HANDBOUND
AT THE
UNIVERSITY OF
TORONTO PRESS
hzo
S3
RICHARD DEHMEL
VON
EMIL LUDWIG
„Dichter kann man nicht ergründen;
seid nur, Freunde, recht erhoben!
Jede Flamme schlägt nach oben,
jeder Geist wird weiterzünden.
Durch den Rauch der Worte steigen
alle auf ins blaue Schweigen."
R. D.
19 13
S. FISCHER. VERLAG- BERLIN
Mit dem Bilde Dehmels nach einer Photogra-
phie von R. Dührkoop und zwei Faksimilen.
Alle Rechte vorbehalten
INHALT
An Dehmel 7
I. DAS WELTBILD II
Erste Antithese: Gott und Lucifer . . 13
Zweite Antithese: Ego et Religio ... 16
Dritte Antithese: Bewußtsein und
Ekstase 23
Synthesis: Eros 30
IL DER KÜNSTLER 39
Biologisches 41
Visionen 44
Rhythmen 49
Formen 55
Mythische Gegenwart 60
Barock 66
Der Spieler 70
Dramatisches 75
III. ZWEI MENSCHEN 83
IV. ENTWICKLUNG 101
Der Deutsche 103
5
Zwei Ahnherrn no
Nietzsche 118
Von Zwanzig bis Vierzig 121
Der weise Jüngling 129
V. VENUS FANTASIA 143
AN DEHMEL
Sehn wir uns ins Auge! Nun hast du, Lucifer,
die Mitte des Jahrhunderts erreicht, das zu voll-
enden du dir vorgesetzt. Wir Dreißigjährigen stehn
vor dir, der du uns Maß und Unmaß lehrtest,
Hingabe an uns selbst und an die Welt ; der Rhyth-
men und Visionen überliefert hat, an denen wir uns
entwickeln lernten. Die wir deine Söhne könnten
sein, wir sollen nun dich ergründen, sollen, angetan
mit Schwert und Wage, dich auf den Richtplatz
der Geschichte schleppen : dich prüfen. Eine gefähr-
liche Stunde.
„Aber wir leben!" hast du Nietzsche nachge-
rufen.
Wir rufen dir nichts nach, wir rufen dir zu.
Denn du stehst heut in unserer Mitte wie in der
Mitte deines eigenen Weges. Laß dennoch unsere
Generation gewähren, auch wo sie anders fühlt.
Zahle den Zoll, den du den Vorderen abgenommen.
Gönne uns dein Losungswort : Sei Du ! Ist es nicht
auch Folge deines eigenen Wirkens, daß manches
sich in uns gewandelt hat ? Daß, was du von der
Mitwelt fordertest, zu einem Teil den Söhnen
schon geläufig wurde ? Manches, was dir Problem
gewesen, ist uns deutliche Wirklichkeit. Dein
Wunsch wurde Erfüllung:
„daß unsre Kinder einst einfach handeln,
wo wir noch voller Zwiespalt wandeln,
einfältig lieben oder hassen,
mit ganzem Willen die Welt umfassen,
sich heimisch fühlen selbst zwischen den Sternen
und mit jedem Feuer spielen lernen . . .
Und lebt dir ein Sohn, dann lehr' ihn mit Lachen,
aus jeder Not eine Tugend machen . . ."
Sehn wir uns ins Auge! Was ist gefährlicher als
einen lyrischen Dichter zerpflücken ? Täte man
nicht besser, ihn gleich historisch einzuordnen,
i. e. umzubringen?
Doch wie soll sich der Geist orientieren ? Wol-
len wir dem Pathetiker mit Pathos, dem Rhapso-
den mit Rhapsodien ins Innere leuchten ? Mit Kälte
will der kritische Geist sich nähern, mit Wärme
gab die Seele sich hin.
Vollends vor diesem Geiste: Dehmel — der
sein Erglühen stets in kalte Formen zu ergießen
trachtet, vor diesem feuerflüssigen Krater, der
jeden Augenblick zu Eis erstarrt, fühlen wir den
Wunsch, für eine Stunde uns und ihn in ein System
zu retten. Diese Natur, stets ihrer Triebe sicher,
fraglos ruhend im eigenen Grundgefühle, ist doch
8
immer nur voll Mühe klugen Sinnes nachträglich
hinter diese Triebe gekommen.
Gehn wir jetzt den Weg zurück: von der Deu-
tung durch den Intellekt zur Betrachtung seiner
impulsiven Formen. Dies Phänomen: Dehmel —
bedeutet zugleich Seher und Dichter, Prophet
und Künstler, Verkünder und Gestalter. Mag
man es darum dem kritischen Führer verzeihen,
wenn er für eine Stunde die Elemente trennt, so
innig sie gesellt sind. Dann erst, mit beruhigtem
Intellekte, genießen wir am Ende klar und musisch
wieder, was wir am Anfang verworren gespürt.
Und hier sogleich, noch ehe wir ihn selber fassen,
im Anblick solcher doppelten Sendung, tritt der
Grundzug seines Wesens vor. Denn Richard Deh-
mel ist der Mensch, der am meisten Widersprüche
in sich versöhnt. Ein Blut, bedrängt von Dualis-
men, ein Geist, geladen mit Antithesen, ein Herz,
erschüttert von Widerspruch, — und doch ein
Ganzes, völlig entspannt, seit Anbeginn wunder-
sam geheilt. Wo ist der Schlüssel für dies Ge-
heimnis ? Wer hat den Dämon befreit ?
Sein Genius, indem er ihn bändigte. Hier liegt
der Grund, warum Dehmel wurde, was er zu
oberst ist: Rhapsode. Nur als Rhapsode vermag
er dies heiße mit dem kalten, dies hingegebene
mit dem betrachtsamen Temperamente in Einen
Ausdruck zu verschmelzen. Nur Künstler ? Schaffe
Vorbilder!, ruft immer wieder diese liebereiche
Seele sich zu und umarmt die Menschheit. Was
Menschen! Schaffe Abbilder!, schüttelt sich im-
mer wieder dieser bildnerische Geist. Gefühls-
konflikte darstellen will dieser Dichter — und
braucht und mißbraucht mit schöner Kälte Welt
und Menschen, die er noch eben an das glühende
Herz gedrückt.
Darum durchströmt ein Grundgefühl, kein
Grundgedanke sein ganzes Werk. Dies Grund-
gefühl könnte man „Weltglück" — oder Liebe
nennen. Um diese Worte in seinem Geiste
durchzufühlen, gilt es, alle Wege zurückzulaufen,
auf denen Dehmels Instinkte sich durchschlugen,
ehe sie in die weite Rundung gelangten. Diese
Kriege in seinem Inneren hat nicht etwa eine lange
Entwicklung am Ende geschlichtet oder geklärt.
Sie wirken in ihm kontinuierend fort. Und da
dieser Dichter gern die jüngsten Objekte im
Gleichnis betrachtet, so formulieren wir : Dehmels
Leben läuft wie ein Motorrad : durch eine unend-
liche Kette von Explosionen feindlicher Trieb-
kräfte wird es ständig erschüttert, zugleich stän-
dig vorwärts getrieben.
10
I. DAS WELTBILD
„O Glück! Nun klärt sich uns die Welt,
von allem Wahrheitswahn befreit:
in jedem seligen Augenblick
enthüllt sich uns die Ewigkeit."
Erste Antithese:
GOTT UND LUCIFER
„Noch hat keiner Gott erflogen,
der vor Gottes Teufeln flüchtet."
Lucifer, mit steil gereckten, blaubrennenden
Fackeln in Silber und mit Sterndiadem, eilt wie
gebannt der Mutter mit dem Kinde nach, die auf
dem Esel sitzt, von Mönchen, Doktoren und Rit-
tern umgeben.
Dies Bild aus seinem Tanzspiel „Lucifer" könnte
sich Dehmel, der heroische Phantast, als Wappen
wählen; der bürgerliche Ästhetiker als Exlibris.
Hier tut sich das Daimonion dieser Seele auf.
Von Gott und Lucifer das Widerspiel durch-
zieht sie seit Beginn. Im Trübsten fühlt sich
dieser Geist befangen, ins Klarste steigt er immer
auf. In einem seiner frühesten Verse spiegelt er
sich und Dante:
„Wer sich durch eine Hölle durchgesungen,
den fragt, welch Paradies ihm endlich tagte;
doch wer an seinem Leben nie verzagte,
hat um das höchste Leben nie gerungen."
13
Dasselbe, in einem seiner spätesten:
„Selbst der Reinste muß erleben,
von Verführungen umtobt,
daß der Geist sein wahres Streben
an Verirrungen erprobt."
Seit er begonnen, und bis er endet : immer fühlt
er „Das Tierisch-Trübe, Göttlich- Klare" gegen-
einander streben. Darum hat er den Menschen-
geist den Bastard genannt, den einst Apollon
mit dem Vampyrweibe zeugte.
„Drum sollst du dulden Mensch, dein Herz,
das so von Wünschen bangt und glüht,
wie nach dem ersten Sonnenschimmer
die graue Nacht verlangt und glüht;
und sollst in deinen Lüsten
nach Seele dürsten wie nach Blut,
und sollst dich mühn von Herz zu Herz,
aus dumpfer Sucht zu lichter Glut."
Dehmel stärkt sich an diesem Kampfe, statt
sich darin zu zerreiben. Triebselig hat er sich
einmal genannt. Dies Wort verklärt, weit über
das Geschlechtliche hinaus, was das allzu wagne-
rische „brünstig" etwa trübte. Ferne, je einem
Triebe zu wehren; entschlossener Verächter aller
moralischen Stufenleitern; durchdrungen von
der Heiligkeit der Triebe, die im unbewußten
Menschen aufsteigen: so schlichtet er alle Feind-
schaft zwischen Sinn und Seele und kann gläubig
rufen :
H
„Denn nicht über sich,
denn nicht außer sich,
nur noch in sich
sucht die Allmacht der Mensch,
der dem Schicksal gewachsen ist."
Das ist ein Stichwort. Dehmel, von allen Wi-
dersprüchen geschüttelt: triebselig schlichtet er
sie, und statt die großen Gegenspieler : Welt und
Schicksal zu bekämpfen, fühlt er sich „Gotteins
mit der Welt"; vor dem Schicksal fühlt er sich
geborgen, weil er ihm immer gewachsen bleibt.
Dehmel ist der typisch untragische Geist un-
serer Epoche.
Denn auch am Schmerz kann diese Natur, ent-
schlossen Sinn und Seele zu versöhnen, sich nie-
mals brechen. Also ein Optimist ? Dazu hat sein
Inneres zu tiefe Furchen. Also ein Platoniker ?
Dazu ist sein Herz zu hell. Sagen wir: ein immer
williger Geist.
„Ich habe mit Inbrünsten jeder Art
mich zwischen Gott und Tier herumgeschlagen.
Ich steh und prüfe die bestandene Fahrt:
nur eine Inbrunst läßt sich treu ertragen:
zur ganzen Welt."
Gott und Tier : das erste der Kämpferpaare, die
in Kopf und Herzen dieses Mannes nimmermüde
ihre Klingen kreuzen.
Den besten seiner Zeitgenossen galt dieser Kampf
als Zentrum Dehmelschen Geistes. Schwächer
fühlen wir Jüngeren dies Gegenspiel und halten's
*5
lieber mit jener Antwort, die er sich selbst durch
eines Weibes Mund gegeben:
„Was ist da trüb? Ich seh nicht, was.
Wir leben, wir lieben; wie klar ist das!"
Zweite Antithese:
EGO ET RELIGIO
„Herz, vertraue deinem Triebe!
Seele, deine Weltbetrachtung
wird nur durch den Mut der Liebe
frei von Ekel, Reue und Verachtung."
