshalb auf einen
Schlag mit dem Fundamente, auf dem sie ruhen.
Sobald man nämlich den Begriff des Seins wissenschaftlich unter-
sucht, wofür ich auf meine „Neue Grundlegung der Metaphysik"
verweise, so zeigt sich, dass die Erscheinungen der Sinnenwelt
nicht die wirklichen Wesen sind, sondern nur wesenlose Zeichen
und Schatten, durch welche wir perspectivische Auffassungen von
vorübergehenden Beziehungen zwischen den wirklichen Wesen
gewinnen. Um dies an einer Analogie aus der scheinbaren Welt
zu verdeutlichen, so ist der Irrthum der Projectivisten zu ver-
gleichen mit der Annahme, als wenn die Häuser und Städte die
eigentlichen Wesen wären, um derentwillen alles Uebrige sich
ereignete. Diese können aber zerstört werden, während den
Menschen, die darin wohnten, kein Leid zu widerfahren braucht
Wenn nun die Optimisten auf den ewigen und immer zunehmen-
den Glanz der Häuser hoffen und die Pessimisten ihre Zweifel
daran durch die Baufälligkeit der einzelnen Häuser und die
Zerstörung ganzer Städte begründen, so kann ein Vernünftiger
über beide lächeln, weil es ihm nur auf die Menschen ankommt,
die darin wohnen und die nur zu vorübergehenden Zwecken
solche Beziehungen zwischen den Elementen gestiftet haben, die
man ein Haus nennt, weshalb sie denn ein solches auch frei-
willig räumen, wenn sie lieber anderswo sich niederlassen möchten.
Wenn man erst eingesehen hat, was die wirklichen Wesen
sind, so wird man auch die Glückseligkeit nicht mehr in den
perspectivisch aufgefassten sinnlichen Erscheinungen suchen; man
wird erkennen, dass ein reicher, gesunder, starker Mann, ein
glücklicher Eroberer, ein Fürst und Herr über Land und Leute
DigitizedbyCiOOQlC
Die unreine Rechtsreligion. 321
doch zugleich ein schlechter und unglückseliger Mann sein kann,
ohne seine Güter zu verlieren, und dass umgekehrt ein gerechter
Mann, ohne seine Gerechtigkeit und seinen Seelenfrieden zu ver-
lieren, beraubt und erschlagen werden könnte, dass man ihn
beschimpfen und an's Kreuz zu heften und doch seinen Werth
nicht herabzuziehen vermöchte. Der Werttt des Lebens wird
überhaupt, wenn man die vulgäre, projectivische Weltansicht
aufgegeben hat, nicht mehr in das Gebiet des Furchtgottes ge-
stellt, sondern in den wirklichen Zustand der Seele. In dieser
können die höchsten Tugenden nur gedeihen, wenn die Harmonie
des äusseren Glückes mit der sogenannten Moralität nicht statt-
findet; denn wie könnte die Seelengrösse im Leiden sich ent-
wickeln, wenn es garantirt wäre, dass der Gerechte nie krank
würde, dass er nie seine Lieben verlöre, dass keine Schlacht
ihm missglückte und seine Güter immer unvermindert und unver-
lierbar blieben. Es ist ja auch auf den ersten Blick klar, dass
die Kunst, deren Aufgabe es sein muss, die innere Welt zur
Anschauung zu bringen, ihre höchsten Triumphe in der Tragödie
feiert, wo die sittliche und religiöse Tiefe des menschlichen
Herzens in dem Ruin aller irdischen Glückseligkeit sich offenbart.
Sobald man also über den Schein der bloss perspectivischen,
selbstsüchtigen Weltansicht und des falschen projectivischen
Idealismus hinweggekommen ist, was uns nicht durch den
Idealisten Piaton, sondern einzig erst durch das Christenthum
zu Theil wurde, so muss die Sophistik der unreinen Religion
fallen und mit ihr der sentimentale und eitle Pessimismus und
der thörichte und kurzsichtige Optimismus, wie auch das ganze
vulgäre jüdisch-Kantische Ideal vom höchsten Gute. Piaton sah
nur den Fehler in dem ethischen Princip; als Idealist unterlag
er aber auch der projectivischen Illusion und kämpfte nur einen
edlen Kampf mit dem Optimismus und Pessimismus, zwischen
denen, wie zwischen Scylla und Charybdis, ewig zu schwanken
ihm das Loos gefallen war, ohne dass er den Fehler seiner
idealistischen Metaphysik erkannt hätte, der in dem Lichte des
Evangeliums sofort auch dem einfachen Gläubigen offenbar wird.
Teiohmuller, BeligionspimoBOphie.
Digitized ^Google
322 Eeligioii der Sünde.
§ 2. Der zugehörige Cultus.
Wie nun die Ethik der unreinen Rechtsreligion dadurch
charakterisirt ist, dass zu dem Bewnsstsein der Sünde noch die
Furcht hinzutritt und zu dem gewissenhaften frommen Gehorsam
noch die Dankbarkeit für das empfangene äussere Glück und
die Lohndienerei, und wie zweitens ftlr die Dogmatik der ge-
fahrliche grimme Furchtgott und gnädige Stanmiesschutzgott sich
mit dem reinen Rechtsgott vereinigt: so muss natürlich auch der
Cultus oder Verkehr mit Gott die entsprechenden Abänderungen
oder Vermischungen erfahren, indem der alte Opferdienst mit
der Empfindung der Sünde gepaart wird. Wir bedürfen kaum
eines Hinblickes auf die historisch bekannten unreinen Rechts-
religionen, sondern könnten die specifischen Formen des Cultus
sofort a priori aus den gegebenen Voraussetzungen ableiten.
Da nämlich das Gefühl der Sünde auf eine lieber-
dar sühnrog. ^^etung dcs Gcsctzcs und Willens der Gottheit hin-
weist und diese Gottheit nun nach der Furchtreligion
als erzürnt, grimmig und rachlustig vorgestellt werden muss, so
mischt sich nicht nur Angst und Sorge und jede andere Art der
Furcht mit dem Gefühl der Sünde, sondern es wird sofort zur
Aufgabe der Ueberlegung, wie der Zorn des Herrn beschwichtigt
und sein gnädiges Wohlwollen oder gar seine uns bevorzugende
Liebe wiederzugewinnen sei. Mithin müssen wir etwas thun,
was nur Bezug auf unsere Vorstellung von der Gottheit hat,
d. h. wir müssen einen Cultusact ausüben. Da es sich aber
nicht bloss um den Furchtgott handelt, der wie in der Furcht-
religion durch Schmeichelei und allerlei Opfer beruhigt und ge-
wonnen werden müsste, sondern da auch das Gewissen dem
Rechtsgott gegenüber steht, so muss der Cultus die zugehörige,
specifische Form annehmen, welche den Namen „Sühnung" er-
halten hat. Nach den beiden grundlegenden Beziehungen müssen
in der Sühnung zwei wesentliche Momente vorhanden sein, einer-
seits das Sündenbekenntniss, der Schmerz der Reue und die
Sinnesänderung, andererseits die äusserliche Darbringung einer
Busse, wonach gemäss der Furchtreligion die Beschwichtigung
des Zornes Gottes psychagogisch glaublich wird.
Es ist nun interessant, dass diese Sühnung bei den Be-
ziehungen der Menschen untereinander den juristischen
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
Die unreine Rechtsreligion. 323
Charakter hat, da der Richter bei Rechtsverletzangen nicht bloss
theoretisch über Recht und Unrecht urtheilen, sondern auch
technisch die Mittel ansfinden und deshalb von dem Schuldigen
gewisse Leitungen verlangen muss, die geeignet sind, den Be-
schädigten zufriedenzustellen und seinen Grimm und seine
Rachelust zu befriedigen. In der Religion der Sünde wird nun
Gott als der Geschädigte und Beleidigte aufgefasst, und es werden
demgemäss die gleichen Leistungen dem Schuldigen von ihm
auferlegt.
Man kann daher die Culthandlungen zwar auf Die Eintheiiung
dieselben Arten wie in der Furchtreligion zurück- ^«»^ sühnnnifen.
fuhren, muss aber als specifische Eigenthümlichkeit die Normirung
derselben nach einem Gesetz, also den juristischen Charakter hinzu-
nehmen. Demgemäss sind die Sühnungen erstens Opfer an Geld
und Gut, zweitens körperliche Strafen und Freiheitsentziehung,
drittens Stellvertretung.
Die erste Art besteht in Darbringung von
Gaben an den Altar, nämlich Früchte, Thiere, die ^^''
geschlachtet werden, oder Geld, das an die Kirche oder an die
Armen gegeben wird. Die Sünden werden rubricirt nach ihrer
Grösse und demgemäss werden die aufzuerlegenden Bussen an
Geld und Gut normirt Diese Bussen sind entweder allgemein
bestimmt durch ein Ritualgesetz oder sie werden im Beichtstuhl
individuell für das religiöse Bedttrfniss des Einzelnen geregelt,
wobei die Schuld auch, wie durch einen Wechsel auf längere
Zeit, durch ein Legat im Testament getilgt werden kann. Diese
unreine Art des Gottesdienstes hat darin ihren Grund, dass die
wirkliche Stärke der Sinnesänderung sich psychologisch am
Besten messen lässt durch die Liebe zum Eigenthum, die bei
den Meisten eingeboren ist und deshalb auch durch das Werth-
symbol des Geldes arithmetisch abgeschätzt werden kann; denn
wer nicht einmal so und so viel für Sühnung seiner Schuld be-
zahlen mag, dessen Sinnesänderung, so räsonnirt man, ist nicht
weit her. Wenn man den Ablasshandel hierher zieht, so hat
man Recht; wenn man aber auch Christi Mahnung, alles Eigen-
thum den Armen zu geben und ihm zu folgen, mit unter diese
Rubrik bringen möchte, so wäre das grundverkehrt; denn in
diesem Falle handelte es sich nicht um eine Sühnung Gott
gegenüber, sondern um eine gänzliche Veränderung der Lebens-
u,y,t,zec?Jy*^OOQle
324 Reli^on der Sünde.
beschäftiguDg. Wer mit dem Messias im Lande umherziehen
wollte, konnte doch nicht zugleich in seinem weltlichen Berufe
und seinen ökonomischen Interessen leben.
2 Körperstnrft^n ^^^ kommcu au dlc Körperstrafen und die
und Freiheits- Freiheitsentziehung. Beide Formen der Askese
oDtxiehnng. ^^^^ ^^^^ bekannt. Zur Stihnung ihrer Sünde ziehen
sich die Gläubigen aus der Welt zurück, gehen entweder, wie in
Indien, in den Wald oder, wie in dem Homo sum von Ebers
meisterhaft geschildert, in die Wüste, oder sie leben im Kloster,
und bannen sich und ihre freie Bewegung durch feste Regeln.
In ähnlicher Weise strafen sie ihr Fleisch durch Entziehung von
Speisen, indem sie entweder auf bestimmte Arten derselben ver-
zichten oder überhaupt keine Nahrung für bestimmte Zeiten zu
sich nehmen. Ausser dem Fasten versagen sie sich auch die
Liebesgenüsse entweder von Zeit zu Zeit durch bestimmte Ord-
nungen oder durch gänzliche physische Entmannung, wie dies
letztere noch heut zu Tage bei Männern und Frauen in der
russischen Sekte der Skopzi vollzogen wird. Endlich schlagen
und zerreissen sie auch ihren Leib auf allerlei Weise, springen
nackt in Domenhecken, geissein sich mit Ruthen und spitzen
Nägeln blutig, tragen Erbsen in den Schuhen, rutschen viele
Meilen auf den Knieen und verstünmieln sich auch wohl u. s. w
Denn alle diese Formen der Sühnung sind ja juristisch schon
längst erklärt, da durch solcherlei Strafen an dem Schuldigen
der Beschädigte und Beleidigte zufriedengestellt wird. Wem ein
Auge ausgeschlagen ist, der kann nicht mehr grollen, wenn der
Schuldige sich auch ein Auge zerstört; wem ein Zahn ausge-
schlagen, der beruhigt sich, wenn er den Gegenstand seines Zorns
derselbigen schmerzlichen Behandlung unterworfen sieht Diese
ganze psychologisch -juristische Sühnungsauffassung wird nun
durch das religiöse Bewusstsein auf Gott übertragen, und der
Gläubige hoflft Vergebung, wenn er sich alle Arten von Pein
auferlegt, wie sie ihm etwa gerade am Empfindlichsten ist; der
Wollüstige entmannt sich, der Schlemmer fastet, der Reiche zieht
als Bettler umher, der Ehrgeizige geht in's Kloster, der Rauf-
bold wird ein Christophorus u. s. w.
Die dritte Art ist die Stellvertretung. Diese
* vTrtre^uflr' ^^^^ ^®^ Stihnung spaltet sich natürlich wieder in
die beiden Formen des stellvertretenden Leidens
u.quizeauy Google
Die unreine Rechtareligion. 325
und des stellvertretenden Verdienstes. Nun ist sofort klar ,
dass in der reinen Religion der Sünde und des Rechtes von
Stellvertretung keine Rede sein kann, ebensowenig vne in den
höheren Formen der Religion; denn die Gerechtigkeit und Fröm-
migkeit sind Gesinnungen und Thätigkeitsweisen, deren Werth
in ihnen selbst liegt und deshalb nicht von der Seele abzulösen
ist. Man kann darum den köstlichen Werth frommer Gesinnung
nicht dadurch erwerben, dass ein Anderer für uns fromm ist,
ebensowenig wie wir dadurch sauerstofireicheres Blut erhielten,
dass ein Anderer für uns tief einathmen wollte. Die sittlichen
und religiösen Werthe sind keine Tauschartikel.
Dagegen muss die Stellvertretungsidee ihren natürlichen Platz
in der Religion der Furcht und deshalb auch in der unreinen
Form der Rechtsreligion haben. Denn wo es sich darum handelt,
einen Zornigen zufrieden zu stellen oder eine zur Vermeidung
der Rache juristisch festbestimmte Busse zu entrichten, da zeigt
auch die allgemeine Praxis der Völker, dass Zorn und Rachsucht
durch stellvertretendes Leiden und stellvertretende Leistungen
ausgelöscht werden können. Dies ist so bekannt und aus jeder-
manns eigener Erfahrung psychologisch so verständlich, dass es
mir nicht erforderlich scheint, den Vorgang weiter zu analysiren
und durch geschichtliche Zeugnisse zu belegen. Da nun in der
unreinen Rechtsreligion der Gott des Gesetzes auch die Attribute
des Zornes und der Rachsucht erhalten hat, so versteht es sich
von selbst, dass in dieser Religion auch die Stellvertretungsidee
ausgebildet werden musste.
Die menschliche Thätigkeit theilt sich nach der Stellung»
die das Gefühl dazu einnimmt, in Leiden und Thun. Das Leiden
dreht sich darum, dass wir Güter hergeben, den Körper be-
schädigen lassen, die Freiheit, Gesundheit, das Leben opfern,
oder Arbeiten leisten, die wir ungern vollziehen. Ueberall hier
haben wir ein schmerzliches Gefühl Das freiwillige Thun aber
besteht in Handlungen, die wir gern und mit freudigem Gefühl
übernehmen. Nun kommen in dem gesellschaftlichen Güter-
verkehr beiderlei Leistungen in Betracht, werden aber unter
dem Gesichtspunkte des Nützlichen ganz überein geschätzt
und nicht unterschieden, so dass es für die Stellvertretungsidee
einerlei ist, ob ein Bürger iRir einen anderen zahlt, oder ein
Lehrer für einen anderen Stunden giebt, oder ein Freund für
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326 Religion der Sünde.
Damos sich kreazigen lässt In allen Fällen der Stellvertretung
gelten beide Arten als Leiden.
Sobald wir dagegen in die sittliche Sphäre tibertreten, so
finden wir zugeordnete Güter oder Werthe, die sich nicht über-
tragen lassen und überhaupt nach einem andern Gesichtspunkte
als dem von Lust und Schmerz bestimmt werden. Man kann
diese Güter im Allgemeinen Verdienste und auch, da sie von
dem Beifall des Gewissens und niemals von Gewissensbissen be-
gleitet sind, schlechtweg freie Thätigkeiten nennen.
Die eigenthümliche Leistung der unreinen Rechtsreligion be-
steht nun darin, Gott gegenüber diese moralischen Werthe auch
zu einem Tauschobjecte zu machen, da es darauf ankam, die
negativen moralischen Werthe, d. h. die Sünden und Missethaten,
zu bezahlen.
Die niedrigste Form dieser Stellvertretung beruht auf dem
Uebergewicht des niedrigen Elements in der Beligionsmischung.
Hierfllr finden sich zwei Modificationen. Entweder wird eine
Sünde gesühnt durch ein äusserliches Gut und zwar besonders
das höchste, das Leben, oder der Gott wird gewissermassen be-
trogen durch Darbringung eines geringeren Gutes, das durch ge-
wisse cultische Symbole gleichsam vermummt und zu etwas Werth-
vollerem ausstaffirt wurde. Der erste Modus zeigt sich auf der
barbarischeren Gulturstufe eines Volkes, wo durchaus Menschen-
blut fliessen muss, wenn Sühnung und Versöhnung als möglich
geglaubt werden soll, wie z. B. Jephtha sein unschuldiges Töch-
terlein opfern musste, und wie z. B. bei mehreren religiösen
Akten in der römischen Geschichte ein edler Mann fiir das Volk
sich dem Abgrund weihte, um den Zorn der Götter zu sühnen.*)
In ähnlicher Weise muss der König Usinara (Holtzmann, Indische
Sag. I 277 ff.) ftlr die Taube, die zu ihm hülfesuchend kam, Leib
und Leben mit seiner ganzen Person einsetzen, weil Indra mit
keiner anderen Stellvertretung zufrieden war. Dagegen wird der
*) Haakh citirt (in Pauly's R.-E. II. 877) mit Recht die Stelle aus
Juvenals Sat. VIII. 254 ff. Pro totis legionibus — sufficiunt Dis infernis
Terraeque parenti. Pluris enim Decii, quam quae servantur ab illis. Dass
diese Vorstellung populär war, sieht man aus Cicero: De nat. Deor. HI, 6, 15,
der darüber räsonnirt: Tu autem etiam Deciorum devotionibns placatos deos
esse censee. Quae fuit eorum tanta iniquitas, ut placari populo Romano non
possent, niai viri tales occidiasentV
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Die unreine Bechtsreligion. 327
Gott bei einer zweiten Art von Stellvertretung entweder betrogen,
oder der Gläubige ist selbst milder geworden und schämt sich,
seinem Gotte einen auf Menschenblut erpichten Grimm zuzu-
schreiben. So tritt bei Abraham's Opfer für den Isaak und
ebenso bei Agamemnon's Opfer ftir die Iphigenie ein Bock an
die Stelle. In ähnlicher Weise werden die StLnden des Volkes
der Hebräer jährlich dem schwarzen Bocke aufgeladen, der in
die Wüste gejagt wird. In diesem Gebrauch wirkt noch die
archaische Fluchidee, da die Flüche, die sonst dem Volke Scha-
den brächten, nun durch eine priesterliche List alle auf den Bock
fallen, der als geringes Object die Stellvertretung leisten muss.
Während es sich hier immer um ein stellvertretendes Lei-
den handelt, indem ein Vermögensobject oder das Leben für
eine Sünde als Tausch- und Tilgungsmittel gebraucht wird, wobei
natürlich immer die Grösse der Selbstüberwindung oder des
Schmerzes bei Darbringung des Opfers, wie bei König Usinara,
als Werthmassstab gilt, so geht die Verderbniss des Urtheils
durch die Motive der Furchtreligion auch dazu über, die Ver-
dienste als Bezahlungsmittel zu gebrauchen. Diese Vorstel-
lungsweise gelangte namentlich in Indien, wo die Heiligkeit an
viele äusserliche und mithin gewissermassen arithmetisch zu be-
rechnende Werke geknüpft wurde, zu einer epidemischen Aner-
kennung. Als z. B. Nahuscha erklärte, dass er als Mensch zu
schwach sei, um die Götter und die ganze Welt zu beherrschen,
da stärkten ihn die heiligen Rischi durch stellvertretende Ueber-
tragung ihrer Busse. (Holtzmann, Ind. Sag. I S. 325.) Ebenso
läuft der König Jajati Gefahr, in die Hölle zu gerathen, da
übertragen seine vier Enkel all ihr Tugendverdienst und die
Frucht all ihrer Opfer auf ihn; denn alle hatten durch ihre reich-
liche Freigebigkeit, ihre Tapferkeit, ihre Wahrhaftigkeit und häu-
figen Opfer sich im Himmel unermessliche Räume erworben und
können nun durch ihr stellvertretendes Verdienst ihm den Himmel
verschaiSfen. (Ebendas. H 119.) Aehnlich hatte der Muni Dscha-
ratkaru durch seine Keuschheit und freiwillige Armuth u. dergl.
grosse Verdienste erworben, als er jene Schaar verstorbener
Seelen antriflFt, die in Angst über der Hölle schweben. Er sagt:
„Von Mitleid ist mein Herz bewegt. Von meiner Busse will ich
Euch ein Viertel schenken oder auch ein Drittel, wenn ihr Euch
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328 ßeligion der Sande.
aus dieser Noth befreien könnt. Nehmt meine halbe Basse hin;
nehmt selbst die ganze; rettet Euch."
Die schönste Form dieser Stellvertretungsidee zeigt sich in
der Durchdringung ihrer beiden Arten, wenn nicht über früher
erworbene Verdienste, wie über erworbene Reichthümer ver-
mögensrechtlich verfügt wird, sondern wenn das Leiden selbst
als moralische Leistung und Verdienst betrachtet wird. Denn
wie in der Tragödie nach dem richtigen Urtheile des Aristoteles
die schönste Form darin besteht, dass der Schicksalswechsel un-
mittelbar mit der Erkeunungsscene zusammenfallt, so wirkt auch
das stellvertretende Leiden viel mächtiger auf das Gemüth, wenn
es zugleich die momlische Leistung ist und den Werth der sich
opfernden Seele voflfAugen stellt. So ist es z. B. in der Ge-
schichte des Königs Usinara und in der herkömmlichen Deutung
des Versöhnungstodes Christi, wo gerade die Durchdringung
beider Arten von Stellvertretung die Lebendigkeit und Macht des
Eindrucks hervorruft.
Es ist aber ein Zeichen geringer logischer Schärfe
ihum und die odcr geringer Kenntniss der verschiedenen Religionen,
neue Reiigions- ^cuu man die Stellvertretungsidee für etwas dem
pLilosopble.
Christenthum Eigenthümliches ansieht. Vielmehr er-
giebt eine unwiderlegliche Demonstration, dass das Wesentliche
und auch das Eigenthümliche des Christenthums mit dieser Idee
nichts zu thun hat. Mithin könnte man, ohne sich um die nähere
Untersuchung des specifisch Christlichen weiter zu bekümmern,
höchstens sagen, dass die Stellvertretungsidee dem Christenthum
mit vielen anderen Religionen gemeinsam zukomme (als commune)
in der Art, wie z. B. die Athmung durch Lungen allen Säuge-
thieren und Vögeln gemeinsam ist und für keine bestimmte Art
dieser Thiere den Grund eines specifischen Charakters bildet.
Allein wenn wir, wie es das wissenschaftliche Interesse und die
Herzensangelegenheit des Christen fordert, das Wesentliche des
Christenthums als der höchsten Religion heraussuchen, so werden
wir nothwendig finden, dass die der niedrigsten Religionsstufe
angehörige Stellvertretungsidee, welche auch schon bei der nächst
höheren Rechtsreligion nur in ihrer unreinen Form vorkommt,
unmöglich mit der göttlichen Wahrheit des heiligen christlichen
Geistes verträglich ist, sondern dass diese Idee, da sie sich
allerdings in der Kirchenlehre findet, eine ganz besondere Er-
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Die unreine Rechtsrcligion. 329
kläruDg und Rechtfertigung verlangt. Die genauere Darlegung
kann aber erst bei der Untersuchung über das Wesen des Christen-
thums gegeben werden, und ich darf hier nur darauf aufmerksam
machen, dass das Eigenthümliche der neuen Religionspbilosophie
eines Theils gerade darauf beruht, dass die specifischen Motive
der Religionen chemisch rein ausgeschieden vs^erden, wodurch die
zugeordneten reinen allgemeinen Formen aller empirischen Reli-
gionen allein constituirt werden können und demgemäss das zu
jeder Religion specifisch Zugehörige sich herausstellt Darum
konnten die früheren Religionsphilosophen in allen diesen Fragen
nicht klar genug sehen, weil sie, wie z. B. Kant und Hegel, und
auch jüngst noch Ffleiderer, an die empirisch vorliegenden Reli-
gionen herantreten, als wären diese aus Einem Geist und Einem
Guss gegeben und als müssten alle darin vorkommenden Theile
nothwendig und wesentlich zu dem Ganzen gehören und daher
durch irgend welche speculative Construction oder irgend eine
allegorische Interpretation vertheidigt und gerechtfertigt werden.
Wie man aber in unseren grossen gothischen Kathedralen neben
dem gothischen Stile auch vielen Theilen begegnet, die dem älteren
romanischen Stile angehören oder später nach dem Renaissance-
und dem Rococo-Stile ausgebaut sind, so ist das Christenthum
auch nur zq verstehen^ wenn man den specifischen Stil von allen
andersartigen rein ausscheidet und fUr jeden Theil das charak-
teristische Stilgesetz und die zugehörige Bauordnung auffindet,
und diese Aufgabe soll in meiner Religionsphilosophie gelöst
werden.
Es ist dies dieselbe Aufgabe, die ich in meiner Geschichte
der Begriffe ftlr die Philosophie überhaupt gestellt hatte; denn
während' man bisher jeden Philosophen mit seinem System als
ein Ganzes betrachtete, zeigte ich in dem Körper der verschie-
denen Systeme die anderswoher entlehnten Begriffe mit ihren
festen Coordinationen auf und forderte daher eine ganz neue Ar-
beit, nämlich das wirklich Eigenthümliche und Specifische eines
Jeden herauszufinden. Daran wird man noch lange zu arbeiten
haben; die bisherige Arbeit ist aber als blosse Materialsamm-
lung und Vorarbeit zu bezeichnen; denn wie die Chemie als
Wissenschaft erst beginnt mit der Entdeckung der Elemente,
während sie bisher blosse Alchemie war, so kann auch in der
G^chichte der Philosophie und in der Religionsphilosophie erst
u.quizeauy Google
330 Religion der Sünde.
eine feste Basis gefunden werden, wenn man die eigenthümlichen
Baustile, ich meine die specifischen Motive und die zagehörigen
dogmatischen Vorstellongsformen und Cnltarten rein für sich
dargestellt hat
Eine solche Arbeit ist aber weit entfernt von einer Zer-
setzung und Zerstörung des Christenthums; denn wie eine Kathe-
drale nicht zerstört wird, wenn man in ihr verschiedene Bau-
stile nachweist, so braucht auch das Christenthmn nicht zu leiden,
wenn man in ihm das Wesentliche von anderen eingemischten
Elementen unterscheidet Wir dürfen nie vergessen, dass das
Christenthum eine Religion ftlr alle Menschen ist Da nun un-
möglich ftlr alle Kranken eine und dieselbe Medicin brauchbar
wäre, so ist es durchaus vemtinftig und nützlich, dass im kirch-
lichen Christenthum auch viele Elemente aufgenommen sind, die
den niederen Entwickelungsstufen des Gemüths und des Geistes
entsprechen und daher auch in solchen Regionen Heilung her-
beiführen, welche in den engeren Jüngerkreis des Herrn nicht
Zugang gefunden hätten. So ist auch die Stellvertretungsidee
nichts specifisch Christliches. Es liess sich aber die eigenthüm-
liche Leistung Christi auch nach dieser in der früheren Religion
herrschenden Idee auffassen und daher auch fbr diejenigen zu-
gänglich und wirksam machen, die noch auf dem Boden der un-
reinen Rechtsreligion standen, die ihrer eigenthünüichen Bega-
bung nach noch heute auf diesem Boden stehen und in Zukunft
stehen werden. Solche Auffassungsweise ist deshalb zwar nicht
specifisch christlich, aber sie ist auch nicht gegen das Christen-
thum, und wer nicht gegen mich ist, heisst es in dem Herren-
Wort, der ist ftlr mich. Ist es ja doch das ganze Leben und
Leiden Jesu, das in der Stellvertretungstheorie den Inhalt der
Gedanken und Gefühle bildet, und wie sollte man daher eine
solche Auffassung schlechthin verwerfen I Sie passt eben genau
für die ihr zugeordneten Gemüther und wird für diese immer
rührend, erhebend und beseligend sein. Darum vertrug sie das
Christenthum und wird sie auch immer behalten.
Da wir in den projectivischen Religionen nicht
wirkMm- ™^* ^^^ wirklichen Gotte, sondern nur mit der
fceitder GottesvorstcUung zu thun haben, so fragt es sich
nniiff«!!. ^^^^ nicht, wiefern Gott die Sühnung annehme und
dadurch versöhnt werde, sondern nur, wiefern der Gläubige nach
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Die unreine Rechtsreligion. 331
seiner Gottesvorstellung durch die Sühnungen sich beruhigen
könne und zum Frieden seines Gewissens zurückkehre. Die
Wirksamkeit der Sühnung ist psychagogisch und besteht nur in
der Beruhigung des quälenden Schuldbewusstseins.
Die Frage ist also bloss eine psychologische.
^Ti ,-m* 1 ,..j^ IrrellgioMitäk
Nun können manche Menschen das peinigende Ge- de« unendiioiien
fllhl der Schuld und der Sünde niemals verlieren. schuidRefahia.
Die Zeit mag eine gewisse Linderung bringen, indem sie die
anschauliche Frische der schlimmen Thatvorstellungen allmählich
vermindert und sie in Vergessenheit überführt; allein bei jeder
Erinnerung schmerzt wieder tief der alte Stachel, der in der un-
verheilten Wunde zurückblieb. Solche Naturen sind durchaus
nicht unmoralisch, sondern eher zu moralisch, wenn dies zu sagen
gestattet ist, d. h. die Moralität hat bei ihnen keine Gränze und
wird nicht als ein blosses Glied in das höhere religiöse Leben
aufgenommen. Ich glaube aber, dass jeder feinfühlende Mensch
in sich die Gefahr solcher endlosen Gewissensqualen kennen
wird, und will als Beispiel dafür nur Lessing anführen, der die
Ewigkeit der Höllenstrafen dadurch beweisen wollte, dass uns
bei zunehmender moralischer Vervollkommnung die früheren
Sünden immer tiefer schmerzen müssten und mithin niemals ein
Ende dieser Höllenstrafen eintreten könnte. Lessing würde nun
vollkommen Becht haben, wenn er uns zwingen könnte, das enge
Gesichtsfeld, auf das er sein Auge richtet, für immer beizube-
halten; denn wer wollte läugnen, dass die That, etwa ein Mord,
den Thäter, wenn er Gewissen hat, immer schmerzen wird, so
oft die Erinnerung daran wieder in's Bewusstsein tritt. Allein
so hoch der Himmel über der Erde steht, so hoch erhebt sich
die Religion über die blosse Moral Es ist das Grösste und Herr-
lichste an der Keligion und ein Zeichen ihrer Majestät im Reiche
des Gemüthes, dass sie im Stande ist, selbst diejenigen Wunden
und Schmerzen zu heilen und zu stillen, die in uns durch die
Macht des Gewissens entstehen. Doch wie ist da zu helfen und
zu rathen, wo selbst der scharfsinnige Lessing, der sich noch
dazu auf Sokrates und Leibnitz berief, keinen Ausweg wusste!
Allein gerade der Scharfsinn verdunkelt die Frage;. denn er be-
schäftigt sich immer mit dem Einzelnen. Hier aber hilft allein
das höhere speculativ combinatorische Vermögen, durch welches
aUes Einzelne in Coordination gesetzt wird, und man muss beide
ie
^S^'
332 Religion der Sünde.
geistigen Vennögen auf gleiche Weise iD*s Spiel setzen, um die
Wahrheit zu erkennen. Ist eine Dissonanz nicht hässlich? Und
wird sie nicht durch Ueberfllhrung in Accorde unentbehrlich und
schön für den Genuss des Oanzen ! Wenn Adam nicht gesündigt
hätte, sagen mit Recht Kirchenlehrer, so wäre keine Erlösung
gewesen und Gott nicht Mensch geworden, wie es denn im Liede
heisst: „Gott sei gepreist ob Adam's Fall!" Wenn man die
Folgen und Zusammenhänge in der eigenen Seele und in der
Geschichte übersieht und alle übersehen könnte, so würde sich
durch Erkenntniss der Wege der göttlichen Frovidenz das Ge-
müth nothwendig entlasten von dem trostlosen Gram um die
Sünde. Im Glauben wird diese Erkenntniss vorweggenommen,
und so ist Heilung der Gewissenspein durch religiöse Erhebung
möglich und wirklich; denn die göttliche Providenz erstreckt sich
auf beide Theile, auf den Sündigenden und auf den, an welchem
die Sünde begangen wurde, und wie Jemand eine Eselin verliert,
aber ein Königreich findet, so weiss der Glaube auch zu zeigen,
dass die Führung Gottes Alles zum Besten leitet und Alles in
seinen Weltplan eingeschlossen hat. Darum wird nun der scharf-
sinnig spürende Blick sich nicht mehr auf den Einen schlimmen
Punkt beschränken, wo der Stachel des Gewissens wühlt, son-
dern er wird abgelenkt auf die Folgen und das Ganze und geht
in die harmonisch combinatorische Anschauung, über, die von
einem religiösen Frieden der Seele begleitet wird. — Also ist
die Trostlosigkeit einiger Menschen bei ihrem Sündenbewusstsein
zwar nicht unmoralisch, aber nicht religiös.
Doch hiervon war nur nebenbei zu handeln. Es
der sühiiQog fragt Sich aber, wodurch die Sühnungen auf die mei-
diireh Opfer g^^jj Menschcu so wirken, dass ihr Schuldgefühl sich
beruhigt. Dass in der unreinen Rechtsreligion die
dargebrachten Opfer und Gebete eine ähnliche Wirkung aus-
üben, wie in der Furchtreligion, ist natürlich; man hat ja mit
dem Rechtsgott den zürnenden Furchtgott vereinigt, und so wird
es begreiflich, dass er sich durch Bitten, schmeichlerische De-
müthignngen unsererseits und die höchsten Lobpreisungen seiner
Person und Macht, sowie durch Geschenke u. dergl. versöhnen
lässt. Die Versöhnung des projectiven gefürchteten Gottes ent-
fernt dann auch die Furcht vor seiner Strafe und entlastet das
unreine Schuldbewusstsein, das wegen seiner Unreinheit immer
uiymzeu uy V^jOOV IC
Die unreine Rechtsreligion. 333
an's Gericht denkt ^Gehe mit uns nicht in's Gericht", „ver-
schone ans mit Deinem Gericht **, „eriasse uns unsere Sünden
und lass ab von Deinem gerechten Zorn** u. s. w. — so lauten
die unreinen Gebete, die vorherrschend von der Angst vor der
Strafe, wie in der Furchtreligion, getragen werden.
Die asketischen Sühnungen sind psychologisch
ihrer versöhnenden Wirkung nach ebenso wie in der de/süb^ang
Furchtreligion zu erklären, da die Büssung, die der ^^'^'^ ^"^^*'*-
Mensch sich auferlegt, den Zorn des projectiven Furchtgottes be-
ruhigen muss und die Angst des Menschen demgemäss sich ver-
lieren kann. Zugleich haben sie aber auch ein Element aus der
Beligion der Sünde, sofern die durch die Sünde entsprungene
oder offenbar gewordene Uneinigkeit der Menschen mit sich und
seine Ungerechtigkeit durch die Werke der Askese aufhört und
der Sieg des festen nnd starken, die Leidenschaften streng unter-
jochenden Willens zu Tage tritt Nun ist ja die mögliche Einig-
keit des Menschen mit sich durch die Herrschaft des Willens
bekundet. Da die Askesen und Easteiungen aber an sich selber
gar keinen Werth haben und nicht etwa einem Leben in Gerech-
tigkeit gleichkommen, so können sie auch nur als Reactionen
betrachtet werden und geben keinen vollkommenen Frieden, son-
dern mindern das Schuldgefühl, das mit seiner Erinnerung an
die ehemaligen Sünden jetzt durch gegenwärtige Beweise wirk-
lichen schmerzlichen Gehorsams gewissermassen aufgewogen wird.
Die volle Erlösung und die Freude und der Friede Gottes kann
dabei also auch nur als Hofihnng erscheinen, und kein Büsser
kann ein religiös befriedigter Mensch sein.
Was endlich die Stellvertretung anbetrifft, so
, _. , -. , -, , . , . Wlrkaamteit dar
muss man m der Sühnung, die dadurch erreicht sabnnnff durch
werden soll, zwei Elemente unterscheiden. Möge es Stellvertretung.
sich nämlich um stellvertretendes Leiden oder Verdienst handeln,
so kann die zu gewinnende Sühnung entweder juristisch aufge-
fasst werden, oder als eine Aneignung im Glauben von Seiten
des Gläubigen zu Stande kommen. Dieser zweite Vorgang ist
der höhere und kann erst bei der Darlegung des Ghristenthums
seinen Platz finden; die juristische Auffassung aber gehört in
die unreine Form der Rechtsreligion. Da wir in dieser nämlich
den Rechtsgott haben, der wegen seines gefährlichen Zornes über
die Sünde, die er rächen will, auch der projective Furchtgott ist,
uiuiuzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
334 Beligion der Sünde.
80 kommt es darauf an, unsere Vorstellnng von dem Gotte zu
verändern, wenn eine Sühnung wirksam werden soll. Bei allen
Stellvertretungen nun und auch bei dem Lamm Gottes, welches
trägt die Sünden der Welt, denkt der Gläubige an die Wirkun-
gen, welche der Anblick des unverdienten, stellvertretenden Lei-
dens auf Gott ausüben muss. Da der Gläubige nun selbst bei
solchem Anblick der Rührung und des Erbarmens theilhaftig
wird, so kann er nicht anders als auch Gottes Zorn dadurch
weggenommen denken und wird also mit der Veränderung seiner
Vorstellung von Gottes Stimmung auch von seiner Angst vor
Gottes Strafgericht befreit und erlöst, weshalb er dem Stellver-
treter in herzlicher Dankbarkeit und Liebe seinen Dienst und
seine Treue geloben kann. Die Unreinheit dieser Religion liegt
aber darin, dass die Furcht vor der Strafe das treibende Motiv
ist und dass nicht eigentlich die Sünde aus dem Herzen, son-
dern nur die gefährliche Wirkung derselben bei Gott weggenom-
men werden soll. Dass dabei mittelbar auch eine gewisse rei-
nigende Wirkung auf das Herz ausgeübt wird, ist natürlich, da
die Anerkennung des Gesetzes und der Pflicht des Gehorsams
dadurch beträchtlich zunehmen wird; denn selbst da, wo gar
keine eigene Gefahr vorliegt, wie z. B. bei den französischen
Prinzen, bei deren Unarten ein Prügelknabe gestraft wurde, muss
das Mitleid einen reinigenden und bessernden Einfluss aus-
üben, obwohl diese ganze pädagogische Massregel von sittlichem
Standpunkte aus höchst verwerflich ist.
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Fünftes Capitel.
Der sociale Charakter der Religion.
Genau genommen hätte die sociale Seite der Religion von
Anfang an bei jeder Form erörtert werden müssen; es gewährt
aber grösseren Vortheil fUr die Betrachtung, wenn man seinen
Blick gleich über mehrere Formen schweifen lassen kann. Darum
habe ich diese Erörterung an das Ende der projectiyischen
Religionen gestellt
§ I. Religiöse Geselligkeit überhaupt.
Schleiermacher meinte in seinen Reden über die j^.^ ^jj ^^^^^^
Religion, dass der Mensch seine Begriffe und Ur- segrAndaug
theile für sich behalten könne, aber bei seinen Ge- "^"^* schwer
fühlen und Wahrnehmungen, bei denen die Sinne macber'whcn
sich leidend verhielten, von Natur den Trieb zur t*»«<>^-
Mittheilung, also zur Geselligkeit habe. Da ihm nun die Reli-
gion ursprünglich und wesentlich Gefühl ist, so nimmt er für
die Begründung der Kirche nur diesen besondem Naturtrieb
zur Geselligkeit in Anspruch.
Diese Begründung ist ebenso einseitig und verkehrt, wie
Schleiermacher's ganze Auffassung von der Religion. Sie be-
ruht auf der oben (S. 31) charakterisirten falschen Vorstellung
von den Gefühlen, die er sowohl dem Willen, als den übrigen
Geistesthätigkeiten entgegengesetzt. Wenn er daher dem Ge-
fühle ein Mittheilungsbedürfhiss zuschreibt, so ist daran richtig,
dass jedes Gefühl Bewegungen auslöst und auf diese Weise sich
nothwendig mittheilt oder äussert, wie oben (S. 62) bewiesen;
wenn er aber glaubt, dass dies bloss seinem sogenannten Ge-
fühle und nicht auch dem Willen und der Erkenntniss zukäme,
so fehlt dabei die Einsicht, dass die Gefühle und der Wille das-
selbe sind und dass die ganze Gefühls- oder Willensregion
uiymzeu uy "V-j v-/ v^'pc l V-
336 Religion der Sünde.
sich einerseits dem Erkenntnisselement zuordnet, von welchem
sie erst ausgelöst werden muss, andererseits aber Bewegungen
hervorruft, die ebenso gut auf das Gedachte und Vorgestellte
wie auf den vermittelnden Willen oder das Gefühl bezogen werden
können. Denn z. B., wenn Jemand den Drang hat, seine Ge-
fühle sclüeiermacherisch mitzutheilen, so wird er doch eben die
Vorstellungen und das in seiner Erkenntniss vorhandene Object,
welches ihm das Gefühl erregte, zur Mittheilung bringen; er wird
also etwa von dem Tode seines Kindes, von der Hochzeit,
die er zu feiern beabsichtigt, u. dergl. reden. Also kann
man ebenso gut sagen, dass die Vorstellungen zur Mitthei-
lung drängen, da sie ja die zugehörigen Gefühle auslösen.
Man sieht also, dass wegen des Goordinationssystems unserer
geistigen Functionen die vom Willen angeblich verschiedenen
Geilihle die Rolle nicht spielen können, die ihnen Schleiermacher
aufträgt
Ausserdem muss man die ganze Frage etwas grösser an-
fassen. Denn die Geselligkeit ist ein metaphysisches Ver-
hältniss, da nicht Erscheinungen mit Erscheinungen in Gesellschaft
stehen, sondern metaphysische Wesen. Die Erscheinungen
sind Vorstellungen von Objecten, welche als ideelle Bewusst-
seinszustände in den Personen vorkommen; die Personen selbst
aber sind wirkliche Wesen, die mit anderen wirklichen Wesen
in einem realen Verkehr stehen. Man sollte dies für selbst-
verständlich halten; aber zu Schleiermacher's Zeit war der Mensch
nur eine objeetive Erscheinung (ein Spinozischer Modus), weil
man damals ftlr das Unendliche schwärmte^), und zu unserer
Zeit ist der Mensch für die weitverbreiteten Positivisten nur
eine subjective Erscheinung, ein Vorstellungsbild, das von
keinem wirklichen Wesen gesehen wird, weil man viel zu be-
scheiden ist, um sich für ein wirkliches Wesen zu halten, und
zugleich zu bescheiden, um zu wissen, was ein wirkliches Wesen
ist, so dass die erste Bescheidenheit wegen der zweiten zwar
lächerlich wird, aber dennoch mit ihr vollkommen übereinstimmt,
weil sie beide zusammen erst die vollkommene Kopflosigkeit
dieser positivistischen Meinung ausdrücken.
*) Auch Lotze, der leider niemals zu festen Begriffen kam, hat sich
zuletzt in seiner Metaphysik verleiten lassen, wieder zu dieser hellenischen
Meinung zurückzukehren.
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Socialer Charakter der Religion. ^3*^
Wenn nun die Geselligkeit ein metaphysischer, d. h. zwischen
wirklichen Wesen in wirklichen wechselseitigen Handlungen sich
vermittelnder Verkehr ist, so konunt sofort die Teleologie in
Frage, da die Beziehung der Wesen zu einander nicht zufällig
sein kann, sondern ihre zureichenden Zweckgründe haben muss.
Nun beruhen, wie ich das in meiner Schrift „über das Wesen
der Liebe^^ dargelegt habe, die Beziehungen der Menschen darauf,
dass sie untereinander in sich die geistigen Thätigkeiten aus-
lösen und zur Entwickelung bringen. Aber nicht dies ist unsere
Frage hier, dass wir diese socialen Formen eintheilten und
charakterisirten, sondern wie wir die religiöse Geselligkeit be-
greiflich machen. Denn daftlr bloss die starke Erregung des *
frommen Gefühls mit Schleiermacher heranzuziehen, ist nicht
einmal durch die Erfahrung an die Hand gegeben, da ja be-
kanntlich auch sehr starke Gefühle vorkommen, wie die des
Diebes und Mörders, die zur Einsamkeit und zu ängstlicher
Schweigsamkeit führen, und da gewisse starke religiöse Gefühle
auch, wie die Geschichte lehrt, zur mönchischen Selbsteinsperrung
und zum heiligen Gelöbniss ewigen Schweigens veranlassen
können. Auch hat Schleiermacher, wenn er bloss die Gefühle
im Gegensatz zu der Erkenntnissthätigkeit für die Geselligkeit
in Anspruch nehmen will, wohl nicht an die fast grösste Gesellig-
keit in den Schulen und Universitäten gedacht, wo doch nicht
bloss unbestimmte und unsagbare Gefühle mitgetheilt zu werden
pflegen.
Die Schwierigkeit unserer Frage liegt aber darin, dass eine
religiöse Geselligkeit eigentlich nur zwischen dem Menschen
' und Gott stattfindet, lieber die pantheistische Form dieses
Verkehrs, wobei der Gott zur Natui* und zu einzelnen Individuen
wird, müssen wir später handeln; hier aber, wo wir uns auf die
projectivischen Religionen beschränken, müssen wir schliessen,
dass der Verkehr der Menschen untereinander immer nur in-
direct ein religiöser werden kann, nämlich durch den Umweg
über das Gottesbewusstsein und in Beziehung auf das Gottes-
bewusstsein. Wir werden also nur diejenige Geselligkeit eine
religiöse nennen, die aus keinem anderen Grunde erklärt werden
kann, als durch das jedesmal zugehörige Gottesbewusstsein.
Wir werden daher die Geselligkeit schlechthin teleo-
logisch aus dem wechselseitigen Bedürfniss der Personen er-
Telohmnller, BellglonsphilMophle. uiymzeu l^^jOOQLC
338 Religion der Sünde.
klären, sofern die Auslösung der geistigen Funetionen von dem
Verkehr abhängt; die religiöse Geselligkeit aber specifisch
aas den Coordinationen, in welche die allgemeinen Bedingungen
der Geselligkeit sich mit dem Gottesbewusstsein setzen. Statt
daher mit Schleiermacher zu wähnen, als wolle nur ein Uber-
yolles Gefühl tiberströmen zur Mittheilung und dadurch Ge>
selligkeit begründen, werden wir fragen, ob nicht auch leere
Gefässe yorhanden wären, die ein Verlangen nach AnfUliung
hätten. Denn wenn sich blosß Mittheilungslustige zusammen-
fänden, so wttrde Keiner den Andern zu Worte kommen lassen.
Die Menschen sind eben keine vollkommene Automaten, sondern für
ihre Functionen yon der zugeordneten Function der* anderen
menschlichen Wesen abhängig, so dass die erst zusammen ein
Ganzes bilden und daher nach Ergänzung oder nach Inte-
gration streben. Der Productive liebt den Receptiven und der
Hörer den Erzähler, der Starke den Schwachen und ein Geschlecht
das andere. Was Wunder also, dass sofort der specifische Anfang
aller religiösen Geselligkeit in dem Gegensatz zwischen Laien
und Priestern liegt; denn der Eine giebtRath, Gewissheit, Offen-
barung, Erregung des Gefühls und Beruhigung des Gefühls, und
der Andere bedarf alles dieses.
Ich lasse deshalb die Schleiermacher'sche Ableitung der
religiösen Geselligkeit nicht gelten, da der von ihm allein an-
gefahrte Naturtrieb zur Mittheilung in Wahrheit nichts anderes
ist, als die allgemeine Goordination des bewegenden Vermögens
zum Gefühl. Durch diese Goordination wird allerdings bei jedem
Gefühl eine Bewegung ausgelöst. Allein jenachdem wieder
die Vorstellungscoordinaten für das Geflihl waren, mnss
die Bewegung entweder zu bestimmten praktischen Thätigkeiten
führen oder zur Kunst Die Kunst ist aber nur indirect ge-
sellig, da sie ihren Zweck ursprünglich nicht in den Bedürfnissen
und Trieben des Publikums nimmt und auch nicht nehmen darf,
wenn sie nicht banausisch werden will. Nur sofern die Andern
das gleiche Mittheilungsbedürfniss haben, ohne die Kunstanlage
zu besitzen, wird die Kunst gesellig; denn sofern die Andern
sich an der Leistung freuen und durch dieselbe die in ihnen
gebundenen Vorstellungen und Gefühle zur Auslösung kommen,
fangen sie mit an zu singen und zu springen und nehmen so
receptiv an der productiyen Thätigkeit Antheil. Die direct
uiyiiized by VjOOQIC
Socialer Charakter der Religion. 33d
gesellige Thätigkeit ist aber ihrem Zwecke nach sofort auf die
Andern gerichtet. Und so mnss auch die specifisch religiöse
Geselligkeit ausser dem'Naturtriebe unmittelbar in dem Interesse,
in der Pflicht und der Liebe ihre Motive haben. Während die
Liebe sich aber erst in der höchsten Religion , im Ghristenthum,
findet, so fängt die Pflicht schon mit der llechtsreligion an; denn
wer die Gebote erkennt, hat die Pflicht zu gebieten, und so ist
der Grund zur Geselligkeit unmittelbar vorhanden. In der
Furchtreligion aber kann auch der gemeinsame Yortheil zur Ge-
selligkeit treiben, da der Mensch als Mitstreiter Gottes theils Natur-
gewalten, theils die menschlichen Feinde Gottes bekämpfen muss,
wie deshalb auch der Islam nicht aus Menschenliebe und nicht
um die sittlichen Gesetze zu verkündigen, sondern um die Herr-
schaft Allah's über seine Feinde auszubreiten, zu geselliger Ver-
einigung und IM einer Art von missionirender Thätigkeit ge-
kommen ist
In der Furchtreligion beruht die zugehörige
Geselligkeit auf dem Interesse, welches durch das
zugeordnete Gottesbewusstsein bestimmt wird. Denn der Vater
hat das Interesse, den Schutz des Hausgottes auch auf die
Kinder auszudehnen, und bald führt das gemeinsame Interesse
auch den ganzen Stamm oder die Nation dahin, für die Ernten,
Regen und Sonnenschein, Abwendung von Krieg oder Erlangung von
Sieg u. dergl. einen nationalen Cultus auszuüben und in gemein-
samen Festen dem Gotte zu opfern, seinen Zorn zu beschwichtigen,
sejne Güte und väterliche Gunst zu preisen. Daher finden wir
bei den Wilden und auch bei den civilisirten Griechen viel Ge-
selligkeit in der Religion, grosse nationale Spiele, Theater, Pro-
cessionen u. dergl. Wie sie der Minerva gemeinschaftlich das
neue Gewand (TtdTrXov) in grossartiger Procession überreichten,
so wird auch heute noch die Jungfrau Maria in Spanien und
Italien neu gekleidet, und solche Geschenke werden ihr nach dem
Typus der Furchtreligion in religiös - geselligen Akten als Dank
flir erwiesene und als Lockung für weiter zu erwartende Wohl-
thaten zugeführt. Darum ist in der Furchtreligion die Gesellig-
keit mit deip ganzen nationalen und politischen Leben vereinbar,
und Fürst und Volk haben das gleiche Interesse am Gottes-
dienste, da der Gott das Interesse des Volkes vertritt und zur
projectiven Nationalidee übergeht.
Digitized b'jj^i
.poogk
ä4Ö Religion der Sünde.
Der Inhalt dieser ganzen religiösen Geselligkeit ist zunächst
die Furcht, Hoffnung und Dankbarkeit, dann die zugehörigen
Vorstellungen von Gott und seiner Gemüthsart, endlich sowohl
die Thaten, welche Gott zugeschrieben werden und wodurch er
uns geschadet oder geholfen, als auch des Menschen Thaten,
wodurch er unter .göttlicher Assistenz oder gegen göttlichen
Willen Güter oder üebel erlangt hat, sowie die geheimen
Mittel, wodurch er die Gemüthsart Gottes zu seinem Vortheil
zu lenken wusste. Von all diesem sprechen deshalb die reli-
giösen Lieder und Epopöen der Völker, und diesen Inhalt des
Geistes theilen sie sich einander mit in der religiösen Gesellig-
keit. Auch die prophetischen Schriften der Israeliten haben zu
einem nicht geringen Theile denselben Inhalt, da das Judenthum
ja eine unreine Kechtsreligion ist und daher die Elemente des
reinen sittlichen Geistes nur immer in der grossen aus dem
positiv elektrischen Nebel der Furchtreligion aufgestiegenen Wolke
gewissermassen wie den Blitz verborgen trägt, obgleich dieser
schon das herrschende Element geworden ist und oft mit seinem
Glänze so blendend wirkt, dass Manche darüber die schwere und
dunkle Wolke ganz übersehen.
In der Religion der Sünde aber tritt ein reicherer Inhalt
auf; denn es erschliesst sich mit diesem Gefühl der Sünde, welches
Niemand gern hat, dessen man sich schämt, das wegen seiner
Ursache von Gott und Menschen gehasst wird, dennoch zugleich
die Tiefe des Seelenlebens, so dass ein Mensch, der dieses Gefühl
nicht kennt, auch noch, nicht Mensch geworden ist, sondern nur
als ein intelligenteres Thier betrachtet werden muss. Das £echt
und die Pflicht, Moralität und ein über dem Furchtgott erhabener
Gott des Gesetzes und demgemäss EhrAircht und Gewissen
und alles, was damit zusammenhängt, kann ohne das Gefühl
der Sünde nicht zu Bewusstsein kommen. Mit diesem Gefühl
aber ist zugleich ein unermesslicher Inhalt des Gemüthes für die
religiöse Geselligkeit gegeben. Die Menschen verstehen sich nun
einander tiefer nach den Motiven in ihrem Herzen, sie können sich
achten und verurtheilen, sie können rathend und belehrend sich
beistehen, sie können ihre Gefühle bekennen, gemeinsam sie in
Gesang, Lied und Gebet vor Gott tragen und durch den Priester
und Propheten Antwort vernehmen und von hohen Gedanken und
heiligen Entschlüssen gemeinsam erleuchtet und durchglüht werden.
Socialer Charakter der Religion. 341
Die reine Religion des KechtB findet sich freilich bei keinem Volke,
da die Religion der Furcht immer schon im Herzen Boden gefasst
hat; aber es hindert nichts, aus der religiösen Geselligkeit derjenigen
Völker, bei denen wie bei den Israeliten, Griechen, Germanen u. A.
die Sünde kräftig zum Bewusstsein gekommen ist, die Elemente
des sittlichen Geistes abzusondern. So sind z. B. in den drei
Festen der Israeliten, dem Passah, dem Feste des neuen Brotes
und dem Laubhtlttenfeste, natürlich alle Grundlinien der Feier
auf den Furchtgott belogen , der über die Güter der Natur ver-
fllgt; gleichwohl können darin eingemischte Vorstellungen von
der Sünde und der wiederherzustellenden Einigkeit der Seele
gefunden werden. Und wenn auch der Sündenbock angeblich dem
dualistisch gedachten bösen Gotte Azazel in die Wüste getrieben
wird, so liegt doch in diesem rohen Ritus der Furchtreligion
auch schon das Gefühl der Sünde und des Rechts, da die auf
das Haupt des Widders zu bekennenden Sünden nicht aber-
gläubische Einbildungen über die Erzümung des Naturgottes,
sondern \yirkliche Verletzungen des socialen Rechtes enthalten.
So werden die täglichen Brandopfer, die immer brennenden
Flammen des siebenarmigen Leuchters, die ungesäuerten Brote
und alle die unzähligen knechtischen Formen des Furchtgottes-
dienstefi doch auch immer zu Symbolen sittlicher Vorgänge und
können trotz ihrer abergläubischen Gebundenheit allegorisch ftlr
eine prophetische Rede aus dem Geiste des Rechtes benutzt werden.
Wie nun bei den Israeliten diese drei grossen Feste die
ganze Nation von allen Gegenden her um die Stiftshtttte zu
wochenlanger Geselligkeit zusammenftlhren sollten, und wie dazu
der Anlass zwar in den Motiven der Furchtreligion lag, nämlich
in den Geftihlen der Furcht, der Dankbarkeit und der Hoffnung,
während der Inhalt der Gemeinschaft durch die Motive der Rechts-
religion vertieft und bereichert wurde: so finden wir Aehnliches
auch bei den Persern, Indern, Aegyptem, Germanen und Hellenen,
wo, wie namentlich bei den letzteren, die im Frühling und Herbste
stattfindenden grossen Fest -Versammlungen, die olympischen,
nemeischen, pythischen, isthmischen Spiele, zu einer nationalen,
religiösen Geselligkeit ftlhrten, durch Untersagung aller Fehden
die auf Interesse beruhenden eigensüchtigen Sonderbestrebungen
durchbrachen und zu einer höheren, objectiven und also sittlichen
Anschauungsweise erhoben. Denn da alle diese Spiele zu grossen
uiumzeu uy x^jvyVjVt Iv^
342 Religion der Sünde.
>
Nationalfegten worden, so musste die engherzige, perspectivische
Weltbetrachtung des Einzelnen sich erweitern, und der gemein-
same Cult des Festgottes bot die natürliche Veranlassung^ um
das Rechtsbewusstsein auf die theologischen Vorstellungen zu
projiciren und demgemäss die Interessen und Pflichten der Nation
zu bedenken.
§ 2. Die speclflschen Formen der politischen Organisation.
Nachdem ich bisher im Allgemeinen die Motive herausgehoben
habe, die in den beiden projectivischen Religionen überhaupt über
das individuelle Bewusstsein hinaus zu einer religiösen Gemein-
schaft führen mussten, ist es jetzt unsere Aufgabe, das Specifische
in der socialen Organisation genau zu bestimmen. Es ist ja von
vornherein einleuchtend, dass die religiöse Weltanschauung in
fester Coordination zu der socialen Organisation der Völker
steht, da die zugehörigen ethischen Motive eine ganz bestimmte
Stellung der Menschen zu einander bedingen.
In der Religion der Furcht ist kein anderes Band der
Menschen untereinander gegeben, als das natürliche Leben, also
die natürliche Gewohnheit, Sympathie und das Interesse. Daraus
folgt mit mathematischer Gewissheit, dass alle Völker dieser
Religion in keiner sittlich und rechtlich geordneten Weise zu-
sammen leben können, d. h. dass sie keinen Staat mit festen
Gesetzen haben, und zwar weder mit Verfassungsgesetzen, noch
mit einem Griminal- und Civilrecht; denn alle diese Bildungen
gehen erst aus einem entwickelten Rechtsbewusstsein hervor.
Mithin gehört zu dieser Religion specifisch entweder die Wild-
heit der Völker, oder die despotische und die patriarcha-
lische Monarchie. Bei allen wilden Völkern ist die Furchtreligion
das dem unpolitischen Zustande zugeordnete Fundament, und
wenn man Spuren sittlichen Geistes in ihren Religionen finden
will, so stammen dieselben entweder aus späteren Umdeu-
tungen, da die sich civilisirenden Völker ihre alten Götter be-
hielten und nur, wie z. B. Pindar und Aeschylus thaten, ihr
höheres sittliches Bewusstsein in die archaische und nicht- sittliche
Mythologie hineininterpretirten, oder aus einer gewissen Prä-
formation, da der Mensch ja auf Sittlichkeit angelegt ist und
deshalb auch in seinen natürlichen Beziehungen eine Analogie
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Socialer Charakter der B«ligion. 343
mit d^n späteren höheren Leben sich darbietet, wie z. B. Sehiller
sagte, die Pflanze könnte uns lehren, dass der Mensch wollend
das sein sollte, was die Pflanze willenlos wäre. Daram werden
ja auch im Neuen Testamente und von den christlichen Kanzel-
rednem die alten Geschichten von Eain und Isaak und Jacob
u. dergL immer so umgedeutet, dass die spätere sittlich-religiöse
Auffassung in jenen bloss natürlichen Beziehungen teleologisch
präformirt zu sein scheint.
Auch das patriarchalische Kegiment und der Despotis-
mus beruhen bloss auf den natürlichen Motiven der Gewohnheit
und einer sich von selbst bildenden Anerkennung der Macht, möge
sie auf kindliche Sympathie oder auf Furcht zurückgehen. Das
kindliche oder väterliche Verhältniss hat zunächst gar keinen
sittlichen Charakter, sondern beruht auf dem natürlichen Abhängig-
keitsgefühl und der Gewohnheit, welche die Festigkeit giebt. Mit
dem Abhängigkeitsverhältniss ist auch immer eine Interessen-
gemeinschaft verbunden, da der patriarchalische König ja seinen
Vortheil von den Unterthanen hat, wie sie von ihm. Bei dem
Despotismus aber tritt das Motiv der Furcht ganz nackt hervor,
und es ist darum interessant, dass gerade in der geschichtlich
am Grossartigsten ausgebildeten Religion der Furcht, ich meine
den Islam, auch der Despotismus als die bis auf den heutigen
Tag allein mögliche Regierungsart erscheint. Man hat in der
neuesten Zeit versucht, in Egypten und auch in Constantinopel
eine Art von Verfassung einzuführen, ohne zu bedenken, dass
dadurch ein Rechtsbewusstsein entstehen müsste, welches dem
Allahglauben tödtlich wäre, oder dass eine solche Verfassung
nur von einem schon vorhandenen Rechtsbewusstsein getragen
werden könnte, welches doch eben im Islam nicht vorhanden ist
Der ächte Muselmann wird zwar seine Interessen schlau i^nd
geschickt zur Geltung bringen auch in einer gesetzgebenden Ver-
sammlung, aber er wird der hohen Pforte gegenüber kein Rechts-
bewusstsein haben, und die Gläubigen werden in den Volks-
repräsentanten nur von der Laune des Herrn bis auf Weiteres
eingesetzte Beamte sehen können, da der Geist des Rechtes in
dem Gesichtskreise dieser Religion nicht vorkommt.
Daher wird die sociale Organisation der niedrigsten Religion
wesentlich' und eigentlich auf die Beherrschung des Volkes
durch die Gottesfurcht gerichtet sein; denn da kein sittliches
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344 Religion der Sünde.
Motiv vorhanden, so kann nnr der Eigennutz, die Habsucht,
Wollust, der Ehrgeiz und die Herrschsucht in Frage kommen,
und diese Motive führen zu einer mehr oder weniger despotischen
Herrschaft der Priester über das Volk. Darum stehen in der
That bei den Wilden und bei allen Nationen, in denen das
Rechtsbewusstsein noch keine socialen Institutionen geschaffen
hat, die Priester an der Spitze, indem sie dem Könige, dem Adel
und der physischen Executive überhaupt nnr eine beschränkte
Freiheit neben sich gewähren können. Je mehr aber der Priester
an dem Aberglauben theilnimmt, desto schwächer wird seine
Politik und desto tiefer steht das Volk; je weniger aber der
Priester glaubt, desto unbedingter kann er herrschen, und diesem
Zustande entspricht der Reichthum und der Ruhm der Tempel
und Orakelsitze, wie die Abhängigkeit der Fürsten von dem
obersten Zauberer oder Propheten. Trotzdem ist eine sehr grosse
Macht des Priesterthums bei dieser Religion der Furcht doch
nicht möglich, weil jede dauernde Organisation immer schon ge-
wisse Rechtsbegriffe erfordert, wesTialb die höchste Blüthe der
Hierarchie erst in der unreinen Rechtsreligion aufkommen kann.
In der reinen Rechtsreligion hat der Prophet, wenn er
das zu ihm gekommene Wort Gottes dem Volke verkündet, auch
das Motiv zu einer socialen Organisation. Da aber in dem sitt-
lichen Bewusstsein keine zeitlichen Machtinteressen vorkommen
und keine Leidenschaften den Ausschlag geben, so kann es sich
nur um die ewigen Normen des Gewissens handeln, d. h. um die
sogenannten Gebote, die das Rechtsleben des Volkes zu regeln
geeignet sind. Darum muss die allmählich aufkommende Rechts-
religion zunächst die Sitten veredeln und dann zu einer Gesetz-
gebung ftihren, die in verschiedenartigen Entwickelungsformen
Criminalrecht, Civilrecht und Staatsrecht begründet Da aber
das Gefühl für die Sünde und die Erkenntniss des Rechts, das
als Wort Gottes an den Menschen kommt, auf keine Weise
bürgerlich einem bestimmten Stande und bestimmten Localitäten
und bestimmten Zeiten zugewiesen werden kann, sondern eben-
sowohl Allen gehört, wie es in besonderem Grade einzelnen von
Gott Erwählten und Inspirirten eigenthümlich ist: so kann es in
dieser reinen Rechtsreligion keinen Tempel, keine Festzeiten,
keinen Priesterstand, keinen Ritus und deshalb auch keine Priester-
politik geben. Um sich aber doch eine deutliche Vorstellung
u.quizeauy Google
Socialer Charakter der Religion. 345
von dem charakteristischen socialen Zustande, den die reine
Rechtsreligiqn in sich schliesst, machen zu können, darf man
sieh an die eigenthttmliche Stellung der Propheten bei den
Israeliten erinnern. Diese standen bürgerlich genommen ausser-
halb des Staates, da sie keine bleibende und gesetzliche Function
ausübten. Sie wurden nicht von der Obrigkeit, sondern von
Gott berufen, und hatten nicht amtlich Gehorsam zu fordern und
nicht persönlich oder ftlr ihren Stand irgend ein Interesse an
der Leitung der Politik. Darum traten Propheten nur dann und
wann auf, jenachdem das lebendige Rechtsgeflihl diesen oder
jenen begeisterte; es gab aber keine Regel der Succession,
keine rechtliche Form dabei, sondern sie kamen von Gottes
Gnaden, wie die grossen Dichter und die grossen Musiker und
Denker. Man kann daher sagen, dass die reine Rechtsreligion
eine unsichtbare Theokratie begründe, indem der projec-
tivische Gott durch das Gewissen und durch den Glauben sowohl
seine Propheten, als auch Fürst und Volk als ihr unsichtbarer
Herr regiert
Erst die unreine Rechtsreligion bringt die sichtbare
Kirche und die Hierarchie; denn indem die Furchtreligion mit
ihren Motiven aufgenommen wird, muss der Gott -einen Tempel
und öffentlich anerkannte Priester haben, die Zeiten des Gottes-
dienstes müssen geregelt werden und die Gläubigen müssen
durch ihre religiösen Handlungen in eine Gemeinschaft treten,
so dass der Begriff einer Kirche als sichtbarer Gemeinde der
durch ihr Gottesbewusstsein und zugehörigen Gnltus vereinigten
Gläubigen entsteht. Sofern nun das Gewissen im Verhältniss
zur Furcht die höhere Macht ist, so muss das Priesterthum sowohl
das Rechtsbewusstsein als die Erkenntniss der Mittel zur Ver-
söhnung Gottes vertreten und dadurch die höchste moralische
Macht im Volke gewinnen, die der physischen Macht des Fürsten
aus psychologischem Grunde nothwendig überlegen ist. Mithin
wird die Politik oder Lenkung der auswärtigen und inneren An-
gelegenheiten des Staates eine unentbehrliche Beschäftigung der
höchsten Priester, die sich zugleich eine officiell anerkannte
Organisation verschaffen müssen, so dass der Charakter der un-
reinen Rechtsreligion nothwendig die Hierarchie ist, d. h. die
mehr oder weniger vollkommene Beeinflussung des gesammten
St^^atslebens durch einen amtlichen Priesterstand. Während es
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346 Religion der Sünde.
nun schwierig war, für die reine Rechtgreligion, die in ihrer
Keinheit gleichBam nur wie durch eine chemische Operation
speculativ dargelegt werden konnte, ein anschauliches Bild aus
der Weltgeschichte zu entlehnen, so wimmelt es umgekehrt von
Beispielen, an denen der Charakter der unreinen Rechtsreligion
gezeigt werden kann. Denn schon die Geschichte der Israeliten
giebt ein Jedermann bekanntes Beispiel und ausserdem stellen
alle die grossen heidnischen Religionen sich als Beispiele dar,
da sie bei dem Fortschritt der Völker zu sittlichem und ge-
schichtlich politischem Leben nothwendig Elemente der Rechts-
religion in sich aufnehmen mussten. Nur der Islam behielt im
Wesentlichen den Charakter der Furchtreligion, da die ganze
Gottesvorstellung nicht auf das Gefühl der Sünde, sondern auf
die Furcht begründet ist und daher der Gült auch nur äusser-
liche Werke verlangt Die aus dem Judenthum und Christen-
thum entlehnten sittlichen Elemente haben auf den Islam keinen
specifi sehen Einfluss ausüben können. Diejenigen aber, welche
eine dichterische und unserem modernen Bewusstsein zugäng-
lichere Ausmalung, des Lebens und Treibens der Hierarchie in
solcher unreinen Rechtsreligion verlangen, kann ich auf den Serapis
des geistvollen Gelehrten Ebers und auf seine früheren ägypti-,
sehen Romane verweisen. Das grösste und imposanteste Beispiel
würde endlich ohne alle Frage das Papstthum bilden, wenn nicht
in diesem doch auch schon der Gehalt der höchsten und allein
wahren Religion des Christenthums überwiegend wäre.
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Sechstes Capitel.
Die Beligionsphilosophie.
Es ist sehr begreifllich^ dass die Religion der Furcht keine
Religionsphilosophiß hervorbringen konnte, da der zugehörige
BilduDgszustand des Geistes zu gering ist, um eine das All um-
. spannende Speculation zu ermöglichen. Dagegen steht der Gläu-
bige der reinen und der unreinen Rechtsreligion schon auf einem
viel höheren Standpunkte, und so ist es nattirlich, dass man sich
auch in philosophischer Weise bemüht habe, den Inhalt seines
Glaubens und Gefllhls begreiflich auszudrücken und zu beweisen.
Die Versuche aus dem Alterthum will ich hier aber übergehen,
weil sie zu viel Elemente aus höherer Bewusstseinsentwickelung
in sich bergen, und will dagegen nur neuere Versuche anführen,
in denen die Äugehörige Religionsstufe reiner zu Tage tritt.
Man darf sich aber nicht wundern , dass im vorigen und in un-
serem Jahrhundert mitten in der christlichen Welt die längst
geschichtlich überschrittenen Religionsformen wieder auftreten,
da es nur die Thorheit falscher Geschichtsauffassung ist, wenn
man die Stufen der sittlichen Gultur und der Religion nach der
Zeit abmessen will, als ob nicht heut zu Tage der Unbegabte
und sittlich Rohe auf derselben geistigen Culturstufe stände, wie
die Unbegabten und sittlich Rohen früherer Jahrhunderte. Wenn
heute ein bekannter Bischof dem Polizeichef, welcher ihm die
Aufwartung macht, den Kopf zurechtsetzt, weil er das abgekürzte
Kreuz der sogenannten Gebildeten geschlagen habe, während er
das grosse Kreuz schlagen müsse, welches Leib, Brust und Kopf
ordentlich beschütze und den Teufel gehörig in Angst jage: so
steht diese Theurgie ganz auf dem Standpunkte der Furchtreli-
gion, und ein solcher Gläubiger des neunzehnten Jahrhunderts
nach Christi Geburt muss mit einem Wilden Innerairika's vom
neui^ebnten Jahrhundert vor Christi Geburt in dieser Beziehung
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348 Religion der Sünde.
auf eine Linie gestellt werden, wenn auch seine sonstigen Kennt-
nisse, seine Kleidung, seine Sitten und seine Stellung im Staate
ihn übrigens auf eine viel höhere Stufe heben. Darum können
sich auch philosophische Theorien von Jahrhundert zu Jahrhundert
erhalten oder wiederholen, auch wenn ihre Widersinnigkeit längst
erwiesen ist; denn es steht nichts im Wege, dass dem Einzelnen
die widerlegende Literatur unbekannt blieb, oder dass seine
Begabung nicht hinreichte, um die tieferen Gründe einzusehen
und einen höheren Standpunkt zu fassen. Wir werden dies an
Beispielen deutlich erkennen, wobei gefeierte Namen leider in
pin ungünstiges Licht gerückt werden müssen. Es ist hier aber
nicht unsere Pflicht, die Mängel von sonst verehrungswürdigen
Männern aus den culturhistorischen und biographischen Zusam-
menhängen zu erklären; denn wir wollen hier nicht anklagen
und vertheidigen, sondern nur erkennen.
In seinem Nathan zeigt Lessing, dass er die re-
stondpnnkt. Ugiösen Vorstellungen flir unbeweisbar und flir gleich-
gültig hält, indem er Judenthum, Islam und Ghristen-
thum in eine Linie rückt und die wahre Religiosität bloss
in Sittlichkeit setzt. Er steht also im Wesentlichen auf dem
Standpunkte der reinen Rechtsreligion, da er auch seine Vor-
stellungen von Gott nach dem sittlichen Motive ausbildet. Dass
er das Wesen des Islam als einer blossen Furcht- und Macht-
Religion und den nichtsittlichen Charakter desselben nicht er-
kannt hat, ist in die Äugen fallend.
Nehmen wir seine Abhandlung über die Erziehung des
Menschengeschlechts, so soll in der ersten weltgeschichtlichen
Periode sittlich gehandelt werden aus Furcht vor Strafe und aus
Hoffnung auf Lohn im Diesseits (Stufe des Judenthums), in der
zweiten aus denselben Motiven mit dem Unterschiede, dass die
Execution erst im Jenseits eintrete (Stufe des Christenthums);
die dritte und höchste noch zu erwartende Periode soll ein Han-
dehi um der Pflicht willen und ohne Rücksicht auf Lohn herbei-
führen. Man sieht, dass seine beiden ersten Perioden nur zwei
Modificationen der von mir so genannten „unreinen Rechtsreligion"
bilden und dass Lessing's Ideal in die von mir als „reine Rechts-
religion" beschriebene Form fallen muss. Lessing hatte deshalb
vom Wesen des Christenthums keine Ahnung, wie er überhaupt
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Religionsphüosophie. 349
die specifischen, qualitativen Elemente in dem Wesen der ver-
schiedenen Religionen nicht zn scheiden verstand.
Diese sehr ungünstige Beurtheilung des Standpunktes Les-
sing's, der doch wohl trotzdem als Persönlichkeit und Schrift-
steller einem Jeden von uns sympathisch bleibt, kann leider auf
keine Weise gemildert werden, da Lessing's philosophischer
Horizont dui*ch Spinoza abgesteckt wurde, und Leibnitz nicht die
Kraft besass, ihm die Pforten einer höheren Weltanschauung zu
zeigen. Spinoza's Welt ist nur die Erde, und sein Qott lebt
bloss in den irdischen Phänomenen; seine Religion dreht sich um
Macht und Recht und um einen rein wissenschaftlichen Erkennt-
nissprocess. Wie wenig Lessing selbst das Wesen des Sittlichen
verstand, sieht man aus den Briefen an Mendelssohn, wo er das
Mitleid als die höchste Tugend feiert und den mitleidigsten für den
besten Menschen erklärt, ohne zu bemerken, dass das Mitleid *'
ein natürlicher Aflfect ist und der Leitung der Vernunft bedarf,
während der beste Mensch doch keine Leitung mehr nöthig hat,
sondern selber Alles richtig und vollkommen macht, wie er auch
allen Anderen die Norm giebt
Ueber Eant's Standpunkt habe ich schon oben ^^^^.^
(S. 17 u. 318) gehandelt. Ich will hier in der Kürze Beiigionsphuo-
zeigen, wie erzwischen der reinen und der unreinen "°^^^^"
Rechtsreligion balancirt. Den Menschen setzt er aus Sinnlich-
keit und Vernunft, Form und Materie zusammen. Die Sinnlich-
keit als bleibender Bestandtheil ist und bleibt die wesentliche
Ursache des Bösen, welches daher nothwendig radical sein muss,
weil die Sinnlichkeit zum Wesen des Menschen gehört Die
Vernunft aber als Formprincip ist ebenso wesentlich und ver-
langt logische Allgemeinheit des Motivs. Da die Sinnlichkeit
mit ihren Trieben das Particuläre und Individuelle vertritt, so
erscheint das Allgemeine ihr gegenüber als Gesetz, und der Wille
demgemäss unter der Sinnlichkeit als unfrei und böse, unter dem
Gesetz als frei. Mithin ergiebt sich ein ewiger Process, indem
die Vernunft ewig Unterordnung unter ihr allgemeines Gesetz
fordert, die Sinnlichkeit ewig den vom Gesetz unabhängigen par-
ticulären Trieb liefert.
Nun setzt Kant, um zur Religion überzugehen, das Ich in
die Sinnlichkeit. Also muss das Gesetz der Vernunft auf ein
anderes Wesen, auf Gott zurückgeführt werden, der nun unbe-
uiumzeu uy VwJ v^vJSx Iv^
350 Religion der Sünde.
dingte moralische Autorität erhält und heiliger Gesetzgeber wird.
Da nun die Vernunft nicht sinnlich und natürlich ist, so muss
das Sittengesetz übernatürliche Offenbarung an den Menschen
sein, der ja (freilich ohne Grund) allein in die Sinnlichkeit -ge-
setzt wurde. Mithin ist die Pflicht, durch die Allgemeinheit der
Vernunft sich formen zu lassen, nun eine Pflicht gegen Gott;
die Religiosität kann aber in nichts anderem bestehen^ als in
der formalen Regulirung der Triebe, d. h. in einem sittlich-recht-
lichen Leben. Eine Gemeinschaft des Menschen mit Gott ist
unmöglich, weil das Ich in der Sinnlichkeit liegt, und weil diese
mit der Vernunft ewig unvereinbar bleibt. Mithin ist Gott ewig
transscendent, der Heiligungsprocess des Menschen ein endloser,
und der Gott bleibt ewig Herr und Gesetzgeber, wie der Mensch
ewig unter dem Gebote der Pflicht steht, das er nie zu einer
Sache der Neigung und Liebe machen kann, weil der Gott sonst
sofort aus dem Himmel verschwinden und in die Vernunft des
Menschen aufgehen würde.