Niemand müßte diesem Geiste fremder sein
als Christus. Muß er ihn nicht hassen, den
Feind der Triebe ? Mußt du, Lucifer, nicht den
verachten, der sich nur durch Tötung seiner
Triebe auf zur Gottheit hob ? Ist nicht, Sinn und
Seele zu zertrennen, Ziel des einen? Sinn und
Seele zu verschmelzen, Ziel des andern?
Und doch fühlt Dehmel sich niemand näher
als grade ihm : den er, bezeichnend, stets nur Je-
sus nennt. Nicht müde wird er, seinen Mythos
zu erforschen, ihm entlehnt er immer wieder
seine Formeln: „Welche der Mächte . . . dein
Reich zu uns kommen lassen" oder : „Der Mensch-
heit heiliger Geist..." oder „Mein heiliger Geist".
Woher kommen solche Suggestionen? Sucht der
16
Dichter den Heiland aus Ungewißheit ? Um sich
immer neu zu blenden?
Er sieht in ihm seinesgleichen. Denn Jesus klagt
sich selber an : '
„Übermenschlich hab' ich mich vermessen,
und sie haben fromm gemeint:
Ich, ich lebte selbstvergessen . . .
O zertrennte mich doch mein Gebet,
daß ich zwiefach lebte Wort und Taten,
Menschen menschlich irrend zu beraten,
auch dem Zweifel ein Prophet . . .
Schwerter stieß ich in die weichsten Herzen:
Allen wollt ich liebend glühn,
aber meiner Mutter mach' ich Schmerzen,
und mit sehnsuchtswundem Herzen
weint um mich die Magdalenerin."
Hingabe an die Menschheit, gekreuzt vom Wil-
len zur Macht: in diesem Christusprobleme spie-
gelt sich der Dichter.
Denn „Dehmels Selbstgefühl ist so groß wie
sein Mitgefühl", formulierte Liliencron. Immer
wieder steht es auf, dort wo es gilt, Kraft und Mit-
leid zu versöhnen, und das schmerzt ihn. Nie-
mand ist egozentrischer als er, niemand zugleich
weniger egoistisch. Indem er keine Lehre, nicht
Gott noch Schicksal, indem er nur sich selbst mit
allen Trieben als Zentrum der Welt fühlt: sieht
Dehmel in jedem Nebenmenschen ein neues Zen-
trum, das er willig ehrt. Dehmels Religion —
religio = Allverbindlichkeit — ist der Mitmensch,
der sich als Gotteskind fühlt.
2 Ludwig, Richard Defemel \J
„Und hier steht einer, der mit tausend Händen
sich selbst wie Saat ins Weltall möchte streuen,
um tausendfach sein Dasein zu vollenden,
um tausendfach sein Dasein zu erneuen."
Hier wie fast überall repräsentiert dieser Dichter
in großen Maßstäben die Grundgefühle, die die
besten seiner Generation in ihrer Werdezeit be-
wegten. Diese „Entdeckung des Menschen", die mit
ihm viele Geister vor einem Menschenalter er-
füllte, — den Jüngeren ist sie fremder geworden;
selbstverständlicher. Lieber spiegeln wir uns heute
in seinem extensiven Machtgefühle, in seiner Lust,
dem großen Strom der Triebe sich hinzugeben.
Liebe zur Menschheit, nicht zu den Menschen
beschwingt ihn. Man hat dies Weltgefühl zu
blasser Philanthropie herabgedeutet. Aber Dehmels
Lieblingsgestalt heißt Prometheus; nicht Lincoln.
Erst durch ihr Widerspiel wird seine Mensch-
heitsliebe interessant. Denn dieser rassigen, her-
rischen, dämonisch angetriebenen Natur fällt es
sehr schwer, dies Ego mit dieser Religio zu ver-
söhnen. Wenn in seinem Oratorium „Die Voll-
endung" der Herr der Ordnung nach dem Herrn
der Kraft, wenn die Pflichten nach den Lüsten das
Wort ergreifen, wenn der Geist der Ordnung singt :
„Aber allem Wechsel überlegen
thront die Freude der Glückseligkeit . . ."
dann fallen solche Verse immer ab.
Faßte man Dehmel — ganz ohne seine Schuld
und nur für Augenblicke — als Moralisten: man
18
müßte gestehen : an dieser wichtigen Stelle ist ihm
der Atem ausgegangen. Denn was besagt es im
Grunde, wenn der Geist der Menschheit singt:
„Nein, mitnichten
sollt ihr verzichten
auf die Lust, sie weckt die Kraft;
aber, weil sie sonst erschlafft,
lernt euch Pflichten
draus erdichten . . .
Und so werde im Menschen die Lust
ihrer göttlichen Pflicht bewußt."
Überhaupt kann dieser triebselige Geist mit
dem moralischen Problem sich nie zufrieden geben.
Notwendig lautet sein Gebet:
„Und führe uns in Versuchung!"
Auch meidet er, wohl mit Bewußtsein, die ihm
unverwandten Begriffe des Guten und Schlechten,
und jene eine Stelle:
„Denn der Kreislauf der waltenden Mächte
will nicht das Gute, will nicht das Schlechte.
Was euch mit Willen, mit Sehnsucht erfüllt:
wie ihrs begreift, wie ihrs enthüllt,
wird es das Falsche, wird es das Rechte!"
deckt sich schließlich mit der impressionistischen
Moral des Prinzen Hamlet.
Dehmels großes Ethos ist gänzlich amoralisch,
und hier liegt ein Grundunterschied gegen Schil-
ler, mit dem man ihn, sehr irrtümlich, verglichen
hat. Schiller umschlang dithyrambisch die Millionen
und schwärmte mit romantischer Geste von einer
2* ig
Zeit, da alle Menschen Brüder werden. Dehmels
Menschheitsliebe ist so wenig romantisch oder sen-
timental, wie er im ganzen; sie ist pantheistisch.
So erklärt sich — metaphysisch und psycholo-
gisch — auch der größere Irrtum, Dehmel sozial
oder gar sozialistisch aufzufassen. Und doch ruht
auf diesem Irrtum ein guter Teil von Dehmels
Popularität. Wir müssen ihn widerlegen.
Ein einziges kleines Gedicht (Maifeier-Lied)
könnte parteipolitisch benutzt werden, und das
ist unbedeutend. Im übrigen hat sich der Dichter
— offenbar um jener Fabel zu begegnen — noch
zuletzt, im „Michel Michael" recht gründlich aus-
gesprochen: „Die Sorte Brüderlichkeit, die ist mir
zu gleich und zu frei!" Dehmel ist weder Sozialist
noch Anti-Sozialist, und er hat einmal einem kon-
servativen Abgeordneten, der ihn fragte, was er nun
eigentlich politisch sei, die ironische Dichterantwort
gegeben: „Unter anderm auch konservativ."
Aber Dehmel ist nicht einmal sozial, im gegen-
wärtigen Sinne; wie etwa die Russen. Seine frü-
heste Schwärmerei für das Symbol Berlin, wo „die
Rauchfahne der Arbeit" loht, hat er höchst ver-
nehmlich überwunden (vgl. „Michel Michael"
und etwa das Gedicht „Ausschau bei Nacht".
Werke II, 59). Ein sehr frühes Gedicht, „Der
Bergpsalm", steht als Stimmung in seinem ge-
samten Werk fast allein und schließt mit dem
unmelodischen Verse:
„Empor Gehirn! Hinab, Herz! Auf! Hinab!"
20
Diese eine Stelle — an der denn auch Verkün-
der und Gestalter sich nicht zu decken vermoch-
ten — wird von gewissen Seiten als Dokument
seines sozialen Gewissens gedeutet. Man sollte
dergleichen nicht sagen. Es ist ebenso falsch, wie
Hauptmann um seiner „Weber" willen zu soziali-
sieren. Verkünder und Gestalter in Dehmel: sein
ganzes Wesen widerspricht.
Freilich hat er ein soziales Gewissen; wie alle.
Aber dieser Geist ist viel zu stark, um sich den
zufällig zu seiner Zeit Unterdrückten zu ver-
schreiben; viel zu weit, um eine Klasse zu führen.
Dehmel hat kein spezielles „Mitleid" mit dem
Arbeiter; er hat überhaupt kein Mitleid, er hat
Mitlust. Er liebt nicht den Arbeiter, nicht einmal
den Menschen; er liebt den Dämon im Menschen.
Sehr bittersüß klagt es aus seinem Munde:
„Ach, wer die Menschheit liebt,
der lernt die Menschen hassen."
Der Geist der Menschheit scheint ihm grade groß
genug, daß er in seinem Oratorium erscheine.
Auch als Künstler sollte ihn niemand länger in
solche Dienste stellen. Dehmel will durchaus nicht
sozial, er will durchaus mythisch ins Volk wirken.
Als Dichter kennt er keine Probleme, nur Ge-
fühlskonflikte : so hat er inmitten der Erscheinun-
gen, die ihm Erde und Landschaft, Gott und
Sterne dargeboten, auch einige Dachstuben mit
ihren Gefühlskonflikten gesehen und wieder dar-
gestellt. Zuerst recht novellistisch: „Zu eng",
21
„Vierter Klasse"; dann die Ballade von der
„Magd", im großen Rhythmus der Jahreszeiten,
und den „Märtyrer". Dann das Lied vom Ar-
beitsmann mit dem gewitterdrohenden „Wir
Volk", und endlich, rein freskal, jene große cho-
rische Hymne, die wir mit Ehrfurcht noch einmal
niederschreiben:
„Es steht ein goldenes Garbenfeld,
das geht bis an den Rand der Welt.
Mahle, Mühle, mahle.
Es stockt der Wind im weiten Land,
viel Mühlen stehn am Himmelsrand.
Mahle, Mühle, mahle.
Es kommt ein dunkles Abendrot,
viel arme Leute schrein nach Brot.
Mahle, Mühle, mahle.
Es hält die Nacht den Sturm im Schoß,
und morgen geht die Arbeit los.
Mahle, Mühle, mahle!
Es fegt der Sturm die Felder rein,
es wird kein Mensch mehr Hunger schrein.
Mahle, Mühle, mahle."
— Hoch, ernst, mit gewappneter Gebärde, die
Falten des Mundes herabgezogen, alle Narben
und Wildheiten des durchpassionierten Gesichtes
wie erleuchtet: so stand er vor seinem hohen Ka-
theder und sprach die schwer fallenden Verse, und
mehr als tausend Arbeiter, ihm zu Füßen, spann-
ten die Blicke, reckten die Köpfe, spitzten die
Ohren nach oben. Drei Abende vorher hatte
er vor literarischem Kreise rezitiert. Aber
22
ihn dürstete nach Tausenden; nach Arbeitern.
Die ahnten nichts vom Spezifischen Gewichte
seiner Künstlerschaft. Warum stürmte dennoch
ihr Herz ihm zu ? War es wirklich nur die Hand
voll „sozialer" Gedichte, von denen er drei oder
vier im Laufe eines ganzen Abends vorgetragen?
Die gingen ihnen ein, freilich, das geht ihnen
ein, auch wenn ein Dilettant schlechte Proletarier-
Verse vorträgt. Warum folgen sie grade diesem
Manne, der sie zu jeder Art von Menschen und
Göttern führt, zu Dingen oft, die ihnen völlig
fremd sind, als Objekt wie als Kunst?
Sein religiöses Pathos reißt sie hin, die große
Hingabe dieser Seele in Brunst und Inbrunst,
dieser strömende Ausgleich von Ich und Welt.
Und ich dachte : Schwarz bist du anzuschaun, wie
Lucifer. Doch das Licht aus dir strahlt weiß, wie
aus Michael.