Soweit reicht die reine Rechtsreligion in Kant*s Gedanken
hinein; die unreine beginnt mit der Betrachtung, dass die Sinn-
lichkeit als gleichwesentlicher Bestandtheil des Menschen, immer
Lust, also Belohnung verlangt Um der Reinheit der Pflichter-
ftillung willen versagt Kant mit Lessing diesen Lohn im Dies-
seits, hält aber, da der Gott auch als Naturgesetzgeber aufge-
fasst werden muss, die Nothwendigkeit einer künftigen Aus-
gleichung fest. So wird nun im Stillen der religiöse Glaube
eudämonistisch, d. h. auf Glückseligkeit begierig, und hegt be-
ständig diese Hofibung auf das höchste Gut, wo Lust und Pflicht,
wie Materie und Form zusammenstimmen. Darin liegt der Cha-
rakter der unreinen Rechtsreligion.
Diese ganze Religionsphilosophie ist aber überhaupt etwas
zweifelhaften Ursprunges, da die Kritik der reinen Vernunft die
Erkennbarkeit Gottes und der Seele läugnet. Also haben wir
nicht mit Begriffen und ächten Erkenntnissen, sondern nur mit
unkritischen Vorstellungen zu thun. Die ganze Theologie Kant's
ist nur Postulat aus dem sittlichen Gebiet und nur durch fehler-
haften Gebrauch der Kategorien der Causalität und der Sub-
stanz entstanden; denn wenn wir die Causalität nicht in ver-
botener Weise gebrauchen, kommen wir nicht auf einen trans-
scendenten Urheber des Sitten- und Naturgesetzes und ohne
u.quizeauy Google
ReligioTisphilosophie. 351
verbotene Anwendung der Substanz nicht auf Gott und die *
Seele als Wesen. Also ist nach Kant's kritischem Geist die
ganze Religion eine Bastardbildung der Vorstellung, und es ist
mir sehr fraglich, ob er damit mehr als eine Anpassung an den
herrschenden Glauben und mehr als eine nach seiner Meinung
nöthige moralische Purificirung desselben hat geben wollen.
Der philosophischen Begründung nach ist also der Werth
dieser Religion Kant's null; inhaltlich aber balancirt sie zwischen
der reinen und der unreinen Rechtsreligion.
Es ist interessant zu sehen, wie die Verzweiflung
über die Haltlosigkeit des speculativen Idealismus von Thldufgj*
Schelling und Hegel die Theologen, die doch eine
philosophische Grundlage brauchen, zu dem Kant'schen Stand*
punkte zurücktrieb, der wenigstens mit der modeinen Natur-
wissenschaft verträglich schien und auch dem Glauben Spielraum
gewährte, da er die Metaphysik zerstört hatte. Deshalb musste
seltsamer und doch begreiflicher Weise Kant von der ungläubi-
gen und gläubigen Seite in gleichem Masse gefeiert werden.
Der ansehnlichste Name unter den Theologen dieser Farbe
ist der von Ritschi, der auch eine Menge von Schülern in Be-
wegung gesetzt hat. Die Göttinger Theologie gewinnt nun ihren
Ausgangspunkt, indem sie die erkenntnisstheoretische Kritik von
Kant aufnimmt und daher mit Beseitigung der Metaphysik alle
eigentliche Wissenschaft auf das Gebiet der Erfahrungen be-
schränkt. Diesen positiven oder exacten Wissenschaften wird
deshalb volle Freiheit gelassen und Weihrauclj gestreut, weil sie
ja in das Gebiet des Glaubens sich nicht einmischen können;
denn von Gott kann ja der Naturfoscher nichts sagen und weder
Ja noch Nein über irgend einen Satz der Dogmatik laut werden
lassen, da diese Dinge keine Naturerscheinungen sind.
Während man sich früher mit dem Verhältniss von Sein und
Denken (Wissen) plagte, so bleibt jetzt beides unbeachtet, doch
findet man neben den Gegenständen der äusseren Erfahrung ein
Gebiet des Gefühls unbesetzt, durch welches Werthbestimmun-
gen in die Welt kommen. Diese Gemtithswelt ist der Gegen-
stand der Ritschrschen Theologie; denn die Naturgesetze wissen
ja nichts von Geftlhlen und mischen sich deshalb nicht störend
in die Religion ein. Ritschi geht deshalb von dem Gefühl der
Sünde aus, das man ja beschreiben und auch bedienen
u.quizeauy Google
352 Religion der Sünde.
kann; denn es zeigt sich sofort, dass der Mensch in jenem 6e-
ftlhl unglücklich ist und ein Seligkeitsinteresse hat. Zwi-
schen diese beiden Endpunkte schiebt sich nun die ganze Göt-
tinger Theologie ein. Unter Christen kann man nämlich christ-
liche Vorstellungen voraussetzen und die Sprache der heiligen
Schriften unbeanstandet gebrauchen. Man nimmt daher aus
diesem Yorstellungsgebiet die» zugehörigen bekannten Ausdrücke
und stellt eine Glaubenslehre nach dem Massstabe unserer sitt-
lich-religiösen Geftlhle auf; denn der Sünde entspricht ein zür-
nender Gott, der Busse verlangt; dem Seligkeitsbedürftiiss ent-
spricht ein gnädiger Gott, der sich offenbart und ^Erlösung dar-
bietet. Sofern nun &iese Gefühle und Bedürfnisse in der christ-
lichen Gemeinde vorhanden sind, müssen die darauf zugeschnit-
tenen dogmatischen Vorstellungen Geltung haben.
Diese Theologie ist ausserordentlich bequem, weil die Mühe
des Denkens dabei erspart bleibt; denn die Metaphysik ist ja
abgeschafft; mithin handelt es sich nicht darum, ob die dogma-
tischen Vorstellungen wahr sind, sondern nur, ob sie in den re-
ligiösen Kreisen gelten, d. h. einem gewissen Bedürfiiisse ent-
sprechen. Nun ist aber das Denken die Sache der Vernunft,
und der Inhalt der Vernunft besteht gerade in den metaphysi-
schen Ideen, über welche diese Dogmatik blosse Vorstellungen
hat, um deren Wahrheit sie sich ausdrücklich nicht bekümmern
will. Mithin fehlt dieser Dogmatik die Ehrlichkeit. Es ftillt mir
nicht ein, die einzelnen Vertreter dieser Theologie des Betruges
zu beschuldigen; sondern es handelt sich um den wissenschaft-
lichen Charakter der Theologie selbst. Diese aber beruht auf
Unehrlichkeit, weil die Vernunft nicht gleichgültig gegen die
Wahrheit ihres Inhalts sein kann, während diese Theologie gleich-
gültig gegen die Metaphysik ist Darum kann ein solcher Theo-
loge in theoretischem Bewusstsein ein völliger Skeptiker * und
Ungläubiger sein und doch, ohne sich zu schämen, in der Kirche
die Sprache der biblischen Metaphysik gebrauchen, um seine Ge-
fühle an die Vorstellungen von Gott und Gnade und Erlösung
anzuhängen. Der Philosoph kann dieser Theologie daher keinen
wissenschaftlichen Werth zuerkennen, sondern bloss eine gewisse
rhetorische Geschicklichkeit, wodurch die Gemüthsbedürf-
nisse bald durch diese, bald durch jene überlieferten religiösen
Vorstellungen aufgeregt und beschwichtigt werden, und man darf
u.quizeauy Google
Beligionsphilosophie. 353
die Göttinger Schule nicht etwa mit der Schleiermacher'schen
Auffasfliing zu decken suchen, da Schleiermacher als ehrlicher
Denker immer seine ernste philosophische Dialektik bereit hatte
und wenigstens nach Möglichkeit einerlei Wahrheit suchte, wie
er auch wusste, dass die dogmatischen Vorstellungen metaphysi-
schen BegriflFen entsprechen.*) Erklären aber kann ich mir aller-
dings die Richtung Ritschrs als einen letzten Rettungsversuch,
um bei dem Zusammensturz der speculativen Systeme den Altar
an einem Punkte zu bergen, wo, wie er glaubte, die feindlichen
AngriflFe der allein ttbrig gebliebenen Empirie leichter abgeschla-
gen werden könnten.
*) Viele Theologen haben die Furcht, dem Werthe der Offenbarung
etwas abzubrechen, wenn sie zugestünden, dass die menschliche Wissenschaft
auf dieselbigen Wahrheiten „ohne Offenbarung" durch weltliche Methoden
treffen könnte. Sie laufen daher Gefahr, in das positivistische Fahrwasser
der philosophiefeindlichen Ritschrschen Schule zu gerathen, indem sie das
Christenthum nicht mehr als „ErfQllung" eines in der menschlichen Natur
liegenden Zweckes, sondern als Offenbarung einer abenteuerlichen, mit der
Wirklichkeit nicht weiter zusammenhängenden Vorstcllungswelt halten. Es
ist aber augenfällig, dass dadurch das Christenthum zu einer blossen Illusion,
zu einem Märchen werden müsste, während es vielmehr sich selbst in den
innigsten Zusammenhang mit dem ganzen Wesen der Dinge, mit der Schöpfung
der Natur und der wirklichen Entwickelung der menschlichen Geschichte
und mit den allgemeinen Bedürfnissen und Anlagen des menschlichen Ge-
müthes und Geistes setzt. Mithin lässt sich eine feindliche Stellung der
Theologen zur Philosophie nur dann erklären, wenn die Philosophie zu
widersprechenden Resultaten fahrt, wie z. B. Paulus, obwohl er sich selbst
auf des Kleanthes philosophische Verse berief und also philosophische Spe-
culation anerkannte und benutzte, dennoch vor der griechischen Philosophie
warnte, weil sie mit den christlichen Hauptwahrheiten in Widerspruch stand
und deshalb von ihm als Trug bezeichnet wurde. Wenn man aber bedenkt,
daas die Apostel überall selbst logisch argumentiren und metaphysische,
ethische und psychologische Begriffe gebrauchen, so ist ersichtlich, dass sie
eine naturalistische Philosophie gar nicht entbehren können und deshalb
gegen Philosophie als solche nichts einzuwenden haben, sondern nur eine
falsche Philosophie verwerfen wollen. Und diese richtige Stellung zur Sache
entspricht auch allein der Würde des Christenthums , welches sich ohne
Scheu von allen Seiten besehen und untersuchen lassen kann, weil es keine
tragische Maske trägt und auf keinem täuschenden Kothurn sich erhöht,
sondern die einfache Wahrheit lehren will, die mit aller Wahrheit in Ueber-
einstimmung steht.
Wenn die Theologen deshalb nach der Weisung des Apostels Paulus,
der mit philosophisch gebildeten Griechen in unmittelbare Berührung kam.
Telchmüller, ReligioiifiphllOBophic. 23
uiyiiized by
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354 Religion der Sünde.
Der religiöse Werth dieser Theologie ist leicht und fest ab-
zugränzen, da sie ersichtlich auf das Gefühl der Sttnde aufgebaut
ist und in der weiteren Ausfllhrung alle die wesentlichen Ele-
mente der unreinen Bechtsreligion enthält.
vor dem falschen hellenischen und dem bloss zeitgemäss umgewandelten mo-
dernen Idealismus eine heilsame Scheu tragen, so sollten sie sich ebensosehr
vor der unphilosophischen und unapostolischen Richtung hüten, welche das
Christenthum aus den allgemeinen, wissenschaftlich erkennbaren Zusammen-
hängen der menschlichen Natur herausheben und nur zu einer zufälligen
historischen Erscheinung machen will, die wie der Baalsdienst ihre abson-
derliche Vorstellungswelt, ihre absonderlichen Gefühle und Gebräuche habe,
wer weiss woher einmal in die Welt gekommen sei und sich nur durch
Tradition und sociale Ansteckung fortpflanze.
Ich schreibe dies im Hinblick auf die geschickte Arbeit eines jüngeren
Theologen, Guido Pingoud, über die biblische Lehre von dem Gewissen,
die ich mit grosser Aufmerksamkeit gelesen habe. So sehr ich auch aner-
kenne, dass er die herkömmliche idealistische und im Grunde hellenische
Auffassungsweise verwirft, so halte ich es doch nicht bloss für gefährlich,
sondern für ganz unannehmbar, dass er das Gewissen in positivistischer
Weise für eine beliebig variable, zufallige und bloss historische Erscheinung
erklärt; denn das Gewissen muss als eine ebenso constante und specifische
Function der menschlichen Natur anerkannt werden, wie das Auge oder das
Herz als unentbehrliche Organe, wenn auch alle solche Organe vielfachen
Krankheiten, Yerbildungen und Verkümmerungen ausgesetzt sind. Wenn
wir Pingoud gern einräumen, dass die reine und wahre Sprache des Gewis-
sens nur im Kreise christlicher Cultur anzutreffen sei, so dürfen wir darum
noch nicht das Gewissen für eine blosse Gewöhnung und Erinnerung aus-
geben; denn die Geschichte umfasst nicht bloss zufällige Ereignisse, sondern
schliesst auch die constitutiven, allgemeinen und nothwendigon Functionen
ein, die unter den geschichtlichen Coordinationen zu mehr oder weniger vollkom-
menem Ausdruck gelangen. Immerhin möge etwa das Gewissen im Christen-
thum, die Plastik bei den Griechen, die Politik bei den Römern zum Ziele
kommen, sollten darum Gewissen, Kunstsinn und Staatsklugheit bloss auf ge-
wisse Zeiten und Völker beschränkt werden und nicht mehr aus den wesentlichen
Anlagen der menschlichen Natur folgen, die bloss unter gewissen günstigen
historischen Umständen zur Reife und Vollendung gedeihen? Wie die Geo-
graphie und Geschichte des organischen Lebens auf unserer Erdrinde die all-
gemeine Physik und Biologie nicht ausschliesst, sondern voraussetzt, so kann
auch die Geschichte und das Christenthum nicht die Psychologie und Philo-
sophie aufheben, selbst wenn diese Wissenschaften erst durch bestimmte
historische Umstände zu voller Reife gelangen. Ich will auf das Detail der
Arbeit hier nicht näher eingehen, sondern erlaubte mir nur die principiellen
Gesichtspunkte hervorzuheben, um die wichtige Frage noch einmal der Er-
wägung zu empfehlen.
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Dritter Theil.
Die pantheistischen Religionen.
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I
I
tfedby Google
Digitized by
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Die Uebergangsform.
Der Atheismus.
Wer den Cultus der beiden projeetivischen Reli- Ursprung
gionen vor seiner Anschauung hat und ein gewisses ^®" AtheinmuB.
Mass Yon Erfahrung, Verstand und moralischer Bildung besitzt,
der wird bald zu einer zerstörenden Kritik der ganzen projee-
tivischen Religion tibergehen. Nach drei Beziehungspunkten
wird er Widersprüche auffinden, erstens unter den Religionen
durch Vergleichung, da eine jede auf Wahrheit Anspruch er-
hebt, und doch eine jede mit jeder anderen in vielfachem Wider-
spruche steht 5 zweitens durch Beziehung der Religionen auf die
erfahrungsmässige Wirklichkeit, welche mit der Dogmatik und
dem Culte der Religion nicht übereinstimmt; drittens durch Be-
ziehung der Religion auf Vernunft- BegriflFe und auf das mora-
lische Bewusstsein, welche fast überall durch die religiösen
Vorstellungen, Geflihle und Handlungen verletzt werden.
Das Resultat dieser Kritik kann nichts anderes sein, als die
Ueberzeugung, dass der Gegenstand der Religion überhaupt nicht
vorhanden ist, dass also auch Gott oder die Götter, weil sie nicht
existiren, dasjenige, was man fürchtete, nicht ausüben, und dass
man nicht nöthig hat, blosse Einbildungen zu versöhnen und
zu verehren. Es erscheint daher diese Kritik als Zweifel, weil
der Gläubige von dem Inhalte seines Glaubens fest überzeugt
ist und im Einklänge mit sich steht, ohne den Verstand als
fremdes und zweites Element der Religion gegenüber zu haben.
Demgemäss nennt man diesen Standpunkt auch Skepticismus
in der Religion.
Sofern der Verstand aber Widersprüche entdeckt, flihlt er
seine eigene Ueberlegenheit. Da nun derjenige, auf dessen
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358 Atheismus.
Kosten wir den Widerspruch nachweisen, lächerlich wird, so
bezeichnet man die Religionszweifler auch als Spötter.
Weil endlich auch das moralische Bewusstsein durch viele
religiöse Handlungen, z. B. durch die Menschenopfer, die Hexen-
verbrennungen, die Ketzerhinrichtungen u. dergl. verletzt wird,
so ist es ganz natürlich, namentlich wenn wirkliche Betrügerei
der Priester dabei im Spiele ist, dass der Kritiker zur Ent-
rüstung übergeht.
Sofern die Kritik aber Gott und Götter aus der Liste der
wirklichen Dinge streicht, nennt man den Standpunkt einfach
Atheismus, zu Deutsch Gottlosigkeit. Der Gottlose fühlt
seinen Standpunkt selber als eine grosse Errungenschaft, als
einen Triumph des Verstandes über den Unsinn und die Ein-
bildungen, und zuweilen auch als eine moralische Höhe den ver-
werflichen religiösen Bräuchen gegenüber 5 der Gläubige aber
versteht unter diesem Namen natürlich sowohl eine Anmassung
und Verirrung des Verstandes, der die Zeugnisse höherer Mächte
des Gemüthes nicht würdigen könne, als auch eine sittliche Ver-
worfenheit, da der Gottlose der Furcht vor Gottes rächender
Macht und des Gehorsams gegen sein heiliges Gesetz sich frevent-
licher Weise für ledig erachte.
Ist eia religiöser Es könnte scheiueu, als dürfe man den Atheisten,
Standpunkt, da cr ja an keine Götter glaubt, nicht mehr unter
die Rubriken der Religion versetzen. Dies wäre richtig, wenn
Jemand ein Atheist genannt würde in dem Sinne, wie Heine den
Säugling in der Wiege einen unschuldigen Atheisten nennt; da
sich aber seine Kritik auf den Gottesglauben richtet, so hat der
Atheismus einen Anspruch auf den Namen eines religiösen
Standpunkts. Denn wohin sollten wir die gi'osse Masse von
Vorstellungen, Reflexionen und Gefühlen, welche die atheistische
Kritik mit sich bringt, anders rechnen und worauf anders be-
ziehen, als auf das Gottesbewusstsein. Diese Beziehung heisst,
wenn sie positiv ist, Religion; wenn sie aber kritisch und negativ
ist, irreligiös. Auf beiderlei Weise ist also die Religion der
feste Beziehungspunkt, und mithin muss das irreligiöse Bewusst-
sein des Atheisten unter den verschiedenen Religionsformen auf-
geftlhrt werden, da es seinen ganzen Inhalt in Beziehung auf
Gott und göttliche Dinge erschöpft und nicht anders als nur
durch diese Beziehung erklärt werden kann.
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Systematischer Ort. 359
Was nun die richtige Stellung des Atheismus gyatematiacher
betriflft, so sieht Jeder sofort ein, dass die Kritik ortdee
nicht einer positiven Religion vorangehen kann. ^**^«*»'"»»8-
Vielmehr muss der Atheismus seine Stelle nach den projectivi-
schen Religionen erhalten, die er kritisch zu vernichten sucht
Die Atheisten selbst aber möchten vielleicht erwarten, dass ihnen
nicht ein mittlerer Platz angewiesen würde, sondern der letzte
und höchste, da sie alle, auch die höheren Religionen, zu ver-
nichten wünschen. Allein man darf nicht jedem Verlangen will-
fahren. Es wird sich nämlich zeigen, dass die höheren Reli-
gionen der atheistischen ELritik kein Angriffsobject mehr darbieten
und zwar weder die pantheistischen Religionen, noch die höchste
und allein wahre Religion des Ghristenthums. Der Atheismus
hat daher seinen Platz nur hinter den projectivischen Gottes-
vorstellungen, zu deren Vernichtung er bestimmt ist, wie der
Storch für die Frösche und der Arzt für die Krankheiten.
Wenn die Atheisten sich einbilden, dass sie auch im Christen-
thum noch eine Nahrung für ihre Kritik fänden, so beruht dies
auf einem Nichterkeiinen des specifischen Wesens des Ghristen-
thums, welches weit über die Verstandesstufe des Atheismus
hinausgeht; der Schein aber, als ob es auch dem Christenthum
gegenüber noch eine atheistische Kritik geben könne und gegeben
habe, beruht auf der thatsächlichen Unreinheit der religiösen
Vorstellungen und Gefühle der Menschen, da es ja ganz natür-
lich ist, dass nach den verschiedenen Stufen der Begabung,
Bildung und Erweckung der einzelnen Gläubigen auch die Ele-
mente der untergeordneten Religionsformen sich einmischen und
vordrängen werden, so dass auch viele heidnische und jüdische
Religionselemente in dem vulgären Christenthum der verschiede-
nen Völker und Zeitalter vorkommen können, die dann die
atheistische Kritik hervorrufen und ihr zur Beute fallen. Darum
findet man zwar die Irreligiosität und den Atheismus in allen
Völkern und in allen Zeitaltem; wie der Grünspan aber, wenn
das Kupfer in der Statue sich oxydirt, nicht die Statue zerstört,
sondern sie nur colorirt, so bleibt auch das Christenthum völlig
unberührt, wenn die atheistische Kritik sich auf die im vulgären
Bewusstsein eingemischten unreinen Elemente stürzt, um sie zu
zersetzen. Der Atheismus hat darum seinen im System der Reli-
gionswissenschaft festbestimmten Platz hinter den projectivischen
uiymzeu uy "V-j vyVjpt Iv^
360 Atheismus.
Religionen und kann denselben niemals gegen einen höheren
yertauschen, ebenso wie der Rabe sich nie auf den Rang der
sprechenden Wesen erheben kann^ auch wenn er scheinbar spricht.
Wenn deshalb populäre Kritiker wie Strauss oder neuerdings
V. Hartmann von einer Zersetzung des Christenthums reden, so
wissen sie bloss nicht, dass die unreinen projectivischen Elemente,
die sie zu ihrem Angriffsobjecte haben, fllr das Christenthum
ebensowenig wesentlich sind, wie der Grünspan flir die Statue.
Der Der in neuester Zeit weitverbreitete und sich
positivismus. tjreit machende Positiv ismus ist als Atheismus
zu betrachten. Denn da der Positivist jede Metaphysik aufhebt
und von Gott und Seele und Wesen überhaupt nichts wissen will,
sondern nur mit Erscheinungen zu thun hat, so entnervt und
entmannt er Geist und Gemüth des Menschen, indem er ihm
allen Glauben an die Wahrheit der Erkenntniss und allen Glauben
an die wirkliche Gemeinschaft mit Gott raubt. Der Positivismus
ist daher nicht bei kräftigen und gesunden Naturen zu Hause,
sondern ein Zeichen geistiger Schwäche; er ist als Asthenie
des Zeitalters zu diagnosticiren und gehört den Blasirten, den
Heruntergekommenen und Bastarden. Wenn die Nation nicht zu
Grunde geht, so hat er keine Aussicht auf langen Erfolg, da
jeder Aufschwung der Kraft immer den Glauben an die Wahrheit
voraussetzt und neu erzeugt; denn Kraft und Wahrheit sind
Coordinaten, ebenso wie Schwäche und Zweifel zusammengehören.
Der Positivismus kann natürlich die verschiedensten äusseren
Erscheinungen darbieten, und man wird nach meiner ganzen bis-
herigen Darstellung nicht auf den Gedanken kommen, als meinte
ich damit eine historisch bestinmite Culturstufe, etwa bloss den
heutigen Skepticismus oder eine im grauen griechischen Alter-
thum schon überwundene Sinnesart; nein, diese ganze Behand-
lungsweise der Weltansichten, wie sie in unserem historischen
Jahrhundert üblich geworden, ist durchaus verfehlt und der Sache
nicht gewachsen. Die Weltansichten haben keine historischen
Perioden, ebensowenig wie die Jahreszeiten, die immer wieder-
kehren, und wie die Altersstufen, die sich auch bei jedem Menschen
in allen Jahrhunderten gleichen. Wie es im Alterthum nicht
immer Frühling war, so ist auch im neunzehnten Jahrhundert
nicht immer Herbst. Ebenso muss es sich mit den Weltansichten
verhalten, die ziemlich in allen Zeiten dieselben gewesen sind
Poeitivismus. 361
und nur durch die Stufen wissenscbaftlicher Ausbildung sich
unterscheiden. Die Weltansicht hängt gar nicht von der Zeit
ab, in welcher ein Mensch geboren wird, sondern von seinem
Kopfe, und alle die schönen culturgeschichtlichen Phrasen, durch
welche man die verschiedenen Epochen der Menschheit voneinander
trennen und aus einander entwickeln will, sind blosse Colorirun-
gen, unter denen der Kenner die festen Grundlinieii constanter
Typen wiederfindet. Es ist daher selbst von dem Positivisten
Laas, den ich in meiner Schrift „Kant's Beise in den HimmeP
darauf hingewiesen hatte, zugestanden worden, dass Protagoras
sein ächter Ahnherr sei, und es macht sich nur komisch, wenn
Laas seinen Patronus über Piaton und den Idealismus trium-
phiren lässt.*) Ich habe aber auch in meiner Geschichte der
Begriffe, ohne Widerstand zu finden, nachgewiesen, dass ebenso
die übrigen modernen Weltansichten voUbtirtig schon im Alter-
thum vertreten sind; denn es macht doch für die metaphysische
Betrachtung z. B. keinen Unterschied, ob ein Büchner oder Thaies
den Hylozoismus vorträgt, nur dass Thaies trotz seines Mangels
an neueren Kenntnissen ein unvergleichlich bedeutenderer Kopf war.
Ich kann darum den Versuch W. Dilthey's (Einleitung in
die Geisteswissenschaft I. S. 455), den Standpunkt der sogenann-
ten „historischen Schule", der in der Zeit unserer Romantik auf-
kam und für Sprachen, Sitten, Künste und Moden eine gewisse
Berechtigung hat, auf die Philosophie anzuwenden, nur fllr einen
geistreichen Scherz halten. Wenn Dilthey deshalb die Ver-
schiedenheit der weltgeschichtlichen Perioden in Bezug auf die
philosophischen Systeme ausmalt, so muss er sich natürlich immer
nur an Nebensachen, an die nebenher laufenden empirischen
*) Da Laas in einer Hecension über meine „Unsterblichkeit der Seele"
die Berücksichtigung Eant's bei mir vermisst hatte, so schrieb ich den oben-
genannten Dialog, worin ich unter der Aegide Platon's die Widersprüche
Kant's zeigen und durch Protagoras den modernen Positivismus auf
Protagoras und Kant zurückführen liess. Laas selbst erhielt dabei eben keine
erfreuliche Rolle. Darauf erschien zufällig eine Schrift von Laas (Positivismus
und Idealismus), worin wirklich Protagoras als Positivist acceptirt, aber in
seinem angeblich siegreichen Kampf gegen Piaton und seinen Idealismus
verherrlicht wurde. Da ich selbst in diesem Buche aus dem Spiel gelassen
war und meine Metaphysik mit dem Piatonismus auch nichts zu thun hat,
so fand ich keine Veranlassung, über diese sowohl philologisch, wie philo-
sophisch unter dem Mittelmässigen stehende Arbeit mich zu äussern^ ,
uiymzeu uy VwJv^\J>t Iv^
362 Atheismus.
Vorstellungen von der Welt, oder an die persönlichen Stimmungen
der Philosophen halten, die ja wie die Kleidungen und Sprachen
immer national und historisch verschieden sein werden. Die
Philosophie aber als Vemunftwissenschaft hat mit Begriffen zu
thun, die nichts Nationales, Persönliches und Empirisches an
sich haben, und es ist darum natürlich, dass Begriffe in jenem
Buche für überflüssig gehalten werden.
Der Standpunkt Dilthey's ist aber doch nicht mehr die ge-
müthvolle Bomantik, giebt auch die idealen Grundlinien aller
Entwickelung, wie sie z. B. bei Jacob Grimm zu finden, unter
dem Druck moderner Stimmungen Preis und ist deshalb zu einer
Abart des Comte'schen Positivismus geworden. So glaubt er
mit Comte, jetzt erst über das Zeitalter der Metaphysik hinaus-
gekommen zu sein, als wenn nicht alle Positivisten uad Skep-
tiker im Alterthum, Mittelalter und in neuerer Zeit schon längst
eben dasselbe geglaubt hätten. So glaubt er sich auch gegen-
wärtig erst in einem Zeitalter zu befinden, in welchem „eine freie
Mannigfaltigkeit von metaphysischen Systemen, deren keines er-
weisbar ist, sich gebildet habe*," als wenn dies Zeitalter nicht
zu allen Zeiten für diejenigen vorhanden gewesen wäre, die sich
weder einem metaphysischen System anschliessen, noch ein eigenes
begründen konnten. Zu allen Zeiten hat es viele Systeme neben-
einander gegeben und oft in zahlreichen Nuancen, von denen
keines das andere in der Art hätte überwinden können, dass die
Gegner tiberzeugt gewesen wären. Und es ist doch nur nach
dem äusserlichen Majoritäts-Schein und der etwaigen socialen
Autoritäts-Stellung der Philosophen gcurtheilt, wenn man glaubt,
dass jemals Aristoteles oder Piaton oder Kant oder Hegel allein
die metaphysischen Gedanken aller Menschen oder aller Höher-
gebildeten beherrscht hätten. Es würde ein solches sonderbares
Phänomen auch nur eintreten können, wenn nicht bloss die Schulen
eine ganz gleichförmige internationale Bildung hervorbrächten,
sondern wenn zugleich die Natur dafür sorgte, dass alle jungen
Leute auch ganz gleichartige, schlechte oder gute Köpfe hätten.
Wenn Dilthey es deshalb für eine die neueste Zeit charakterisi-
rende Eigenthümlichkeit hält, dass „die Metaphysik ein blosses
Privatsystem ihres Urhebers und derjenigen Personen wäre,
welche sich vermöge einer gleichen Verfassung der Seele von
diesem Privatsystem angezogen fanden," so wünschte ich zu
uiumzeu uy 'v_JvyVjVlv^
Positivismus. 363
wissen, in welchem Zeitalter dies anders gewesen wäre. Schon
im Anfang des fünften Jahrhunderts vor Christo bezeichnet Heraklit
mehrere verschiedene Privatsysteme (von Hekatäus, Xenophanes
und Pythagoras), von denen er sich nicht angezogen fühlte;
nach ihm gab es gleich noch eins mehr. Im vierten Jahrhundert
warnt Piaton die jungen Leute davor, sich nicht ohne Vorsicht
von solchen Männern mit Privatsystemen anziehen zu lassen, da
sie vielleicht Gift statt Medicin verkauften, und er sagt dies mit
besonderem Hinblick auf ein solches Privatsystem, welches heute ,
Positivismus heisst. Auf der Akropolis lässt die Apostelgeschichte
den Paulus vor solchen Personen, welche sich vermöge gleicher
Verfassung der Seele von Epikurs oder Zenos Privatsystemen
angezogen ftihlten, das Christenthum vertheidigen. Cicero hat
in allen seinen Schriften mit der persönlichen Auswahl eines
solchen Priratsystems zu thun. Im Mittelalter ist die Kirche alle
Augenblick in Aufregung, weil ein häretisches Privatsystem An-
hänger gleicher Seelenverfassung findet. Melanchthon ermahnt
die Theologen, sich einem rechtschaffenen Privatsystem anzu-
schliessen, wie er sich dem des Aristoteles ergeben habe. Wo
und in welcher Zeit wäre es denn anders gewesen; denn selbst
der heilige Thomas hat niemals allein in den Köpfen der Men-
schen geherrscht. Aber diese positivistische Schule, welche aus
guten Gründen eine geheime Angst vor der Vernunft und der
Vcmunftwissenschaft hat, möchte gern den Schein hervorrufen,
als wäre die Philosophie überhaupt nur eine Sache der Mode.
Wie ein Schneider hunderte von Körpern leicht bekleiden kann,
so dass eine Toilette in wenigen Tagen von so und so Vielen
auf den Strassen zur Schau gestellt wird, so soll auch die Phi-
losophie bloss aus mechanischen Anpassungen und Tagesströmun-
gen erklärt werden. Für die Philosophie ist es aber völlig gleich-
gültig, wie viele Anhänger sie findet. Wie die analytische Geo-
metrie und die Infinitesimalrechnung auch verhältnissmässig immer
nur einen kleinen Procentsatz der Bevölkerung zu ihren Lieb-
habern zählt, so ist die Philosophie auch immer nur in wenigen
Köpfen lebendig gewesen. Es lässt den Philosophen daher kühl,
ob man viel oder wenig Thomisten und Scotisten, Lockianer,
Kantianer u. dergl. zählt; denn das zugehörige System wird durch
die Zahl der Anhänger weder schwächer noch stärker. Die
Culturgeschichte mag sich um diese Modefragen bekümmern; die
364 Atheismus.
Philosophie und Geschichte der Philosophie aber hat mit Be-
griffen zu thun, auf welche freilich der Positivismus keine
Rücksicht nimmt, weil er überhaupt der Philosophie nicht ge-
wachsen ist. Es ist darum in der Ordnung, dass der Positivis-
mus, weil er keinen Glauben an die Wahrheit der Vernunft hat,
auch der Religion nur scheinbare Kantische Zugeständnisse
macht und ein leeres atheistisches Gemüth voraussetzt.
Die zugehörige Ethik.
Das Motiv des Atheismus ist die AflFectlosigkeit. Wenn der
Mensch in civilisirteren Verhältnissen lebt, so schwinden die
meisten unmittelbaren Gefährdungen von Seiten der Natur; die
Häuser geben Obdach gegen Sturm und Regen; vor^ der Macht
der Sonne und vor ihrer Ohnmacht weiss man Hülfsmittel; die
Nacht beraubt man durch künstliche Beleuchtung ihres Schreckens;
die Hungersnoth wird durch Handel ausgeglichen; die wilden
Thiere sind verscheucht; die Krankheiten werden von Aerzten
behandelt und der eigene Tod ist immer weit entfernt, so lange
man lebt; das allgemeine Loos des Todes ist aber bei der grossen
Bevölkerung nicht mehr im Stande, wiederholentlich einen mäch-
tigen AflFect zu erregen. So ist es natürlich, dass die Furcht
als Motiv der ersten Religionsstufe fehlen muss, und dass daher
bei einem gewissen Sicherheitsgefühl, welches durch eine
grössere Naturerkenntniss und Naturbeherrschung entsteht, auch
die Götter und Dämonen, welche bisher die Menschen in Angst
und Schrecken versetzten, ihre Macht über die Gemtither verlieren.
Darum wird man finden, dass die Atheisten gerade dies von
sich rühmen, dass sie durch grössere Aufklärung die Menschheit
von der Gottes- und Götterfurcht befreit hätten. So singt z. B.
schon der alte Dichter Lucretius mit Begeisterung von seinem
atheistischen Chorführer:*) „Da scheusslich anzusehen das Men-
schenleben auf Erden darniederlag, herabgedrückt unter der
Wucht der Gottesfurcht, die vom Hinmiel her ihr Haupt ent-
gegenstreckte und mit schrecklichem Gesichte die Menschen be-
drohte: da wagte zuerst ein sterblicher Mensch, ein Grieche, mit
*) De rerum natura I, 62.
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Ethik. 365
seinen Augen den Anblick auszuhalten, und war der Erste, der
Widerstand leistete; denn weder die Heiligthtimer der Götter,
noch die Blitze, noch das drohende Brüllen des Himmels er-
schütterten ihn, sondern all dieses spornte nur desto mehr die
durchdringende Kraft seines Geistes an und erregte die Begierde,
als der Erste die festen Riegel an den Pforten der Natur auf-
zubrechen." Nun schildert Lucretius die Leistungen der Natur-
wissenschaft und schliesst triumphirend : „So wird jetzt umge-
kehrt von uns die Religion mit Füssen getreten, und wir erheben
uns siegreich bis zum Himmel."
Der Atheismus triumphirt also über die Religion der Furcht.
Wie aber könnte das Motiv der reinen Rechtsreligion, das Ge-
wissen und das Gefllhl der Sünde beseitigt werden? Es liegt
auf der Hand, dass dies unbesiegbar ist und bleibt Wenn gleich-
wohl mit einem gewissen Recht der Atheismus auch dieses Ge-
fiihl niederzuwerfen scheint, so erklärt sich der Schein sehr
einfach dadurch, dass das Geftlhl der Sünde niemals im grossen
Gesellschafts- und Völkerleben rein zu Tage tritt, sondern immer
durch die gesellschaftlichen Verhältnisse und die wechselseitigen
Machtbeziehungen der Stände mit ihren Vorurtheilen verfälscht
wird. Darum vergleicht der Atheist die religiösen Rechtsgeflihle
Eines Volkes mit einem anderen Volke und Eines Zeitalters mit
einem anderen Zeitalter und kommt dadurch zur Erkenntniss
des Widerspruches aller Rechtsgeiuhle mit einander, weshalb er
die Wahrheit und Zuverlässigkeit des religiösen Gewissens be-
zweifelt und die religiöse Scheu verspottet So macht sich z. B.
schon Lucian darüber lustig, dass ein District in Aegypten
durchaus kein Schaf essen darf, wohl aber einen Ochsen, ein
anderer keinen Ochsen, wohl aber ein Schaf, und dass die Juden
am Sabbath nicht arbeiten dürfen und deshalb von den Feinden
durch ihre abergläubische Gewissenhaftigkeit wie in einem Netze
gefangen werden. Während die Atheisten des Alterthums mehr
die Widersprüche der religiösen Gesetze der verschiedenen Völker
untereinander vergleichen, so haben die modernen positivistischen
Gulturhistoriker namentlich die Entwickelung des RechtsgefUhls
beachtet und die Gräuel der Menschenopfer, die Gewissenspflicht,
die eigenen Kinder zu schlachten u. s. w., mit der späteren ver-
hältnissmässig grösseren Sittlichkeit verglichen, um dadurch die
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Google
366 Atheismus.
Unzuverlässigkeit des religiösen Gefühls zu beweisen. Das Ge-
fühl der Sünde sei eben nicht in der Natur begründet, es gebe
kein anderes, als ein durch die gesellschaftlichen Zustände und
die zufälligen Sitten entstandenes Gewissen, und so sei die ganze
Grundlage der Eechtsreligion zerstört
Der Atheismus entsteht deshalb hier durch häufigere inter-
nationale Beziehungen der Völker, indem die Verschiedenartig-
keit der Gewissen die Gewissenhaftigkeit überhaupt vermindert
oder auslöscht Denn da das Gefühl der Sünde immer einem
Gesetze zugeordnet ist, so muss, wenn die Gesetze sich wider-
sprechen, nothwendig Zweifel, Vei*wirrung und dadurch eine Ab-
schwächung bis zum Indifferentismus auch in dem Schuldbewusst-
sein Platz greifen. Das Gewissen in seiner Reinheit ist ja bei
der grossen Menge nicht zu finden, sondern nur das sociale Ge-
wissen, welches durch die Erinnerung an das, was bei der uns
bestimmenden Gesellschaft als anständig, ehrlich und recht, oder
als unanständig, ehrlos und schändlich gilt, erweckt wird. Das
Gewissen in dieser Form als blosses Gedächtniss und sociales
Band muss aber nothwendig durch Auflösung der strengen Sitten
und religiösen Gebräuche bei dem internationalen Verkehr eben-
falls gelockert werden, und daher erklärt sich, dass auch das
Motiv der Eechtsreligion dem Atheismus zur Beute wird.
Freilich aber nur das Motiv der positiven Rechtsreligionen
mit ihren vielen bloss geschichtlich zu erklärenden religiösen
Geboten; denn wer das wahre Gewissen kennt, kann nur mit
Verachtung und Mitleid auf diejenigen blicken, welche die Mei-
nung der Menschen, Ehre und Schande, zur Richtschnur ihres
Lebens nehmen. Das wahre Gewissen ist unfehlbar und ewigen
Ursprungs und hat mit den von den Atheisten verspotteten
Schuldgefühlen nichts zu schaffen. Denen gegenüber also, welche
durch die positiven Satzungen sich innerlich gebunden und be-
klemmt flihlen, erscheint der Atheist als Freigeist, der mit
einem gewissen Behagen seine Affektlosigkeit geniesst; denn
wenn dieser Mangel an Gefühlserregung an sich auch kein Wohl-
gefUhl mit sich bringen kann, so entsteht doch durch Vergleichung
seines ungestörten Gemüthszustandes mit der Qual, Bekümmer-
niss und Gebundenheit der Gläubigen ein gewisses Freiheits-
gefühl, das er nicht vertauschen und verlieren möchte.
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Dogmatik. 367
Allein diese atheistische Freiheit hält nur Stand vor den
Gebetsriemen der Juden, ihrer Sabbathruhe und ihren Speise-
geboten und so bei anderen Religionen immer nur vor den positi-
ven Satzungen, denen keine ewige Bedeutung und Verpflichtung
beizumessen ist; wer aber zum Verderben Anderer lügt oder
Habe und Leben Anderer raubt, der muss eine irdene Seele em-
pfangen haben, wenn ihm nicht die Bilder des Jammers, den er
angerichtet, in der Erinnerung aufsteigen und ihn mit trostlosem
Anblicke anstarren und ihn dadurch in Unruhe und traurige Un-
einigkeit mit sich selbst versetzen. Je feiner seine Seele ent-
wickelt ist, desto empfindlicher werden ihn, ganz abgesehen von
einer religiösen Satzung, die von ihm versäumten Aufgaben des
Menschen schmerzen müssen. Darum ist klar, dass der Atheist,
welcher auch das Motiv der reinen Rechtsreligion in. seinem Be-
wusstsein nicht zu kennen vorgiebt und Gewissen und Schuld-
gefühl als etwas bloss Historisches abschüttelt, zu den unbedeu-
tenden Naturen gehören muss, die sich in dem Rahmen der herr-
schenden Sitte zurecht finden und im Ganzen nichts Uneben-
mässiges thun, so dass sie auch keine Veranlassung zu einem
merklicheren Schuldgefühl haben könnten, die aber zugleich auch
durch eine höhere sittliche Idee und deren zugeordnete tiefere
Gefühle nicht belästigt werden, weil sie über die Gränzen des
Gewöhnlichen und Herkömmlichen nicht hinausgehen. Ich habe
hier die meisten Atheisten im Auge, wie sie sich im Strome der
Menge finden; es giebt freilich auch philosophische Skeptiker,
zu deren Profession es gehört, das Gewissen zu leugnen, wie
Diogenes und Spinoza; allein diese sind alle theils von einer
egoistischen, der erlösenden Platonischen Liebe ganz unzugäng-
lichen Natur, wie der rohe Cyniker und der trockene, pedanti--
sehe, gemüthlose Jude, theils verfechten sie eine These, die mit
der Wahrheit ihres eigenen Gefühls in keinem nothwendigen Zu-
sammenhange steht, so dass sie besser sind, als ihre armseligen
Gedanken vermuthen Hessen.
Die zugehörige Dogmatik.
Die Aufgabe der atheistischen Dogmatik besteht darin, an
die Stelle der Götterwelt und des Rechtsgottes im Himmel eine
Wüste und Leere zu schaffen. Da dem Atheisten das ethische
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368 Atheismus.
Motiv zu den zugeordneten Gottesideen fehlt, so ist für ihn dieser
unbewohnte Himmel ganz natürlich. Mithin muss seine Dog-
matik wesentlich in Kritik bestehen.
Mit der Götterwelt der Furchtreligion haben die Atheisten
nun auch wirklich leichtes Spiel; denn diese dunklen Gestalten
vertragen ja nicht deutlich gedacht zu werden, ohne sich in
lächerliche Einbildung aufzulösen. Schon Xenophanes spottete
über die anthropomorphischen Vorstellungen. „Wenn die Ochsen
und Löwen Hände hätten, sagt er, und malen könnten, so würden
die Pferde ihre Götter zu Pferden und die Ochsen sie zu Ochsen
machen." So bildeten, fügt er hinzu, die Aethiopier ihre Götter
mit schwarzen Gestalten und stumpfen Nasen und die Thracier
sie roth und mit hellen Augen. Sie Hessen ihre Götter stehlen
und ehebrechen und einander betrügen. Wenn die Eleaten, sagt
er, ihre Leukothea für eine Göttin hielten, so brauchten sie
keine Todtenklage über sie zu halten; wenn aber flir einen
sterblichen Menschen, so verdiente sie keine Gottesverehrung.
Protagoras äussert mit skeptischer Ironie am Anfang jenes
positivistischen Buches, welches die gottesflircbtigen Athener ver-
brannten, er wisse nicht, ob die Götter wären oder nicht wären.
Piaton gebraucht die Götter nur im allegorischen Spiel der
Phantasie, wie Schiller; Aristoteles erklärt sich flir einen
Atheisten den Volksgöttern gegenüber, ist aber freilich schwach
genug, die Sterngötter zu vertheidigen. Voltaire zieht auch die
ganze göttliche Familie im Himmel nach dem Vorbilde des Xeno-
phanes in's Lächerliche; da ja die volksmässige Vorstellung, von
den Malern ganz in's Menschliche übergeflihrt, auch genug StoflF
zu Ironie und Persifflage bieten konnte.
Kurz, es ist ein leichter Sieg, den der Atheismus über die
Furchtreligion mit ihrer Dogmatik davonträgt, wobei er noch
durch die Macht der Rechtsreligion unterstützt wird und seine
besten Motive erhält; denn das sittliche Bewusstsein muss die
in's Menschliche umgedeuteten Naturvorgänge als unwürdig und
unmoralisch verwerfen und die Götzen, die keinen sittlichen Geist
haben, mit Spott und Verachtung, wie die jüdischen Propheten
thaten, aus dem Bewusstsein zu vertilgen suchen.
Es kann aber dem Atheisten nicht viel schwerer werden,
auch die Dogmatik der unreinen Rechtsreligion, wie wir sie z. B.
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t)oginatik. 369
im Judenthum finden, umzustürzen; denn da sie den grimmen
Machtgott der Furchtreligion mit dem reinen Gott des Gesetzes
verschmolzen hat, so hat sie ja ihrer Dogmatik die Achillesferse
gegeben, durch deren leichte Verwundung ihr Gott zu Grunde
gehen mnss. Ein Gott, der in seinem Zorn ganze Völker mit
Mann und Weib und Kind, ja auch mit ihrem Vieh vertilgen
lässt und der so oft zu Reue übergeht, der muss wegen seiner
Wandelbarkeit und ünvollkommenheit, bei welcher allein
Reue eintreten kann, der Kritik verfallen. Erinnert ein Gott
dieser Art doch an solche Despoten, wie Alexander der Grosse,
der im Zorn auch seine besten Freunde masslos misshandelte
und nachher durch überschwängliche Wohlthaten wieder seine
Gnade ihnen zuwandte, weil sein Grimm verraucht und die Reue
eingetreten war. Ein Gott mit solcher menschlichen Leidenschaft-
lichkeit steht allerdings dem Herzen näher, als ein blosses ab-
stractes Sittengesetz, kann sich aber dem Verstände gegenüber
doch nicht als reiner Vertreter des Sittengesetzes halten. Denn
auch sein Lohnen und Strafen liegt jenseits der Sphäre des Ge-
wissens und dessen Aufregung und Beruhigung, da die Motive
der Furchtreligion mit dem Gefühl der Sünde und der Liebe zur
Gerechtigkeit nichts zu thun haben.
Aber auch der reine Rechtsgott verschwindet vor der
atheistischen Kritik; denn man soll sich kein Bildniss und Gleich-
niss von diesem Gotte machen und kann es auch nicht, da es
gar keine Art zu denken und vorzustellen giebt, wodurch man
das Wesen und die Natur dieses Gottes bestinmien und klar
oder deutlich machen könnte. Es ist darum natürlich, dass einige
hartköpfige Denker, wie Fichte, den Gott wegliessen und bloss
das Sittengesetz als abstractes Weltprincip an die Spitze der
Dinge stellten und dass Kant den Gott bloss zu einem dunklen
und gedankenlosen Postulat der praktischen Vernunft machte,
wobei aber nach der Kritik der reinen Vernunft doch nur ein uner-
laubter Gebrauch von dem Gausalitätsgesetz gemacht wird. Kurz
wir mögen eine Theologie nehmen, welche wir wollen, keine
kann für das blosse Rechtsbewusstsein einen denkbaren Gott
nachweisen und definiren. Dieser Gott ist eine blosse Projection,
ein nach aussen geworfenes Spiegelbild, welches, wie alle Ein-
bildungen, nur fllr den Gläubigen existirt und bei jeder verstän-
digen Analyse verschwinden muss.
Teichmüller, Religionspbilosophie. Digitized24>^OOgiC
ätÖ Atheismus«
Was die Atheisten aber an die Stelle des verschwundenen
Gottes gesetzt haben, das ist natürlich nur eine viel abenteuer-
lichere und geistlosere Chimäre; denn die Meisten sind Materia-
listen und projiciren das Spiegelbild der sogenannten materiellen
Dinge in ganz kleinem Massstabe nach Aussen, das nun unter
dem Namen Atome alle möglichen Lagerungen und Bewegungen
ausführen muss, wodurch sie Qualität und Geist heraus zu hexen
hoffen. Die übrigen Atheisten sind Positivisten und verzichten
auf jede Erkenntniss des Wesens der Welt, d. h. sie erklären
sich für Erscheinungen. Diese sich selbst und die übrigen Er-
scheinungen studirenden Erscheinungen muss man sich selbst
überlassen, weil jede Thorheit ihr Ende in sich selbst findet;
denn wie derjenige, der immer nach links gehen wollte und ent-
schieden läugnete, dass es ein Bechts gebe, weil das Bechts auch
eine Form des Links wäre, doch am Ende nicht mehr wissen
würde, wohin er gehen sollte, so hält auch die Thorheit dieser
Erscheinenden nur so lange vor, als sie noch eine Erinnerung
an das Wesen im Bewusstsein haben; wenn ihnen aber der
Begriff des Wesens erst völlig auch nur zu einer Erscheinungs-
form geworden ist, so werden sie von selbst ihren Rausch schon
ausschlafen und sich nachher recht komisch vorkommen. Kurz,
die Kritik der projectiven Theologie glückt den Atheisten ; aber
selbst können sie nichts, was Sinn und Verstand hätte, an die
leergelassene Stelle setzen.
Der zugehörige Cultus.
Mit der Dogmatik und der Furcht und Reue fUllt natürlich
auch jede Gottesverehrung, weil sie weder ein Motiv, noch einen
Gegenstand mehr hat. Die Atheisten können daher in aller
Gottesverehrung bei den verschiedenen Völkern nur Verrücktheit
sehen und Kant ging soweit, auch das Gebet der Christen als
ein lautes Selbstgespräch für eine Verrücktheit zu erklären.
Wir werden später eine freundlichere und gerechtere Deu-
tung des Cultus auch für diese niedrigeren Religionen suchen,
wenn wir erst die wahre Religion bestimmt haben und unseres
Besitzes sicher sind; hier aber verlangt die Gerechtigkeit und
der Gang des Denkens, auf die Seite der Atheisten zu treten,
/Goog^v
Cuitüs. 3t 1
soweit sie Kritik üben; denn auf ihrer Seite stehen bei der
Kritik der Furchtreligion zunächst auch schon die Propheten
und alle Kirchenväter, welche die Leblosigkeit der Götzenbilder
und die Gräuel und die Sinnlosigkeit ihres Cultus schildern und
yerabscheuen. Wir brauchen uns dabei nicht aufzuhalten, denn
die Einzelheiten sind ja von den populären Schriftstellern schon
genügend ausgebeutet.
Demselben Verdammungsurtbeil unterliegt auch der Cultus
der unreinen ßechtsreligion; denn Gott verlangt nicht, wie
die Propheten sagen, nach dem Blut der Widder und Farren,
und der ganze Opfer- und Sühnungsapparat kann fUr ein feineres
Gewissen und Rechtsgeflihl nichts Anmuthendes und Befriedi-
gendes darbieten, da die Elemente dieses Cultus eigentlich nur
in die Furchtreligion gehören und mit dem reinen Geist der
Kechtsreligion in einer von den Propheten beklagten und verur-
theilten Weise widerrechtlich verwachsen sind. Die Atheisten
lachen doch wohl mit Becht, wenn sie die unzähligen religiösen
Bedenklichkeiten auch der modernen Juden betrachten, die ihre
Ceremonien und ängstlich inne gehaltenen Gebräuche bis auf
das Gewebe der Teppiche erstrecken, worauf sie den Fuss
setzen, und die all diese den Geist und seine natürliche und
sittliche Freiheit einschnürenden Beobachtungen nicht als künst-
lerisch schönen Ausdruck ihrer Frömmigkeit, sondern aus Angst
vor dem Zorn Gottes innehalten.
Die reine Kechtsreligion aber, da sie keinen äusseren
Cultus hat, bietet dem Atheisten auch keinen Anstoss. Nur die
Gebete, Gesänge und Lobpreisungen, wodurch der einzelne Gläu-
bige oder die Gemeinde ihren Verkehr mit dem projectiven Gott
unterhält, erregt die Kritik des Atheisten; denn er kann mit
Recht das Dasein eines solchen Gottes im Himmel in Zweifel
ziehen, und^ wie Lucian in seinen Göttergesprächen, über die
Schalllöcher in der ehernen Himmelsschale lächeln, durch welche
Gott die Gebete höre, da die Wolken- oder Aetherregion nicht
geeignet ist für den Aufenthaltsort eines Menschen oder Gottes.
Ueberhaupt ist für den Standpunkt der projectivischen Religion
die Wirklichkeit nur die sinnenftUige Welt, und in dieser kann
kein Gott untergebracht werden. Also erscheint das Gebet wie
ein lautes Selbstgespräch. Kant's Auffassung passt aber nur,
u,y,t,^% Google
372 AtheLsmus.
wenn sie gegen die projective Theologie gekehrt wird, und hat
keinen Sinn mehr, wenn man die christliche Gotteserkenntniss
besitzt, und es ist ein Zeichen seiner unkritischen Metaphysik,
dass er ebenso, wie diejenigen, welche er beurtheilt, nur sinnen-
fällige Wesen für Substanzen hält. Wenn ich daher Kant hier
anfbhre, so geschieht dies nicht, weil ich ihm irgendwelche Be-
deutung für die Erkenntniss des Christenthums zuschriebe, son-
dern eben, weil er davon noch nichts versteht und, obwohl selbst
auf dem Standpunkte der Projectivisten, dennoch schon die
atheistische Consequenz dieses Standpunktes gefunden und in
seiner Kritik der reinen Vernunft bekannt hat.
Fragen wir nun, was die Atheisten an die Stelle des aus-
gerotteten Cultus zu setzen vermögen. Da sie die Beziehungen
des Menschen zu dem souveränen Herrscher der Welt und zu
dem Gesetzgeber abgeschafft haben, so bleiben ihnen nur die Be-
ziehungen der Menschen unter einander übrig, die nur vom Zu-
fall, vom Glück und vom Unglück abhängen. Von einem Cultus
ist also keine Rede, und es kann sich nur etwa darum handeln,
sich, wie dies der triviale Popularschriftsteller David Strauss
vorschlägt, in den Mussestunden an Poesie, Musik und dergleichen
zu erfreuen. Genauer betrachtet ist dieser Vorschlag entweder
sophistisch oder einiUltig; denn die grösseren musikalischen und
poetischen Werke haben ja alle einen religiösen Inhalt, und ihre
genialen Urheber waren keine trostlose atheistische Gemüther,
sondern schufen aus einem gotterflillten, religiösen Geiste. Die
Erquickung, die sie bieten, ist also fUr den Atheisten verboten
oder lächerlich und darf ihm, wenn er Verstand hat, nicht em-
pfehlungswerth sein. In Strauss' Vorschlag liegt also das Be-
kenntniss der Uneinigkeit mit sich selbst; nach seiner Mheren
Bildung verlangt er zwar eine gebildete Nahrung; die plebejischen
Gedanken aber, die er sich im späteren Alter aus den populären
und geistlosen materialistischen Schriftstellern ftir seinen Privat-
gebrauch ausgezogen hat, lassen nur das Stroh und die Disteln
des prosaischen Lebens als einzigen Unterhaltungsstoff übrig
nebst den sinnlichen Genüssen, die etwa der glückliche Zufall
bringt. Es giebt aber viele Menschen, welche sich die atheisti-
sche Sinnesart als sehr anmuthig vorstellen, weil Strauss sich
doch so interessant mit Musik und mit unseren grossen Dichtem
beschäftigt habe. Für solche Leute, die von Consequenz der
uiumzeu uy "»«^Ji vyVjV Iv^
Cultus. 373
Gedanken keine Ahnung haben, hat Strauss geschrieben; diese
würden die englische Sprache auch für vokalreich erklären, weil
eine Engländerin ein italienisches Lied sang. Es ist aber für
unsere Frage völlig gleichgültig, ob der Anhang zum „Alten und
neuen Glauben^^ schön und geistreich ist, oder nicht, wenn nicht
bewiesen werden kann, dass die atheistische Sinnesart des Ver-
fassers diese Vorzüge begründet. Es liegt jedoch auf der Hand,
dass umgekehrt der Atheismus sowohl eine Unterhaltung mit
Göthe, Shakespeare, Bach, Händel u. s. w. entwerthen muss,
als solche Leistungen undenkbar macht. Der „Anhang'^ stammt
aus den besseren pantheistischen Zeiten des Verfassers, und so
erquickt er sich nur wehmüthig an dem Abglanz der schon unter
den Horizont gesunkenen Sonne.
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Die drei pantheistischen Religionen.
§ 1. Definition und Charalcteristik des Pantheismus.
vorauwetxuDg: ^^ ^^ ^^^ höheren Fonnen der Religion auf-
Die zusteigen, müssen wir yon der letzten Form als
^^gtgeh^^* Ansatzpunkt ausgehen. Nun hatte der Atheismus die
pcBuimisUache projectivischen Religionen zerstört, und wir können
aummuDg. ^[q^q atheistische Reflexion noch einmal durch den
Dichter aussprechen lassen: „Was sollen Eure Götter, des kranken
Weltplans schlau erdachte Retter, die Menschenwitz des Menschen
Nothdurft leiht!^^ Und weiter auch die moralische Beziehung
hinwegnehmend sagt Schiller: „Ehrwürdig nur, weil Hüllen sie
verstecken, der Riesenschatten unserer eigenen Schrecken im hohlen
Spiegel der Gewissensangst/^ Der Atheist erkennt also den
Ursprung der im Hohlspiegel der Noth und der Sünde durch
Furcht und Gewissen gebildeten projectivischen Theologie. Das
Resultat dieser Kritik ist nun das Geftihl der Endlichkeit und
Nichtigkeit der Welt. Alles ist eitel, sagt der Weise. Der
Mensch ist wie Heu und lebt nur eine kurze Spanne Zeit, um
dann in's Grab zu sinken. Es bleibt zwar Furcht und Gefühl
der Scham, aber sie wird nicht mehr auf Gott bezogen, sondern
auf endliche Dinge und Personen, die man durch Witz und List
unge&hrlich machen und zeitweilig zu seinem Vortheil benutzen
kann. Wirft der Mensch aber einen Blick auf das Leben im
Ganzen, so muss ihm Alles schaal und leer, nutzlos und sinnlos,
trostlos und öde vorkommen, weil das Göttliche aus der Welt
verschwunden ist und nur das rathlose Spiel endlicher Dinge im
Kampfe um's Dasein und um das Glück übrig blieb. Es giebt
gewiss einige Naturen, die auch in dieser Weltansicht und Reli-
gionslosigkeit glücklich sein können, denn warum sollten nicht
auch Menschen vorkommen, deren körperliche Processe sich har-
uiyuizeu uy x^j v^ v^pc iv^
Definition. 375
fflonisch auslösen und die mit einer unverwüstlichen Gesundheit
und besonders mit gutem Magen, wie Sancho Panza, auch in
erbärmlichen Verhältnissen die gute Stimmung ihres Naturells
geniessen und so bei rüstiger Verfolgung ihrer persönlichen
Interessen im Ganzen trotz mancherlei Unglücksfallen zufrieden
und vergnügt sind. Während Cervantes den Sancho aber zu
einem ehrlichen Gläubigen der Furchtreligion gemacht hat, so
muss bei den höheren Naturen die Entgötterung der Welt einen
Ueberdruss an der Welt, Verzweiflung oder Verachtung des ganzen
irdischen Getriebes hervorrufen; denn da sie ihr Ich in die sinn-
liche Seite setzen und sich mit dem sichtbaren Menschen, als
welchen sie sich anschauen und vorstellen, eins glauben, so muss
sich die in ihnen wirkende höhere Natur des Geistes über die
endliche Creatur und ihre Sphäre erheben und ein pessimistisches
Bewusstsein hervorbringen, eine elegische Stimmung, zerstörte
Illusionen, Menschen- und Selbstverachtung, Eckel an der Arbeit,
das Danaidenfass der Welt mit zu füllen, Weltüberdruss und
Lebenssattheit.
Dieser ganze Zustand der Entzweiung und Un-
Die ooBAÜtutiTen
einigkeit muss genauer betrachtet werden. Wenn Elemente des
das Ich wirklich sich bloss als diesen in den Sinnen Pantheiamim:
Das leb als Qeiat
gegebenen Menschen auffasste und die Welt wirklich und das ver-
bloss als diese in der Erfahrung gegebene Folge whwinden der
von Erscheinungen, so wäre ein Zwiespalt im
Menschen unmöglich; denn tadeln und etwas Höheres und Besseres
wünschen kann man nur, wenn ftlr das Bewusstsein schon ein
andrer Beziehungspunkt vorhanden ist, auf welchen hinblickend
man das Gegebene als mangelhaft durch Vergleichung erkennt.
Kein Hund, den man tritt, kein Ochs, den man schlachtet, findet
das Leben und die Welt schlecht, weil sie nichts andres kennen
und keinen Standpunkt haben, von welchem aus sie das Gegebene
betrachten könnten. Mithin muss das Ich diese ausserhalb der
Erscheinungswelt liegende Sphäre schon erblickt haben, wenn es
zu dem atheistischen Bewusstsein und der pessimistischen Stim-
mung übergeht. Solange es aber bei dem Atheismus bleibt, ist
nur das Bewusstsein des Zwiespaltes vorhanden, aber noch
keine Besitzergreifung der neuen Welt erfolgt, da der Blick nur
kritisch und negativ der Sinnenwelt zugekehrt ist. Es wäre
aber imnatürlich, wenn die Menschheit auf dieser Kippe stehen
376 Pantheismus.
bleiben sollte, und es ist vielmehr in der Ordnung, dass der
Bliek sieh nun positiv dem neuen Beziehungspunkt zuwendet
und diese neue Welt ftlr das Wesen des Ichs erklärt Diese
neue Welt ist der Geist, und das Ich findet sich als
Geist und als Inhaber derjenigen Kräfte, Gefühle und Ge-
danken, die es bisher bei mangelndem Selbstbewusstsein in der
Aussenwelt gesucht und seinen Göttern übertragen oder, kurz
gesagt, projicirt hatte. „Es ist nicht draussen, singt der von
Kant unterrichtete Dichter, da sucht es der Thor; es ist in Dir,
Du bringst es selber hervor^^ Das Ich erkennt, dass seine eigene
Furcht und Hoffiiung der eigentlich werthvolle Inhalt des Götzen-
dienstes ist, und dass die Götzen ihre Macht und Eigenschaften
bloss in seinem eigenen Bewusstsein haben, dass dieses Bewusst-
sein also selbst die Geburtsstätte, der Schauplatz und der Inhalt
seiner Theologie und seines Cultus ist. Ebenso verschwindet
der Rechtsgott in dem Gewissen, sobald das Ich seine Projection
zurücknimmt und nun in sich selbst den göttlichen Bichterstuhl
anerkennt. Kurz, der nächste Schritt, der in das Gebiet des
Geistes führt, lässt auch zugleich die Götterwelt im Ich ver-
schwinden, um das früher so furchtsame und ehrerbietige Ich
nun zum Träger der göttlichen Natur selbst zu machen. Der
Atheismus ist also die Uebergangsstufe, bei welcher nur die
schwachen Naturen stehen bleiben, während die kräftigeren noth-
wendig zum Pantheismus weiter gehen müssen; denn da der
durch die Kritik des Atheisten verloren gegangene Gott draussen
sich gerade in dem geistigen Leben des Menschen wiederfindet,
so muss der Mensch sich stolz aufrichten und sein Ich nicht
mehr mit der sinnlichen Seite seines Wesens identificiren, sondern
es als Geist und damit zugleich als göttlich und als das Höchste
in der Welt anerkennen. Diese Verlegung des Schwerpunktes
des Ichs begründet den Pantheismus.
Die systematische Topik hat demgemäss die verschiedenen
Coordinationen des geistigen Lebens, welche durch den Namen
Pantheismus in Eine Idee zusammengefasst werden, fest zu legen.
Zu diesem Zwecke müssen die Beziehungspunkte gegeben sein.
Nun war uns bisher gegeben einmal die Götterwelt und zweitens
das Ich, welche, durch die Furcht und die Sünde verknüpft, die
zugehörigen religiösen Coordinationssysteme lieferten. Statt der
bisherigen Beziehungsgründe nehmen wir nun, vom Atheismus
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Definition. 377
geführt, einen neuen auf, nämlich den Geist oder die geistigen
Functionen in ihrer selbstbewussten Form. Mit diesem neuen
Beziehungsgrunde (dem Geiste) haben wir daher die bisher ge-
gebenen Beziehungspunkte einzeln zusammenzuordnen, nämlich
erstens die Gott er weit und zweitens das Ich, um dement-
sprechend als Function die pantheistischen Formen der Religion
mit ihren eigenthümlichen Coordinateusystemen zu erhalten. Ob-
gleich wir aber eben die Neugestaltung der Weltauffassung und
der Gesinnung schon kurz überblickten, wollen wir doch jetzt
noch genauer Punkt ftlr Punkt erörtern.
Wenn oben gesagt ist, dass das Ich sich in die
^ ^ ^ 1. Dlo Verlegung
sinnliche oder in die geistige Seite des Menschen de« schwer-
setzt, so könnte ein ungeneigter Leser meinen, das p"°*^
„Setzen" sei in dem Sinne und nach der weder psycho-
logisch noch logisch begründeten Methode von Fichte geredet;
allein wir wollen hier wissenschaftlicher verfahren und auf philo-
sophische Strenge der Untersuchung und Beweisführung Anspruch
erheben. Mit Fichte's Ich und seinen Setzungen wollen wir
nichts zu thun haben.
Nun kann Jeder bemerken, dass das Ich dem Menschen
früh zum Bewusstsein kommt; aber dieses Bewusstsein ist kein
wissenschaftliches, und es gehört überhaupt zu den schwierigsten
philosophischen Aufgaben, das Wesen des Ichs zu bestimmen,
was man schon daraus abnehmen kann, dass Herbart bei seiner
Kritik Fichte's in der Eidolologie das Ich in dem Bewusstsein
suchte und dort überhaupt nicht finden konnte, es sei denn als
eine leere Stelle. Wie komisch dies Resultat ist, wurde ihm
nicht klar; er hätte sonst eine sinnvollere Metaphysik geliefert
Wir wollen einen Redner hören und man zeigt uns bloss das
Katheder oder die Kanzel; man sucht eine Audienz beim Könige
und wird bloss zum Thronsessel geftlhrt. Die modernen Posi-
tivisten bieten aber auch nichts Besseres, da sie den König ftlr
unsichtbar und unerforschlich erklären und bloss das Königreich
beschreiben. Doch genug hiervon.
Im Anfang nun wird sich das Ich seiner selbst in reiner
Gestalt nicht bewusst, sondern gewinnt nur eine Bruttoauffassung,
wobei die Vorstellung von seinem Körper und seinen äusser-
lichen Handlungen völlig überwiegt Wird das Seelenleben tiefer,
so ftlhlt sich das Ich auch als unsichtbarer. Thäter seiner Thaten
u.quizeauy Google
378 Pantheismus.
und erkennt seine geheimen Motive, seine Begierden und Leiden-
schaften. Da aber das ganze Leben im Anfange nach Aussen
gerichtet ist, so wird auch von der Seele nur die sogenannte
Sinnlichkeit entwickelt, d. h. die Erfahrungserkenntniss, die zu-
gehörige leidenschaftliche Seite des Gemtiths und die zugehörige
Geschicklichkeit. Fragt man also einen solchen Menschen, wer
oder was er eigentlich sei, so kann er sich nur dieser ganzen
Region bewusst werden und nur diese für sein Ich halten. Das
soll es bedeuten, wenn gesagt wurde, das Ich setze sich in die
sinnliche Seite.
Dieses selbige Urtheil fällt das Ich auch über sich auf der
Stufe der Rechtsreligion; denn die sittliche Welt des Gewissens
kommt ihm nur in vereinzelten Acten zum Bewusstsein, und es
hat noch nicht seinen Schwerpunkt darin gefunden, sondern weiss
sich nur als Ursache der Sünden. Deshalb fühlt das Ich das
Gesetz über und ausser sich und schreibt es einem fremden
Gesetzgeber oder dem Willen eines Gottes zu; sich selber aber
kennt es nur in den vielartigen und unaufhörlichen Begehrungen,
Strebungen und Handlungen, die durch das Gesetz mehr oder
weniger getadelt und gestraft werden. Auch hier also setzt sich
das Ich in die sinnliche Seite.
Sobald aber die geistige Entwickelung grösser geworden ist,
so muss nothwendig die sinnliche kleiner werden; denn das Be-
wusstsein hat sein Mass und kann sich nicht mit beliebig viel
Inhalt erfüllen. Folglich ist es ganz in der Ordnung, dass das
Ich sich nun als den Träger und Inhaber der zum Uebergewicht
gekommenen geistigen Welt weiss und dass die äusseren Götter
verschwinden, die bisher bei ungebildeter Erkenntniss in's Blaue
projicirt waren.
Wollen wir die Zustände des Bewusstseins aber
2. Das Ich jjQ(.]j genauer erörtern! So lange sich das Ich in die
verschwindet . ,, , ^ . .,./.. . , . •. i
seiiMit. smnliche Seite setzt, identincirt es sich mit der phy-
sischen Erscheinung des Menschen und hat also schein-
bar eine festbegränzte Gestalt und Grösse. Alle seine Triebe
und Geftihle spielen innerhalb dieses Kreises, und das Ich weiss
sich also als ein untheilbares und eigenes Wesen in der Sinnen-
welt. Sobald das Ich sich aber in die geistige Seite setzt, so
ist Alles verändert; denn der Geist ist das Allgemeine, da
die geistigen Güter Allen zukommen können und die geistigen
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Defioition. 379
Handlungen ebenso wie die Gefühle und Erkenntnisse mittheilbar
sind« Sobald daher das Ich die pantheistische Stufe der Reli-
gion erreicht hat, so muss auch das Ich selbst f\lr sich ver-
schwinden.
Denn erstens in der theoretischen Sphäre ninunt es bloss
Theil an der Wahrheit, welche von Allen erkannt wird und
welche in Allen ist. Das Ich ist theoretisch nur etwas, sofern
ein Theil dieser allgemeinen und ewigen Wahrheit im Bewusst-
sein offenbar wird, und das Ich selbst hat dabei keinen Platz
mehr, sondern muss aus seiner eigenen Betrachtung erst ver-
schwunden sein, ehe es die objective Wahrheit fassen kann. Wie
in der Geometrie und Arithmetik kein Ich vorkommt, so auch
in keiner Wissenschaft. So viel einer nebenbei noch an sich
denkt, so viel verliert er an äquivalentem Wissen.
Ebenso zweitens im sittlichen Geist lebt nur das unpersön-
liche Urtheil oder Geftihl, wodurch wir Gutes und Schlechtes
scheiden, Becht und Unrecht bestimmen, und jede Einmischung
des persönlichen Ichs verdirbt das Geftihl und fälscht das Ur-
theil. Blind urtheilt die Justitia. So sind auch alle die Ideen,
die im sittlichen Bewusstsein offenbar werden, allgemein und
bringen Begeisterung und dahör Selbstvergessen und völlige
Hingabe mit sich.
Endlich drittens bietet auch die handelnde Bichtung des Gei-
stes nur das Allgemeine, da das Ich, um die Aufgaben des Geistes
zu erftillen, von sich absehen muss im Dienste der Familie, des
Geschäftes und Amtes, des Staates, der Menschheit, der Civili-
sation, des Fortschrittes u. s. w. Wer dabei an sich denkt, gilt
nicht für acht. So muss auch hier das Ich verschwinden.
Mithin muss das Ich, sofern es gelegentlich an sich denkt,
oder wieder in die sinnliche Stufe zeitweilig herabsinkt, sich
nur als vorübergehende Erscheinung betrachten, als eine ver-
schwindende Welle im Oceane des allgemeinen Lebens, als ein
zerbrechliches und bald zerbrochenes Gefäss flir den göttlichen
Inhalt der Welt, als ein im Stoffwechsel des ewigen Lebens ftir
einen Augenblick functionirendes Organ, kurz, das Ich muss in
der Gottheit verschwinden, die nun Alles in Allem ist
Es ist darum natilrlich, dass in allen pantheis tischen Reli-
gionen von Unsterblichkeit der Seele keine Rede sein kann, weil
das Ich zu keinem nennenswerthen Bewusstsein von sich selbst
uiymzeu uy V^jOOV IC
380 Pantheismus.
in dieser WeltauffaBsnng gelangt*) Da es aber scheint, dass in
einigen pantheistischen Beligionen dennoch die Unsterblichkeit,
z. B. in der Form der Wiedergeburten und Seelenwanderungen,
eine grosse Kolle spielt, so muss dieser scheinbare Widerspruch
bei Erörterung jener Religionen erklärt werden. Wir können
jedoch schon im Voraus hier den Grund aller derartigen
Verwirrungen einsehen; denn, da die wirklichen, positiven Be-
ligionen, wie schon oft hervorgehoben ist, keine reinen Formen
haben, sondern erzartig mit den Formen der anderen Beligionen
vermischt vorkommen, so können uns solche Widersprüche weder
stören, noch verwundem. Die menschliche Seele ist vielmehr
von Haus aus den verschiedenartigsten Einflüssen preisgegeben
und verträgt die seltsamsten Widerspruche, die sich aus dem
angeborenen Naturell und den geschichtlichen Einwirkungen sehr
leicht erklären lassen, sehr schwer aber von jeder Seele selbst
in geistigem Kampfe zu Eintracht und Einklang geordnet und
umgebildet werden. Hier aber in der Beligionswissenschaft haben
wir zunächst mit den specifischen Charakteren der reinen Beli-
gionsformen zu thun und müssen die Lehrsätze finden, welche
schlechthin und unbedingt gelten, wenn auch die Wirklichkeit
lauter unreine und verstümmelte Formen zeigen sollte.
€h»rak. ^* ^^^ ^^^ ^^^ ^^ ^^^ Göttliche verschwindet,
teristiudes so muss das Ziel des Pantheismus nothwendig die
p»ntiieis. Vergottung des Menschen sein, wie dies auch von
1. vergottuDg ^®^ bedeutenderen Pantheisten ausgesprochen und
und ewiges ihnen klar zu Bewusstsein gekonunen ist. Bei den
Neuplatonikem hat man den bestimmten Ausdruck:
aÄo*eoöo*ai d. h. Vergottung, der deshalb auch von vielen Kirchen-
vätern, wie z. B. von dem heiligen Hippolytos und anderen
wiederholt wird, weil sie ihre Schulung durch den Piatonismas
erhielten und deshalb das Christenthum nicht überall richtig er-
fassten, sondern die platonisch -pantheistische Weltbetrachtung
der christlichen unterschoben.
Dass dieses Ziel ein falsches ist, werden wir erst bei dem
Studium des Christenthums erkennen, wo allein der richtige Be-
*3 Darum ist auch in der neuesten pantheistischen Metaphysik Lotzens
diis Ich geradezu eine komische Figur geworden, da es bei traumlosem Schlafe
nächtlich absolut zu Nichts werden soll, um doch am andern Morgen ganz
vergnügt wieder dazusein. Nichts und Sein werden von Lotze wie Sommer-
und Winterresidenz betrachtet.
uiymzeu i
.uy Google
Definition. 381
griff der Substanz gefunden und das Ich als selbständiges ewi-
ges Wesen festgehalten wird; hier dagegen muss uns zunächst
diese pantheistische Forderung in ihrer eigenthtimlichen Grösse
und Herrlichkeit imponiren, da sie uns mit tiberirdischer Kraft
über die Knechtsgestalt des Menschen in den früheren Religio-
nen erhebt und zu einem Ziele zu ftthren scheint, das nicht mehr
überboten werden kann. Denn mit dem Göttlichen, in welches
der menschliche Geist aufgeht, wird uns jetzt auch der ganze
Inhalt der Gottheit gegeben, die höchste Macht und Freiheit,
die Glückseligkeit in ungemischter Freude und die Wahrheit
Wir werden sehen, wie die verschiedenen pantheistischen Reli-
gionsformen diese höchsten Wesensbestimmungen der Gottheit
in dem Vollendeten und Erleuchteten, d. h. in dem wahrhaft
Religiösen, anerkennen. Der Jogi lenkt den Himmel und ge-
bietet über die Natur, er hat die Wahrheit erkannt und ist
selbst die Wahrheit, und er geniesst die Seligkeit. Sobald er
in die wahrhafte religiöse Höhe gelangt ist, fallen auch die
zeitlichen Schlacken von ihm ab, und er geniesst in der wesen-
haften Natur des Göttlichen, das ja nicht in der Zeit ist, son-
dern als Wesen alles Zeitliche durchdringt, ein ewiges Leben.
Diese Ewigkeit ist keine Zeitbestinmiung und bedeutet im Pan-
theismus nicht etwa ein Leben nach dem Tode in zeitlicher
Form, sondern es ist eine Beschaffenheit (Qualität), sofern der
Inhalt des geistigen Lebens selbst das zeitlose Gesetz und We-
sen der Welt in sich schliesst und es zum Bewusstsein und zur
Selbstoffenbarung und zum eigenen seligen Genuss bringt.
Zu dem specifischen Charakter des Pantheismus
^fge^m^n"* gehört es daher zweitens, dass die Religion nicht
im Glauben besteht und dasd es darin keine Gläu-
bige mehr giebt, während die Religiösen der vorigen Stufen noth-
wendig als Gläubige zu bezeichnen waren, da die Gottesvorstel-
lungen flir die Religion der Furcht und der Sünde nicht auf Er-
kenntniss, sondern auf Meinung und Glauben beruhten. Während
die Priester die Wissenden waren in der Religion der Furcht,
sofern sie eben nicht selber glaubten und also gewissermassen
an der Religion nicht theilnahmen, soudern bloss den Laien als
Gläubigen Vorschriften gaben, und während in der Religion des
Gewissens die Propheten selbst nur in höherer Erregung das
Wort Gottes vernahmen und es nicht in sicherer Erkenntniss be-
u.quizeauy Google
382 Pantbeisinua.
sassen und lehren konnten, so muss es umgekehrt für den Pan-
theismus eharakteristisch sein, dass seine Eingeweihten die Fülle
des göttlichen Lebens besitzen und nichts draussen mehr zu
glauben, zu fürchten und zu hoffen haben. Mithin sind sie
Götter geworden oder Göttliche (Wol tj ^eiot). Sofern die
Stufe pantheistischer Erkenntniss oder Erleuchtung und Verklä-
rung aber noch nicht erreicht ist, so yerhalten sich die Einzu-
weihenden und Schüler dennoch nicht als Gläubige dieser Re-
ligion, sondern sie sind eben noch keine Pantheisten und ge-
hören als Gläubige den früheren Stufen der Keligion an, indem
das Motiy der Gottesfurcht oder das Bedürfiiiss nach Gnade und
Erlösung sie beseelt Bis man Pantheist wird, ist man daher
entweder Bekenner und Gläubiger der Macht- oder Rechtsreligion
oder Atheist; gläubige Pantheisten aber kann es nicht geben,
da der Begriff dieser Weltanschauung den Glauben ausschliesst.
Man darf sich bei diesem Lehrsatz auch nicht etwa durch die
Thatsache irre machen lassen, dass z. B. von den Brahmanen
doch die übrigen Stämme als Gläubige betrachtet wurden; denn
der Brahmanismus ist eben eine gemischte Religion, und wenn
man den Pantheismus darin abgesondert hat, so bleibt für die
Gläubigen eine nicht -pantheistische Rechts- und Furchtreligion
übrig, in welcher die Götter und Sühnungen und Opfer ganz
dieselbe Rolle spielen, wie sonst überall in diesen Religionen.
§ 2. Division des Pantheismus.
Das Wie ich sehe, fasst man den Pantheismus über-
f^dimimdls ^^ *^® ®^^® einfache Weltanschauung oder Reli-
Pantbeismuft. gionsform attf; denn, wenn man einen naturalistischen
und idealistischen Pantheismus unterscheidet, so beweist dies
bloss, dass man nur an philosophische Systeme gedacht und die
Religion nicht in ihrem Motiv und ihrem lebendigen Zusammen-
hang verstanden hat.
Es gehört aber in aller Wissenschaft nicht bloss zu den
schwierigsten, sondern auch zu den fruchtbarsten Aufgaben, das
Fundament einer Eintheilung aufzufinden und sicher festzustellen.
Darum dürfen wir uns nicht gleich in die interessanten Gedan-
ken der Pantheisten stürzen, sondern müssen die scheinbar pe-
dantische, aber ftlr eine höher entwickelte wissenschaftliche Bil-
u.quizeauy Google
Division. 383
dang viel' interessantere Frage nach dem fondamentam divisionis
erörtern.
Wollten wir nun naturalistischen und idealistischen Pan-
theismus scheiden, so wäre das Fundament die Gottesidee, die
nach den beiden von den Philosophen angenommenen höchsten ^
Gegensätzen „Denken und Ausdehnung'' oder „ Ideales undKeales**
getheilt würde. Allein diese Gegensätze sind nicht die höchsten,
und diese ganze bisher übliche philosophische Auffassung ist
falsch, wie ich dies in meiner Grundlegung der Metaphysik ge-
nügend nachgewiesen habe. Auch besteht die Religion nicht .
bloss in Vorstellungen über das Wesen der Gottheit Also muss
das Fundament tiefer gelegt werden.
Gehen wir aber auf den Ursprung des Pantheismus zurück,
so verschwanden ja die Götter in den Geist, und das Ich in das
Göttliche des Geistes. Da haben wir sofort die Indication;
denn, wenn das Ich bei dieser religiösen Auffassung verschwindet,
so ist dies ein Zeichen, dass es sich noch nicht von seinen
Thätigkeiten (Realität) und ihrem Inhalte (Idealität) getrennt
und als Wesen erkannt hat. Mithin liegt in diesem Ursprung
des Pantheismus zugleich der hinreichende Grund, um ihn zu
widerlegen und eine höhere Religion zu fordern, wie auch das
rechte Fundament, um ihn in fest und natürlich bestimmte Arten
einzutheilen.
Denn wenn das Ich sich pantheistisch als Geist betrachtet,
so begeht es einen Irrthum; denn der Geist ist ja eine blosse
Thätigkeit des Ichs und ein Inhalt dieser Thätigkeit, da das
Ich auch zuweilen geistlos ist und schlafen kann, ohne aufzu-
hören, ein selbständiges Wesen und Grund von sogenannten
äusseren und inneren Functionen zu sein. Setzt der Pantheis-
mus aber das Ich als Geist, d. h. als Thätigkeit, so muss er
nothwendig in drei Arten auftreten können, da die Thätigkeiten
des Ichs dreifach sind. So haben wir das Fundament einer Ein-
theilung zugleich gefunden und es sicher festgestellt, da es nur
mit dem Ursprung und Wesen des Pantheismus zugleich wegge-
nommen werden könnte, also ebenso nothwendig und gewiss,
wie der Pantheismus selber ist.
Der Pantheismus folgt nun willig unserem Zügel
Die Einthellang o o o
des und geht in drei Richtungen auseinander, je nach-
ptntheismuB. flem q{j^q ^q^ ^j,^[ Thätigkeitsformcn der Seele im
uiyiiized by VjOOQIC
384 Pantheismus.
Uebergewichte ist Ich sage: im Uebergewichte, weil man sich
nicht einbilden darf, als wenn der Geist sich theilen könnte, wie
man einen Knchen zerschneidet. Denn die drei Thätigkeiten der
Seele, die handelnde, fehlende und erkennende Thätigkeit, hängen
innerlich zusammen, da die Handlungen vom Geftlhl erregt und
vom Erkennen geleitet werden, wie die Geftihle von Handlungen
und Vorstellungen entspringen und wie die Erkenntniss vom Ge-
fühl geleitet und von der handelnden Kraft durchdrungen sein
muss, um die Vorstellungen herbeizuführen und zu trennen. Also
kann es sich nur um jein Uebergewicht der Einen oder der an-
deren Seite drehen. Wie der Gelehrte e'in Gelehrter heisst,
nicht weil er allein etwas gelernt hätte und die Andern nichts,
sondern weil er mehr gelernt hat, als die andern Stände und
sich mehr mit dem Lernen beschäftigt, und vHe man einige
Menschen geftlhlvoU nennt, nicht weil die andern gar keine Ge-
fühle hätten: so sollen auch die Arten des Pantheismus nur so
verstanden werden, dass Eine der drei Thätigkeitsformen des
Menschen jedesmal den Mittelpunkt des Interesses oder das
Uebergewicht bilde, während die anderen beiden nur unterstützend
und näher bestimmend hinzutreten.
Wir unterscheiden also drei lebendige und principiell ge-
trennte Arten pantheistischer Religion. Die erste geniesst das
göttliche Leben in der freien und schöpferischen Arbeit und
Thätigkeit des Menschen; die zweite einigt sich mit der Gottheit
in dem alles Irdische verzehrenden Feuer des Gefühls und der
reinen Seligkeit göttlichen Wollens; die dritte scheint Handlung
und Gefühl wegzuwerfen, um in ungestörter Einsamkeit des Ge-
dankens in der Gottheit zu verschwinden und dadurch die Fülle
ihrer Gegenwart zu erleben.
Wenn wir nun den verführerischen Einfiüsterun-
ul!d*werthbt- 8®^ "^^ hingeben wollten, die von Seiten der
stimmang der Hegclianef ausgcheu, so mttssten wir sofort die Arten
^''®"' des Pantheismus in eine bestimmte Begriffsentwicke-
lung auflösen, um ihre dialektische Aufeinanderfolge zu regeln.
Nach dem Schema Hegel's wäre das natürlich kinderleicht; denn
der handelnde Pantheismus entspräche der Objectivität, der quie-
tistische der subjectiven Negativität und der theoretische dem
Princip der höheren Einheit. Demgemäss wäre dann auch die
Werthbestimmung der drei Arten schnell abgemacht, da sie den
Entwickelungsstufen parallel läuft. ^ j
Digitized by VjOOQIC
Division. 385
Allein die Hegersche Dialektik ist schon gewogen und zu
leicht befiinden. Ich habe über diese Frage auch mein Theil
beigebracht in meiner Metaphysik und flige hier hinzu, dass man
die drei Winkel des Dreieckes nicht in einem dialektischen Pro-
cesse evolviren kann. Welcher ist der erste? welcher vertritt das
negative Moment? welcher ist die höhere Wahrheit der beiden
andern? Und auch die vier Arten von Parallelogrammen könnten
nur in spielerischer Phantasie dialektisch geordnet werden; es
wäre ja zum Spott, wenn man bei solchem Versuche ernsthaft
bliebe. Ebenso ungereimt aber wäre die dialektische Gliederung
der pantheistischen Religionsformen, da sie ohne Werden zu-
sammengehören, wie die drei Winkel des Dreiecks. Die dialek-
tische Entwickelung aber Hesse sich beliebig wenden, da man
z. B. auch die erste Form, den handelnden Pantheismus, als die
höhere Einheit aus dem theoretischen und sentimentalen Pan-
theismus ableiten könnte. Meine neue Dialektik der metaphysi-
schen Coordination genügt aber dem logischen Ordnungsbedürf-
niss, ohne der historischen und metaphysischen Wahrheit zu
widersprechen; denn wie die drei Winkel im Dreiecke zusammen-
gehören und sich wechselseitig fordern, so gehören auch die drei
Arten des Pantheismus zusammen, da sie den drei Elementen
der Keligion, der Ethik, Dogmatik und dem Cultus und den drei
darin wirkenden Vermögen der Seele entsprechen. Die Beihen-
folge in der Darstellung ist deshalb willkürlich, wie man bei der
Zeichnung eines Quadrates auch beliebig mit jedem der vier
Winkel beginnen kann, obgleich jeder durch seine Lage im Baum
von dem andern verschieden ist.
Auch die Werthbestimmung der drei Arten ist nur so durch-
zuführen, dass man alle drei als falsche Weltaufifassungen in
gleichen Abstand von der Wahrheit stellt, ohne eine oder die
andere der Wahrheit näher zu rücken und den beiden andern
vorzuziehen. Denn keines unserer drei geistigen Vermögen ist
besser oder schlechter als das andere, da jedes die andern in
sich schliesst. Wie die Theologen wohl in grosse Verlegenheit
kommen würden, wenn sie zwischen Gottes Macht, Liebe und
Weisheit wählen sollten, da die eine Eigenschaft die andere vor-
aussetzt und jede ohne jede andere sinnlos oder werthlos oder
machtlos wäre, so sind auch die drei pantheistischen Beligions-
formen gleichwerthig, weil sie mit gleichem Fehler sich einer der
Teiohmäller, Religionsphilosophie. 25 C^ r\r^rs]{>
uiyiiizeu uy V^JvJvJV Iv,
386 Pantheismus.
drei Thätigkeitsweisen des Geistes allein hingeben nud die an-
deren ebenso yernachlässigen, wie sie überhaupt das Wesen des
Ichs und seiner metaphysischen Beziehungen gänzlich verfehlen.
Um aber bei der Untersnchnng des Pantheismus nicht
dem blossen Zufall, wie die Fahne dem Blasen des Windes,
die Richtung zu yerdanken, so wollen wir von dem Bekann-
teren zu dem Unbekannteren fortschreiten und werden dabei
sehen, dass diese Keihenfolge auch der Verbreitung der
Religionsform entspricht, indem die bekannteste auch die ver-
breitetste ist Sollte man einwenden, dass der theoretische Pan-
theismus, welchen wir zuletzt behandeln, doch in dem Brah-
manismus die verbreitetste und bekannteste Religion sei, so
braucht man zur Antwort nur zu lächeln, da die Adepten unter
den Brahmanen ja sehr wenige sind und alle die Nichterleuch-
teten, wie die übrigen Kasten, nur dem Namen nach zur selben
Religion gehören, wie ja auch David Strauss, Moleschott und
Unzählige dieser Art zur christlichen Kirche gerechnet werden.
Wir suchen hier eine wissenschaftliche Eintheilung der Religions-
formen und werden uns nicht einfallen lassen, die empirisch vor-
kommenden Religionen fiir reine Formen und alle ihre Bekenner
für Gläubige gleicher Art zu halten, wie wir auch seit der all-
gemeinen Wehrpflicht wohl wissen, dass unter derselben Uniform
ein Bauer, ein Gelehrter, ein Künstler u. s. w. stecken kann.
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L Der Pantheismus der That.
Das Motiv des Pantheismus überhaupt ist die aus dem
Atheismus überkommene Stinmiung im Hinblick auf die Nichtigkeit
der Welt, das Gefühl der Gottleere, Gottverlassenheit oder Gottlosig-
keit Da nach der Organisation des menschlichen Geistes dieses
Gefühl dem Hunger entspricht, so muss die Gottheit als Nahrung
gesucht werden, und da die Gottheit draussen verschwunden ist,
so muss uns nun das im Geiste aufgefundene Göttliche satt
machen.
Von den drei geistigen Vermögen wollen wir zuerst das der
That betrachten, weil dieses nach Aussen tritt und daher am
Auffälligsten und gewissermassen am Bekanntesten ist.
Da die Definition dieser Religionsform schon
Elntbeilang.
bei der Eintheilung des Pantheismus überhaupt (S. oben
S. 384) deducirt ist, so bleibt uns nur die Aufgabe, zunächst
wieder eine Eintheilung dieser ersten Gattung des Pantheis-
mus zu versuchen; denn es ist roh, das verschieden Geartete
alles durcheinander in Einen Sack zu stecken, und es ist Sache
der Bildung, jede Eigenthümlichkeit zu beachten, zu verstehen
und richtig zu verwenden, um aber geschickt einzutheilen, muss
man vorher geschickt analysiren; denn aus dem inneren Wesen
der Sache heraus erfolgt immer die Gliederung. Nichts gliedert
sich aber ohne «äusseren Beziehungspunkt, mit dem es sich coor-
dinirt; für beständige Gliederungen muss man daher beständige
Beziehungspunkte finden.
Nach dieser Ueberlegung können wir nun leicht unser Werk
vollziehen. Wir erinnern uns zuerst daran, dass sich überhaupt
die Seele nicht regen und bewegen Vvtirde, wenn ihre Thätig-
keiten nicht ausgelöst würden durch ein Gefühl. Mithin liegen
in dem Gefühl die constanten äusseren Beziehungspunkte für
die zugeordneten Thätigkeiten. In dem Gefühl unterscheiden
wir aber analytisch erstens diejenige qualitativ eigenthümliche
B88 Pantheismus der That.
Grappe, welche sich auf das gesellschaftliche Zusammensein von
Seele und Leib bezieht und also die sogenannte Sinnlichkeit,
oder die Region der Begierden und das ganze natürliche Wohl-
sein und Unbehagen, das irdische Glttck und Unglück umfasst.
Dieser im Wesen des Gefühls liegenden Constanten entspricht
nun in festen Handlungsweisen die ganze durch die Noth be-
stimmte Technik des Menschen. Ich nenne die zugehörige reli-
giöse Gesinnung und Weltauffassung den Fortschrittsenthusias-
mus, welcher die der projectivischen Furchtreligion homologe
pantheistische Religionsform ist
Die Analysis hat aber zweitens im Gefühl die Region des
Gewissens mit den zugeordneten sittlichen Ideen aufzufinden.
Dieser äusseren Constante coordiniren sich wieder besondere
Thätigkeiten, und die auf dieselben begründete Religionsform nenne
ich nach ihren drei Sphären die pantheistische Werkheilig-
keit, den Staats- und den Kirchen-Enthusiasmus. Dieser
Pantheismus ist homolog der projectivischen Rechtsreligion.
Wir müssen nun aber drittens auf eine Religionsform kom-
men, die keine projectivische Analogie kennt, sondern gänzlich
neu ist; ich nenne sie den pantheistischen Kunstenthusias-
mus; denn bei diesem hat das zugeordnete sogenannte ästheti-
sche Gefühl mit den zugehörigen ästhetischen Ideen keine an-
dere Beziehung als zur Handlung und Thätigkeit selbst
Hiermit ist die Eintheilung geschlossen; denn es findet die
Analyse. zwar noch eine Gruppe von Gefühlen, nämlich diejeni-
gen, welche sich auf die Wahrheit beziehen; allein diese haben
eben, weil sie auf den idealen Inhalt gehen und keine äusse-
ren, sondern nur Denkthätigkeiten hervoiTufen, mit dem Pan-
theismus der nach Aussen tretenden That nichts zu thun, son-
dern werden erst bei der Religion des reinen Denkens zu ihrem
Recht kommen.
Das Specifische der drei von uns deducirten Formen bezeugt
sich dadurch, dass erstens in jedem der di*ei Gebiete das Be-
wegungsvermögen sich zu einer besonderen Fertigkeit ent-
wickelt, welche niemals in einem der andern Gebiete etwas lei-
sten könnte, und dass zweitens zur Wirksamkeit in jedem Ge-
biete ein besonderes Motiv treibt, welches niemals in einem
der anderen Gebiete eine Wirkung hervorbringen würde.
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Erstes Capitel.
Der Fortschrittsenthusiasmns.
Am verbreitetsien von allen pantheistischen Stimmungen
muBS wohl unzweifelhaft der GennsB der Arbeit selbst sein;
denn da der Pantheist keine Götter ausserhalb der Welt glaubt
und deshalb auch keine Ziele ausserhalb der Welt sucht, in der
Welt aber die Noth und die Bedürfnisse von allen Seiten den
Menschen bedrängen, so richtet sich die erste Aufinerksamkeit
und Achtung auf unsere That, durch welche wir die Noth be-
zwingen, die äusseren Dinge umgestalten und sie zu unserer Be-
friedigung einrichten. Die Arbeit steht deshalb in wesent-
licher Coordination zu der Befriedigung und zum sogenannten
Glück des Menschen, welches als Summe aller Befriedigungen
betrachtet wird.
In dieser Beziehung nennen wir die Arbeit nützlich, und
die durch nützliche Arbeit umgestalteten Dinge bilden Güter,
welche zu einander stimmen und sich unter einander stützen, so
dass sie nach Erledigung gewisser Arbeiten eine höhere und
nützlichere neue Arbeit ermöglichen, wie z. B. wenn der Wald
urbar gemacht ist, hernach Weizen oder Mais gesäet werden
kann, wenn dieser aber eingeerntet ist, Mühlen und Bäckereien
Yon Nöthen sind u. s. w. Mithin liegt in der Organisation der
Arbeit eine Ordnung, die zu inuner yoUkommeneren Leistungen,
also zu dem sogenannten Fortschritt führt. In dem Zusammen-
hang aller Arbeiten, durch welche möglichst viel Bedürftiisse
durch möglichst viel Güter gedeckt werden, besteht der Zustand
und Grad der Givilisation, worin sich ein Volk befindet, und
die Wissenschaft, welche die Gesetze und Bedingungen der Her-
stellung möglichsten Glückes untersucht, ist die sogenannte Volks-
wirthschaftslehre oder Gesellschaftswissenschaft in engerem und
oogle
390 PantheismuB der That.
eigentlichem Sinne, wobei die ethischen und die tlbrigen idealen
Interessen ans dem Spiele bleiben.
Obgleich nun für die Arbeitsleistungen zunächst nur die
Selbstsucht, d. h. das Streben nach Befriedigung des eigenen
Bedürfiiisses, yorausgesctzt wird, so zeigt sich doch bald, dass
die Bedürfnisse aller Menschen, ebenso wie die Möglichkeit ihrer
Befriedigungen, untereinander in einer wechselseitigen Ab-
hängigkeit stehen, so dass Jeder, um seinen eigenen Nutzen
zu fördern, auch den Nutzen der Andern in's Auge fassen mnss.
Mithin bildet sich mit der Zeit die Idee des Gemeinwohls
oder der allgemeinen menschlichen Glückseligkeit aus,
welche nicht nur die gesammte Nation, sondern in immer weite-
ren Kreisen zuletzt auch die ganze Menschheit unserer Erde, ja
sogar die zukünftigen Geschlechter, denen unsere Arbeiten noch
zu Gute konmien werden, mit umfasst
Es giebt nun gewiss sehr viele Menschen, die
nicht aus Furcht vor einem überirdischen Gotte, auch
nicht, weil ihr Gewissen sie zum Gehorsam unter ein göttliches
Gesetz bände, sondern bloss, weil sie ihrem sonst leeren und
werthlosen Leben einen Inhalt und Werth geben wollen, sich
der Arbeit widmen und, indem sie Nutzen stiften, Güter zur Be-
friedigung der menschlichen Bedürftiisse schaffen und dem Fort-
schritte der allgemeinen Civilisation dienen, auch eine innere Be-
friedigung fühlen und ein entsprechendes Glück gemessen.
Das Motiv dieser Beligion ist durch drei Gefühle auszu-
drücken, erstens durch die Furcht vor den Uebeln, die im All-
gemeinen der Menschheit drohen, zweitens durch die Hoffnung
auf die Ueberwindung aller Uebel durch unsere fortschreitende
Arbeit und drittens durch die Empfindung der Lust an der
Arbeit selbst Diese Arbeitslust muss noch genauer erörtert
werden; denn ein bestimmtes einzelnes Ziel darf man hier
nicht als Motiv voraussetzen, wie z. B. ein Geschäft zu begrün-
den, Geld zu machen, ein Feld zu entwässern, u. dergl., weil
man sonst auf eine bestimmte Arbeitslust, auf eine einzelne welt-
liche Begierde zurückgewiesen würde und keine religiöse Stim-
mung hätte, die immer die ganze Gesinnung des Menschen um-
fasst. Nun bringt aber alle Erfahrung die Einsicht, dass durch
jede Arbeit irgend ein Erfolg erzielt wird, ohne Arbeit jedoch
nichts von der Stelle kommt. Da nun aller Wille nothwendig
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Fortscbrittsenthueiasmus. 391
auf die Zukunft weist, das Zukünftige aber nur durch unsere
Arbeit entsteht, so bleibt im Bewusstsein die Erinnerung an diese
Goordination, und man sieht vor Augen die arbeitende Mensch-
heit mit all den Erfolgen, die man yon der Arbeit erhoffte und
in beträchtlichen Fortschritten wirklich einkassierte. Zugleich
mit diesem gefälligen Bilde löst sich auch, wenn das bewegende
und handelnde Vermögen des Menschen in gehöriger Weise in
Function gesetzt wird, nothwendig immer Lust aus, indem Un-
thätigkeit mit Unlust, Arbeitsamkeit aber mit Freudigkeit ver-
knüpft ist So entsteht dann diese allgemeine Arbeitslust, diese
rastlose Schaffensfreudigkeit und Geschäftigkeit, die gar kein
bestimmtes, inhaltliches Ziel hat, sondern nur auf den Fortschritt,
d. h. auf die Zukunft überhaupt geht, in welcher irgend welche
neue Werthe zur Befriedigung irgend welcher Bedttrfiiisse unter
irgend welchen Umständen irgendwie durch unsere und der
ganzen Menschheit Arbeit hervorgebracht werden soHen. Den
liebenswürdigsten Ausdruck für diese Stimmung findet man bei
Benjamin Franclin, der sonst der Bechtsreligion zugehört, in sei-
nen Beden von „poor Richard'^ Schlag auf Schlag kommen da die
kräftigen Sentenzen und Sprüchwörter hervor, in welchen er
seine Arbeitslust bezeugt und gleiche Stimmung entzündet So
schweben mir in Erinnerung: early to bed and early to rise
makes a man healthy, wealthy and wise und a sleeping fox
Catches no mise, und time is money and life u. s. w.
Sofern nun hier kein individuelles Interesse vorausgesetzt
werden soll, auch kein einzelnes zufällig gegebenes Bedürfiiiss
ein zufälliges und vorübergehendes Ziel steckt, sofern kommt
also in der charakterisirten Stimmung nur die wesentliche und
allgemeine Natur der menschlichen Activität selbst zum Bewusst-
sein und also wird sich nicht die einzelne Persönlichkeit als
Persönlichkeit dabei empfinden können, sondern es geht eine
Weltempfindung in ihr auf, es weht die frische Brise des allge-
meinen Werdens, der allumfassenden Entwickelung der Dinge
belebend in's Herz und erhebt es zu höherem Schwung, zu einem
über das Private und Augenblickliche erhobene Forte und Presto
der Stimmung, die das Recht hat, Enthusiasmus oder Begei-
sterung zu heissen mit dem einzigen Losungswort der Hoffnung,
welches in der Idee des Fortschritts liegt.
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392 Pantheismus der That.
Die im Gebiete des Gedankens ausgebildete,
Dogmatik.
diesem Gefühle zugehörige Welt kann nun unmöglich
einen Gott oder überhaupt festbestimmte Wesen und Ordnungen
enthalten, sondern es wird dabei nothw endig nur in trivialer
Weise der Begriff des Seins von den sogenannten Erscheinungen
abstrahirt, wodurch man natürlich keinen Begriff vom Sein, son-
dern nur von dem Erscheinen im Allgemeinen erhält. Alles Er-
scheinende erscheint aber als immerfort sich verändernd, wer-
dend, fliessend. Da nun der Pantheist sich gegenüber keinen
Gott mehr hat, sondern selbst als Erscheinung in dem grossen
Meer aller Erscheinungen verschwindet, so wird im Allgemeinen
die Dogmatik dieser Religion etwa in der Spencer' sehen Weise
ausgebildet werden, wobei die Aufmerksamkeit sich bloss auf
die Differenzirungen und Integrirungen der Erscheinungen richtet,
ohne dass von einem Wesen derselben und einem Sinne der
Welt die Rede sein könnte.
Die pantheistische Ausdrucksweise für die Welt im Ganzen
ist aber verschiedenartig und interessirt uns hier nicht, da wir
nur die religiöse Coordination zu studiren haben. Für den in
der Eintheilung festbestimmten Standpunkt der Religion kommt
es nur darauf an, dass von allen Erscheinungen in der Welt
die der Furcht, Hoffnung und Arbeitslust coordinirten als die
allein wichtigen und werthvoUen betrachtet werden. Mithin mag
der Dogmatiker dieser Religion zwar auch von den übrigen
Dingen sprechen, das Hauptinteresse aber, und woflir alles Ue-
brige nur als Material und Substruction zu dienen hat, ist offen-
bar das nationalökonomische, und die ganze Welt ist ihm nur
eine grosse Wirthschaft, die immer vortheilhafter arbeiten, immer
mehr capitalisiren und also immer grösseres und allgemeineres
Glück verbreiten soll. Da aber das Glück nur eine augenblick-
liche Abwendung des gefürchteten Uebels ist, während inzwischen
durch die veränderte Lage der Dinge schon neue Bedürfnisse
und neue Gefahren entstehen, so wird der Dogmatiker das Glück
auch auf keine Weise definiren können, sondern muss nur über-
haupt den Ausdruck für die Erscheinungen finden, wonach durch
fortwährenden Fortschritt bei immer erweiterten Bedürfnissen
immer zahlreichere Befriedigungen in dem unaufhaltsamen Flusse
des Lebens ermöglicht werden. Also kommt die Dogmatik dar-
auf hinaus, bloss das dem ethischen Motiv zugeordnete ideelle
FortschrittscnthuRiasmos. 393
Object allgemein auszudrücken, welches aber von dem Motiv
nicht etwa als ein selbständiges Wesen abtrennbar ist, sondern
eben nichts als die menschliche Ärbeitsthätigkeit selbst mit der
zugehörigen Lust, Furcht und Hoffnung bedeutet.
Es ist in die Augen fallend, dass der Cultus
dieser Religion nur in der Arbeit selbst bestehen
kann. Freilich darf man der Arbeit nicht selbstsüchtige Motive
zu Grunde legen, wie wenn es sich darum handelte, bloss was
die einzelne Persönlichkeit bedrückt und ängstigt, zu beseitigen
und die Gegenstände ihrer Hoffnung zu erreichen; für den Pan-
theisten ist eben die Erweiterung des Gesichtskreises in der Art
gewonnen, dass er sich nur als Glied der ganzen Kette nimmt
und sein particuläres Wohl und Weh als Beispiel oder als Ein-
schlag eines Fadens aus dem allgemeinen Gewebe des mensch-
lichen Glückes und Unglückes betrachtet. Mithin gilt die indi-
viduelle Arbeit, soweit sie vom Standpunkt dieses pantheistischen
Fortschrittsenthusiasmus betrieben wird, als Cultus, d. h. als
Schaffen am Webstuhl des allgemeinen Menschenglücks, wobei
die Trennung des Ich und Du verschwunden und nur das Geflihl,
wie weit wir es schon gebracht und wie weit wir es noch bringen
werden, übrig geblieben ist. Diese Arbeit hat deshalb auch keine
wissenschaftliche, künstlerische, sittliche, politische und kirch-
liche Tendenzen, sondern bloss wirthschaftliche. Man schafft
mit an dem Bau eines Canals, einer Eisenbahn und freut sich
daran auch beim Zusehen. Zu welchem Zweck arbeitet man
da? 0, es ist herrlich! seht, wie die Arbeit fortschreitet, bald
wird die Locomotive auf dieser ganzen Strecke pfeifen. Und
was hat man davon? Ei! dann wird man leichter und schneller
zusammenkommen und alle Waaren schneller und billiger erhalten
können. Und welchen Vortheil bringt das? Durch Erleichterung
des Verkehrs wird man besser zusammenarbeiten und durch
grössere Billigkeit mehr von den Waaren anschaffen, gebrauchen
und gemessen können. Und warum will man das? Wer so
fragt, gilt als völlig dumm; denn der Inhalt dieser Religion
besteht ja bloss in der Ausbreitung des sinnlichen Glückes und
deshalb in den Fortschritten der Arbeit.
Obwohl man allgemein diesen ganzen Standpunkt Utili-
tarismus nennt, so könnte man ihn recht wohl auch Promo-
theismus nennen^ wenn man einen vornehmen Vertreter aus der t
uiumzeu uy x^jv^wV Iv^
394 Panthei8inu8 der That.
Mythologie zum Patron haben möchte; denn dieser Atheist fing
an, der Menschheit das Feaer zu verschaffen und mit diesem
Einen Nutzen zugleich unzählig viele andere Fortschritte der
Menschheit anzubahnen, wie er auch ohne alle Bücksicht auf die
Götter bloss die Glückseligkeit der Menschen durch ihre eigene
Arbeit und Thatkraft suchte. Es dreht sich nun zwar, wie in
der Furchtreligion, alles um die sinnlichen Güter und Uebel;
gleichwohl zeigt sich der pantheistische Charakter des Stand-
punkts darin, dass das, was Werth und Geltung hat, nicht von
einem Gotte, sondern nur von dem Menschen selbst erwartet
wird. Dabei muss es als einerlei betrachtet werden, ob einer
in seiner Arbeit für sich allein schafft, oder ob er als Baumeister
und grosser Unternehmer oder Fürst Vielen gebietet, ob er kleine
oder grosse Wirkungen erzielt, ob er bloss eine Reihe von Obst-
bäumen pflanzt oder eine Landenge durchgräbt und Millionen
von Schiffen den Durchgang erobert; denn die Stimmung und
Gesinnung ist dabei qualitativ dieselbe. Wer als Beobachter in
seiner Zeit lebt, wird eine überraschend grosse Zahl von Menschen
finden, die zwar scheinbar dieser oder jener positiven Religion
zugehören, in Wahrheit aber „Pantheisten der That" und nur
von dem Enthusiasmus des Fortschritts erfüllt sind, ohne durch
ein anderes, den früheren oder den späteren Religionsformen
specifisch zugeordnetes, Motiv bewegt zu werden.
Man kann diesen Standpunkt in gewissem Sinne auch bei
Göthe finden, sofern er wenigstens am Ende des zweiten Theiles
des Faust auf dieses Bemühen um das äussere Wohl der
Menschheit oder um den Fortschritt der Civilisation den Nach-
druck legte, obgleich er ja auch einige andre viel tiefere Ideen
noch eingemischt und den Standpunkt deshalb nicht ganz rein
dargestellt hat Ich ftihre zum Beweise nur ein paar Verse an:
„Den faulen Pfuhl auch abzuziehn, dies Letzte war' das Höchst-
errungene. Eröffh' ich Räume vielen Millionen, nicht sicher zwar
doch thätig-frei zu wohnen. Grün das Gefilde, fruchtbar; Mensch
und Heerde sogleich behaglich auf der neusten Erde, gleich an-
gesiedelt an des Hügels Kraft, den aufgewälzt kühn-emsige
Völkerschaft. Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, das
ist der Weisheit letzter Schluss: nur der verdient sich Freiheit
wie das Leben, der täglich sie erobern muss." Auch in seinem
Prometheus tritt der Standpunkt hier und da deutlich aa£ Doch
uiuiiizeu uy V^J v^WV l^
Fortschritt aenthueiasmus. 395
wag brauchen wir so weit zurück zu gi-eifen; überall in der
glaubenslosen modernen Gegenwart kann man den Utilitarismus
preisen, das Evangelium der Arbeit verkünden hören und dem
pantheistischen Götzen „Fortschritt" Hekatomben von Menschen-
leben opfern sehen.
Wollen wir diese Religion der „kühn - emsigen"
und „thätig-freien" Menschen der Kritik unterwerfen,
so heisst das so viel als untersuchen, ob wir wirklich dadurch
befriedigt werden könnten. Nun enthält aber ihre Ethik nur
die Forderung und den Genuss der Arbeit als Tugend und
ausserdem noch das Wohlsein und sinnliche Behagen als höchstes
Gut. Theilen wir also die Frage, so ist zunächst die Arbeit
als solche von sehr zweifelhaftem Werthe; denn Steine zu klopfen,
oder Hemden zu plätten und Stiefel zu putzen, und zwar immer
und ewiglich, das ist kein Genuss, fUr den man Propaganda
machen könnte. So ist die Arbeit als solche auch nicht werth-
voll, sondern inhaltslos und kann auch dem völlig Unnützen ge-
widmet werden. Ihr Werth liegt, wie schon Aristoteles scharf
definirt hat, ausser ihr selbst in dem Zwecke, woflir man arbeitet.
Damit kommen wir auf den zweiten Theil der Ethik, auf den
Wohlstand, welcher der einzige Zweck aller Arbeit sein soll.
Nun verwandeln sich zwar die Vertreter dieser Religion, wie
z. B. Spencer, wenn sie Angriffe befürchten, geschwind in die
Sepia und lassen ein paar Tropfen ihres Tintensaftes ab, um sich
in eine undurchsichtige Wolke einzuhüllen, indem sie das „per-
sonal well-being** und „well-being of others** und „welfare" über-
haupt über das sinnliche Wohlbehagen hinaus auch auf moralische,
künstlerische, wissenschaftliche und jede gewünschte Befriedigung
ausdehnen. Allein diese Taktik hilft nichts; denn wir warten
ruhig ab, bis die Confusion vorübergegangen ist. Wenn nämlich
z. B. die künstlerische und moralische Befriedigung Zweck wäre,
so müssten Principien aus dem eigentümlichen Wesen der Kunst
und des Gewissens massgebend und also eine ganz andere Ethik
geschaffen werden. Es dreht sich aber bei Spencer und seinen
Religionsgenossen alles gute Handeln bloss um den Ueberschuss
von Lust, wie bei dem schlechten Handeln um einen Ueberschuss
von Leid, der dadurch uns selbst in der Zukunft oder andern
Menschen erwächst. Da nun in der Kunst, im Gewissen und in
der Wissenschaft objective Normen hingestellt werden können,
uiuiiizeu uy x^jvyVJSx Iv^
396 Pantheismu« der Thafc.
deneu a priori auch die Befriedigung coordinirt ist, so zeigt sich,
dasB die Spencer* sehe Ethik, die, wie er gelbst bekennt, nur
relativ ist und weder Güter, noch Pflichten definiren kann, sich
bloss um das zufällige and perspectivische sinnliche Behagen
dreht und ihrer Natur nach materialistisch ist. Das sinnliche
Glück aber theilen wir mit den Thieren und, da der Mensch
nur mit den Füssen auf dieser Unterlage seiner Entwickelung
steht, so lassen wir Spencer und die Fortschrittsenthusiasten mit
ihrer Ethik dort unten und erklären, dass für den Menschen
Herz und Kopf und Persönlichkeit noch andere Ziele der Be-
friedigung erheischen. Bei Spencer kann man, als an einem
wirklich hübschen Specimen, sehen, wie genau der niedrige
Standpunkt der Religion und Philosophie der zugehörigen niedrigen
Begabung seines Vertreters entspricht; denn Spencer erhebt sich
in seiner geringfügigen Reflexion und in seiner entsprechend un-
bedeutenden Gelehrsamkeit grade zu der Stufe, auf der man
überhaupt anfängt zu philosophiren. Wäre er von grösserer
Anlage, so würde er die zugeordneten philosophischen Gedanken
der zugehörigen Autoren verstehen und ihre Werke gelesen haben.
Er würde dann z. B. wissen, dass sein Standpunkt schon längst
von Piaton in seinem Dialoge Protagoras mit feiner Ironie und
gutem Humor beseitigt ist.
Wenn nun die Dogmatik dieser Religion auch den Sinn
und Werth der Welt bloss in dem sinnlichen Wohlsein und der
diesem Zweck gewidmeten Arbeit des Menschen findet und der
Cultus dieser Religion ebenfalls nur in der Arbeit für den Fort-
schritt besteht, der den ephemerischen Menschen bei immer er-
neuten und veränderten Bedürfnissen zu einem betriebsamen
Leben mit fortwährendem Anschluss von Arbeiten nöthigt, so
kann man zwar nicht umhin, diese Fortschrittsenthusiasten zu
loben, weil sie ihr als Ameisenleben empfundenes Dasein nicht
unnütz hinbringen, muss ihren Lebensgenuss aber doch nur für
die unterste Stufe menschlicher Güter und ihre Lebensarbeit nur
für den Sockel erklären, auf denen erst die Statue der Mensch-
heit aufzurichten ist Denn das blosse Wohlsein und der Wohl-
stand wird ja augenblicklich weggeworfen, sobald höhere Güter
in's Spiel kommen, wie der Dichter wahrheitsgemäss singt:
„Was scheert mich Weib, was scheert mich Kind, lass sie betteln
gehen, wenn sie hungrig sind, ich trage weit bessres Verlangen,
Portschrittsenthusiasmus. 397
den Kaiser, den Kaiser zu schützen." In diesem Falle ist nun
schon bloss die von Bewunderung und Ehrliebe getragene Hin-
gebung und Treue ein genügendes Motiv, um die äusseren Güter
wegzuwerfen ; um wie viel mehr also wird der Werth des blossen
Wohlseins sinken müssen, wenn die höheren und herrschaftlichen
Tugenden selbst in Frage kommen.
Wenn wir daher den Utilitarismus wie einen guten Diener
schätzen können, weil er durch seine fleissige Arbeit den Wohlstand
- und also die nöthige Müsse und Freiheit flir die höheren Geistes-
thätigkeiten vermittelt, so ist doch dieser ganze Standpunkt,
wenn er flir sich etwas gelten will, als eine Frühgeburt zu be-
zeichnen, die noch nicht ausgetragen und ausgereift ist, sondern
mitten in der Zeit der Entwickelung schon abschliesst. Die
ganze Aufgabe des ewigen Fortschritts ist ja das Loos des
ewigen Juden, der immer umläuft und niemals fiuhe findet. Nie-
mals ist ja der Augenblick gekommen, wo man auf diesem Stand-
punkte wirklich zufrieden sein könnte, wo man zum Augenblicke
sagen dürfte: „Verweile doch, du bist so schön". Deshalb lässt
Göthe in richtiger Erkenntniss auch den Mephistopheles die Kehr-
seite dieses Arbeits- und Civilisations - Enthusiasmus enthüllen;
denn erstens verkleidet sich die Sorge für die äusseren Bedürf-
nisse der Menschheit in Rücksicht auf die drohenden Gefahren
iu tausend Gestalten und täuscht beständig den Geist, so dass
er nie zufrieden ist, und zweitens ist ja aller Erfolg der Civili-
sation auch nur vorübergehend; denn „mit Deinen Dämmen,
sagt Mephistopheles zu Faust, bereitest Du nur Neptunen, dem
Wasserteufel, grossen Schmauss. In jeder Art seid ihr verloren;
— die Elemente sind mit uns verschworen und auf Vernichtung
läuft's hinaus." Und das „Grab" kommt zwischen alle Pläne
und Arbeiten unvermeidlich. Die Arbeit ist eine Danaiden-
arbeit, da das Fass Löcher hat, und niemand die menschlichen
Bedürfnisse jemals ganz befriedigen kann, während uns das
Fehlende immer als das Beste erscheint und zu neuer Arbeit
stachelt
So ist die Arbeit um. der Herstellung des Wohlseins willen
eine unmögliche und die Arbeit um der Arbeit willen eine leere
Aufgabe. Wenn die Leute daher dennoch mit dieser Religion
zufrieden sind, so hat dies zwei Ursachen; einmal nämlich ist
diese erste Stufe des Pantheismus der Furchtreligion homolog
uiyiiized by VjOOQIC
398 Pantheismus der Thai.
und deshalb, wie diese, für die grosse Masse bestimmt, deren
Güter in dem Gebiete von Furcht und Hoffiiung liegen und nach
dem Verschwinden der projectivischen Götter von der Arbeit der
menschlichen Gesellschaft abhängig geworden sind; zweitens ist
ja die Arbeit überhaupt eine natürliche Function und deshalb
immer zufriedenstellend, wenn kein Bedür&iss nach höheren
Gütern vorhanden ist; denn da die unteren Functionen um der
höheren willen vorhanden sind, so muss denselben auch ein
gewisser zugehöriger Lohn von Befriedigung beschieden sein,
obgleich natürlich, sobald die untergeordnete Function souverän
sein will, alle obengenannten Gründe zum Pessimismus unver-
meidlich werden.
Dass diese ganze Keligion und zugehörige Geistesverfassung
aber eine bloss untergeordnete Bedeutung hat, zeigt sich deutlich
auch an der zugehörigen Wissenschaft, der Nationalökonomie,
die sich nothwendiger Weise in einer principiellen Verlegenheit
befindet. Wenn sie sich nämlich als selbständige, herrschaft-
liche Wissenschaft fühlt, so muss sie eigenePrincipien haben
und nimmt dann die Bedürfnisse und die zugehörigen den Mangel
ausftillenden Güter als ihre Grundlage. Allein diese Grundlage
ist bodenlos, weil ein höheres Princip erforderlich ist, um die
Bedürfhisse zu beurtheilen, damit nicht durch alle die unnützen
und lasterhaften Bedürfnisse, welche ebenfalls als mächtige, wenn
nicht als die mächtigsten Bedürftiisse gefühlt werden und ihrer
Natur nach nothwendig überall in's Unendliche gehen, das nor-
male Bedürfhiss als gleichwerthig oder untergeordnet erscheine
und die ganze Wissenschaft zweifelhaft und verächtlich werde,
zweifelhaft, weil die Befriedigung aller Bedürfnisse unmöglich ist,
verächtlich, weil selbst der Versuch dazu schon gegen das Ge-
wissen geht Ausserdem ist das auch kein Princip, wenn man
von den Bedürfiiissen ausgeht. Denn die Güterlehre hat zwar
ihren Begriff vom Nützlichen und Guten durch die Beziehung
auf die Bedürfnisse; die Bedürfnisse selbst aber müssen erst
erklärt werden; denn warum bedarf man überhaupt etwas? Dass
diese Frage vor ein höheres Forum, gehört, sieht man schon
daraus, da es sonst Aufgabe wäre, seine Bedürfnisse auf das
Möglichste zu vermehren, um desto mehr zugehörige Güter
zu schaffen und sich zugleich desto sicherer unglücklich zu
machen.
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Portschritisentbasiasinus. 399
Es zeigt sich also, dass die Nationalökonomie einer höheren
Wissenschaft untergeordnet werden muss; denn da die Be-
dürfnisse sich untereinander reguliren, indem die Einen die an-
deren ausschliessen oder unterstützen, so müssen sie eine ver-
schiedene Kraft haben, d. h. sie müssen qualitativ geartet
sein. Die Werthmessung der Bedürfnisse aber leistet die St aats-
wissenschaft, die sich deshalb auch herausnimmt, den un-
fruchtbaren und schädlichen Bedürfnissen Steuern aufzuerlegen,
oder sie mit Gewalt zu unterdrücken.
Es ist interessant, dass die Vertreter der National-
ökonomie jetzt gern einen vornehmeren Ton anschla- letzte Revoite
gen und die ganze Gesellschaft mit allen ihren In- «^««^ ^*®
teressen unter ihr Gebot nehmen wollen. Allein wir
dürfen diese Ansprüche nicht als ein vereinzeltes Phänomen be-
trachten, sondern müssen es mit den coordinirten Ansprüchen
der anderen Wissenschaften vergleichen und geschichtlich erklären.
Wer nicht zu den Jüngeren gehört, wird die Zeit erlebt haben,
wo die empirischen Wissenschaften, d. h. ihre damaligen Ver-
treter, alle nach und nach das Joch der Philosophie abschüttelten
und ftlr sich volle Freiheit verlangten. Nachdem sie in dieser
Freiheit schon weitere Fortschritte gemacht, traten dann auch
natürlich die Klügsten noch den Löwen, den sie für todt hielten,
mit Füssen. Die Philosophie aber, die zwar von Natur unfehl-
bar, unsterblich und stärker als die von ihr beherrschten empi-
rischen Wissenschaften ist, sass dennoch still und geduldig, wie
eine Eule bei Tageslicht, wenn die kleinen Vögel mit zornigem
Gekreisch sie umfliegen und mit den kleinen spitzen Schnäbeln
nach ihr hacken. Sie rührte sich nicht, weil ihre Vertreter
wirklich gefehlt hatten und die Wahrheit nicht zeigen und ver-
theidigen konnten. Trotzdem durfte sie ruhig die Zeit abwarten,
wo man wieder nach ihr verlangen würde; denn es lag ja auf
der Hand, dass die Revolutionäre zuerst den Taumel der Frei-
heit kosten würden, dann aber selbst durch eigene Bewegung
an die Gränzen ihres eigenen speciellen Gebietes gelangen und
wegen der neuen Freiheit über die Gränzen hinübergehen muss-
ten, um alsbald zu finden, dass ihnen eigentlich die Herrschaft
überall gebühre. Dies Phänomen ist auch in der That überall
eingetreten; denn bald waren es die Physiker und Chemiker, die
alles in der Welt physikalisch und chemisch erklären wollten
uiumzeu uy x^jvy\J>t Iv^
400 Pantheismus der That.
und sogar die Gedanken ftir chemische Processe nahmen; bald
waren es die Zoologen, die auch den Menschen als Thier bean-
spruchten und seine Staatseinrichtungen biologisch erklärten;
bald waren es Physiologen, die die Welträthsel aufgaben, oder
die ästhetischen Geheimnisse enthüllten oder die wahre Psycho-
logie entdeckten; bald waren es auch Natioualökonomen, die
das ganze Leben der Gesellschaft als ihre Domäne betrachteten
und über die Judenfrage, die Codification, die Willensfreiheit,
kurz über Alles gesellschaftswissenschaftlichen Bescheid ertheilten.
Was sagt die Philosophie dazu? Sie lässt sie ruhig wirth-
schaften, weil der Humor nicht ausbleibt; denn wenn z. B. die
Naturwissenschaft erst die sogenannten künstlichen Gränzen zwi-
schen Natur und Geist überschritten und also von allen Geistes-
wissenschaften naturwissenschaftlich Besitz genommen hat, so
wird sie, sobald das Eroberungsfieber vorüber ist, anfangen, sich
in ihrer Herrschaft zu consolidiren. Sie wird dann ilire verschie-
denen Gebiete überschauen und sie nach natürlichen Gränzen
verschiedenen Ministerien übergeben, sich selbst aber die Ge-
sammtübersicht vorbehalten. Dadurch wird die unmittelbare
Fühlung mit allen Einzelheiten der empirischen Forschung noth-
wendig aufhören, weil die Herrschaft immer die allgemeinen Fra-
gen im Auge behalten muss, und so wird mit Einem Male klar,
dass sich die alte Theilung der Wissenschaften wieder herstellt,
und dass jede beliebige Wissenschaft, welche sich an die Spitze
stellt, die Principien ftir alle sucht und die Gränzen der Einzel-
gebiete und ihren Verkehr überwacht, mit oder ohne Willen die
Rolle der Philosophie spielen und ihren Charakter annehmen
muss. Es würde zu weit ftihren und die Feder zu tief in
Aristophanische Lauge tauchen, wenn man an einzelnen Reprä-
sentanten dieses Resultat verificiren sollte, um die komische
Selbstvernichtung darzustellen, mit welcher diese Empiriker und
Thatsachenphilosophen sich selbst zur Ader lassen und ihr Le-
benslicht ausblasen.
Was hier erörtert wurde, bezieht sich aber nur nach der
jetzt üblichen Sprechweise auf die Wissenschaften selbst, in
Wahrheit jedoch auf einzelne ihrer Vertreter und deren Mei-
nungen; denn gegen die Philosophie kann gar kein Aufstand ge-
macht werden, sondern jeder Denkende muss, er mag wollen
oder nicht, sie anerkennen und gebrauchen, weil er sonst nicht
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Fortschrittsenthusiasmus. 401
denken könnte, eben so wie die Kaufleute nicht gegen die Arith-
metik revoltiren können, weil sie alsbald bei ihrem eigenen
Buchabsehluss und bei ihren Berechnungen untereinander, auch
wenn sie die Käufer tibervortheilt hätten, flir sich die Arithmetik
als Herrin von Gottes Gnaden anerkennen müssen. So können
auch in Wahrheit die Wissenschaften keine Uebergriffe in fremdes
Gebiet machen, ebensowenig wie die Ohren es sich einfallen
lassen, aus Uebermuth einmal das Riechen und Sehen zu über-
nehmen. Es dreht sich deshalb nur um die subjectiven Mei-
nungen mehrerer Vertreter der einzelnen Fächer. Und der Grund
des obigen Phänomens lässt sich aufweisen. Vernunft und Ver-
stand nämlich sind für jedes Fach erforderlich; das Bewusst-
sein der zugehörigen Functionen dieser Vermögen und ihres
ideellen Inhalts aber wird Philosophie genannt; demgemäss ist
philosophische Bildung eine allgemein humane Eigenschaft und
desKalb ein Ingredienz der Fachbildung. Sobald nun eine früher
herrschende philosophische Schule aufhört, die Köpfe zu be-
friedigen, so wird jeder Fachgelehrte auf seinen eigenen Ver-
stand und seine eigene Vernunft angewiesen, um sich die Lücke
auszuftillen; er wird deshalb die Tendenz zeigen, die Principien
seines Specialgebietes über die Gränzen hinaus zu tragen; um
möglichst alle Gebiete darunter zu begreifen; denn es fehlt ihm
ja die Philosophie, und so muss er irgendwie sich zu helfen
suchen, um einen Ueberblick über das Ganze zu gewinnen, und
kann es doch nur nach dem, wovon er herkommt So ist das
Phänomen völlig begreiflich nach beiden Seiten; denn einerseits
verfehlen solche Specialforscher die eigenthümliche Erkenntniss-
quelle und Methode der Philosophie und drängen sich mit den
aufgekrämpten Hemdsärmeln ihrer Werkstube in den hohen Saal
des Rathhauses, andererseits hatten die früheren Rathsherren
das Interesse der Gesellschaft ausser Augen gelassen, oder es
fehlte ihnen an dem nöthigen Salz, um ihre Aufgabe zu erftlUen.
Telohmäller, Religionspbiloaophie. 26 r^ r^^^r-^}^
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Zweites Kapitel.
Die pantheistische Werkheiligkeit.
Die Schwiengkeit unserer ganzen Aufgabe be-
Znr Methode. . , . , . , ^ , r ü v • r • -u
steht dann, dass wir die Reugionsformen m ihrer
gleiehsam chemischen Reinheit darstellen müssen. Während man
bisher der Spectralanalyse den Satz zu Grunde legte, dass jeder
Körper ein bestimmtes ihn charakterisirendes Spectrum habe,
fand sich nun, dass den Verbindungen der Metalle wieder eigen-
thümliche, von den Elementen verschiedene Spectra zukommen,
so dass wegen der Absorptionsverhältnisse und der verschiedenen
Temperaturgrade die Bestimmung des Elementären neue Schwie-
rigkeiten darbietet Je mehr die Chemie fortschreitet, desto
feiner können auch noch die Definitionen der Elemente gegeben
werden. Während aber die Chemie schon lange Zeit an dieser
Aufgabe arbeitet, unternehmen wir hier nicht bloss den ersten
Versuch, sondern wir stellen auch zuerst die Aufgabe, in der
Erforschung der Religion eine exact analytische Me-
thode zu befolgen, nach deren Vorgange dann, wie in der Chemie,
eine apriorische Synth esis möglich wird, während man bisher
nur die grossen positiven Complexe, welche als Religionen be-
kannt geworden waren, zu classificiren versucht hat. Abschreckend
wegen ihrer Undurchsichtigkeit und Unrichtigkeit sind aber na-
türlich alle diese Eintheilungen ausgefallen und so z. B. in hohem
Grade die HegeVsche Religionsphilosophie. Aber auch die mo-
dernen inductiven und vergleichenden Religionsforschungen leiden
an demselben Fehler, dass sie die elementaren Formen nicht
kennen und die Constanten in den ethischen, dogmatischen und
cultischen Coordinationcn nicht offen gelegt haben. Für diese
neue Aufgabe wollen wir hier tiberall den Weg zu erforschen
suchen.
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Werkbeiligkeitseiithusiasmiis. 403
Es giebt flir diejenigen Pantheisten, welche den
projectiven Rechtsgott verloren haben, dagegen in ^^^^^^^^^
sich die Stimme des Gewissens kräftiger hören, nur
eine Befriedigung in Handlungen nach dem Sittengesetze. Die
sittlichen Geflihle und Ideen beziehen sich aber sowohl auf
die einzelne Persönlichkeit als auf die Gemeinschaft, und für
beide Kreise von Handlungen finden sich die einzelnen Menschen
verschieden beanlagt. Wir betrachten hier zunächst die Gruppe
Derjenigen, welche in dem Kreise der einzelnen Persönlichkeit
sich bewegen.
Der Gattung nach fällt nun dieser religiöse Standpunkt
insofern mit der Frömmigkeit der Religion des Rechts zusam-
men, als es wesentlich das Gewissen ist, dessen Zufriedenheit
gesucht wird. Die Differenz aber liegt darin, dass der Gläu-
bige der Rechtsreligion einem auswärtigen Gesetze gehorcht,
dessen Urheber er in blindem Glauben verehrt, während der
Pantheist den Grund der Gesetze in sich selbst findet und die
Verehrung daher sich selbst zuwendet In der Rechtsreligion
kommt es vor Allem an erstens auf Frömmigkeit, d. h. Glauben
und Gehorsam gegen den Willen des Gesetzgebers, und zweitens
auf Werkheiligkeit, d. h. auf die durchgehende Correctheit und
Legalität aller Handlungen, die dem Gotte gewissermassen ge-
weiht und dadurch heilig werden. Das pantheistische Correlat
dazu wäre nun eigentlich die sogenannte „Tugend", d. h. die
Vollkommenheit sittlichen Erkennens, Wollens und Thuns. Allein
da in der Tugend das Wollen und Erkennen einem anderen
Vermögen zugehört, so müssen wir die Tugend spalten und hier
mehr das Thun und Können berücksichtigen, weil es sich hier
um die Vorherrschaft des handelnden Vermögens dreht. Die
Correctheit desselben kann daher auch als Werkheiligkeit be-
zeichnet werden und als pantheistische insofern, als das
Obligatorische des Wollens nicht in der individuellen Persönlich-
keit mit ihrem zuftilligen Bewusstseinsinhalte liegt, sondern in
der allgemeinen Natur der Welt, von welcher das Ich nur eine
Erscheinung, eine vorübergehende Offenbarung ist. Durch diese
letztere Auffassung wird dieser Standpunkt nicht blosse Mora-
lität, sondern Religion, sofern der Religiöse seine Handlungs-
weise als die höchste Lösung des Welträthsels, als die vor-
nehmste imd beste Leistung und Frucht des Universums betrachtet
u4piizeu uy 'V-jOOV l\^
404 PaDtbeismus der That.
und sich daher in seinen Handlungen als ein heiliges und un-
endlich werthvoUes Wesen verehrt, da er sein Ich nur als vor-
übergehende Existenz- und Erscheinungsweise der Einen Natur
der Welt ansieht.
Diese Keligionsstufe ist durchaus keine künstlich
co:^^'mation. coustruirte, die etwa nur im System ihren Platz hätte,
ohne in der Wirklichkeit vorzukommen. Wer dies
meinen sollte, der kann nur die zufalligen Anhängsel und Yor-
urtheile nicht absondern, die sich allerdings in jeder historischen
Form immer aus dem umgebenden Medium niederschlagen. Wer
aber mit einiger Aufmerksamkeit beobachtet, wird bald erkennen,
dass viele Moralische und Fromme ihre theologischen Annahmen
in blossen Worten besitzen und dass sie vielmehr ihre eigenen
Handlungen flir das Heilige und WerthvoUe in der Welt ansehen
und ganz in die fortwährende Anschauung und Ausübung ihrer
Tugend verliebt sind, sich selbst unendlich deswegen verehren
und immerfort von sich und ihren Werken sprechen und ihr Leben
Anderen als Vorbild aufstellen. Die Götzenbilder gelten ihnen
nichts, der unsichtbare und unvorstellbare Gesetzesgott ist ihnen
auch verschwunden; dagegen ist nun zum Götterbild ihr eigenes
Leben geworden, nicht aus blosser persönlicher Eitelkeit und
Unwahrheit, sondern weil sie die Stimme des Gewissens kräftiger
hören und ganz in der Conformität der Handlungen mit dem
inneren Gesetz ihrer Natur ihren Werth, ihre Vollkommenheit
und die göttliche Verklärung der idealen Natur der Welt suchen
und finden.
Diese pantheistischen Werkheiligen thun daher dieselben
Werke, welche auch sonst von der Rechtsreligion und von der
Moralität gefordert werden, sie üben die Nächstenliebe praktisch,
sie besuchen und pflegen Kranke, selbst bei gefährlichen und
ansteckenden Seuchen mit völliger Verachtung der Gefahr und
mit aller Selbstaufopferung, sie gehen in die Gefängnisse und
trösten die Unglücklichen, sie geben reichliche Almosen, sie
unterstützen die armen Verwandten, sie erziehen fremde Kinder,
ernähren und kleiden die Armen, unterrichten ohne Lohn die
Vernachlässigten, kurz sie sind immer zu jedem Opfer bereit,
und jede Anstrengung dieser Art ist für sie ein Genuss ihrer
eigenen Heiligkeit. In der katholischen Kirche hat man diese
Naturen nicht übersehen können; man hat für sie eine besondere
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
WerkheiligkeitsenthusiaBmus. 405
Rubrik geschaffen; denn während die gewöhnlichen Gläubigen
nur das Vorgeschriebene thun und eine mittelmässige sittliche
Anstrengung leisten, so erheben sich die zu unserer Form gehö-
rigen Fronunen zu Werken, welche die Forderung tiberschreiten
(opera supererogationis), und erlangen daher einen Schatz
ttberschtlssiger Werke, der nach dem Standpunkte der Furcht-
religion sogar zu einem Handelsartikel und Tausch- und Stellyer-
tretungs-Object werden kann. Viele Frommen dieser Art stehen
allerdings ganz auf dem Standpunkte der unreinen Rechtsreligion;
man findet bei wirklicher Menschenkenntniss aber auch nicht
wenige, die als pantheistische Heilige zu betrachten wären, da
es sich bei ihnen nur um den Genuss ihrer eigenen Heiligkeit
dreht, und dies lässt sich um so leichter erklären, da die unauf-
hörliche Beschäftigung mit Tugendwerken und also die An-
schauung der Gegenstände ihrer Handlungen und das Geftlhl
ihrer eigenen Leistungen in ihrem Bewusstsein allen Platz aus-
flillt, weshalb die etwaigen Gedanken an die auswärtige Gott-
heit mehr und mehr zurücktreten müssen, bis schliesslich nur der
Standpunkt des pantheistischen Heiligkeitsgenusses übrigbleibt.
Man darf auch nicht glauben, als wenn all die von der Re-
ligionsphilosophie ausgeprägten Begriffe und Ausdrücke, wie
z. B. „pantheistischer Heiligkeitsgenuss'' u. dergl., den Angehö-
rigen dieses religiösen Standpunktes geläufig sein müssten; daran
fehlt viel, denn es ist durchaus nicht nöthig und nicht einmal
möglich, dass sie sich selbst begriffen und sich classificiren
könnten, weil sie sonst ganz von selbst ihren Standpunkt ver-
lieren würden. Deshalb will ich nur daran erinnern, dass man
die hier definirte und charakterisirte Religiousform auch in vielen
ganz trivialen Repräsentanten findet, die sich sehr wundem wür-
den, wenn sie erfllhren, dass sie in der Religionsphilosophie auch
eine Rolle spielen. Ich meine nämlich die ziemlich zahlreiche
Classe von solchen Leuten, die nichts glauben und nichts hoffen,
die auch niemals über die Normen ihres Thuns räsonniren, den-
noch aber finden, dass es in der Welt, an der sonst nichts daran
sei, am Besten wäre, seine Pflicht zu thun; denn diese Leute
legen, obgleich sie von sich selbst auch nichts Grosses halten,
dennoch durch ihr rechtes und gesetzliches Leben an den Tag,
dass sie von dem Pflichtbewusstsein regiert werden und dass
ihre von der nun einmal zu beobachtenden Ordnung geleiteten
40G Pantheismus der That.
täglichen Handlungen ihnen den Werth und Inhalt der Welt aus-
machen. Die Freude, die sie an ihrem richtigen Thun haben,
ist aber auch so wenig intensiv, dass man erst darauf aufmerk-
sam zu machen hat, dass es sich hier um Formen, also um
Qualitäten und nicht um Quantitäten dreht, weshalb solchen
Leuten der pantheistische Heiligkeitsgenuss dennoch zuerkannt
werden muss.
Wie es dem Chemiker gleichgültig ist, ob die £le-
BnddhtemuB ^^'i*^? die er in seiner Analyse gefunden hat, in ihrer
reinen Form in der Natur vorkommen, so ist es für
die Aufgabe unserer fieligionsanalyse nicht erforderlich, dass wir
für jeden gefundenen, exact bestimmten religiösen Standpunkt
auch eine historisch gegebene Religion nachweisen könnten;
denn die historischen Religionen sind ja nothwendiger Weise
alle nur unreine Formen, in welche verschiedene elementare For-
men aufgenommen sind und zwar gewöhnlich mit dem Ueber-
gewicht Eines Elements. Gerade wegen eines solchen Ueber-
gewichts wird es aber doch möglich, die eine oder die andere
historische Religion als ein Beispiel heranzuziehen, um den Cha-
rakter des reinen Elementes darin aufzuweisen und gewisser-
massen spectralanalytisch die charakteristischen Linien des Spec-
trums darin wiederzuerkennen. So scheint mir der Buddhismus
überwiegend unserer Religionsstufe hier zu entsprechen.
Da ich nicht Sanskritgelehrter bin, so muss ich mich auf
die Uebersetzungen aus der buddhistischen Literatur und auf die
speciellen Fachforscher und zwar besonders auf die Darstellun-
gen von Max Müller und Oldenberg verlassen. In Hinblick
auf das hiermit angedeutete gelehrte Material können wir nun
das charakteristische Spectrum pantheistischer Werkheiligkeit im
Buddhismus wiedererkennen.
So ist erstens das Motiv aller pantheistischen Religion,
das Geflihl der Nichtigkeit aller Erscheinungen der Welt, und
das Bedürfniss nach einem göttlichen Gehalt im Buddhismus klar
zu Tage tretend; denn die beiden ersten Sätze des buddhistischen
Credo enthalten den Ausdruck dafiir, dass alle Erscheinungen
der Welt vergänglich sind und nur Leiden im Schoosse bergen,
da bei dem allgemeinen Werden kein Bestand und Sicherheit
des Begehrten und Gehofften möglich sei. „Dies, ihr Mönche,
ist die heilige Wahrheit vom Leiden: Geburt ist Leiden, Alter
Werklieiligkcitsenthusiasmus. 407
ist Leiden, Krankheit ist Leiden, Tod ist Leiden, mit Unliebem
vereint sein ist Leiden, von Liebem getrennt sein ist Leiden,
nicht erlangen was man begehrt ist Leiden, kurz das fünffache
Haften am Irdischen ist Leiden." Und der zweite Satz (Oldenberg,
Buddha S. 215) lautet: „Dies, ihr Mönche, ist die heilige Wahr-
heit von der Entstehung des Leidens: es ist der Durst (d.h. das
Begehren nach den Erscheinungen dieser immer fliessenden Welt),
der von Wiedergeburt zu Wiedergeburt führt, sammt Lust und
Begier, der hier und da seine Lust findet : der Durst nach Lüsten,
der Durst nach Werden, der Durst nach Macht." — Ich habe
mir erlaubt, die Uebersetzung Oldenberg's hier ungekürzt zu
wiederholen, damit das Motiv der Religion in seiner ganzen
drückenden Schwere hervortrete.
Die zweite charakteristische Linie des Pantheismus über-
haupt ist der Atheismus; denn der auswärtige Gott, d.h. sowohl
der Macht- und Furchtgott als der Kechtsgott, muss vollständig
aus dem Bewusstsein verschwunden sein, ehe die pantheistische
Wendung eintreten kann. So verwirft Buddha die ganze theo-
logische Gelehrsamkeit der Brahmanen und den ganzen Opfer-
dienst und sagt nach Oldenberg's Uebersetzung (S. 175): „Wie
eine Kette von Blinden, also ist die Eede der Brahmanen-, wer
vorne ist, sieht nichts, wer in der Mitte ist, sieht nichts, wer
hinten ist, sieht nichts. Wie denn nun? Ist nicht, wenn es also
steht, der Glaube der Brahmanen eitel?" So war ihm also die
ganze Theologie und das dazu gehörige Opferwesen ausgelöscht
und die rechte atheistische Grundlage der Religion geschaffen.
Nun kommen die beiden specifi sehen Linien des Bud-
dhismus, die unserer pantheistischen Werkheiligkeit entsprechen,
nämlich erstens negativ die Abwesenheit aller übrigen Formen
des Pantheismus; denn nirgends eine Spur von Fortschritts-
enthusiasmus, nirgends politischer oder kirchlicher oder Kunst-
enthusiasmus, nirgends Quietismus oder speculativer Idealismus.
Endlich zweitens wird positiv in den beiden letzten Wahr-
heiten des buddhistischen Credo die alleinige Erlösung (d. h
Erfüllung mit göttlichem Gehalte und Werth) an die Ausübung
sittlicher Handlungen geknüpft, also Genuss der Werkheiligkeit
als das Wesen der Erlösung aufgefasst. Ich lasse auch hier die
Uebersetzung vollständig abdrucken: „Dies, ihr Mönche, ist die
heilige Wahrheit von der Aufhebung des Leidens: die Aufhebung
408 Fantbeismus der That.
dieses Durstes durch gänzliche Vernichtung des Begehrens, ihn
fahren lassen, sich seiner entäussem, sich von ihm lösen, ihm
keine Stätte gewähren." Das Begehren (d. h. die Bewegungen
und Strebungen, welche durch die sinnliche Lust und Unlust
ausgelöst werden) führt ja in die Welt der Erscheinungen, die
als nichtig und leer und leidvoU erkannt war. Das vierte Dogma
lautet: „Dies, ihr Mönche, ist die heilige Wahrheit von dem
Wege zur Aufhebung des Leidens: rechtes Glauben, rechtes Ent-
schliessen, rechtes Wort, rechte That, rechtes Leben, rechtes
Streben, rechtes Gedenken, rechtes Sichversenken." Das immer
wiederkehrende identische Wort ist das Rechte. Wir haben
damit die pantheistische Form der Rechtsreligion, welche auf
dem Gewissen ruht und das Rechte sucht, ohne Rücksicht auf
einen auswärtigen Gott zu nehmen, und welche in dem Genuss
der eigenen Heiligkeit die Erlösung findet.
Ich kann mit Oldenberg nicht ttbereinstimmen,
Apologid
des Baddhismus wcun Cr (S. 295) meint, dass das Sittliche im
gegen Buddhismus nur Mittel zum Zwecke sei, weil es
Oldenberg.
sich nur theils „um die geringen Ziele glücklichen
Lebens", theils „um das höchste und absolute Ziel der seligen
Erlösung" drehe. Oldenberg wird, wie die Texte zeigen, dem
philosophischen und religiösen Geiste Buddhas nicht gerecht,
wenn er ihn in die Fesseln der Zeitvorstellung legt und die
Erlösung nur als etwas Zukünftiges betrachtet; wir sehen
vielmehr überall, sowohl aus der Consequenz des ganzen Stand-
punkts, als auch aus den einzelnen Lehrsätzen und Beispielen
mit genügender Deutlichkeit, dass Buddha in der Heiligkeit selbst
die Erlösung gemessen will, dass der Standpunkt wirklich ein
pantheistischer ist und dass der Weg zur Aufhebung des Leidens
unmittelbar zugleich das Ziel, die Erlösung und Freude mit
sich fuhren soll. Alle die Forderungen des vierten Dogma,
z. B. kein lebendes Wesen zu tödten, sich nicht an fremdem
Eigenthum zu vergreifen, nicht die Gattin eines Andern zu berühren,
nicht die Unwahrheit zu reden, nicht berauschende Getränke zu
trinken u. s. w. enthalten lauter Maximen der Sitten- und Rechts-
lehre; wer diese Forderungen aber erflillt, der soll den Lohn
dafür nicht erst später einmal erhalten, sondern dieser Lohn
soll als Freude unmittelbar wie der Schatten damit verknüpft,
also der Genuss der Heiligkeit selbst, sein. Glänzend sind die
uiumzeu uy 'v_JvyVjVlv^
Werkbeiligkeitsentbusiasmns. 409
Gleichnisse, wodurch Buddha dies lehrt: „Wer mit unreinen
Gedanken redet und handelt, dem folgt Leiden nach, wie das
Kad dem Fusse des Zugthiers folgt. — Wer mit reinen
Gedanken redet und handelt, dem folgt Freude nach, wie der
Schatten, der nicht von ihm weicht." Die unreinen Gedanken
sind aber ofTenbar das verpönte Begehren, welches ja auf die
nichtigen Erscheinungen der Welt geht und also Leiden bringt;
die reinen Gedanken aber sind das rechte Streben, rechtes Ge-
denken u. 8. w., welches nach der gänzlichen Vernichtung des
Begehrens bloss auf Ausübung des Rechtes gerichtet ist, und
diesem folgt also niemals von ihm weichend die Freude, wie
der Schatten.
Man sieht hieraus, dass das überwiegende Element des
Buddhismus sich sehr gut zur historischen Exemplification der
pantheistischen Werkheiligkeitsreligion eignet Dass der Bud-
dhismus gleich Anfangs auch andere Elemente aus seiner Atmo-
sphäre aufnahm und später vielfach ausartete, weiss Jedermann.
Uns interessirt hier aber nicht die Chronologie der zugehörigen
Literatur, durch welche die Inconsequenzen in manchen buddhisti-
schen Aeusserungen sich wohl erklären Hessen, sondern es muss
uns hier sogar gleichgültig sein, ob der Buddhismus von Anfang
an inconsequent war*); wichtig ist ims hier nur, dass diejenige
Gesinnung entschieden überwiegt, welche diese Religion, wie
gesagt, zur Exemplification der Werkheiligkeit brauchbar macht.
Da dieser ganze Standpunkt auf einem Ueber-
gewicht des handelnden Vermögens der Seele über
die beiden übrigen Vermögen beruht, so liegt darin sofort auch
schon der Grund zu seiner Verurtheilung; denn es fehlt dabei
gänzlich ein Princip, um die Pflichten, die wir durch unsere
Handlungen erfüllen sollen, zu bestimmen. Darum muss diese
Werkheiligkeit wesentlich bloss in der Mühe und Selbstüber-
windung liegen und sich also zum wirklichen Leben und zu
den natürlichen Trieben negativ verhalten. Da nämlich das Ich
sich auf diesem Standpunkt in den Geist setzt, der Geist aber
*) Die Frage, ob die Erlösung in der Zukunft liegen oder wirklich
sein soll, begegnet uns später auch im Ghristenthum , wo ebenfalls sich
widersprechende Stellen citirt werden können. Die Auflösung dieses schein-
baren Widerspruches ist nicht schwer, und wir müssen bei der C">->j altuvto^
davon handeln. ^ j
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410 Pantheismus der That.
noch keinen Inhalt hat, sondern nur als handelndes Vermögen
auftritt; so bleibt gar nichts anderes zu thun übrig, als die Be-
gehrungen der sinnlichen Seite des Menschen zu bekämpfen;
denn gerade über die Sinnlichkeit hinaus war ja jetzt der Schwer-
punkt der Seele gewendet, und es kommt nun also darauf an
zu zeigen, dass man kein Knecht der Trägheit, der Völlerei, der
Wollust u. s. w. mehr ist. Darum ist das einzige Princip dieser
Werkheiligkeit, solche Handlungen beständig auszuüben, bei
welchen man Mühe hat, sich selbst überwinden muss, wobei
kein sinnliches Vergnügen stattfindet, ja womöglich wobei Schmerz
und allerlei Leiden ertragen werden müssen. Also gehört dahin
auch Kasteiung, Pasten, Keuschheit, jede Askese, Opfertod u.dergL,
und der Genuss der Werkheiligen besteht gerade in dem Bewusst-
sein, wie schwer eigentlich solche Handlungen für einen natür-
lichen Menschen sind.
Mithin ist diese ganze pantheistische Frömmigkeit inhalts-
los; denn es lässt sich gar kein vernünftiger Grund daftlr an-
geben, weshalb man all dies thun und lassen soll. Es fehlt ja
jedes System einer Ethik, jede Ableitung und Definition der
Pflichten, da nur, wenn die übrigen Seiten des Menschen hinzu-
genommen würden, eine auf den idealen Zweck des Menschen
aufgebaute positive Sittlichkeit denkbar wäre. Also ist der
ganze Werth dieses Werkheiligkeitsstandpunktes nur der Gehor-
sam, der aus dem Geiste stammt und über die Sinnlichkeit
triumphirt; aber es müssen erst noch höhere Auffassungen kommen,
welche flir den Gehorsam einen passenden Inhalt, ein System
von Gütern und Pflichten ausfindig machen. Bei den buddhisti-
schen Heiligen kann man es vorzüglich sehen, dass sie die ver-
meintlichen, oft ganz albernen Pflichten, z. B. kein Thier zu
tödten, irgendwoher aus dem Bewusstsein der Umgebung auf-
nehmen, oder weil es Mühe kostet, sich diesen oder jenen Genuss
zu versagen. Es ist daher gar nicht zum Verwundern, dass
Buddha wegen der Beschränktheit seines Standpunkts nicht einmal
zum Bewusstsein über denselben kommen konnte und einen bloss
scheinbaren und zufälligen Beweggrund unterlegte, nämlich dem
Leiden der Welt zu entfliehen und eine beständige Freude zu
finden, also die hedonistische Motivirung. Allein Hedonismus ist
seine Lehre dennoch nicht, und wir verstehen Buddha viel besser,
als er sich selbst verstand: denn er suchte das Uebergewicht
Werkheiligkeitsenthusiasmus. 411
des Geistes durch den Gehorsam und fand zwar die zugehörige
sittliche Freude, aber noch nicht den Inhalt des geistigen Lebens
und noch nicht die Erkenntniss Gottes und der Welt.
Ebensowenig wie Buddha verstehen sich die vielen modernen
pantheistischen Werkheiligen, welche wir überall verbreitet finden,
und die immer bereit sind, mit Freude irgend eine mühevolle
Arbeit für Andere zu leisten und sich aufzuopfern, obgleich sie
selber und die für solche Opfer verwendete Zeit oft viel werth-
voller sind, als die elenden Dinge, für welche sie mit Selbst-
befriedigung und oft ohne allen Dank und ohne bewundert zu
werden, sich und ihr Leben darbringen. Die Aehnlichkeit solcher
Menschen mit den Frommen der reinen Rechtsreligion ist deshalb
in die Augen fallend, und es kann nicht fehlen, dass sie in
Wirklichkeit auch in einander übergehen, jenachdem bei jenen
Gläubigen der Glaube an den auswärtigen Bechtsgott mehr und
mehr schwindet, oder bei diesen Pantheisten der Grund der
Verbindlichkeit der Handlungen leiser oder deutlicher an die
Vorstellung eines gebietenden Gottes angeknüpft wird, was ja,
wenn der Pantheismus sich ausbreitet, fast mit Nothwendigkeit
geschehen muss, da theils die Vernunft von selbst eine Theologie
erzeugt, theils die mehr in Vorstellungen als in Begriffen denken-
den vulgäreren Menschen immer wieder zu dem Bechtsgott und
gewöhnlich auch zu dem Furchtgott übergehen werden.
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Drittes Capitel.
Pantheistischer Staats-Enthnsiasmns.