Dritte Antithese:
BEWUSSTSEIN UND EKSTASE
„Gefühl treibt eins das andre fort;
o gib uns, Geist, das Fassungswort."
Der feuertrunkene Pole Przybyzewski hat einmal
im Rausch Dehmel, der mit ihm zechte, den Hahn-
rei des Bewußtseins genannt. Müssen wir das Wort
erklären? Noch aus der Verschwommenheit des
Rausches blitzt es auf.
23
Wirklich geschieht das Unglaubliche — womit
denn auch das polnische Gleichnis endet — : mitten
im Liebesrausche mit der Phantasie setzt diesem
Dithyrambiker sein eigenes Bewußtsein Hörner
auf. Denn Dehmel — patheticus — ist zugleich
Analytiker seines Gefühls. Strömt dort die rhap-
sodierende Leidenschaft aus ihrem Urgrund auf:
hier sprudelt ihm eine kleine, kluge Zweifelquelle
eigensinnig dazwischen.
Mag er immerhin „das Unbewußte" hassen,
mag er „den Herren Unbewußtlern empfehlen,
sich lebenslänglich chloroformieren zu lassen":
das bleibt ein Witz. Der Zwiespalt hingegebenen
Dichterrausches und allzu wachen, nachprüfenden
Intellektes hat ihm manche Wirkung zerstört. Er
kennt die Gefahr und hat in seinem Essay über
„Naivität und Genie" sehr tiefe Dinge darüber
gesagt. Freilich, es ist ein Unterschied, „ob man
über Gefühle nachdenkt oder über die Darstellung
von Gefühlen". Doch zuweilen, Lucifer, dachtest
du auch über Gefühle nach: wenn du Prophet
warst, nicht mehr Künstler.
„Müßt euch versenken
tief in den innern Streit,
fühlend zerdenken,
was in euch schreit.
Wies immer wühlt:
wenn ihrs zerfühlt,
seid ihr befreit.
Nur wie ihrs auslegt,
wirds euch bewußt . . ."
24
Was ist der Grund für solchen Zwiespalt zwischen
Bewußtsein und Ekstase? Dehmel will alles Be-
wußtsein ins Triebhafte zurückleiten — und alle
Triebe ins Bewußtsein erheben. Da entstehen denn
zuweilen Verse von so barockem „ Gefühlsgeist"
wie die obigen. Allzu klug hämmert der Geist
auf das Pathos. Mischt sich hierzu noch das pe-
dantisch ordnende, systematisch deutsche Element,
das Dehmel beherbergt, so wird gar ein Monstrum
geboren, wie die Zeile:
„Erde, enthölle dein Himmelsblut!"
Hier läuft ein Sprung durch die Seele des Mannes
und wird auf seine Dichtung projiziert. Diese Er-
scheinung ist typisch für alle Dichter, die sich zu
sehr für Philosophen, zu wenig für reine Dichter
halten; ähnlich wie Dehmel geht es darin Milton,
Victor Hugo, auch Byron. Wachsein hemmt den
schönen Wahnsinn, Gedanke hemmt das strömende
Gefühl. Dieser Kulturspalt ist schwerer zu schlich-
ten als jene Spaltungen der Triebe, die Tier und
Gott, die Ich und Mitwelt trennen. Und weil er
deutlicher ins Auge fällt, ist jeder Ahnungslose
gern bereit, dem Dichter Geschmacklosigkeit vor-
zuwerfen. Das Unvollkommene zerrt ihr hervor,
statt das Vollkommene zu lieben.
Denn hundert Male, fern von diesem Zwiespalt,
mit einem himmlischen Gelächter über alle Klä-
rung des Bewußtseins, springt, läuft, rennt der
Genius über die Felder der Phantasie, ekstatisch,
ungezügelt. Da funkelt das Trinklied auf: „Noch
25
eine Stunde, dann ist Nacht . . /', da atmen abend-
lich Narzissen, da sinkt der Wunschberauschte
nieder vor seiner ersten Königin, da reißt er noch
die Nebel jener großen Elegie entzwei, in der er
eben sich dreifachen Treubruchs angeklagt: denn
plötzlich, aus dem Moll der Grübeleien, steigt er
empor und fühlt sich hingerissen:
„. . . . o ja: die Erde ist voll Grauen,
doch — voll von Sonnen steht die Welt.
Raum! Raum! Brich Bahnen, wilde Brust!
Ich fühl's und staune jede Nacht,
daß nicht bloß Eine Sonne lacht ! . . .
Zehntausend Sterne aller Enden,
zehntausend Sonnen stehn und spenden
uns ihre Strahlen in die Brust!"
Mit großem Einsatz, scheinbar unvermittelt,
steigt das empor, wie der kurze steile Aufgang
vom dritten in den letzten Satz der Fünften
Symphonie. Solcher Aufschwung reißt überall
fort : etwa in „Venus Excelsior" :
„Da — : Flügel — : frei — ! und an der Brust die Blume!
Schon naht der Hain mit seinem Heiligtume,
wo auch die Rosen immer grünen dürfen."
Oder gar in „Venus Urania" — das dahinrast,
immer an der Klippe des Wahnsinns, bis es in der
tollen Hyperbel zerplatzt:
„Wir lieben alle, —
alle Welt muß uns lieben!"
Wir legten das Widerspiel zwischen Ekstase und
Bewußtsein dar, weil es zum psychischen Abbild
26
des Mannes gehört. Erdrücken kann auch dieser
Zwiespalt seinen Träger nie. Zu stark, zu einge-
boren lebt Phantasie in ihm; der kleinere, der Ge-
danke ist von ihm nur groß gezüchtet worden.
Hierfür gibt es ein Zeugnis, deutlicher als selbst
jene ekstatischen Dichtungen, in deren Abgrund
noch immer ein Gedanke murmelt.
Dies Zeugnis sind seine mystischen Gedichte.
Manche meinen, das tiefe Mitmenschengefühl, das
ihn bewegt, entfernte Dehmel mehr und mehr
von der reinen Natur; wer sich so tief ins Mensch-
liche vergrub, verlernte das zwecklose Belauschen
natürlicher Mächte, er wäre zu heiß für die Kühle
des mystischen Rausches. Und man könnte wieder-
um auf Schiller weisen als auf ein prangendes,
warnendes Beispiel. Finden sich — fragen Jene
mit Mißtrauen — finden sich rein lyrische Dich-
tungen bei Dehmel, ohne ein wollendes Ich? Ohne
ein sollendes Du ? Verdirbt er uns nicht noch
seine reinsten Versenkungen — etwa den „Som-
merabend" — durch die plötzlich hervorbrechende
Schlußzeile :
„So sei doch froh, mein Herz, in all dem Frieden!"
Sie finden sich, vollkommene. Wie verstummt
dann dieser Pathetiker, wie ruht er wahrhaft am
Busen der Natur; bis sich langsam Töne lösen
aus dem Horchen und wie große Tropfen nieder-
fallen.
„Morgenandacht" (Werke I, 54) mit dem pan-
theistischen Schlüsse, oder die kurzen Gedichte:
27
Hoher Mittag (III, 114), Geheimnis (III, 78), Tief
von Fern (I, 62) und, um eins der reinsten hin-
zuschreiben: Am Ufer:
„Die Welt verstummt, dein Blut erklingt;
in seinen hellen Abgrund sinkt
der ferne Tag,
er schaudert nicht; die Glut umschlingt
das höchste Land, im Meere ringt
die ferne Nacht,
sie zaudert nicht; der Flut entspringt
ein Sternchen, deine Seele trinkt
das ewige Licht."
An diesem Punkte nähert sich Dehmel den mysti-
schen Gesichten Goethes.
„Plötzlich wird, was dunkel war,
dir von Grund aus offenbar;
und dann kannst du nicht verstehen,
daß du sonst es nicht gesehen.
Aus dem Grund der Welt durch dich
offenbart der Welt es sich;
aus der Ewigkeit geboren
bleibt es ewig unverloren."
Und nach der kalten Klarheit solcher Erleuch-
tung überkommt diesen Dichter das Bangen und
der Schauer vor den Läuterungen durch die
Träume :
„Wie mit zauberischen Händen
greifen Träume in mein Leben,
will ein altes sich vollenden,
will ein neues sich begeben.
28
Eine Flamme sah ich lodern
hoch und rein aus goldner Schale,
und die Flamme schien zu fodern:
wirf dein Leid in diese Schale!
Und anbetend hingezwungen
fühlt ich Gluten mich umfangen;
rauschend küßten ihre Zungen
mir die Augen, Stirn und Wangen.
Und ich fühlte hell vergehen
all mein Leid mit einem Male,
rauschend mich als Flamme wehen
selber in der goldnen Schale.
Wie mit zauberischen Händen
greifen Träume in mein Leben.
Will ein altes sich vollenden?
Will ein neues sich begeben?"
Mehr und stiller ebbt der Strom zurück.
„Eines Abends — erzählte der Dichter — kam
ich in die Stadt und ging in ein Konzert. Viele
Winterwochen hatte ich am Bodensee verbracht,
und die beschneite Kette der Berge, die Fläche
überglänzend, hatte sich wie eine Naturmelodie
fest mir eingegraben. Nun tauchte plötzlich, nach
langer Zeit zum ersten Male, Kunst an mein Ohr :
Bach und Beethoven. Und mit einem Mal fühlte
ich : Was will das alles, nach der Kette der Berge ?
Das Ewig-Stille ist nicht auszudrücken. Wozu
ahmen wir es nach?"
Und so ergeht es ihm, wenn er im Eis der höch-
sten Berge steht, von Nacht umgiert, von Licht
umschäumt.
29
Und so hat er sein und aller Bewußtsein, seine
und alle Verse in sieben unvergänglichen Zeilen
mit Lächeln ad absurdum geführt.
„Was sind Worte, was sind Töne,
all dein Jubeln, all dein Klagen,
als dies meereswogenschöne,
unstillbare laute Fragen.
Rauscht es nicht im Grunde leise,
Seele, immer nur die Weise:
Still, o still, wer kann es sagen?"
Synthesis:
EROS
„Schnee und Eis zerschmilzt in Lavafluten."
Einmal stand Dehmel vor den orphischen Ur-
worten, die sein Gastfreund in den Tragebalken des
Hauses eingegraben hatte. Still blickte er hinauf,
Eros stand inmitten. Er sann eine Weile, nach seiner
Art, und hörte nicht, was man zu ihm sprach.
Er fragte: „Sollte man nicht Tyche in die Mitte
rücken?" Dann aber lächelte er auf seine Art
(zwischen Ungewißheit und Verklärung) : „Frei-
lich, Eros enthält sie alle." —
Ein paar hundert Entsetzte haben Dehmel als
Pornographen ausgerufen. Habeant. Aber ein
paar tausend Huldigende — und diese sind ge-
fährlicher — suchen aus ihm stets nur das Ge-
schlechtliche heraus. Nichts ist leichter, man be-
30
gegnet ihm aller Orten. Schon die Titel seiner wich-
tigsten Bücher heißen : Aber die Liebe, Weib und
Welt, Verwandlungen der Venus, Zwei Menschen.
(Noch amüsanter ist ein populärer Dehmel. Man
erkennt ihn — wie Schiller — an der Zitierung seiner
unerheblichsten Zeilen : „Weib sein ist doch das herr-
lichste Los !a „Schwarz oder weiß, nur nit grau, kalt
oder heiß, nur nit lau", „Ich und die Zukunft !" und
„Wer glücklich ist, verdients zu sein!") —
In Eros schlichtet sich für Dehmel jeder seiner
Zwiste.
In ihm verschmelzen Gott und Luzifer: „Aus-
zuruhn am Herzen Gottes", ruft er brünstig. In
ihm verschmelzen Ego et Religio, Lüste und Pflich-
ten, Ich und Welt:
„Denn Liebe ist die Freiheit der Gestalt
vom Bann der Welt, vom Wahn der eignen Seele."