Der Standpunkt, den wir eben wegen seiner Inhaltslosigkeit
verartheilten, kann nun durch Anfhahnie eines bedeutenden Inhalts
zu einer grösseren Energie gehoben werden. Den unteren Stufen
gehört immer die Farbe der perspectivischen Betrachtungsweise
an, und so fasste der Werkheiligkeitsenthusiast zwar das Ich
als Geist, aber er betrachtete es noch als einzelnen Geist. Wenn
die Auffassung freier von der Einzelpersönlichkeit wird, so kann
man alle Menschen unter denselben Gesichtspunkt bringen und
auf diese Weise der geistigen Thätigkeit nicht bloss einen
grösseren Umfang, sondern zugleich auch einen neuen geistigen
Inhalt geben. Denn was für mich Gesetz ist, das soll auch
Gesetz für die Andern sein. Indem ich nun die Vielen unter
einem Gesetz zusammenfasse, bildet sich mir die Idee einer
Ordnung aus, nach welcher alle Gleichen und Ungleichen zu-
sammen leben sollten. Eine solche Gesellschaftsordnung, die
sich nicht natürlich durch die Bedürfnisse und die angeborenen
Triebe und Anlagen der Menschen von selbst bildet, sondern erst
aus der höheren Erkenntniss von dem, was sein sollte, auch
wenn es nicht ist, hervorgeht, können wir nun die Staatsidee
nennen und werden demgemäss begreifen, wie die höheren sitt-
lichen Naturen sich mit einem mächtigen und specifisch neuen
Motiv auf die energische Durchführung dieser göttlichen Ordnung
des Gesellschaftslebens geworfen haben. Ist es doch generell
genommen dasselbe Motiv, welches hier wie bei dem vorigen
Standpunkt wirkt, nämlich einerseits das Gefühl der Nichtigkeit
des Lebens, der Gottesverlassenheit der Welt, der Trostlosigkeit
des Daseins, wie andererseits das Bedüriniss nach Erlösung,
d. h. nach Gotterfiillung, nach Anwesenheit und Herrschaft eines
Staatsenthusiasmus. 413
Gottes! Und dieses Bedürfiiiss findet nun in der über die sinn-
lich-leidenschaftliche Natur triumphirenden Macht des unsicht-
baren geistigen Elementes, welches in die ganze Gesellschaft
Ordnung und Gesetz bringt, eine hohe Befriedigung.
Ich meine aber mit dem Staatsenthusiasmus nicht etwa den
Ehrgeiz und die Herrschsucht; denn diese beiden Leiden-
schaften ruhen auf perspectivischem Standpunkt und betrachten
alle Menschen und Ereignisse nur nach der Beziehung zu einer
Einzelpersönlichkeit, was selbst, wenn es in dem grossartigsten
Umfange und Massstabe, wie etwa bei einem Napoleon, durch-
geftihrt wird, zwar wohl wegen der Grösse der mitspielenden
Kräfte Erstaunen und auch Bewunderung hervorrufen kann, aber
nicht zu dem Bereich des viel höheren Enthusiasmus gehört.
Während uns diese Leidenschaften die unreine Form der ge-
suchten Religion bilden, so soll der Enthusiasmus eine göttliche
oder religiöse Macht und ein aus objectiver Betrachtung hervor-
quellendes Gefühl sein.
Den politischen Enthusiasmus können wir schon an den
alten und sagenhaften Erzählungen von Lykurg und durch die
historisch ächten Schriften Platon's, die von einem verwandten
Geiste herrühren, genügend illustriren, ohne modernere Beispiele
heranzuziehen. Solche Naturen, wie Lykurg und Piaton, waren
bereit, sich selbst ohne Ehrgeiz und Herrschsucht von der Bühne
des Staatslebens zurückzuhalten, damit das heilige Götterbild
des von ihnen entworfenen Staates frei ftlr sich lebe. Wenn ich
Piaton hier anftihre, so weiss ich wohl, dass er zugleich einem
anderen religiösen Standpunkte angehört, und wir werden diesen
theoretischen Idealismus noch zu studiren haben, aber Piaton
hatte doch auch den hier gemeinten Staatsenthusiasmus in sich,
und von seinen frühesten bis zu seinen letzten Schriften empfinden
wir bei ihm immer den Hauch göttlicher Begeisterung für die
politische Idee, für die Ordnung des Lebens einer Gesellschaft
nach der Norm des Geistes, der die natürlichen Leidenschaften
zum Gehorsam zwingt.
Die Dogmatik dieses religiösen Standpunktes be-
steht in der Ausbildung eines Staatsideals, wodurch
der Geist Inhalt gewinnt und sich über den zunächst vorher-
gehenden Standpunkt erhebt; denn die Form des Staatslebens,
die Verfassung, die Rechtsordnungen und Verwaltungsnormen
le
.gh
414 Pantheismus der That.
Bind nun der in der Gegellschaft gegenwärtige göttliche Geist,
nicht ein auswärtiger phantastischer Gott, der bloss Opfer
empfinge und Wohlthaten spendete oder vom Himmel her Ge-
setze gäbe, sondern pantheistisch gedacht ein über die natür-
lichen Triebe mächtiger Geist, in welchem das Ich verschwindet,
eine im Menschen oflFenbar gewordene höhere und heilige Macht,
welche das leidenschaftliche Begehren ordnet und als etwas
UebernatUrliches in den Menschen regiert Da das einzelne Ich
bei dem Pantheismus überhaupt in die geistige Function ver-
schwindet, so ist dies hier besonders leicht verständlich, weil durch
die Staatsidee der Geist ja eine gegenständliche Form erhält
und das Rechtsleben als der objective Geist der Gesellschaft
in bestimmten Begriffen gefasst werden kann.
Um an moderne Beispiele zu erinnern, erwähne ich den aus
den Reden an die deutsche Nation bekannten Staatsenthusiasmus
von Fichte, der nicht atheistisch, aber wohl pantheistisch die
Weltordnung, als das lebendig wirkende Sittengesetz, in die Ver-
fassung der deutschen Nation metamorphosirte. Aehnlich ist
auch Hegers Apotheose des Staates aufzufassen, sofern der
Staat bei ihm als Gott, d. h. als objectiver Geist, die Gesell-
schaft durchdringt. Damit werden uns nun nicht etwa leere
Phrasen, oder bloss philosophische Lehrsätze aufgetischt, sondern
es liegt darin die wirkliche Ueberzeügung oder die Dogmatik
von sehr vielen Menschen aus allen Zeiten und besonders aus
unserer Zeit; denn wer kennt sie nicht, die den Glauben an den
christlichen Gott verloren haben und nur die Idee der Mensch-
heit in dem Rechtsleben der Gesellschaft glorificiren und anbeten.
Doch kommt es bei dem Staatsenthusiasmus nicht
so sehr auf die Dogmatik an, als auf den Cultus;
darum will ich auch die zugehörige Ethik nur kurz berühren.
Das ethische Motiv liegt, wie schon oben dargelegt, in der Be-
ziehung des Geftihls auf die sociale Welt und ist also nur
generisch, aber nicht specifisch dasselbe, wie bei dem vorher-
gehenden Standpunkt; denn es dreht sich hier nicht um die
Obherrschaft des Geistes über die eigene Trägheit und Leiden-
schaft, sondern um das Verhalten der ganzen Gesellschaft, welches
hier den Inhalt unseres Geftihlslebens, unseres Missfallens, wie
unserer Freude und Begeisterung bildet Möge man dabei an
das grosse Herz des activen Staatsmannes denken, oder an den
uiyiiized by VjOOQIC
Staatsen thusiasmus. 415
Patriotismus und die nationale Gesinnung des einfachen Bürgers:
immer ist das Gemüth des Staatsentbusiasten von dem Leben
der Gemeinschaft erfllUt, so dass er alle individuelle Interessen
bereitwilligst auf den Altar des Vaterlandes legt. Eine solche
Gesinnung erhebt sich hoch über die z. B. von Spencer vertretene
weichliche und auf sinnliche Glückseligkeit aller Einzelnen ge-
richtete Stimmung des Fortschrittsenthusiasmus, da sie vielmehr
die Herbigkeit des objectiven Rechts in sich aufnimmt, so dass
ein Staatsenthusiast, wie Piaton, dem hierin auch Graf Moltkc
beipflichtet, von Zeit zu Zeit Krieg wünschen oder herbeiführen
muss, damit die Mannhaftigkeit und geistige Zucht der Bürger
nicht herabsinke. Deshalb wird auch in der lakonischen Ver-
fassung und ebenso bei Piaton das Einzelleben überhaupt gar
nicht geschont, sondern vielmehr eine Grausamkeit Kranken,
Schwachen und Fehlenden gegenüber an den Tag gelegt. Der
Staat verlangt eben das Opfer der Einzelpersönlichkeit, die nur
Werth für das Ganze hat und selbst nur im Gefühl des Ganzen
lebt. Tu regere imperio populos, Romane, memento. Hae tibi
erunt artes, parcere subjectis et debellare superbos. Dieses von
Vergilius mit Aplomb ausgesprochene politische Bewusstsein und
Geflihl ist das ethische Princip unserer Religion hier, und dieses
lässt den Egoismus ganz verschwinden, weshalb der moderne
Socialismus und die Bestrebungen der sogenannten Internatio-
nale nichts damit zu thuu haben, welche vielmehr auf dem Stand-
punkt des pantheistischen Fortschrittsenthusiasmus stehen.
Da wir hier aber die Religionsformen betrachten,
bei denen das Uebergewicht dem handelnden Ver- .
mögen des Geistes zuftlUt, so muss uns auch der Cultus die
Hauptsache sein. Ich meine nicht einen solchen spielerischen,
allegorischen Cultus, wie ihn die französische Revolution mit der
Göttin der menschlichen Vernunft zum Besten gab, sondern ich
meine die ernste That; denn in Wahrheit dreht es sich auch
bei den Staatsenthusiasten nicht so sehr um die zugehörigen
Staatstheorien und Gesinnungen, als vielmehr um ein in den
Staat aufgehendes Leben. Der wirklich Fromme dieses Stand-
punktes ist durch die immer neu auftauchenden praktischen
Fragen und Geschäfte des politischen Volkslebens dermassen
angefüllt, dass er in rastloser Arbeit wenig Müsse kennt und
vielmehr seinen nicht sinnlichen, sondern geistig-religiösen Genuss
u.quizeauy Google
416 Pantheismuß der That.
gerade ia dem Bewusstsein der Schwierigkeit und des Ernstes
der Geschäfte hat. Er treibt die Verwaltungs-, Justiz- und Gesetz-
gebungs-Angelegenheiten nicht um des Lohnes willen, nicht aus
Ehrgeiz oder Herrschsucht, sondern mit einer religiösen Gewissen-
haftigkeit, indem zugleich seinem Ich, welches in den Gegenstand
der Geschäfte verschwindet, eine absolute Wichtigkeit und ein
gewissermasser sacramentaler Charakter zu Theil wird, so
dass selbst die Last und Bürde der Staatsgeschäfte, ähnlich wie
bei der Askese des vorigen Standpunktes, ihn mit einer gött-
lichen Würde erfüllt und ihm das feierlich herbe Lustgefühl der
zugehörigen religiösen Begeisterung verleiht. Wer auch aus
eigener Erfahrung diese Stimmung nicht kennen sollte, wird
gewiss doch Gelegenheit gefunden haben, wenigstens unter den
Eindruck dieser eigenthümlichen Frömmigkeit zu kommen, die
bei ihrem pantheistischen Charakter gerade den persönlichen
Träger der amtlichen Function religiös verklärt und ihm nicht
etwa den Vorwurf des Beamtenstolzes oder das hier viel zu ge-
ringe Lob der amtlichen Pflichttreue zuzieht, sondern ihn mit
einem heiligen Nimbus umkleidet, so dass man gleichsam das
in dieser ßeligionsform erfasste Göttliche in der sterblichen Per-
sönlichkeit wie in Erscheinung und Wirksamkeit tretend ver-
ehren kann,
Die ungemessene Ruhmsucht, die besonders im
^ Fora "^ Alterthum so hervorstechend ist, kann als die unreine
Form dieser Religion betrachtet werden; denn wenn
z. B. Epaminondas sterbend gesagt haben soll: „ich hinterlasse
euch zwei unsterbliche Töchter, die Schlachten von Leuctra und
Mantinea^' : so liegt darin nicht bloss die Hochempfindung seines
individuellen Ruhmes, sondern es ist aus seinem Leben offenbar,
dass er sein Ich in die Interessen seines Thebanischen Staats-
lebens verschwinden Hess und also in dem Ruhme seines Vater-
landes sich nur als Träger der Handlung in religiöser Weise
mitgenoss. In ähnlicher Weise fühlen die Franzosen auch
in Victor Hugo's Prahlereien von Paris als der Sonne der
Welt den glühenden Odem religiöser Hingebung an die Nation.
Und es kommt bei dieser Religionsfrage häufig nur auf eine
geringe und nicht immer nachweisbare Verschiebung des Schwer-
punktes der Gefühle an, um solche Gesinnung als Ruhmsucht
oder als Staatsenthusiasmus zu bezeichnen. Der Ruhm selbst
Digitized by VjOOQIC
Staatsenthusiasmus. 417
ist ja auch nichts anderes als die Vorstellung und das beglei-
tende Gefühl, wovon die Mitbürger, die Mitwelt oder die Nach-
lebenden in Bezug auf den Berühmten erfüllt sind, also ein
sociales Gut, ein objectiver Geist, mit welchem der Berühmte
als erste Ursache inniger verknüpft ist, als die Andern, während
doch Alle in diesem Ruhm einen werthvoUen Lebensinhalt be-
sitzen, weil er dem Ganzen gehört, d. h. fUr das Ganze erworben
und von dem Ganzen getragen wird.
Darum vernichtet der Verlust des Ruhms auch die moralische
Existenz des Menschen in seinem eigenen Gefühle, wie dasselbe
in geringerem Grade auch von der Ehre gilt, die auch als
sociales Gut, in welches das Ich verschwindet, um sich darin zu
erhalten und zu gemessen, über die Gränzen der Persönlichkeit
hinausreicht und ein geistiges Dasein in Vielen hat. Aber gerade
dieses von mancherlei Zufälligkeiten und Irrthümem abhängige
Entstehen und Vergehen von Ehre und Unehre, Ruhm und
Schande, zeigt auch den Unterschied der religiösen von dieser
leidenschaftlichen socialen Gesinnung; denn der wahrhaft Reli-
giöse wird selbst von der Unehre nicht erdrückt, sondern arbeitet
im Dienste des Staates weiter und unterzieht sich, wie der Pla-
tonische Sokrates dies dem Kriton auseinandersetzt, im Gehorsam
gegen die Gesetze auch dem Tode, um durch sein Opfer wieder
fromm dem Ganzen sich zu weihen.
_/ >>' '^ t''R -^\,
Teichmüller, BeliglonaphUoiOphlo. Digitii^ by VjOOQIC
Viertes Capitel.
Der pantheistische Kirchenenthu8iasmas.
Vom Ghristenthum als der wahren Religion darf
Zur Topik. -r^. , ., , . t^ i .
unserer Eintheilang gemäss keme Bede sein, wenn
wir die untergeordneten, falschen und einseitigen Religionsformen
betrachten. Gleichwohl konnten wir bisher nicht umhin, bei der
Erörterung aller früheren Religionsformen immer zugleich irgend
welcher Abkömmlinge aus dem sogenannten christlichen Reli-
gionskreise zu gedenken, die wunderlicher Weise, wie fürstliche
Gäste in ein Bauernhaus, in niedrigere Sphären versprengt zu sein
schienen. Wie aber, wenn die normalen Lebensfunctionen ge-
stört sind, die Gesetze der niedrigeren Naturstufen in ihr Recht
eintreten, so dass im Gebiete des Organismus eine Menge von
pathologischen Erscheinungen vorkommen, die bloss nach der
anorganischen Chemie und nach der Physik zu erklären sind:
so ist es in derselben Weise möglich, pathologische Formen des
religiösen Lebens im Ghristenthum anzuzeigen, welche nicht
specifisch christlich, sondern den Gesetzen der zugehörigen
untergeordneten, falschen und einseitigen Religionstypen unter-
worfen sind.
Nachdem wir dergleichen pathologische Formen im Ghristen-
thum schon bei den projecti vischen Religionen erörtert haben,
können wir hier bei den drei Formen des Pantheismus auch eine
dreifache Verirrung des religiösen Lebens im Bereiche der ge-
schichtlichen christlichen Kirche gewissermassen von der Quelle
ableiten. Da Religion nämlich die Gesinnung ist, die wir gegen
Gott haben und in unseren drei Lebensfunctionen ausdrtlcken,
so können diese Functionen, statt sich in ihren ursprünglichen
Grenzen zu halten, zur Hauptsache werden, so dass der Mensch
ihren Zweck vergisst und nicht mehr seine Gesinnung darin
Digitized by VjOOQIC
Eirchenenthusiasmus. 419
symbolisiren will, sondern die Functionen selbst zum Zweck
macht, oder, wie man das Verhältniss wohl noch besser bezeich-
nen könnte, ganz in der Function aufgeht. Deshalb giebt es
drei pantheistische Verirrnngen des Ghristenthums, nicht mehr
und nicht weniger, die man als Eirchenenthusiasmus, Mysticis-
mus und Gnosis bezeichnen kann und die jedesmal durch ein
pathologisches Uebergewicht entweder der handelnden Function,
oder des Gefühls, oder der Erkenntniss entspringen. Für den
Mysticismus giebt es viele Vertreter schon im christlichen Alter-
thum und im Mittelalter, in unserem Jahrhundert ist aber Schleier-
macher der systematische Repräsentant; ebenso bekannt ist die
christliche Gnosis, die vom ersten Jahrhundert an als pathologi-
sche Erscheinung das christliche Leben begleitet und in unserem
Jahrhundert besonders durch Fichte und Hegel Schule gemacht
hat. Obwohl man die systematische Topik dieser pantheistischen
Verirrungen bisher sehr ungenügend verstanden, so war doch
die Aufmerksamkeit auf beide pathologische Formen gerichtet;
nicht das Gleiche aber lässt sich vom Kirchenenthusiasmus sagen,
der zwar von dem gesunden christlichen Leben inuner als un-
ächt empfunden, aber von Seiten der theologischen Wissenschaft
noch nicht als pantheistisch und als den vorigen beiden Formen
systematisch coordinirt erkannt worden ist. Wir dürfen ihm des-
halb eine besondere Betrachtung widmen, vorzüglich da wir die
entsprechenden christlichen Krankheitsbilder ftlr die übrigen For-
men des Pantheismus der That nicht weiter berücksichtigen
wollen.
Der pantheistische Staatsenthusiast betrachtet die
Aetioloffio und
ganze Welt nur als Basis des menschlichen Lebens g^miotik.
und lässt den Staat alle Interessen der Gesellschaft
umfassen, so dass die Politik selbst die einzige Religion ist.
Trotzdem kann von diesem Standpunkte aus ein Cultus von
projectivisch gedachten nationalen Furcht- oder Rechts -Göttern
geduldet, oder sogar, wie z. B. von Piaton, beflirwortet werden,
sofern eine solche scheinbar vom Staatsleben verschiedene Re-
ligion als ein pädagogisches Mittel der Politik untergeordnet
wird und den Staatsmännern zur Erziehung und Lenkung des
Volkes brauchbar erscheint.
Das Ghristenthum als wahre Religion kann aber umgekehrt
dem Staate und der Politik nur eine untergeordnete Bedeutung ,
uiyii2^*uy x^jOOQIC
420 Pantheismus der That.
zuerkennen, weil der Staatsmann in den zufällig gegebenen Ver-
hältnissen der Gesellschaft und ihren zufälligen Wünschen und
Leidenschaften keine autoritativen Normen findet, sondern den
Zweck seiner Kunst erst als Aufgabe von einer höheren Stelle
empfangen muss. Mithin schreibt sich der Christ, sofern er das
ganze Leben des Menschen, das zeitliche wie das zukünftige
als durch eine göttliche Ordnung bestimmt erkennt, auch die Be-
fugniss zu, die Leistungen des Staatsmanns zu beurtheilen,
was immer die Sache der höheren Stelle in Beziehung auf die
untergeordnete ist
Da nun das Christenthum zwar ein verborgenes Leben in
dem Christen bildet, aber durch die ihm zugehörigen Handlun-
gen in die Sinnenwelt tritt und durch die Gemeinschaft der
Christen untereinander auch eine gesellschaftliche Ordnung be-
gründet: so kann es leicht kommen, dass wegen der Theilung
aller Functionen die eine oder die andere vorherrschend geübt
und demgemäss unter gewissen Umständen und bei bestimmter
Begabung diese handelnde Function, auf welcher die sogenannte
Kirche oder das sichtbare Reich Gottes ruht, zu dem hauptsäch-
lichsten Inhalte des geistigen Lebens erhoben wird. Dadurch
wird dann nothwendig die Ordnung des religiösen Lebens in der
Seele verkehrt, indem die blosse Aeusserung und Symbolisirung
der Gesinnung sich zum Selbstzweck aufbläht und in einen Ent-
zündungsprocess übergeht, so dass die Gesinnung von ihrem zu-
geordneten Beziehungspunkte, von Gott, abgelenkt wird und in
das blosse politische Leben der Kirche verschwindet, wie dem-
entsprechend der göttliche oder heilige Geist pantheistisch in den
Gemeingeist der Kirchenglieder übergeht Offenbar ist also die
Hypertrophie der handeUiden Function die Ursache der ganzen
pathologischen Erscheinung und mithin der Kirchenenthusiasmus
nur eine Spielart des Staatsenthusiasmus, von dessen übrigen
Arten er sich nur durch die historisch christliche Färbung, welche
dem Inhalte des Gemeinschaftslebens anhaftet, unterscheidet
Wir müssen nun die Form eines solchen pan-
theistischen Kircbenenthusiasmus hypothetisch con-
struiren und nach den drei constitutiven Functionen im Beson-
dern bestimmen, wobei sich der dem Christenthum nicht mehr
angemessene Charakter desselben breiter und kenntlicher aus-
legen kann. Was zunächst die Dogmatik betrifft, so wird man
uiyiüzeu üy "V-j v-zv^'pt iv^
KirchenenthaBiasmus. 421
zwar wegen des positiv historischen Ursprungs noch die christ-
lichen kanonischen Schriften als Erkenntnissquellen benutzen,
um überhaupt einen Meinungs- oder Glaubens-Inhalt zu haben;
da aber die Quellen verschieden interpretirt und die Dogmen
verschieden formulirt^ werden können, so wird der Kirchen-
enthusiast die Norm der Dogmatik in socialen Gesichtspunkten
suchen und unter den verschiedenen Modificationen und Gegen-
sätzen darnach die Wahl treffen, ob es für das Zusammenleben
der Christen nützlich sei, dies oder das zu glauben, dass z. B.
einen persönlichen Teufel zu glauben nützlich und nothwendig
sei, um die Autorität der heiligen Schrift in dem Gemeindebe-
wusstsein nicht zu vermindern, oder um die Furcht vor dem
ganzen Reich des Bösen in der Phantasie des Volkes lebendig
zu erhalten und die Energie des Kampfes gegen solche persön-
liche Macht zu steigern. Wenn auf ähnliche Art und Weise z. B.
die lutherische Abendmahlslehre empfohlen würde, damit nicht,
wie in der katholischen, die Selbstthätigkeit des Gläubigen bei
dem Empfange der Gnadengabe gemindert werde, und anderer-
seits damit nicht, wie in der reformirten, das von dem kirch-
lichen Amte dargebotene Sakrament im Bewusstsein des Gläu-
bigen an Werth verliere, so wird offenbar die Dogmatik ihrer
Selbständigkeit beraubt und zu einem blossen Mittel für das
kirchliche Leben herabgesetzt
Ebenso ist die Ethik dieses Standpunkts be-
EthUc.
schaffen; denn die ethischen Motive müssen darnach
beurtheilt und regulirt werden, ob sie auch die ganze Gemeinde
beseelen könnten und nicht etwa Absonderungen oder Unord-
nungen stifteten. Wenn man z. B. fragt, ob die Ehelosigkeit
oder das Keuschheitsmotiv als höchstes Lebensideal gelten dürfe,
so wird man betonen, dass man bei solchen Idealen ja die
Existenz der Gemeinde aufheben würde, oder dass gerade durch
die Ehe eine schöne Ordnung des christlichen Lebens vermittelt
würde zur Erziehung der Kinder, zur Selbstzucht gegen über-
mässige Begierde, zur ökonomischen Verwaltung des Besitzes
u. 8, w. Wenn auf ähnliche Art und Weise die Feindesliebe
eingeschränkt wird, damit keine Verweigerung des Kriegs-
dienstes eintrete; oder wenn der Eid zugelassen wird, damit die
bürgerliche Wahrheitsbekräftigung im Gewissen einen stärkeren
Antrieb fönde u. s. w., so wird offenbar durch alle solche bloss
422 Pantheismus der That.
socialen Gesichtspunkte auch die Ethik ihrer Selbständigkeit be-
raubt und nur zum Dienst des praktischen Lebens benutzt
Drittens aber muss der Cultus nun in das ganze
Leben der Kirche in der Art aufgehen, dass das Reich
Gottes mit der sichtbaren Kirche identificirt wird. Der Schwer-
punkt des religiösen Lebens wird offenbar ganz in die politische
oder handelnde Function verschoben, wenn der Glaube selbst
seinem ideellen Inhalte nach nicht mehr die Hauptsache ist,
sondern der Gläubige sich auch mit dem Worte und dem blossen
Willen zu glauben begnügt, sobald eine bestimmte Formulirung
des Dogma im Interesse der kirchlichen Gemeinschaft als heil-
sam erkannt ist Dagegen wird der Kirchenenthusiast sich ganz
der Arbeit an dem kirchlichen Leben zuwenden; die Fragen des
Kirchenregiments und des sogenannten Culturkampfes, die Fragen
. der Kirchenverfassung, die Ordnung des Cultus, die Kirchenzucht,
die Sonntagsheiligung, die Massen-Betheiligung an dem Gottes-
dienste und den Sakramenten, die verschiedenen kirchlichen
Aemter in der Armenpflege, den Sonntagsschulen, den Gesellen-
herbergen u. dergl. werden der eigentliche Inhalt seiner Thätig-
keit, und möge er ein kleineres oder ein grösseres Gebiet seiner
Thätigkeit umspannen, bloss Bibeln und Traktätchen austheilen,
oder auch die wissenschaftliche Vertheidigung der Kirche gegen
das Heidenthum des Staates und der Gelehrten durchftlhren, oder
wie ein Windthorst die politische Führung einer grossen Partei
der Gläubigen übernehmen, immer sind die Gedanken und Ge-
fühle eines solchen Mannes principiell auf das Gebiet der sicht-
baren Kirche gerichtet. Mithin muss es schon ftir gefährlich
gelten, wenn ein Theologe etwa das Dogma ohne Rücksicht auf
die socialen Bedürihisse untersuchen und bloss nach den biblischen
Erkenntnissquellen constituiren wollte, da das letzthin WerthvoUe
und der eigentliche Herzschlag der Religion in der Politik, d. L
in der Fürsorge für die Kirche liegt Um das Gesagte in Eins
zusammenzufassen, so besteht das specifische Kennzeichen des
pantheistischen Kirchenenthusiasmus in der Identificirung von
Kirche und Reich Gottes.
Für unsere speculative Aufgabe ist. es gewisser-
massen gleichgültig, ob sich irgend ein Autor findet,
der den von uns soeben charakterisirten Standpunkt mit einer
gewissen Consequenz vertritt; denn dass sich mit jeder Ver-
Digitized by VjOOQIC
Eirchenenthusiasmus. 423
Schiebung des Schwerpunktes im religiösen Leben nothwendig
die zugehörigen Goordinaten entsprechend verändern und dass
daher bei einem Uebergewicht der handelnden Function die
Denkweise und Willensrichtung des Menschen in die oben vor-
gezeichnete Bahn einlenken muss, das ist so einleuchtend und
bestätigt sich in allen unseren eigenen und in den geschicht-
lichen Erfahrungen so sehr von allen Seiten, dass man für die
Topik der Religion diesen Ort „Kirchenenthusiasmus" fest bestim-
men müsste, auch wenn niemals ein angesehener Theologe als
Vertreter dafür wissenschaftlich eingestanden wäre. Gleichwohl
ist es immer wünschenswerth, einen unverkappten Ritter fllr diese
Fahne in die Arena treten zu sehen.
Man könnte nun geneigt sein, etwa die katholische Kirche
in Bausch und Bogen als Vertreterin dieses Standpunktes anzu-
nehmen. Es Hesse sich diese Diagnose stellen erstens im Hin-,
blick darauf, dass die Kirchen- Verfassung, z. B. das unfehlbare
Papstthum, selbst Glaubensartikel für den Katholiken ist, zwei-
tens im Hinblick darauf, dass bei scheinbarem Widerstreit der
drei geistigen Functionen die Macht des Willens und des Ver-
standes sich dem handelnden Vermögen zu Füssen legt, was
man das sacrificio deir intelletto nennt und wobei Gewissen und
Vernunft in eine sclavische Stellung zu gerathen scheinen, drit-
tens weil überhaupt die katholische Kirche gar keine andere
weltliche oder geistige Macht als selbständig neben sich aner-
kennt, sondern nur aus Öpportunitätsgründen zuweilen ihre ab-
soluten Herrschaftsforderungen einschränkt Trotzdem wäre diese
Diagnose falsch; denn der Katholicismus hat eine viel umfas-
sendere Bedeutung und wird durch solche einseitige Hervorkeh-
rung eines, wenn auch starken Elementes, nicht erschöpft; auch
sollte man das sacrificio deir intelletto nicht so ungebildet deuten
und so marktschreierisch verkaufen, wie der grosse Haufen der
Literaten zu thun pflegt; denn Gewissen und Vernunft können
sich überhaupt niemals einer anderen Function unterwerfen, eben-
sowenig wie Gold und Diamant einmal aus Geftllligkeit als Zinn
und Schwefel zu reagiren vermöchten. Wer sich aber erinnert,
dass er oftmals irrte, obwohl er jedesmal von der Wahrheit seiner
Sache überzeugt war, bei dem kann auch Gewissen und Ver-
nunft, tiefer geschöpft, die augenblicklichen partiellen Äeusse-
rungen dieser selbigen Fähigkeiten entkräften oder einschränken,
u.quizeauy Google
424 Pantheismus der That.
wie die Gewissenhaften ja auch häufig ein „Wenn ich nicht
irre'' in ihre zuversichtlichsten Aeusserungen einfliessen lassen.
Auch ist die katholische Kirche sowohl in dem innerweltlichen
Verkehr der Gläubigen untereinander, als auch in dem auswär-
tigen Verkehr mit dem überweltlichen Gott so gross, so frei und
so schön, dass ihre Bekenner über jene einseitige Charakteristik
nur zu lächeln brauchen, da sie ja neben den grossen Hierarchen,
vor denen selbst die Kaiser erzitterten, auf den weltverachtenden
Mönch hinweisen können, der doch nicht im Protestantismus,
sondern nur in dem universelleren Schosse der katholischen
Kirche seine friedliche Stelle findet.
Also müssen wir die üblichen dürftigen Charakterisirungen
der grossen christlichen Gonfessionen aufgeben und hier ftir
unsere Topik einen anderen Vertreter suchen, der seinen Namen
für die Sache eingesetzt hat. Ich glaube den durch seine be-
rühmte Moralstatistik zu allgemeinerer Beachtung gekommenen
lutherischen Theologen Alexander von Oettingen als freiwilligen
und furchtlosen Vertreter dieses Standpunktes anführen zu können,
und zwar mit Rücksicht auf sein sehr interessantes Werk über
die christliche Sittenlehre oder die Socialethik. Dass er ein
ächter, altgläubiger Lutheraner und kein Bekenner des Pan-
theismus ist, steht dabei ausser Zweifel; es kommt uns aber hier
auch nicht auf das persönliche Bekenntniss an, sondern auf das
in jenem Werke zu Grunde gelegte Princip und die Consequenz
des Standpunktes. Darum soll das Buch selber sprechen, und
wir wollen nicht dazwischen reden. S. 183: „Der göttliche, wie
der individuelle Factor, die universelle Gnade Gottes in Christo
und die persönliche Lebensemeuerung im Glauben, die Gottes-
kraft des Evangeliums und die geistliche Wiedergeburt des Ein-
zelnen — sie realisiren sich nur in der Form geschicht-
lich und natürlich gegliederter Menschheitsgemein-
schaft." S. 184: „Die Idee des Reiches Gottes umschliesst
nicht bloss das gesammte Gebiet christlich -sittlichen Lebens
und Strebens, sondern bezeichnet recht eigentlich den Krj'stalli-
sationspunkt, um welchen sich alle geistlichen Lebensinter-
essen auch des Einzelnen naturgemäss ansetzen sollen." „Auch
das persönlichste Ringen des Christenmenschen.** S. 185: „Diese
universelle Idee des Reiches Gottes gestaltet sich innerhalb der
zeitlich geschichtlichen Entwickelung noth wendig als Kirche.
u.qiuzeuuy Google
Kirchenenthusiasmus. 425
Die christliche Kirche ißt nicht eine gesonderte Gemein-
schaft neben dem Reiche Gottes." »Die Kirche stellt das
Reich Gottes dar als Reich Christi in der Zeit des Kampfes
und Krenzes, in der Periode von seiner Himmelfahrt bis zn
seiner Wiederkunft " S. 186: „Die kirchliche Gemeinschaft
ist die gegenwärtige Gestaltung des Reiches Gottes
auf Erden."
Wenn wir nun als aufmerksame Zuhörer folgten, so behielten
wir erstens, dass Alles und Jedes schlechthin, was zur Reli-
gion gehört, sich nur in der Gemeinschaft realisirt, dass zwei-
tens diese Gemeinschaft das Reich Gottes darstellt, also das
absolut Höchste, das sich erstreben, denken und erleben lässt,
und dass drittens dies Reich Gottes in der sichtbaren christ-
lichen Kirche und nicht etwa unsichtbar neben und ausser ihr
gegeben ist. In diesen drei Sätzen wird der constitutive Inhalt
des Standpunktes genügend formulirt, welchen ich mit dem Na-
men „pantheistischer Kirchenenthusiasmus" bezeichnen wollte.
Obgleich dieser Standpunkt, ebenso wie der entsprechende
politische Enthusiasmus sehr verbreitet ist, so werden doch Die-
jenigen, welche in der Geschichte der Dogmatik weniger orien-
tirt sind, vielleicht erstaunen und fragen, wie man ohne Absur-
dität einen christlichen Denker als offenen Pantheisten charak-
terisiren dUrfe. Eine Antwort hierauf ist aber nicht weiter nöthig,
wenn wir uns nur daran erinnern, dass der grösste protestan-
tische Theolog unseres Jahrhunderts entschiedener Pantheist war
und weder an einen persönlichen Gott noch an ein jenseitiges
Leben glaubte.
Es handelt sich deshalb jetzt nur darum, das specifische
Kennzeichen des Pantheismus in dem Kirchenenthusiasmus
nachzuweisen. Nun besteht der Pantheismus in derjenigen Auf-
fassung der Welt, wobei das Ich wie der Gott in die Erschei-
nungen des Bewusstseins, d. h. in die geistigen Functionen, ver-
schwinden. Die pantheistische Metaphysik ist also nicht mehr
projectivisch, d. h. sie substanziirt die erscheinenden Dinge nicht
mehr; sie ist zugleich noch nicht christlich, d. h. sie erkennt
noch nicht das Ich, die Gottheit und die anderen wirklichen
Wesen an, in denen die Welt sich ereignet; sondern sie ver-
giebt die Kategorie des Seins an die Erscheinungen als Func-
tionen des Bewusstseins. Ob diese Functionen nebenbei als
uiymzeu uy V^jOOy IC
426 Pantheismus der That.
materiell, ideell, geistleiblich oder sonstwie gedacht werden,
ist dabei eine für die Definition gleichgültige Nüancirung; denn
nur das Verschwinden des Ichs in seine drei Functionen charak-
terisirt den Pantheismus, der uns also die Welt, d. h. die Ver-
knüpfung der Erscheinungen, nur in unseren geistigen Func-
tionen zeigt.
Nun löst der oben definirte Kirchen enthusiasmus alles re-
ligiöse Leben in die kirchlichen Beziehungen auf, die durch Wort
und Sakrament, also durch sinnenfällige Handlungen gestiftet
und lebendig erhalten werden. Die Religion bietet deshalb, da
sie das nicht -sinnenfällige Ich und die Gottheit aus ihrem Sy-
steme beseitigt, nur ein innerweltliches Leben; denn die bei den
vielen Vertretern dieses Standpunktes beliebig eingestreuten
Worte von der Seele und von Gott dürfen uns natürlich nicht
verleiten, zu einer von dem gegebenen System himmelweit ver-
schiedenen ReligionsauflFassung abzuschweifen, da diese Worte
auf dem Standpunkte des Kirchenenthusiasmus todtes Material
der Tradition sind und die einzelnen Seelen nur nach denjenigen
Erscheinungen und Functionen in Rechnung kommen, welche
socialphysisch und socialethisch mit der äusseren und der mora-
lischen kirchlich realisirten Welt zusammenhängen. Da hierbei
zugleich alle Personen nur nach den äusseren Thätigkeiten auf-
gefasst werden, so muss unsere Beziehung zu dem Universum
wesentlich der handelnden Function unseres Geistes zufallen,
d. h. sie wird technisch und politisch werden.
Es zeigt sich also der Kirchenenthusiasmus als eine Spielart
des Staatsenthusiasmus. Der Einzelne ist nichts ohne das poli-
tische Ganze, in dem und für das er lebt; er ist wesentlich nur
Glied in einem herrlichen Organismus, von dem er seine Bele-
bung, seine Kraft und Freude empftlngt und ftir welchen seine
ganze geistige Arbeit und Hingebung bestimmt ist. Wie bei
Piaton die Staatsidee die gesammte geistige und leibliche Thä-
tigkeit der Gesellschafts-Glieder beseelen soll, so ist es hier die
Kirche, welche nach der Idee eines Organismus, eines geschicht-
lich teleologischen Systems alle ihre Glieder zu einem gemein-
schaftlichen beseelten Leibe zusammenfasst
Digitized by
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Eirchenenthusiasmus. 427
Wer wollte läugnen, dasB in dieser Idee des
Zur
Staates oder der Kirche eine grosse und gemüthbe- Kriuk.
wegende Auffassung der Welt dargeboten wird, werth, ^ ^^^^^
das Leben der Einzelnen zu begeistern und es mit Fehler:
einem über das Privatleben weit hinausgehenden ^*® ^^*®" ^^^
den zu bloüsen
herrlichen Ziele zu erfüllen ; allein trotzdem ist dieser hiotoriscben
Standpunkt nicht hoch genug für uns, weil er ein Erscheinungen
i.i<i.-i 11 » m 1 herabgeuetzt.
bloss geschichtlicher und also perspectiyischer
und endlicher ist; denn jeder Staat hat seine Zeit und die
Kirche hat ihre Zeit, wenn sie auch, wie von Oettingen sagt,
von der Himmelfahrt bis zur Wiederkunft Christi dauert; denn
es ist damit doch nur ein kleiner Ausschnitt aus der ganzen
Weltgeschichte gegeben und zugleich der Blick bloss der Erde
und der diesseitigen eng begränzten menschlichen Entwicke-
lung zugekehrt. Der politisch - geschichtliche Standpunkt ist
daher immer zu niedrig für den Philosophen und Christen, da
beide die ganze Ewigkeit in ihren Gesichtskreis fassen müssen
und allen menschlichen Dingen, und weim es auch Staats- und
Kirchen -Angelegenheiten sind, immer nur ein untergeordnetes
Interesse zuerkennen. Untergeordnet sage ich, weil erst von
höherem Standpunkte aus ein Zweck gefunden werden muss,
nach welchem Staat und Kirche zu ordnen sind. Wenn wir
weiter unten die Rolle der Geschichte genauer betrachten, wird
sich zeigen, dass auch nur fllr den Pantheisten die Weltgeschichte
das Weltgericht ist, wie flir ihn Gott bloss als heiliger Geist in
der Kirche regiert, so dass Gottes Geschäftskreis so zu sagen
in der Fürsorge für die menschlichen politischen oder kirchlichen
Angelegenheiten aufgeht Wer aber, wie es die wahre Philoso-
phie verlangt, die Erde nur als eine untere Classe betrachtet,
welche die Menschen alle durchmachen müssen, um dann in eine
höhere Classe versetzt zu werden,*) der kann die Geschichte
dieser Classe nicht fUr den höchsten Gegenstand der Aufmerk-
samkeit ansehen, da man doch weiss, dass die Classenstufe selbst
auch bei aller geschichtlichen Veränderung und Entwickelung. nie-
mals überschritten werden kann, und dass nicht die Classe, son-
dern die jeweilig darin Arbeitenden, welche sie bald wieder ver-
lassen, allein von bleibendem Werth und Interesse sind.
*) Vgl. meine Schrift Über die Unsterblichkeit der Seele, S. 225, II. Aufl.
u.quizeuuy Google
428 Pantheismus der That.
j Mit diesem ersten Fehler pantheistigeher Auf-
Fehier: fassuDg Steht ein zweiter in logischem Znsammen-
Die Ethik und hang. Da nämlich die Kirche bloss den äusseren
Dogmauk Vcrkchr der Gläubigen durch sichtbare und hörbare
werden darch ^
Feidherrnking. Zcicheu (Wort und Sakrament und die gesellschaft-
heit normirt, liefen lustitutc) umfasst, so mnss sich Alles um die
und es fehlt ein
princip des handelnde Function des Geistes drehen, weshalb ich
werthes und ^^^ gauzcn Standpunkt auch zur pantheistischen Re-
ligion der That gerechnet habe. Mithin müssen die
Werthbestinmiungen des sittlich religiösen Lebens wesentlich auf
die Gesellschaft, d. h. hier, auf die Kirche als sichtbares Reich
Gottes bezogen werden. Nun giebt es aber für jede Gesellschaft
als solche kein höheres Princip als die Selbsterhaltung, und
da ftlr jede gesellschaftliche Institution immer zwei Extreme
gefährlich sind, weil sie zur Auflösung führen, so kann der sitt-
liche, d. h. der conservative Werth immer nur in der das Gleich-
gewicht haltenden Mitte gesucht werden, wodurch ein geschicht-
licher organischer gesellschaftlicher Körper sich in seiner Ge-
sundheit erhält Darum sehen wir auch, dass z. B. von Oettingen
in seiner christlichen Sittenlehre diese von ihm sogenannte stra-
tegische Methode der goldenen Mitte empfiehlt und be-
folgt, indem er überall zwischen den Extremen, z. B. zwischen
katholischer und reformirter Richtung, zwischen Ethnisirung und
Judaisirung, zwischen Weltlichkeit und Weltflucht u. s. 'W. die
Mitte sucht Dies Princip ist aber bloss strategisch und politisch
und kann in Wahrheit keine Norm des Werth es darbieten,
da nach diesem Princip nicht einmal zu erkennen ist, ob die
sich selbst erhaltende geschichtliche Institution erhalten zu wer-
den verdient und was der Inhalt und Grund der einzelnen Ziele
und Lebenszwecke ist Die Norm ist vielmehr ganz blind und
inhaltslos, wie wenn Jemand den rechten Winkel nicht definiren
könnte, aber aus sinnlicher Anschauung eine gewisse Anregung
empfinge, um sich zu hüten, die Linien nicht zu spitz und
nicht zu stumpf aufeinander treffen zu lassen. So ist z. B.
klar, dass von diesem Standpunkte aus die Ehe principiell ver-
langt werden muss, während doch weder für Jesus, noch für
Paulus und viele Andere dies Princip hätte zur Norm dienen
können, da es bloss für die Masse der Gläubigen um der allge-
meinen Ordnung willen eine politisch -praktische Durchschnitts-
uiyiiized by VjOOQIC
Eirchenenthusiasmus. 429
norm bildet. So verhält es sich aber mit der ganzen Ethik und
Dogmatik dieses Standpunktes, da schliesslich Alles nur mit
Rücksicht auf unser handelndes Vermögen, d. h. nur nach dem
Gesichtspunkt der Erhaltung der geschichtlichen Eircheninstitution
zugestutzt und mit Feldherrnklugheit vor den extremen Abwegen
geschützt wird, ohne dass den beiden anderen geistigen Vermö-
gen, die bei der Handlung nur als Hülfen dienen, eine selbstän-
dige Stellung eingeräumt und die Tiefe des sittlich-religiösen
Gefühls wie der vom Erfolg unbestochene Wahrheitssinn befrie-
digt vTürden.
Aus dieser bloss politischen Auffassung derRe- 3. Dritter
ligion folgt nun nothwendig drittens die sogenannte Fehler:
Socialethik, d. h. es muss das sittlich-religöse Leben ^*® ^^^ ^'•'^
^. , . . T^ 1 1 i^T SodU-Ethik
des Emzelnen mit semen Fehlem und Vorzügen und verliert ein
wesentlich aus dem Gesanmitleben der Barche ab- p»*°«*p <»«
geleitet werden, wie es andererseits als Theil auch
wieder einen krank- oder gesundmachenden Fartialeinfluss auf
den ganzen Organismus ausübt. Nur bei dieser Auffassung ist
die Kirche wirklich ein geschichtlich lebendiger einheitlicher
Körper. Wenn demgemäss nun das Princip der Socialethik for-
dert, sich ganz dem in der Gesammtheit regierenden Geiste hin-
zugeben, so steht man sofort vor dem Princip der Majorität
und der öffentlichen Meinung; will man aber aus Schreck vor
diesem liberalen Gespenste und aus anderweitiger religiöser Ge-
sinnung dieses in Wahrheit unbrauchbare und unrichtige Princip
nicht anerkennen, so rebellirt man selbstsüchtig, atomistisch und
individualistisch gegen die social-ethische Macht des Gesammt-
geistes, der viel herrlicher und höher und heiliger ist, als der
arrogante und eitle kleine Theil, der ein besseres Wissen und
Wollen beansprucht. Denn sobald man im Gegensatz gegen den
Zeit- und Gemeingeist das Princip der Autorität erheben wollte,
so wäre sofort die Socialethik zerstört und ein transcendentes
und übergeschichtliches Princip anerkannt. Wenn man nun gerade
in leidlich gesunden kirchlichen Zuständen lebt, so ist es ja für
die grosse Menge der schwachen und mittelmässigen Köpfe und
Herzen allerdings empfehlenswerth, der herrschenden Richtung
zu folgen; da aber die Sünde und allerlei physische und intel-
lectuelle Mängel und geschichtliche Bedrängnisse sehr oft den
Geist und Sinn der Institute und Aemter und die tonangebenden
uiumzeu uy x^jv^wV Iv^
430 Pantheismus der That.
Kreise verderbcD, so sieht man, wie bedenklich, ja wie haltnngslog
die socialethische Methode sein muss, da sie kein ausserhalb des
geschichtlichen Processes liegendes Fundament gewähren kann,
weshalb der wahrhaft religiöse und christliche Sinn auch nie-
mals dieser bloss politischen Auffassung der Religion zustimmen
mag. Es müssen daher die christlichen Denker inuner auch ein
Princip der Autorität, selbst auf socialethischem Standpunkte,
der blossen Majoritätsstinmiung entgegenstellen, und sie nehmen
als solches Princip gewöhnlich die heilige Schrift, oder die Lehr-
sätze und Forderungen eines berühmten Kirchenlehrers, d. h. in
Wahrheit sich selbst, sofern sie die heilige Schrift richtiger als
die Uebrigen auslegen und den Kirchenlehrer höher schätzen,
als das grosse Publikum, das ihn etwa misshandelte. Allein so
ehrenhaft auch diese Geltendmachung der Autorität ftlr den per-
sönlichen Charakter des Schriftstellers ist, dessen höhere Ge-
sinnung sichtlich das System durchbricht, so verwerflich ist dies
doch gerade fbr den Socialethiker, der sein eigenes Gebäude zer-
stört, sobald er ein Princip des Werthes vor und über der Ge-
sellschaft zugesteht. Die Einmischung des Princips der Autorität
in die social-ethischen Systeme ist deshalb eine ignoratio elenchi,
ein Beweis, dass man den Fehler des Systems nicht erkannt hat
und eine Medicin anwendet, die mit der Krankheit zugleich den
Patienten umbringt.
Um den beschränkten Ursprung des pantheisti-
4. Das ftutago- -, tr* t i . . . •• •■
niBU8che sehen Kirchenenthusiasmus zu zeigen, giebt es end-
princjp indicirt \\q]^ uq^Jj ^Jq^ sichcrc Indicatiou. Die christliche
nebe Eiuseitig- uud dic Wahrhaft philosophische Auffassung der Welt
keit des jj^ann nämlich in der Welt unmöglich irgend einen
Widerspruch des Systems oder der Regierung zu-
lassen, da sie Alles als von Gottes Macht, Weisheit und Liebe
geordnet erkennen muss. Sobald man aber willkürlich einen
Theil der Welt zum absoluten Zwecke macht, so müssen sich
nothwendig andere Theile finden, welche jenen Theilzwecken
feindlich sind, wie z. B. wer die Grasfresser ftlr die rechten Be-
sitzer der Erde halten wollte, sehr bald die Raubthiere als die
natürlichen Feinde erkennen müsste. Aus demselben Grunde ist
jeder Patriotismus und Staatsenthusiasmus bloss eine perspec-
tivisch beschränkte Stellung zur Menschheit, da die Interessen
anderer Staaten immer unserem Vaterlande mehr oder weniger
uiyiiitieu uy V^J WvJV^. iv^
Kirchen enthusiasmus. 431
feindlich sein werden. Hieraus ergiebt sich also ein sicheres
Symptom; denn wenn in einem Systeme dem als höchstes Gut
erkannten Principe ein feindliches und antagonistisches Frincip
entgegengestellt werden muss, so beweist dies^ dass von demsel-
ben Systeme nicht die ganze Gotteswelt umfasst oder gesucht
sein kann^ sondern willkürlich und einseitig einem Theile der
Welt alles Interesse zugewendet wird, wobei denn nothwendiger
Weise sehr bald ein nach anderer Seite geneigtes und deshalb
moderirendes und antagonistisches Element sich fahlbar machen
und zur widerwilligen Anerkennung bringen muss. Diese Semiotik
auf den Enthusiasmus für die Kirche angewendet, liefert uns
sofort das charakteristische Symptom eines dem Ziele der Kirche
entgegenarbeitenden und feindlichen Princips, und wir brauchen
auch keine weiteren Schlnssfolgen mehr zu ziehen, sondern
können uns der mit voller Deutlichkeit in der christlichen Sitten-
lehre von Oettingen's abgegebenen Zeugnisse bedienen. So
heisst es z. B. S. 184: „Der persönliche sittliche Kampf des
neuen und alten Menschen in uns — er hat seinen makrokos-
mischen Hintergrund an dem riesigen Kampf des durch die
Erlösungsoffenbarung begründeten Gottesreiches mit dem
Weltreich, wie es in der natürlich sündlichen Menschheitsent-
wickelung Fuss gefasst hat" Die Liebe setzt er so entgegen
„dem im Weltreich herrschenden dämonischen Centralprincip des
fleischlich selbstsüchtigen Egoismus", oder „den gottfeindlichen
Mächten der Finstemiss" und behauptet daher auf S. 138: dass
„die vielfach von der modernen Weltansicht perhorrescirte Idee
eines persönlichen Teufels mit der christlichen Lehre, wie
mit der Autorität Christi und seiner Apostel, steht und fällt"
Wir brauchen die Darlegung nicht genauer zu analysiren; es
zeigt sich vielmehr schon mit Wünschenswerther Klarheit, dass
der dualistische und antagonistische Charakter, welcher
ftar den Standpunkt des Kirchenenthusiasmus nothwendig ist,
offen bekannt wird und dass dadurch zugleich das sichere Symptom
einer bloss perspectivischen und beschränkten Weltanschauung
gleichsam ad oculos demonstrirt ist, die auch durch den geist-
vollsten und gewandtesten Vertreter nicht gerettet werden kann.
Digitized by
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Fünftes Capitel.
Der pantheistische Knnstenthusiasinas.
Bei all den vier bis jetzt speculativ (durch Auf-
zeigung der constanten Beziennngspunkte) festgelegten
Arten des Pantheismus der That waren die Handlungen nicht
an sich der gesuchte Werth, sondern blosse Mittel, um ein davon
verschiedenes Gut hervorzubringen; denn es drehte sich entweder
darum, das allgemeine sinnliche Wohlsein der Menschheit zu be-
fördern, oder dem Gesetz des Gewissens zu gehorchen, oder den
Interessen des Staates und der Kirche zu dienen. Die letzten
drei Standpunkte fassen wir zusammen als das pantheistische
Correlat der Rechtsreligion, wie der erste uns der Furcht-
religion entsprach. So bleibt nur ttbrig, den speciiischen Cha-
rakter des handelnden Geistes selbst zum Princip zu nehmen,
d. h. in den Handlungen selbst unmittelbar den Zweck
und Werth zu sehen und sie nicht mehr als blosse Mittel ftir
einen von ihnen qualitativ verschiedenen Zweck zu betrachten.
Ehe wir aber weiter vorrücken, um diese letzte und ge-
wissermassen reine Form des Fantheismus der That in Besitz
zu nehmen, müssen wir als vorsichtige Strategen für die Sicher-
heit der bisher gewonnenen Position sorgen. Es könnte nämlich
Jemand von der Seite einen Ausfall macheu, um uns die vorigen
vier Heeresabtheilungen abzuschneiden und uns mit der letzten
reinen Form zu isoliren; denn wenn in jenen vier Formen die
Handlungen blosse Mittel sind, so muss ja ihr Zweck, der das
Wesen der Sache bestimmt, die zugehörigen Religionsformen
dahin verschieben, wohin der Inhalt des bestimmenden Zweckes
weist. So treffend diese Argumentation zu sein scheint, so leer
ist sie, weil sie auf keiner Anschauung oder Erfahrung dieser
Gesiimungen beruht. Denn wenn auch in jeder dieser Formen
uiumzeu uy 'v_JvyVjVlv^
KunstenthusiRAmus. 433
der Inhalt verschieden ist und Niemand ohne diesen Inhalt als
Zweck handeln möchte bloss um der Bewegung willen: so ist
trotzdem in allen diesen Formen das Handeln selbst die Haupt-
sache, da die den Zweck enthaltende Qualität eben nur durch
dicThat verwirklicht wird und von unseren geistigen Functionen
nicht die ethische, sondern eben die praktische den Ausschlag
giebt. Um durch einen Vergleich schnell das Yerhältniss der
Begriffe zu illustriren, so wollen wir diese vier Gesinnungen als
Kaufleute bezeichnen, die, ein Jeder mit seiner besonderen Waare,
ihre Schiffe befrachten; nun ist in gewissem Sinne die Qualität
der Ladung die Hauptsache und der Zweck, denn wer würde
ohne seine Waare zu Markte kommen; gleichwohl hat keiner
die Waare selbst fabricirt, sondern er ist nur Spediteur und Col-
porteur und Handelsmann, dessen Verdienst gerade darin besteht,
dass er möglichst viel umsetzt und Zeit und Ort und Gelegen-
heit benutzt. So sind nun auch bei den vier besprochenen
praktischen Beligionsformen des Pantheismus zwar die qualitativ
bestimmten Lebenszwecke specificirend, ohne dass es sich doch
dabei um eine andere geistige Function als die handelnde drehte,
da jener Inhalt nur als Cargo befördert, nicht aber producirt
werden soll; denn der Werkheilige will zwar Pflichtmässiges
thun oder leiden und nicht etwa fUr den Fortschritt der Gom-
munication und andere Givilisationszwecke sorgen, gleichwohl
kommt es ihm wesentlich auf das Thun und Leiden an; ebenso
wie der Fortschrittsmann und der Staats- und Kirchenenthusiast
ihrerseits immer die wirklichen Verhältnisse und was jetzt und
hier geschieht und geschehen muss, in's Auge fassen und ganz
in die Action der Gegenwart aufgehen.
Mithin ist unsere Eintheilung gegen solche etwaige Ausfälle
gesichert, und wir können den Gegensatz der ersten vier Formen
gegen die letzte und reine Form nur als eine innere Angelegen-
heit betrachten. Unsere nächste Aufgabe muss daher sein, be-
greiflich zu machen, wie das blosse Handeln selbst zum Lebens-
zweck werden und zur Befriedigung gereichen könne. Dies ist
aber nicht so schwer zu zeigen, und wir können uns hierbei auf
fremde Schultern stellen; denn wenn schon die sinnlichen Thätig-
keiten, wie das Essen und Trinken, wegen der begleitenden Lust
zum Selbstzweck erhoben werden bei niedrigen Naturen, so muss
die mit Lust ausgeübte geistige Handlung, um die es sich
Telchmüllor, Religion «philofwphle. uiyiiizec?^G00QlC
434 t^ontlieismiis cler That.
hier dreht, um so leichter als Endzweck und Ziel erscheinen.
Wir nennen solche Thätigkeit mit Aristoteles und Schiller Spiel
und, wenn sie von einem gebildeten Geiste ausgeht, Kunst, und
wir wissen, dass wer spielt oder künstlerisch thätig ist, keinem
äusseren Zwecke dient, sondern in seiner Thätigkeit selbst die
Befriedigung findet. Es ist darum ganz natürlich, dass künst-
lerische Naturen, wenn sie ihren Blick über das ganze Leben
der Welt schweifen liessen, zu der Weltauffassung konmien
mussten, wonach der eigentliche Zweck, Sinn und Werth der
Welt in dem künstlerischen Thun liegt; denn wenn der künst-
lerisch angelegte Mensch alle seine sinnlichen Bedürfhisse be-
friedigt hat und keine Noth sein Wohlsein hindert, so greift er
zum Spiel und zur Kunst, er singt und geigt und malt und
dichtet, um seiner Müsse einen an sich werthvoUen Inhalt zu
geben, oder um sich die Krone des Lebens auf das Haupt zu
setzen. Die theoretische Thätigkeit betrachtet er als ein blosses
Mittel, um seine Werke klüger einzurichten und gediegener zu
machen, und er verwebt, was er gelernt hat, als einen blossen
Einschlagsfaden in sein Spiel. Die Gefühle endlich sind ihm
theils auch nur eine Seite z. B. in den Charakteren, die er dra-
matisch oder lyrisch oder musikalisch darstellt, oder sie gelten
ihm bloss als ästhetischer Genuss der Kunst selbst. So macht
sich der Künstler zum König und Herrn der Welt und geniesst
in holdem Wahnsinn und göttlicher Begeisterung den aus der
Welt ausgepressten Nektar der Poesie. Dieser pantheistische
Kunstenthusiasmus ist also eine nothwendige Religionsform, die
sich immer hier und da bei Künstlern und künstlerisch ange-
hauchten Naturen finden wird.
Es ist nicht unsere Aufgabe, hier genauer histo-
risch zu untersuchen, wo zuerst diese Religionsform
aufgekommen ist; gleichwohl müssen wir zur Hlustrirung jeden-
falls einen bedeutenden Vertreter des Standpunkts vorführen,
damit wir uns nicht bloss im Gebiete einer speculativen Topik
bewegen, welches Vielen so lange für chimärisch gilt, bis sie
auf die historischen Namen stossen. Nun ist es klar, dass dieser
Standpunkt nicht früh in der Menschheit aufkommen konnte,
weil die Furcht- und die Rechts-Religion bei allen Völkern den
Vorreigen führte. Wenn sich aber auch schon der Pantheismus
entwickelte, so wird doch nicht immer sofort der Enthusiasmus
Digitized by -^.-jv^v^^-aj. iv.
Eunatentliusiasmus. 435
für die Kunst hervortreten, weil die entsprechende speculative
Entwickelang der Yemunft vorangegangen sein muss, welche
den gebildetsten Künstlern erst den Begriff giebt und das Wort
auf die Lippe legt, um die Kunst in dieser ihrer souveränen
Stellung zu verstehen und dieses ihr religiöses Bewusstsein auch
Andern verständlich zu machen. Wenn daher auch inmierhin
instinctiv der Künstler schon von Anfang an alS Künstler nach
dem Verlust der projectiven Theologie seine Thätigkeit als
Lebens- und Weltzweck, als Inhalt von Freiheit und Glück und
Kraft mag empfunden haben, so ist es doch begreiflich, dass
vielleicht erst am Ende des vorigen Jahrhunderts der pantheistische
Kunstenthusiasmus als eine bestimmte Weltauffassung und ßeli-
gionsform an's Licht trat. Und zwar ist es Schiller, den ich
besonders meine, weil er zuerst neben der Kunst auch die
Philosophie zu umfassen vermochte und daher zu einem deut-
lichen speculativen Bewusstsein gelangte.
Nachdem Schiller der Prophet dieser Weltauffassung ge-
worden war, nahm Göthe zuweilen einmal denselben Gesichts-
punkt, doch liebte er es nicht, eine .Sache immer von derselben
Seite anzusehen, und es wäre daher vergeblich, Göthe zum
Partisanen dieser Beligion machen zu wollen. Dagegen gingen
die Romantiker hitzig und unklar in vielen Werken auf diesen
Gedankenweg ein.
Die Dogmatik dieser Religion ist sehr einfacL
Da die projectiven Götter und mit ihnen der miss-
verstandene christliche Gott gefallen sind, so blieb den Pantheisten
als das Göttliche nur unser Geist übrig, für dessen Potenzen die
ganze alte und mittelaltrige Götterwelt nur in metaphorischem
Spiel als künstlerische Form gebraucht wurde. So wird man bei
Schiller bald einen Heiden, bald einen katholischen Christen zu
hören glauben; es hat damit aber nichts auf sich; denn die
Eumeniden, wie das Sacrament sind ihm blosse Gemüthszustände
im Menschen, welche diese oder jene Handlung vermitteln.
Die eigentliche Aufgabe der Dogmatik besteht deshalb in
der Unterscheidung der geistigen Vermögen und in der Begrün-
dung der ersten Stelle für die Kunst. Mithin muss das Ver-
hältniss von Moral und Kunst (in der Ethik) und von Philosophie
und Kunst (in der Dogmatik) erörtert werden.
436 Pantheismus der That.
Was nun die Philosophie oder Wissenschaft schlechthin be-
trifft, so gehörte Schiller nicht zu den gescheidten Köpfen, die
von Philosophie darum nichts wissen wollen, weil ihr intellec-
tnelles Vermögen nicht hinreicht, in dieser lichtreichen Religion
ohne blaue Brille etwas zu sehen; Schiller hatte vielmehr mit
grossem Talent die Kant'sche Philosophie studirt und auch die
folgenden Idealsten zu fassen gesucht. Er glaubte aber, weil
sein angeborener Beruf zur Kunst führte, alles Wissen, wie in
seinen philosophischen Gedichten, der Kunst dienstbar machen
zu können oder ihm wenigstens die speculativ abstracte Fassung
nehmen und es mit der Phantasie in einem schönen Bunde zur
künstlerischen und gefälligen Darstellung bringen zu sollen. In
seinem Gedichte „die Künstler" spricht er dies klar aus: „Wenn
auf des Denkens freigegebenen Bahnen der Forscher jetzt mit
kühnem Glücke schweift und, trunken von siegrufenden Päanen,
mit rascher Hand schon nach der Krone greift; wenn er mit
niederm Söldnerslohne den edlen Führer zu entlassen glaubt,
und neben dem geträumten Throne der Kunst den ersten Sclaven-
platz erlaubt: — verzeiht ihm — der Vollendung Krone
schwebt glänzend über eurem Haupt. Mit euch (den
Künstlern), des Frühlings erster Pflanze, begann die seelen-
bildende Natur; mit euch, dem freudigen Erntekranze, schliesst
die vollendete Natur." Und femer: „Was in des Wissens
Land Entdecker nur ersiegen, entdecken sie, ersiegen sie für
euch. Der Schätze, die der Denker aufgehäufet, wird er in
euren Armen erst sich freu'n, wenn seine Wissenschaft, der
Schönheit zugereifet, zum Kunstwerk wird geadelt sein." Die
Urania (als Wissenschaft) soll deshalb in der Cypria (als Kunst)
verschleiert schon gegeben sein.
Dass dies nun ganz verkehrt ist, liegt auf der Hand; denn
die geistigen Vermögen sind trotz ihres Zusammenwirkens doch
so getrennt in ihrer Wurzel wie Auge und Ohr. Nie wird man
z. B. den Werth des Gesichts wegreden oder ersetzen können,
wenn man auch noch so viel durch glänzende Schilderungen der
sichtbaren Schönheit in tönenden Worten auf das Ohr wirkt;
denn hörend können wir ja diese Kunde nur verstehen und ge-
messen, wenn wir sehend waren und uns erinnern, was wir bei
solchem Anblick fbhlten. Ebenso ist die Kunst unvermögend,
die Philosophie zn ersetzen, und der Philosoph zertrümmert
uiyiüzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Kunstenthusiasmus. 437
erbannungslos das schönste Bedekunstwerk, um aus dem Firlefanz
die ihm viel interessanteren nackten, abstracten Begriffe heraus-
zuziehen und zu gemessen, die durch die künstlerischen soge-
nannten Verschönerungen nach seiner Meinung nur verschlechtert
und, wie er grob sagen wird, verhunzt werden. Wer aber die
speculative Arbeit gescheut hat, der wird auch in dem Kunst-
werk, welches angeblich die Wissenschaft incorporiren und ver-
klären soll, den wissenschaftlichen Inhalt gar nicht verstehen,
sondern wie im Traum nur davon angesäuselt werden, ohne über
den Sinn und Verstand Rechenschaft geben zu können. Schiller's
Versuch, die theoretische Thätigkeit in der Kunst verschwinden
zu lassen, ist daher ebenso verfehlt, wie der gleiche Versuch der
speculativen Idealisten, alle übrigen geistigen Functionen in das
Fhilosophiren aufzuheben. Gerechtigkeit ist eine gute Sache,
und so wollen wir jeder Function ihr Recht geben und uns
freuen, dass wir sowohl Augen als Ohren haben.
Das Motiv der Religion überhaupt ist das Be-
dürfniss nach einer gewissen Vereinbarung oder Ver-
einigung mit dem Absoluten, oder das Bedürfiiiss nach einer
absoluten Befriedigung; denn alle unsere Begierden und Bedürf-
nisse verlangen bloss ihre besondere Befriedigung, die Religiosi-
tät aber ist ein Bedürfiiiss, welches über und ausser den zer-
splitterten einzelnen Trieben und Sorgen den ganzen Menschen
einheitlich zusammenfasst und seine Zuordnung zu der souveränen
Macht in der Welt empfindet und bedenkt. Demgemäss kann
eine absolute Befriedigung auch erreicht werden, wenn selbst
einzelnen Trieben keine Genugthuung, sondern vielmehr Ein-
schränkung und Leiden beschieden ist.
Da für die Religionsstufe, die wir hier erörtern, nur das
atheistische Bewusstsein vorauszusetzen ist, so kann die Befrie-
digung nur in dem Vollzug der geistigen Functionen und im
Genuss des geistigen Inhalts liegen. Das specifische Motiv des
pantheistischen Kunstenthusiasmus lässt sich aber nur durch eine
überwiegende künstlerische Anlage verstehen, welche die
übrigen geistigen Potenzen in ihre Functionen verwebt und so
gewissermassen die Oberherrschaft in der Seele ausübt und mithin
das höchste und alleinumfassende Bedürfniss erregt. Dieses kann
daher nur durch die künstlerische Thätigkeit und ihren Selbst-
438 Pantheismus der That.
genuss ausgefüllt und befriedigt werden, und hierin liegt das
eigenthümliche Wesen dieser Eeligionsfonn.
Wie nun die dogmatische Betrachtung uns zeigte, dass die
abstracte wissenschaftliche Leistung mit der Phantasie ver-
schmolzen werden muss, um dem Künstler zu genügen, so sehen
wir hier sofort, dass die dem Geftlhl entsprechenden moralischen
Normen keine selbständige Geltung auf diesem Standpunkte be-
halten können. Die Moralität, möge sie aus bestimmten positiven
Satzungen herstammen, oder wie bei Kant aus dem Gegensatz
der geistigen Allgemeinheit gegen die sinnlich - natürliche Parti-
cularität des Begehrens gezogen werden, ist und bleibt immer
eine Schranke, welche der freien natürlichen Bewegung des
künstlerischen Genius hemmend in den Weg tritt Wie der
Genius daher seiner Natur gemäss gegen jeden Zopf positiver
gesellschaftlicher und zweckmässiger Formen und Manieren feind-
lich sich verhält, so muss er auch der Moral den Krieg erklären.
„Ja, der Mensch ist ein ärmlicher Wicht, ich weiss — doch das
wollt' ich eben vergessen und kam, ach, wie gereut mich's, zu
Dir!" nämlich zu dem moralischen Dichter. Dieser ist in der
von der Moral regulirten Dichtung „der Wirth und der letzte
Actus die Zeche; wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die
Tugend zu Tisch."
Der Künstler kann also den Widerspruch zwischen Natur und
Gesetz nicht dulden. Darum zeigt Schiller in seinen ästhetischen
Abhandlungen, dass durch die Kunst, welche das Schöne oder
die Harmonie von Gesetz und Natur enthält, unsere Lust als
Beifall ausgelöst werde, dass dieser freie Beifall aber erziehend
und normirend auf die Triebe wirke und dass so ganz von selbst
das natürliche Begehren des Menschen, von der Schönheit und
dem Geschmacksurtheil geleitet, in den moralischen Bahnen ohne
Zwang anmuthig sich bewegen und mithin ebensowohl das radicale
Böse wie das Gesetz, welche beide einen unlösbaren Widerspruch
der Natur anzeigen, überwinden würde. Die Ethik des Kunst-
enthusiasten fordert deshalb die ästhetische Erziehung, d. h. Aus-
übung der Künste und Genuss der Kunstwerke.
Dadurch kommen wir von selbst zum Gultus:
Caltas. ^
es ist ja in die Augen fallend, dass die Verehrung
einer auswärtigen Gottheit keinen Platz mehr hat. Aber freilich
ist es dem Künstler auch leicht, sich mit seiner lebendigen
uiymzeu uy x^j>^ v^'pt i^-
Kunsienthusiasmus. 4 39
Phantasie in jeden fremden Cultus hineinzuversetzen, und deshalb
gar nicht wunderbar, dass bei diesem Standpunkt die Romantiker
so leicht vom Protestantismus zum Eatholicismus übergingen,
oder wenigstens, wie Schiller und auch Göthe, sich in ihren
Dichtungen so völlig in den katholischen Cultus hineinfllhlten
und ihn wie die angemessenere und ästhetisch allein brauchbare
Religionsform mit Vorliebe benutzten. Ebenso leicht freilich
verloren sie sich in den heidnischen Cultus und nicht bloss
Hölderlin, sondern auch Schiller und Göthe fanden den natür-
lichsten Ausdruck ihres religiösen Bewusstseins spielerisch in
den griechischen Göttern und ihrem Cultus, wie Göthe später
auch den Islam und die Indische Mythologie als ein bequemes
Gewand anzulegen liebte. Die historisch überlieferten positiven
Cultusgebräuche der Völker werden deshalb auf diesem Stand-
punkte nur zu einer Phantasieform, die sich beliebig verwerthen
lässt, an sich aber ohne Bedeutung ist.
Der eigentliche und wahre Cultus aber ist die Ausübung
der Kunst selbst, und mithin muss das Theater an die Stelle
der Kirche treten. Schiller hat sich nicht gescheut, diese Con-
Sequenz zu ziehen und sie öffentlich zu verkünden. Obgleich
nun hierin eine augenfällige Einseitigkeit liegt, weil doch weder
alle Menschen Theaterstücke schreiben, noch täglich in's Theater
laufen können und auch nicht die Fähigkeit haben, was sie an
dem Schicksal fremder Menschen auf der Bühne erlebten, jedes-
mal zum Privatgebrauch für eigene Calamitäten zu verwenden,
während die Religion immerfort von Nöthen ist und deshalb auch
die Kirche mit ihrer Lehre und Gesinnung das ganze Leben des
Menschen durchdringt und regelt: so muss diese grosse Einseitig-
keit Schiller's doch noch als ein Zeichen von Verstand und Be-
sonnenheit gelten im Verhältniss zu einem noch grösseren Extrem,
da er wenigstens noch nicht das ganze Leben des Menschen
selbst als ein Gedicht oder als Musik hinstellt, sondern dies als
ein durch den Einfluss der Kunst nur zu regulirendes Material
ausserhalb der Kunstbetrachtung Hess. Die Consequenz stric-
tester Observanz wurde erst von den Romantikern gezogen, die
von Schiller's moralischem Nerv und seinem kräftig ausgebildeten
Verstände verlassen das ganze Leben in Dichtung umwandeln
wollten. Nun wird nothwendiger Weise, wie in der romantischen
Poesie, der natürliche und nach Gesetzen zusammenhängende
440 Pantheismus der That.
Lauf der Welt selbst zu einem vom Zufall oder von dämonischen
Mächten nach Neigung oder Abneigung gestalteten Lebenstraume;
Wirklichkeit unterscheidet sich nicht mehr von den Bildern der
Einbildungskraft, so dass sich Zauber und Wunder und alles
Unmögliche ohne Mühe ereignet; die im Walde erschaute blaue
Blume, bei Novalis, die den Dichter mit zauberhafter Macht
anzog, tritt in den blauen Augen eines Mädchens ihm plötzlich
wieder entgegen und ist in Wahrheit nichts anderes als der ent-
zückende Traum der Phantasie, der das eigentliche Lebens-Motiv
und Ideal des Dichters gewesen war und der sich nun in süssen
Thränen und Worten unsagbaren Inhalts und allerlei poetischen
Handlungen realisirt. Zwei Verliebte leben bei Tieck unbe-
kümmert um die übrige Welt im zweiten Stockwerk, und in ihrer
Lebenspoesie verbrennen sie allmählich von unten an die ganze
Treppe auf ihrem kleinen Heerde und gemessen die Vollendung
des Daseins mit einander in ihren Phantasien, ohne nöthig zu
haben, mit dem spiessbürgerlichen Verstände sich und die Welt
zu erkennen oder irgendwelche Pflichten in der ihnen ver-
schwundenen Wirklichkeit zu erfüllen.
Diese Erörterung des Gultus führt unmittelbar
Zar Kritik. °
zur Kritik hinüber; denn die ungehinderte Ausbildung
des Kunstenthusiasmus muss ja die völlige Isolirung der Kunst-
function und die haltlose Einseitigkeit und Unwahrheit des Stand-
punkts an's Licht stellen. Indem die Kunst, die hier gewöhnlich
schlechthin Poesie genannt wird, sich von der Wissenschaft, also
von der Wahrheit, ablöst, wird ihre Productionsweise und Form
launenhaft und liederlich, wie die kaum lesbaren Producte, die
Genoveva u. dergl, zeigen, und ihr Inhalt geht vom Traumhaften
zum Verrückten über. Das Leben dieser Lebensdichter aber
richtet sich bloss nach ihrem zufälligen Geschmack und nach
ihren von der Phantasie gegängelten Begierden, die alle für
heilig und unschuldig erklärt werden, weil sie als natürliche
aufgehoben und in die Form der Lebensdichtung aufgenommen
sind. Darum tauschen die Dichter ihre Frauen unter einander,
kümmern sich weder um menschliche, noch sogenannte göttliche
Verbote und beten schliesslich in der Lucinde, da die Phantasie
doch von den Trieben inspirirt wird, in orgiastischem Rausch
ihren eigenen Priapus an. Mit einem Wort, die Einseitigkeit des
Kunstenthusiasmus bewirkt seine Unwahrheit, sofern er von
uiumzeu uy x^jOvJVIv^
Künsten thnsiasmus. 441
der theoretischen Function, also von Verstand und Wissenschaft
lostgelöst ist, und seine Schlechtigkeit, sofern er von dem
Gewissen und von allem moralischen Gesetze sich emancipirt.
Zugleich tritt in diesem dichterischen Enthusiasmus auch
der Fehler des Pantheismus deutlich hervor; denn das Wesen
des Fantheismus ist die Auflösung des Göttlichen in die geistigen
Functionen. Hier sehen wir nun Eine Function, die Phantasie
mit ihren künstlerischen Handlungen, in alleiniger Bevorzugung
und können an dem Inhalt der Werke und dem Leben der
Dichter wahrnehmen, wie die Persönlichkeit, das substanziale
Sein des Menschen, in die blosse Function verschwindet, wie
also gewissermassen an der Stelle des Menschen nur das Träumen
und Dichten lebt und wirkt, ohne dass der Mann selbst seine
Thätigkeit regierte und normirte und ihr im Verhältniss zu den
andern Functionen die Bedingungen der Coordination auferlegte,
und ohne dass er selbst als Wesen mit den anderen zugeord-
neten Wesen und mit Gott in eine reale und in eine meta-
physische Gemeinschaft zu treten vermöchte.
Man darf aber nicht glauben, als wenn die hier abgeleitete
und definirtc Religionsform sich bloss bei Dichtern finden könnte,
nein, sie ist auch bei den Vertretern der andern Künste viel
verbreitet; nur vermögen die Maler und Bildhauer und Musiker,
was sie träumen, fühlen und wollen, bloss durch Gesichte und
Töne räthselhaft anzudeuten, während dem Dichter allein die
Zunge gelöst und vergönnt ist, deutlich und verständlich zu sagen,
wie sich ihm in seinem Geiste das Göttliche oflFenbart hat.
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2. Pantheismus des Gefühls.
Erstes Capitel.
Definition.
Kein
PantheismuB
Wir kommen zu einer andern Form des reli-
giösen Bewnsstseins, zu einer weniger verbreiteten,
kann weü das Vermögen der That in die Sinnenwelt führt
^*^werdef**'^ uud sich deshalb überall bemerklich macht, wie es
auch durch die beständige Sorge für die Selbst-
erhaltung im Kampfe um's Dasein am Meisten von selbst ent-
wickelt wird, während das Geftlhl und die Erkenntniss nur als
Hülfen herangezogen werden, aber durch die Noth des Lebens
keinen unmittelbaren Antrieb zu selbständiger Entwickelung er-
halten. Es ist darum in der Ordnung, dass die Religionsformen,
zu denen wir jetzt übergehen, sich nicht in so zahlreichen Bei-
spielen vertreten finden, üeberhaupt eignen sich alle pantheisti-
sehen Standpunkte ohne Ausnahme nicht zur Yolksreligion, und
es ist nur eine Oedankenlosigkeit, wenn man die pantheistischen
Religionen des Buddhismus und Brahmanismus die verbreitetsten
Religionen der Welt nennt; denn was in diesen Religionen rein
pantheistisch ist, das kann sich ebensowenig verbreiten, wie etwa
das chemisch reine Wasser. Nur scheinbar ist dieses überall
vorhanden; es verbindet sich vielmehr überall mit anderen Stoffen
und verbreitet sich in die organischen Gewebe der Pflanzen und
Thiere, wie es auch im Meere und in den Quellen mit Salz und
Jod, mit allerlei Alkalien und Metallen sich vermengt In den
Apotheken und Laboratorien hat man das reine Wasser zu
suchen. Ebenso ist der Buddhismus und Brahmanismus als
Yolksreligion kein reiner Pantheismus, sondern er hat die Elemente
uiyiüzeu uy "V-j v-zv^'-x iv^
Definition. 443
der Furcht- und Rechtsreligion überall aufgesogen und sich mit
Göttern erfüllt, wie z. B. Buddha selbst zu einem incamirten
Gott gemacht wurde. Also muss man aufhören mit dem un-
wissenschaftlichen Geschwätz, als wenn der Pantheismus der
noch gegenwärtig herrschende und vom Evangelium nicht besiegte
Geist der verbreitetsten Religionen der Welt wäre, womit man ein-
filltige Christen zu erschrecken und Eandem zu imponiren pflegt
Nun beruhen alle pantheistischen Religionsformen
auf einer Einseitigkeit der geistigen Begabung der ^J^^^^^
Menschen. Obgleich nämlich der Geist seinem Wesen
nach immer ganz ist, derart dass ihmkeins der drei Vermögen
fehlen könnte, so findet sich doch thatsächlich in der Regel ein
Uebergewicht von Einem dieser Vermögen, weshalb wir einige
Menschen praktisch und künstlerisch, andre Gefiihlsmenschen,
andre Denker nennen. Da aber der Geist immer ganz ist, so
denkt auch der Praktiker und es fühlt auch der Theoretiker;
nur wird niemand die in jeder Erfahrung uns aufstossende Ein-
seitigkeit der Menschen leugnen wollen. Darum ist es nun in
der Ordnung, dass sich nach dem Uebergewichte der einen oder
der anderen Function des Geistes auch die allen gemeinsame
Vorstellung von dem Göttlichen und der absoluten Befriedigung
in einer specifischen Weise ausbildet und eine eigenthümliche
Religionsform erzeugt Wenn daher das Gemeinsame (genus)
des Pantheismus durch den Genuss des Göttlichen in den geisti-
gen Functionen, in welche das Ich verschwindet, ausgedrückt
werden kann, so besteht das Specifische (differentia specifica) in
den Einseitigkeiten, wonach entweder die Thätigkeiten oder die
Gefühle oder das Denken den Sitz des Uebergewichts bilden.
Diese drei Vermögen des Geistes bestimmen das Fundament der
Eintheilung und ermöglichen zwar keine haarscharfe Zerspaltung
der Religion, aber doch eine solche Gruppirung, die aus dem
Wesen der Sache stammt und durch die Wirklichkeit der mensch-
lichen Einseitigkeit vollauf bewährt wird, so dass Niemandem
der thatsächliche Unterschied der hierdurch gefundenen Reli*
gionsformen entgehen kann.
Es ist offenbar, dass das Gefühl zu den elemen-
taren Functionen des Geistes gehört, von denen man ^**0e^hu, ^^
gewöhnlich sagt, dass sie nicht definirt werden
könnten. Nun ist es zwar richtig, dass man Niemandem von
uiuiüzeu uy V^J V^\J>t i^
444 Pantheismus des Gefühls.
einem GefUhl yerständlich sprechen kann, wenn er dies GeAihl
nicht schon in sich gefühlt hat, wenn es noch kein Inhalt seiner
eigenen Erfahrong geworden ist ; allein ausser dieser seit Aristoteles
allgemein anerkannten Gränze der Definibilität muss die neue
Schwierigkeit beachtet werden, die ich zuerst in meiner „Grund-
legung der Metaphysik" hervorhob; da nämlich durch das Er-
kennen offenbar nur Erkenntnisse erkannt werden, d. h. nur das,
was als erkanntes Object ohne Kest in das erkennende Subject
aufgeht, so scheint das Gefühl, welches doch keine Erkenntnis,
sondern etwas davon gänzlich Verschiedenes ist, gar nicht er-
kannt werden zu können. Ich habe diese Schwierigkeit in meiner
Metaphysik durch Unterscheidung von Bewusstsein und Erkenntnis
gelöst und zugleich die Gränze des Gebietes des Definiblen dadurch
erweitert, dass ich die Definition als Ortsbestimmung in einem
Coordinatensystem demonstrirte, weshalb man jetzt durch Angabe
der coordinirten Beziehungspunkte Alles definiren kann, indem
man aber freilich immer das für den Ort Bestimmte in seinem
eigenen Bewusstsein antreffen oder, wenn es eine Erkenntniss
ist, durch eigenes Denken erzeugen muss.
Ort des Gefühl» ^^ ^^^ dcmgcmäss den Ort des Gefühls zu
in dem . bcstimmcu, nehmen wir ein paar Beispiele. Wir sehen
^°^ytl^° eine Traube; wir brechen sie ab. Das Sehen ist
der geisugeu hicr cinc Erkenntnissfunction; das Abbrechen eine
Funcüonen. Handlung. Wie folgt die Handlung aus der Er-
kenntniss? Sie folgt auf keine Weise ohne ein Drittes in der
Mitte. Wir müssen nämlich schon Trauben gegessen und Ge-
schmack daran gefunden haben. Also muss sich das Gefühl des
Angenehmen als Geschmack in der Mitte befinden, damit die
Handlung sich nach der Erkenntniss drehen kann. Man hört
eine Viper zischen und fährt zurück. Auch hier ist ein durch
Erfahrungen ausgelöstes Gefühl der Furcht zu ergänzen, ohne
welches keine Bewegung erfolgen könnte. Nach diesen Beispielen
zeigt sich also ein Coordinatensystem in den geistigen Functionen,
indem in gesetzmässiger Weise Erkenntniss und Bewegung ein-
ander durch das Gefühl zugeordnet sind. Wir haben das Recht,
dies Kesultat unbedingt und allgemein auszusprechen, so lange
keine Instanz dagegen angeführt werden kann.
Um^ die Allgemeingültigkeit dieser Ortsbestinunung oder
Definition des Gefühls zu zeigen, will ich ein Beispiel aus dem
uiumzeu uy 'v_JvyVjVlv^
Definition. 445
Gebiete des Denkens anführen, ip welchem bisher noch nie die
elementare Wirksamkeit der drei geistigen Vermögen erkannt
und analytisch nachgewiesen worden ist. Man nimmt nämlich
noch heute allgemein an, das Denken gehöre bloss zum Er-
kenntnissvermögen, und man tibersieht daher in verhängnissvoUer
Weise die Mitwirkung des Bewegungs- und Geftthlsvermögens.
Will man hier aber klar sehen, so muss man die einfachen Vor-
gänge zunächst studiren. Es werfe z. B. Jemand die Frage auf,
ob die Radien im Kreise gleich oder ungleich wären. Nun blickt
der erkennende Geist auf die Begriffe gleich und ungleich, er
blickt auch auf die Natur der Radien im Kreise; denn die Frage
hat die Reproduction dieser Begriffe und Vorstellungen als Be-
ziehungspunkte hervorgerufen. Was folgt aus dieser Erkenntniss?
Nichts! Kein Urtheil und kein Schluss! Denn woher sollte die
Bewegung kommen? Das Urtheil ist eine Bewegung, ein Thun,
eine Handlung des Geistes, und der Schluss ist ein Urtheil. Also
fehlt ein Gelenk, ein in der Mitte liegendes Princip, welches
eine Thätigkeit mit einer Erkenntniss im Gebiete der Erkennt-
niss verbindet. Wir nennen diese Thätigkeit das Denken. Nach
der Analogie kann das in der Mitte Liegende nur das Gefühl sein.
Wollten wir uns hier nun gleich mit dem Namen „Gefühl"
befriedigen, so würden wir nicht tief genug in das Wesen des
Vorgangs blicken. Man muss aber wissen, dass alle die oben
angeführten Beispiele, so einfach sie zu sein scheinen, schon sehr
complicirter Natur sind, weil sie aus dem Gebiete des bewussten
Lebens entnommen wurden. Das Unbewusste hat jedoch immer
den Vorrang. Ohne Weiteres kann Niemand nach der Traube
greifen-, sondern es gehen unzählige unbewusste Bewegungsacte
im Kindheitsalter erst voran, die sinnenfällig werden und die
Möglichkeit einer zweckmässigen und unzweckmässigen oder ver-
fehlten Bewegung unterscheiden lassen, so dass dieser ganze
Vorgang noch eine viel feinere Analyse verträgt und fordert.
Allein dies gehört nicht hierher, sondern soll an anderem Orte
ausgeführt werden, wie es zum Theil auch schon von andern
Forschem richtig erkannt ist. Hier bemerke ich nur, dass, wer
fehl greift, ein Missfallen auslöst; wer trifft, Beifall in sich findet
Demgemäss verhält es sich nun auch beim Denken; eine logische
Bewegung, d. h. ein Urtheil, welches irrig ist, missf&llt uns; ein
Urtheil aber, welches trifft und richtig ist, befriedigt uns und
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446 Pantheismus des Gefühls.
hat unseren eigenen Beifall. Hier nun haben wir das gesuchte
Geftlhl. Es ist der aus den unbewussten Denkthätigkeiten uns
wohlbekannte Beifall, der hier sollicitirend auf das Bewegungs-
vermögen wirkt und das Urtheil auslöst, da das durch die Frage
oder den Zweifel entstandene unangenehme Gefühl eine Ab-
hülfe verlangt, um durch die Denkbewegung die Befriedigung
herbeizuführen.
Diese Andeutungen mögen hier genügen. Da
^def GeföhJr ^^^^ jedes Geftlhl wesentlich entweder als angenehm
und das ooor- odcr Unangenehm, als Beifall oder Missfallen em-
^*de*/ Welt*"* pfunden wird, so fordern wir zum Verständniss dieses
Unterschiedes, von dem alle Thätigkeiten abhängen,
einen zugeordneten Beziehungspunkt. Dieser zeigt sich alsbald
in der allgemeineren Idee der Ordnung oder der Goordination
überhaupt. Wenn wir die Ordnung in dem Tempo der Bewegung
verfolgen, so missfällt, wer aus dem Tacte kommt; wer die
Ordnung, die einem Contracte zu Grunde liegt, das Vertrauen
des Einen, das Versprechen des Andern und die geschehene Lei-
stung in'sAuge fasst, dem missfällt der Bruch des Versprechens;
wer die Ordnung einer mathematischen Rechnung kennt, dem
missf&Ut der Fehler, die Lücke u. s. w. Kurz der Beifall ist
immer zugeordnet dem Richtigen, das Missfallen aber der ge-
störten Ordnung. Mithin ist das Wesen des Gefühls zu ver-
stehen, wenn wir unsere geistigen Functionen in das grosse Ganze
einer allgemeinen, die Welt umspannenden Ordnung einbegreifen,
weil wir dann in dem Gefühl die Correlation der Stellung des
Ichs mit seiner Function zu dem die Ordnung des Ganzen be-
stimmenden einheitlichen Zweck unmittelbar empfinden.
Die Möglichkeit aller Fehler liegt in der Selb-
theiiangder stäudigkcit dcs Ichs; denn dadurch können dieFunc-
oefühie. tionen, welche durch die Beziehungen zur Welt aus-
gelöst werden, sich nach der Natur und dem inneren Zustande
des Subjects richten, ohne der allgemeinen Ordnung draussen zu
entsprechen. Dass z. B. Jemand tanzt, liegt etwa in der zage-
hörigen Aufforderung der Ball-Gesellschaft; dass er aber aus dem
Tacte kommt, liegt in seinem inneren Zustande, in seiner Un-
geübtheit, seinem schlechten Gehör u. s. w.
So sind zunächst zwei Gattungen von Geflihlen zu unter-
scheiden; die Einen drücken die Correlation der Welt zu uns
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Definition. 447
in der Weise ans, dass die Uebereinstimmang oder Nichtüber-
einstimmung der Dinge nach der Ordnung in dem Subject nor-
mirt wird. Diese Anffassungsweise der Dinge ist die perspec-
tiyische und die Geftihle heissen selbstsüchtige, weil alle
Dinge übereinstimmen sollen mit der Ordnung in dem Selbst
Die zweite Gattung dreht den Spiess um und betrachtet das
Selbst als zu ordnen zur Uebereinstimmung mit dem Ganzen.
Hier ist die Betrachtungsweise eine objective, und die Gefühle
können im Allgemeinen als die idealen bezeichnet werden, so-
fern sie sich nach den Normen des ideellen Seins richten.
Die objectiven Gefühle lassen sich leicht ein- j,,^ ^^^ ^^^
theilen, wenn wir die Dreiheit aller unserer Fun- objecüven
ctionen in's Auge fassen; denn nach diesem Funda- befähle.
ment muss es drei Arten von Uebereinstimmung mit der ideellen
Ordnung geben. 1) Die erste Art bezieht sich auf die äusseren
Thätigkeiten und Handlungen, welche der realen Ordnung ent-
sprechen sollen. Diese Uebereinstimmung wird als die Idee
der Schönheit bezeichnet und die zugehörigen Geflihle als die
ästhetischen. 2) Die zweite Art betrachtet nicht den realen
Erfolg, sondern die Absicht oder das Gefühl selbst als die alle
Uebereinstimmung ermöglichende innere Bedingung. Diese Ueber-
einstimmung heisst die Idee des Guten, und die zugehörigen
Gefühle, die man gewöhnlich dem Gewissen zuschreibt, heissen
die Rechtsgefühle oder die sittlichen. 3) Die dritte Art be-
zieht sich auf die Erkenntnisssphäre. Die Uebereinstimmung
unserer Function mit der ideellen Ordnung des Gedachten ent-
hält die Idee der Wahrheit, und die zugehörigen Gefühle
heissen die wissenschaftlichen oder logischen.
Ein Gefühl aber ist in dieser Eintheilung nicht
mit enthalten, obwohl es gerade dasjenige ist, um ^Gefühl?'*
dessentwillen wir diese ganze Eintheilung wenigstens
tabellarisch uns vorftlhren müssen — ich meine das religiöse
Gefühl. Dies kann aber nun sehr leicht zu vollem Verständniss
gebracht werden, wenn wir die allein noch übrig bleibende Coor-
dination des Ichs zu dem Gottesbewusstsein hinzunehmen, wie dies
schon oben bei der Definition der Religion dargelegt ist. Hier
haben wir uns jedoch zu erinnern, dass wir nicht das religiöse
Gefühl schlechthin, sondern nur das dem Pantheismus zugehörige
suchen. Denn da der Atheismus als Basis des Bewusstseins
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
448 Pantheismus des Gefühls.
vorauszusetzen und also kein projeetiver Gott vorhanden ist,
gegen welchen das Ich eine Gesinnung haben könnte, so muss
nach dem allgemeinen Wesen des Pantheismus das Ich in die
selbstischen und perspectivischen Auffassungen und Bewegungen,
der Gott aber in die ideale und objective Gedankenwelt und die
zugehörige Handlungsweise verschwinden. Mithin kann es sich
ftir dieses religiöse Geflihl nur um die Coordination der geistigen
Functionen untereinander handeln.
Exciira ^^ ^^^ spccifische Wesen dieses religiösen Stand-
über dfo punktes völlig in's Klare zu bringen, müssen wir zu-
^'' EtiTik''^''' nächst das Verhältniss der gegebenen Elemente, ab-
gesehen von der religiösen Gesinnung, betrachten.
Nun ist einleuchtend, dass beide Elemente sowohl in Disharmonie
als in Harmonie stehen können. Harmonisch sind sie nur,
wenn das selbstische Element völlig dem idealen gemäss sich
ordnet; weil die Vernunft keine andere Ordnung jemals aner-
kennen und zulassen kann, als die von ihr gefundene. Mithin
muss uns die Disharmonie als imsittlich und schlecht, und die
zugehörige Handlung und Gesinnung als Vergehen, Verbrechen,
Laster erscheinen. Wenn aber das selbstische Element in seinem
Begehren und in seinen Anschauungen sich der Vernunft und
dem Gewissen conformirt, so entsteht eine Harmonie der inneren
Functionen, und dies ist der Inhalt der antiken griechischen
Ethik, wie sie besonders durch Aristoteles ausgebildet wurde;
denn in dieser dreht sich alles um die sogenannte Humanität
oder xaXoxaYad'ta, d. h. um den Gehorsam des zum Gehorchen
und zur Unterordnung bestimmten subjectiven Elementes unter
die allgemeinen von der Vernunft erkannten objectiven Normen.
Eine solche innere, aus der Natur der coordinirten Elemente
selbst bestimmte Harmonie heisst Tugend, wenn sie zu einer
lebendigen Kraft gekommen ist, aus welcher immerfort im Ein-
zelnen richtige, d. h. harmonische Handlungen und Lebensauf-
fassungen abfliessen, und es folgt, dass dieser Coordination ge-
mäss beide Elemente, sofern sie flir einander harmonisch sind,
nach jeder Seite hin ihre besondere Tugend haben; denn das
gehorchende Element kann nur die ethische Tugend erreichen,
das befehlende Element aber ist nothwendig dianoötisch, weil
die Normen in der Vernunft liegen. Diese Ethik hat nun keine
Spur eines religiösen Charakters. Da der Mensch aber der
uiymzeu uy x^j v^'v^'
ö'"
Definition. 449
Religion als Mensch nicht entbehren kann, so wnrde auch Aristoteles
dazu getrieben, seiner Ethik eine religiöse Wendung zu geben,
und zwar auf zwei Wegen. Einmal nämlich versuchte er, die
ganze Tugend als die Glückseligkeit (ehSca^ia) hinzustellen,
was ihm natürlich nicht auskam; denn es ist eine kindliche
Illusion, das Leben des Menschen auf dieser Erde als eine mit
dem Tode abgeschlossene vollkommene Ganzheit zu betrachten,
da es nur ein kleiner Ausschnitt aus unserem uns selbst noch
unübersehbaren Weltbilde ist, wie eine Scene aus einem Drama,
wie eine untere Klasse aus der ganzen Schule, die wir durchzu-
machen haben. Deshalb scheiterte Aristoteles denn auch noth-
wendig an den Klippen des Zufalls, an den zufälligen Begabun-
gen, welche die Menschen mit auf die Welt bringen, und an den
zufälligen Lebensereignissen, die als Glück oder Unglück er-
scheinen, da er seinen glückseligen Mann nur als einen Schuster
definiren musste, der nicht immer die besten Schuhe machen
könnte, sondern nur nach dem gerade gegebenen Leder sich zu
schicken hätte, um das unter den Umständen Erreichbare herzu-
stellen. Die Glückseligkeit musste sich ohne Glauben an die
Providenz in solcher Art accomodiren, dass der Standpunkt des
Atheismus herauskam, der ja in den verschiedensten Formen
und Vermischungen auftreten kann.
Der zweite Versuch, den Aristoteles in Anlehnung an Piaton
machte, bestand in einem halben Pantheismus, indem er am
SchlusB der Ethik die Frage wieder aufiiahm, die dianoetische
Tugend allein zum Sitze der Glückseligkeit erkor und, wie
wie wir bei der letzten Form des Pantheismus genauer sehen
werden, in dem Denken die Vergöttlichung gemessen wollte.
Ich nenne diesen Aristotelischen Pantheismus einen halben, weil,
wie ich in meinen Studien zur Geschichte der Begriffe, beson-
ders im dritten Bande der Neuen Studien, gezeigt habe, die spe-
culative Kraft des Aristoteles überhaupt zu gering war, um eine
zusammenstimmende Weltansicht construiren zu können, weshalb
sein System (wie auch indirect z. B. der von verschiedenen Seiten
gefbhrte Streit gegen die Averrhoistischen Ausleger beweist) nur
zum Theil den pantheistischen Anstrich hat. Diese zweite reli-
giöse Wendung gehört daher zum Pantheismus des Gedankens
und wird weiter unten erörtert werden.
Teicbmüller; BeUgionn»hUotophle. Digitiz^9öy GoOQIc
450 Pantheismus des Gefühls.
Ich will, hier nur noch bemerken, dass man bisher etwas zn
gntmttthig alle diese Fragen als ethische betrachtet hat, weil
sie in des Aristoteles Ethik stehen. Wenn man als Philosoph
an die Kritik dieses Werkes geht, so muss man sofort die ganze
Untersuchung über die Eudaemonie herausreissen, weil sie mit
dem Begriffe, den Aristoteles selbst von der Ethik giebt, nichts
zn thnn hat. Man könnte diesen principiellen Theil Religions-
Philosophie nennen, da es sich dabei um* die Stellung des Men-
schen zu Gott oder zum Schicksal oder zum Universum dreht
Nur ist zu bemerken, dass Aristoteles selbst sich gar nicht be-
wusst geworden ist, dass es religiöse und nicht ethische Fragen
sind, die er behandelt, was sich freilich dadurch leicht erklärt,
weil überhaupt die religiöse Gesinnung bei ihm keine höhere
Ausbildung und Vertiefung fand. Trotzdem wird sich kein Ge-
lehrter, wenn er überhaupt zu einem beurtheilenden Standpunkte
gelangen kann, weigern einzuräumen, dass alle die zur Erörterung
der Eudaemonie von Aristoteles herangezogenen Begriffe, die für
diese Frage auch unvermeidlich sind, zur Religionsphilosophie
gehören. Zur Ethik gehört nur die Erörterung der Harmonie
unserer geistigen Functionen, also die Theorie der Tugenden
und der Pflichten und der zugehörigen Güter. Will man aber
das religionsphilosophische Fundament und die ethische Abhand-
lung mit dem gemeinschaftlichen Namen Ethik taufen, so dreht
CS sich um einen Namenstreit, wobei das philosophische Interesse
aufhört, welches sich nur auf die Ordnung der Begriffe richtet;
denn was kann es z. B. den Philosophen kümmern, dass Spinoza
sein Hauptwerk Ethik tauft, da sich darin doch alle Disciplinen
der Philosophie abgehandelt finden.
Kehren wir nun nach dieser Abschweifung, die
FortsetzuDg:
Das reiigiöee zur antithetischen Illustration erforderlich war, zu
Gefühl. unserer Frage zurück, so erinnern wir uns, dass wir
das specifische religiöse Gefühl ftlr den Pantheismus bestimmen
wollten. Nun hatten wir alle Geflihle eingetheilt und bestimmt
und nur das religiöse Gefühl nicht gefunden; wir waren aber zu
dem Schluss gekommen, dass dieses nur durch die Coordination
der geistigen Functionen untereinander entspringen könnte. Wenn
wir jedoch diese Coordination vollziehen, so erhalten wir die
Ethik, und um dieses Resultat zu veranschaulichen, waren wir
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Definition. 451
ZU dem Exempel der Aristotelischen Ethik übergegangen, wo wir
das gesuchte religiöse Geftlhl vermissten.
Wir müssen daher eine neue Gonstruction vollziehen, die
aber sehr einfach ist; denn da die selbstsüchtigen Geftihle mit
den idealen nothwendig wieder in Verhältniss stehen und dies
Yerhältniss wieder nur durch ein Gefühl geordnet werden kann,
so muss dieses Gefühl, welches den Einklang der perspectivisch .
und objectiv aufgestellten Welt regelt, nothwendig ein religiöses
werden, sobald das Selbst mit dem ganzen Inhalt der selbst-
süchtigen Gefühle und perspectivischen Auffassungen in den
Gott* d. h. in alle die idealen Gefühle und die objectiven Auf-
fassungen verschwindet, d. h. sobald nach dem Durchgang durch
den Atheismus die pantheistische Stufe des Bewusstseins erreicht
ist Denn sobald der früher projective Gott in das Bewusstsein
zurückgenommen und also als gegenwärtig in den idealen Func-
tionen anerkannt wird, so dass diese als etwas Göttliches er-
scheinen, so muss das Selbst, welches dem auswärtigen Gott
coordinirt war, zugleich zerschmelzen und sich nur als Erschei-
nungsform dem allgemeinen göttlichen Leben hingeben, da das
Selbst nichts Einzelnes und Selbständiges mehr sein kann, wenn
es den im All gegebenen Gott in sich fasst. Mithin ist das Ge-
fühl dieses Einklangs zwischen den beiden Geflihlsgattungen nicht
mehr^ein moralisches, wobei die Persönlichkeit als Träger
bestehen bleibt, sondern ein religiöses, da die Persönlichkeit
in diesen Einklang mit dem Göttlichen aufgeht Es kommt dabei
also nicht mehr auf ein einzelnes Thun oder Leiden an, welches
in einzelnen Zeitpunkten bei gewissen einzelnen Objecten der
Erkenntniss gethan oder gelitten werden müsste, sondern die
beiden geistigen Functionsgattungen selbst in ihrer allgemeinsten
Einheit treten untereinander in Beziehung und Einklang. Dadurch
verschwinden also die unsäglich vielen Widersprüche zwischen
unserem Selbst und dem Universum (Gott), die endlosen Wider-
wärtigkeiten und Quälereien des Lebens, die Empfindung der
Leerheit, der Sünde und Gottlosigkeit, und es gelangt der mit
lauter endlichem, den Begierden entsprechenden Inhalt angefüllte
Geist aus dem Wirrwar der Welt, aus dem bedrückenden täg-
lichen Allerlei mit Einem Schlage zum vollen Einklang mit
Gott oder dem Universum, zum Frieden, zu einem Alles einigen-
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452 Pantheismüa des Gefühls.
den, Alles mit innigem Beifall ordnenden Gefühl. Dies Geftihl
ist eS; was wir für den Pantheismus des Gefühls suchten.
Dass Jemand diese Religion haben muss, lässt sich speculatiy
nicht beweisen, wohl aber, dass man sie haben kann. Denn
wenn wir von der Thatsache der Einseitigkeit der Menschen
ausgehen, so ist es schlechthin möglich, dass sowohl die eine,
als die andere Function des Geistes zum Ueb ergewichte
kommt, und so kann natürlich jenachdem auch das Gefühl den
Schwerpunkt des geistigen Lebens eines Menschen bilden. In
diesem Falle wird das Gefühl sich nun entweder in die unend-
liche Vielheit der einzelnen Erlebnisse und Thätigkeiten aller Art
verzetteln, um den Menschen in den immer wechselnden Strudel
von Lust und Leid, aber mit weit überwiegendem Leid zu bannen,
oder er wird sich reinigen und sammeln und von der Vielheit
zurückziehen zu der Wurzel des Lebens, um in dem allgemeinen
Einklänge der unbestimmten geistigen Functionen die Ordnung
religiös zu geniessen. Was die speculative Construction hier
zeigt, das muss uns durch die Erfahrung ausgeftlUt werden,
indem wir uns zu erinnern suchen, ob wir nicht Menschen dieser
Art kennen gelernt haben, oder ob wir etwa selbst, wenn nicht
immer, doch einmal im Laufe unserer Entwickelung diese Art
des religiösen Gefühls theilten.
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Zweites Capitel.
Die reine Form.
§ 1. Dogmatik und Cultus.
Um die pantheistische Beligion des Geftlhls ge-
nauer zu charakterisiren, müssen die beiden anderen u^^j^,.
geistigen Functionen in ihrem Verhältniss zum Gefühl
betrachtet werden; die Beziehung auf die Erkenntnissthätigkeit
giebt die Dogmatik, die Beziehung auf das handehide Vermögen
den Cultus.
Nun ist sofort klar, dass bei dieser Religionsform, in welcher
das Gefühl das Uebergewicht hat, die andern Geistesthätigkeiten
in ihrer Ausbildung zu kurz kommen müssen, weshalb sich schon
von vornherein keine sorgfältig ausgearbeitete Dogmatik erwarten
lässt Vielmehr ist ganz nothwendig, dass der Religiöse auf
diesem Standpunkte keine Neigung verspürt, auf die Gegen-
stände der Erkenntnisswelt mit allen ihren wissenschafUichen
Unterschieden einzugehen, da sein Interesse ja umgekehrt darin
besteht, die besonderen Fragen los zu werden und bloss den
allgemeinen Einklang zwischen aller erkennenden und aller
thätigen Function zu empfinden. Folglieh muss auf diesem
Standpunkte das Verallgemeinem, das unbedingte Aehnlichfinden
von Allem mit Allem zu Hause sein. Weil die erkennende
Thätigkeit überall eine und dieselbe ist, wo etwas erkannt wird,
es möge sein, was es wolle, so muss diese Einheit nun durch-
schlagen und alle Gegenstände der Erkenntniss durchziehen und
verschwommen, so dass Alles Eins wird. Die allgemeine Unbe-
stimmtheit tritt daher hier als Einheit, als das göttliche Gorreilat
zu dem Gefühle auf, und man kann aus diesem Grunde den
Standpunkt Mysticismus nennen, weil die Bestimmtheit der
Unterschiede verloren geht und in allem Einzelnen und Endlichen
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454 Pantheismus des Getuhls.
immer das Eine Göttliche in unbestimmter und geheimnissvoUer
Weise gesehen wird. Die allgemeine pantheistische Dogmatik
wird daher hier bei Vernachlässigung der wissenschaftlichen
Arbeit zu einem durch Bilder, Analogien und Ahnungen mühelos
die Dinge und die Welt in Gott auflösenden Process, wobei
natürlich überall viel Geheimniss vorkommen muss, weil die Be-
stimmtheit der Dinge nur schwindet, wenn sie mit dem Schleier
der Vergleichung und Verallgemeinerung zugedeckt wird. Alle
Mystiker von Pseudo-Dionysios Areopagita an bis auf die modern-
sten geben uns Beispiele ftir dieses Verfahren, durch welches
unmittelbar die Eine Gottheit in jeder beliebigen einzelnen Er-
scheinung angeschaut wird.
Wenden wir uns nun zu dem andern Beziebungs-
Qateulmiis. P^^^tte, zu der handelnden Function, so kann der
Pantheist des Gefühls natürlich nicht in die einzelnen
und bestimmten Acte des Privatlebens oder der politischen und
kirchlichen Gemeinschaft einzugehen geneigt sein, weil dazu die
correspondirende Erkenntnissarbeit erforderlich wäre, oder die
andern, den weltlichen Interessen des Staates und der Kirche
entsprechenden, nicht-religiösen Gefühle entbunden würden. Mithin
wird auch nach dieser Seite ein negatives Verhalten oder eine
Indifferenz stattfinden müssen, indem es als gleichgültig erscheint,
ob wir uns so oder so bemühen, ob der Erfolg so oder so aus-
fällt; denn alles Geschehen entspricht ja doch immer dem all-
gemeinen Einklänge, den die Gottheit verbürgt, weil er in unserem
Gefühle lebendig ist. Ob einer reich oder arm ist, die gewünschte
Stelle erhält oder nicht, ob er geehrt oder verachtet, sehend
oder blind, krank oder gesund ist, ja ob er lebt oder stirbt, es
ist alles Eins, da in dem Gefühl ja ein für alle Mal das Ich
seinen Willen in den allgemeinen Einklang aufgehoben und daher
Friede und Seligkeit erlangt hat. Mit Recht hat man diese
Stellung des Gemüthes Quietismus genannt; denn der Mystiker
arbeitet weder mit Enthusiasmus für den Fortschritt und die
Vermehrung menschlichen Wohls, noch kflmmert er sich um
moralische und heilige Handlungen, noch dient er dem Staate
oder der Kirche. Er hat in seinem Gefühle viel mehr, nämlich
die Erfüllung, welche die Andern mit zweifelhaftem Glücke in
einzelnen Handlungen und Ereignissen suchen.
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Ethik. 455
§ 2. Ethik.
Während nun in allen den pantheistischen Reli-
gionsformen, die wir bisher stadirten, der Gnltus die
Hauptsache war, so fällt hier der Schwerpunkt in die Ethik.
Doch darf man nicht glauben, dass es hier auf ein ausgebildetes
Moralsystem ankommen könnte, vielmehr ist dies nut der Ver-
nachlässigung der Erkenntnissarbeit und der nach Aussen gehen-
den Handlungen zugleich ausgeschlossen. Es dreht sich also,
da das Ich pantheistisch in die geistige Function aufgeht und
hier die Geflihlsfunction überwiegt, um ein möglichst constantes
und möglichst intensives Gefühl. Immer kann der Mensch aber
in diesen Acten des Gefühls nicht leben, weil die andern beiden
Functionen des Geistes auch da sind und also einen Theil des
Bewusstseins für sich in Anspruch nehmen. Daher kann es in
dieser Religionsform nur darauf ankommen, die andern beiden
Functionen als Mittel und Hülfen zu gebrauchen, um das zuge-
hörige Gefühl auszulösen, d. h. um gleichsam als Heizmaterial
die heilige Flamme des Gefühls zu nähren und die göttliche
Gluth, in welcher das Ich verzehrt wird, immer von Neuem zu
schüren.
Da nun das Gefühl als Mittelpunkt dieser Religion erscheint,
das Gefühl aber immer Lust oder Schmerz, Beifall oder Miss-
fallen ist, so könnte ein Unbesonnener vermuthen, dass diese
Religionsform sich in zwei Arten spalten werde, in eine Religion
der Lust und des Schmerzes. Die letztere würde dann den
Pessimismus vorstellen, welcher sowohl bei den Berührungen mit
der Körperwelt ein Plus von Schmerzen, als bei den persönlichen
Beziehungen ein Plus von Kränkungen, Missstunmungen und zer-
störten Illusionen und in der wissenschaftlichen Thätigkeit ein
Plus von logischem Unbehagen bei fortwährenden Irrungen und
Widersinnigkeiten erwürbe. Allein eine solche unbesonnene Ver-
muthung müssen wir gleich zur Seite stossen; denn der Pessi-
mismus gehört, wie wir schon oben sahen, zum Atheismus und
nicht in die viel vornehmere Religionsform des Pantheismus.
Der Pessimismus hat ja sein Elend und seine Leere daher, weil
ihm der Gott fehlt, während der Pantheist d^n verloren gegange-
nen Gott in seiner geistigen Thätigkeit wiedergeAmden hat und
daher die Fülle der Gottheit, in welche das Ich verschwindet,
geniesst. Der Pessimismus ist daher als ein unreifer Uebergangs-
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456 Pantheismus des Gefühls.
zustand, in welchem unreife Naturen immer verharren können,
nur das Motiv und die Schwelle des Pantheismus; die Religion
des Gefühls kann aber nur die Freude, die Seligkeit zu ihrem Inhalte
haben und ist daher im Gegensatz zu der Religion der That,
die in verschiedene Formen auseinanderging, wesentlich einfach
und einförmig.
§ 3. Die religiöse Gesinnung.
Es fragt sich nun, wie diese Religion zu Stande
Der Schmerz Ist 0—7 o
kein der Lust kommt. Das GcfÜhl ist sciucm Wesen nach positiv
nebengeordneteB j^^ q[j^^ jj^^ mdht Dolar gegensätzlich, wic man
^"""'- aUgemein von denen hört, welche den ^hmerz fllr
ebenso positiv und ursprünglich halten, wie die Lust Bei ge-
nauerer Analyse aber wird man finden, dass die Lust, wie jeder
Act, sich unter bestimmten Coordinationen entwickelt; sobald
diese Entwickelung gehemmt wird, so tritt der Schmerz in seinen
verschiedenen Arten und Graden auf. Dass nun der Schmerz
nicht der Lust nebengeordnet und von gleichem Range ist, kann
man durch einen indirecten Schluss sicher erkennen.
Da nämlich die Zustände des Seelenlebens in einer bestimm-
ten Weise einander untergeordnet sind, so kann man auf die
Lust auch die oben (S. 71) erwähnten Gesichtspunkte anwenden
und bei der Lust sowohl von einem Vermögen oder einer An-
lage^ als von einer lebendigen Kraft, die gewöhnlich Gesinnung
oder Geschmack genannt wird, sprechen, und ebenso drittens
auch den Act oder die einzelne Wirklichkeit der Lust unter-
scheiden. Demgemäss kann man fiuch für den Zwischenzustand
zwischen dem Vermögen und dem Akt noch eine besondere Be-
nennung gebrauchen und ihn als Werden oder als Begehren
und als im weiteren Sinne verstandenes Wollen bezeichnen, wie
ebenso auch jener der Thätigkeit oder Handlung vorhergehende
Zustand als Trieb oder auch als Begierde und Wille bezeich-
net wird, weil dem Geftlhl sofort eine Bewegung coordinirt ist,
die als Ziel oder Zweck aufgefasst und vorhergesehen und mehr
oder weniger bewusst wird. Mithin heisst dann die sich ent-
wickelnde Lust Begehren nach Lust. Dies angebliche Begehren
oder Wollen hat aber keinen eigenen Inhalt, sondern ist bloss
das Gefallen oder die Lust als Werdendes betrachtet. Wäre
uiyiiizeu uy V^jOOV IC
Die reli|2^iÖ8e Gesinnung. 457
nun der Schmerz und also auch das Hissfallen etwas Positives
und der Lust und dem Beifall Nebengeordnetes , so müsste es
auch ein zugehöriges Begehren oder Wollen geben. Nun wird
aber kein Mensch behaupten, dass er Schmerz oder Missfallen
begehrte. Also kann auch der Schmerz nichts der Lust Neben-
geordnetes sein, während vielmehr umgekehrt, weun die Lust
das Positive ist, der Schmerz das ist, was wir nicht wollen oder
nicht begehren. Also ist der Schmerz und das Missfallen bloss
der Henmiungszustand einer sich entwickelnden Lust, flir welche
die Goordinaten schon von Weitem gegeben sind, während sie
in der Ordnung des Weltlaufs durch andere Goordinationen ver-
hindert wird.
Dasselbe lässt sich bei den Handlungen bemerken. Der
Lust ist immer eine bestimmte Bewegung oder Handlung zu-
geordnet, die wir deshalb den Zweck nennen. Da die Organi- '
sation des Seelenlebens immer eine Vorbereitung, Verkettung
und ein Ineinandergreifen verschiedener Akte mit sich bringt, um
ein immer complicirtes Ziel der Handlung zu vermitteln, so wird
dieser ganze Verlauf auch bald zu mehr oder weniger deutlichem
Bewusstsein kommen, und wir nennen daher, wie wir schon oben
erinnert, das Bewusstsein von dieser Ordnung einen Trieb oder
Willen. Uebertragener Weise schreiben wir auch z. B. dem
Wasser einen Trieb zu, wenn wir eine Ordnung der Bewegung
erkennen, die zu einem gewissen Erfolge hinführt Wie aber bei
dem Wasser kein Wille und Begehren vorhanden ist, durch einen
Schlund herabzustürzen, so ist auch die blosse Bewegungsordnung
in der Seele kein bestimmtes Vermögen mit einem eigenen Inhalte,
sondern der Inhalt liegt bloss in der erkennenden, fühlenden und
handelnden Function, und die bewusst werdende Goordination
dieser Functionen, welche die blosse Form und Ordnung des
Geschehens ist, führt den Namen Wollen. Wenn nun der Schmerz
etwas Positives wäre, so mflsste das zugeordnete Misslingen der
Handlung auch ein positiver Zweck sein, und mithin müsste
dafür auch ein Trieb, ein Begehren oder Wollen vorausgehen.
Es wäre aber lächerlich, wenn man sagte. Jemand hätte den
Trieb, auf der Jagd vorbeizuschiessen, oder das Begehren, beim
Sprung ein Bein zu brechen u. s. w. Mithin kann der Schmerz
und das zugeordnete Misslingen oder die Hemmung der Fun-
ctionen nichts Positives sein.
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458 Pantheismus des Gefohls.
Ueber das Wesen des vernünftigen Willens und der Freiheit
habe ich schon oben S. 46 und 326 gehandelt
Nun ist leicht zu begreifen, dass der Mensch
^^^rerTkte**''' als einzelnes Glied in der grossen Oekonomie der
Welt bei seinen Akten vielerlei Hemmungen aus-
gesetzt sein muss-, denn wenn wir den Ansatzpunkt beliebig
wechseln und die gleichzeitigen Triebe und Begehrungen aller
Anderen in's Auge fassen, so müssen doch nothwendig immer
eine Menge Candidaten abgewiesen werden, wenn Einer an's
Ziel gelangen soll.. Mithin ist es in der Ordnung, dass alle
unsere physischen, persönlichen, künstlerischen und wissenschaft-
lichen Bestrebungen mit unzähligen Hemmungen zu kämpfen
haben, so dass inmier viele misslingen und die meisten wenigstens
stark eingeschränkt werden. Dadurch ist eine unerschöpfliche
Quelle von Aerger, Neid, Kummer, Sehnsucht, Zorn, Hass, kurz
von Leid und Schmerz eröffnet, weil nur der gelingende Akt zur
Freude flihrt.
Wer nun ein Uebergewicht des thätigen Ver-
qaietisUBche mögcus in sich verspürt, der kann sich, wenn er
^^9 nicht ein besonderer Günstling der Fortuna ist, auf
viel Lebensleid gefasst machen. Da der Mensch
aber die Vollendung alles Strebens in der Freude hat, so sucht
er auch den Weg, dahin zu gelangen. Dieser Weg ist flir den
praktischen Mann der Kampf, die List und die erworbene Ge-
schicklichkeit Wie aber schon Göthe sagt, dass der Handelnde
immer gewissenlos sei, so müssen wir einräumen, dass wirklich
theils die leise Sprache des Gewissens überhört werden muss,
wenn man das nach unserem perspectivischen Gesichtspunkte
formulirte Ziel im Leben erreichen will, theils auch ausser dieser
moralischen Unlust eine Menge anderer Missstimmungen und Leiden
unvermeidlich sind. So bliebe der Weg übrig, gar nicht zu handehi,
um gar nicht zu leiden. Allein dies ist erstens unmöglich, weil man
doch nicht vermeiden kann, zu frieren^wenn es kalt ist, und weil
einem, auch wenn man nicht selbst kocht, die Suppe versalzen
werden kann in jeder Bedeutung. Zweitens aber würde die
Sache auch nicht bei der Wurzel angegriffen sein; denn der
Ausgang der Begebenheiten kann uns ja bloss als Leid erschei-
nen, wenn wir vorher mit unserem Gefühle eine andere Stellung
zu den Dingen genommen hatten. Mithin müssen wir auf den
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Die religiöse Gesinnung. 459
sogenannten Willen zurückgehen, i h. auf die Vorstellungen der
Dinge in unserem Bewusstsein und die dabei ausgelosten Ge-
fUhle des Wohlgefallens und Missfallens. Nun giebt es dabei
nothwendiger Weise, wie oben S. 270 dargelegt, zwei Auf-
fassungsweisen, die perspectivische und die objeetive. Die per-
spectivische ist auf das Selbst, das Ich bezogen und darum die
Ursache alles selbstsüchtigen Missfallens und Leides. Sobald
wir daher das Ich in das Allgemeine verschwinden lassen, indem
wir uns nur nach dem Inhalt unserer Functionen erfassen und
uns daher ebenso wie die Andern als eine Erscheinung in dem
Ganzen betrachten, so verschwindet mit dem persp'ectivischen
Standpunkte auch die ganze Keihe der Affekte, die das Leben
mit Schmerz durchdringen. Dadurch wird nun freilich zugleich
der Nerv der Handlung durchschnitten; allein es war ja voraus-
gesetzt, dass nicht jeder Mensch zum Quietisten werden kann,
sondern dass ein Uebergewicht des Gefühlsvermögens und eine
entsprechende Verminderung der Energie der anderen Functionen
stattfinde. Sobald also der perspectivische Standpunkt auf-
gegeben ist, so heisst dies soviel, als sein Wollen aufheben in
das allgemeine Geschehen, welches mystisch als blosse Erscheinung
der Gottheit angesehen wird. „Wolle das Geschehende, wie es
geschieht, und Du wirst frei und glücklich sein^', sagt der
Stoiker Epiktet, der in dieser Beziehung Quietist ist Wenn
man die Dinge anders will, als sie geschehen, so hat man Leid
und steht auf perspectivischem Standpunkte, indem man sein
Privatinteresse oder die begränzten Interessen eines Standes,
Staates ödes Volkes geltend macht, d. h. man hebl; sein Ich
nicht in die Gottheit auf. Darum sagt AngelUs Silesius (I. 24):
„Mensch! wo Du noch was bist, was weisst, was liebst und hast,
so bist Du, glaube mir, nicht ledig Deiner Last." Der Weg zur
Seligkeit ist daher „der geheime Tod", wie es der cherubinische
Wandersmann spielend benennt, d. h. die pantheistische Auf-
fassung des Ichs, welches sich noch nicht als Wesen erkennt,
sondern sich nur als particuläre Function in der traurigen Wechsel-
wirkung aller endlichen Functionen bewusst war. Die Aufhebung
dieser beschränkten Einzelheit in das Allgemeine muss daher
als Befreiung aus einem Gefangniss und dieser geheime Tod
des Ichs als das wahre und selige Leben betrachtet werden.
Darum singt Angelus (L 26): „Tod ist ein selig Ding: Je kräftiger
460 Pantheismus des Gefühls.
er ist: je herrlicher daraus das Leben wird erkiest'^ Darum
spielt er auch mit den christlichen Symbolen des Dogma, um
seinen mystischen Sinn durch Paradoxie hindurch zu offenbaren.
;Jch sterb und leb auch nicht, Gott selber stirbt in mir: Und
was ich leben soll, lebt Er auch fUr und fbr.'^ Es ist eine Art
von geistigem Kitzel, die in dieser Ausdrucksweise liegt, indem
das Ich sich in Gott aufhebt und Gott doch auch wieder nur in
dem Ich lebt, sofern eben beide, Ich und Gk)tt, im Pantheismus
noch nicht als Wesen, sondern nur als geistige Functionen er-
kannt werden.
Der Weg zur Seligkeit ist daher der geheime Tod des Ichs,
aber ebenso der Tod oder das Verschwinden Gottes aus der
Welt; denn der Gott muss ja als unsre Function wiedererscheinen,
wenn er draussen verschwindet. So heisst es bei Angelus S.
(L 199): „Geh hin, wo Du nicht kannst: sieh, wo Du siebest
nicht, hör', wo nichts schallt und klingt, so bist Du, wo Gott
spricht." So ist Gott aus der Welt vertrieben, wie er in dem
folgenden Epigramm in unserem Geiste eingeheimst wird: „Gott
ist wahrhaftig nichts: und so er etwas ist, so ist es nur in mir,
wie er mich ihm erkiest."
Auf diesem Wege findet der Quietist natürlich
Die Seligkeit . ,„ -r^ , o. a » r^.i •
dea 6ine vollkommene Kühe. So sagt Angelus Silesius
QDieu.tenund H 49). Ruh ' ist das höchstc Gut: und wäre Gott
Mystiken. \ / 77 7
nicht Buh, ich schlösse vor ihm selbst mein' Augen
beide zu." Zugleich zeigt sich, dass dieser vollkommene Ein-
klang zwischen den beiden geistigen Functionen, zwischen Er-
kenntniss und Thun, die vollkommene Tugend selber ist Wer
deshalb noch handelt nach der Erkenntniss, der hat auch das
Ich noch nicht in die Gottheit verloren. Darum schliesst Angelus
ganz consequent, wenn er sagt (I. 53 und Ö4): „Mensch, wo Da
Tugend wirkst mit Arbeit und mit Müh, so hast Du sie noch
nicht. Du kriegest noch um sie." „Ich selbst muss Tugend sein
und keinen Zufall wissen, wo Tugenden aus mir in Wahrheit
sollen fliessen." Das Geftlhl, welches aus diesem unbedingten
Einklänge entsteht, ist nun allerdings die Seligkeit, aber es
ist zugleich nothwendig, dass in diesem GeftLhle alle Bestimmt-
heit der Erkenntniss verschwinden muss, weil alle Erscheinungen
in die unbestimmte und leere Einheit des Göttlichen auf-
gehoben werden. Darum sagt Angelus (L 45): „Ich lieb ein
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Die religiöse Gesinnung. 461
einzig Ding, nnd weiss nicht, was es ist, and weil ich es nicht
weiss, drum hab' ich es erkiest." Und: „Gott ist ein lauter
Nichts, ihn rührt kein Nun (Zeit) noch Hier (Banm); je mehr Du
nach ihm greifst, je mehr entwird er Dir." Das Ich ist deshalb
selbst zur Gottheit geworden. (L 23): „Ich muss Maria
sein nnd Gott aus mir gebähren, soll er mich ewiglich der Selig-
keit gewähren." Und (I. 14): „Ich bin so reich als Gott, es
kann kein Stäublein sein, das ich (Mensch, glanbe mir) mit ihm
nicht hab gemein." Oder (I. 10): „Ich bin so gross als Gott,
er ist als ich so klein: er kann nicht über mich, ich unter ihm
nicht sein." Oder, in andrer Fassung derselbe Gedanke (I. 17):
„Ich auch bin Gottes Sohn, ich sitz' an seiner Hand: sein Geist,
sein Fleisch nnd Blut, ist ihm an mir bekannt" Da durch diese
Anfifassung der Mensch mit seiner Ichheit ganz aus der Welt
verschwindet, so bleibt ihm nur die Seligkeit des Einklangs
seiner allgemeinen und unbestimmten Functionen übrig und folglich
wird er in jeder Lebenslage die gleiche Stimmung haben und
über jede Qual hinaus selbst im Ochsen des Phalaris glückselig
sein. Ich citire wieder Angelus, weil dieser mit seiner bezaubernden
Paradoxie den Standpunkt scharf und klar ausdrückt (1. 38) : „Wenn
Du die Dinge nimmst ohn' allen Unterscheid: so bleibst Du still und
gleich in Lieb und auch in Leid" und (I. 39): „Wer in der Hölle
nicht kann ohne Hölle leben, der hat sich noch nicht ganz dem
Höchsten übergeben." Das Ich ist so allerdings selig; aber es
ist auch nothwendig in Nichts aufgelöst, ebenso wie die
Gottheit, weil das Einzige, was übrig bleibt, nur das Gefühl ist
mit seiner Seligkeit Dies spricht der Cherubinische Wanders-
mann so aus (I. 46): „Ich bin ein seligs Ding, mag ich ein
Unding sein, das allem, was da ist, nicht kund wird, noch
gemein." Dass das Ich ganz in das selige Gefühl aufgeht und
darin alle Dinge und Gott hat, so dass Gott ebenso in das selige
Gefühl des Menschen verschwindet, diesen mystisch-quietistischen
Standpunkt spricht auch Göthe in den berühmten Worten aus:
„Erfüll davon (nämlich von Himmel, Erde, Sternen, uns selbst
und Allem) Dein Herz, so gross es ist, und wenn Du ganz in
dem Gefühle selig bist, nenn' es dann, wie Du willst, nenn's
Glückt Herz! Liebe! Gott! Ich habe keinen Namen dafür;
Gefühl ist Alles; Name ist Schall und Rauch, umnebelnd Himmels-
gluth." Aehnliches sagt auch der Mystiker Tauler, der es
uiyiiized by VjOOQIC
462 Pantbeisnins des GefCllils.
freilich grösstentheils ans Pseudo-DionysiiiB hat (Predigten I. 13
p. 117. ed. 1826): „Der Mensch, der sich also gegeben hat nnd
sich Gott gefangen allezeit wesentlich giebt, dem mnss anch
Gott sich selbst wesentlich gefangen wiedergeben, nnd da fbhrt
Gott den Menschen über alle Weise und über alle Geßlngniss
in die göttliche Freiheit, in sich selber, dass der Mensch mehr
ist ein göttlicher, denn ein natürlicher Mensch, nnd wenn man
den Menschen anrührte, rühret man Gott an. Hier sind alle
Wunden geheilt und alle Pfände quitt, hier ist die Ueberfahrt
geschehen aus den Greaturen in Gott, aus natürlichem Wesen in
ein göttliches Wesen. Dieses liebliche Spiel ist über Verstand-
niss, über empfindliche und fthlbare Weise und über natürliche
Weise. Die hier inne sind und die dies sind, die sind in dem
allernächsten und allerseligsten Weg, und in der Weise der
allerhöchsten Seligkeit, da man ewiglich Gottes soll gebrauchen
in der höchsten Weise. Davon ist viel besser schweigen, denn
sprechen, und besser empfinden oder flihlen, denn verstehen." —
An diesen Beispielen haben wir zur Confirmation genug, da der
Standpunkt ja sonst bekannt ist und unsere Aufgabe nur darin
bestand, die speculative Ortsbestimmung und Deduction desselben
in dem System der Religionsphilosophie zu liefern.
§ 4. Die zugehörige Religionsphilosophie.
Der grösste Theologe unseres Jahrhunderts ist
unter zwei Einflüssen ebenfalls dahin gelangt, die
Beligion als Gefühl zu bestimmen und deshalb eine principiell
quietistische und mystische Beligionsphilosophie zu begründen.
Einerseits war es Spinoza, andererseits die Hermhuter-Erziehung,
die ihn zu diesem Schlüsse führten. Spinoza löschte alle Dinge
als blosse Erscheinungen (modi) in Gott auf und hielt es fflr
nothwendig, dass wir, während wir durch's Handeln in Affekte
und Leid gerathen, umgekehrt, wenn wir uns quietistisch ver-
halten, durch blosse Erkenntniss der Dinge nothwendig lauter
Freude gewinnen müssen. Die Erkenntniss durch die end-
lichen Ursachen sei aber ungenügend, und wir müssten vielmehr
alle Dinge unter die letzte Alles bedingende und erklärende Ur-
sache bringen, d. h. in die Gottesanschauung auflösen. Darin
läge die Erkenntniss und die Liebe Gottes, mit welcher er sich,
uiumzeu uy x^jvy\J>t Iv^
Beligionsphilosophie. 463
indem wir ihn lieben, durch uns und in uns selber erkennt und
liebt, und dies sei das höchste Gut und die Seligkeit.
Während nun bei Spinoza der Gedankenprocess dem spe-
culativen Idealismus angehört, so ergriffen die Hermhuter, in
deren Schoosse Schleiermacher aufwuchs, unmittelbar das Ende
desselben Gedankenweges und genossen in ihrem innigen Ge-
fühl ohne Weiteres die Gegenwart Gottes, indem sie sich ihres
Willens und der Beachtung aller irdischen Dinge nach Möglich-
keit entschlugen.
So ist es ganz erklärlich, dass Schleiermacher die Beligion
als Geftlhl definirte und in dem Gefühl die Einheit aller Dinge
verborgen glaubte, aus welchem dann erst in zwei Richtungen
einerseits in der praktischen, andererseits in der theoretischen
Sphäre die Entbindung des Endlichen erfolgte. AUein so er-
klärlich nach psychologischer Beti*achtung die Schleiermacher'sche
Beligionslehre ist, so falsch ist der ganze Gedankengang nach
wissenschaftlicher Betrachtung; denn erstens ist es ja nur ein
Schein (wie ich oben S. 31 schon nachwies), dass die Hand-
lungen und Vorstellungen sich aus dem Gefllhle entwickelten,
da sie vielmehr eine specifisch verschiedene Natur haben und
dem Geftahle bloss zugeordnet sind, und zweitens sind auch die
beiden Ansatzpunkte, d. h. sowohl der Spinozismus, als der
Hermhutismus, der Eine eine ganz verfehlte Speculation und der
andere eine extreme Einseitigkeit, so dass aus so viel Falschem
auch nichts Richtiges hervorgehen kann. Die formale Logik
lehrt zwar, dass man auch aus falschen Prämissen Richtiges er-
schliessen könne; allein dies ist selbst ein falscher Lehrsatz,
weil die richtige Conclusion in diesem Falle nur per accidens
folgt, indem in dem falschen Allgemeinen ein particulär Richtiges
eingeschoben war, so dass das Richtige immer nur aus dem
Richtigen folgt, durch welches es auch allein als richtig erkannt
werden kann. Darum darf aus diesem logischen Satze flir
Schleiermacher kein mildernder Umstand abgeleitet werden, son-
dern wir werden die ganze Begründung seiner Religionslehre
verwerfen müssen, üebrigens gehört Schleiermacher's Lehre
unter den speculativen Ort der „Religion des Gefllhls" nur nach
der Seite des Princips; im Uebrigen hat er mit Hülfe Spinoza's
und namentlich Platon's noch andere Ausgangspunkte für die
Ausführung und Durchführung seines Systems gewonnen, und
uiumzeu uy V^J W\J>t l^
464 Pantheismus des Gefühls.
dies ist die dritte kritische Bemerkang, die hier zu machen ist;
denn da der * ganze systematische Aufbau der Schleiermacher-
schen Dialektik, Ethik und Keligionsphilosophie auf die Ideen
Platon's, Spinoza's und auf die modernen idealistischen Gedan-
ken gestützt ist, so bleibt als einzig geschichtlich Neues bei
Schleiermacher nur die speculative Deutung der Herrnhutischen
Apotheose des Geftihls, die aber weder haltbar ist, noch mit dem
übrigen Bau logisch vermittelt werden kann. Dieser übrig blei-
bende Bau muss in der nun folgenden Keligionsform beurtheilt
werden und gehört nicht hierher.
§ 5. Zur Kritik der Religion des Gefühls.
Zunächst scheint nun die Beligion des Gefbhls gar nicht
widerlegt werden zu können; denn wo Friede und Buhe herrscht,
wo jede Angst und Noth verschwunden ist, wo man nichts End-
liches denkt und von sich selbst nichts mehr weiss, da ist mit
der grossen Seligkeit auch zugleich die Fülle alles Werthes und
aller Güter gegeben, und wo Gott und das Gute ist, da hört
die Kritik auf. Allein wenn wir uns auf den Ausgangspunkt
alles Pantheismus besinnen, so erinnern wir uns, dass der Pan-
theist das Sein nur in den geistigen Functionen erkannte, ent-
weder im Handeln, oder im Gefühl, oder im Wissen. Nun ist
dabei gerade dasjenige Sein, welches als substanziales die Fun-
ctionen ausübt und dem sie zugehören, vergessen, nämlich das
Ich. Folglich muss sich ein so grosser Mangel auch empfindlich
machen und an diesem Punkte wird die Kritik anheben.
Das Ich kann nämlich nie in seine Functionen verschwin-
den, es kann sich nur selbst vergessen und, wie man sagt ausser
sich gerathen; dieser ekstatische Zustand ist aber immer ein
Mangel des Bewusstseins und wird nur dann gelobt, wenn, wie
gewöhnlich, das Bewusstsein des Ichs von sich selbst] verwech-
selt wird mit der Erinnerung an alle die beschränkten und viel-
fach elenden und sündlichen Verhältnisse des Ichs in der Sinnen-
welt. Aber selbst diese Verhältnisse dürfen in einem vollkom-
menen Bewusstsein nicht fehlen, und wir werden später sehen,
wie das Christenthum und die wahre Philosophie zur Versöh-
nung solcher Dissonanzen den religiösen Humor zur Geltung
bringt. Wer aber, wie der Mystiker, sich selbst über seinen Ge-
Kritik. 465
fühlen vergisst, der ist wie berauscht und wird Anderen lächer-
lich, während er sich durch den Humor über sich erheben sollte,
um dadurch den sonst gerechten Spott der Andern zu entwaffnen.
Denn es mag einer ein elender Sclave, ein Schuster, ein häss-
lieber und in der bürgerlichen Gesellschaft zu unterst stehender
Mensch sein, so fühlt er sich im Rausch des Gefühls gottgleich
und schwelgt in dem seligen Gefühl, dass Gott in ihn verliebt
sei, dass er als Maria die Liebeswonne der Vereinigung mit dem
Allerhöchsten geniesse, dass er der reichste und mächtigste und
glückseligste Mensch, oder im Geheimen Gott selbst sei. Das
Ghristenthum bietet scheinbar etwas Aehnliches, indem es alle
Standesunterschiede und Besitzverhältnisse und dergleichen als
etwas Tiefuntergeordnetes betrachtet und den Menschen in un-
mittelbare Gemeinschaft mit Gott versetzt; aber es bleibt immer
das Bewusstsein von der Wirklichkeit, in welche sich der Mensch
deshalb mit christlicher Besonnenheit finden soll und die er mit
christlichem Muth und Vertrauen umzugestalten hoffen darf;
während der Mystiker in seiner Geftihlsseligkeit nur trunken ist
und keine Vermittelung seines seligen Gefühls mit der Wirk-
lichkeit finden kann, weil die erkennende und die handelnde
Function im Gefühl erloschen sind.
Damit ist denn auch zugleich ein zweites kritisches Bedenken
eingeleitet. Alle Gefühle sind nämlich nothwendig flüchtiger
Art und besonders die höchsten Gefühle sind kurzlebig, wenn
sie auch nicht so lächerlich kurz und vorübereilend sind, wie
Schleiermacher annimmt (Reden 4. Aufl. 1831 S. 50), der sie
für „kaum in der Zeit^^ hält. Aber mit Recht sagt doch Göthe:
„Die uns das Leben gaben, herrliche Gefühle, erstarren in dem irdi-
schen Gewühle." So viel vis inertiae also dem Seligkeitsgefühl
auch zukommen möge, die Reibung der Wirklichkeit ist doch
stark genug, um das Bewusstsein bald wieder mit den Aufgaben
des Lebens zu erfüllen. Wenn wir nun auch einräumten, dass
der Mystiker noch im Stillen den Nachklang seiner Seligkeit
durch die kleine, gleichgültige oder mühselige Tagesarbeit hin-
durch empfände, so muss doch sein Leben in einem Rausch,
mit einem Vor- und Nachrausch verfliessen, indem ihm das, was
der Mensch in Wirklichkeit seiner Bildung und Stellung nach
ist, nur als Traum und gleichgültiges Intermezzo erscheint, wie
bei einem Becherfreunde, der sich an der Drehbank oder auf
Teichmüller, Religlon.philo.ophle. ^.^.^.^^^ b^CoOQlC
466 Pantheismus des Gefühls.
dem Contorstuhl im Geheimen auf den Abend freut und aü die
letzte Nacht erinnert, und dabei sein Werk gleichgültig verrichtet
Der zweite Vorwurf gegen den Mystiker ist daher, dass er die
historische Wirklichkeit zum Traum macht und in seiner Ge-
fühlsseligkeit nichts bietet, was auch einen Werth Air Andere
hätte, da seine Gefühle nur die Hochzeitslust seiner eigenen Ver-
mählung mit Gott enthalten, ohne dass er irgend einen Antrieb
daher bekäme, für die gänzlich unnütze Welt etwas zu thun.
Das ganze Dasein der wirklichen Welt und alle sittlichen, poli-
tischen, kirchlichen und wissenschaftlichen Aufgaben sind daher
dem Mystiker unbegreiflich oder gleichgültig, weshalb die Welt
nicht unrecht denkt, wenn sie umgekehrt die Geftihle dieser
Quietisten für werthlos und gleichgültig und für einen gewissen
Grad von Verrücktheit hält.
Drittens sind diese Gefühle auch vollständig unbestimmt,
weil keine bestimmte Erkenntniss als Correlat erfordert wird,
und mithin müssen alle angenehmen Geftlhle gleichwerthig sein,
wie denn z. B. Schleiermacher sich nicht wehren kann auszu-
sprechen: „es giebt keine Empfindung, die nicht fromm wäre^^,
wobei er freilich die von seinem Standpunkt aus unbeweisbare
und darum nichtssagende Einschränkung macht: „ausser sie
deute auf einen krankhaften verderbten Zustand des Lebens,
der sich dann auch den andern Gebieten mittheilen muss/' Wenn
sich aber ein Tribunal erhöbe, um über den Werth der Gefühle ab-
zuurtheilen und einige für gesund, andere fllr krankhaft zu er-
klären, so stände dies Tribunal ja über der Keligion, und die
Frömmigkeit wäre nicht mehr die Krone des Lebens. In der
That kann kein Mystiker solche Einschränkung zugestehen und
Schleiermacher's Princip selbst verbietet sie. Gäbe man sie
aber zu, so würde man gleich weiter fragen, ob denn nicht alles
Leben in einem verderbten Zustande ist? Wozu Erlösung und
und Frömmigkeit, wenn bloss hier und da einmal eine krank-
hafte und verderbte Empfindung vorkommt! Kurz, lassen wir
lieber die unlogische und ganz nichtige Einschränkung bei Seite!
So folgt nun, was auch die Geschichte und Schleiermacher's
eigenes Beispiel in der Vertheidigung der Lucinde zeigt, dass
der Mystiker keine Mass Stäbe des Werthes für seine Ge-
fühle besitzt und dass er deshalb so leicht die Wollust mit seiner
Keligion vereinigen kann.
Digitized by VjOOQIC
Kritik. 46?
Da nun der Mystiker die wissenschaftliche Erkenntnissthätig-
keit ebenfalls bei Seite setzt, so gesteht er auch offen, dass er
von Gott nichts wisse und erkenne, ebensowenig wie von sich
selbst. Er ist eben bloss in Geflihl aufgegangen. Darum unter-
scheidet sich dieser mystische Pantheismus nur dadurch vom
Atheismus, dass, wenn auch beide von Gott nichts wissen, der
Atheist ohne annehmbare Gründe Gott läugnet und der Mystiker
ohne annehmbare Gründe Gott zu haben und Gott zu sein be-
hauptet.
Diese ganze Keligion des Gefühls kann deshalb wissen-
schaftlich gar nicht vertheidigt werden, weil sie principiell die
wissenschaftliche Function ausschliesst. Sie kann nur sagen:
probirt's, so werdet ihr erfahren, wie schön der Bausch ist; aber
sie kann nicht einmal lehren, wie man es machen muss, um in
diesen Rausch zu gerathen. So ist es also Glückssache, hinein-
zukommen, und erst die Männer der Wissenschaft müssen er-
klären, was der Mysticismus ist, worauf er beruht, wie er ent-
steht und was er etwa werth ist Selbst weiss er nichts von
sich. Einen gewissen Werth können wir ihm deshalb nur zuge-
stehen, wenn wir ihn einschränken und auch die handelnde und
erkennende Function als ebenbürtig neben das Geftihl stellen
und zugleich das Ich als Inhaber aller dieser Functionen in
seinem Verhältniss zu Gott erhalten und es niemals pantheistisch
verschwinden lassen.
DigitizedfPGoOgle
Drittes Capitel.
Unreine Formen des Gefiihlspantheismns.
Unsere Aufgabe war hier nur, die reinen Formen der Reli-
gion naeh ihren specifischen und charakteristischen Elementen
zu definiren, indem wir die jedesmal zugehörigen Coordinaten
in den drei geistigen Vermögen aufsuchten und demgemäss die
Folgen zogen. Nun ist aber schon oft hervorgehoben, dass in
den wirklichen Menschen immer verschiedene Elemente des geisti-
gen Lebens verwachsen, die sich bloss auf natürliche Weise zu-
sammenfinden, ohne durch einen legitimen Ursprung zu ihrer
Vereinigung berechtigt zu sein. Das Bewusstsein und der Cha-
rakter der meisten Menschen ist in der That mit der Krambude
eines Antiquars zu vergleichen, so sehr fliessen in ihnen von
allem, was sie gehört, gesehen, gelesen und erlebt haben, die
Eindrücke kunterbunt zusammen, ohne durch einen logischen,
ethischen und ästhetischen Geschmack geordnet und entweder
eingegliedert oder hinausgeworfen zu werden. Darum ist es
nicht zu verwundem, wenn mancher Leser z. B. Mystiker zu
kennen meint entweder aus persönlicher Bekanntschaft oder
durch Studium ihrer Werke, welche noch ganz andere Züge ihrer
Denkweise und ihres Charakters aufweisen, als hier festgestellt
wurden. Daran ist gar nicht zu zweifeln; wohl aber müsste erst
gezeigt werden, dass diese zum Theil ganz widersprechenden
und jedenfalls andersartigen Charakterzüge nicht bloss zufällig
erworben, sondern aus dem religiösen Princip abzuleiten wären,
was aber unmöglich ist.
So z. B. steht nichts im Wege, dass sich diese
Bchwi^i^crei. Gefühlsreligion in einer Schwärmerei für die Natur
zeige. Solche Leute gehen in den Wald oder auf die
Felder oder besteigen die Berge und glauben dann Gott näher
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Unreine Formen. 469
ZU sein, als in der Stadt und Stube, und werden yon einem
träumerischen Gefühl beseligt, worin sie jenachdem die schaffende
Natur oder auch die Gottheit gleichsam mit der reinen Luft, die
sie athmen, eingezogen oder anbetend, oder in stillem Sinnen und
Nichtsthun genossen zu haben glauben. Dabei ist doch nun
scheinbar ein äusserer Gott oder die äussere Natur, welche be-
trachtet und verehrt wird, vorhanden, und es wäre also unsere
Definition der pantheistischen GefUhlsreligion falsch. Allein man
muss sich etwas besinnen, ehe man urtheilt; denn erstens hin-
dert nichts, dass diese Naturschwärmer gewisse Vorstellungen
und Erkenntnisse von der Natur haben und die Natur auch als
göttlich und ausser ihnen vorhanden ansehen, wie in der pro-
jectivischen Theologie; aber es ist doch klar, dass sie, sobald
sie die Regenbogenfarben, die Stimmen der Vögel und die merk-
würdigen Lebensvorgänge der Natur bewundern, darum noch
ebensowenig religiös sind, wie der Rosskamm, der ein Pferd be-
wundert. Das religiöse Gefühl entsteht erst, wenn alle einzelne
und bestimmte Anschauung verschwindet und ebenso alles ein-
zelne Thun der Hände und Füsse, dagegen in süssem seligem
Traum des nichts Bestimmtes mehr denkenden und nichts Ein-
zelnes mehr ins Werk setzenden Geistes der Einklang dieser
geistigen Vermögen, der durch jene Anregung von Seiten der
Natur zum Bewusstsein gekommen, gefehlt und genossen wird.
Dabei verschwindet also pantheistisch der Gegenstand wieder in
die geistige Function, und es ist ganz einerlei, was solche Leute,
wenn sie wieder auf weltliche Gedanken kommen, sonst von der
Natur halten, und ob sie Spiritualisten oder Materialisten oder
sonstwas sind; denn nicht ihre übrige Bildungsstufe soll hier
untersucht werden, sondern der specifische Charakter ihrer reli-
giösen Stimmung. Deshalb muss man z. B., was vielleicht son-
derbar klingen mag, solche Naturschwärmer, wie Rossmässler,
zu den Mystikern rechnen, weil ihr religiöses Bewusstsein keinen
andern Inhalt als das unbestimmte Gefühl hat, welches bei Men-
schen von solcher Geistes- und Gemüthsrichtung besonders durch
die freie Natur angeregt wird, indem dabei die Erinnerung an die
persönlichen und bürgerlichen Beziehungen wegfällt, und sie so
leichter von dem beschränkten Dasein, in welches der Mensch
eingesponnen ist, zu dem unbeschränkten und unendlichen Dasein
in ihrem Gefühl übergehen können.
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470 Pantheismus des Gefühls.
MuBikausche ^^^^ andere Mischung der geistigen Thätigkeiten
phautMie- findet sich auch häufig; denn die Natur muss zunächst
Schwärmerei, ^^^.^j^ ^j^ ^^^^^ ^^^ ^^^^^f ^^^^^ ^j^ Einbildungs-
kraft aufgefasst werden. Wenn nun diese letztere Thätigkeit
kräftiger ist und sich mit einer reicheren Sprachbegabung zu-
sammenfindet, so entsteht eine Art der Poesie und also möglicher
Weise eine Art des Eunstenthusiasmus. Wenn aber keine be-
sondere Anlage zum Ausdruck der Gedanken und Einbildungen
in Worte vorhanden ist, so bleibt die Einbildungskraft gewisser-
massen jungfräulich und darum träumerischer und unbewusster,
und ihre wortlosen Dichtungen haben daher nicht eine solche
Richtung, dass sie aus der unbestimmten Auffassung der Natur
zu einer besonderen einzelnen Form herausfielen. Darum ist
auch diese halb und halb passive poetische Phantasieschwärmerei,
die recht verbreitet ist, zu der unreinen Religion des Geftlhls zu
rechneu, weil dabei wesentlich auch nur der Einklang unserer
geistigen Functionen in träumerischer Seligkeit empftmden wird,
indem die Vorstellungen zwar nicht unmittelbar das Göttliche,
aber doch auch nichts bestimmtes Endliches enthalten, und an-
dererseits die Thätigkeit zwar in leichter Verknüpftmg von Bil-
dern und Tönen beschäftigt ist, aber doch ohne zum Uebergewicht
und zu bestimmt geordneten Bewegungen und Formen zu gelangen.
Der Beweis ftir die Richtigkeit dieser Charakteristik ist indirect
zu ftihren-, denn sobald man den beiden anderen geistigen Thätig-
keiten eine ebenbürtige oder tiberwiegende Energie verleiht, so
würde das der Welt hingegebene Vorstellungsvermögen zur
beobachtenden Naturwissenschaft und die in Phantasien spielende
Thätigkeit zur bildenden, tönenden oder redenden Kunst über-
gehen.
Wer in der speculativen philosophischen Auffassung nicht
geübt genug ist, wird diese Analysen nicht ganz zutreffend finden,
weil er immer von unseren geistigen Functionen sprechen hört,
während er doch vielmehr die Natur selbst, ihre Unendlichkeit
und Herrlichkeit, ihre unbeschreibliche und entzückende Macht
und Harmonie in seinem Gefühl zu geniessen und dadurch zur
Erhebung, Stärkung und Erweiterung seines Selbst zu gelangen
glaubt. Der Philosoph wird solche Einwürfe billigen und doch
bei seiner Analyse stehen bleiben; denn es dreht sich nur um
eine andere Ausdrucksweise. Der Gefühls - Religiöse bewegt
uiyiüzeu uy x^jv^' v^'pc iv^
Unreine Formen. 471
sich bei dem mangelnden philosophischen Bewusstsein in dem
projectivischen Ausdracke und merkt nicht, dass durch die
Auffassung der Natur nur sein Vorsteliungsvermögen, d. h.
die geistige Function, erweitert und scheinbar in's Unendliche
ausgedehnt und erhoben wird, wie ebenso in den neuen und
freien Verknüpfungen, durch das Spiel der Wolken, durch die
mannigfaltigen Wirkungen des Lichtes, durch die unzähligen und
verschiedenartigen Geräusche und durch den unermesslichen Beich-
thum der Naturformen, nur die spielende Phantasiethätigkeit
ausgelöst wird, wodurch sich die Freiheit seines thätigen Ver-
mögens im Einklapg mit jener intellectuellen Function fühlbar
macht.
Andere aber nehmen den Ausgangspunkt gerade Ketistuche
mitten in der bürgerlich beschränkten Sphäre, indem b*cJ»*«°«-
sie etwa zu einer niedrigeren Beschäftigung durch die Lebens-
noth gezwungen sind und sich nun durch einige Betrachtungen
dazu aufschwingen, zu ahnen und zu glauben, dass nicht dieser
oder jener Mensch, oder diese zeitlichen oder örtlichen Ver-
hältnisse sie nöthigen, sondern dass diese Umstände, wie Alles
schliesslich, von einem allmächtigen und unendlichen Princip
abhängen, dessen Willen sie nun zu ihrem Willen machen, und
indem sie sich so gänzlich ihres Ichs entäussem, in friedlichem
Gehorsam die Wonne, mit Gott vereint und vertraut und zu ihm
verklärt zu sein, gemessen. Das Wesentliche auch dieser Form
besteht in der Vorherrschaft des Gefühls; es können aber dabei
alle möglichen Bildungsgrade der Menschen und verschiedene
Ansichten und sonstige zufällige historisch-traditionelle Ausdrucks-
weisen vorkonmien. So z. B. wird man die Pietisten, die Quäcker
und andere christliche Parteien dieser Art sehr nahe an die
pantheistische Geftihlsreligion heranrücken sehen, jemehr sie theils
in vorübergehenden Augenblicken der Verzückung, theils über-
haupt in der blossen Innigkeit des Gefühls ihre specifische Fröm-
migkeit ausdrücken.
Es ist aber meine Aufgabe nicht, die verschiedenen histori-
schen Nuancen und Mischformen hier einzutheilen und zu defi-
niren; deshalb möge es genügen, diejenigen beruhigt zu haben,
welche dem Mysticismus zugeneigt sind und dennoch an einer
anderen Religionsform, wie besonders am Christenthum, zugleich
festhalten wollen. Nur erinnere ich, dass die Mystiker mit den
uiumzeu uy x^jOvJV^
Te
472 Fantheismus des Gefühls.
Ausdrücken der christlicheii Dogmatik ebenso spielen, wie die
Eunstentbusiasten mit den Fonnen der griecbiscben Religion,
worin inuner ein Beweis liegt, dass die positive Religionsform
nur als Symbol flir einen böheren und andersartigen Sinn und
Werth gelten soll.
So z. B. reebnet man aucb den Methodismus zum
" Cbristentbum, und er braucht ja auch alle die christ-
lichen Ausdrücke und pflegt die Lektüre der Bibel; nichtsdesto-
weniger gehört er im Wesentlichen zu der Geftihlsreligion. Er
stellt nämlich Gott vor im Sinne der projecti vischen Religion
als Furcht- und Rechtsgott, erfüllt deshalb die Seele vor allem
mit dem tiefsten Gefühle der Sünde, womit' zugleich die Angst
vor den flirchterlichen Strafen des Furchtgottes verknüpft wird.
Die auf diese Weise in eine Art von Krampf versetzte Seele
wird nun zu einem sogenannten Willensakte getrieben, um die
rettende Hand des Erlösers zu ergreifen und um die Gnade zu
ringen. Alle diese Vorstellungen gehören den beiden untergeord-
neten projectivischen Religionsstufen an; da aber diese Vorstel-
lungen zu keiner grösseren Erkenntnissarbeit führen und also
ohne Dogmatik bleiben, aus dem Busskrampf sich auch keine
das ganze Leben des Einzelnen und der Gesellschaft ruhig und
vernünftig organisirende sittliche Thätigkeit entwickelt, so bilden
die erweckten Gefühle den Mittelpunkt und das Wesentliche
dieser Religionsform. Das Motiv ist die Angst vor der ewigen
Verdammniss, und die Beseligung liegt in einer Art von Ver-
zückung über die Gnadenerwählung. Diese Gefühle werden nun
immer von Neuem angefacht, weil der Mensch ja unter solchen
Bedingungen natürlich keine ruhige Sicherheit seines Heils ge-
winnen kann, weshalb die Geflihle immer zwischen der Todes-
angst und der Verzückung wechseln, wobei in der Mitte die
Aufgebung des Selbst durch den Bussakt liegt
Dass hier trotzdem keine reine Religion des Gefühls gegeben
ist, sieht man aus der Rolle, welche das Gebet in dieser häre-
tischen Richtung spielt. Da ihre Gottesvorstellung sich nämlich
nicht über die projectivische Stufe erhebt, so kann das Gebet
als eine theurgische Waflfe, als ein Mittel, ihren Furchtgott zu
belästigen, umzustimmen, ja geradezu zu zwingen gebraucht
werden, und so kommen sie zu allen den strategischen Gebets-
manoeuvres, wodurch sie ihren Gott, wie eine Festung, kunstgemäss
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Unreine Formen. 473
belagern und endlich zur Capitulation nöthigen. All dergleichen
ist nicht geradezu lächerlich, sondern entspricht den Hekatomben,
die im Alterthum bei wichtigen Wünschen dem Gotte geschlachtet
wurden, und hat, wenn man dem Mangel an wissenschaftlicher
und philosophischer Bildung dieser Gläubigen Rechnung trägt,
eine gewisse Consequenz; doch sieht man hieraus wieder, wie
die lebendigen Religionsformen alle nur als unreine Formen
gelten dürfen und welchen Fehler jede Religionsphilosophie be-
geht, wenn sie nicht bis auf die einfachen Elemente in der Ana-
lyse durchdringt, sondern bloss die wirklichen Religionen und
Sekten irgendwie anordnet 5 denn solche Arbeit ist ebenso unge-
nügend, wie wenn die Mineralogen ihre Steine und Erdarten
bloss nach Farbe, Gewicht und Gestalt äusserlich beschreiben
wollten und die chemische Analyse vernachlässigten.