In ihm verschmelzen Bewußtsein und Ekstase.
„Immer im Zweifel zerläuft der Gedanke,
oder nur höher häuft er die Schranke
um den versessenen Geist empor.
Aber im Zaubermantel der Liebe
trägt dich der lachende Sturm der Triebe
auf vom Staub und ins Himmeltor."
Oder in seinen Lieblingsversen:
„Erst wenn der Geist von jedem Zweck genesen
und nichts mehr wissen will als seine Triebe,
dann offenbart sich ihm das weise Wesen
verliebter Torheit: die große Liebe."
Wie die Alten, denen Dehmel sonst nichts ab-
geborgt — die Antike ist ihm fremd wie die Ro-
mantik — , so fühlt er wieder, der erste nach hun-
dert Jahren, das Mysterium im Geschlecht, und so
wird ihm die Huldigung des Eros zum sakralen
Dienste: beginnend mit der eigenen Erzeugung;
erfüllt in der Geburt; wachsend mit dem Auf-
keimen eigener Triebe, steigend in der Werdelust
des Jünglings, der Jungfrau, des Frühlings; kul-
minierend im Zusammensturze der Geschlechter;
neu verklärt in neuer Zeugung und Geburt der
Kommenden.
In einem seiner allerersten Gedichte warf er
sich zurück, appassionato:
„Ward ich durch frommer Lippen Macht
und zahmer Küsse Tausch?
Ich ward erzeugt in wilder Nacht
und großem Wollustrausch."
Ähnlich später, Largo:
„Nur durch die Pforte, durch die dich ins Leben
die Brünste stießen, kann dein Streben
brünstig zurück in den Schoß der Welt."
Hier gilt es nicht die Stufen durchzulaufen. Sie
finden sich, kosmisch geordnet, in den „Verwand-
lungen der Venus"; trotz mancher Kluft und Stö-
rung folgt man ihm dort, als wäre er Merlin, der
Wandlungsreiche.
Doch ordnungslos und reizender liegt dies alles
in seinen Gedichten. War es dort Venus, die
herrschte, hier ist es Eros. Als Triebkraft der Seele
springt er hier empor: im Jüngling und im Mäd-
chen, in der Jungfrau, in dem dunkel erschütterten
32
Nachtgebet der Braut, in jeder Entbietung und
Entsagung, in Sucht, Verschmelzung, Trennung:
überall strömt der freiste Trieb der Sinne neben
dem zagesten Aufblick der Seele hin.
Es leuchtet ein : den willigen, triebseligen Geist,
dem es im Ohre klingt:
„Nur noch Seele, nur noch Sinn,
der du bist und der ich bin . . ."
ihn wie keinen andern treibt es, das Tier dem Gott
in seiner Brust im Liebesstrome zu versöhnen.
Wäre der Dichter nicht jener „Bastard", als den
er den Menschen darstellt; war' er vielleicht in
holderer Harmonie mit sich geboren : dann glühte
schwächer in ihm der Wille, sich gänzlich hinzu-
geben, um sich gänzlich neu zu empfangen.
Da Eros zum Erlöser seines Weltgefühles ward,
muß Eros sich ins Weltall dehnen, muß sich auf-
lösen im Kosmos. Nur das Meer erschien dem
Dichter maßlos genug, es dem Grundgefühl des
Menschen zu vergleichen, und er schloß seinen
„Lobgesang":
„Aufrausch der Unendlichkeit
ist das Meer,
ist die Liebe."
. . . Wagner. Erinnert dies wirklich an Wagner ?
Sein Tristan will im Liebestode, Dehmels Helden
wollen im Liebesleben sich selbst entströmen. Aber
bei Wagner ist es tragisch-romantische Brunst;
bei Dehmel gefaßte Inbrunst. Nicht im eigen-
willigen Tode: im Gleichgewicht der Welt, im
3 Ludwig, Richard Dehmel 11
„Weltglück" löst Dehmels lyrischer Charakter sich
empor. Wagners Liebe ist Wollust, Dehmels Liebe
ist Weltgefühl. —
Diese reine Demut im Begehren, dies herbe Mit-
gefühl im süßesten Durchronnensein ist wunder-
voll zur Form gekommen in dem Gedichte
Jesus bettelt
Schenk mir deinen goldnen Kamm;
jeder Morgen soll dich mahnen,
daß du mir die Haare küßtest.
Schenk mir deinen seidnen Schwamm;
jeden Abend will ich ahnen,
wem du dich im Bade rüstest —
oh, Maria!
Schenk mir Alles, was du hast;
meine Seele ist nicht eitel,
stolz empfang ich deinen Segen.
Schenk mir deine schwerste Last:
willst du nicht auf meinen Scheitel
auch dein Herz, dein Herz noch legen —
Magdalena ?
Von Eros zur Ehe ist für Dehmel nur ein Schritt.
Denn mit dem Ernste, mit dem er alle bürger-
lichen Umstände zu Symbolen, sein Jahrhundert
zum Gleichnis der Ewigkeit erhebt, hat Dehmel
auch die Ehe ergriffen. Er setzt einen deutschen
Spruch davor:
„Ehret einander,
wehret einander!"
Und dann erklingt sein Lied bald dem Ehrenden,
bald dem Wehrenden. Selten stürzt er in den
34
eigenen Strudel: dann ergreift er doppelt den Be-
trachter („Wirrsal", Werke III, 61).
Wir hören seine Stimme singen:
„Seit wann du mein, ich weiß es nicht;
was weiß das Herz von Zeit und Raum!
Mir ist, als wär's seit gestern erst,
daß du erfülltest meinen Traum,
mir ist, als wär's seit immer schon,
so eigen bist du mir vertraut:
so ewig lange schon mein Weib,
so immer wieder meine Braut."
Wann immer dieser Mann von Sinnen hinge-
rissen wird, sogleich steigt seine Inbrunst rein
empor. Schildert er die Enthüllung seiner Ge-
liebten, immer steht die nämliche Wendung:
„Still schaut sie auf, er muß die Augen schließen . . .
er sieht nur, wie zwei Augen Licht ergießen . . ."
In feierlichem Trauschwur hat er sein Welt-
gefühl von sich und seinem Weibe am schlichte-
sten gestaltet:
„. . . Ich bin der Herr dein Gott! Du sollst mich ehren:
auf meine Kraft dein ganzes Leben baun,
in jeder Drangsal selig mir vertraun,
nach keiner Zuflucht außer mir begehren . . .
Denn du bist meine Welt! Dich will ich segnen. . .
Und will auch dir mich weihn: will meine Fehle
durch unsern Bund entsühnen und versöhnen,
mich mit dir, in dir immerfort verschönen,
du meine Welt, du deines Gottes Seele!"
Aber noch ein anderes Paar, ein männlicher
gefaßtes, trägt er im Blut: „Herr und Herrin"
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(Werke III, 52). In einem seiner vollkommensten
Gedichte (das die „Zwei Menschen" in nuce ent-
hält) steht auf sechzehn Zeilen alles, was hier-
von zu berichten wäre.
Grenzenlos vertraut er dem Instinkt des Weibes,
unproblematisch in höchst begehrenswertem Sinn
erscheint es ihm.
Ist sie da und schreitet sie fort, die Ehe: so
erhebt sich gleich sein Mitmenschengefühl und
zwar in bürgerlicher Art; Eros scheint zurück-
gedrängt. „Mit der bloßen Liebeslust — schrieb
er einem Freunde — kommt man nicht weit; sie
ist nur der Keim für die reife Ehe. Auch Kamerad-
schaft und Freundschaft reichen nicht aus. Ich
möchte es Spießgenossenschaft nennen. Zwei Ein-
same kämpfen um eine gemeinsame Welt, gegen die
allgemeine, allzu gemeine Welt. Es ist ein Kampf
um gegenseitige Großmut; es gilt, den edelsten
Selbstsüchtigen ein heldenmütiges Beispiel zu
geben."
Diesem Synthetiker, dieser Zukunftsnatur voll-
endet sich Ehe und Eros erst, wenn sie fruchtbar
werden. Im Kinde betet Dehmel an, was Nietz-
sche nannte : ein aus sich rollendes Rad. Will sagen :
das Symbol des Helden. Doch weiter sieht er im
Kinde: Narrheit, Widersinn, holde Lüge, — das
Dämonische im Naiven.
Ist das erstaunlich? Reagiert nicht das Kind
simpler, gradliniger als die Großen? Und muß
nicht dieser Dichter, so vieler Widersprüche sich
36
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Verkleinertes Faksimile (1894).
37
bewußt, zum höchst Eindeutigen sich wenden,
als wär's das Venerabile? Hier endlich sieht der
Brünstige seine Inbrunst verklärt. Mit einem Male
steht der ungewollte Zeuge seiner Lüste, — ein
kleiner Heiliger steht da.
„Meine Kinder werden einst
oben auf dem Regenbogen spielen."
Beim Menschen beginnt, bei dem erneuten
Menschen endet Dehmels Weltbild. Und doch
ist grade, was dahinter schimmert, der unver-
gleichbarste Teil seines Wesens und Werkes.
Dehmels Werk erinnert an die Bildnisse des
Lionardo. Wir treten davor : ein Menschenhaupt,
groß, nahe, steht ganz vorn und blickt uns an,
fest, undurchdringlich. Hinter ihm aber öffnet
sich die Landschaft, mystisch blau; felsenreich,
voll Klippen und Grüften, verdämmernd in eine
unendliche Helle.
Und mehr und tiefer wenden wir den Blick, fort
von jenen Augen, — der phantastischen, der ma-
gisch erblassenden Landschaft zu. Aber wie tief
wir auch in sie sinken, immer bewacht uns der
große Blick des nahen Menschenhauptes.
38
II. DER KÜNSTLER
„Künstler, die Welt ist bodenlos.
Wer kühn ist, schöpft aus tiefstem Schoß.
Wer nicht versinkt dabei, ist groß."
BIOLOGISCHES
„Das Unermeßne ist
der Kunst so eingemessen,
daß du vermessen bist,
willst du's allein ermessen."
Sehn wir uns ins Auge! Es war im Grunde ein
Opfer an dein bittersüßes Herze, daß wir dich,
Lucifer, zuerst bei deinen Trieben, deinen Wider-
sprüchen aufgesucht. „Denkt ihr etwa, ich will
Zuchtwahl predigen ?" riefest du zu guter Stunde.
„Ich will überhaupt nichts predigen! Schöne
Verse machen will ich! Weiter nichts!"
Dein Ich kann manchem Vorbild sein. Dein
Abbild muß allen Vorbild werden: allen, denen
die deutsche Sprache poetischer Ausdruck ist. Wer
sie heut meistern will, muß durch dich gehn,
Sänger und Dichter! Visionär und Rhythmiker!
Musiker, Entdecker du, Phantast, Merlin!
Mancher kritische Geist deiner Epoche brach
sich freilich schon die Zähne aus an deinen Ideen,
bis sich schließlich einer zu der Metapher verstieg :
„Dehmel liebt wie ein analytischer Philosoph und
philosophiert wie ein Verliebter."
41
Wir formulieren dagegen : Dehmel der Künstler
ist dem Philosophen um so viel überlegen, als
Nietzsche der Philosoph dem Künstler war. Noch
kürzer : in fünfzig Jahren heißt es nur noch : Nietzsche
philosophus, Dehmel poeta.
Dehmel fragt: Was ist Kunst. Seine Antwort:
„Rhythmische Ausgestaltung des Lebens zu einem
harmonischen Sinnbild der Welt." Oder, in Versen:
Klage und juble, Dichter,
wie du willst;
das wirkt Seele ins All,
du bist Gott.