Anmerkung. Während man früher mit dem. Namen „Pantheismus"
eine WeltaufFassung oder Religionsform genügend zu charakterisiren glaubte,
Bo ist jetzt immer zu fragen, ob man mit der bestimmten Species des prakti-
schen, ethischen, politischen, kirchlichen, künstlerischen, sentimentalen oder
speculativen Pantheismus zu thun habe. So möchte ich im Hinblick auf die
sehr interessante und auch für die Geschichte der Philosophie sehr beachtens-
werthe Arbeit von Franz Kern („Johann Scheifler's cherubinischer Wanders-
mann" 18G6) SchefFler nicht mit Fichte zusammenordnen, sondern ihn als
sentimentalen Pantheisten, d. h. als Quietisten und Mystiker, auffassen. Da
Scheffler nämlich (vergL Kern S. 49, 53, 55, 58, 60) die intuitive Erkenntniss
in die Liebe setzt und durch ^nzliche Abtödtung des eigenen Willens
zum Frieden zu gelangen und durch Einssein mit Gott selig zu werden
sucht, so kann seine methodelose und nicht einmal originelle Intuition (ebenso
wie seine Askese) auch nur als Mittel gelten, um das Gefühl sich in
seinem Frieden und in seiner Seligkeit sättigen zu lassen.
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3. Die pantheistische Religion
des Gedankens.
Von den drei Functionen des Geistes, die von einander un-
abtrennbar sind und doch eine jede den andern gegenüber im
Uebergewichte vorkommen können, bleibt uns nun bloss noch
die theoretische zu betrachten übrig. Diese Erkenntnissfunction
ist durch ihr specifisches Werk, nämlich die Wissenschaft, sofort
ftir Jedermann verständlich und man wird sie leicht von den
Geftihlen und auch von den Handlungen unterscheiden, obwohl
Wille und Gefühl auch bei den theoretischen Anschauungen aus-
gelöst werden und obwohl das Denken als Arbeit auch eine
Handlung implicirt. Bei der theoretischen Function soll aber der
ideelle Inhalt des Wissens allein in Frage kommen und dadurch
ein ganz specifisches Gebiet abgesondert werden. Nun giebt es
eben manche Naturen contemplativer Art, bei denen alle Energie
des Geftlhls und der Handlung sich überwiegend dem Gedanken
und dem Denken zuwendet, und bei diesen Naturen allein wird
sich die einseitige Religionsform entwickeln können, die wir
jetzt in's Auge fassen.
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Erstes Capitel.
Die zugehörige Ethik.
Mützliche und
Schöne.
§ 1. Das ethische Motiv.
Das Motiv dieser Religion liegt darin, dass
dem philosophisch angelegten Menschen das ganze de^wa^hrte^
Treiben der auf Wohlsein und Fortschritt in über das Gute,
materiellem Behagen arbeitenden Naturen als unter-
geordnet erscheint, da es einerseits nur unserem
körperlichen Dasein, das wir mit den Thieren theilen, zu Gute
kommt, andrerseits als höchstes Ziel nur das Nützliche hat.
Der Nutzen flihrt auf einen Zweck, um dessentwillen wir die
Arbeit verlangen. Aber auch diese Zwecke, die in den morali-
schen und politischen Tugenden bestehen, befriedigen das
Geftlhl des denkenden Menschen nicht; denn das Leben des
Einzelnen und selbst das des Staates ist doch zu beschränkt, zu
klein und vorübergehend, um im Vergleich mit dem Gedanken
an die Menschheit im Ganzen oder die Welt noch Werth zu be-
halten, so dass es sich nicht zu lohnen scheint, sein Herz an
die Ziele der Gesellschaft oder gar des privaten achtungswerthen
und nützlichen Lebens hinzugeben. Ebenso ist die Kunst unver-
mögend, den Philosophen zu befriedigen, da ihr Inhalt im Ganzen
doch nur die sinnenfilllige Welt und das persönliche und ge-
schichtliche Leben des Menschen abspiegelt, und die Wahrheit,
die sie in blossen Symbolen, nämlich in Tönen und Bildern und
poetischen Charakteren darstellt, nicht zur vollen Klarheit kommen
kann, sondern in höherem Grade dem anzugehören scheint, welcher
die Kunstwerke erklärt und beurtheilt und also über der Kunst steht.
In dem ethisch -politischen Gebiete herrscht die Idee des
Guten, im künstlerischen die des Schönen. Es konunt also
darauf an, zu sehen, wie für den einseitig theoretisch angelegten
476 Pantheismus des Gedankens.
Menschen diese beiden Ideen der Idee der Wahrheit unter-
geordnet werden können; denn nur unter dieser Bedingung ver-
stehen wir die Ethik oder das Motiv der idealistischen Religion.
Nun ist es in gewisser Weise richtig, dass der Gute sich
nach dem Wesen des Menschen richtet und seine Handlungs-
weise aus dem wahren Zweck oder der Idee des Menschen
ableitet. Liesse sich dieser in der Natur angelegte Zweck also
nicht erkennen, so wäre auch sittliches Leben unmöglich.
Folglich scheint das Gute dem Wahren untergeordnet zu sein
und zwar in doppelter Weise, erstens sofern die Klugheit oder
Weisheit und Besonnenheit, oder wie man diese erkennende
Tugend nennen will, im ganzen Gebiete des Sittlichen als be-
fehlend oder leitend obenan steht und die Herrentugend bildet,
während die andern Tugenden in Glauben und Gehorsam dienen,
und zweitens sofern bei Betrachtung der menschlichen Natur
sich eine Stufenfolge der Functionen zeigt, deren oberste die theo-
retische Vernunft ist. Denn das vegetative Leben theileu wir
mit den Pflanzen, Sinnlichkeit und Begierden und auch praktisch
ftirsorgende Vernunft mit den Thieren, die theoretische Kraft
scheint aber, seit Piaton und Aristoteles dies erwiesen haben,
die höchste und dem Menschen specifische zu sein. Also erweist
sich nach zwei Gedankengängen die Idee der Wahrheit, welche
der theoretischen Function zugehört, als übergeordnet über das
Gute und noch mehr über das Nützliche.
In derselben Weise wird auch das Schöne untergeordnet;
denn der Künstler muss Bichtigkeit und Uebereinstimmung mit
den Gesetzen, Ordnungen und Formen der Natur suchen, d. h.
sich nach der Wahrheit richten. Ehe Du dichtest, sagt Boileau,
lerne zu denken. Was die Kunst ausdrücken will, scheint das
Wesen und die Wahrheit zu sein; sie drückt die Wahrheit aber
nur stammelnd au|, und es ist ja unfraglich, dass das Bedürfniss
nach Wahrheit erst im Denken befriedigt wird, weshalb sich die
unreife Intelligenz mit Dichterworten nährt und diese als Beweise
citirt, während die reifer gewordene Kraft den reinen Begriff
sucht und vorzieht
Wir können durch diese Ueberlegungen wohl hinreichend
erkennen, dass mit stärkerer Vernunft begabte Naturen durch
den ganzen übrigen Inhalt des Bewusstseins nicht befriedigt
Etbik. 477
werden, sondern nach dem Stein der Weisen, nach der Wahrheit
allein verlangen und nur durch Einsicht in das Wesen der Welt
satt und glücklich werden können, weil diese Erkenntniss eben
der Inhalt ihrer überwiegend vorhandenen intellectuellen Function
und das Ziel ihrer Begabung ist.
Daraus folgt, dass für sie der höchste menschliche Stand
der gelehrte ist, dass sie daher auch die Weisen an der Spitze
des Staates sehen wollen, dass sie ihr ganzes Leben in den
Dienst der Wahrheitserkenntniss stellen und alles nur thun, um
Müsse zur Forschung und Betrachtung zu gewinnen, dass sie
ihre Begierden unterdrücken oder befriedigen, um diese Ruhe-
störer los zu werden, dass sie die Interessen des Hauses und
der Stadt und des Staates ftir Lappalien halten, womit sich nur
Ehrgeizige und Habsüchtige beschäftigen, die noch im Dunkel
leben und die schöne Sonne der Erkenntniss und ihr herrliches
Reich nicht ahnen, dass sie femer der Kunst, wie Schiller sich
ausdrückt, nur „den ersten Sclavensitz erlauben", weil sie den
Geist empfanglich macht für die Wahrheit und wenigstens in
Bildern und sinnenfälligen Symbolen nach ihr strebt. Kurz die
gauzc Ethik ist nur eine Pädagogik der Seele für die Freiheit
der erkennenden Function des Geistes.
§ 2. Das religiöse Motiv.
Diese Neigung zum Erkennen kann nun die verschiedensten
Wege gehen, von denen der eine zu den empirischen, der andre
zu den speculativen Wissenschaften führt. Die Einen treiben
die Erforschung der einzelnen Naturgegenstände, studiren die
Steine, die Pflanzen, die Thiere, die Zusammensetzung der
Körper, die Bedingungen der sinnlichen Phänomene in allen Be-
wegungen, die Sprachen und die Racen der Menschen, die Ge-
schichte der Völker und Staaten u. s. w. Die Andern beachten
mehr das geistige Leben und studiren den Ursprung der Begriffe,
die Formen des Raumes, der Zeit, der allgemeinen Bewegung,
die Gesetze des Denkens, die Ursprünge der Ideen des Rechts,
der Tugend u. s. w. In allen diesen Beschäftigungen liegt aber
noch nicht der eigenthümlich religiöse Sinn.
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478 Pantheismus des Gedankens.
Erst durch die Beziehung zum Gottesbewusstsein erschliesst
sich das religiöse Motiv in aller Erkenntnissthätigkeit. Da
nämlich der Trieb zur Erkenntniss auf die Wahrheit geht, so
wird nicht eher Befriedigung eintreten, als bis die ganze Wahrheit
unser geworden ist. Nun steht dieser Erfüllung aber immer der
Gegensatz zwischen dem erkennenden Subjecte und dem erkannten
Objecte gegenüber, und wenn dieser Gegensatz unauf hebbar
bliebe, so wäre das religiöse Motiv eitel. Es muss also die
Wahrheit, welche erkannt wird, sich als Geist erweisen und in
unserem Geiste offenbar werden, derart, dass unser Ich in seiner
erkennenden Function verschwindet und dass in dieser die
Wahrheit selbst erlebt und genossen werden kann. Diese
Wahrheit ist dann aber selbst als Gott oder als das Göttliche
aufzufassen, welches in der Furcht- und Rechtsreligion in dem
Himmel draussen verehrt wurde, welches der Atheist vom Himmel
und aus der endlichen Welt des Verstandes vertrieben hatte und
welches nun beseligend und erleuchtend bei dem Pantheisten in
seinem Geiste Wohnung macht, sich ihm offenbart und entschleiert
und sich in ihn verwandelt oder ihn in sich transsubstanziirt
Das Motiv und Ziel des Pantheismus des Ge-
reiigiöBe daukcus habcu wir jetzt verstanden. Es fragt sich
charaktep des ^mj^ y^Q ^q^ Pauthcist sich dcmgcmäss fühlen
und was er von sich halten muss in der religiösen
Stimmung. Von einer Furcht vor Strafe oder von einer Angst
des Gewissens in Erinnerung an seine Sünden kann selbstver-
ständlich keine Rede sein; aber auch die Nützlichkeit oder Heilig-
keit in guten Werken oder die Unentbehrlichkeit für den Staat oder
die Stärkung durch kirchliche Gemeinschaft kann er nicht gemessen ;
denn sein Ich lebte gar nicht in dieser Welt; auch die Kunst-
anschauungen können ihn nicht begeistern, da er nur über die
Träumenden lächeln wird, die darin ihr Licht und Heil suchen;
endlich wird er auch spotten über die Leerheit der Gefühls-
seligen, die nicht einmal sagen können, was sie so beglückt
Sein Geftthl hat eine reinere Quelle; er weiss, dass das lebendige
Göttliche, das die ganze Welt umfasst, in ihm wohnt, dass er
und Gott eins sind in lebendiger Einheit und klarer Erkenntniss.
Ich bin die Wahrheit, muss er zu sich sagen; sie ist nur im
Geist, im Denken und Erkennen, und ich erkenne sie; sie ist in
mir oder ich bin die Wahrheit Darum muss der vollendete
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Ethik. 479
l^hiloBoph des Idealismus sich flir Gott oder für einen Gott
halten und muss sich anch so nennen oder sich wenigstens, da
mehrere an dieser Erkenntniss theilnehmen können, für göttlich
(*sto<;) erklären. In dieser religiösen Stimmung kann keine
Demuth liegen; denn diese geht nur der Erkenntniss voran;
demttthig kann man warten auf die Gonception; wenn das Ich
aber erst transfigurirt ist in den Gott, so ist auch kein Grund
einer Unterscheidung von Subject und Object mehr vorhanden
und folglich Demuth widersinnig. Aber ebensowenig wird ihn
Stolz und Verachtung der Uebrigen aufblähen; denn dergleichen
Affekte könnten nur aus zufalligen Nebenumständen und zubilli-
gen Nebenbetrachtungen entspringen und würden die absolute
Erkenntniss einschränken und die religiöse Stimmung verderben,
in welcher nichts Zufälliges, Endliches und Besonderes Platz
hat. Darum ist seine Stimmung allen Dingen und Personen
gegenüber Affektlos igkeit (a7cd*sta) und also Ruhe, wie
Meeresstille. In dieser Ruhe aber liegt keine Gleichgültigkeit,
sondern sie ist voller Energie in der Erfassung des Ewigen, der
Wahrheit Und darum erfHUt ihn reine Freude, himmlische
Seligkeit: denn der Himmel, wo die Wahrheit wohnt, ist in
sein Herz eingekehrt, und er selbst als Ich verschwunden und
transfigurirt und apotheosirt. Also können wir ihm nur das Gefühl
der Hoheit lassen, das der Natur göttlicher Dinge zukommt.
§ 3. Historische Conürmationen.
Dass diese speculative Bestimmung mit der
Wirklichkeit übereinstimmt, können wir mit mehr
oder weniger Deutlichkeit bei allen Idealisten wahrnehmen. Man
wird nur darum vielleicht an dem exacten Ausdruck dieser
Stimmung Anstoss nehmen, weil in der Wirklichkeit sich überall,
wie ich oft hervorhob, andre Züge noch anhängen, die aus der
Erziehung und Umgebung der Idealisten stammen und die Rein-
heit des Typus beeinträchtigen. Wer dies zu unterscheiden
versteht, wird die gegebene Charakteristik anerkennen. Ich
citire als Beispiel den Vater des Idealismus, Pia ton, der nicht
bloss sich selbst und seine Genossen in der Wahrheit als „Gött-
liche" (*£ioi) bezeichnet, sondern auch bei der Nachwelt diesen
uiuiiizeu uy "v^j vy\J>t Iv^
480 Pantheismus des Gedankens.
Beinamen behalten hat Bei ihm wird ansdrücklich aueh die
Gleichgültigkeit gegen alle menschlichen Dinge stark heryor*
gehoben; nicht nur will er keinen Ehrgeiz und keine Herrsch-
sucht kennen, sondern er sagt geradezu, dass die Philosophen
sich nur gezwungen mit Staatsangelegenheiten abgeben würden
und nicht einmal wüssten, wo das Rathhaus in der Stadt läge.
Was die Seligkeit betrifft, so nimmt er sie allerdings in Anspruch,
streift aber davon alles Affektartige ab, weil er fürchtet, sonst
auch nur im Geringsten an dem Gegensatze, an der Unlust und
dem Leide, theilnehmen zu Aaüssen, wodurch der Philosoph wieder
mit dem Gewebe und Wechsel des Endlichen in Berührung
kommen würde. In meinen „Studien zur Geschichte der Be-
griffe" und den beiden Büchern über die „Literarischen Fehden
im vierten Jahrhundert vor Christo" wird man die näheren Belege
finden; es ist hier nicht der Ort, in philologisches Detail ein-
zugehen.
Dieselbe ethische Stimmung findet man bei allen
Idealisten, da der zugehörige Gedankengang sie noth-
wendig fordert. Ich erwähne deshalb unter den Vielen zunächst
den Empiriker und Staatsphilosophen, der durch seine Neigung
wirklich mehr zur Bearbeitung der einzelnen Gebiete der Dinge
geführt wurde, aber durch den Einfluss Platon's bewogen trotzdem
die vornehmste Stelle für den speculativen Philosophen zurück-
behielt, indem er dem praktischen Leben und den zugehörigen
bürgerlichen Tugenden das rein theoretische und fast einsame
Leben des Philosophen tiberordnete, der nicht wie ein Mensch,
sondern wie ein Gott lebt, der den allgemeinen und ewigen
intelligiblen Urgrund aller Dinge in seiner Vernunft gegenwärtig
nicht nur besitzt, sondern erlebt und das göttliche Denken selbst
denkt. Selbst also, wo, wie bei Aristoteles, die menschliche
Natur stärker hervorgekehrt wird, ist die Apotheose des Philo-
sophen dennoch unvermeidlich, da der Idealismus keine andre
Stimmung verträgt.
Dass wir auch bei unseren modernen Idealisten^
bei Fichte und Hegel, dasselbe finden, ist selbstver-
ständlich. Für Fichte ist die Seligkeitslehre Wissenslehre, das
wahre Dasein und Leben ist Wissen, alles Andre ist todt oder
Schein. Das reine Denken ist selbst das göttliche Dasein, und
das göttliche Dasein in seiner Unmittelbarkeit ist nichts anderes
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Flehte.
Ethik. 481
als das reine Denken, d. h. die speculative Thätigkeit des
Philosophen. Christus ist ihm daher keine einzigartige Persön-
lichkeit, wozu ihn vielmehr nur die Dürftigkeit der Folgezeit
gemacht habe; sondern er soll ganz und ungetheilt in seinen
Anhängern wiederholt werden, so dass sich der Wissende un-
mittelbar, wie Christus, mit Gott eins wisse. Darum habe Christus
bloss den Wahn von der Sünde und die Scheu vor einer Gottheit,
die durch die Menschheit sich beleidigt fühlen könnte, hinweg-
getragen und ausgetilgt Darum hält er den Begriff Gottes als
einer besonderen Substanz für widersprechend und für Schul-
geschwätz. Bei Fichte ist der Idealismus aber nicht ganz rein,
weil er sehr bald von dem blossen Wissen zum Sollen und Thun
übersprang und die Weltordnung daher als die Bestimmung der
Pflicht von Seiten der Menschen erklärte, so dass die praktische
Richtung, die wir in dem Pantheismus der That charakterisirten,
bei ihm stellenweise das Uebergewicht erhält. Ueberhaupt ist
Fichte als exacter Philosoph unbedeutend; dies hindert aber
nicht, dass er nicht eine grosse Bedeutung durch Beeinflussung
seinerzeit gewonnen hätte; denn auch in dieser seiner Richtung
auf die Pflicht liegt nicht etwa eine demüthige Unterordnung
unter einen Gesetzesgott oder eine auswärtige Weltordnung,
sondern vielmehr die kühnste Erhebung des Menschen zur Ehr-
würdigkeit und Göttlichkeit Fichte konnte eine grosse Erhebung
und Erneuung hervorbringen, da ihm das Einzigexistirende in
der Welt das menschliche Geschlecht ist, welches ihm eine Einheit
bildet und aus sich die Ordnung des Sollens bestimmt, so dass
die Weltordnung auch hier nur in der geistigen Thätigkeit, im
Denken des Menschen, vorhanden ist und daher an den Menschen
die denkbar höchste Anforderung stellt
HegeFs Auffassung ist noch lebendiger in der
Gegenwart, als die Fichte' sehe, da noch einige be-
rühmte Anhänger an den Universitäten mit grosser Kraft lehren.
Für Hegel hat zwar scheinbar die Religion ebenso wie die Kunst
einen untergeordneten Platz, indem er für sie mehr die Unmittel-
barkeit des Gefühls rescrviren und das Wissen hoch über sie
stellen wollte; aber dies kann uns gleichgültig sein; denn wir
suchen sein eigenes höchstes Bewusstsein und seine eigene letzte
Stellung zur Gottheit und finden dies in dem absoluten Geiste
der speculativen Philosophie; denn in seiner Logik wollte er die
Telohmüller, BellgloiiBpbilosophie. uiymSJü uy V^jOOQIC
482 Pantheismus des Gedankens.
Gedanken, die Gott vor der ErschaflFung der Welt denkt, d. h.
den ganzen Inhalt des göttlichen Geistes, erschöpfen,
während Kant menschlich und bornirt nur den Inhalt des
menschlichen Geistes durch seine Kritik ausgemessen habe.
Für Hegel ist also in dem absoluten Wissen die absolute Gegen-
wart Gottes gegeben und das Ich in diese höhere Geistesfunction
vollständig aufgehoben. Es giebt keinen Gott ausserhalb dieses
Denkens, und im Denken ist das reine affektlose Dasein Gottes
Ereigniss geworden, sofern Gott sich in des Menschen ver-
schwundenem Ich selbst weiss als absoluter, subjectiv-objectiver
Geist.
Charakteristisch für den Pantheismus des Idealisten
^"wrtiT"^ ist nun das Verhältniss, in welches die verschiedenen
geistigen Functionen gestellt werden. Da nämlich
das Vermögen der Erkenntniss nicht als ein Vermögen neben
anderen betrachtet wird, sondern als die höchste Form, zu welcher
der ganze Inhalt der Seele und des Geistes sich stufenmässig
erhebt, so können alle anderen Vermögen nur als untergeordnete
Stufen des Erkenntnissvermögens gelten. Setzen wir also, um
dies bestimmter auszudrücken, statt des blossen Vermögens die
ausgebildete Function, so haben wir Religion (Sittlichkeit), Kunst
und Wissenschaft (Philosophie) als die drei in Frage kommenden
Mächte des Geistes und müssen den Forderungen des Idealismus
gemäss die Kunst und die Religion als die noch auf der Stufe
der Anschauung, der Vorstellung und des Gefühls befindliche
Erkenntniss betrachten, die zwar auch von der Idee schon erftillt
sind, aber dieselbe noch nicht begrifflich erkennen, weil erst auf
der Stufe des reinen Wissens die in Vorstellung und Gefühl noch
verschleierte Idee sich selbst in Begriffen erkennt und so als
absoluter Geist hervortritt.
Mithin muss in dem Idealismus der Gegensatz, der sich
wirklich in dem Gebiete der Erkenntniss findet (nämlich zwischen
Wissen einerseits und Meinen, Glauben, Ahnen, Vorstellen anderer-
seits), ungerechter Weise auf die anderen Gebiete des Geistes,
die keine Formen der Erkenntniss sind, ich meine auf Kunst
und Religion ausgedehnt werden, so dass nun der Wissende, der
nicht einmal primus inter pares ist, mit Arroganz auf die Reli-
giösen und Künstler herabsieht, weil er ganz denselben geistigen
Ethik. 483
Inhalt, wie jene, zu umfassen und denselben nur in der voll-
kommensten Reinheit und Klarheit zu besitzen glaubt, während
jene niehts von ihm Verschiedenes besässen, sondern denselbigen
Inhalt nur träumend und trübe und verworren erfassten.
Diese ungerechte und falsche Stellung des Wissens findet
sich, weil sie dem Idealismus nothwendig und eigenthümlich ist,
schon bei Piaton, dem Vater dieser Weltanschauung, und habe
ich darüber in meinen „Studien zur Greschichte der Begriffe^' die
genauere Nachweisung geliefert. Piaton macht schon den Gegen-
satz zwischen Gnosis und Pistis, zwischen Wissen und Glauben,
geltend und verlangt deshalb von den Philosophen, dass sie die
Dogmatik, Ethik und den Cultus der Religion anordnen, d. h.
durch Gesetze befehlen sollten, was im Staate für Götter zu
glauben wären, welche Eigenschaften und Kräfte sie hätten, was
die Menschen demgemäss den Göttern gegenüber ftlhlen und
glauben und wie sie ihre Ehrfurcht, ihren Gehorsam, ihre Dank-
barkeit, ihre Hofinungen und Wünsche durch gottesdienstliche
Handlungen in den Tempeln und sonst auszudrücken hätten;
kurz Piaton macht die Wissenschaft (Philosophie) zum unbeding-
ten Herrn, Patron und Curator über die unmündige Religion.
Wenn er, was di^ Ordnung des Cultus betrifft, ausser der Philo-
sophie noch den ApoUon in 'Delphi befragen lässt, so liegt darin
nicht etwa die Ajnerkennung einer zweiten Autorität neben der
Philosophie, sondern nur eine politische Massregel, ebenso wie
die Herrscher sicti.heut zu Tage, wenn sie vorsichtig sind, mit
Rom erst benehmei|i, ehe sie Gesetze machen, weil der Glaube
der Menschen in alten Ideenassociationen und Gewöhnungen und
eingewurzelten Unterwürfigkeiten ruht, und daher zur Sanctio-
nirung der Gesetze die Benutzung der Tradition und der An-
schluss an den vorhandenen und noch brauchbaren Aberglauben
empfehlenswerth ist Diese Platonische Aufstellung von dem
Gegensatz zwischen der gehorchenden und blinden Pistis und
der befehlenden und sehenden Gnosis findet man dann durch die
ganze Geschichte überall da, wo der Idealismus zur Herrschaft
kommt, und selbst die Kirchenväter und die Scholastiker wurden,
weil sie ihre philosophische Bildung dem griechischen Idealismus
verdankten, von diesem Gegensatze immer in die Enge getrieben
und bald zu Ketzereien, bald zu obscurantistischen Absurditäten
geführt. Von Anfang an aber machten sie, im Bewusstsein eines
uyuSAfuyGOOQle
484 Pantheismiis des Gedankens.
neaen und eigenen, von der Philosophie unabhängigen Gutes die
unbeweisbare und deshalb den Klugen unbegreifliche Forderung,
dass die katholische Kirche auf der Pistis und einer von der
Philosophie unabhängigen Offenbarung ruhen solle und dass die
Tugenden des Glaubens höher wären, als das Wissen. Darin
hatten sie nun ohne Zweifel vollkommen Recht, aber sie konnten
ihre Forderung nicht rechtmässig begründen, weil die Offenbarung
doch auch nur die Wahrheit, also einen Erkenntnissinhalt,
offenbar machen sollte, den die Wissenschaft prtifen kann und
mnss, und darum findet sich, wie die Geschichte der Dogmatijc
zeigt, in allen Perioden der Entwickelung des Dogma die häretische
Neigung, die Gnosis obenan zu stellen und die blinden Pistiker
zu verachten. Diese grosse Schwierigkeit und Verlegenheit be-
drängt die Theologen bis auf den beutigen Tag; denn der
Idealismus ist bis jetzt die vornehmste Philosophie gewesen und
die grossen Theologen aller Zeiten haben ihm gehuldigt.
Da diese ftir den Idealismus charakteristische
TToTi
ParalogismuB.
Nachweis des Ucbcrordnung der Gnosis über die Pistis ebenso
noth wendig, wie irrig ist: so muss der Fehlschluss
aufgedeckt und der Grund des Fehlers erkannt werden, was nur
unter der einzigen Bedingung' möglich ist, wenn wir eine höhere
und wahrere Weltanschauung als den Idealismus besitzen. Nun
haben wir ja aber schon in der ganzen vorigen Darstellung die
Einseitigkeit und den Grundfehler des Idealismus erkannt; es
kann uns also jetzt leicht werden, den Fehlschluss nachzuweisen.
Nego minorem, haben wir zu sagen; denn der Obersatz muss
lauten: alle unreifen und noch nickt wissenschaftlichen Stufen
der Erkenntniss sind der begrifflichen Erkenntniss (Philosophie
und Wissenschaft) unterzuordnen. Der Untersatz: die Religion
ist eine unreife und noch nicht wissenschaftliche Stufe der Er-
kenntniss. Der Schlusssatz: die Religion ist der Wissenschaft
unterzuordnen. Nun läugnen wir den Untersatz; denn die Reli-
gion ist die Gesinnung, welche der Mensch als Persönlichkeit
gegen Gott hat, und daher keine Stufe der Erkenntniss schlecht-
hin, einmal, weil diese Gesinnung bloss bewusst wird und nicht
auf einem logischen Processe beruht, zweitens weil sie bei allen
Erkenntnissstufen möglich und wirklich ist, und drittens weil sie
zu ihrem Ausdruck noch zwei von der Erkenntniss völlig ver-
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Ethik. 485
schiedene, selbständige geistige Vermögen fordert, nämlich den
Willen oder das Gefühl und das Vermögen der That.
Dadurch ist der Fehlscliluss nachgewiesen, und der Grund
des Fehlers wird damit zugleich offenbar; denn, weil dem 6e-
fUhlsvermögen und der That gewisse Erkenntnissthätigkeiten
coordinirt sind, durch welche man seine Gefühle und die daraus
fliessenden Handlungen erklärt und rechtfertigt, so blickten die
Idealisten (nach dem Sophisma de pluribus interrogationibus) auf
die coordinirten Vorstellungen hin mit üebersehen der anderen
selbständigen und eigenen Elemente und konnten daher scheinbar
mit Recht ihren Minor aufstellen. So ist der Grund des Fehlers
ebenfalls offenbar gemacht.
Da wir nun aber die Selbständigkeit der drei Vermögen
des Geistes erkannt haben, so sehen wir auch klar die Unab-
hängigkeit der Religion von der Wissenschaft ein und verstehen
nun, weshalb die Kirche sich in allen Zeitaltem gegen die
Philosophie stellte und eine eigene Quelle der Gewissheit, eine
eigene Offenbarung, zu besitzen behauptete, ohne dies beweisen
zu können. Wir erkennen aber zugleich, dass die Feindschaft
gegen die Wissenschaft schlechthin eine unnütze und nicht ge-
rechtfertigte Stellung der gläubigen Theologen ist, da bei der
Gesinnung gegen Gott (Religion) dem religiösen Gefühl (Ethik)
immer irgend eine Erkenntniss (Dogma) zugeordnet ist, ebenso
wie ein gewisses Thun (Cultus). Diese zugeordnete Erkenntniss
kann nun alle Stufen der Ausbildung durchlaufen und mithin in
rohen abergläubischen Vorstellungen, wie auch in den subtilsten
philosophischen Begriffen bestehen. Wir haben also bloss die
ungerechte Arroganz der idealistischen Philosophie abzuweisen,
die ihre Ueberordnung über die Religion wissenschaftlich nicht
beweisen kann und deshalb vor ihrem eigenen Tribunal verur-
theilt wird; dagegen steht nichts im Wege, die reine und voll-
kommene Religion auch mit dem ihr zugeordneten reinen und
vollkommenen Wissen zusammenzuschliessen, wie ebenfalls eine
adäquate Gemüthstimmung und ein reiner und vollkommener
Cultus ihr zugehört. Die wahre Philosophie stiftet also keinen
Gonflict, sondern giebt einem Jeden, was ihm zugehört, und kann
darum in Gerechtigkeit mit der Religion sich vertragen und in
einem versöhnten und mit sich einigen Gemüthe wohnen. Der
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486 Pantheismns des Gedankens.
Idealismus aber ist von der Gnosis unabtrennbar und deshalb
immer principiell der Religion feindlich, wenn dies auch ver-
schleiert wird, wie bei Schleiermacher, der das Gefühl zwar als
Quelle der Religion auffasste, in dem Gefühle aber thörichter
Weise auch schon das Erkennen eingeschlossen wähnte und
deshalb in seiner Dogmatik arglos von dem Spinozistischen und
Platonischen Idealismus ausging, wodurch seine ganze Theologie
zu einem Centaur wurde und nach beiden Seiten hin inuner Un-
redlichkeiten begehen musste, da die vermummte Religion bald
als Gefühl ihr frommes Antlitz, bald die Homer der Gnosis
sehen liess.
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Zweites Kapitel.
Der zugehörige Cnltns.
Wenn wir das wesentliche Motiv des speculatiren Idealismus
mit seinem in der theoretischen Function liegenden Schwerpunkte
richtig verstanden haben, so folgt daraus mit Sicherheit, dass
diese Religionsform keinerlei äusseren Cultus erfordert, da kein
äusserer Gott vorhanden ist. Es dreht sich deshalb alles Thun
des Idealisten darum, aus den ihm aufgenöthigten Sorgen, für
das sinnliche Leben, für seine Person und ihre Stellung in der
Gesellschaft möglichst bald und möglichst oft auftauchen zu
können, wie aus anhängendem unreinem Schlamm, in die sonnen-
reiche Region des Gedankens, um, wie man sich ausdrückt,
in dem reinen Aether des Gedankens zu athmen und zu leben.
Alle anderen Functionen des Geistes, das Gefühl, die Aeusse-
rungen der Thatkraft und deren zugehörige Vorstellungen und
ihre Componenten werden also für irdisch, niedrig, thierisch oder
auch bloss menschlich erklärt; das reine speculative Denken
allein für göttlich. Mithin besteht der Cultus bloss im Denken,
in welchem das Ich, das sich entweder bloss als physisches Indi-
viduum, d. h. als Erscheinung, oder als subjective Seite des
ideellen Inhalts kennt, verschwinden muss.
Ebensowenig wie ein äusserer Cultus kann aus diesem reli-
giösen Zustande irgend ein Antrieb zu sittlichem Leben oder zu
einer Art von Kunstthätigkeit entspringen; denn diese Gebiete
des geistigen Lebens werden eben in den Gedanken aufgehoben,
und so kann kein Motiv vorhanden sein, aus dem Höheren und
Besseren wieder zum Niedrigeren und Schlechteren tiberzugehen.
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488 Pantheismus des Gedankens.
Torzüglich da dieses aueh nieht Denkthätigkeiten sind, in welchen
diese Religion allein besteht. Es ist darum natürlich, dass die
speculatiyen Idealisten sich aus dem praktischen und künst-
lerischen Leben zurückziehen und immer zu einem Eremitenleben
neigen, sofern ihre Natur mehr oder weniger rein dem Typus
dieser Religionsform entspricht. Schon Aristoteles hat dies in
seiner Nikomachischen Ethik erkannt.
piaton ***^ ^^^ ^^^ dieser Gelegenheit wieder den
unddiennreinen spccifischen Charakter meiner Methode beachten
Formen. müsscn; dcnu wenn wir, um das Wesen dieser
Religionsform zu studiren, die historisch vor uns liegenden
Lebensweisen und Werke der Idealisten zu Grunde legen wollten,
so würden wir in eine unsägliche Verwirrung gerathen, da natür-
lich die einzelnen historischen Individuen alle möglichen Mischun-
gen der Begabung zeigen und darum ein wahres Kaleidoskop,
nicht aber eine feste und ein für alle mal bestimmte Ordnung
der geistigen Functionen uns vor Augen stellen können.
So z. B. ist Piaton zwar ein Hauptrepräsentant des Idealis-
mus; nichtsdestoweniger war er so reich begabt, dass wir ihn
auch bei Gelegenheit des Staatsenthusiasmus berücksichtigen
mussten. Und was den Cultus betrifft, so ordnet er nicht nur
für die ganze unphilosophische Gesellschaft die ihr zukommende
Gottesverehrung, sondern er hat auch seinen specifisch Platonischen
Cultus in der erlösenden oder Platonischen Liebe. Er verlangt,
die durch die Dialektik in den Himmel Aufgestiegenen sollten
wieder vom Licht in das Dunkel der Erde zurückkehren, um
die armen und verirrten Gefangenen ebenfalls nach Möglichkeit
zu befreien, zu erlösen und zum Lichte der Wahrheit zu führen.
Die ganze Erlösungslehre (Soteriologie) Platon's stammt aber
nicht aus dem Idealismus, d. h. aus der Arbeit der theoretischen
Geistesftinction, in welcher dergleichen nicht vorkomimen kann,
sondern aus seiner ganzen harmonischen Anlage, in welcher noch
bessere Elemente stecken, als in seinem System; denn diese
Erlösungslehre findet ihren wissenschaftlich berechtigten Platz
erst im Christenthum und hängt nur mit Piaton, aber nicht mit
dem Piatonismus zusammen. Bei Piaton, dem Menschen, hat
die Persönlichkeit, die Freundschaft, die erlösende Liebe und
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Cultus. 489
die staatsbildende Gemeinschaft eine wichtige Stelle; in dem
Flatonismus aber ist dafür kein wissenschaftlicher Ort denkbar;
denn in der Erkenntniss der Idee erlischt das Ich vollständig,
und es giebt nach dem Idealismus nur einen Trieb und eine
Liebe zur Erkenntniss, also nur einen Weg aufwärts zum Lichte
der Wahrheit, aber keinen Rückweg, weil nichts da unten für
die Erkenntniss einen Werth haben kann, und weil die Persön-
lichkeit nicht mit zum Himmel fährt, sondern nur ihre theoretische
Function, welcher allee dient und in welche sich das Universum
als in sein Ziel (ou evexa) auflöst.
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Drittes CapiteL
Die zugehörige Dogmatik.
Alles Bisherige muss nun deutlicher werden, wenn wir zu
der Dogmatik, in welcher der Schwerpunkt dieser Religionsform
liegt, tibergehen; denn da in der Religion überhaupt die drei
geistigen Functionen in Coordination stehen, so wird der spe-
cifische Charakter der zugeordneten Functionen, der durch die
tonangebende Function bestimmt wird, immer erst dann voll-
ständig erkannt werden, wenn das Fundament einer solchen Coor-
dinationsgruppe gelegt ist. Wie aber bei den fünf verschiedenen
Formen des Pantheismus der That das Fundament in dem han-
delnden Vermögen des Geistes liegt und bei der zweiten Gattung
in dem Gefbhl, so bei dieser dritten Gattung in dem Erkenntniss-
vermögen. Also kommt es hier auf den Inhalt der Gedanken
in erster Linie an, d. h. auf die Dogmatik.
Es ist daher interessant zu bemerken, dass unter
derwtweMchaft- allcu Religionen hier zum ersten Male eine wissen-
uchen schaftliche Dogmatik auftritt. Die beiden pro-
Theoiogie. jectivischen Religionen haben eine so unreife Theo-
logie, dass es dem Atheisten leicht wird, sie zu widerlegen; der
Atheismus selbst ist bloss negativ und besitzt daher keine Aus-
bildung der Vernunft und keine systematische Darstellung des
Vernunftinhalts. Die erste Gattung des Fantheismus ist auf das
sogenannte Praktische gerichtet und hat keine Müsse zur Specu-
lation-, die zweite Gattung aber ist trunken in ihrem Gefühl und
verachtet die Mtihe des Nachdenkens, das doch erst im Gefühl
zu seinem Zwecke und zur Vollendung konmie. So sehen wir,
wie natürlich es ist, dass erst mit dem theoretischen Pantheismus
auch die wissenschaftliche Theologie ihren Anfang nimmt.
uiymzeu uy V^jOOV IC
Dogmatik. 491
Man muss sich dies Resultat ganz klar machen und fest
einprägen, weil es einen weiten Blick in alle die früheren reli-
giösen Coordinationsgruppen gewährt und viele Fragen sofort
löst So weiss man dadurch, z. B., warum es unmöglich ist, in
der griechischen, römischen, ''aitindischen und anderen heidnischen
Religionen bestimmte Antworteh auf die Fragen nach den Eigen-
schaften und dem Wesen der verschiedenen Götter zu erhalten,
auf die Frage, warum dasselbe Werk bald von diesem, bald von
jenem Gott gethan wird, warum die Götter kein festes System
bilden und keine mit der Vernunft erfassbare Ordnung ihrer
Gemeinschaft innehalten können. Man weiss dadurch, weshalb
in dem ganzen alten Testament keine feste Theologie vorkommt,
weshalb unzählige theologische Fragen über die Jehovahreligion
nicht unmittelbar aus den Quellen, sondern erst durch uns und
zwar durch indirecte Schlüsse und Interpretationskünste beant-
wortet werden können; weshalb ebenso der Buddhismus keine
Dogmatik hat, und der Islam erst später durch griechische und
zwar meist pantheistische Gelehrsamkeit zu einem dogmatischen
System kam; weshalb die Pietisten und Mystiker und die übrigen
Pantheisten alle nur die dürftigsten und haltlosesten Voraus-
setzungen über Gottheit und Welt und Seele und Zeit und Zweck
u. s. w. gelegentlich vortragen, und weshalb es zwar leicht ist,
sie durch Disputation aus dem Sattel zu heben, schwer aber,
wenn nicht unmöglich, sie von ihrem Wege abzubringen.
Die wissenschaftliche Theologie hat daher ihren Platz nur
in dem theoretischen Pantheismus und im Ghristenthum, welches
harmonisch alle geistigen Kräfte in Anspruch nimmt. Kritisch
und negativ aber treibt auch der Atheismus theologische Arbeiten
hervor, die nach dieser Seite hin nützlich sind, nach der posi-
tiven Seite freilich nur taube Nüsse bieten.
Wer nun die eigenthündiche Kraft der hier angewandten
Methode ausser Augen lässt und, wie man dies bisher pflegte,
unbesonnen oder mit arglosem Empirismus argumentirt, der könnte
gleich scheinbare Gelehrsamkeit anfahren und uns' beweisen
wollen, dass die Talmud-Juden und die modernen jüdischen
Philosophen, ebenso wie die Buddhisten, doch eine wissenschaft-
liche Dogmatik ausgebildet hätten. Wir werden aber ihre
Bruttogewichte nicht anerkennen, sondern erst die Kisten öffnen,
um die Netto- Werthe zn bestimmen. Dann zeigt sich ganz deut-
u.quizeauy Google
492 Pantheismus des Gedankens.
lieh, daBs der speeulativ-dogmatisehe Buddhismus seinen eigen-
thümliehen Charakter ganz verliert und zu einer brahmanisehen
Sekte wird. Ebenso sind die speculativen Religionsphilosophen
der Juden theils reine Philosophen der Aristotelischen Schule,
wie Maimonides, theils Spinozisten, oder Herbartianer oder sonst
Anhänger eines mit dem Judenthihn nicht nothwendig zusammen-
hängenden Systems; jedenfalls weht in solcher Dogmatik keine
Spur mehr von dem ächten Israelitischen Rechtsgotte, der zu-
gleich der Furcht- und Rachegott ist. Darum bleibt es dabei,
dass die durch Analyse ein für alle Mal festgestellten Religions-
formen ihren unveränderlichen Charakter haben und durch nichts
in der Welt, durch keine Culturfortschritte und durch keine
Reibung und Concurrenz mit anderen Religionsformen auch nur
die geringste Modification erleiden. Wir haben ja mit den ein-
fachen Formen zu thun und wissen, dass der Würfel niemals
eine Pyramide oder ein Kegel wird. Die empirisch gegebenen
Religionen aber sind immer gemischt, erstens weil sie von
Menschen verschiedener Begabung bekannt werden, zweitens weil
bei ihrem Aufkonmien immer heterogene Factoren zusammen-
wirken, drittens weil sie sich von Geschlecht zu Geschlecht auf
immer andere Menschen tibertragen und dort immer mit neuen
geistigen Elementen anderer Art zusammentreflfen, so dass der
Complex des gegebenen religiösen Coordinatensystems durch die
neuen Elemente verunreinigt, umgestaltet, ja ganz aufgelöst
werden kann. Alle diese Entwickelungen, Entartungen, Ver-
setzungen und Zersetzungen kann man aber erst wissenschaftlich
verstehen, wenn man die chemisch reinen Elemente und ihre un-
veränderlichen Coordinaten kennt. Darum ist die hier gegebene
neue Religionsphilosophie auch ein unentbehrliches Instrument,
um die Diagnose der positiven Religionen zu stellen und durch
Reagentien ihre Natur zur Evidenz zu bringen und ihren Werth
oder Unwerth zu bestimmen.
§ 1. Die alterthümliclie Form des Idealismus.
Der Idealismus ist zuerst durch Piaton vollständiger aus-
gebildet und wird deshalb auch häufig schlechthin Piatonismus
genannt. Wir sahen aber schon, dass sich in der Persönlichkeit
Platon's verschiedene Elemente mischten und dass wir daher
uiymzeu uy V^jOOV IC
Dogmatik. 493
hier nur die reine Form des Idealismus ohne die anhängenden
heterogenen Elemente zur Darstellung bringen müssen. Ich
werde deshalb nicht die ganze Platonische Lehre vortragen,
sondern möglichst diejenige Seite, die eigentlich idealistisch ist,
absondern, weil uns ja hier das Platonische nicht als Platonisches,
sondern nur als Specimen des Idealismus interessiren kann. Zu
grösserer Deutlichkeit wird es dienen, wenn wir zuerst die alter-
thümliche Form des Idealismus, wie sie sich bei den hellenischen
Philosophen vor der kritischen Periode ausbildete, in's Auge
fassen, weil sich in dieser archaischen Form die zugehörigen
BegriflFe in ihrem ursprünglichen und naiven Typus zeigen, und
der Uebergang zu der durch die Erkenntnisstheorie vermittelten
zweiten Form des Idealismus um so* durchsichtiger wird. Da
Piaton selbst aber auch vielfältig die alte projective Auffassung
vorträgt, so ist die Gränzlinie zwischen beiden Formen nicht
leicht zu ziehen, und es kommt ans hier auch nicht auf eine
genaue historische Darstellung an, sondern nur auf die Verhält-
nisse der Begriffe.
Der Gesichtspunkt aber, der meine ganze Darstellung be-
herrscht, darf nicht im Dunkel bleiben. Es kommt nämlich Alles
darauf an, wahrzunehmen, wie der Idealismus immer und noth-
wendig dahin drängt, die ganze Welt in eine Erkenntnissfunction
aufzulösen und deshalb die Weisheit (Philosophie) für diejenige
Offenbarung des Wesens aller Dinge zu erklären, welche selbst
zugleich das Wesen aller Dinge ist, so dass Subject und Object
in der Erkenntnissfunction verschwindet.
Nun ging das wissenschaftliche Bestreben zunächst Materie
empirisch auf die Erkenntniss der in der Anschauung und wee.
gegebenen Welt aus, und es liess sich leicht bemerken, dass in
den Erscheinungen der Dinge ein immerwährender Wechsel statt-
findet. Diesen Wechsel konnte man aber nur erkennen, wenn
man die frühere Form in der Erinnerung hatte; hierdurch lösten
sich die Formen von den wechselnden Trägern derselben ab.
Da der Mensch nun auch selbst in die Wirklichkeit eingriff und
gewisse Erscheinungen mit bestimmten Formen künstlerisch und
technisch hervorbrachte, so lag es nahe, das was die Formen
trägt und an sich hat, nach der Analogie mit der Tektonik als
Bauholz (üXt] Materies) zu bezeichnen. Wie aus dem Holze die
gebräuchlichen Gegenstände hergestellt wurden, so legte man
uiymzeu uy V^jOOy IC
494 Pantheismus d^ Gedankens.
jeder erscheinenden Form, den Thieren, Pflanzen, Menschen u. s. w.
einen Stoff oder eine Materie zu Grunde. Da aber die Erschei-
nungen der Dinge wechselten, während die Formen in der Er-
innerung feststanden, so musste die Materie als veränderlich
angenommen werden. Und da die Natur aus derselben Materie
alles Mögliche machte, so nahm man an, dass die Materie ihrem
Wesen nach unbestimmt und ohne alle Eigenschaften sei, bloss
fähig, jede Form aufzunehmen und zu Allem zu werden. Ebenso
zeigte sich, dass die Erscheinungen in einander übergingen,
Holz z. B. sich in Feuer, Rauch, Asche verwandelte, Wasser in
Luft u. s. w. : man nahm deshalb an, dass allen Formen ein und
derselbe Stoff (Materie) zu Grunde liege, und erweiterte diesen
Begriff auf die ganze Welt, so dass nun die Welt aus zwei
Elementen bestand, aus Materie und Form. Für die Form adop-
tirte Piaton den von den Hippokrateern gebrauchten Ausdruck
Idee (IS^a oder sI8o<;).
Die Form oder Idee hing aber immer an ihrer
und todwiduen. Matcric, wic der Stuhl am Holz. Nun zeigte die
Beobachtung jedoch, dass dieselbe Form in vielen
Erscheinungen vorkomme, wie viele Menschen, viele Pferde,
Feigen n. s. w. in*s Auge fielen. Also löste sich die in der
Erinnerung festgehaltene Form von den einzelnen Erscheinungen;
denn bei jeder wurde dieselbe Form prädicirt: „auch dies und
dies und dies ist ein Mensch, ein Pferd" u. s. w. Mithin musste
man nun die Idee von den Individuen scheiden. Die Idee wurde
also das Wesen (oooCa) der Dinge, d. h. dasjenige, was das
Ding sei, und die Individuen wurden zu den wechselnden, ent-
stehenden und vergehenden Erscheinungen, die durch Gegen-
wart (Parusie) oder Abwesenheit (Apusie) der Idee sind oder
nicht sind.
Mithin flössen die Individuen mit der Materie
^°^Materie.'*°^ zusammcu, da sich die Idee von ihnen abgelöst
hatte. Ein Individuum hat keinen Bestand; es wird
dadurch, dass die Materie unter gewissen Bedingungen eine
Form (Idee) aufnimmt (Individuation), und es stirbt und vergeht,
wenn die Materie sich in eine andere Form verwandelt. Alle
Individuen scheinen deshalb bloss etwas Selbständiges zu sein,
und an diesem Schein des augenblicklichen Daseins hängt der
sinnliche und mit Begierden erftilite Mensch, bis der Tod oder
uiymzeu uy x^jv^'v^'
ö'"
Dogmatik. 495
die Krankheit und allerlei Schicksale die Gegenstände seiner
Lust nnd Begier, seiner Furcht und Hoffnung verändern oder
vernichten und zuletzt auch ihn ans der Welt verschwinden
lassen. Immer aber bleibt die Materie, weil immer neue Er-
scheinungen hervorkommen, für die man doch die Materie nach
der Analogie mit der Kunst vorausgesetzt hatte.
Die Materie selbst aber ist schlechterdings nichts Gemeinschaft
Bestimmtes, sie würde sonst bloss eine Erscheinung von idee
sein, oder es liesse sich nichts anderes mehr aus ihr ''"^ Matene.
machen. Sie ist ihrem Wesen nach Nichts und darum sind
alle Dinge oder Erscheinungen ihrem Wesen nach nichtig, weil
sie aus dem Nichts stammen und in's Nichts zurückkehren.
Ebenso schlimm ergeht es aber auch der Idee; denn was soll sie
sein, wenn sie in keiner Erscheinung zu Tage tritt, wenn sie nicht
in und durch die Materie wirkt und sich offenbart? Da dies nun
wirklich immerfort geschieht, wie uns alle Erfahrung zeigt, dass
die Welt immer da ist, so muss von den Idealisten angenommen
werden, dass die Materie auch mit der Idee in Gemeinschaft
(xotvtovta) steht, in der Art, dass die Idee das Wesen der Materie
bildet und die Materie das geheinmissvolle Offenbarungsmittel
und der Daseinsquell der Idee sei. Beide müssen deshalb unzer-
trennlich nnd ewig zusammengehören und doch wieder dem
Ursprung der beiden Begriffe gemäss auch wieder einander ent-
gegengesetzt sein.
Bis soweit merken wir nun von dem specifischen
Wesen des Idealismus so gut wie nichts; denn wenn ^,nd Mansch
die Welt, den Menschen eingeschlossen, bloss durch
gewisse, nach Aussen projicirte, Begriffe, wie Stoff und Form,
gedacht wird, so scheint umgekehrt unsere Erkenntnissfunction
(welche doch im Idealismus Ein und Alles ist) vollständig zu
verschwinden oder überhaupt noch gar nicht zu Bewusstsein zu
kommen. In der That spielt sie in dem alterthümlichen Idealismus
nur die bescheidene Rolle eines Geistes hinter den Coulissen,
der zwar den Zusammenhang der ganzen Handlung bedingt,
selber aber nicht sichtbar wird. Doch konnte es nicht fehlen,
dass der Angelpunkt, um welchen sich der ganze Idealismus
dreht, wenigstens in seiner Projection auf der Bildfläche des
Welttheaters erschien, und dies wollen wir jetzt noch erörtern.
Die Gemeinschaft von Stoff und Form, welche der Idealis-
uiymzeu uy "V-j vyVjVt Iv^
496 Pantheismus des Gedankens.
mus, wie wir sahen, fordern mas8te (Postulat), war nämlich in
deutlichen Begriffen nicht voUziehbar, und doch musste man daiUr
eine Veranschaulichung in demjenigen Wesen suchen, welches
selbst diese Forderung stellt, sich selbst am Besten kennt und
im Stillen immer zuerst an sich denkt, wenn es etwas Fremdes
verstehen will. So finden wir denn auch, dass man von Anfang
an dazu kam, das Leben, die Seele und den Geist, die sich in
dem Menschen und in den Thieren zeigte, als die Form aufzu-
fassen, und da die Seele nichts Stoffliches ist und dennoch un-
aufhörlich mit dem Körper zusammenhängt und den Körper in
seinen Bewegungen regiert, die gesammte Materie der Welt als
durchdrungen, beseelt und beherrscht von dem idealen Princip,
von der Seele oder dem Geist, der die Form bildet, vorzustellen.
So nannten sie die Welt ein Thier (c^ov) oder ein lebendiges
Wesen, und das ideale Element darin den Gott. Dieser hylo-
zoistische Pantheismus findet sich schon bei Thaies und wurde bei
Piaton nur feiner durchgefiihrt, obwohl die Grundanschauung blieb.
Der Idealismus musste aber das Geheimniss seines Ursprungs
noch deutlicher merken und verrathen; denn wenn der Mensch
auch nur als Eine von den vielgliedrigen Erscheinungen der
Welt galt, so stellte man ihn doch, obwohl das Göttliche in allen
Gliedern der Natur wirkte, dem herrschenden Geiste am Nächsten,
und zwar offenbar um so näher, je höher er durch Erkenntniss
sich hob. Darum finden wir bei den Pantheisten, bei Heraklit,
Empedokles und Andern schon überall die Vorstellung, dass die
Götter zu Menschen werden und die Menschen zu Göttern, dass
die erkennende Vernunft das reine und trockene Licht ist,
welches in der Sonne leuchtet, den Himmel beherrscht und Alles
erkennt. Der Mensch glaubte demgemäss in seiner Erkenntniss-
function, in der Vernunft (voö<;, X(5ifo<;), den Grund seiner Gott-
verwandtschaft und Göttlichkeit zu erkennen.
Man konnte sich aber natürlich weder von Gott, noch von
dem Verhältniss der Menschen zu ihm klare Begriffe bilden, und
so wurde Gott als das Göttliche (^elov) unbestimmt aufgefasst,
und der entstehende und vergehende Mensch als vorübergehende
Erscheinung des Göttlichen, welches gewissermassen stirbt, wenn
es in der Materie als Mensch geboren wird, und lebt, wenn der
Mensch zu Geist, Vernunft und Wissenschaft kommt oder wenn
er wieder mit dem Tode sich in sein göttliches, bisher verhülltes
Element auflöst. u,yu,zeaüy^v.v^^L^
Dogmatik. 497
§ 2. Der Platonisclie Idealismus.
Der Idealismus konnte nun seine eigentliche Natur nur erreichen,
wenn das Yerhältniss der erkannten Welt zu dem erkennenden
Subject untersucht wurde, d. h. nur nach der sokratisch-sophisti-
schen Periode. Man muss sich aber hüten zu glauben, als wenn
nun ein subjectiver Idealismus hätte aufkommen müssen; denn
dieser kann überhaupt nur eine vorübergehende Betrachtungs-
weise, einen kurzen Rausch bilden, aber weder in einer Schule,
noch in einem einzelnen Philosophen dauernden Beifall finden,
da in. jedem remünftigen Menschen die Anerkennung des selb-
ständigen Seins, des eigenen, wie des fremden ausser ihm unver-.
meidlich ist. Ebensowenig konnte sich ein rein kritischer Idealismus
halten, sondern von Piaton an bis auf Hegel und seine modern-
sten Ausläufer hin wurde alsbald der archaische projective
Idealismus mit der kritischen Auffassung verschmolzen, so dass
historisch keine reine Formen anzutreffen sind. Es interessirt
uns hier deshalb auch nicht, eine solche reine Form ausführlich
zu construiren, da sie annähernd in Kaufs Kritik der reinen
Vernunft vorliegt; vielmehr genügt es, diejenigen Elemente her-
auszuheben, welche die ganze Goordination der zugehörigen
Begriffe bestimmen und zugleich das Licht in den historisch
gegebenen Systemen bilden.
Ich verstehe nun unter dem Platonischen Idealismus die-
jenige Weltansicht, welche sich des Ursprungs des archaischen
Typus kritisch bewusst geworden ist und deshalb klar und be-
stimmt darauf ausgeht, die ganze Welt als Subject und Object
in die blosse Erkenntnissfunction aufzulösen. Diese Gedanken-
bewegung müssen wir wenigstens in einigen grossen deutlichen
Zügen skizziren.
Das Neue in dem Platonischen Standpunkt gegenüber dem
alterthümlichen Idealismus besteht zunächst in der erkenntniss-
theoretischen Beachtung der Goordination zwischen Object und
Subject, wonach sich die Welt in zwei Sphären scheidet, in die
Sinnenwelt (yatvöjjLsva, mundus sensibilis) und in die Vernunft -
weit (voo6|isva, mundus intelligibilis), jenachdem die Objecte
durch die Sinnlichkeit oder durch die Vernunft dargeboten und
erkannt werden. Piaton will nun aber nicht etwa die ganze
objective Welt bloss für eine Illusion, für eine Projection der in ,
Teiohmüller, BellgionspliüoBophie. ui92^eu uy ^^OOgiC
498 . Pantheismus des Gedankens.
unserer Sinnlichkeit und in unserer Veraunft gegebenen Vor-
stellungen und Erkenntnissformen erklären und nach Art des
subjectiven Idealismus dieses ausser uns nicht vorhandene Ob-
ject wieder in uns zurücknehmen, sondern er bleibt, wie der in
der neueren Zeit sogenannte absolute Idealismus, bei der Ueber-
zeugung stehen, dass die projective äussere Welt wirklich vor-
handen ist, indem er sich nur dadurch von der alterthümlichen
Auflfassungsweise unterscheidet, dass er die Correlation zwischen
der subjectiven und objectiven Seite betont und also das Auge
beständig auf die Erkenntnissfunction richtet. Deshalb muss die
subjective, d. h. die erkennende Seite von demselben Wesen
• sein, wie jedesmal das zu erkennende Object beschaffen ist,
wenn die Erkenntniss möglich sein soll; denn wäre eins von
beiden in irgend einem Punkte verschieden, so würden wir ja
mit unserer subjectiven Seite den objectiven Inhalt nicht er-
fassen.
Daraus folgt, dass die Sinnlichkeit etwas Materielles ist,
oder mit dem Körper verwachsen bleibt, oder in den Organen
des Leibes sitzt, weil sie Materielles erkennen soll, und dass die
Vernunft andererseits rein und möglichst immateriell werden
muss, weil sie das Immaterielle und Reine (stXtxpiv^«;) zu erkennen
hat. Die ganze Seele aber, welche beide Erkenntnissver-
mögen, d. h. Sinnlichkeit und Vernunft, in sich schliesst, muss
darum einerlei sein mit dem Wesen der ganzen objectiven Welt,
der Mikrokosmos mit dem Makrokosmos.
Da sich nun Alles bei Piaton um die Erkenntnissfunction
dreht, so müssen die wichtigsten Dinge natürlich unerklärt bleiben
oder missdeutet werden, weshalb er weder von Gott, noch von
Seele, Religion, Materie, Gefühl oder Willen und Bewegung eine
befriedigende Erklärung geben kann und darum auch das Er-
kennen überhaupt und die Vernunft selbst nicht recht zu stellen
weiss, weil er fllr sie den zugehörigen Ort in dem Coordinaten-
system unserer geistigen Functionen nicht gefunden hat.
Was zunächst die Materie betrifft, so blieb sie ihm, wie
allen Idealisten, nur definirbar als die Möglichkeit, zu Vor-
stellungen und sinnlichen Formen zu kommen; denn an sich
musste sie ja Nichts ((itj Sv) sein, da das Etwas erst anfangt,
wenn Etwas erkannt wird, weil ohne Correlation der objectiven
und subjectiven Seite nichts ist. Mithin ist die Materie unseres
uiuiüzeu uy "V-j vy\J>t Iv^
Dogmatik. 499
Körpers ihrem Wesen nach durch die Functionen der Sinnlich-
keit zu bestimmen und die Materie der Körper ausser uns durch
dieselben Sinnesperceptionen als objective gedacht. Die materielle
Welt ist darum nur verborgene Sinnlichkeit.
Die Vernunft aber mochte Piaton nicht von der Materie
gänzlich abtrennen, sondern betrachtete sie gewissermassen nur
als eine Aussiebung der Sinnlichkeit; denn im materiellen und
sinnlichen Oebiete gehen alle Eindrücke und Formen durchein-
ander. Sobald man aber jedes, was Eins und einfach ist, von
dem andern scheidet, so hat man eine Idee, wie z.B. die Idee
des Weissen und Geraden, die nun nicht mehr materiell und
sinnlich ist. Das materielle und sinnliche Weisse ist nämlich
immer mit Anderem verbunden, z. B. mit etwas Geradem oder
Krummem, mit etwas Lebendigem oder Todtem, mit etwas Langem
oder Kurzem u. s. w. und wird so als weisser Stock, weisser
Vogel u. s. w. zusammen aufgefasst. Sobald man aber vermag,
das Weisse an und für sich rein abzusondern, so hat man, nach
Platon's Meinung, eine Vemunftthätigkeit ausgeübt und eine
Idee erkannt. Mithin sind in der objectiven Sinnenwelt alle
Ideen durcheinandergemischt, wie in dem sinnlichen Bewusstsein
alle zugehörigen Vorstellungen. Und die Materie ist daher an
sich gar nichts ausser dem Chaos dieser Ideen. Mithin kommt
ein Ding zum Werden, wenn aus diesem Chaos einige Ideen
verbunden und von anderen Ideen abgesondert werden, weshalb
dem Piaton wegen der Absonderung der Satz gilt: omnis deter-
minatio est negatio, obwohl er zugleich die Positio behaupten
musste, sofern die bestimmten Ideen selbst, welche verbunden
und von den andern abgesondert werden, nichts weniger als
bloss negativ sind.
Da nun aber die Formen der Verknüpfung, die Relationen
und Orcbungen der einfachen Ideen und ihrer concreten und
abstracten Verknüpfungen auch wieder erkannt werden und
zwar, ebenso wie die einfachen Ideen, durch die Vernunft, so
erschien ihm die Vernunft als der eigentliche Herr und Meister
der Welt, da sie, objcctiv oder projectiv gedacht, der Grund der
objectiven Weltordnung und, subjectiv beachtet, in uns der Grund
der Erkenntniss dieser objectiven Welt ist.
So kam es, dass fllr Piaton, wenn es erlaubt ist, das Ge-
sagte noch einmal zu wiederholen und zusammenzufassen, die
uiuiiizeu uy V^JV^V^V IV^
500 Pantheismus des Gedankens.
Materie unerfindlich blieb, ebenso wie der Gott, da ihm die
Materie bloss die Möglichkeit oder unbestimmbare Fähigkeit
war, in ihrem jungfräulichen Schoss die Ideen aufzunehmen und
zu gebären. Die Materie ist die Vernunft in ihrer chaotischen
Auflösung, und die Gottheit ist die Vernunft in ihrer reinen Ab-
sonderung und in ihrer geordneten Form. Das aber, worauf
Alles schliesslich hinausläuft, der Zweck und das Ziel (oo evsxa),
muss dasselbe sein mit dem, was sich nach diesem Ziele hin-
bewegt, es sucht und darin endigt (svexa too), und folglich muss
Materie und Gott im Grunde Eins sein trotz des grössten Gegen-
satzes, so dass die Vernunft Anfang und Ende aller Dinge ist.
Daraus aber ergiebt sich, dass die Vernünftigen und Weisen,
oder die Wissenden, welche die sich selbst erkennende Ver-
nunft darstellen, als die Vollendung der Welt betrachtet werden
müssen, weshalb sie auch die Vollendeten (tsXeStov) heissen und
poetisch als verkleidete Götter geschildert werden, die zwar von
Aussen sterblicher Leib und wie andre Menschen anzusehen er-
schienen, wenn sie aber ihr Inneres aufthäten, göttlich und herr-
lich und voll ewigen Lebens wären.
Da nun Piaton die Materie so fasste, wie es Aristoteles
später bestimmter terminirte, nämlich als das dynamische Frincip
der Idee, dessen Wesen nichts Besonderes an sich ist, ausser
dem dass die Form oder Idee darin zur Wirklichkeit, zur Fun-
ction (sv^p^eta) kommen kann, so musste ihm die Bewegung,
das beständige Werden mit seinem Entstehen und Vergehen den
Charakter des Materiellen und Einzelnen bilden; da aber alles
Werden doch inmier in den bestinumten Entwickelungs- und Ord-
nungsformen der Vernunft bleibt, so strebt die Platonische Welt
weder historisch einem Ziele in der Zukunft entgegen von einem
bestimmten Anfange aus, noch erreicht sie nach gewissen grossen
Perioden dieses Ziel, um dann kyklisch von Neuem ihren Kreis-
lauf zu beginnen, sondern sie geht in ewiger Bewegung von
einem der Zeit nach anfangslosem Anfange aus einem der Zeit
nach endlosen Ziele zu, indem sie bei diesem Werden inhaltlich
oder qualitativ immer zugleich ihr Ziel voll erreicht hat und also
beweglich und feststehend, unvollendet und vollendet, zeitlich
und ewig, sinnlich und intelligibel zugleich ist.
Natürlich müssen bei einer so falschen Philosophie eine
Menge Unklarheiten und Widersprüche überall auftauchen, weil
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Dogmatik. 501
die Welt eben nicht bloss die Objectivität unserer Erkenntniss-
funetion ist, und weil der denkende Mensch und Piaton ins-
besondere grösser und reicher ist, als der blosse Denker. So
konnte es z. 6. dem Piaton im Kampfe mit den zur Auflösung
des politischen, religiösen und sittlichen Bewusstseins drängenden
Parteien seiner Zeit nicht entgehen, dass die Welt eine ge-
schichtliche Ordnung haben müsse. Deshalb orakelt er eine
mystische Zahl kyklischer Umwälzung in die Welt im An-
Bchluss an die astronomischen Phänomene. Gleichwohl wider-
spricht diese historische Auffassung seiner ganzen Philosophie,
wonach die Welt als ein immer identischer seliger Gott erscheint,
der ohne Werden in dem zufillligen Durcheinander der irdischen
einzelnen Phänomene stets vollendet ist.
Ebenso gross sind die Unklarheiten und Widersprüche, die
sofort in*s Auge springen, wenn man nach der Natur der ein-
zelnen Wesen fragt und wodurch sie ihre Einheit und Indi-
vidualität erhalten. Sowohl Piaton als Aristoteles und die Scho-
lastiker konnten auf diese Frage keine- befriedigende Antwort
geben, indem ihnen entweder das Generische und Specifische (die
sogenannte humanitas) die Hauptsache zu sein schien, während
das Individuelle als bloss zuföUig und materiell galt, oder die
Individualität (z. B. die Socratitas) ebenfalls als eine logische
Essenz unbekannten Ursprungs in den Zusammenhäng der Er-
scheinungen projicirt wurde.
Natürlich konnte für keinen Idealisten der Wunsch einen
Sinn haben, das individuelle Menschlein oder die individuelle
Seele unsterblich und ewig zu machen, weil alles Einzelne als
solches, d. h. als Nicht -Allgemeines, noth wendig zufällig und
vergänglich und werthlos sein musste. Wie aber die Zeit in
unklarer Weise als sinnliches Bild der Ewigkeit gefasst wurde,
da sie anfangs- und endlos und also unendlich ist, so suchte
man auch flir die Ewigkeit und Identität der Ideen Spiegel-
bilder in der zeitlichen Erscheinungswelt und fand sie in der
Erhaltung der Gattung und im Ruhm. Wegen der Correlation
zwischen der Idee und ihren Erscheinungen mussten diese von
einem Streben und einem Triebe ergriffen zu sein scheinen, eine
solche Unsterblichkeit zu erlangen, weil ja sonst, wenn nämlich
etwa eine Species von Thieren in der Welt der Erscheinungen
verschwände, die Idee ihrer Identität verlustig ginge.
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502 Pantheismus des Gedankens.
Die Krone konnte sich der Idealismus aber nur dadurch
auf das Haupt setzen, dass er durch die Philosophie über alles
Einzelne der Erscheinungen hinausging und die ewigen und
identischen Ideen selbst im Denken und in der intellectualen
Intuition erfasste. Dadurch wurde ja mitten im rauschenden
Strom des Vergänglichen das Unvergängliche zum Ereigniss und
zur Wirklichkeit, und dies ist daher die Spitze des Idealismus,
der Sinn der Welt, das aufgelöste Räthsel, der eigentliche Geist,
nämlich dass wir das Ewige erkennen und somit ein ewiges
Leben*) in der Zeit führen, solange wir in der vollen reinen
Erkenntniss stehen, möge man diese absolute Vereinigung des
Werdenden mit dem Ewigen, des Denkenden mit dem Gedachten,
des Subjects mit dem Objcct, der Materie mit der Idee, des
Einzelnen mit dem Allgemeinen, des Sensiblen mit dem Intelli-
giblen, oder der Welt mit Gott in soliderer Weise durch stramme
Dialektik oder in romantischer Weise durch neuplatonische
momentane Verzückungen oder Transfigurationen erreichen, immer
liegt in diesem Akt der Apotheose des Menschen in der Er-
kenntnissfunction, die' höchste Leistung des Idealismus und das
kürzeste und prägnanteste Symbol seiner Dogmatik.
*) Soeben geht mir eine interessante Abhandlung zu, die D. G. Bitchie
in der Aristotelian Society in Oxford gelesen und im Mind (Quarterly Review
of Psychology and Philosophy Vol. XI No. 43 p. 353—376) publicirt hat.
Die Untersuchung dreht sich unter dem Titel „on Plato's Phaedo** besonders
um meine Auffassung der Platonischen Unsterblichkeitslehre und bietet an-
regende Gedanken. Obgleich hier nicht der Ort für eine Erwiderung ist, so
erlaube ich mir doch ein paar Bemerkungen.
Es freut mich, dass Ritchie so kräftig p. 373 betont, dass Platon's
Beweise auch im moralischen Gebiete doch immer die Erkenntniss (Know-
ledge) im Auge haben, und pag. 376 dass Piaton die Seele nicht als Monade
oder Atom auffasse, sondern (p. 375) ihr Wesen in der Vernunft (Reason =
voü?) finde; wenn Ritchie trotz dieser principiellen üebereinstimmung mit
mir die Unsterblichkeit bei Plato zwar nicht mehr als Dogma, aber doch
noch als eine Hoffnung festhalten will, so möchte ich glauben, dass er
seine Stellimg zur Frage modificiren könnte, wenn er neben den Studien zur
Gesch. d. Begr., die er citiert, auch noch von meinen späteren Schriften
Kenntniss genommen hätte; denn da er p. 355 eine Entwickelung Piatons
fordert, so müssen ihm gerade meine „Literarischen Fehden im vierten Jahr-
hundert V. Chr." I und U dienlich sein, weil ohne Chronologie der Pla-
tonischen Dialoge jenes Postulat unfruchtbar bleibt. Auch die von mir aus
den Dialogen erhobenen biographischen Elemente sind recht brauchbar für
Dogmatik, 503
Es ist nun ersichtlich, dass die Welt sofort Kein Duaiiernns
alles Lebens beraubt würde, wenn wir das ideale »ber
Princip als das allein Seiende setzten; denn das ^yiozoiamua.
Intelligible ist schlechthin identisch und unveränderlich. Ebenso-
wenig könnten wir das materielle Princip zum alleinigen machen;
denn die Welt würde, ohne die Ideen auszudrücken, sofort in's
Nichts zurücksinken, da ja alles, was wir von der Materie aus-
sagen könnten, immer nur Prädicate, Erkenntnissformen, d. h.
Ideen wären, die doch als abwesend gedacht werden sollten.
Folglich bedurfte Piaton eines ursprünglichen und ewigen Gegen-
satzes zur Welterklärung, eines Princips der Veränderung und
eines Princips des Seins oder der Form. Es ist darum natür-
lich, dass man ihn zum Dualisten gemacht hat, und es lässt sich
auch nicht leugnen, dass er sowohl, wie jeder Idealist, un-
föhig sein muss, diesen ihm unentbehrlichen ursprünglichen
Gegensatz zweier Principien aufzuheben und die Welt auf ein
einziges Princip zurückzuführen.
Allein trotzdem wäre diese Kritik Piaton gegenüber un-
gerecht, weil Piaton zu gebildet war, um seine Philosophie mit
einer Deduction anzufangen. Er geht vielmehr von einem ana-
lytischen Verfahren aus und entdeckt in dem einheitlichen
Ganzen der Welt diese zwei von einander unzertrennlichen gegen-
sätzlichen Principien. Mithin hat er von vornherein die Einheit
als eine erfahrungsmässig gegebene in sicherem Besitze,
die Interpretation, wie Ritchie z. B. die von ihm p. 375 aufgestellten Ideal-
bilder des Tyrannen und Philosophen als des schlechten und guten Mannes
erfreulich durch das historische Motiv des Aufenthaltes Piatons bei Dionysios
erläutert finden würde, ebenso wie die Frage, ob Piaton Naturgesetze kennt
(p. 363), die Berücksichtigung der Physik der Erde erfordert, die Piaton im
Anschluss an seinen Besuch des Aetna ausbildet. Wenn Ritchie es für
möglich hält, die Unsterblichkeit bei Plato als „a myth of approximation
for the philosopher" (p. 360j aufzufassen, so müsste er erst meine Ausein-
andersetzung mit Bonghi (Literar. Fehden II) hinzunehmen. — Eine De-
finition von Substanz ohne Beweis zu geben (vergl. Ritchie p. 366), kann
ich nicht für räthlich halten, und in dieser Frage möchte ich ebenso, wie
in Betreff der zu günstigen Meinung, die Ritchie p. 367 von Lotzens De-
finition hat, eine Kenntnissnahmo von meiner Grundlegung der Metaphysik
für nützlich halten. Für die Beurtheilung der Unsterblichkeitslehre bei
Plato scheint mir auch der Zusammenhang der Begriffe von Parusie, Ente-
lechie und „ewigem Leben", worüber der dritte Band meiner Aristotelischen
Forschungen handelt, unentbehrlich zu sein.
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504 Pantheismus des Gedankens.
weshalb seine Philosophie monistisch ist, und Piaton hat auch
fiir diese thatsächliche Einheit des identischen und beweglichen
Elementes den Begriff der Seele, sowohl der individuellen, als
der Weltseele deutlich hervorgehoben. Da er aber nicht im
Stande war, die Einigungsweise der Gegensätze zu zeigen, so
behielt er nothwendig den dualistischen Zug in seiner Philosophie.
Ich nenne deshalb sein System Hylozoismus, weil die Materie
darin als belebt und beseelt und vernünftig vorgestellt werden
muss, ebenso wie die Idee als verflochten in die Bewegung und
Veränderung und in die Materie, indem die Einheit nur in der
empirischen Weise, wie bei Thaies, an den lebendigen Orga-
nismen, an Thier und Mensch, und an allen Functionen derselben
analytisch aufgezeigt wird.
§ 3. Theologie.
Wichtig aber ist die Frage, ob der Idealist nicht doch etwa
noch einen persönlichen Gott ausser sich und der Welt annehmen
könne; denn man findet ja unter den modernen Idealisten ganze
Herden von Schriftstellern, welche in dieser scheinbaren Ver-
einigung mit der christlichen Theologie keine Schwierigkeit sehen.
Allein nur der ftlr speculatives Denken weniger begabte Aristoteles
ist die Ursache gewesen, dass solche Verwirrung in den wissen-
schaftlichen Köpfen Eingang fand.
^j^ Aristoteles konnte nämlich die Unklarheit, die
AriBtotoiiHche in dcm Platonischen System in Beziehung auf den
Theologik. Begriff des Wesens (Substanz, ooala) steckte, nicht
vertragen; denn bei Plato galten zwar alle einzelnen Erschei-
nungen als Wesen, ihr wahres Wesen aber sollte in den Ideen
liegen, die doch nur im Geist und zwar in der Philosophie er-
kannt werden und also allgemeiner Natur sind. So wurde
Piaton von dem individuellen Dasein der einzelnen Wesen fort-
getrieben zu dem Allgemeinen, welches er schliesslich nur in
unklarer Weise an das All anhängen konnte. Dieses Allwesen
war nun dem Aristoteles zu mysteriös, und seine eigenthümliche
Leistung besteht darin, den Begriff der Substanz, wenn auch
nicht erklärt, so doch wenigstens deutlicher eingetheilt zu haben.
Er theilte nämlich alle Wesen zunächst in zwei Classen, in
immaterielle und materielle. Die materiellen schied er wieder
uiymzeu uy V^jOOV IC
Dogmatik. 505
in zwei Regionen, jenachdem sie vergänglich oder unvergäng-
lich wären.
Die vergänglichen, sensiblen, d. h. an den vier Elementen
hängenden Wesen sind die Individuen unter der Mond-
sphäre, wie der Ochs, das Pferd und der Mensch. Die unver-
gänglichen sensiblen Wesen aber sind ihm auch wieder zweierlei.