Aber beklage nicht!
Bejuble nicht!
Nichts !
Du bist Gottes Werk;
brüste dich nicht!"
In einem Urteil über Beaudelaire — das wich-
tiger ist um Dehmels als um Beaudelaires willen,
dem es nicht gerecht wird, — hat Dehmel ge-
äußert: „Ich vermisse an ihm die unmittelbare
Hingabe an seinen kühnen Inhalt. Seine Form
hat den Takt geschulten Begreifens, nicht den
Rhythmus gemeisterter Ergriffenheit." In den
letzten Worten gewinnen wir eine Formel: wie
Dehmel der Künstler seinem Dämon gegenüber-
steht: mit gemeisterter Ergriffenheit.
So drückt sich jene Versöhnung feindlicher Trieb-
kräfte ästhetisch aus. Dehmel besaß von je die Gabe
— und hat sie später gezüchtet — : die stete und
kontinuierende Ergriffenheit seiner Seele grade in
42
ihrer Entladung zu meistern; das drängende Blut
dieses heißen Herzens mit einem Ruck in Gestal-
tung zu vereisen; das Bild der Seele und das Bild der
Welt, wann immer er es brauchte, zu petrifizieren.
So wurde Bildkraft ein Ursprung seines Dichtens,
Verdichtens. Bild, nicht Gefühl ist das Primäre. Als
Beispiele dieEntstehungzweierberühmterGedichte.
Längere Zeit stand auf seinem Tische eine grie-
chische Vase, er vertiefte sich oft in die Stellung
der Bacchantin. Plötzlich schreibt er: ,,Leih mir
noch einmal die leichte Sandale . . ."
Er sah Rembrandts „Flucht der Proserpina",
und ganz gefangen von dem goldenen Wagen
wünscht er den Glanz zu verdichten: „Diesen
goldnen Glanz — erzählte der Dichter — schau-
kelte ich, sozusagen, in mir, ich weiß nicht, wie
lange: bis mir eines Abends der Rhythmus hoch-
kam. Ich sehe mich noch immer vom Abend-
essen aufspringen, um an meinen Schreibtisch zu
laufen und wieder ein paar Zeilen hinzuwerfen.
Aus der Proserpina machte ich den Apoll. Das
ganze Gedicht ist also durchaus nicht aus einer
Fieberstimmung entstanden, sondern kalt künst-
lerisch aus Bild und Rhythmus." Das Gedicht war
„Der Bastard" (Venus Homo).
Einiges wenige hat er, wenn das Bewußtsein
schwieg, im dionysischen Rhythmus gemacht.
Dann befeuerten ihn Chopins Polonäsen, und er
hat dem trunkenen Freunde, der ihm das Wort
vom Hahnrei des Bewußtseins zugerufen, seine pol-
43
nischen Rhapsodien ins Deutsche nachgedichtet,
ohne ein Wort zu verstehn : nur dem Rausch, nur
dem Rhythmus zu Liebe. Einen großen Teil der
„Zwei Menschen" schrieb er in wenig Wochen auf
einer Nordseeinsel und ließ das meiste unverändert.
Aus Rhythmen und aus Bildern wirkt dieser
Dichter sein Werk. Darum bergen Dehmels
Visionen und Dehmels Rhythmen den reichsten
Teil seiner Künstlerschaft.
VISIONEN
Den größten Visionär seines Jahrhunderts darf
man ihn nennen. In seinem dämonischen Wesen
liegt das begründet; solche Naturen sind visionen-
reich. Hierin (und auch an Barocke) stellt er sich
neben Matthias Grünewald. Dehmel hat, was
Schopenhauer die „Wahrheit des Traumes" nennt.
Dem Dichter geht — das ist nicht erstaunlich —
was er mit Augen sieht, plötzlich in seiner Symbol-
kraft auf. Er erzählte : „Mit achtzehn Jahren kam ich
zum ersten Male aus der Fläche der Mark nach dem
bergigen Süden. Da sah ich auf dem Kamme Wol-
ken lagern. Das war mir neu, ich dachte : Hier sind
ja so viele Kohlenmeiler. Aber als die Wolken zu
wandern begannen, auf dem Kamm : da fiel mir ein,
wie Gott vor dem Volke Israel in einer Wolke ein-
herzog. Davon war ich erschüttert."
Aber die meisten Visionen, die dann sein Werk
44
zu einem phantastischen Bilderbuche machten,
sind nicht gesehen, sind rein erschaut; ihr Ursprung
für uns wie für den Dichter nicht mehr zu er-
spüren, so wenig wie der Ursprung jener mysti-
schen Gedichte, von denen wir gesprochen.
Nicht immer sind sie vollkommen; zuweilen
beginnt das glühende Symbol zur Allegorie zu
verblassen. An anderen Stellen geht die Vision
nicht völlig im empirischen Ereignis auf (etwa
die Zimmerleute in Venus Heroica, Werke IV,
129). Oder die große Vision verwirrt sich, etwa
in „Venus Mea" (Werke IV, 132):
„Sein Scheitel schimmert: eine Phönixfeder
ragt aus der Rechten steil zum Sonnenrande";
worauf aus der Feder ein Spiegel wird, dann Siegel
und Kette. Oder das gedankliche Symbol bringt
die Vision um ihre Wirkung, wenn es — wie Phor-
kyas — am Ende von den Kothurnen steigt, um,
sofern es nötig wäre, im Epilog das Stück zu kom-
mentieren; (etwa die Zeile: „Da liegt Jesus von
Nazareth." Werke II, 151).
Manchmal entwickelt sie sich aus der Alltäglich-
keit, meist in Form des Traumes, auch in der
Prosa; höchst glaubhaft in der „Gottesnacht".
Doch alles dies verblaßt vor dem Lichtstrom
visionären Schauens.
Ich schlage auf: da sitzt der Dichter, trinkt
und ruft die Freunde an, zweimal, dreimal: „Noch
eine Stunde, dann ist Nacht!" Doch plötzlich
fährt er fort:
45
„Wächst übern Strom ein Brückenjoch,
hoch, o hoch!
Ein Reiter kommt, die Brücke kracht;
saht ihr den schwarzen Reiter noch ? . . ."
Ich blättere um: da liegt er träumend vor einem
Kuppelbau: dem Tempel der Erfüllung,
„und rasselnd sprang die Pforte auf.
Und grübelnd starrt' ich in die dunkle Öffnung.
Mir war, als wohnten die Milliarden Wünsche
des Erdballs drin, die ungestillten alle . . ."
Ich blättere weiter : und er steht im Kiefernforst der
Heimat und blickt an den Riesenstämmen empor :
„Und Eine steht, wie eines Erdgotts Hand
in fünf gewaltige Finger hochgespalten . . .
Durch die fünf Finger geht ein zäher Kampf,
als wollten sie sich aneinander zwängen;
durch ihre Kuppen wühlt und spielt ein Krampf,
als rissen sie mit Inbrunst an den Strängen
einer verwunschnen Harfe . . ."
Ich blättere, und er steht und spricht:
„Lege deine Hand auf meine Augen,
daß mein Blut wie Meeresnächte dunkelt:
fern im Nachen lauscht der Tod.
Lege deine Hand auf meine Augen,
bis mein Blut wie Himmelsnächte funkelt:
silbern rauscht das schwarze Boot."
Ich blättere und sehe den „Herrn der Kraft"
„von Erden zu Monden schreiten,
Samen ihn streun mit strahlender Hand:
um seine Schultern brausen die Weiten,
Sterne beglänzen ihm Haupt und Seiten,
feurige Nebel sind sein Gewand."
46
Und weiter
„schreitet die Wahrheit,
deine listige Tochter,
verhüllten Wandels ihre Bahn,
die Füße im Staub,
das Haupt in Wolken,
die spärliche Leuchte
mit dunklen Fingern schützend . . ."
Und um aus hundert gleich großen Visionen Eine
ganz herauszuheben, freskal wie ein Bild der Bibel,
darin Gedanke und Erschautes völlig sich decken,
erinnern wir an diese
Tragische Erscheinung
„In einer Wüste lagen viele Menschen,
die fast verschmachteten; sie wimmerten.
Ein schönes Mädchen nur
mit hilflos braunen Augen
litt stumm den Durst; denn gieriger als der Durst
brannte ihr seliges Mitleid.
Da trat, vom glühenden Horizont herwachsend,
ein fremder Mann vor dieses Volk;
der hob den Zeigefinger ihnen dar.
Aus der gereckten zitternden Spitze quoll
ein großer Tropfen Blut, quoll, hing und fiel,
fiel in den Sand;
verwundert sah das Volk den fremden Mann.
Der stand und stand, Tropfen auf Tropfen fiel
aus seinem Finger in den Sand;
und immer, wenn die rote Quelle troff,
erbleichte schauernd Er, sie aber staunten,
und einige ächzten: Er verhöhnt uns.
Da schrie er laut mit seiner letzten Glut:
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So kommt doch, trinkt! für Euch verblut* ich mich!
Doch jenes Mädchen sprach, indes er hinlosch:
sie brauchen Wasser . . . ."
Wie der Dichter, was er sah, zu Visionen steigert,
so steigert er die natürliche Landschaft zur psy-
chischen Landschaft. Nur zuweilen bleibt sie ihm
dann, was sie ist : Bild der Natur, in Worten nach-
zufühlen.
„Aus des Abends weißen Wogen
taucht ein Stern;
tief von fern
kommt der junge Mond gezogen.
Tief von fern
aus des Morgens grauen Wogen
langt der große blasse Bogen
nach dem Stern."
Da trägt er nur seine Landschaft vor; tritt zurück;
verstummt.
Meist aber muß dies dialogische Gemüt dem
andern sagen, was ihm die Landschaft bedeutet.
„Sieh, wie wir zu den Sternen aufsteigen!
Unsern glückstrahlenden Augen
leuchtet der Schnee der Gebirge,
bald blitzt dort unten die Sonne durch.
O! schon röten sich
Tiefen und Höhen;
durch den Rauch unsrer Atemzüge,
bis über das fernste Fünkchen dort oben
fern hinauf,
schimmert die Nacht deiner Geburt,
glänzt der Tag unsrer Himmelfahrt."
48
Hinter so verdichteter Landschaft steigt die
Erinnerung auf an manche gemalten. Hodler
(„In Sehnsucht"), Puvis de Chavannes („Venus
Regina"), Rubens („Venus Homo"), Marees
(„Eines Tages"), mögen hier nur als Exempel
dienen.
Und wir setzen an den Ausgang diese wahrhaft
Ideale Landschaft
„Du hattest einen Glanz auf deiner Stirn,
und eine hohe Abendklarheit war,
und sahst nur immer weg von mir
ins Licht, ins Licht —
und fern verscholl das Echo meines Aufschreis."
RHYTHMEN
Nichts belebt diesen Dichter stärker — er hat
es selbst erklärt — als Rhythmus, sei das Musik,
Maschinenstampfen, Rollen der Eisenbahn. Nichts
liegt ihm aber ferner, als irgend einen Rhythmus
der Natur oder der Kunst „tonmalerisch" nach-
zuahmen.
Hier muß man ihn auch theoretisch hören,
denn eben hier hemmt sein Bewußtsein nicht mehr
die Ekstase, — es meistert sie. Was Dehmel Auf-
lösung überlieferter Formen in sprachlich natür-
liche Rhythmen nennt, schildert er selbst an
einem lustigen Beispiel. In einem Jugendgedicht
hieß es:
4 Ludwig, Richard Dehmel IQ
„Ich lege eher nicht das Schwert von Händen,
bis Wunden oder Kronen mich ermatten;
und eher nicht entglitt' ich meine Lenden,
bis im Olymp ich oder bei den Schatten."