Die Astronomie hatte ihn nämlich dazu gefllhrt, neben den vier
Elementen den Aether als ein im Kreise laufendes, in ewiger
Bewegung befindliches fünftes Element (Quintessenz) anzuer-
kennen. Was nun in dem Aether als Erscheinung sichtbar war,
musste ein zwar individuelles, aber doch unvergängliches Wesen
bilden. So nahm er denn, wohl weil er sich vom Volksglauben
nicht ganz losreissen konnte, Stemgötter an und betrachtete auch
die Sonne als einen lebendigen Gott. Die Göttlichkeit dieser
Weltkörper schien ihm aus ihrer zeitlosen Energie, aus ihrer
erfahrungsmässigen Unvergänglichkeit, aus ihrem streng gesetz-
lichen Thun und aus dem ätherischen Element, aus dem sie
bestehen, zu folgen. Schon die Pythagoreer hatten die Region
über dem Monde als die göttliche bezeichnet, weil erst unter
dem Monde die Zufälligkeit, die Sünde und alle Unordnung an-
zutreffen, in der Aetherregion aber keine ungesetzliche Abweichung
jemals beobachtet worden sei, und wir sehen einen Rest dieser
Vorstellung in der interpolirten Stelle des Vaterunser, wo es
heisst: „Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf
der Erde".
Ausser den Stemgöttem aber waren nach Aristoteles auch
unter dem Monde alle Arten (eid-q, species) der Thiere zwar
nicht individuelle, aber doch selbständige göttliche Wesen, weil
sie sich durch die Zeugung unsterblich erhielten und nach seiner
Meinung ebensowenig einen Anfang in der Zeit genommen hatten.
Unklar blieb ihm jedoch die Gemeinschaft dieser vielen Wesen
untereinander, da ihm der BegriflF der Natur durch die Abwen-
dung von Piaton verloren gegangen war und nur zu einem
Abstractum werden konnte.
Dies also sind die Arten der mit der Materie verwachsenen
(sensiblen) und theils vergänglichen, theils unvergänglichen, theils
individuellen, theils universalen Wesen. So bleiben nur die im-
materiellen (intelligiblen) Weseji übrig. Als ein solches er-
kannte er nun in Platonischer Weise die Vernunft (voö<;) an.
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506 Pantheismus des Gedankens.
Diese hat natürlich keine Individualität, sondern ist wesentlich
Universalität und Identität, und kommt daher in den Menschen
von Aussen wunderlich zur Thtir herein, wie bei Piaton aus dem
Himmel. Etwas Genaueres darüber, wie sie mit dem Individuum
zusammenhängt, konnte er selbstverständlicher Weise nicht an-
geben; dass sie aber allgemein und identisch in allen Menschen
war, zeigte die Erfahrung durch die Wissenschaft, welche ihr
identischer und allgemeiner Inhalt ist. Da sich die Vernunft
des Menschen aber auf die ganze Welt als ihr Object bezieht
und die Welt mithin auch (wegen der Identität von Subject und
Object in aller Erkenntnissfunction) vernünftig sein musste, so
sah sich Aristoteles genöthigt, wie Plato, auch noch eine Welt-
vemunft, d. h. einen Gott für das Universum, anzunehmen, nur
mit dem Gegensatze gegen Piaton, dass er diesen Gott (weil er
die projective Vernunft ist) nicht mit der Materie verwachsen
sein lassen wollte. Da er aber doch immer ein Subject brauchte,
um ein Object denken zu können, so drohte ihm auch immer die
Platonische Verschmelzung des Gottes mit der Welt, und er
suchte sich durch den Begriff der Transfiguration der Materie
zu retten. Wenn man nämlich die Materie, die allem Erschei-
nenden zu Grunde liegt (droxsijisvov, Substrat, Subject), von aller
Besonderheit befreit, so bleibt von ihr zuletzt nichts Anderes
übrig, als bloss der Träger (Subject) des Iritelligibeln zu sein,
welches ja als Object in der Erkenntnissfunction mit seinem
Subject identisch und Eins ist. So lange die Materie noch eine
concreto Erscheinung bildet, steckt immer auch neben der Ver-
nunftform eine sinnliche und zufällige Einzelform in ihr; wenn
man ihr aber immer mehr auf den Grund geht, so wird sie ganz
transfigurirt oder verklärt, d. h. es zeigt sich, dass ihr letztes
Wesen die Fähigkeit ist, die intelligiblen Formen zur Wirklich-
keit zu haben. Somit ist sie endlich reiner Akt (actus purus)
geworden und also völlig unkörperlich (nicht -sensibel), allge-
mein, intelligibel und identisch mit ihrem Object. Obgleich
Aristoteles diesen Gedankengang, wie ich in meinen Studien zur
Geschichte der Begriffe gezeigt habe, von Anaxagoras und Piaton
herübergenommen hat, so benutzte er denselben doch dazu, um
gegen die Platonische Weltseele einen sich selbst denkenden,
von der wirklichen Welt reinlich abgetrennten Gott heraus-
zuarbeiten, dessen ganzer Inhalt freilich auch nur Erkenntniss-
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Dogmatik. 507
fanction war. Eine Folge dieser Theologie war, dass sich sofort
ein Streit in der Schule der Peripatetiker und später endlos
unter allen Scholiasten darüber erheben musste, wie sich dieser
projective Vemunftgott zu der menschlichen Vernunft verhielte,
die ja auch ein ewiges und selbständiges, von den Individuen
gänzlich abgetrenntes Wesen bildete; denn da ihr wesentlicher
Inhalt völlig identisch war, so schien die Möglichkeit nahe zu
liegen, den Aristoteles platonisch zu interpretiren, d. h. die gött-
liche Vernunft als eine und dieselbige in allen Menschen und
in der ganzen Welt anzunehmen; allein dagegen sprachen wieder
sehr viele deutliche Stellen der Aristotelischen Metaphysik und
die Analogie mit den Sterngöttem, so dass man für endlose Zeit
genügendes Material hat, um pro und contra zu disputiren. Ich
habe mich an dieser Disputation aber nicht betheiligt, sondern
durch Nachweis der Entstehung der Aristotelischen BegriflFe dar-
gelegt, woher die Widersprüche nothwendig werden mussten.
Hiermit nehme ich denn auch den Faden der oben ange-
knüpften Untersuchung wieder auf, da ich zeigen wollte (S. 504),
dass Aristoteles allein die Ursache ist, weshalb auch noch unsere
heutigen christlichen Theologen vielfach glauben, dass der
Idealismus in der Philosophie mit dem Ghristenthum verträglich
sei. Es liegt nämlich eine fallacia ex accidente vor. Denn
weil Aristoteles ein Idealist genannt werden muss und doch
einen Gott ausser der Welt lehrt, so scheint der Idealismus mit
christlicher Theologie irgendwie tibereinstimmen zu können, was
z. B. bei dem Materialismus ersichtlich nicht der Fall ist. Man
vergisst eben, dass zwischen Idealismus und der Lehre eines
Idealisten ein ungeheurer Unterschied bestehen kann; denn es
giebt wohl keinen Idealisten, der nichts als reinen Idealismus
gelehrt hätte. Und dies wird gerade bei Aristoteles, der die
Jahrhunderte mit seinem Geiste beherrscht und die christlichen
Denker oft mehr als das Evangelium inspirirt hat, völlig evident,
da bei ihm zwar der Idealismus in den Begriffen, durch welche
er denkt, noch massgebend ist, während er doch zugleich zu
einem ganz kläglichen Pluralismus oder idealistischen Atomismus*)
tiberging, entweder weil er nicht im Stande war, den Platonischen
Idealismus vollkommen zu fassen, oder, was man zu seiner
*) Vgl. meine Neuen Studien zur Geschichte der Begriffe, Bd. III, S. 421.
uiuiiizeu uy V^J W\J>t Iv^
508 Pantheismus des Gedankens.
Entschuldigung oder Verherrlichung sagen kann, weil der
Piatonismus auch keine Deutlichkeit und Annehmbarkeit besass
und keine Fortentwickelung vertrug, weil er eine ganz einseitige
und fehlerhafte Weltansicht enthält, weshalb es kein Wunder
ist, wenn der Aristotelische Versuch, die genauere systematische
Durchfllhrung zu leisten, zu einem solchen Flickwerk fllhrte.
Die Verkehrtheit der Aristotelischen Annahme will ich nun
an einem Beispiele veranschaulichen. So fragte er^ womit sich
die Stemgötter, die später mit den Engeln identificirt wurden,
beschäftigten, und antwortete, dass sie nur theoretische Be-
trachtungen anstellen könnten, da jede praktische und künst-
lerische Beschäftigung ihrer, ebenso wie des höchsten Gottes,
unwürdig wäre. Ihre Bewegungen glaubte er als ein Spazieren-
gehen denken zu müssen, das sie zu ihrer Gesundheit noch
nöthig hätten, weil sie noch nicht so vollkommen wären, wie
der höchste Gott, der gar keiner Bewegung mehr bedürfte,
während ihnen Nahrung, Schlaf und die anderen Bedürfnisse der
sterblichen Wesen freilich auch nicht mehr von Nöthen wären.
Was sie nun aber näher für theoretische Gedanken hätten, auf
diese Frage liess sich Aristoteles nicht ein; er hätte sie sonst
wohl zu Mathematikern machen müssen; denn ftir den höchsten
Gott reservirte er die reine Vemunfterkenntniss. Diese höchste
theoretische Beschäftigung ist aber armselig genug für die Spitze
der Welt; denn da die Vernunft in den paar Kategorien ihren
Inhalt hat, so muss nun Gott (weil die Vernunft das Höchste in
der Welt ist und Gott doch nichts Schlechteres, als was er
selbst ist, oder gar Irdisches oder Einzelnes denken kann) inuner
und ewig ohne Abwechselung diese paar armen Kategorien
denken, und es macht sich fast komisch, wenn Aristoteles diese
unaufhörliche schlaflose Energie im Denken, wobei das Subject
in das Object rein aufgeht, ftir staunenswerth, göttlich und selig
erklärt und dagegen den Menschen verachtet, der in seiner
künstlerischen, politischen oder persönlichen Thätigkeit an einzelne
und zufällige Dinge und Personen denken müsste und noch
dazu allerlei Affekte hätte, während nach seiner idealistischen
Meinung das WerthvoUe erst mit der Erkenntnissfunction anfängt
und mit dem durch Abstraction oder Induction gewonnenen
Allgemeinen der Vernunft endigt
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Dogmatik. 509
Doch es mag hiermit genug über Aristoteles geredet sein^
und wenn er nicht, wie gesagt, die Jahrhunderte und selbst die
grössten Scholastiker beherrscht hätte und noch heute eine
imponirende Autorität bildete, so wäre dies Wenige wohl schon
zu viel.
Kehren wir nun zum ächten Piatonismus zurück ^ piatoniachen
und fragen wieder, ob der Mensch noch einen Gott ideausmua
neben sich dulden könne. Wer nun in speculativem «^^^^ ^^^^^^^^
Denken geübt ist, wird gleich wissen, dass es sich aisseibBtändiges
hier um den BegriflF des Seins dreht. Nun setzt ^^®'^'
Plato zunächst die einzelnen in der Erfahrung gegebenen Dinge
(d. h., kritisch ausgedrückt, unsere projicirten Anschauungsbilder)
als das erscheinende Sein; demnächst findet sich, dass diese
Dinge entstehen und vergehen, also bloss Werdendes, bloss Bei-
spiele und Erscheinungen eines Andern, nämlich des Allgemeinen,
der Ideen sind, und somit werden die ewigen und identischen Ideen
(d. h., kritisch ausgedrückt, unsere projicirten Begriffe) zu dem
wahrhaft Seienden. Mithin wird das Seiende überhaupt nur
als ideelles Sein, als Inhalt der Erkenntnissthätigkeit aufgefasst.
Nun lässt sich dadurch aber die Veränderung der Dinge nicht
begreifen; also wird als geheimnissvolles Princip, das eigentlich
Nichts, d. h. kein Inhalt der Erkenntnissthätigkeit, ist, noch die
Bewegung, d. h. die Materie (oder, kritisch ausgedrückt, die
Veränderlichkeit der Bewusstseinserscheinungen) hinzugenommen.
So sind die beiden gegensätzlichen Bedingungen da, aber es
fehlt das Ich, die Substanz, und dieser Fehler durchzieht noth-
wendig den ganzen Piatonismus. Denn nun muss sich die ganze
Platonische Welt der Logik gemäss zwischen dem Einzelnen
und Allgemeinen, oder dem Vielen (roXXa) und Einen (ev), dem
Sinnlichen und Intelligibeln, dem Zeitlichen und Ewigen, abspielen,
und es muss das Allgemeine, Eine, Intelligible, Ewige die Kolle
des Besseren und des Göttlichen erhalten, wie umgekehrt das
Einzelne, Viele, Sinnliche und Vergängliche die Rolle des
Schlechteren und Irdischen zugetheilt bekommt. Welche Stellung
hat demgemäss das Ich? die Einzelseele? Sie ist ja ein Einzel-
nes, und es giebt viele einzelne Seelen; sie ist auch in der Zeit
und in Bewegung: so gehört sie zu dem Schlechteren und Ver-
gänglichen; durch ihr Wissen aber steht sie mit den Begriffen,
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510 Pantheismus des Gedankens.
also mit dem Göttlichen, in Verbindung und kann sieh zum
Göttlichen, wie zum Himmel, als zu ihrem wahren Wesen und
zu dem an sich wahren Sein erheben. Kritisch ausgedrückt
bedeutet dies nichts anderes, als dass wir unter allem Inhalt
der Erkenntniss den sinnlichen für den werthloseren, den begriff-
lichen aber oder das Wissen flir den eigentlichen Mittelpunkt,
ftir den Zweck und das Ziel des Lebens halten, weshalb wir
erst eigentlich zu leben glauben durch das Wissen, in Wahrheit
aber zu sterben meinen, wenn wir zur Beschäftigung mit dem
Sinnlichen zurückkehren. Alle diese Werthbestimmungen
müssen aber, und wenn sie noch so enthusiastisch ausgedrückt
sind, ihrer Quelle nach verborgen bleiben; denn dass sie bloss
auf den logischen Erkenntnissprocess zurückgehen und nur
durch eine instinctive Subreption ethisch und religiös gedeutet
werden, darf nicht zum Bewusstsein kommen, wenn der Idealismus
bei Kräften bleiben soll.
Also giebt es kein Ich als Wesen, sondern nur als Erschei-
nung, und folglich kann es kein einzelnes Wesen geben, das
nicht blosse Erscheinung und Beispiel eines Allgemeinen wäre.
Mithin kann Gott nur als das Göttliche gedacht werden, das
allgegenwärtig und ewig in allem und jedem Einzelnen erscheint
und offenbar wird und nur im Wissen zu sich kommt als Geist, der
sich selbst erkennt als die Wahrheit. Mithin kann Piaton und
jeder Idealist von Gott oder dem Göttlichen, bis er sich selbst
erkennt, keine klare Vorstellung oder keinen Begriff haben,
sondern er muss das Göttliche als in der Materie verborgene,
unbewusste Vernunft, als saamenartige Vernunft oder als mit der
Materie indifferenziirt oder sonst in unklaren und durch kein
Denken erhellbaren Bildern und Worten bezeichnen, während es
erst im Menschen, der sich aus dem anschaulichen Vorstellen
zum Begriff, zur Wissenschaft und zur Philosophie erhebt, zum
Selbstbewusstsein kommt. Die Philosophen werden ihm daher
zu den eigentlichen Göttern und der Gott wird nothwendig
Mensch, weil das Göttliche in der Stufenfolge der Erscheinungen
nur in diesem sich in seiner Wahrheit offenbart.
Demnach ist bei Piaton der erste, d. h. höchste Gott das
Intelligible, oder die in sich einige Ideenwelt als Object gedacht
Dieser Gott ist aber kein einzelnes Wesen und daher auch keine
Person und hat keine Gemüthsbewegung, keinen Willen, wie er
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Dogmatik. 511
auch nichts thut, und er hat überhaupt keine anderen Eigen-
schaften, als dem objectiven Allgemeinen zukommen. Der zweite
Gott ist (nach den „Gesetzen") die Seele, sofern sie das Sub-
jective bildet, oder die Bewegung, wodurch das Intelligible
intelligirt wird. So wird der Gott-Mensch allerdings noch über
sich einen Gott -Vater anerkennen; dieser muss sich aber in
einem unsagbaren Zustande befinden, weil er erst im Gott- Sohn
Sprache und Vernunft erhält durch die subjective Seite. Angelus
Silesius drückt dies in biblischer Form so aus: „Ich muss Maria
sein und Gott in mir gebären."
Wenn man daher die logische Spaltung des Seienden in ein
subjectives und objectives Element, die ja doch auch nur zusammen
perfect werden, ausser Augen lässt, so muss Piaton gewisser-
massen das Chaos und die Nacht als das Erste setzen und die
Welt sich allmählich zur Vollkommenheit entwickeln lassen,
indem eine unbewusste, der Welt eingeborene objective Vernunft
die Entwickelung leitet, bis durch das Gottesbewusstsein das
Licht im Menschen aufgeht, in welchem Gott sich selbst erkennt.
Gegen diese Auffassung, die von Speusippos, dem nächsten Nach-
folger Platon's auf dem Meisterstuhle der Akademie, deutlich
und bestimmt gelehrt wurde und also damals als Piatonismus
galt, trat Aristoteles mit seiner Theologie energisch auf. Allein
Piaton selbst war vorsichtiger gewesen, nicht bloss dadurch, dass
er seine Lehre in gnostisches Geheimniss hüllte, nur auserwählte
Schüler einweihte und die draussen Stehenden bloss mit meta-
phorischer Darstellungsweise, wie sie der Pistis geziemt, abspeiste,
sondern besonders dadurch, dass er von vornherein die Unan-
fanglichkeit oder Ewigkeit der gegenwärtigen Weltordnung
lehrte. Das Vollkommene ist also nach seiner Lehre immer
gewesen und kann nur ftir die Demonstration in einen zeitlichen
Process, wie dies z. B. im Timäus geschieht, auseinandergezogen
werden. In dieser Frage, ob Ewigkeit der Welt oder kosmo-
gonischer Process undEntwickelungslehre, schwankte auch sichtlich
Aristoteles und konnte nicht wohl damit fertig werden, weil sein
Begriff von der Zeit in den Windeln der dialektischen Besinnung
stecken blieb. Darum sehen wir dies Schwanken auch in allen
folgenden Zeiten bis heute, sowohl im Ereise der allgemeinen
Bildung, als bei den Philosophen, fortdauern, wie z. B. im
zweiten Briefe Petri der angebliche Verfasser den kosmogonischen
512 Pantheismtis des Gedankens.
Standpunkt vertritt und diejenigen einzuschüchtern sucht, welche
die Unveränderlichkeit der gegenwärtigen Weltordnung annehmen;
ebenso überwiegen heutzutage die Darwinisten mit ihrer Kos-
mogonie, und es pendelt nur langsam der hinuntergedrückte
entgegengesetzte Standpunkt wieder auf. Für den Philosophen,
der über den Begriff der Zeit in's Klare gekommen, ist die
Schwierigkeit der Frage überwunden (vergl. meine Schrift:
Darwinismus und Philosophie).
§ 4. Von der Erlösung.
Die sittliche und religiöse Stellung des Piatonismus besteht
nun nothwendig in der Abwendung von dem Begehrlichen und
Leidenschaftlichen, welches mit der sinnlichen Erkenntniss und
also mit der Materie verwachsen ist, zu der idealen Seite hin,
die intellectualer Natur ist und sich also in der Erkenntniss und
Befolgung von Gesetz und Ordnung in privatem und Staats-
Leben zeigt. Die volle Erlösung aber ergiebt sich erst in dem
Uebergange zu der reinen intellectualen Thätigkeit in der Wissen-
schaft und Dialektik, in welcher das Materielle insofern ganz
verschwunden ist, als die Vielheit der einzelnen sinnlichen Gegen-
sätze und die Buntheit des Wechsels in den immer identischen
Begriffen aufgehoben wird. Das materielle Princip bleibt aber
dennoch insofern auch in der intellectualen Thätigkeit des
Menschen erhalten, als die Intelligenz ja wirklich functionirt und
also da ist. Mithin ist das Intelligible, als Object, aufzufassen
als Verklärung oder Transfiguration der Materie zu ihrem innersten
Sein, nachdem sie sich alsSubject in verschiedenen Stufen ent-
wickelt hat und zuletzt „zu sich gekommen" ist; denn das wahre
Selbst (aorö<;) ist nach Piaton die Vernunft. Aristoteles drückte
diesen Platonischen Gedanken durch den Terminus Entelechie
aus (den ich in meiner Geschichte des Begriffs der Parusie etymo-
logisch und logisch bestimmt habe), und sagte auch, es sei das
Ziel der Dinge (t^Xoc) dasjenige, was das Wesen war (t6 tC f^v
elvat), indem er das logische Verhältniss durch ein chronologisches
Verhältniss zu erläutern suchte. In die Materie wird also die
Form oder die Idee der Welt in einer zeitlosen Entwickelungs-
ordnung von Formen und Stufen hineingedacht, die dann zeitlich
Dogmatik. 513
in dem Werde- und Entwickelungsprocesse umgekehrt abläuft und
80 wieder zu sich kommt Die höchste Stufe ist das absolute
sich selbst Denken der Idee, wie es Aristoteles bezeichnete,
oder die Identität von Subject-Object in der Erkenntnissfunction.
Dies weiter philologisch zu erörtern, ist hier nicht meine
Aufgabe, ich verweise auf meine Arbeiten zur Geschichte der
Begriffe. Es ergiebt sich also, dass die Erlösung nur auf den
unteren Stufen einen politischen und sittlichen Charakter
hat, auf den höheren und höchsten aber didaktisch wird und
im Erkennen und Wissen besteht Das durch die Erlösung
zu gewinnende Gut ist die Wahrheit, die im Menschen ihr
lebendiges Dasein haben soll. Es wird hierdurch offenbar, dass
der Piatonismus und Idealismus nothwendig zu der einseitigen
Beligionsform führt, welche ich den Pantheismus des Gedankens
genannt habe.
Ich möchte nur noch bemerken, dass man an dem Verständniss
Platon's durch zwei Punkte besonders gehindert wird, einmal
durch die metaphorisch -mythische (orthodoxe) Ausdrucksweise,
die man leicht beim Worte nimmt, und zweitens durch den
Widerspruch, der zwischen der tiefen und reichen Begabung
Platon's und der intellectualistischen Einseitigkeit seines Systems
einhergeht So z. B. konnte er sich, da ihm das Göttliche in
das Materielle und Sinnliche metaphorisch vergraben war, die
älteren Vorstellungen von einer Reinigung (xiftapoic). Auf-
erweck ung und Erlösung des Menschen aneignen; wenn er
aber diese Erlösung zunächst pädagogisch, ethisch, politisch und
religiös beschreibt, so ist diese ganze grossartige und historisch
fast bedeutsamste Seite seiner Wirksamkeit eigentlich nur acci-
dentell, da sie aus seiner genialen Persönlichkeit stammt, aber
nicht aus dem System, welches bloss eine didaktische Er-
lösung kennt und daher alle anderen geistigen Lebensmächte
auch nur zu unteren Stufen herabsetzt
Ebenso nahm er zwar den Ausdruck Erlöser (£oi>n^p) aus
den volksthümlichen Benennungen der Götter für seine höchste
sittliche und politische Thätigkeit in Gebrauch; die eigenthüm-
lich Platonische erlösende Liebe gehört aber wieder nur seiner
persönlichen Gesinnung und nicht seinem Systeme zu, in welchem
die Idee der Persönlichkeit und also auch die höhere Liebe
keinen Platz hat Auch darf man nicht vergessen, dass ihm die
Telohmüller, ReUgloiuiplüloeophle. u.gt.zeu^u^y GoOQIc
514 Pantheismus des Gedankens.
Erlöser immer im Plural gemeint sind, weil seine Welt dem
Strudel der unendlichen Zeit dahingegeben ist; die historische
Auffassung der Erlösung aber, wie sie im Christenthum offenbar
wurde, blieb dem Idealisten ebenso undenkbar, wie die Persön-
lichkeit Gottes, da sich schliesslich Alles nur um den nie endenden
Fackellauf des Lebens drehte, in welchem die Fackel des Wissens
von Hand zu Hand gereicht werden sollte, und wofür das ganze
Reich Gottes nur Mittel und Werkzeug war; denn das der Welt
eingeborene Nichts zerfirisst als Vergessen die innere Habe des
Geistes und rafft auch die Persönlichkeiten unaufhörlich in den
Schlund der Vergangenheit.
Ich habe schon vielmals darauf hingewiesen, dass eine
wissenschaftliche Religionsphilosophie unmöglich wird, wenn man
statt der reinen Formen, statt der speculatiyen Oerter vielmehr
die historisch gegebenen Religionen, Secten, Confessionen und
Autornamen behandelt, weil in diesen sich inmier fremdartige
Elemente mit vorfinden, welche sowohl eine strenge Eintheilung,
als eine Ableitung des ganzen zugehörigen dogmatischen Systems
aus einem einheitlichen Standpunkte verhindern und daher die
Religionsphilosophen zu Verdrehungen, spitzfindigen Deutungen
oder zu Confusion nöthigen, was z. B. Alles bei Hegel crass in
die Augen fällt Ich wiederhole diese Bemerkung hier, weil ich
zwar Platon's Namen genannt und seine Philosophie dargestellt
habe, aber doch dem historischen Charakter des ganzen Systems
hier und da nicht gerecht geworden bin; denn ich durfte hier
nur diejenige Seite entwickeln, welche zu der reinen Form des
Pantheismus des Gedankens gehört. In meinen historischen
Schriften wird man auch die anderen Seiten berücksichtigt finden.
Deshalb will ich hier nur kurz erwähnen, dass die Erlösungs-
lehre bei Piaton zwar wesentlich eine didaktische Frage ist und
sich um Erkenntniss der Wahrheit dreht, dass Piaton aber als
Staatsmann wohl wusste, dass der Irrthum und die Sünden nicht
bloss in mangelnder Erkenntniss bestehen, sondern dass diese
mangelnde Erkenntniss auch von der Naturanlage und also von
materiellen Bedingungen und dann von der Gewöhnung und Er-
ziehung abhängen. Piaton fasste deshalb die höchste Idee, die
Idee des Guten wesentlich staatsmännisch als die conser-
vative Idee auf, da das Weltall als höchstes Princip nichts
Besseres ausser sich anerkennen und daher nur auf Selbst-
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Dogmatik. 515
erfaaltung bedacht sein kann. Mithin ist die oberste Bedin^ng
der Selbsterhaltung zwar die Erkenntniss des Wesens der Welt,
die erhalten werden soll, also die Weisheit, und so sind die
Weisen die göttlichen Erlöser; in zweiter Linie aber nimmt nun
Piaton die politische Kunst zu Hülfe, welche durch allerlei
physische und psychagogische Mittel, durch Gymnastik, Musik,
durch Gesetze und Spiele, durch Ordnung der Aemter, durch
ökonomische und sociale Massregeln und religiösen Ritus die mit
der Sinnlichkeit verwachsenen Begierden der Menschen in den
Dienst der Erkenntniss und zum Gehorsam, zum Maass und zur
Ordnung treibt. Diese ganze Seite des Platonischen Systems
gehört aber nicht in den Idealismus, weil darin geistige Fun-
ctionen auftreten, welche mit dem bloss logischen Prozess nicht
begriffen werden können und bloss empirisch von dem reicheren
Genius Piatons ergänzt wurden. Ich habe darüber bei dem
pantheistischen Staatsenthusiasmus gesprochen.
§ 5. Moderne Idealisten.
Wie dieser Platonische Idealismus nun seiner reinen
Form gemäss überall wirken musste, das gehört in ^*^**®*
die Geschichte der Philosophie und der Dogmatik, Ich will nur
an ein paar Namen erinnern, die das Gesagte zur vollen Evidenz
bringen. Nehmen wir z. B. Fichte, so ging ja mit diesem der
grosse Ich-spektakel los, und es schien Anfangs eine neue Philo-
sophie aufgekommen zu sein. Doch fand Fichte sehr bald, dass
Schelling nur seine Ideen sich angeeignet hätte, und Schelling
wieder meinte dasselbe von Hegel. Hegel endlich fand, dass
Piaton und Aristoteles im Grunde schon Alles, was er zu sagen
hatte, gelehrt hätten. Der Idealismus musste also, je mehr sich
seine Vertreter historisch bildeten, den Piatonismus als seine
Seele erkennen und zu Plato zurückkehren.
Fichte nahm nun zunächst von Kant die Materie und Form
als Principien des Bewusstseins auf und zwar in kritischer
Weise; die dogmatische Projection liess er bei Seite. Das Ich
aber war ihm bloss die Eantische Einheit des Bewusstseins und
also völlig leer und sinnlos; denn ein Grobian würde gesagt
haben, es möge der Teufel wissen, woher bei Kant die Einheit
des Bewusstseins komme. Wie räthselhaft bei Fichte das Ich
516 Pantheismus des Gedankens.
bleibt, kann man am deutlichsten daraus abnehmen, dass Fichte
dieses Ich völlig in das reine Wissen, also in die theoretische
Geistesflmction verschwinden lässt, wodurch er aber, ohne es
selbst zu ahnen, den Zusammenhang seiner Lehre mit Piaton
offenbar macht; denn obwohl er Piaton wenig kannte, so wirkten
doch die von diesem in die geschichtliche Entwickelung der
philosophirenden Vernunft getragenen Anregungen derart, dass
die meisten Philosophen, wenn nicht alle, sich entweder entgegen-
setzten oder anschlössen, jedenfalls also von ihm in ihrer Ge-
dankenbewegung bestimmt wurden. In dem später erschienenen
„Wesen des Gelehrten'^ aber nahm Fichte auch offen die Plato-
nischen Stempel in Gebrauch und arbeitete mit dem Wort „Idee"
wie ein eingefleischter Platoniker. Obgleich man nun bei einem
so wenig schulmässig gebildeten Philosophirenden, wie Fichte
war, unmöglich eine streng methodische Lehre und eine eigent-
lich wissenschaftliche Arbeit erwarten darf, so bezeugen doch
seine im gelehrten und im populären Publikum vielfach anregenden
Schriften, dass er in keinem Punkte zu einer höheren Auffassung
sich erheben konnte, als zu dem Platonischen Idealismus; doch
kann man ihm und Schelling als Verdienst anrechnen, dass sie
wenigstens den speculativen Sinn Platon's begriffen und nicht
durch die der Pistis angepasste allegorische Darstellungsweise
gefangen gehalten wurden. Gott ist demnach bei Fichte nichts
anderes, als die im Bewusstsein des Menschen zu Geist und
Wissen erwachende Platonische Idee, und obwohl die Ungebildeten
und die Orthodoxen ihm dies als Atheismus auslegten, so sah
er doch selbst ganz klar, dass er nur den äusseren Gott der
Pistiker aufgegeben und die Fülle der Gottheit im eigenen Busen
pantheistisch zur Offenbarung im Wissen gebracht hatte.
Wenn Fichte später gegen Schelling (ebenso wie früher
Kant gegen seine Kritiker) den Vorwurf des subjectiven Idealis-
mus von sich abwehrte und sein Nichtich als Nichtseiendes und
als Materie im Sinne des projectivischen Dogmatismus aufgefasst
sehen wollte, weshalb gerade er im Stande sei, die Erfahrung
und die empirischen Wissenschaften anzuerkennen, so darf man
doch nicht glauben, als wäre er aus dem Platonischen Idealismus
zu einem abgeschmackten Dualismus herausgefallen, sondern es
war ihm ganz in derselben Unklarheit, wie bei Piaton und
Aristoteles, die Materie nur der Vertreter für das reale Sein, das
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Dogmatik. 517
er noch nicht definiren konnte, und er bestimmte sie daher wie
Piaton als blosses Werden, als im Uebergang zum Bewusstsein
und zmn Wissen befindlich. Somit war die objective Idee darin
verborgen als Wesen, und es fehlte nur die subject- objective
Erfassung oder das zu sich Kommen. Doch all diese unreifen
Gedankenbewegungen verdienen ja kaum Beachtung, da sie
keinen Schritt über Piaton hinaus thun und an dem Begriff der
Zeit noch mehr stolpern als Piaton, der sie wenigstens als Sinn-
bild der Ewigkeit fasste und daher zwar keinen historischen
Aufbau der Welt, aber doch die Ahnung einer speculativen Auf-
fassung in die Philosophie brachte. Bei Fichte aber gilt die
Zeit ganz dogmatisch, und das Ich ist ihm deshalb sterblich wie
alle Erscheinungen und hat seine Ewigkeit nur in ewigen Ge-
danken, d. h. in dem ideellen Inhalte des Geistes.
Bei Hegel finden wir nur eine neue Form der
Darstellung und eine besondere Uebersicht des ge-
sammten Inhalts der idealistischen Begriffswelt, aber kaum
einen neuen Gedanken. Die Platonischen Principien, Idee und
Materie, setzte er als Sein und Nichts in ursprünglicher Indiffe-
renz an die Spitze der Weltanschauung, die er durch die in dem
Nichts gegebene und das Sein zur Differenzirung erregende
Negativität *) zu leisten hoffte. Nachdem er die allgemeinsten
*) Ich ergreife die Gelegenheit, um hier gleich auf ein Memoire zu
antworten, welches B. Spaventa in der königlichen Akademie der Wissen-
schaften in Neapel über meine Dialektik in ihrer Beziehung zur HegeFschen
gelesen hat. Das Memoire ist publicirt unter dem Titel: „Esame di un'
obbiezione di Teichmüller alla dialettica di Hegel. Memoria del
socio B. Spaventa. Napoli 1883". Der Verfasser ist leider, ebenso wie
Vera, durch den Tod seinem Vaterlande entrissen, dsw die Grösse seines
Charakters und den tiefen £mst seiner wissenschaftlichen Bestrebungen zu
ehren wusstc. Er gehörte, wie die noch energisch arbeitenden Philosophen
Bonghi und Tari, zu den vom Platonischen Idealismus begeisterten Naturen.
Da der Positivismus sich aber als eine unfertige Weltansicht, die von der
Menge leicht erfasst werden kann, mit zunehmender Verbreitung der soge-
nannten Bildung wie die Ciavierplage allgemein bemerklich macht, so ist
es natürlich, dass, wie Plato einst nur mit einem kleineren Kreise von
Freunden aus dem grossen Schwärme Protagoreischer Positivisten hervorragte,
auch solchen ihm verwandten MäJinem nur eine isolirtere Stellung übrig
bleibt, die sie aber unsrer Aufinerksamkeit um so würdiger macht.
Spaventa war nicht, wie V^ra, ein Hegelianer h, outrance, sondern
suchte, wie Tari, das System gewissermassen nach seinem eigenen Modell
zu individualisiren. Namentlich lag es ihm nach seiner tief religiösen Natur
u.quizeuuy Google
518 Pantheismus des Gedankens.
Kategorien bei den verschiedenen Stellangen der beiden dialekti-
schen Elemente als Stichwort eingeschoben, kommt er zu den
beiden Hauptgegensätzen, welche die logischen Gegensätze in
der wirklichen Welt wiederholen, zu der Objectivität der Natur
und der Subjectivität des Geistes. Auch diese Begriffe lässt er
nun, ohne sie durch wissenschaftliche Untersuchung genauer zu
erheben, allerlei Vereinbarungen eingehen und nimmt dadurch
das objective Element in den Geist auf. So bleibt ihm nur der
letzte Schritt ttbrig, den objectiven Geist und den subjectiven
Geist in dem absoluten Geist aufzuheben, welches durch das
absolute Wissen der Philosophie geschieht und wodurch der in
am Herzen, ftlr das Ich eine Selbständigkeit zu finden, und so gelangte er
von selbst zu einer Sympathie mit meiner Metai)hy8ik. Da er aber zugleich
die Hegersche Grundlage glaubte festhalten zu können, so musste sich ihm
der Versuch empfehlen, meine Dialektik mit der HegeVschen zu versöhnen,
was er in der oben angezeigten Schrift unteminmit. Dass dies aber unmög-
lich ist, möchte ich hier durch Hervorhebung der massgebenden Begriffe
darlegen.
Der Punkt, um den sich der Streit dreht, ist die dialektische Be-
wegung mit ihrer immanenten Negativität und ihrem Widerspruch.
Spaventa glaubt, bei Hegel, weil die aufgehobenen Momente nicht bloss
negirt, sondern auch conservirt werden, ein meiner Coordination ent-
sprechendes Yerhältniss der Begriffe sehen zu dürfen und mich zugleich
nöthigen zu können, da ein Begriff' doch nicht identisch mit dem andern sei,
die HegeFsche Entgegensetzung anzunehmen.
Nun ist aber erstens wohl nicht richtig, dass Hegel die Momente con-
servirt, da, wie es auch Spaventa unbefangen darstellt, in der höheren Einheit
die Momente vielmehr durch Aufnahme ihres Gegentheils umgestaltet
und entwickelt werden sollen, z. B. p. 11 : Tintelletto e la veritä. del
senso; e giacch^ il senso non isvanisce neir intolletto, anzi rimane e si con-
serva, ma non tal quäle era prima, senza o fuori dell* intelletto, e giuco-
forza conchiudere che sia modificato, trasformato, ciob in qualche modo
negato. Diese HegeFsche Auffassung entspricht jedoch in keiner Weise der
Wirklichkeit; denn wenn z. B. der Sinn das kleine Lichtbüd der Sonne
empfangt, so wird dies Bild durch den Verstand in keiner Weise modificirt
und transformirt, wenn man auch dabei durch verstandige üeberlegung eine
Kugel von riesigem Durchmesser vorstellt und die Sonne zum Mittelpunkt
des Planetensystems macht; denn der Eindruck, den der Sinn von der Sonne
empfängt, bleibt nach wie vor unveränderlich derselbe, und der klügste
Astronom kann nicht mehr sehen, als der scharfsichtige Bauer. Ich trenne
also streng die kluge Deutung des Gesehenen (die intellectuelle Arbeit)
von dem sinnlichen Eindruck und halte die Auffassung von Hegel für
eine üngenauigkeit und eine iwpulare Ausdrucksweise in der Art, wie man
sagt, dass man sich nach naturwissenschaftlichem Unterricht „ein
rncnt „ein ganz
.uy Google
Dogmatik. 519
der ursprünglichen Indifferenz potentiell gegebene Inhalt nun
actuell als Geist lebendig sich seiner bewusst wird.
Zweierlei ist flir die Stellung, die diesem System in der
Religionsphilosophie zugewiesen werden muss, von Bedeutung.
Erstens dass der absolute Geist blosse Function, reine Actualität
als Wissen ist. Hegel nämlich hat keine Ahnung von dem
Begriff des substanzialen Seins, weil ihm dies in der Geschichte
der Philosophie weder bei Spinoza, noch bei Leibnitz, noch bei
Fichte begegnet war, geschweige denn bei den Alten; er konnte
sich darum unter Substanz nur das sinnenfällige materielle
Einzelwesen denken, das er richtig als blosse Erscheinung er-
anderes Bild** von einer Sache mache. Ich läugne also erstens, dass bei
Hegel eine Conservirung des aufgehobenen Momentes stattfände, was viel-
mehr gegen den Geist der HegeFschen Dialektik streitet, zweitens, dass eine
Noth wendigkeit für mich bestünde, eine Negation zu bewilligen, da der
Verstand an dem sogenannten sinnlichen Eindruck gar nichts
negirt, sondern bloss deutet; denn wenn der Affe und das Kind hinter
den Spiegel greifen, um den gesehenen Gegenstand zu ertappen, so beruht
dies auf einer falschen Deutung, und der Naturforscher, der die Erschei-
nung optisch erklärt, yerändert und negirt nichts an dem sinnlichen Eindruck.
Spaventa will dann für die dialektische Bewegung eine besondere
Gattung annehmen (pag. 8: il movimento, come la immutabilitk deir idea
non h quella della semplice rappresentazione , anzi ^ una mobilitk e immo-
bilita sui generis.) Als Idee sei die Idee unveröjiderlich , als gedacht von
dem Denken, welches von einem Gedanken zu einem andern übergeht, sei
die Idee veränderlich; Gedachtes nnd Denken sei aber identisch, und das
Denken gehe nur zu anderen Gedanken über, weil der Gedanke selbst dazu
antreibe. Also sei die dialektische Bewegung von besonderer Gattung. Ich
kann nun eine solche Besonderheit der Gattung leider nicht zugestehen, da
solche Hegersche Bewegung ganz bekannt ist und sich überall aus der ge-
wöhnlichen Unklarheit und populären Vermischung von Vorstellung und
Begriff ergiebt; denn wenn eine Knospe sich entwickelt, ein Ei sich ent-
wickelt, ein Volk, eine Literatur, ein Charakter, ein Begriff sich entwickeln,
wie man sagt, so fasst die Vorstellung in unklarer Weise eine ganze Reihe
von Erscheinungen in ein Gesammtbewusstsein zusammen, stempelt das
Ganze durch ein Wort der Sprache und macht es zu einer mythologischen
Person, welche sowohl Eins als Vieles ist, sich verändert wegen der ver-
schiedenen Phasen und bei sich bleibt wegen der angenommenen Einheit des
Ganzen. Offenbar dürfen wir diese Sprach- und Vorstellungsweise nicht
abschaffen wollen, da sie sich nicht abschaffen lässt, sondern psychologisch
ganz erklärlich und natürlich ist und dem Menschen ebenso zugehört, wie
der Schnee dem Winter; aber wir können dadurch auch nicht genöthigt
werden, solche Personificationen für eine wissenschaftliche und philosophische
Erklärung zu halten. Denn alle diese dialektischen Bewegungen und_^oge-
uiyiiized by VjOOQIC
520 Pantheismus des Gedankens.
kannt hatte. Mithin verachtete er die grobe AuffassuDg Gottes
als einer solchen Substanz und führte sie in das feinere Wesen
des Geistes über, der ihm nach dem Vorgang der Alten nur als
actus purus erschien. So wurde ihm Gott eine blosse Function,
und darum gehört diese Theologie in den Pantheismus, und
zwar weil diese Function das Wissen ist, in den Pantheismus
des Gedankens.
Nun ist aber zweitens die Function nothwendig an die
Goordinate des Functionirenden geknüpft. Deshalb schwebt die
HegeFsche Naturphilosophie haltungslos in der Luft, weil die
Natur als blosse Erscheinung nicht weiss, wem sie erscheint und
nannten Entwickelungen beziehen sich nicht auf das reale Sein und die
wahren Wesen, sondern bloss auf die Phänomene, welche bei der realen
Wechselwirkung der Wesen in unserer Sinnlichkeit und in unseren Vor-
stellungen entstehen. So z. B. spricht man von der Vorbereitung, dem
Anfang, dem Fortgang, Ausgang und Resultat einer Schlacht. Die Schlacht
wird personificirt und ihre Entwickelung geschildert. Ebenso verhält es
sich mit allen Dingen, deren sogenannte Entwickelung, und mit allen Be-
griffen, deren sogenannte dialektische Bewegung dargestellt wird. Dabei
müssen dann zwei Maschinen gebraucht werden, um diese Theaterdecorationen
in Betrieb zu setzen, erstens die Negation oder Negativität und zweitens
die Zeit, ohne welche keine Bewegung stattfindet. Denn dasselbe Wesen
muss nicht-sein und sein, schon sein und noch nicht sein, wenn es sich ent-
wickelt. Die Knospe ist noch nicht Blume und doch schon Blume der Idee
nach, sie hat das Negative in sich, negirt ihren Zustand und geht zu
anderen Entwickelungsstufen über, indem sie ebensosehr immer bei sich
bleibt, wie sie immer von sich weggeht, und wie die anderen Redensarten
heissen, die für dieses Phantasiebild von der metaphorischen Sprache erborgt
werden. Nun ist aber, wie ich in meiner Grundlegung der Metaphysik ge-
zeigt habe, weder das Nichtsein ein Sein, noch die Zeit ein Wesen oder
eine Eigenschaft oder Realität, sondern Beides sind blosse Kategorien, durch
welche wir die Form unserer Denkthätigkeit bei Auffassung jener Bewusst-
seinserscheinungen bezeichnen. Da Spaventa in seinem Memoire diese Be-
griffe arglos in Hegerschem Sinne als Ausdruck für das Reale gebraucht und
gegen meine Analyse in der Metaphysik nichts vorbringt, so kann ich nur
verlangen, erst diese Begriffe von Neuem zu untersuchen, ehe man sie in
der populären und unklaren Weise, wie bei Hege^ anwendet; denn die Unter-
suchung dieser Begriffe führt zum Absterben der Hegerschen Dialektik, mit
welcher als mit einer Leiche meine Coordinationsmethode keine Gemeinschaft
eingehen und von ihr nicht einmal etwas erben soll.
Diese Bemerkungen werden als Antwort auf Spaventa's Memoire
hinreichen, und ich muss dabei besonders an Tari denken, dessen ausgezeich-
nete Ai'beiteu einen grossen Umfang des Geistes und ebensowohl eine gewisse
Vorliebe für Hegel, wie eine stark ausgeprägte Originalität an den Tag legen.
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Dogmatik. 521
wessen Schein sie ist Doch dies will ich hier nicht weiter in
gebührender Weise ad absurdum führen, da es in unseren Gang
nur als Excurs hineingehören würde; dagegen müssen wir nun
sehen, dass Hegel wenigstens fUr das absolute Wissen als
Function die zugehörige Coordinate zu fordern nicht nmhin
konnte; denn die Vermittelung der Gegensätze bedarf ja des
subjectiven Elements, in welchem der objective Inhalt offenbar
wird. Also konnte der absolute Geist nicht etwa seine subjective
Seite en bloc in der ganzen Welt haben, um so ein Gott mit
allgegenwärtiger Allwissenheit im Sinne der alten Dogmatik nnd
ein^transscendentes Gespenst zu werden, sondern er musste in
dem einzelnen Snbject zur Geburt kommen und, wie bei
Piaton, Mensch werden, damit in dieser concreten Substanz
dnrch den dialektischen Process das absolute Wissen in der Ver-
einigung des objectiven und subjectiven Geistes erreicht würde.
Das einzelne Subject ist aber für Hegel bloss momentanes Glied in
der allgemeinen dialektischen Bewegung, und so wird der absolute
Geist gezwungen wie bei einem Musikstück jetzt in einer punk-
tuellen Note wirklich zu werden, um dann immer auf eine
andre und wieder eine andre Note überzuspringen, da die Subjecte
wie die Töne in dem Strudel der alles fressenden Zeit in's
Nichts verrauschen. Dieser Gedanke ist zwar auch schon Pla-
tonisch und von dem dichterischen und göttlichen Manne in dem
schönen Bilde des Fackellaufes ausgedrückt; allein obgleich in
dieser Platonischen Fassung noch ein wichtiges Merkmal hinzu-
genommen ist, das bei Hegel gänzlich fehlt, nämlich die Con-
tinuität der göttlichen Weisheit in der Welt, so ist doch zugleich
damit erwiesen, dass Hegel mit seiner Philosophie unvermögend
war, das Christenthum zu verstehen, dass er vielmehr pan-
theistisch das Ich in seine theoretische Function verschwinden
lässt nnd weder eine ewige Persönlichkeit des Menschen, noch
des Gottes begreifen kann.
Interessant ist es auch, dass die Lust und Seligkeit, welche
Piaton zögernd dem höchsten Wissen nicht mehr zugestehen mochte,
von Hegel gänzlich ausgelöscht wird; denn die Affekte und auch das
höhere Gefühl, wie es in der Kunst und der Religion noch vorhanden
ist, verschwindet in dem al)soluten Geiste, so dass Lust wie Schmerz
nur den niederen Offenbarungsstufen der göttlichen Idee angehören
und den Charakter der Endlichkeit und des Werdens an sich tragen.
' uiuiiizeu uy VwJ W\J>t Iv^
522 Pantheismus des Gedankens.
§ 6. Verlegenheiten christlicher Dogmalik.
Da wir nan so den Idealismus kennen gelernt haben, so
ergiebt sich klar, dass wenn eine Idee an die Spitze der Welt
gestellt wird, auch die höchste Leistung in der Welt, das Heil
und die Vollkommenheit nur eine theoretische Function sein
kann und dass also der Idealismus nicht die geeignete Philosophie
ist, welche einer christlichen Dogmatik zu Grunde liegen darf.
Gleichwohl ist es den Theologen nicht zu verüblen, dass sie von
Anfang an mit dem Idealismus Fühlung suchten, weil diese
philosophische Richtung bisher die bedeutendste und fruchtbarste
gewesen ist und auch durch den Gang der Geschichte die logische
Bildung der Kirchenväter und die Formulirung der Dogmen be-
stimmte. Alle Theologen konnten aber ihre ächten christlichen
Wahrheiten immer nur zur linken Hand dem Idealismus antrauen,
und keine theologische Dogmatik erreichte bis jetzt einen streng
wissenschaftlichen Charakter, wo man wenigstens nicht das
Ghristenthum zu Gunsten der idealistischen Philosophie gänzlich
aufzuopfern bereit war.
Wie wenig man aber bisher umhin konnte, von dem Idealismus
Abstand zu nehmen, das will ich nur durch zwei angesehene
Namen entgegengesetzter Richtung illustriren. So behauptet z. B.
Alexander von Oettingen (christliche Sittenlehre H S. 305),
genau im Sinne und nach dem Wortlaut idealistischer Welt-
anschauung, „dass auf der Voraussetzung von der Homogeneität
zwischen Object und Subject alle Wissenschaft ruht", und dass
,Jede gesunde Erkenntnisstheorie in der Gewissheit wurzelt, dass
jenes der Welt zu Grunde liegende Ewige und Ideale in ihr
sich für uns zeitlich und räumlich offenbare". Darum acceptirt
er von Aristoteles das ideale Prius aus der Politik (S. 40), um
die Einzelperson in die Gemeinschaft einzuschliessen , darum
nimmt er von Hegel die logischen Termini, das „Aufheben"
(S. 38), die „Wahrheitsmomente" (S. 432) und die dialektischen
Gegensätze der Entwickelung auf und spricht zuweilen wie der
radicalste Idealist, z.B. S. 306: „Wenn nicht in den Dingen eine
ratio läge, so wäre eine rationelle Erfassung derselben unmöglich.
Umgekehrt, wenn wir nicht rationell begabt wären, so bliebe
uns die mit innerer Logik erftlllte Welt ein Buch mit sieben
Siegeln". Allein obgleich von Oettingen in der herkönunlichen
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Dogmatik. 523
Phraseologie des Idealismus auch von „göttlicher Weltlogik"
redet, so sieht man doch überall, dass seine christlichen Ge-
danken wie die Glieder eines starken Mannes, der aus Noth den
Bock eines Knaben tragen muss, lang herausragen und die Käthe
zerrissen haben. Und diese Ueberzeugung, dass die christliche
Lehre doch wohl noch einen passenderen Rock als den des
Idealismus verdiene, spricht v. Oettingen auch geradezu aus,
wenn er z. B. sagt, dass er das „Begriflfsalphabet der Zeit" ge-
brauchen müsse, worin doch eben die Meinung liegt, dass er
die Ausdrucksweise selbst nicht für allezeit gültig und ge-
nügend halte.
Gehen wir nun zu einem freisinnigen Theologen über, der
ebenso, wie der orthodoxe, in der Philosophie wohlbewandert
ist, so lesen wir z. B. bei Otto Pfleiderer (Genet-specul.
Religionsphilosophie 1884 S. 642): „Wie sollen wir uns die
Möglichkeit der Uebereinstimmung (der an -sich -seienden mit
miserer gedachten Welt), deren Wirklichkeit wir nicht bezweifeln
können, anders erklären als durch die Voraussetzung, dass die
in unserer Natur angelegten Erkenntnissgesetze und die in den
Dingen liegenden Seinsgesetze ihren gemeinsamen Grund haben
in einer schöpferischen Vernunft, deren Gedanken sich theils ob-
jectiv in den nothwendigen Seinsverhältnissen der Welt, theils
subjectiv in den angeborenen Functionsnormen unserer die Welt
abbildenden Erkenntnissthätigkeit ausdrücken?" Aber auch
Pfleiderer sucht sich aus den Schranken dieser einseitig logischen
Weltauffassung zu befreien, erkennt deshalb von den beiden Ro-
mantikern Schelling und Schopenhauer (S. 644) die „Urrealität
im Wollen" an und zeigt endlich hier und da, wie mir scheint,
auch eine Sympathie mit meiner Metaphysik. Nun verträgt sich
aber einerseits das Schopenhauer^sche Wollen als Substanz, das
seine Kategorien der Intelligenz schenkt, auf keine Weise mit
dem logischen Idealismus; andrerseits kann meine Metaphysik,
die von einer Kritik aller bisherigen Ontologie anhebt und in
dem Ich und dem Gottesbewusstsein die Quelle der Kategorie
des substanzialen Seins findet, weder mit einer schöpferischen
Vernunft, noch mit romantischer Willenssubstanz vereinigt werden.
Man sieht deshalb schon, ohne unnöthiger Weise in eine subtilere
Analyse der Begriffe einzugehen, dass Pfleiderer durch die po-
sitive Macht des christlichen Lebensinhalts dazu getrieben wurde,
uiumzeu uy V^J WvJV Iv^
524 Pantheismus des Gedankens.
mit einem hohen und vorartheilslosen Geiste eine neue und um-
fassendere Philosophie zu suchen, ohne dass er sich aus dem
Bann des tiberlieferten und in der Dogmatik von ihrer Geburt
an heimisch gewordenen Idealismus vollständig befreien konnte.
Sehr lehrreich ist aber auch das Schauspiel, welches eine
vom Idealismus sich ablösende Dogmatik bietet, welche zwar
die Klippen dieses Standpunktes erkannt hat, aber ohne Compass
und Steuer in's Blaue segelt Bitschi kam von HegePs Tische
und sagte ihm die Gastfreundschaft auf. Wer möchte ihm diese
Treulosigkeit verdenken, wenn er weiss, dass Hegel nicht ehrlich
mit seinen theologischen Gästen verfuhr und den Wein der Philo-
sophie unter falschen Etiquetten credenzte. Aus Angst vor dem
Idealismus flüchtete Ritschi aber soweit, dass er auch aller
Philosophie aus dem Wege ging. Wie sollte er nun aber auf
dem grossen Ocean der Meinungen allein seinen Weg finden?
Er hoffte sich nach den positiven Bedtirfnissen, Glaubensvor-
stellungen und Gefühlen der christlichen Gemeinde orientiren zu
können. Das klingt zuerst recht vertrauenerweckend und nament-
lich für alle, denen das Denken sauer wird, ganz verlockend;
denn es schien ja, als könne man nun gleich in's voUe Menschen-
leben hineinpacken und immer Interessantes finden. Allein bei
allen ordentlichen Dingen ist doch Kopf vonnöthen und so zeigte
sich, dass der positive Inhalt der Religion ausgelegt, bestimmt,
irgendwie bewiesen und vertheidigt werden muss; Philosophie
also war unentbehrlich; denn es ist einem auch nur einigermassen
gebildeten Menschen doch nicht zuzumuthen, etwas zu glauben,
was nicht wahr ist, und jeder Gläubige trägt sich mit dem
Bewusstsein, die Wahrheit zu erkennen, und käme in Schreck,
Verwirrung und Trostlosigkeit, wenn man ihm die Unwahrheit
und Leerheit seines Glaubens zeigen könnte. Um nun der von
der Wissenschaft abgelösten christlichen Glaubenssphäre etwas
Licht und Orientirung zu verschaffen, griff Ritschi eklektisch auf
gut Glück nach einigen philosophischen Begriffen, die von nicht-
hegelschen Denkern auf den Markt gebracht waren, und nament-
lich gefielen ihm einige Stellen bei Lotze, die er für seinen
Hausbedarf verwendete. Allein da Lotze kein durchgeftlhrtes
System besass und überhaupt nur so arbeitete, dass er die in
seiner Zeit gerade vorgefundenen entgegengesetzten Meinungen
unparteiisch beleuchtete und gemüthvoU vermittelte, so blieb es
uiumzeu uy VwJ W\J>t Iv^
Dogmatik. 525
immer fraglich, ob die von Ritschi aus Lotze's Schriften oder
auch aus anderen Quellen eklektisch aufgenommenen Begriffe
wahr seien und wer eigentlich über diese Frage urtheilen solle,
da doch nicht bloss die Dreistigkeit über die Wahrheit ent-
scheiden kann.
Wenn Ritschi nun wegen seines Vorhabens, die Religions-
wissenschaft auf eigene Füsse zu stellen und von der arroganten
Vormundschaft des Idealismus zu befreien, volle Sympathie ver-
dient, so brachte ihn doch seine Flucht vor aller Metaphysik
schliesslich nur zur Wahl zwischen Scylla und Charybdis. Ent-
weder nämlich muss man auf diesem Wege zu einem Selbst-
backenbrot von Wissenschaft kommen, wie die Brüdergemeinden,
in denen irgend ein Gevatter Schuster oder Schneider in Hemds-
ärmeln seinen Geist bei der Auslegung der Schrift leuchten lässt,
ohne sich um die durch Philosophie geschulte Arbeit theo-
logischer Gelehrsamkeit zu kümmern; und man darf sich nicht
einbilden, als wäre der feinere sogenannte Eklekticismus über
diesen Standpunkt erhaben, da es principiell einerlei ist, ob ein
Handwerksmann oder ein theologischer Gelehrter bloss nach
seinem subjectiven Gutdünken und nach dem zuf&lligeh Strome
seiner Einfälle sich dieser oder jener ihm gerade aufgegangenen
philosophischen Begriffe bedient. Der zweite Weg des Dilenmias
führt dahin, zwischen der Welt des Glaubens und der Wirklich-
keit einen Vorhang zu befestigen, indem man ftlr sich mit ge-
sunder Vernunft irgend eine beliebige Auffassung der wirklichen
Welt gewinnt, dieselbe aber wie einen Alltagsrock auszieht, wenn
man in die Kirche tritt, wo gewisse alte Illusionen das Gemüth
unter dem Geläute der Glocken plötzlich überwältigen und wo
man in einer alterthümlichen Sprache sofort über alle auf der
anderen Seite des Vorhangs unlösbaren Fragen der Metaphysik,
über Gott und Schöpfung, Seele und Seligkeit sichere Kunde er-
hält und selbst mit Hülfe dieser Sprache den lieben Brüdern
alle Räthsel löst und ihnen warm zu Herzen spricht, bis man
wieder in die Welt zurückkehrt, seinen AUerweltsrock wieder
anzieht und wieder ebenso Ignorant oder materialistisch und posi-
tivistisch denkt, wie alle vernünftigen Leute der Zeit. Die Theo-
logie Ritschis schwankt zwischen diesen beiden Gonsequenzen,
ohne sich weder ihres Eklekticismus bewusst zu werden, noch
nach Art des Kantischen Positivismus ehrlich zu. ^bekennen, dass
526 Pantheismus des Gedankens.
die illusorische Glaubensmetaphysik in die erste Periode Comte's
gehöre und nur als Rudiment in unserer aufgeklärten Zeit noch
fortvegetire.
Man sieht also, dass der Idealismus ebenso gefährlich ist,
wenn man ihn annimmt, als wenn man sich soweit von ihm ent-
fernt, zu meinen, man könne sein trocken Brot ohne das Salz
der Metaphysik verzehren. Die christliche Religion bietet aber
selbst eine Metaphysik und verlangt volle Ueberzeugung, woran
Kopf und Herz gleichen Antheil haben. Also darf die Religion
nicht, wie eine erträumte Insel, vor den unreinen Füssen der
weltlichen Wissenschaft und Philosophie gehütet werden, sondern
es muss umgekehrt jedem Forscher ein Freipass zum Eintritt zu-
konmien, damit die Wahrheit der Glaubenswelt auch von aller
Wissenschaft könne bezeugt und besiegelt werden. Darum ver-
langt die christliche Theologie nach einer Metaphysik, die auf
freien weltlichen Füssen steht und nur Erfahrung und Vernunft
anerkennt, durch ihre eigene selbständige Forschung aber dazu
gelangt, die natürliche Metaphysik der christlichen Religion zu
verstehen und anzuerkennen. Eine solche Metaphysik war seit
Hegel ein Desiderat, und sie konnte sich überhaupt erst aus-
bilden, wenn das Ich sich selbst von seinen Functionen unter-
schied und wenn die Erkenntnissfunction sich in die specifischen
und semiotischen Formen gliederte, damit die seit Piaton Alles
in sich verzehrende Flamme der blossen Erkenntnissfunction
zwar nicht gelöscht würde, aber in gerechten Gränzen ihr wohl-
thätiges Licht auch zur Anerkennung der Persönlichkeit selbst
und ihrer übrigen Functionen leuchten Hesse. Dann bedarf man
nicht mehr der nächtlichen Separatvorstellungen König Ludwigs,
welche Ritschi für die Gläubigen empfahl, sondern kann Publikum
und Recensenten getrost zulassen, da^ der Gläubige flir sein
heimliches Evangelium nichts zu fürchten braucht. Statt die
Religion mit Ritschi in eine hausbackene Kantische Recht-
schaffenheitslehre umzuwandeln, fttr welche der Theologe als
Regisseur bloss das correcte alterthümliche religiöse Costume
besorgen solle, wird eine muthige Theologie vielmehr die
historische Kritik und die Philosophie offen herausfordern, weil
das Christenthum eine wirkliche Wahrheit verkündigt und wie
damals, so heute und für «alle Zeit in der wirklichen Welt gelten
will und zu gelten das Zeug hat.
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Dogmatik. 527
§ 7. Zugehörige positive Religionen.
Nachdem wir nun die Dogmatik des theoretischen
Pantheismus in den entscheidenden Grundbegriffen ®''**^°**"*«°^"-
charakterisirt und auch gesehen haben, wie stark diese Richtung
auf die wissenschaftlichen Lehrer des Christenthums einwirkte,
bleibt uns die Frage, ob nicht etwa eine ganze grosse Volks-
religion namhaft gemacht werden könnte, die unter diese Form
fiele. Allein darauf wissen wir ja sofort die Antwort; denn da
der Pantheismus auf dem Verschwinden des Ichs in den geistigen
Functionen beruht und ein Uebergewicht des theoretischen Geistes
nie bei einem ganzen Volke vorhanden sein kann, so wird es
auch keine Volksreligion geben, die nicht in erster Linie die
Elemente der Religion der Furcht und der Sünde in sich auf-
genommen hätte. Mithin kann es sich nur um die weitere Frage
drehen, ob nicht in einer Volksreligion die leitenden Kreise, die
höher beanlagten Bekenner oder die gebildeteren Priester dem
theoretischen Pantheismus gehuldigt haben. Auf diese Frage
muss der Brahmanismus genannt werden.
Wenn ich nun hier aus den vielen Specialforschungen fran-
zösischer, englischer und deutscher Indologen einen Auszug
machen wollte, so würde nicht nur mir solche compilatorische
Arbeit schlecht zu Gesicht sitzen, sondern auch der Leser würde
ungeduldig werden, da die Gebildeten sich ja seit mehr als einem
halben Jahrhundert an indischer Weisheit und Poesie delectirt
haben. Es kann sich also nur darum drehen, erstens kritisch
neue Auffassungen zu begründen, und zweitens dann diejenigen
Grundbegriffe herauszuheben, die zur Einftlgung des Brahmanis-
mus in die Religionsform des theoretischen Pantheismus hin-
reichen.
Was das Erste betrifft, so halte ich Oldenberg's
Darstellung (im „Buddha" z. B. S. 12 ff.) ftlr miss- Bemerkungen.
verständlich oder ftlr unrichtig, wenn er meint, das i.
ganze indische Volk hätte keinen Sinn gehabt flir '"l^ieh^r^^^^^
die natürlichen menschlichen Interessen, für die Lebcn^-
Arbeit, flir die Freiheit und den Kampf um das 'ZTZ'inä^
Recht u. s. w., sondern es sei Handeln und Wollen niemAid gans
durch tropische ,Ueberftille formloser Phantasie bei "^^^^^^^^ ^^
dem Uebergewicht des Geistes verschüttet und alles
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528 Pantheismus des Gfedankens.
Leben dem bösen Genius der Wissenden, der sichtbaren Ver-
körperung der jenseitigen Welt in der Kaste der Brahmanen
geopfert. Zu dieser Behauptung kann man nur kommen, wenn
man als Quelle bloss die philosophischen, theologischen und
liturgischen Werke benutzt. Vergleicht man aber die Poesie, so
sieht man doch gleich, dass es keine einzige natürlich mensch-
liche Empfindung giebt, die sich nicht in dem Leben des in-
dischen Menschen Bahn gebrochen hätte. So in erster Linie die
Lust am Essen und Trinken, am Wein und Rausch, dann die
Liebe mit ihren rohen und ihren zartesten ritterlichen und ehrbar
gesetzlichen Seiten; ferner zeigen uns die Epen, wie fein das
Ehrgeflihl, wie stark der Ehrgeiz entwickelt war; wir haben bei
den Indem auch die Odysseus, die Nestor, die Ajax, die Achill.
Wer weiss nicht, dass sie allerlei weltliche und ritterliche Spiele
hatten, Brettspiel dazu und Würfelspiel, dass sie, wie die alten
Germanen, zwar ihre Freiheit hochhielten, aber doch aus Leiden-
schaft schliesslich sich selbst auf den Würfel setzten. Und wenn
Rama auf sein Becht verzichtet, so beruht die epische Hoch-
schätzung dieses Opfers doch gerade auf der starken Empfindung,
die sonst für das Recht in Geltung war. Wer wahre und auch
wer machiavellistische Klugheit im Regieren gewinnen will, der
muss doch bei den Indem in die Schule gehen, die eine so aus-
gezeichnete Begabung für unbefangene und praktische Beob-
achtung besassen, dass sie nicht nur die Charaktere der Menschen
in allen Ständen und Lebenslagen, sondern auch das Naturleben
der Thiere in einer die europäischen Völker tiberragenden Fein-
heit und Schärfe geschildert haben. Kurz, ich möchte wohl
irgend eine Seite des natürlichen und sittlichen menschlichen
Lebens genannt wissen, die von den Indem nicht ebensogut wie
von den Europäern im Mittelalter gepflegt wäre.
Ebensowenig, wie in diesem Punkte, kann ich
^* auch mit der Annahme 01denberg*s und der meisten
Die Indische _ tti -i ... i -i.
voikareiigioD audcm ludologcn übereinstimmen, als wenn die grosse
und der rcligiösc Kucchtung, in welche die Brahmanen das
Brahmanisrnns -»tu 1111*11. 1 • 1 -r* 1
sind speciflsch gauzc Volk allmählich brachten, mit dem Brahma-
verschiedene nismus Zusammenhinge. Wer nicht an strenge philo-
noliglonsformen. ,.,▼%... 1 . .ivii.
sophische Distmctionen gewöhnt ist, wird allerdings
meinen mtissen, dass die Brahmanen doch natürlich ihre brah-
manische Religion und nicht etwa eine fremde zur religiösen
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Dogmatik. 529
Erziehung und Unterjochung des Volkes benutzt hätten; allein
dabei läuft dennoch eine logische Täuschung unter. Es ist das
Sophisma ex accidente, welches hier dem Urtheil einen Streich
spielt. (Obersatz:) Bei jeder Sache hat man zwischen dem
Wesen und den zufälligen, d. h. den bloss historischen, Um-
ständen zu unterscheiden. Das Wesen wird in den constituirenden
und allgemein erkennbaren Goordinaten festgelegt; das Zufällige
kann nur historisch erkannt werden. (Untersatz:) Wenn man
nun das Wesentliche der indischen brahmanischen Volksreligion
aufsucht, so sieht man sofort, dass ihre Motive die uns aus der
Macht- und Rechtsreligion ganz bekannten Gefühle der Furcht
und Hoffnung einerseits und der Sünde andererseits sind und
dass diesen coordinirt eine Dogmatik steht, welche viele Furcht-
und Rechtsgötter himmlischer und menschlicher Art zur Vor-
stellung bringt, und dass der Cultus ebenso alle Arten von
Opfern, Entsagungen, Reinigungen und dergleichen auferlegt,
kurz dass nicht ein einziges Element in dieser Religion vor-
kommt, das uns aus dem Rahmen der beiden projectiven Reli-
gionen herausführte. (Schlusssatz:) Folglich ist die brahmanische
Volksreligion nicht der eigentliche Brahmanismus, sondern es
sind nur die zufälligen historischen Umstände, die es mit sich
brachten, dass die wesentlichen Volksreligionselemente an den
Brahmanismus durch allerlei Ideenassociation, d. h. durch die
fallacia ex accidente angeknüpft wurden. Wir werden weiter
unten das Wesentliche des Brahmanismus herausheben und dann
erkennen, dass gar kein logisch zwingender Zusammenhang
zwischen beiden Religionsformen besteht. Wenn der Bauer in
Indien Reis, in Unterägypten Baumwolle, in Andalusien Orangen,
am Rhein Reben pflegt, so ist und bleibt er doch wesentlich
Bauer, wie verschieden auch die durch die geogi'aphischen Ver-
hältnisse ihm zugewiesenen Feldfrüchte und die Formen des
Ackerbaues sein mögen. So ist auch die Volksreligion in
Griechenland, Aegypten und Indien im Wesentlichen die gleiche
gewesen trotz aller Verschiedenheit der Namen und Formen;
denn die Motive des Gcmüths, die zugehörigen Begriffe und die
zugetfJrigen Handlungen waren ihrem specifischen Charakter nach
genau dieselben, und es erfordert kein anderes Capitel der
Psychologie, der Metaphysik und Ethik, um alle diese Religions-
formen zu verstehen, sondern es bedarf bloss historischer Ge-
Teichmüller, Bellglonsphilosophle.
uiyiiizeu
juy Google
530 Pantheismus des Gedankens.
lehrsamkeit, um für die gleichen Ideen die verschiedenartigen
Namen und eigenthümlicben Formen sammt ihrer besonderen
geschichtlichen Entwickelang kennen zu lernen. So ist ja auf
den ersten Blick klar, dass die religiöse Knechtung des indischen
Volkes nicht von den abstracten philosophischen Speculationen
des Vedantismus ausgehen konnte, sondern von Vorstellungen,
welche Furcht einzujagen geeignet sind, wie z. B. die Wieder-
geburt in Schlangen und Tigern u. dergl. Darum wird man
finden, dass der ganze knechtende Bitus, wenn er auch freilich
immer durch irgendwelche Eeflexionen in einen künstlichen Zu-
sammenhang mit dem Vedantismus gebracht ist, wesentlich nur
durch die Elemente der Furchtreligion gebildet wird. Ob man
aber, wie in Indien, eine Kuh im Schlaf nicht stören, oder wie
in Griechenland beim Neumond nicht fechten darf, oder wie bei
den Römern die Verunreinigung einer Quelle durch Hineinwerfen
von Silbermünzen büssen muss, oder, wie in christlichen Ländern,
beim Läuten der Vesper den Hut abnehmen und ein Gebet
sprechen muss: air dergleichen ist nur accidentell verschieden;
es liegen aber dieselben Gefühle tiberall zu Grunde. Ich läugne
deshalb, dass der Brahmanismus in Indien jemals eine Volks-
religion gewesen sei und halte die indische Volksreligion und
den Brahmanismus flir speci fisch verschiedene Religionen, die
bloss nach dem Paralogismus ex accidente identificirt worden
sind. Für die Religionswissenschaft ist es aber von der höchsten
Wichtigkeit, sich in solchen Fragen nicht vor scheinbarer Para-
doxie zu ittrchten, sondern unbekümmert um die historischen
Verwachsungen und geographischen Verschmelzungen mit sicheren
Reagentien die specifischen Charaktere jeder Religionsform fest-
zustellen, weil man ohne solch streng methodische Analyse
schliesslich auf ein wissenschaftliches Urtheil über die Religionen
verzichten muss und nur lauter Mehr oder Weniger und lauter
Compromisse und sich selbst widersprechende Charakteristiken
vorbringen kann und beständig Clausein anhängen muss, um nur
einen Gegenstand, der gar nicht einfach ist, als einfach zu be-
handeln.
Darum kann ich auch mit Max Müller, dessen geistvollen
Schriften wir so unendlich viel Anregung und Belehrung über
Indische Religion und Weisheit zu verdanken haben, nicht ganz
übereinstimmen, wenn er (Indien in seiner weltgeschichtlichen
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Dogmatik. 531
Bedeutung 1884 S. 215) sagt: „Bis auf den* heutigen Tag erkennt
Indien keine höhere Autorität in Sachen der Religion, des Cere-
moniells, des Rechts und der Sitten, als den Veda, und so lange
Indien Indien ist, wird niemand jenen alten Geist des Vedan-
tismus auslöschen, welcher von jedem Hindu von frühester Jugend
an geathmet wird und in verschiedener Gestalt selbst die Gebete
des Götzendieners wie die Speculationen des Philosophen und
die Sprichwörter des Bettlers durchdringt"
Was zunächst die Prophezeihung betrifft, so scheint es mir
nicht so unglaublich, dass Indien aufhören könnte, Indien zu
sein, sobald nämlich mit der Zeit europäische Wissenschaft und
allgemeinerer Schulunterricht nebst den zugehörigen gesellschaft-
lichen Reformen dort eindringen werden, wie jetzt schon das
Ausserordentliche geschehen ist, dass. Indische Frauen selbst um
eine würdigere sociale Stellung petitionirten. Zweitens sehe ich
aus der Geschichte, dass die Religionsform keinem Menschen
und keinem Volke im Blute liegt, sondern dass die Religionen
internationales Gut und export-, wie import- fähig, wie das
Christenthum, sind. Drittens erlaube ich mir, dem verehrungs-
würdigen Nestor indischer Weisheit in der Gegenwart die Frage
vorzulegen, ob die Religion, die der Götzendiener, der Philosoph
und der Bettler in Indien bekennt, nicht bloss dem Namen nach
dieselbe, dem Wesen nach aber specifisch verschieden sein
müsse. Ich kann nach der ganzen bisher deducirten Eintheilung
der Religionen nicht umhin, die drei vedischen Religionsformen,
welche uns M. Müller so scharfsinnig und so siegreich gegen
H. Spencer unterschieden hat, nämlich die Religion der Devas,
der Pitrs und des Rta, zu den beiden von mir sogenannten
projecti vischen Religionsformen zu rechnen. Und es scheidet
sich davon durch eine tiefe Kluft die specifisch verschiedene
pantheistische Vedantaphilosophie, die nur historisch, aber nicht
wesentlich mit jenen zusammenhängt, so dass keine von beiden
Gruppen als eine logische Folgerung aus der anderen abgeleitet
werden könnte, da vielmehr für die Vedantareligion ein neuer
Gedankenweg erforderlich ist, um die projectivische Welt der
Furchtgötter und des Gesetzes aufzugeben und erkenntniss-
theoretisch das Absolute im eigenen Selbst zu suchen und zu
finden.
Digi?4*dby Google
532 Pantheismus des Gedankens.
Der ßeligionsphilosoph kann leicht dazu ver-
und leitet werden, einen Unterschied in der religiösen
rciigiöBe Speculation zu betonen, der zuerst als wesentlich er-
scheint, bei genauerer Betrachtung aber sich als un-
wesentlich erweist. Nehmen wir z. B. das Evangelium Jöhannis
und vergleichen es mit der Summa des hlg. Thomas oder mit
Hegers Logik. Auf den ersten Blick ist der Unterschied unge-
heuer gross, weil wir auf der einen Seite lauter unbestimmte in
Bildern ausgedrückte BegriflFc und ohne jeden Weg und Beweis
bloss zuversichtlich ausgesprochene Urtheile finden, während auf
der anderen Seite jeder Gedanke analysirt, jeder BegriflF definirt
und dividirt ist und ausserdem eine Methode ausführlich erörtert
wird, wodurch wir der richtigen Ableitung des Urtheils sicher
werden sollen und die wissenschaftliche Ueberzeugung gewinnen,
dass alle möglichen Gegenstände der Erkenntniss eingefangen
und nichts aus dem System weggelassen, dagegen alles über-
haupt Denkbare an seinem bestimmten Platze im System geordnet
verzeichnet steht. Gleichwohl ist der Unterschied zwischen diesen
beiden Formen des Denkens unwesentlich, denn es ist dieselbe
Geistesfunction, welche arbeitet, und derselbe Gegenstand, welcher
erforscht wird; es dreht sich also nur um verschiedene Stufen
der Ausbildung, Uebung und Schulung, und es ist sogar
recht häufig die Leistung des ungeschulten Denkers vorzüglicher
als die des Gelehrten. So waren z. B. Baader und Schelling
besser geschult, als der Schuster Jacob Böhm, und doch nahmen
sie das Salz ihrer Gedanken von diesem. Wir werden deshalb
in der Religionsphilosophie nicht darauf achten, ob ein BegriflF
seinen schulmässigen Ausdruck gefunden habe, oder nicht,
sondern welcherlei Inhalt der BegriflF hat, und darnach allein
werden wir die Religion classificiren.
Was z. B. den Brahmanismus vor dem Auftreten Buddhas
betriflFt, so ist es augenfällig, dass zwar schon eine Menge dog-
matischer Subtilitäten vorliegen, aber doch noch keine philo-
sophische Disciplin ausgearbeitet ist, und man also die religiösen
BegriflFe nicht so scharf fassen kann, wie etwa die christlichen
Gedanken in den scholastischen Compendien. Nichtsdestoweniger
sind die theologischen Gedanken der Brahmanen keine Phantasie-
bilder, sondern stammen aus der Arbeit des Denkens und
geben klare Begriffe, so dass wir den Lehrinhalt durchaus ver-
Dogmatik. 633
Stehen und die ganze Religionsform ihrem specifischen Charakter
nach bestimmen und classificiren können.
Dass nun die alte Brahmareligion pantheistisch
Brabmaolamaa.
war, braucht nicht erst erwiesen zu werden, da bis ^^^ *^^^
jetzt Niemand daran gezweifelt hat. Für uns ist es
nur interessant, feinere Unterschiede hervorzuheben. Es fragt
sich nämlich, ob die Brahminen auf dem naiven projecti vischen
Standpunkte geblieben sind und bloss die äusseren sogenannten
Dinge alle in die Eine projectivische Substanz, die also den
Charakter der unbestimmten Materie annehmen musste, ver-
schwinden liessen, oder ob sie schon, wenigstens in der späteren
Zeit, auch die kritische Stellung einnahmen und die Dinge als
Erscheinungen des Bewusstseins erkannten. Diese Frage finde
ich meistens nicht scharf genug hervorgehoben, und auch bei
Oldenberg ist die philosophische Auffassung nicht subtil genug.