Nun steht er vor dem Opus und lacht: „So
spricht doch kein Mensch!" Er setzt es in rich-
tiges Deutsch um:
„Ich lege nicht eher das Schwert aus den Händen,
als bis mich Wunden oder Kronen ermatten;
und nicht eher entgürt' ich meine Lenden,
als bis ich auf dem Olymp bin oder . . ."
Hier bricht der kritische Dichter ab. Nicht als
Verbesserung führt er diese Zeilen vor, denn so
holprig würde er sie gewiß nicht lassen; nur als
Beispiel seiner Forderung ungezwungenen Satz-
baues. Wirklich scheint er hier eine Art Methode
entdeckt zu haben, jedes künstlich Poetische in ein
natürlich Dichterisches zu verwandeln. (Literar-
historisch könnte man diese Erneuerung mit jener
vergleichen, die Goethe als junger Lyriker in deut-
scher Dichtersprache angeregt hat.)
Hält er es mit der Überlieferung, immer muß
er sie weiterbilden. Den Heineschen Vers — den
er, wie den Heineschen Geist, sehr früh verließ —
unterbricht er durch habgierige Synkopen. Man
wird sie allenthalben wiederfinden: sein trotziges
Temperament drückt sich in ihnen aus. (Dehmel
hat das Synkopische im Verse so durchgebildet wie
etwa Schumann in der Melodik).
Beispiel: „Die Tochter der Sonne". Wäre
50
Heine an diese Dehmelsche Ballade gebunden,
an dieselben Worte, dieselben Bilder, dieselbe erste
Zeile, er könnte etwa beginnen:
Noch war Polen nicht verloren,
Warschau schwoll von Maskenfesten,
Kavaliere klirrten Sporen
vor den Damen in Palästen . . .
Dehmel: „Noch war Polen nicht verloren,
Warschau schwirrte von Maskenfesten.
Die Kavaliere klirrten mit silbernen Sporen
um die Gunst der Damen in den Palästen . . ."
Wo Landschaft und Stimmung es fordern, folgt
ihnen der Rhythmus, unbekümmert um alles,
was voraufgegangen. „Die Harfe" beginnt:
„Unruhig steht der hohe Kiefernforst . . ."
und alle sieben Strophen folgen mit ihrer ersten
Zeile genau diesem Rhythmus. Plötzlich setzt
die letzte synkopierend ein:
„Komm, Sturm der Allmacht, schüttel' den starren Forst!"
„Evas Klage", diese wundervolle Elegie, beginnt:
„Stern im Abendgrauen,
laß dein bleich Erschauern;
laß mich endlich ruhig
heim gen Eden trauern,"
und dann wiegt sich das lange Gedicht im Gleich-
maß dieses Rhythmus, wie in Wollust. Plötzlich
bricht zweimal der Rhythmus der Verzweiflung
durch :
51
„O Eden, mein Eden,
Garten meiner Träume,
warum gab mir Gott den Anblick
deiner Frühlingsbäume!"
Zuweilen läßt er — nach vielen längeren und kür-
zeren Zeilen — ein, zwei oder drei Silben mit einem
Male fallen; wie pizzikati: „Dir wird leicht", am
Schluß von „Nacht für Nacht" (Werke III, 117).
Oder er fährt wie mit einem einzigen Cellostrich
in seine Instrumentation, etwa mit dem einen
Wort „lastet" („Um Ibsens Schatten", Werke II,
98). Ähnliches im „Trinklied", das überhaupt
Dehmels rhythmische Finessen sämtlich bis ins
Barock hinein wie eine Fibel umschließt.
Am klarsten tritt sein rhythmischer Impressionis-
mus im Anblick seiner „Refrains" hervor. Bekämpft
der Dichter schon ganz allgemein jede Uniformie-
rung des Verses durch den sogenannten Blankvers
und stößt überall dessen glatte Wände ein : so ver-
geistigt er vollends den noch viel klapprigeren Re-
frain, ohne ihn — wie die modernen Liederkom-
ponisten — ganz zu meiden. Schon in Gedichten
wie „Narzissen" (Werke III, 12), „Schutzengel"
(III, 26), „Der gute Hirte" (111,62) oder in „Masken"
— einem seiner vollkommensten Gedichte (III, 116)
— wird der übliche Refrain verwandelt. Noch deut-
licher in der entzückenden
Verkündigung
„Du tatest mir die Tür auf,
ernstes Kind.
52
Ich sah mich um in deinem kleinen Himmel,
lächelnde Jungfrau.
Du sollst einst einen großen Himmel hüten,
Mutter mit dem Kind.
Ich tu die Tür mit ernstem Lächeln zu."
Groß geweitet tritt der Refrain auf in den „Drei
Ringen"; vollkommen gewappnet in „Herr und
Herrin". Hier ist er in die Form einer Fuge auf-
gewachsen, und auch der Musiker hat später dies
Duett fugato komponiert.
Aus dem Refrain macht Dehmel Architektur.
Hinreißend hat dieser architektonische Sinn die
Phantasien zweier Liebenden: „Eines Tages"
gefügt (Werke III, 147) : dieses schönste von allen
seinen erotischen Gedichten, fürstlich gebändigt
wie ein irischer Hengst, immer im Begriffe, in
Wahnsinn durchzugehen, dennoch immer gehalten
durch Rhythmus und Gedanken, durch refrain-
artige Inversion und dialektisches Raffinement.
Hier — und immer, wenn Dehmel sich an natürliche
Abschnitte halten kann : Morgen, Mittag, Abend,
Nacht; die Jahreszeiten oder dergleichen — atmet
sein formsuchender Genius auf. Da hat er sozu-
sagen die Meilensteine der Natur, da läßt er sich
los, da weiß er, das Ziel ist nicht zu überspringen.
Hoch beglänzt stehn diese achtzig Verse in der
neuen deutschen Dichtung da. Wie der Morgen
klingt, im Ruf des Weibes:
„Laß die Strahlen nicht verwittern,
die dem Morgenstern entsplittern.
53
Heute mittag muß die Erde
sich entzücken am Geschnauf
deiner wilden Siegespferde!
Auf, mein schwarzer Zaubrer, auf!"
Dann aber die ruhend strahlenden Strophen des
Helden:
„Überirdisch ist die Nacht,
wo die heiligen Gesänge
meiner Sieben Schlangen tönen;
Sprich mir nicht vom Tag der Schlacht,
laß uns träumen, Zauberin,
nimm den ganzen Himmel hin . . . ." —
. . . Musik. Und wie Musik sind viele seiner
Gedichte. Da steigt — wie Chopins — Dehmels
„Notturno" auf; wie Brahms die „Helle Nacht"
oder „Stimme im Dunkeln"; wie Schubert „Die
stille Stadt"; wiederum nur zum Exempel. Darum
hat er von je die Musiker angelockt ; und ist es wahr,
daß Dem der Preis gebührt, der sich am tiefsten
in sein Volk gesungen, so ist es Dehmel, der sich
diesen Preis vor allen lebenden Dichtern ersang.
Er hat über 500 Gedichte geschrieben. Und
über 500 Kompositionen seiner Gedichte sind bis
jetzt schon da: vom kleinsten Lied zur großen
Ballade, von der Kantilene zum Oratorium, vom
symphonischen Duett bis zur Märchenoper; in
kaum zwanzig Jahren*.
Kein Dichter dieser Zeit hat eine ähnliche, rein
musische Wirkung erregt, auch nicht Liliencron.
* Die stille Stadt ist neunzehnmal komponiert worden, Venus
Mater zehnmal, Der Arbeitsmann elfmal, Helle Nacht dreiund-
zwanzigmal.
54
Ist es nun wirklich der Verkünder, — ist es nicht
der Gestalter in Dehmel, dem diese reichen Wir-
kungen entströmen?
FORMEN
„Bin ich das selbst? Ausdruck, du nickst mir zu.
Grundsiegel — Maske — bin ich du?"
„Im Anfang war der Rhythmus": dies Credo ist
dem Dichter so tief eingegraben, daß er es einmal
ernstlich für möglich erklärte, durch verschieden
schnelle und gefärbte Luftwirbel, denen man weiße
Blüten dauernd aussetzt, bestimmte erbliche Vari-
anten zu erzeugen; ja daß selbst jeder Stein aus
Partikeln bestehe, die ein spezifischer Rhythmus
zusammenhält.
Dehmel hat sich selbst einen Dichter genannt,
der sich „meistens von komplizierten Impulsen
anregen läßt, die er bei rhythmisch lebhaftestem
Tempo in unvermutet einfachen Zusammenklang"
zu setzen weiß. Er hat diese Impulse auch in un-
vermutet einfache Formen gezwungen.
Denn ihm ist ein besonderer Sinn für poetische
Architektur zu eigen, der sich vom Aufbau einer
Strophe an bis in die kunstvolle Anordnung seiner
Gedichtbände erstreckt und in den „Zwei Men-
schen" seinen höchsten Ausdruck findet. Sehn
wir von diesem Roman und von seinen Dramen
ab, so sind hier vor allem die beiden Oratorien zu
55
nennen, die mit bedeutendem Unrecht für schwer
ausgegeben werden. Durch sinnliche Gliederung
und schlichte Allegorie wird hier das metaphy-
sische Problem eindringlich, bildhaft, federleicht.
Diese beiden Chorwerke sind an Wert schwer
abzuwägen. In der „Lebensmesse" fand Dehinel
jenes Stichwort für sein Grundgefühl: der Mensch,
der dem Schicksal gewachsen ist. Dieser Refrain
würde das Werk schon formal über die,, Vollendung"
erheben, wenn es weniger anekdotisch wäre (die
Waise, die beiden Sonderlinge); auch wird der
Held nicht so deutlich wie in „Eines Tages"*.
Vollends in seiner Prosa hat Dehmel die ein-
fachste Form gesucht.
Man fragt: Ist es nicht von vornherein absurd,
daß der Rhapsode Prosa spricht ? Es ist vielmehr
ein erneuter Beweis für das intermittierend Ge-
dankliche in Dehmel.
Der minder wichtige seiner Prosabände ist der
Band Novellen (Werke VII), ohne die Dehmel und
die deutsche Novelle unverändert bleiben würden.
Nur eine monologische Stimmung — zu Unrecht
Novelle genannt — : „Der Menschenkenner und
sein Gleichgewicht" ist von Gewicht. Wie hier die
Stimmung der Trauer um den toten Volksmann
in die Melancholie von Genua — und wieder in
das innere Zittern des Menschenkenners übergeht :
* Völlig ins Mythische ist erst die wunderbare „Schöpfungs-
feier" erhoben, in Dehmels letztem Gedichtband („Schöne
wilde Welt").
56
dies alles ist voll von heimlichem Rhythmus, die
erzwungene Nüchternheit des Bandes ist durch-
brochen, die letzten Seiten sind im Grunde Verse.
Auch der „Wettlauf" ist merkwürdig, wiederum
weil er keine Novelle ist, sondern visionäre Skizze.
Unter den Märchen (Werke VI) scheint nur das vom
Maulwurf ganz gerundet, weil dies allein in eine ein-
fache Realität ausmündet, von der es heimlich aus-
gegangen und die in allen Einzelheiten märchenhaft
vorbereitet wurde. Hier treibt einmal der Dichter
kein Spiel mit Symbolen, nötigt uns nicht, fort-
während Bild und Deutung parallel zu verfolgen.
Eine Geschichte, höchst simpel, wird erzählt : plötz-
lich kommt am Ende das Wort Maulwurf — und
ein Märchen strahlt auf, groß wie eine Fabel. (Der
„alte Wodtke" wäre ein rechtes Märchen, war' er
nur weniger breit geraten.)
Dann hat der Dichter einen Band „Betrach-
tungen" (Werke VIII) geschrieben: so knorplig,
gründlich und schwerflüssig, daß man sie besser
Traktate nennt. Schwer ringt sich hier der Ge-
danke zur Klarheit auf.
Dehmel weiß sehr wohl, wie alles, was er darin
schreibt, nur nachträglich erklären will, was ihm
der Genius längst willig eingegeben. Dies Buch
ist eines der deutschesten Dokumente. Es scheint
ausschließlich dazu zu dienen, daß sich ein Dichter
mit sich selber auseinandersetzt. Manches ist um-
gebogen, übergebogen, zuweilen verbogen, und es
ist amüsant zu belauschen, wie er gelegentlich seine
57
eigene Gründlichkeit, wie er diesen Reiterstiefel-Stil
höchst zierlich ad absurdum führt. In seinem spiri-
tistischen Dialog mit Goethe läßt er diesen auf
Goetheische Manier sprechen und, da ihm dies
vollkommen glückt, wird der Unterschied mit der
eigenen Prosa verräterisch deutlich. Überhaupt ist
dieser Dialog (über „Naivität und Genie") darum
stilistisch der reinste, weil sich der Zivil tragende
Dichter hier, in so hoher Gesellschaft, unwillkürlich
respektvoll zurückhält. Nur hier, dialogisierend,
und dort, wo er zu einer Menge spricht („Hörer
und Dichter", „Der Wille zur Tat") : wo er also
dem Dramatischen oder Rhapsodischen sich wieder
nähert, wird seine Prosa genußreich.
An andern Stellen stört grade das, was seinem
Dichterpathos so reine Strahlen gab : der Stolz des
Ich, der Reiz des Neubeginnens, Weltgefühl und
Ahnung, an einem neuen Anfang zu stehn. Und
wenn der Kulturforscher Dehmel auf den Tisch
schlägt und Erkenntnisse wünscht und logische
Schlüsse will, die wir längst haben, so wird der Ein-
druck peinlich. „Aristoteles und Gefolge in Ehren",
beginnt einer seiner Traktate, „aber wenn die Kunst-
wissenschaft nicht ewig leeres Stroh dreschen will,
dann muß sie endlich bis auf den Grund mit dem
alten Aberglauben aufräumen, als wolle oder könne
die Kunst die Natur nachahmen." (Sind unsere
Ästhetiker denn noch immer Naturalisten ?)
Dehmel hält offenbar den Essay für eine Form,
in der man Dinge zu Ende denkt. So überschätzt
58
und unterschätzt er gleichermaßen diese Form.
Weniger starke Dichter als er haben sie sehr dich-
terisch durchströmen lassen ; während stärkere Den-
ker als er wohl wissen, daß man keinen Gedanken
zu Ende denkt. Dehmel, vielleicht im Vorgefühle,
daß er dem Gedanken nicht gewachsen sei, will
ihm Gewalt antun, indem er, im Ablauf einer
Stunde, mit ihm „ins Reine kommen" möchte.
Je freier er sein Gefühl im Kosmos schwärmen
läßt, um so härter faßt er den Gedanken an. Es
ist, als erzöge er dieses schwächere seiner Kinder
doppelt streng, aus Furcht, es zu sehr zu lieben.
Dennoch sollte, wer diesen Dichter ganz be-
greifen will, durchaus dies Buch studieren, sei
es auch nur als Kommentar. Das schlimmste wäre
immer noch, er legt es fort und lächelt mit Deh-
mels Distichon:
„Stets enteignet der Mensch sich selbst, je eigner sein Wille;
was sein innerster Trieb, äußert sich lehrhaft als Zweck."
Halten wir beim Distichon. Es leuchtet ein,
daß dieser gedankenhaft irritierte Dichter das
Epigramm, den Spruch wie ein Ventil anfaßt,
um im Sturm ergriffener Gefühle seiner stets be-
reiten Logik Luft zu machen. Bedrängt vom
Kampf des Bewußtseins mit der Ekstase, hält er
in seinen Sprüchen gern die reine Mitte.
Hier, vor dem wachesten Denken, muß denn
auch sein lyrischer Formtrieb schweigen: in allen
Versformen schuf Dehmel sich Eigenheiten und
verwandelte die Überlieferung, — nur nicht im
59
Epigramm. Alle seine Sprüche, wenn sie nicht
grade Distichen sind oder sonst antiker Form sich
nähern, haben die Form von Goethes Sprüchen
angenommen.
MYTHISCHE GEGENWART
„Eigenes Leid und fremde Klage,
einst wird alles schöne Sage."
Rembrandt, der dunkel umwitterte Prosaist,
ward nicht müde, seine Inbrunst immer wieder
hinter mythischer Maske zu verbergen; er wählte
vor allem die Fabeln der beiden Testamente.
Dehmel, der hellsüchtige Pathetiker, weicht dem
überlieferten Mythos auf erstaunliche Weise aus.
Jener liebte das Bild der Seele im Gewände der
Vergangenheit, dieser liebt es im Kleide der Gegen-
wart. Stofflich gemeinsam ist diesen dämonisch
verwandten Geistern nur : immer wieder die Welt
im Spiegel des Ich darzustellen.
Was scheint natürlicher für den Rhapsoden,
für den Pathetiker, als daß er immer wieder
zum Mythos griffe? Aber in vier Bänden Deh-
melscher Gedichte finden sich knapp zwölf, die
einen Mythos gestalten, und diese sind — wie bei
Rembrandt — fast alle den beiden Testamenten
entnommen; meist dem Neuen, Jesu Gestalt um-
kreisend. Im ganzen Umkreis seines Werkes hat
Dehmel nur zweimal einen unchristlichen Mythos
60
dargestellt (Prometheus und Das Urteil des Paris).
Daß zuweilen antike Splitter sich in christlichen
Stoffen finden (Lucifer, Jesus und Psyche) ist zu be-
dauern, ändert aber theoretisch nichts. Doch kann
und mag dieser Dichter nicht schlicht den Mythos
rhapsodieren. Mit geheimnisvoller Geste wendet
er ihn immer neu. Denn immer wird ihm der
Mythos zur Gegenwart, sei es auch um den Preis,
am Sakrosankten als ein Moderner zu freveln.
Der psychische Grund für dies ästhetische Phä-
nomen: Dehmel ist kein Idealist. Seine pathe-
tische Idealität darf man nicht mit Idealismus
verwechseln. Er selbst hat das schlagende Wort
geformt :
„Was ist ein Ideal?
Dem Weisen eine Not,
dem Helden eine Qual,
den Schwätzern Himmelsbrot."
Wie hilft sich nun dieser Zukunfts-Süchtige, der
dem Vergangenen mißtraut, dieser Pathetiker des
gegenwärtigen Lebens ? Denn er braucht mythische
Komplexe; er wäre denn kein Pathetiker.
Dehmel wandelt sich die Gegenwart selbst zum
Mythos. Das macht ihm manchen Feind. Mit heili-
gem Eifer, aus ethischem Starrsinn führt der Dichter
einen ästhetisch aussichtslosen Kampf, dessen Motiv
etwa die Worte des Pylades beschreiben :
„. . . . Wir möchten jede Tat
so groß gleich tun, als wie sie wächst und wird,
wenn jahrelang durch Länder und Geschlechter
der Mund der Dichter sie vermehrend wälzt."
61
Dehmel schließt: Alle Kunst, die „Selbstzweck"
ist, bleibt unfruchtbar; l'art pour Part ist ein
„echter Auswuchs einer Zeit voll prätentiöser Par-
venüs, die es sehr nötig haben, vornehm zu tun."
(sie!). Die Gestalten der Kunst müssen Vorbild
werden, Volkseigentum, Symbol: so sehr, daß sie
das Volk auch fühlt, ohne sie zu kennen (Achil-
leus, Faust, Don Juan).
Diese ästhetische Überzeugung ist nur ein Korre-
lat seiner ethischen : wie sich die Dichterseele ganz
in die Welt auflösen möchte, so will sie ihr Werk
ganz ins Volk auflösen. Weil dieser Visionär im
Alltäglichen das Ewige schaut, will er, daß es auch
die Andern, daß sie es heut, sogleich als das Ewige
empfinden. In 300 Jahren — meint er, und wir
zweifeln — wird Tolstois Name, werden Strind-
berg und Ibsen so mythisch, so rein dichterisch
wirken, wie heute schon Napoleon. Also setze ich
ihre wirklichen Namen in den Glanz meiner un-
wirklichen Rhapsodien; sub specie aeternitatis.
Ein Rest von sogenanntem „Naturalismus" (von
dessen Zeitgenossenschaft man auch dem jüngeren
Dehmel wahrlich nicht viel anmerkt) mag diesen
Irrtum in ihm pflegen helfen. Dennoch wäre er
wohl romantisch genug, jene Namen zu ver-
schweigen, wenn sie Meyer und Müller hießen.
Ein Lieblingswort, das er durchaus mythisch
empfunden wissen will, das ist Berlin. Wird je
Berlin von mythischem Fluidum umrauscht sein,
wie Rom und wie Athen ? Warum Madrid ?
62
Warum nicht London? Warum nicht Magde-
burg? Warum kann Paris sogar ekstatisch ge-
sungen werden (in „Louise" von Charpentier) und
wird stets wirken, als war' es Bagdad oder Ninive ?
Ob solche Namen dichterisch wirken oder modern,
liegt häufig mehr am Klange als am Alter, liegt in
ihrem Rhythmus mitbegründet und in der Stim-
mung um sie her.
Darum gelingt dem Dichter, was er als my-
thische Gegenwart empfunden wissen will, doch
nur zuweilen; etwa in der Stelle der „Venus
Occulta":
„Nur auf deinen schwarzen Haaren
flimmern noch die Purpurfunken
deines Hutes aus Paris,
rot wie unsre Lippenpaare . . ."
In diesem Gedicht ist alles phantastisch umhüllt;
das ominöse „Berlin", das in ein früheres Gedicht
wie eine Klingel fuhr, wird verschwiegen und durch
ein einziges Wort zum Mythos erhoben:
„Diese tote Stadt ist Babel,
und ihr blasser Dampf umspinnt
eine tausendjährig trübe Fabel."
Ebenso müht sich Dehmel um die poetische
Reinigung und Erhebung moderner Errungen-
schaften, Werkzeuge, Fahrzeuge. „Eine Seefahrt
— argumentiert er — kam dem Homer hörenden
Griechen nicht romantischer vor als uns eine
Gletscherpartie; der ehern dröhnende Renn-
wagen nicht poetischer als uns das stählern
63
blitzende Zweirad." Nun, Seefahrt und Rennwagen
waren Hunderte von Jahren alt, als Homer sie be-
sang. Und doch macht es auch hier nicht das Alter
allein. Immer war der Rennwagen dem Griechen
Symbol, wie uns das Schwert noch heute; aber das
Fahrrad erinnert uns ausschließlich an Depeschen-
boten. Freilich können Dinge mythisch werden,
die noch ganz neu sind: das Flugzeug wird
gleichsam mythisch geboren; die Dampfmaschine
erarbeitet sich diese Ehre nie und wird nicht ein-
mal romantisch werden wie die Post der Guten
Alten Zeit.
In der Ballade vom Bergmann — „Ein Märtyrer"
— stehn die neuen Worte Wahlruf und Genosse
prachtvoll da: weil sie von Natur poetisch sind.
Dagegen muß es jeden — den Naivsten wie den
Raffiniertesten — gründlich stören, wenn im
„Lucifer" nach der Mutter Gottes, nach Venus,
Thanatos, Saturn, zwischen Faunen und Mönchen,
eine Gruppe moderner Arbeiter den pantomi-
mischen Aufzug beendet oder wenn ein quasi-
historischer Zug von Soldaten nach Söldnern,
Landsknechten und anderen mythisch gewordenen
Masken zum Schluß Uniformen des zwanzigsten
Jahrhunderts vorführt.