Eine Antwort ergiebt sich aber erst, wenn wir den zweiten
Charakterzug des Brahmanismus feststellen. Der Pantheismus
desselben ist nämlich nicht derart, dass im Fortschritt, in Werk-
heiligkeit, in Staat, Kirche oder Kunst, auch nicht im Geflihl
das Heil und die Vollkommenheit gesucht worden wäre, sondern
es ist keinem der Indischen Forscher verborgen geblieben, dass
der Brahmine die Vollendung seines Lebens und der Welt in
die Erkenntniss setzt, dass wir also einen theoretischen
Pantheismus vor uns haben. Es ist aber, wie oben erinnert,
hier ganz gleichgültig, ob diese Richtung auf Erkenntniss sich
in den gelehrten Bahnen methodisch - wissenschaftlicher Arbeit
oder naturalistisch in ungeschulter Speculation vollzogen habe.
Wenn vnr nun unter den ächten Anhängern des Vedantismus
die mehr philosophisch angelegten Naturen verstehen, in denen
das Vermögen zur Handlung und das zugehörige Gefühl schwächer
reagirten, so können wir vollkommen begreifen, dass die äusseren
Dinge und Ereignisse, in deren Getriebe sie sich nicht mischten,
ihnen bloss als Bewusstseinserscheinungen vorkommen mnssten
und dass sie bei dem fortwährenden Wechsel der Dinge, wie
Piaton, das flir den Gedanken Bleibende suchten und so endlich
das Eine, welches seinem Wesen nach ganz unbestimmt ist,
fanden. Diesem Einen, objectiv genommen, entspricht aber,
subjectiv genommen, die erkennende Thätigkeit, die hier als
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58 4 Pantheismus des Gedankens.
Ich oder als die ganze Seele erscheint Sie nannten diese snb-
jective Seite Atman und die objective Brahma. Sofern nun in
dem Ich noch irgend eine Besonderheit, etwas Individuelles vor-
handen ist, trennt es sich nothwendig von einem Andern ab und
geht also nicht rein in das Object auf. Mithin ist der noth-
wendige Schluss dieser Speculation, wie wir dies ja auch bei
allen Idealisten gefunden haben, dass die in das rein Allgemeine
und Unbestimmte sich verlierende Ichheit sich ftir göttlich oder
vereint mit Gott erkennen muss, wenn sie in das rein Allgemeine
und Unbestimmte, in die leere Einheit des ideellen Objects ver-
schwunden ist. Atman und Brahma müssen congruiren; denn
das Vorgestellte, der ganze Inhalt und das Wesen der Welt
müssen von einem Vorstellenden, einem „Erkenner*' erkannt und
vorgestellt werden. Dies vorstellende Wesen darf aber nichts
Besonderes mehr an sich haben, weil es sonst nur einen besondem
und von Anderen verschiedenen Gegenstand zum Inhalt hätte;
also muss das reine Subject mit dem reinen Object zusammen-
fallen, der Gott im Menschen, im Brahmanen, seine lebendig
gegenwärtige Wirklichkeit haben und der Mensch die Fülle und
Kraft der ganzen Gottheit, deren Erscheinung die Welt in allen
ihren Wesen ist, sich aneignen und in sich besitzen. Die un-
glaubliche Arroganz der Brahminen und zugleich die unfrucht-
bare Leerheit dieser Religion ist durch solchen Gedankengang
durchaus verständlich. Es ist dieser Standpunkt aber nicht
bloss indisch, sondern er wiederholt sich nothwendig tiberall,
wo man sein Ich in die blosse erkennende Thätigkeit ver-
schwinden lässt. Auch bei Piaton hat man überall die Ver-
achtung des Vielen, des Zerstückelten, des Wechselnden und
damit der Welt, da das Eine, das Ganze und das Ewige in uns
durch die Allgemeinheit der Erkenntniss vorhanden ist. Auch
Schleiermacher hielt deshalb die Welt und die Weltgeschichte
nur für eine Beispielsammlung für das Allgemeine der ethischen
Ideen und für die Dialektik.
Da nun alles Einzelne im Allgemeinen enthalten ist, so
folgt sehr natürlich, dass die Brahminen auch die Herrschaft über
die Götter, die sie als Symbole flir die einzelnen Reiche des
psychischen und physischen Lebens auffassten, ebenso über die
äussere Natur und die Menschenwelt in Anspruch nahmen.
Zugleich mussten die Handlungen , welche den Gedanken des
uiymzeu uy "V-j v-zv^'pt iv^
Dogmatik. 535
Verschwindens des Menschen in das Göttliche oder die Gegen-
wart des Göttlichen im Substrat ausdrückten, im Cult eine be-
sondere Heiligkeit erhalten, wie z. B. vor Allem das Opfer;
ebenso aber auch alle die Akte, welche die Annihilirung des
Ichs vorbereiteten oder beförderten, wie das Vedalesen und das
Gebet oder die besonderen Positionen des Körpers u. s. w.
Wenn man, wie Oldenberg, die Brahmanen Pessimisten
nennt, so ist das eigentlich nicht ganz zutreffend, da sie mit
demselben Kechte Optimisten genannt Werden könnten, sofern
sie ja bloss kein Heil in der äusseren Welt der Erscheinungen
fanden, dagegen das absolute Heil in der Versenkung, in dem
Verschwinden des Ichs in Brahma, feierten. Mithin waren sie
insofern Optimisten, da sie das Beste erlangt hatten und die
Zugänglichkeit des Besten lehrten; denn diese Vernichtung war
ja nicht eine Aufhebung des Lebens und Denkens, sondern der
lebendige Inhalt ihres Denkens. Es war dasselbe, was die
griechischen Philosophen in dem Begriff des „ewigen Lebens"
verherrlichen, das nicht ausser der Welt, sondern mitten in der
Zeit erlebt und genossen wird. Sofern dann der physische Tod
eintrat, so konnte selbst dieser dem Optimismus keine Schranke
setzen, da die Welt selbst doch, wie man sah, immer bestehen
blieb und mithin auch das Princip derselben, Brahma, in den
sich das Subject ja aufgehoben und gerettet hatte, so dass auch
nach dem Tode keine Gefahr zu fürchten, sondern nur das Beste
und Erwünschteste, nämlich die völlige Einheit mit dem Gött-
lichen, sicher war.
Der Pessimismus bezieht sich deshalb nur auf das Gebiet
der äusseren Dinge, in denen das Eine zerstückelt und deshalb
im Kampf und in Selbstzerstörung erscheint. Mit dieser Welt
der Erscheinungen und Illusionen sind wir aber nur verknüpft
durch die anderen Geistesvermögen, die bei dem philosophisch
Angelegten einen schwächeren Einfluss ausüben, nämlich durch
das Begehren (Käma) und die Handlung (Karman). Das Be-
gehren oder die Lust steht immer zugeordnet einer bestimmten
einzelnen Anschauung, z. B. Speisen, Geld, Mädchenaugen, Ehren
u. dergl., und demselben Kreise zugeordnet sind dann immer
die Functionen des Thuns und Leidens. Da nun dieser ganze
auf die einzelnen Lebenserscheinungen bezogene Kreis geistiger
Function nothwendig allerlei Wechsel unterworfen ist und so
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5^6 Pantheismus des Gedankens.
kein Begehren sicher erfüllt wird, keine Lust vor Ueberdniss
bewahrt bleibt, keine Handlung ihren Erfolg verbürgt, sondern
vielmehr nothwendig alles Einzelne im Zusammentreflfen mit dem
Ganzen der übrigen Dinge sich immer einschränken, durchkreuzen,
verhindern lassen muss, so folgt, dass das Ich, wenn es sich durch
Käma, d. h. durch Liebe und alle Arten des Begehrens, gefangen
nehmen lässt, in die Welt der Verwirrungen und der Ktinuner-
nisse, der Illusionen und Täuschungen gerissen wird und dass
die zugehörige That (Karman) sein Leben bestimmt und ihm
den zugehörigen Charakter und die zugehörige Portion von Lust
und Leid gewährt. Dies wird von den Brahminen in tausend
Geschichten illustrirt, und es ist derselbe Gedanke, den Piaton
im 10. Buche des Staates bei der Wahl der Lebensloose ausdrückt
Im Einzelnen diese Religionsform durchzugehen ist flir die
Religionsphilosophie nicht von Belang, sondern es würde uns
diese Aufgabe zunächst in langwierige und von Weber und den
anderen Autoritäten noch nicht abgeschlossene chronologische
Untersuchungen führen, da ohne Zeitbestimmung der Quellen-
schriften eine wissenschaftliche Darlegung nicht thunlich ist.
Für unsere allgemeine Gruppirung aber gentigt es, dass auf
diese Weise der Charakter des theoretischen Pantheismus fest-
gestellt ist.
Da diese Religionsform nun nothwendig Gnosis sein muss,
so ergiebt sich für die empirisc*hen Religionsforscher die inter-
essante Aufgabe, zu untersuchen, wie die zugehörige Pistis des
geistig geringeren, an Zahl aber unendlich überwiegenden Theiles
der Bevölkening mit den brahmanischen Ideen vermittelt wurde
und wie weit sich die wirkliche Herrschaft der Brahmanen über
das Gemüth der Pistiker erstreckte.
Egyptiacho Ich vcrmcide es lieber, genauer auf die Religion
Religion. ^QY Egjptcr einzugehen, weil die Forschung über die
Heiligthümer und die Theologie dieses Volkes noch zu sehr in
den Hemdsärmeln der Arbeit steckt. Gleichwohl ist im Allge-
meinen für die Religionsphilosophie das Resultat schon sicher,
dass die Gnosis der egyptischen Theologen ebenfalls den theo-
retischen Pantheismus enthielt; denn wer das Todtenbuch hiero-
glyphisch oder auch nur in Uebersetzungen gelesen, kann darüber
nicht mehr in Zweifel sein, dass die Seele (das Ich) in alle
G()tter und zuletzt in das Eine verschwindet, dessen Erscheinung,
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Dogmatik. 537
Verkörperung, Zersplitterung, Grab oder Geburt die Welt ist. Wie
weit aber die Speculation dieser Theologie sich ausgebildet
hatte, darüber wird noch geforscht*)
Neben der Gnosis steht dann in grossem Uebergewicht die
Pistis, da die Priester die Beherrschung der Gläubigen kräftig
in die Hand nahmen und eine unter verschiedenen Göttemamen
und Gülten reich ausgebildete Religion der Sünde und der
Furcht besassen, in deren Formeln, Gefühlen und Handlungen
sie Fürst, Adel und Volk in bewunderungswürdiger Weise zu
leiten wussten.
§ 8. Zur Kritik des Idealismus.
Max Müller (Indien 18S4 S. 210) sagt: „Die Philosophie
ist in Indien, was sie sein soll, nicht die Verneinung, sondern
die Vollendung der Religion; sie ist die höchste Religion,
und der älteste Name des ältesten philosophischen Systems in
Indien ist Vedänta." In diesem Ausspruch haben wir die exacte
Auffassung der Religion von Seiten des Idealismus. Nehmen
wir noch eine zweite Stelle hinzu (S. 217): „Namen (der Götter
— Devas — ), die etwas bedeuten sollten, was den Menschen
sehr theuer war, was ihnen eine Zeit lang als ihr wahres Selbst
erschienen war, mussten sie aufgeben, ehe sie das Selbst der
Selbste finden konnten, den Alten Mann, den Zuschauer, ein
von aller Persönlichkeit unabhängiges Subject, eine von
allem Leben unabhängige Existenz. Das Selbst im Innern (der
Pratyagätman) wurde zu dem höchsten Selbst (dem Paramätman)
emporgezogen; es fand sein wahres Selbst in dem höchsten Selbst,
und es wurde erkannt, dass die Einheit des subjectiven
mit dem objectiven Selbst aller Wirklichkeit zu Grunde
liege, als der dunkle Traum der Religion — als das wahre
Licht der Philosophie."
Wir haben hier bei dem berühmten Indologen die reine, mit
Wärme, ja mit Begeisterung vorgetragene Lehre des Idealismus,
der die Religion zu einer Erkenntnissart, wie die Philosophie,
macht, nur zu einer dunklen und unvollkommenen. Darin liegt
*) Vergl. darüber den zweiten Band meiner „Neuen Studien zur Ge-
schieb te der BegriiFe", wo ich nach den Quellen den Sinn der Egyptischen
Theologie und die Abhängigkeit des Ilerakleitos von ihr festzustellen suchte, t
uiyiüzeu uy "V-j v-/ v^pc l V-
538 Pantheismus des Gedankens.
aber zugleich das hinreichende Argument, um den Idealismus zu
widerlegen; denn die Aufzehrung aller Wirklichkeit und aller
selbständigen Wesen in blosse Vorstellungen, Erkenntnisse und
Begriffe ist eine so handgreifliche Einseitigkeit, dass Jeder leicht
einwilligen wird, mit mir das Ich und die übrigen Functionen
des Geistes vor dieser hypertrophischen und tyrannischen Er-
kenntnissfunction, in die Alles verschwinden soll, zu beschützen.
Da ich die Kritik wohl schon genügend in die Darstellung
eingeflochten habe^ indem uns der Idealismus bei seiner Ent-
stehung sofort seine scheinbar vornehme, in Wahrheit aber un-
ehrliche Abkunft offenkundig machte, so brauche ich jetzt nur
die Hauptpunkte zu sammeln.
Zuerst also sei wiederholt, dass der Idealismus die Religion
nicht versteht, weil er sie ganz verstehen, d. h. sie zu einer
blossen Erkenntnissstufe und Vorstellungsweise herabsetzen will.
Die Religion, die sich als persönliche Gesinnung in den geistigen
Functionen offenbart, wird nun zwar zur Ausbildung ihres wissen-
schaftlichen Ausdrucks Eine Hand dem Philosophen reichen, sich
aber für die reale Gemeinschaft mit Gott im Cultus die andre
Hand freihalten und auch das Herz nicht mit verschenken. Es
ist eben bloss die dem religiösen Gefühl zugeordnete Vor-
stellungssphäre, die der erkennenden Function gehört,
und deshalb muss sich der Idealist als Kläger, der auf die
ganze Erbschaft Anspruch machte, mit einem blossen Legat abfinden.
Sodann erinnere ich wieder an die völlige Leerheit der
sogenannten höchsten Erkenntniss, da die absolute Identität des
Subject-Object von dem reinen Nichts nicht verschieden ist. Die ent-
zückende Formel des Denkens des Denkens (v(5Y]at<; voTjasöx;), welche
die Schwärmerei für den absoluten Geist hervorbrachte, ist doch
schon von Aristoteles bis zu einer solchen Erhabenheit aus-
staffirt, dass der Schritt zum Lächerlichen unvermeidlich wurde,
da die Sinnlosigkeit in doppelter Bedeutung für dieses
höchste Denken verhängnissvoll sein musste. Ein Geist, der
weiter nichts zu thun hat, als sich selbst zu denken, und dabei
von allem Leben der Welt, welches uns durch die Sinne offen-
bart wird, und von aller Persönlichkeit abstrahiren soll, der ist
doch wohl ein unnützer Geselle und gehört auch nicht in die
Welt, aus der er sich mit Recht verbannt. Lassen wir ihn
draussen sitzen und sich selbstlos am selbstlosen Nichts delectiren;
le
.gh
Dogmatik. 539
denn ein solcher Philudenist kann weder psychiatriscb behandelt,
noch wie die Eremiten in den dunklen Zellen von Troitzkii
Sergiewskii wenigstens gefüttert und verehrt werden.
Aber auch diejenigen Idealisten, die dem absoluten Geiste
die Negativität wie eine Bremse unter den Schwanz setzen,
damit er in Bewegung komme und zur Beschäftigung mit den
logischen Kategorien und demzufolge mit der Weltschöpfung und
der Geburt des subjectiven und objectiven Geistes übergehe, auch
diese Mjthologen sind nicht brauchbarer; denn sie verwandeln
bloss die träge und indifferente Kuh in die unstet umherlaufende
lo und verlieren in der That bei dieser rasenden Wanderung
der Göttin alles Eigenthum und Wesen; denn da die Er-
scheinungen und alle Momente der dialektischen Entwickelung
durch das Gesetz der Entwickelung selbst inuner zum Ver-
schwinden genöthigt werden, indem bei keinem Gliede der
Kette eine selbständige in sich nihende Substanz hervorkommt,
so ist auch kein Punkt gegeben, an welchem die Kette hangen
könnte, sondern es existirt immer nur das jedesmal dialektisch
nothwendige Glied, um dann ebenfalls zu verschwinden. So ist
auch bei diesem Taumel der Dinge keine Hoffnung, einen vom
Rausche und von der Bremse befreiten ruhigen und vernünftigen
Gott und eine wirkliche Welt zu erhalten, sondern der Gott
muss, da er Alles ist und in Alles übergeht, immer zugleich sein
und nichtsein, so dass sein Wesen mit dem inhaltlosen abstiacten
Werden oder dem Nichts zusammenfilllL
Dieser pantheistische Gott ist uns deshalb nicht gross genug
und kann uns nicht mehr imponiren, da wir eingesehen haben,
dass er aus der alleingelassenen und preisgegebenen theo-
retischen Function gleichsam unehelich geboren ist Legitim
wäre die Geburt nur, wenn der Begriff des substanzialen Seins,
welcher der Idee des absoluten Geistes zukommen soll, seine
Abkunft aus dem Vorbilde des Ichs und des nicht durch Schlüsse
gewonnenen Gottesbewusstseins durch die Aehnlichkeit seines
Typus nachweisen könnte und wenn die theoretische Function
bei ihrer Selbstverherrlichung nicht die geschwisterlichen Fun-
ctionen der Handlung und des Gefühls in eine unwürdige Ent-
fremdung und knechtische Stellung brächte. Wir wollen dies
uns noch durch einen Vergleich deutlich machen. Vergleichen
wir die Welt mit dem System der Zahlen und bewundem die
uiymzeu uy V^jOOV IC
540 Pantheismus des Gedankens.
unendlichen Reihen, die schön gegliederten Gegensätze der nega-
tiven und positiven, der geraden und ungeraden, der ganzen und
gebrochenen Zahlen u. s. w. und ebenso die unendlichen Com-
binationen, die aus den Elementen durch die verschiedenen
Operationen gewonnen werden. Zu dieser schönen Welt suchen
wir nun nach idealistischer Methode den Gott und müssen ihn
dann der Analogie gemäss finden in der leeren und unbestimmten
Einheit, die Alles und Nichts ist; denn sie ist Eine Drei, Ein
Tausend, Eine Million, Eine unendliche Reihe und so bei jeder
Operation ist sie die Einheit des Elements und die Einheit des
Products und des Differentials und der Gleichung und der
Operation selbst. Jedes ist Eins. So ist der Gott des Idealismus
Alles in Allem und doch Nichts, leer und wesenlos. Zu dieser
trostlosen Consequenz kommt der Idealist, weil er das Denken
oder die Erkenntniss, worin nur Eine Function des Geistes liegt,
ftir das Ganze nimmt und daher über den letzten Ursprung seiner
Resultate keine Rechenschaft geben kann. Wir aber sehen sofort,
dass diesem ganzen idealistischen Zahlensysteme aller Werth
fehlt; denn man setze nur Einen Thaler statt der unbenannten
Million, und sofort ist ein Interesse und ein Werthunterschied in
der Welt, der auf dem Willen oder Gefühl beruht. Setzt man
dann noch die Person hinzu, welche die Werthe ausgiebt und
empßingt, so kommt Sinn und Verstand in die Welt, und wir
sind frei von dem Taumel der Maja und von der Leerheit des
Subject-Objects.
Darum ist der Idealismus durch eine höhere und legitime
Philosophie zu ersetzen, die sich nicht auf Erscheinungen auf-
baut und nicht in blossen Abstractionen von Erscheinungen
arbeitet. Diese höhere Philosophie soll hier nicht in vollständiger
Rüstung hervortreten; es genügt, wenn sie vorläufig die Usur-
patoren in den Sand wirft. Ich sage darum hier nur, dass eine
Mutter, die ihr Kind an*s Herz drückt, unbewusst eine höhere
Metaphysik besitzt, als in dem Parmenides Platon's, im zwölften
Buche von Aristoteles' Theologie und in HegeFs Logik und in
den Upanischaden vorgetragen wird; denn sie hat das feste Ver-
trauen zu der metaphysischen Substanzialität ihres Kindes, und
das Geftlhl ihrer Liebe lässt sie an der Realität ihrer Thätig-
keiten nicht zweifeln. Dadurch hat sie ein naives, aber durch-
aus richtiges Bewusstsein von dem, was wahrhaft ist, unter-
u.quizeuuy Google
Dogmatik. 541
scheidet Wesen, Thätigkeit und Vorstellungsinhalt und steht also
über dem grössten Idealisten, der durch einseitige Hingabe an
die Erkenntnigsfunction die Welt nur als Yorstellungsinhalt und
das wahrhafte Sein nur als das Allgemeine auffasst.
Mithin ist die Beligionsfoim des Idealismus nicht höher, als
die der Mystik und die des praktischen und künstlerischen En-
thusiasmus; sie zeigt uns nur die dritte mögliche Einseitigkeit,
die intellectualistische Religion. Wie aber die projectivischen
Religionsformen durch den Atheismus zerstört werden, so fallen
alle Formen des Pantheismus, sobald man ihren Ursprung auf-
deckt und die täuschende Grundlage durch Kritik vernichtet
Also müssen wir jetzt entweder als Atheisten zweiter Potenz auf
Religion überhaupt verzichten, oder eine bessere Grundlage durch
eine wahre Metaphysik besitzen, auf welcher dann mit sicherer
Statik und stilvoller Architektonik die wahre Theologie aufgebaut
werden könnte. Damit aber kommen wir zur dritten und letzten
Stufe religiöser Bildung, zur Philosophie des Christenthums.
-eo
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Sach- und Namen -Verzeichniss.
Abendmahl 251, 252, 421.
Abhängigkeitsgefühl 84.
Ablass 323.
Abner 315.
Abraham, Opfer des Isaak 147, 327.
Abscheu 276.
Abstraction, keine Elimination 70,
286 f.
Accidenz 106.
Achtung 283.
Aegypt. Todtenbuch 147, Theologie
536.
Aeschylos 342.
Aesthetisch 438, 447.
Agamemnon 327.
Agrippa ab Nettesheim 56.
Ahriman 287.
Akt 71, 84, 86, actus puros 506.
Alchemie 329.
Alexander d. Gr. 369.
Alibi 204.
Allah 265 ff., 339.
Analogie 63, 160.
Analyse 387, 403, 406, 473, 503.
Anerkennung 309.
Angeboren 232.
Animismus 135.
Anlage 71, 81, 232.
Antagonismus 430.
Antisthenes 6.
ätcdö-eux 479.
Apollo 175, in Delphi (bei Piaton) 483.
Apologetisch 107, 181, schlechte Apo-
logeten 222.
Apostel 226.
Apotheose 402, 479, 480.
i Apotropäen 143.
Appellativ 238.
Apriorisch 5 f., 52, Rechtsbegründung
59, Coordination 71, 232, 249, 287,
322, 402.
Araber 265.
Arabische Märchen 247.
otpai 238.
Aratos 139, 176.
Arbeit, coordinirt dem Glück und
der Noth 389, 396.
Archaischer Idealismus 497.
Architektonik d. Wissens fehlt bei
Lotze 21.
AristoteleSjPsychologie 32, Metaphysik
106, dem Volksglauben unterworfen
135, Berührung der Gegensätze 141,
falsch natura secunda 170, Wunder
176, Orakel 179, Fledermäuse 191,
GränzederttTCoSstStc 207, Topik 227,
falcher Begr. d. Ehre 240, Stellung
zur Religion 263, Tragödie 328,
Atheist gegen die Volksgötter 368,
Ethik 448, Apotheose des Philos.
480, Theologie 504, Pluralismus
506, Atomismus ideal. 507, gegen
Platon's und Speusipp's Theologie
511, Entwickelungslehre 511, voiQan;
voY|oea>5 538.
Armenier (Schlangencult) 136.
Artform 170, 505.
Askese 324, 333, 410.
Astrologie 139, 154.
Atheismus 92, 103, 123, mit dem
Kopfe 234 f., 253, Relig. 357—373
407, 478, 541.
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Athen — Chnstenthum
543
Athen, abergläubisch 130.
Atman 534. .
Atome 370, Atomismus 507.
Auferstehung 177, 189 f.
Augenblick 89, Vorrede.
Augui-en 164, Wissensch. 178, 220.
Augustin 219.
Aurinia 250.
Auserwählte 82.
Auslösen 232.
Autorität, Quelle der 215, 429.
athxo^ 512.
Azazel 341.
Baader Philos. 532.
Bärencult 137.
Baidur 317.
Bambino il 141.
Begehren, nicht spontan 30.
Begriff, nicht von jedem Vorgestellten
167, falsche Auffassung 168, haben
keine Beine 229, durch Denken
284, nichts Empirisches an sich
362, und Gegenst. 405.
Beifall 43, 276, 446.
Beispiele, wichtig zur Deutlichkeit
224, 444.
Bekreuzigung 151.
Beredsamkeit 185.
Berufene 82, Berufung 309.
Besessenheit 289.
Bewegung, im Geiste 34, Uebergang
in Kunst 34, sx)ecif. Kriterien 35,
coordinirt dem Willen und der Er-
kenntniss 35, im Denken 40, Exe-
cutivorgane 45, geistige 48, 49,
Kunst 56, Streben 61, und Wille
62, Kealität 62, Bewegungsapparat
64 geistiger, reales Sein 65, Problem
der Bewegung 85.
Beweis, indirect 46, 213.
Bewusstsein, Gränzen, Quantität 31,
persönl. 73, nicht = Erkenntniss
74, nicht Wissen 75, 214, 444,
Quantität 89, 302, Vorrede.
Beziehungspunkte , auswärtige 66 ,
fund. relat. 72,, Beziehungsgrund 73,
237, 238, 244 f., 295.
Bilderverehrung 142.
Bismarck 172, Vorrede.
Blasius, Zoolog 230.
Böhm, Jac 532.
Bonghi 503.
Böses, Princip 288 f., Sünde 301,
radicales 349.
Brahma 534.
Brahmanismus 382, 407, 527, 530.
Bretschneider 185.
Buckle, Vorrede.
Buddhismus 406 ff., ohne wissenschaft-
liche Dogmatik 491 f.
Bülow, Frhr. v., 126.
Busse 323, 327, Bussgefühl 305, Buss-
predigt 307.
Büsser, keiner religiös befriedigt 333.
Butzemann 138, 317.
Cartesius 221.
Caspari Otto 95.
Causa efficiens 245.
Causalitätsgesctz 215, mechan. Gausa-
litätsgesetz 216.
Chaos, Materie und der Ideen 499.
Charakter (proprium) 406.
Chemie und Alchemie 329, 402, 406.
Christenthum 83, 100 f., 104, 110,
humorist. Mariacult 137, Crncifix
als geprügelter Götze 138, Cultus
jährl. Periode 140, rein histor. 141,
Verhältniss zu den heidnischen Ele-
menten 141, Gott und Maria 148,
auswärtige Angelegenheiten 152
Wunder nichts specifisch Christ-
liches 169, Leichnam Christi 177,
Symbole im Cult 180, Wunder
180 f., worauf seine Macht nicht
beruht 186, Wahrheit der Wunder
187, Auferstehung 189, neue Meta-
physik 141, 191, Gebrauch der
Wunder 217, Christen als Gläubige
der Furchtreligion 220, keine bor-
nirte Sekte 222, Bekehrung des
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544
Ghristenihuin — dii inferni
Paulus 224, nicht gebunden an die
Illusionen des Paulus 226, kein
stereotyper Kanon 22(3, mit dem
Her/en 2;U f., bei Mohamed 266,
dasllistorische nicht auf Allegorisches
zurückzuführen 293, steht über
Idealismus, Pessimismus, Optimis-
mus und Piatonismus 321, keine
Armuthsforderung 323, keine Stell-
vertretungsidee 328, für alle Men-
schen 330, Aneignung im Glauben
333, Pajwtthum 346, unreine Formen
359, neuplatonisch gefasst 380,ewiges
Leben 409, christlicher Gott 414,
pathologischeFormen 418, Deduction
der drei pantheistischen Verimingen
419, Iteligion nnd Staat 419 f., con-
ti nuirlicher Gebrauch 439, allegor.
spielerisch gebraucht 460, Humor
464, bei Fichte 480, wissenschaftl.
Theologie 491, 526, mit dem Idealis-
mus nicht vertniglich 507, christ-
liche Denker, von Aristoteles in-
spirirt. Erlösung 514.
Christus 13, 177, 323, 330.
Cicero 191, 326.
Citrone 5, 34.
Civilisation 389.
Civürecht 50 ff.
Clemens Alexandrinus 110.
Commune 328, Logic.
Comte A. 100, 362, 526.
Confirmation 97, 98, 289 historisch,
404 empirisch.
Conjectur 160, 165.
Congestion im Bewusstsein 302.
consensus, c. tacitus, consentire 52.
Continuität 230.
Contract 446.
contritio cordis 305.
Coordinatensystem 42, coordinirt 54,
60, Beispiel 66, 154, Religion 71 f.,
Einheitd.85f., Wesen d. Denkens 214,
Form d. Wirklichkeit 217, Dialektik
228, 234, 244, des Zufalls 253, des
Islam 266, 300 f., der Functionen
309, 336, 338, zwei Systeme 312,
Religion und politische Organisation
342, zeitlos 385, Störung 420, Be-
wegung 4 23, Ortsbestimmung im 444.
cftlpa 132.
Culturgeschichte, positivistisch 110,
abzuweisen von der Philosophie 229.
Cultus, Definition 144, Perioden 140,
299, spielerisch 415, kirchenenthu-
siastisch 422, im Idealismus 487,
im Brahmanismus 535.
Dämonen und dämonisch 165,Definition
259, 287.
Dankbarkeit 118.
Darwinisten 94 f., 107, 229, 512.
David 300, 315, 317.
Decii 326.
Deduction 117.
Definition 16, Eintheilung d. Definition
67 ff., individuelle, generelle, ideale
09 ff., noth wendig mehrere von dem-
selben Gegenstande 7U, genetisch
72, Definibilität 443.
Demetercult 90.
Demokrit 15.
Denken, immer unter Leitung des
Gefühls 39, 58, 65, als Bewegung
und Können 63, Inhalt und Be-
wegung trennbar 64, und Vernunft
121, unbeschränkt im Menschen 194,
denkmatt 197, hinreichender Grund
203, durch keine Gesetze einge-
schränkt 208 , Bewusstsein des
Aktes 238.
Depositum 274.
Derwisch 90, 268.
Despotismus 342.
Deutschland 51.
Deutung 172.
Diagnose 423.
Diiüektik 64, 204, 227, 234, 518.
Dianoetisch 449.
Dichter, vom Gefühl geleitet beim
Componiren 65.
Differenz 403, 443.
dii inferni 326.
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Dilthey — Formen
545
Dilthey, metaphysische Anarchie 7,
Kechtsbegriff, Thatsachen, Wille,
Positivismus 55 f., angeblich histo-
rische Schule 361.
Diogenes Cyniker 367.
Dionysios Areopagita 454.
Distinction 64»
Diven 289.
Dogmatik 228, Dogma buddhistisch
408, falsche Norm 421, 435.
Drahtpuppen 246.
Dreieck, dreieckiger 17.
Dreieinigkeit des Geistes 65.
Dreizehn 252.
Drobisch 36.
Dscharatkaru 827.
Dualismus 127, 286, 291, 503.
DueU 239.
Durst buddhistisch 407.
Ebers Georg 324, 346.
Edda 247, 249, 258, 317.
effectus pro causa 61.
Ehe 421.
Ehre Begriff, abhängig vom Gefühl
13, falscher und richtiger Begriff
240, Ehrenerklärung 241, Ehrfurcht
283, Ehrgeiz 413.
elXmptvi(; 498.
Einheit 85, das Eine 538.
Eintheilung 93, genetisch 94, transc.
Eintheilungsprincip 176, 443, Inter-
esse 382, ohne Werden 385, setzt
Analyse voraus 387.
Einsegnen der Kinder 242.
Einseitigkeit 443.
Eklecticismus 525.
Ekstase 91, 464.
empir. Wissen , abhängig von der
Philosophie 7.
Empirismus 96, 215, Revolte gegen
die Philosophie 399 ff., empirische
Voraussetzung 503 f.
evipY^ia 500.
Engel Gottes 200, Stemgötter 508.
Entelechie 512.
Enthusiasmus 191, 413.
Entrüstung 50, 59, 276, 282, 358.
Entwickelung 57 , Entwickelungs-
geschichte 107, 231, anzuerkennen
109, 241.
Epaminondas 416.
Erdmann in Halle 481.
Erfahrungswissenschaft 56, s. Empi-
rismus.
Ergänzung 838.
Erinnyen 238.
Eris 259.
Erkenntnissvermögen , nicht recept.
28, 38, 44, specif. und sendet. Er-
kenntniss 68, nicht religiös 72, nicht
= Bewusstsein 74, semiotisch 217,
opp. Bewusstsein 444, idealistische
Erkenntnisstheorie 498, Vorrede.
Erlösung 407, 412, bei Piaton 488,
512 ff., 513 f.
Erscheinung opp. metaph. Wesen 336,
projectivisch 494.
Ethik 59, im Islam 267, buddhistische
410,pantheistiBche 414,sociaJethische
429, künstlerische 437, Aristotelisch-
hellenische 448 ff.
Etymologie von Wille und Gefühl 67.
e^daifjLoyia 449.
Eucken 95.
Euripides 179, 195, 247, 263.
Evangelisten 227.
Ewiger Jude 897.
Ewiges Leben (QuaHtät) 381, 502.
Extreme 428.
fallacia ex accid. 507, 529.
Fatum 249.
Fechner, Vorrede.
Feen 250.
Fetisch 142 f.
Fichte 75, 205, Sittengesetz = Gott 369,
Staatsenthusiasmus 414, Gnosis 419,
apecul. Idealismus 480 f., 515.
Fluch 285 ff., Tod 242, schwarzer
Bock 327.
Formen 233 f., Bedingung neuer 244, j
546
Formen — Gott
reine und unreine 404, 432, des
PantheijBmus 490, Idee 493.
Fortschritt der Civilisation 220, 389,
391, 415.
Franclin, Beig. 319, 391.
Frankreich 51.
Frauen 250.
Freiheit 46, freiwillig 325, freie
Thätigkeiten 326.
Freude 409.
Friedrich Wilh. Preuss. König 222.
Frömmigkeit 405, 415.
Fügung 193, 218 f.. 249.
Functionen der Seele 26, 232, 403,
433, 436 f., Uebeigewicht 443, 474.
Fundament 490.
Furcht 50, 53, 59, 102, 118 f., 530,
Gegenstand d. 123 ff., Wunder 180,
Islam 267, Furcht und Sünde ho-
molog 312, Furchtrelig. Gesellig-
keit 389, Furchtgott 407.
Gebet, mechanisch 85, Wirksamkeit
148, unrein 333, bei Kant 371 f.
Geburtsgötter 259.
G e f ü h 1 , bei Arist«, Plato und Spinoza
32, G. u. Wille 27, 36, 43 def.,
58, synonym 66, symbol. 80, kein
G. ohne Bewegung 65, nicht schlecht-
hin religiös 98, Motiv der Religion
116, relig. 447, alle persönl. G.
haben Beziehung auf die Zukunft
117, begründet allein Werth und
Autorität 215, Yerhältniss zur Ge-
selligkeit 337, unpersönlich 379,
Genuss der Heiligkeit 405, En-
thusiasmus 413, imPantheismus451,
kurzlebig 465, im Idealismus als
niedrigere Erkenntnissstufe 482,
def. 444, Eintheilung 270 ff., 446 ff.
Gegensätze, angebl. höchste 383.
Gegenwärtig 89,
Gehorsam 410 f.
Gelten 3, 215, 352.
Geist bei Krause 20, opp. projectiv
376, hlg. 420, Trennung der Fun-
ctionen 436 f., absol. bei Hegel 482.
Generisch 170, Gattung 403.
Genetisch 72.
Gerecht 167, Gerechtigkeit 291.
Gerichtshof 45.
Geschichte 70, geschichtl. Betrachtung
97, 109, 427, Phüos. d. 220, 347,
291, 294, 314, 317, Weltgesch. 224,
religiös. 332, Gesch. d. Philos. 360.
Geschlechtstrieb 42.
Geschmack 42.
Geschworenengericht 46.
Geselligkeit 335 ff., motaphys. 336 ff.
Gesellschaftsordnung 412.
Gesellschaftswissenschaft 400.
.Gesetz des Sprungs 230, Gesetze
moral. 274, Jurist. 323.
Gesinnung, Begr., nicht Willen, 76,
Sprachgebrauch 78, verdorben 313,
relig. 456 ff.
Gespenster 134 ff., 187.
Gewissen 300, 311, verdorben 313,
Wirksamkeit 404, unveränderliche
Keaction 423.
Gewissheit 40, Def.
Gewohnheit 50.
Glaube 82, 183, 411, 414.
Gläubige 307, nicht im Pantheismus
381.
Glaukos, im Netz gefangen 150.
Gleichnisse 409.
Gloatz, Paul 173.
Glückseligkeit 390, 415, 449.
Gnosis 419, 482 ff., 536.
Goethe 82, 193, 219, Faust 394, 435,
439, 461, 465.
Goltz, von der, Freiherr, Vorrede,
Gott, GottesbewuBstsein 79, 99, 132,
447, relig. u. philos. 87, variabel
133, offenbart sich 72, Gewissheit
88, Sprache der Götter 178, 184,
Wort Gottes 309, Anfang der Re-
ligion 114, projectivisch 111, 306,
erster 125, Böse 126, veränderlich,
in Gemeinschaft mit dem Menschen,
abh. vom Menschen 131, unerforsch-
lieh 133, 306, als Hausgott und
Nationalgott 133, 294, wir seine
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Gott — Heuchelei
547
Mitstreiter 134, Penaten 135,
Schlangen u. Thiere 136, Menschen
138, Könige 138, geprügelt 138,
Sterne 139, Leben, Geburt, Tod,
Kindheit, Leiche 140 f., 293, Mensch-
werdung 293, 510, Götterwelt im
Ich verschwunden 376, Vergottung
380, im Fantheismus 382, als theo-
retische Function 478, i^rspectiv.
Stellung 134, Götzendienst 142,
Fresslust 147, Geschlechtslust 148,
durch Gebete bestimmt 148, vom
Priester pacificirt 156, Wirksam-
keit an Fluch und Segen gebunden
244, betrogen 326, Götter als Diener
287, Abbildungen 292, geschicht-
lich 292, 294, Unver&nderlichkeit
295, Entfernung von uns 305, nicht
in der Wolkenregion 371, Zufall
192, Einheit ausser der Weltsumme
198, Reich Gottes 227, übematürl.
Verkehr mit G. 199, drei Eigen-
schaften 385, Geschäftskreis 427,
verlorener Glaube an Gott 414, Un-
bestimmtheit des Rechtsgottes 283,
bei Aristoteles 480, Gott und Mensch
im archaischen Idealismus 496, als
Philosoph 510, idealistisch 539.
Gottlosigkeit 358.
Gratulieren 242 f.
Grund, Satz vom G. 196, Beweis 207,
209.
Gut, höchstes bei Kant 18, Beziehung
zum Gefühl 37, Stufenfolge der
Gater 279, Güterlehre 398, Idee
447, dem Wahren untergeordnet
im Idealismus 475 f., Def. 389.
Güterverkehr 325.
Haakh 326.
Habsucht 271.
Hades 259.
Haeckel 95.
Handlung religiös 98, 116.
Hartmann v. 360.
Hamack, Adolf 174 Wunder, Vorrede.
Haschisch 91.
Hebräische Relig. Kinderopfer 147,
Opfergeruch 148, Jacob's Ringen
mit Gott 150, Mosis Theurgie 150,
Juden 181, Philos. d. Gesch. 220,
315, Schicksalsidee 246, Monotheis-
mus 286, höchstes Gut 318, schwarzer
Bock 327, Inhalt der prophetischen
Schriften 340, Feste 341, Elemente
d. Furchtrel. 371, keine wissensch.
Theologie 491 f.
Heckerling 143.
Hedonisten gelobt 37, 410.
Hegel versteht das Gefühl nicht, über
Schleiermacher 18, versteht die
Kunst nicht 19, durch die Sprache
getäuscht 32, Subj.-Obj. 75, Relig.
als Vorst. 19, 81, Metaphysik 100,
106, dialekt. Entwickelung 108,
Grundgedanken von den Griechen
entlehnt 109, Zufall 153, Idealismus
205, speculativer 481, 517, pro-
jectiver 497, Versteckspiel mit den
Theologen 224, Kritik seiner Dia-
lektik 229, ReHg. d. Schönheit 262,
religionsphil. Methode 329, 514,
dialekt. Schema 384, Eintheilung
der Religionen 402, Staatsidee 414,
Gnosis 419, Vorrede.
Heilige, pantheist. 405.
Heiligkeit 404.
Heiligkeitsgenuss 405.
Heilsarmee 151.
Heilsgeschichte 220, 224.
6l|j.apjjivYj 249.
Heine Heinrich, Juden. Mönch 182, 396.
Hei 259, 317.
Helios 139.
Hellenische Cultur 237, 247, Schick-
sal 249, Religion 262, Redner 315,
Feste 341.
Herbart, Psychologie 28, 32, 36, Vor-
stellungspsychologie 44 , Metaph.
100, System 205 f., Eidolologie'377.
Hermhuter 462 f.
Hemchsucht 271, 413.
Heuchelei 10.
uiyiu^V Google
548
Heuristisch — Joab
Heuristisch 168.
Hexen 138, 251.
Hierarchie 345.
Himmelfahrt 182.
Hiob 291, 318.
Hippokrateer 494.
Hippolytos 380.
Hitopadesa 246 v. Max Müller über-
setzt.
Hölderlin 439.
Hofl&iung 118 f., 267.
Holzmann, ind. Sagen 326
Homer 185, 196, 262*
Homiletik 223, 225.
Homolog 282, 388.
Horaz 35.
Horus Ra 139, 141.
Hostie 242.
o5 svexa 489.
Hufeisen 252.
Hugo Victor 416.
humanitas 501.
Humoristisch christl. Cultus 137 f.
Humor 464.
Hut aufsetzen 60.
Hylozoismus 361, 496, 503 f.
Hymnen 146.
Hypertrophie 420.
6icoxeifjk6vov 506.
Hypothesen 255, hypothetisch 420.
Jacob, Bingen mit Gott 150, Segen
des Isaak 242.
Jacobi 32.
Jajati 327.
Jama 259.
Javolenus 53.
Ibikus 199.
Ichheit 73, Herr und Eigenthümer
des geistigen Lebens 74 f., Zeit u.
Klarheit 113, ist eine metaphysische
Erkenntniss 113, verschiedene Stel-
lung 288, mit dem niedrigeren
Element identificirt 304, 306, setzt
sich in den Geist 375, Bruttoauf-
fassung 377, Verschwinden des Ichs
378 f., im Schlaf 380, als Erschei-
nung 403, und Welt 446, kann
nicht in der Function verschwinden
464, Vorrede.
Ideal 69, 70.
Idee projectiv 494.
Ideen 231, 447, 499.
Idealisten 29, 479.
Idealismus 33, falsche Weitaus. 69,
214, 219, 321, Grundfehler 484,
archaische Form 492, subj. 497,
539 f.
Idolon fori 32.
Jehovahreligion 263.
Jephtha 326.
Jeremias 315.
Jesus, Wunder der Furchtreligion
verhasst 226, kein Gott der Furcht-
religion 226, Reinheit 316.
ignoratio elenchi 430.
Illusion 88.
Immaterielle Wesen 505.
Incantation 241.
Inder 247, Schicksal 286, SteUver-
tretung 327.
Indication 430.
Indirecter Beweis 46, 470.
Individualistisch 429.
Individualitäl, im Idealismus uner-
klärt 501.
Individuation 494.
Individuelle Definition 69, Wesen u.
Interpretation 219.
Indra 286.
Inductiv 299.
Inhalt 412.
Iigurien 239.
Intelligibel 497, Wesen 505.
Integration 338.
Interesse 339.
Internationale, die 415.
Interpretationsgesetze 184 f., 219.
Inspiration 161 ff., Wesen 162, ist
Thatsache 163, Islam 268, prophet
309.
Jo und Zeus 148, 539.
Joab 315.
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Jogi — Löning
549
Jogi 381.
Johannes Evang. 532.
Joseph 184.
Joukahainen 240.
Iphigenie 827.
Irreligiös 91.
Isaak, Opfer 147, 327.
Islam 181, 264 ff., 286, 339, 343, 346,
hei Lessing 348.
Jadenthnm 266.
Jüdisch s. Hehräisch.
Jurisprudenz 47, juristisch 322 (tech-
nische Function), Versöhnung 333.
Justitia blind 379.
luvenal 326.
Kain 282.
Ealchas 175, 185.
Kalewala 240.
KaXon^faBia 448.
Käma 535.
Kant versteht das Qefühl nicht 18,
Metaphysik 100, Teleolog. 203, 206,
Versteckspiel mit den Theologen
224, Eeligionsphil. Methode 329,
Relig. 349 f., Gott Postulat 869,
Gebet 372, Gränzen der Natur-
wissenschaft 233, Begründung der
Moral 273, Ideal des höchsten
Gutes 318, Moral 438, Streben 319,
kritischer Idealismus 497, Vorrede.
Kantianer 17 f.
Karman 585.
Kapuziner 223.
Katechismus 237.
Kategorie 273.
Kd^ai( 513.
Kathol. Kirche 180, 404, 421, 423.
Keren 238, 259.
Kern, Franz über Joh. Scheffler 473.
Keuschheit 421.
Kindschafbsidee 317, jüd. nur dem
Namen nach gleich mit der christl.
Kirche 220, und Paulus 224, Verderb-
niss 316, def. 345, umfasst auch
Ungläubige 386, def. 420, 426, und
Philos. 485.
Kirchenväter, atheistisch 103, Dämon
164.
Eirchenenthusiasmus 418 if.
Köhlerglauben 255.
Könige, göttl. Macht 138 f.
Körper def. 41.
Koran 265.
Kosmologie 257.
Kraft lebd. 63, 71, 89 f.
Kraftmagazin 63.
Krause, Philos. 20, Metaph. 100.
Krita<yuti 254.
Kritik 4, 182, 191, 261, 357, 533.
Kriticismus 103, 215.
Kroisos 179.
Krug, Def. d. Relig. 17.
Kunst 56, 48, s. Bewegung, Kunst-
werk und Phantasie 225, Aufgabe
321, nur indirect gesellig 338, Def.
434, Symbol. 475 opp. Kritik, erster
Sclavenplatz 477, und Theorie 478,
482.
Laas 109, 861.
Lähmung 65.
Lange 214, Logik.
Langenbeck 177.
Laie 338.
Laren 136.
Larven 136.
lebendig, Glaube 17, Kraft 63, 71.
Lebenszweck 274.
LegaUtät 403.
Leibnitz falsch über Wunder 173, 331.
Leiden 325.
Leidenschaft, Aehnlichkeit mit der
Inspiration 165.
Leonhard über consensus 52.
Lessing 274, 319 ewige Höllenstrafen
331, Relig. 348.
Leverrier 88.
Liebe dreif. Def. 71, 339, 850.
Ijocke 6, 282.
Löning 55 über den Begr. d. Rechts.
uiymzeu uy x^jv^/v^
Si«
550
Logik - Motive
Logik, kategoriale Verschiebungen
und Verdichtungen des Denkens
168, Topik 227, Denken als han-
delnde Thätigkeit 445, log. Geföhle
447 — - Abstraction 70, genus und
unterste Artform 170, Satz vom
Widerspr. 187, empir. Untersatz
194, Satz vom zureichenden Grunde
207 ff., Commune 828, Defiuibilität
896, 443, Eintheilung 886 f., omnis
determ. est negat. 499, Satz: aus
Falschem Richtiges ableiten 463,
Dilemma 525, Methode 287, 329,
religiöse 257, indirect 470, Analyse
470 f., specul. Analyse 488, 492,
Analogie 493, projectivische Auf-
fassung 495, Sophisma 485, ex acci-
dente 507, 529, Paralogismus 484,
Bruttogewichte 491, fall, de plur.
interrog. 181.
Loki 317.
Loose 248.
Lotophagen 119.
Lotze 21 Def. d. Relig., Metaph. 100,
Idealist, Zeit, Nichts, Raum 205,
Hellenismus 336, Sommer- und
AVinterresidenz des Ichs 880, 524.
Lucian 365, 371.
Lucretius 364.
Lust bei Spinoza 33, zu etwas 60,
409 f., positiv 456 f.
Lykurg 413.
Lyssa 259.
Psychologie 32, 36.
Macbeth 43.
Macht 265.
Majorität 58, 429.
Malaga 137.
Mandat 308.
Maria, Jungfrau 143, 137, 339.
Maschinentheile 63.
Materie 493 bei Piaton 498, 506.
Materialismus 153, Zufall, Atome 370.
Mathematik specif. Wiss. 68.
Maximen 273.
Mechanismus 64, 216, 243, 245, 255,
271.
Medicinmänner 154.
Medius terminus 208.
Meinung opp. Wissen 3, 78, falsche
Meinung 3 Achillesfersen 9, nicht
abhängig vom Willen 9 f., Classi-
fication der Meinung 10.
Melanchthon 195, 363.
Mensch und Thier 81, Menscbencult
188, homo sapiens 275, Mensch-
heitsidec 414, Einseitigkeit 443.
Messing 61.
Metaphysik 99, 105, 199, 219, 227,
233, 320, Geselligkeit 336, 383,
Sein 425, 464, legitim 540.
Methode, analyt. 473, analyt. und
synthet. 41, 45, 402, synthet. 59,
66, heuristische 168, indirect. Bew.
46, Abstraction 287, specul. 295,
induct. 299, deduct. 300, Aetiolog.
und Semiotik 419, Diagnose 423,
strategische 428, Indication 480,
Fehler der histor. 488, feste Formen
492.
Methodismus 472.
Minerva 339.
Missfallen 43, 275.
Mitleid 274.
Mitte 428.
Mittel 408.
Mönch 424.
Mören 238, 252.
Moltke, Graf von 177, 415.
Monarchismus 128, 265.
Mondcultus 258.
Monotheismus 126, 265, 285, 289.
Moral 55 und Recht 272, Moralität
Ursprung 273, 297, 306, falsches
Kriterium 291, d. moral. Verhält-
niss 296, starker als das leiden-
schaftliche Element 302, Granzen-
losigkeit 331, dualistisch 438, mo-
ralische u. polit. Tugend 475.
Motive 42, 265, 274, 284, 407, 412,
415, 475, 477, 478, d. Relig. 116,
273, 408, 410, 529. Q^^^\^
Moses — perspectivisch.
551
Moses 290.
Mrokoro 126.
MüUer, Max 289, 406, 530, 537.
Mundos sensib. et intell. 497.
Musikalische Phantasieschwftrmerei
470-
Mysticismus 419 def., 453, 460,
Mysidker und Atheist 467.
Mythologie, Ursprung nicht aus Phan-
tasie allein 129 f., Entstehung und
Wesen 258, und Philosophie 261.
Nägeleinschlagen 252.
Nahlowsky 86.
Nahrungstrieb 41.
Nahuscha 327.
Napoleon 413.
Nationalidee 339.
Nationalökonomie 398.
Natura secunda 170.
Naturalistisch 14, Naturalismus 218.
Naturerscheinung 235.
Naturforschung 233, 255, 271.
Naturgesetze 233.
Naturschwärmerei 468.
Natur bei Krause 20.
Negation Grund der Bewegung 120,
277, 407.
Negativität 205, 229, 518, 539.
Nemesis 237.
Neptun 88.
Neuplatonismus 380.
Newton 195, 222.
Nimbus 416.
Nichts 495, 498.
Normale, die 169.
Nomen 250.
Noth 184.
Noth wendigkeit, die 216.
Noö<; 496, vooüjjieva 497, 505, Inhalt 508.
Novalis 440.
Nützliche, das 216, Bef. 389, 475.
Nullpunkt 303.
Objectiv 414.
Obligirendes im Recht 53.
Obscura per obsc. 61.
Odysseus 119, 196.
Oettingen, Alex. v. 422 ff., 522.
Oldenberg, Buddha 406, 408, 533,
535, 527.
Opfer 147, 158, 179, 323, 407, 411.
Optimismus 535.
Orakel 158, Vieldeutigkeit 179.
Ordnung 246, opp. Zufall 253, mechan.,
log. 256, obj. 275, gestörte 276, 301,
420, Coordinatensystem 446.
Organ fingirtes 81.
Ort der Begriffe 68, 87, 423.
Othello 43.
od ivsxa 500.
o&ota 494.
Oxymoron 56.
Pädagogik Wissen und Können 63,
Behandlung des Anfangs des Zweifels
221, Prügelknaben 334.
Pantheistisch 101, Formen 104, def.
376, 425, 441, Eintheü. 382, Ich
414, die drei christl. Formen de-
ducirt 419, Eintheil. 431, keine
Volksrelig. 442, Gefühl 447 f., opp.
Atheismus und Pessimissmus 455,
quietistisch 459, und Atheismus
vergl. 478, Formen 490.
Papst 172, 346, 483.
Parabolische Bedeutung 224.
Paralogismus 132 f., Beisp. 484.
Parcen 238, 250.
Patholog. Erscheinung 169.
Patriarchalische Regierung 343.
Paulus 189 ff, 224 f. Illusion der
Wiederkunft 226, Akropolis 363.
Penaten 136.
Perser 292.
icsicXov 389.
Persönlichkeit 69, 73, Begr. 77, pers.
Verhalten 80, metaph. 101, HO,
191, religiös 248.
perspectivisch 117, 177, 183 f., 187,
199, Interpretation 218 f., 224, 234 f.,
uiyuizeu uy x^j v^ v^p^ Iv^
552
perspectivisch — Prometheismus
245, 249, 252, 256, religiöse Per-
spective 257, 272, opp. objectiv
275, 288, 412, 413, 427, 431, 459.
Pessimismus 254, 319, 375, 455, 535.
Pfleiderer, Otto, über Krause 20, 21,
Definition der Religion 22, Eintbei-
lung der Religion 97, Ursprung des
Cultus 134, über Wunder 173,
Methode 329, 523.
Pflicht 339, 405, 409.
Phantasie 129, phantastisch 414.
Pharao 184.
Philo 206.
Philosophie, Begriff 5, 11, 261,
Vorrede, Ghrund ihrer Anarchie 7,
abhängig von der Individualität 11,
Passion für 59, kann keine Minde-
rung ihres Gebietes erfahren 261,
Privatsysteme 362, Zahl der An-
hänger 363, starker als die Empirie
399, ist der Anerkennung schlecht-
hin sicher 401, Verhältniss zur Reli-
gion 12,263,undM7thologie261,und
Erfahrungswissenschaft 56, Goldland
der Philosophie 26, Stellung zum
Individuellen 69, Philosophie und
Christenthum 218, 485, Geschichte
294, neue Aufgabe der Geschichte
der Philosophie 329, hat keine
solche Perioden wie die Cultur-
geschichte 360.
Phönizier Einderopfer 147.
Pietismus 471.
Pindar gegen die griechische Mytho-
logie 263, Umdeutungen 342.
Pistis 482 ff., 511, 536.
plaisir 53, 58.
placitum def. 53.
Piaton Psychologie 32, Ethik 37,
rein 316, Staatsenthusiasmus 413,
415, Kriton 417, pädagogische Em-
pfehlung des heidnischen Gottes-
dienstes 419, Stellung zur Religion
483, Soteriologie, Platonische Liebe
488, Philosophen als Götter 510,
^loq 479, Rhetorik 186, Protagoras
gegen die Richtung . Spencer's 396,
gegen die Volksgötter atheiBtisch
gesinnt 868, Metaphysik 106, 509,
Zufall 153, Subject-Object 75, Mythus
im Timäus 206, Ideen 231, 499,
Drahtpuppen 246, projectiv. Idealis-
mus 321, 493, schwankt zwischen
Optimismus und Pessimismus 321,
bei Laas 361, Hylozoismus 496,
504, piaton. Idealismus 497 ff.,
Materie 498, Vernunft 499, Welt
500, 534, Zeit 501, Theologie 504,
kein persönlicher Gott 509, Ich 509,
Lebensloose 536, Parmenides 540,
Idee des Guten 514 als conservative
Idee, speculative Auslegung 516.
Plebejer 191.
Plethora 302. f.
PoHtik 420, 426.
Polytheismus 120, 238, 265, 285, 288,
positiv 3, Recht 52, Satzungen 367.
Positivismus 11, 56, 88, 100, 103,
HO, 219, 246, 296, 336, als Atheis-
mus 360 ff., Rausch 370, Ichheit 377.
practische Function 433.
Praedestination 227.
Prediger s. Priester.
Priapus 143.
Priesterthum 151, erste Aufgabe Er-
kenntniss 154, zweite Aufgabe Praxis
155, Verkehr mit dem Gott paci-
ficirend 156, therapeut. Behandlung
der Gläubigen 157, Orakel 158,
zweifelhaftes Ansehen in der Furcht-
religion 160, Rolle der Priester bei
Bestinmiung des Schicksals 250 ff.,
Erkenntniss u. Gebrauch der Wunder
178, Psychagogie der Prediger 223,
Priesterthum in der Rechtsreligion
307 ff., priesterliches Volk 310,
Geselligkeit 338, Eüerarchie 344.
Principien, ürkategorien 37, des Han-
delns 145,
projectivisch 101 f., 114, 214, 265.
284, 287, 297, 301, 304, 319, 332 f.,
359, 369, 471, 472, 531.
Prometheus 149 Betrug.
Prometheismus 393. ^ t
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Propheten — Religion
553
Propheten im Islam 268, hebräigche
291, 315, 345, in der Rechtsreligion
310, 344, Streit untereinander 310,
höhere Wörde als die Priester der
Furchtreligion 311 , Inhalt der
Schriften 340, Götzendienst 371,
höhere Erregung 381.
icpo^vYjot^ 146.
Protagoras, Patron der Positivisten,
361, Atheist 368.
Providenz 332.
Prügelknabe 334.
Psychagogie 157, 177, 217, 223, 322,
331, 334.
psychischer Mechanismus 64, 243.
Psychologie 118, 119, 155, 223, 243,
301, speculative 312, 381.
Pythagoreer 167, 505.
Pythia 250.
Quäcker 471.
quadratisch = gerecht 167.
Qualität 296, 230, 278, 406.
Quantitätsgesetze 89 des Bewusstseins,
opp. Qualität 230, 278, 297, 406.
Quietismus 454, 459.
Quintessenz 505.
Rache 237.
Rafael Sixtinische 225.
Rauber, Prof. in Dorpat, 95, Vorrede.
Reaction 305.
realistische Bildung 5.
Realität 133, 336.
Recantation 241.
Receptivität 36.
Recht 13 (abhängig vom Gefühl),
Begriff 47, Zufriedenstellung 323,
Ordnung 446, Ursprung 49 f., 276
ff., Furcht im Staats- u. Völkerrecht
50, posit.Rechtswissensch.51 , Rechts-
philosophie 52, römisches Recht 52
Grundlage, obligirend 53, Moral
und Recht 55 ff., Rechtsentwicke-
lung 57, Rechtsbewusstsein 114,
277, 308, 343, Gefühle 272, ver-
änderlich 280, moralisch 800, 408,
Verfassungsformen 342 ff.
Rechtsreligion unreine 87, 103, 180.
Rechtsgott 305.
Rechtsreligion wahre Religion 311.
Reflexbewegungen seelische 64, opp.
physiolog.
Regenmacher 152.
Reich Gottes 227, 306, 308.
Relation 230.
Religion qualitativ von andern Arten
verschieden 15, mod. deum cog. et
col. 16, nicht Gotteserkenntniss 17,
nicht Lebensgemeinschaft 23, nicht
Lebensbeziehung 23, nicht Deutung
oderGeschichtsbetrachtung 23, Reli-
gionswissenschaft semiotisch 68, als
Anlage, Act und lebendige Erafb 71,
als Act 84, als Anlage 81, als
lebendige Kraft 89, Religion auch
bei Sünden 71 , als Gesinnung,
persönliche Stellung 76, Gott und
Gottesbewusstsein 78, nicht über-
menschlich, nicht bloss historisch,
sondern Erfüllung 83, religiös opp.
weltlich 84, 87 f., 92, gener. Defi-
nition 91, Eintheilung noth wendig
93, geschichtl, 97, speculative Ein-
theilung 97, projectiv. 114, subject.
und doch allgemein 151, Weltreli-
gion 152, auswärtige Angelegenheit
152, Religion geht auf das Zufällige
und Einzelne 153, als Volksreligion
169, social. Infection 179, Religions-
philosophie 347 ff., Eigenthümlich-
keit meiner 229, 234, 329, Schicksal
248, die moralische kann die Ge-
schichte nicht erklären 293, Alle-
gorisirung der Naturereignisse 293,
Religion und Moral 331, Geselligk.
336 ff., Religion internationales Gut
531, Religion d. Sünde, Kritik 365 ff.,
Werkheiligkeit 402 ff., Grund der
Entartung 418, politische Auffassung
428 ff., Eintheilung 432, pantheist.
Gefühl 447 f., und Moral 451, und
u.quizeuuy Google
554
Religion — Sokrates
theoretische Function 477, 538, kein
logischer Process 484.
Bdnan 185.
Resignation 267.
Reue 118, 278, 304.
Rhetorik 185, 343, 352.
Richterliche Entscheidung 45.
Rischi 327.
Ritchie D. G. in Oxford 502.
Ritschi, Definition der Religion 23,
Gott Illusion 88, als Illusionismus
erkannt 173, Standpunkt 851, 524,
Vorrede.
Romanist in Dorpat 52.
Romantik 862, 439.
Rossmässler panth. Naturschwärmer
469.
Rover über Gonsensus 52.
Rudimente 150, 241, 251.
Ruhmsucht 416, Ruhm 417.
Sacramental 416, Sacrament 421.
Sacrifido dell' intelletto commentirt
423.
Saul 332.
Savonarola 188.
Schack V. 254.
Scheffler Joh., Angelus Silesius 459
ff., 473.
Schelling 20, 109, 205, 262, 532.
Schicksal 227 ff., gehört in die Furcht-
religion 235, ursprüngliche Form
236, höhere Form 249, im Islam 265.
Schiller 199, 374, 434 ff., 477.
Schlangenkult 136.
Schlegel Ludnde 440.
Schleiermacher Definition der Religion
falscher Begriff vom Unendlichen,
kein Begriff vom Geftthl 18, Gefühl
nicht Embryonalzustand 31, falsch
über die Kürsse der Gefühle 465, kein
Tribunal über die Gefühle 466,
durch die Sprache getäuscht 32,
einseitig Religion als Akt 71, Ab-
hängigkeitsgefühl 84, Religion als
Rausch 91, falsch über Wunder 173,
Geselligkeit 335, ehrlich 353, Mysti-
cismus 419, Pantheist 425, und
Spinoza 462, Centaur seiner Theo-
logie 486, weltgeschichtliche Bei-
spielsammlung 534.
Schluss 45, 209, 445.
Schmerz Null bis Unendlich 303,
nicht ebenbürtig der Lust 456,
nothwendig 458.
Schönheit, Beziehung zum GefOhl 37>
Religion der 262, 447, 475.
Schopenhauer Romantik 40, 109, Mit-
leidstheohe 274.
Schreck 65.
Schnfb hlg. und Naturwissenschaft
221, Deutung 226.
Schuld culpa 132, 283, unendlich 331.
Schwartz Ursprung der Mythologie 134.
Seelenwanderung 380.
Seelenvermögen, Eintheilung 26 ff.
Segen 242.
Selbst aÖTo^ 512.
Selbstbewusstsein 73, kein Wissen 74,
219.
Selbsterhaltung 428.
Selbsterhaltungsprincip 33.
Selbstsüchtig 117, Selbstsucht 267,
270, 279 f., 288.
Selbstzweck 433.
Seligkeit 460 f., 479.
Semiotisch 47, 68, 80, 217, 233, 430.
Sentenz 45.
Seti 287.
Sibirien, Bärencult 137.
SibyUe 250.
Sicherheitsgefühl 364.
Sinneserscheinungen 233,285,242,320.
Sirius 139.
sittlich 117, 273 ff., höher als das
selbstsüchtige 278, 447.
Skeptiker 7, 100, cf. Positivisten.
Skepticismus 357.
Skopzi 324.
Socialethik 421, 424.
Sodalismus 415.
Sokrates 331 , Sokratitas 501 , sokratisch
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Sollen — Theologen
555
Sollen 45, 277.
Sonnenkultus 258.
flophisma de plurib. inierrog. 485.
Sophistisch 48, 318.
Sophokles 178, 183.
oioxtjp 286, Soteriologie Platon's 488,
513.
Souveränität 218.
Spaventa, B. 517, Vorrede.
Specifisch 68, 86, 306, 338, 342, 388,
407, 412, 433, 443.
Speculativ 56, 59, 116 f., Beispiel 130,
Eintheilung des speculat. Systems
205, Methode 295, Gegenstand 477.
Spencer, Herbert, Weltansicht 392,
Data of Ethics 395, 531.
Speusipp 511.
Spiel 434.
Spinnerinnen 250.
Spinoza versteht das Gefühl nicht 18,
kennt seine Quellen nicht 32, Ab-
hängigkeit von Plato u. Aristoteles
33, fehlerhafte Darstellung der
Historiker 33, falsch über Wunder
173, Verfluchung 251, Modus 336,
Skeptiker 367, u. Schleiermacher 462.
Spiritismus 190.
Spötter 358.
Si)ontajieität 36.
Sprache, Täuschung durch die Sprache
32, semiotisch 6 1 , sinnlos, Maschinen-
theil 63 f., Bewegungsapparat 64,
Beneficien 66, ihre Leitung beim
Philosophiren au&ugeben 74, Hebel-
werk 87, der Götter 178, 184.
Staatsenthusiafimus 412 ff.
Staatsidee 412.
Staatsrecht 50, Staat 277, Staat und
Religion 420.
Staflioten 231.
Staunen 172.
Stellvertretung 307, 325 ff., 405.
Stemgötter 505, 508.
Strategische Methode 428.
Strauss David 255, 360, Cultus 372.
Streben 61.
Subject 506, Subject-Object 538 ff.
Substanz 106, 219, 320, 425, 505 ff.,
521, 539.
Substrat 506.
Sühnung Definition 322.
Sünde 87, schliesst die Religiosität
nicht aus 89, 277 f., 800 ff., Sünde
und Furcht homolog 313, Zeichen
der Humanität 340, Sündenbock 341.
supererogationis opera 405.
Swammerdamm 221.
Symbol 80, symbolisch, symbolisiren
91, 253, 419, Symbole 142, Ab-
kürzungen 149, Zeichensprache 243,
christliches 460, Bekreuzigung 151,
Bewegungen 156 f.
Symptom 431.
Synthetisch Methode 59 ff., 66, 287,
295, 403.
System technisches 153, 231.
Tarantel des Idealismus 205.
Tari in Neapel 517.
Tauler 461.
Technisch 106, System 153, 218, 231,
Welttechnik 198, Beziehungspunkt
388.
^tot 382, 479, 496.
Teleologie 337.
terminus maj. min., med. 208 f.
Terra parens 326.
Test, Z. in Richmond Indiana, Vorrede.
Testament N. Fluch 244, A. 244.
Teufel betrogen 149, Ahriman 287,
pädagogisch 421, antagonist. Prin-
cip 431.
Thaies 361, 496, 504.
Thatsachenphilosophie 400, 55 ff.
Theater 439.
Theokratie unsichtbare 345.
Theologen gelobt 76, theol. Gegen-
stände nicht von der weltl. Wissen-
schaft auszuschliessen 88, Theologie
107, project. 114, erste Theologie
von der Furcht erzeugt 120, polyth.
oder monoth. unwichtig 126, dua-
listische 127, Monarchismus 128,
u.qiuzeuuy Google
556
Theologen — Voltaire
Rechtsgott 281 ff., Theologie ge-
schichtlich durch Furchtreligion 292,
Vermischung der Furcht- und Bechts-
religion 314, Annahmen 404, Brah-
manismus 407, Anfang der wissen-
schaftl. 490, idealist. Theologen 504.
Theoretische Function 474.
Theurgie 149, moderne 347, 472.
Thiere Q ranze gegen die Menschlich-
keit 118. 120 f., 123, Thiercult 136,
spürt Zusammenliängen nach 194,
keine Gottesvorstellung 194, keine
Evidenz und Sicherheit 213, Gränze
der Thierheit 243, als Kinder
ohne Vemunftentwickelung 257,
Instinkte 271, Entrüstung 279.
Thöck 317.
Thor (Edda) 258.
Thrym 258.
Thun 325, 403, 434.
Tieck 440.
Tiresias 178, 184.
Tod, Unnatürlichkeit des 242, Todes-
gott 259.
Topik 108, Topographie der Begriffe
16, 219, 227, 423, 434.
Torricelli 195.
Tragödie 321, 328.
transfigurirt 479, e*v02, 506, 512.
transsubstanziiren 478.
Trendelenburg 29.
Trieb Definition 41, 335, 457.
Trinitat 84.
Trostlosigkeit 332.
Tugend 403, 448, bei Aristoteles 449.
Ulpianus 53.
Unbewusstes Leben 161, Vorrang 445.
Uneinigkeit der Menschen mit sich 305.
Unendliches 18 = nur immer weiter
19, das Unendliche Todfeind des
Zweckes 205, 303, unendl. Schuld-
gefühl 331.
Unpolitischer Gesellschaftszustand 342.
Unrecht 276.
Unsterblichkeit, fehlt nothwendig im
Pantheismus 379, scheinbar im Pan-
theismus 380, nothwendig 427, im
Idealismus 502 ff.
Unterlassung 48 f.
Unzufriedenen, die 51.
Urmensch 243, perspect. Auffassungs-
weise 245.
Ursache 215.
Urtheil 209, 445.
Usinara 326, 327.
Utilitarismus 393, 397.
vacuum — horror vacui 195.
Variabel 54.
Vaterunser 505.
Vedantismus 530.
Veleda 250.
Vera 517.
Verbalinjurien 239.
Verdienst 326.
Vergebung 324.
Vergilius 415.
Vergleichende R. 4, Vergleichungs-
punkte 279.
Verheissung 308.
Verneinung 120.
Vernunft, gouvemementale Region
37, Festhalten des Vergangenen be-
gründet d. Möglichkeit d. Denkens
121, Vemunftlehre 197, Vernünftig-
keit der Welt 198, 203, bestimmt
ihre eigenen G ranzen 203, bei
Plato 499.
Verschmelzung 243.
Versöhnung des Zornes Gottes 146,
156, des Menschen 158, juristisch
323 ff., 332.
Verstand 129.
Veratehen 4.
vis inertiae 50.
Völkerrecht 50.
Volksglauben 99, Volksreligion 530.
Volksseele HO.
Volkmann Psychol. 36.
Vorstellung und Wahrnehmung 239,
241.
Voltaire 368.
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Wahrheit — Zorn
557
Wahrheit, drei Bedingungen 8, Be-
ziehung zum Gefühl 37, 102, 215,
Definit. 39, der Wunder 184, opp.
gelten 352, nicht durch Majorität
bestimmt 362, Denkthätigkeit 388,
Idee 447, Subject als W. 478, als
Wissen 480, in der Gnosis 484.
Wahrnehmung und Vorstellung 239,
241.
Waitz Psychol. 36.
Walkyrien 250.
Weber, Sanskritolog 530.
Webstuhl 250.
Wehmuth zugl. Bewegung 65, 118.
Weihnachtsfeier in Malaga 137 f.
Welt, Vemünftigkeit D. 198, 203,
Welttechnik 198, 203, äussere er-
kennbar 216, als Trunkenbold bei
Hegel 220, 229.
Welt von Ewigkeit fertig 234, obj.
249, opp. perspectiv. Auffassung,
Deutung 253.
Weltordnung bei Fichte 481.
Welt als Cüiov 496, Weltseele 506.
Werden kyklisch 500.
Werkheiligkeit 403.
Werth 215, Normen 420, 428.
Wertra 258, 286.
Wesen individ. souverän 218, 233,
wirkl. 287, ideal. 494, Eintheil. bei
Arist 504, 520.
Wettermacher 154.
Wiedergeburt 380, 407.
Wille und Gefühl 27, u. Bewegung
34, im Denken 40, willenlose An-
schauung 40, Def. 43, Charakter,
Ausdruck 45, Conglomerat d. drei
Functionen bei Zitelmann 49, Wille,
Wunsch = Lust 60,Defin. 6^, falsch
als Gesinnung def. 76.
Windthorst 422.
Wirklichkeit, unreine Formen 103 f.,
wirkl. Wesen 287.
Wirkung 215.
Wissen 480, d* Wissenden 500.
Wissenschaft, Abmessungd.Leistungen
26.
Wohlsein 475.
Wort Gottes 309.
Wortinjurien 239.
Würfel 248.
Wunder, herkömmliche Behandlung
und Auffassung 166 f., vorläufige
Erklärung 171, erfordert gelungene
Deutung 172, Beispiel 175, allgem.
Voraussetzung 183, setzt Glauben
voraus 183, Wahrheit 184, alte W.
185, W. bei Ungläubigen 192 f.,
Schlüssel des Wunderlandes 195,
nothw. 200, 207, idealistische 205,
der Relig, durch d. Philos. zurück-
gegeben 217, jeder Religiöse hat
solche Erfahrung 218, Wunder-
geschichten als Parabeln behandelt
223, Beispiel wahrer Wunder 224,
christl. 225, keine Durchbrechung
der Naturgesetze 227.
Wundt falsch über Abstraction 70,
Logik 168 üb^r kateg. Verschiebung,
Verdichtung des Denkens 168, Satz
des Grundes 210, Denkacte ohne
Denken 210, Sprachliches und Lo-
gisches 211, Evidenz 211 ff., innere
Erfahrung 212.
Wunsch 60.
Xenophanes 106, 368.
Zauberer 138, 149, 151 f., Zauberei 268.
Zeichen 62, 80, Kritik der 181, 233.
Zeit, Zeitillusion 107, 120, 231, 243,
249, 408 f., 501, 521.
Zerknirschung 305.
Zeus spricht mit den Menschen 176,
262, 265 Monarchismus.
Zeus und Jo 148.
Zitelmann 47, Definit. der Seelenver-
mögen 48, des Willens 48, über
consensus 52.
Cu)Y] aUttVMx; 409, 502.
Zorn 146, 313. r^^^^T^
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558
Zufall — Zweifel
Zufall 153, für Gott 192, Zusammen-
treffen 194, modern. Gebrauch 196,
Normimng der Anwendung dieses
Begriffs 200 f., Zufall nicht ohne
Anerkennung der Zwecke 202,
Gränze unserer Erkenntniss 202,
nicht d. mechan. Nothw. entgegen-
gesetzt 203, alles mechan. ist zu-
fallig 204, opp. Ordnung 253, Zu-
fallsglauben beurtheilt 254, in
Aristot. Ethik 449.
Zufrieden 5 1 , 53, zufriedenstellend 323.
Zugeordnet 85.
Zusammengehörig 85.
Zwang 54 def.
Zweckzusammenhänge, durchs Gefühl
bestimmt 51, 216, 272, 408, 410, 457.
Zweifel 357.
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Von demselben Verfasser sind erschienen:
Die Aristotelische Eintheilung der Verfassungsformen 1859.
Die Einheit der Aristotelischen Eudämonie. Im Bulletin der kaiserl.
Akademie d. Wissensch. St. Petersb. 1859.
Beiträge zur Erklärung der PoStik des Aristoteles 1867.
Aristoteles' Philosophie der Kunst 1869.
Geschichte des Begriffs der Parusie 1873.
Letztere drei Bände unter dem Gesammttitel »Aristotelische
Forschungen« (bei W. Koebner, Breslau).
Studien zur Geschichte der Begriffe, 667, IX S. 1874. (Baer,
Frankfurt a. M.). l. Anaximander. 2. Anaximenes. 3. Xenophanes.
4. Platon's Unsterblichkeitslehre. 5. Piaton und Aristoteles.
Ungedruckte Briefe von Kant und Fichte. (Zeitschrift für Philos.
Fichte-Ulrici 1875.)
Die Platonische Frage. Eine Streitschrift gegen Zeller. 1876. (W.
Koebner, Breslau).
Neue Studien zur Geschichte der Begriffe. Drei Bände (W. Koebner,
Breslau).
I Herakleitos 1876.
IL Pseudohippokrates de diaeta — Herakleitos als Theolog, oder
über den Einfluss der ägyptischen Theologie auf die griechische
Philosophie. 1878.
III. Die praktische Vernunft bei Aristoteles 1879.
Frauenemancipation. 1877. (Köhler, Leipzig).
Darwinismus und Philosophie (Köhler, Leipzig).
Wahrheitsgetreuer Bericht Über meine Reise in den Himmel. Von
Immanuel Kant. 1877. (W. Koebner, Breslau).
Charakteristil( der Araber. Eine yölkerpsychologische Skizze.
Baltische Monatsschr. Bd. XXVI, Heft 1.
Unsterblichkeit der Seele. 2. Auflage. 1879. (Duncker & Humblot).
Das Wesen der Liebe. 1880. (Duncker & Humblot).
uiyiiized by VjOOQIC
Pädagogisches. 1881. Zur Bevision des Lehrplans unserer Gymnasien.
(Köhler, Leipzig).
Die Reihenfolge der Platonischen Dialoge. 1879. (Leipzig, Köhler).
Literarische Fehden im vierten Jahrhundert vor Chr. (Erster Band)
1881. (W. Koebner, Breslau).
Chronologie der Platonisclieii Dialoge der ersten Periode, Piaton
antwortet in den Gesetzen auf die Angriffe des Aristoteles.
Der Panathenaikas des Isokrates.
Die wirkliche und die ' scheinbare Welt. Neue Grundlegung der
Metaphysik. 1882. (W. Koebner, Breslau).
Literarische Fehden im vierten Jahrhundert v. Chr. 1884. (W.
Koebner, Breslau).
Zweiter Band. Zu Platon's Schriften, Leben und Lehre. Die
Dialoge des Simon.
LresUaer OenoBsenachafts-Bachdrackerci, Elng. Qeu,
uiyiiized by VjOOQIC
Digitized by VjOOQIC
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Digitized by VjOOQIC
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