Zur Poetisierung solcher Dinge gehört eine ge-
wisse Eleganz, die Dehmel nicht besitzt. D'An-
nunzio — zuweilen auch Liliencron — ist imstande,
das modernste Gerät derart für den poetischen
Salon zu erziehen, daß es im Kreise der ehr-
6+
würdigsten, weißbärtigsten Requisiten mit meta-
physischer Verbeugung anständig auftreten kann.
Tief in seinem Innern liegt dieser Selbstbetrug
des Dichters begründet. Dehmel ist so gewohnt,
sich selbst mit allem Weltgefühle den andern
hinzugeben, daß es ihm entgehen muß, wie viel
stumpfer seine Hörer die gemeinsame Gegenwart
begreifen. Dichterschicksal.
Nach solchen Irrtümern muß er auch die Tu-
genden seines edlen Eigensinns ernten. Manche
Gestalten des letzten Jahrhunderts vermag er
mythisch so zu durchfühlen, mit solcher Sprach-
kraft zum Mythos aufzurufen, daß sie, kaum ins
Grab gesunken, noch lebend wie sagenhafte
Wesen der Vorzeit vor uns stehn.
Napoleon glich, als er lebte, schon einer mytho-
logischen Figur; so stellten ihn bereits zu seiner
Zeit die Dichter dar. Rembrandt ist es seit langem,
Goethe wird es eben jetzt, und Nietzsche erreicht
Dehmel auf dem Umweg über die poetische
Zarathustra-Maske. Dem Bismarck aber hat er,
noch da er lebte, die großen Abendglocken nach-
geläutet. Im Sturmwind hebt der Dichter das
Ereignis seiner Absetzung zum Mythos empor:
dunkle Glocken umringen den Sohn der Macht:
„Immer hungrig,
tief auf nach Opfern
stöhnt der Mund der Macht ....
Bismarck, graue Klippe du ! . . ."
Ein Jahr nach Bismarcks Sturze hat er diese Rhap-
5 Ludwig, Richard Dehmel 65
sodie veröffentlicht; geschrieben hat er sie wohl
in den kritischen Tagen. Neuerdings hat er sie
abermals in der „Ballade vom Volk" mythologisiert.
Und mit einem Male gewahren wir, wie nichts
von allem sich vorauswissen läßt: wie die Ent-
wickelung dem Dichter recht, dem Kritiker un-
recht geben kann. Denn damals wirkte wohl auch
diese Hyperbel überspannt, und man zuckte die
Achsel : Ein Minister — eine graue Klippe ?
Heute schon, nach zwei Jahrzehnten, besingen
ihn so die Jünglinge, wie Dehmel einst den Leben-
den besang.
BAROCK
Für Wagner hat Dehmel einmal, in einem Briefe,
das schlagende Wort „Bastard-Barock" erfunden,
„kentaurische Zwittergattung". Und seine Lei-
denschaft gegen Wagner mag auch der Furcht
vor Verwandtschaft entspringen.
Dieser Grundgefahr jedes visionären Künstlers:
barock zu werden, ist auch Grünewald, auch
Dürer nicht entgangen. Darum hat jenes Wort
in Dehmels Munde einen bedenklichen Untersinn.
Ehe er es sichtete, war sein Werk reicher an Über-
spannungen und Unförmigkeiten als jetzt. Immer-
hin gibt auch jetzt noch „Venus Mors" dem toll-
sten Scheerbart an Barocke nichts nach. Dies Ge-
dicht beginnt:
66
„Eine rote Feuerlilie schreitet
riesig durch die Weltennacht"
und endet:
„Eine neue Welt entrollt der toten.
Strahlend quillt sie aus dem morgenroten,
furchtbarn Siriusliebestodesbrand."
Auch jenes früh gedichtete „Heinedenkmal" —
das, wie so vieles Kommensurable von Dehmel,
populär geworden ist — , wo um den Krankenstuhl
des Dichters Knabe, Greis und Jungfrau, Schwein,
Greif und andere Utensilien versammelt stehn,
möchte man sich durchaus nicht gemeißelt denken.
In einem Werk hat sich Dehmel zum Barock
hin, nicht von ihm fort entwickelt. „Die Ver-
wandlungen der Venus" waren ehemals ein längeres
Gedicht. Später hat sie der Dichter zu einem
ganzen Bande ausgestaltet, um darin seine „Ver-
strickung in die erotischen Probleme zu entwirren."
Zu diesem architektonischen Zwecke hat er eine
Reihe erotischer Gedichte aus ihrer schönen Iso-
lation gelöst, verbunden, neue hinzugedichtet und
nun eine dreißig Male verwandelte Venus vorge-
führt. Die Folge: manche Gedichte, ehedem
wunderbar einsam, wirken nun wie Nummern, um
die der Kompositeur verbindende Rezitation ge-
schlungen. Oft bemerkt man, aus wie verschiedenen
Lebensepochen und Stimmungen diese Nummern
stammen. Oft bleibt also die künstliche Verbin-
dung sichtbar und nimmt dem Werk die Ge-
schlossenheit der „Zwei Menschen", mit denen es
konkurrieren möchte.
5* 6j
Daß wir die Beweggründe des Dichters spüren,
macht den Eindruck nicht besser. Er wollte das
Ganze ins Kosmische heben. Wirklich gelingt ihm
hier — mit Ausnahme der Ouvertüre — dieser
Aufgang vom Realistischen ins Mystische, wirklich
scheint dieser nachtwachende Seher der Liebe wie
mit hängenden Armen durch einen Rauchfang aus
dem Keller zu den Sternen aufzuschweben. Wie
wundervoll folgen manchmal drei oder vier Ver-
wandlungen einander! Wie feierlich stehen die
lateinischen Namen! Und wie barock ist den-
noch diese Symmetrie aufgestellt, wie erdacht dies
Labyrinth, — in dem es himmlische Täler und
brausende Berge gibt.
Viel wagnerischer sind aber Dehmels Ver-
schmelzungsgelüste. Berühmtestes Beispiel: das
gefährliche Gedicht „Jesus und Psyche", Phanta-
sie bei Klinger. Der Maler hatte diese Geister
schon — mit sehr verdächtiger Gebärde — zu-
sammengeführt; doch der Zusammenstoß er-
starrte, bewegungslos blickten sie sich an. Über-
dies blieb das Ganze in einem tiefen Moll, das die
burleske Note dämpfte. Dehmel fängt aber vor
dem Bilde zu träumen an, spinnt die Mythen-
verschmelzung weiter — und läßt am Ende mit
Zimbeln und Flöten Jesus seine Hochzeitsnacht
mit Psyche feiern.
Freilich bleibt alles Barocke bei Dehmel so
gelegentlich, wie es bei Wagner principium war.
Und es festigt sich in solchen Augenblicken, da
68
man diese Künstler nahe beieinander sieht, die
Erkenntnis : wie sehr Richard Wagner dem Richard
Dehmel an Vielfalt des Genialischen und an wilder
Brunst überlegen ist; wie sehr er ihm an Wucht
des Visionären und reiner Inbrunst nachsteht.
Wo sie am nächsten verwandt erscheinen: im
Erotischen sind sie grundverschieden. Denn das
sind durchaus Correggios Töne, nicht Wagners,
in denen Dehmel Aphroditen schildert. Und mit
Correggios hold geheimen Mächten dichtet er den
Zusammenstoß der Geschlechter.
Um ganz die große Kluft zu spüren, diesseits
welcher Wagner noch barock, jenseits welcher
Dehmel schon befreit erscheint, vergleichen wir
zwei inhaltlich synonyme erotische Passagen: aus
Siegfried und aus Venus Creatrix, das von allen
Dehmelschen Gedichten das wagnerischeste ist.
Wagner: „Göttliche Ruhe
rast mir in Wogen;
keuschestes Licht
lodert in Gluten . . .
Wie des Blutes Ströme sich zünden;
wie der Blicke Strahlen sich zehren;
wie die Arme brünstig sich pressen —
kehrt mir zurück
mein kühner Mut."
Dehmel: „Und Brust an Brust gedrängt von blendenden
Schauern,
von goldenen Dunkelheiten weit umwölkt,
wiegen uns fernhintastende Schwingen
Schoß an Schoß hinüber
in die Gärten der Ewigkeit."
69
DER SPIELER
„Nimm, vernimm und frag' nicht viel,
tiefster Ernst wird höchstes Spiel;
sieh nur, mit dem Schmerz der Zeit
spielt die ewige Seligkeit."
Es war nur halb im Scherz, als der Dichter
einmal von sich sagte: „Wenn ich noch eine ge-
wisse Leichtigkeit des Ausdrucks hätte, wäre ich
ein Genie ersten Ranges. So bin ich eigentlich
nur ein geniales Monstrum."
Eine Metapher, der wir ihn überlegen wissen.
Dennoch der Ausdruck einer schweren Natur, die
die leichtere mit edler Eifersucht betrachtet. Jene
Göttin, von der er die leichte Sandale erfleht,
würde er nie seine Geliebte nennen, nur „seit ewig
bist du meine Braut".
Doch ist dies nicht die dumpfe Sucht eines
Nachtalben nach dem Lichte, noch ist es Strind-
bergs Sucht zur Heiligkeit. Aus sich heraus, für
immer weg von sich in andere Gestalt, kann sich
ein Mann nicht sehnen, der sich selbst so willig
hingegeben lebt. In Dehmel atmet kein Wille zur
Leichtheit; nur ein Wunsch.
Und so gestaltet er diesen Wunsch nicht in ge-
dehnter Klage, nach Art der Romantiker; nur im
Spiele, in Spielen. Zuweilen nämlich nimmt der
Dichter seinen Visionen die großen Traumflügel ab
und bindet ihnen kleine Engelsschwingen an. Kaum
aber will er sie in die Luft entlassen, — da senkt
70
sich wieder seine Schwere auf sie nieder. Da heischt
sein Formwille wieder von ihm, die phantastischen
Seifenblasen einzufangen und in Erz zu gießen.
So entstehen Dehmels Pantomimen: Gebilde,
entzückend an Phantastik; beängstigend an Bedeu-
tung und Symbol; einProblema für den Regisseur.
Dehmels Liebe zur Pantomime ist unglücklich:
nicht, weil ihn die Pantomime nicht wieder liebte;
nur weil sie seine besten Dichterkräfte, noch eben
im Blauen schweifend, fest bindet an die Physiologie
des Beleuchters, des Schnürbodens, der Versenkung.
Warum schweigst du ? fragt den Dichter der
Kenner, wenn er 120 Seiten „Lucifer" gelesen hat,
die nichts enthalten als Regiepläne eines Spieles
ohne Worte, das vorher auf 15 Seiten in holder
Wirrnis und in kluger Ordnung vorgeträumt ward.
Wie groß muß — schließt aber der Kenner —
dein Reichtum sein, wenn du noch wortlos wirkst,
deiner eigensten Kunst beraubt. „Lucifer" ist als
phantastisches Barock so reizend, wie , Jesus und
Psyche" gefährlich war. Mag immerhin auch hier
eine goetheische Verschmelzung antiker und christ-
licher, sagen wir einmal: naiver und sentimen-
talischer Dichtung gedacht sein, — wir sehen
nur ein Spiel und folgen willig. Dehmel selber
würde wohl die Bedeutung dieses Spieles in die
Mitte der Betrachtung rücken.
Griechische Thyrsosstäbe und der Apfelbaum des
Paradieses, darwinische Affen und glorreiche Amo-
retten, Saturn und Thanatos, Venus, Mönche und
71
Lucifer : und alles gruppiert sich um die Mutter mit
dem Kinde. Ein Gläubiger — Christ oder Heide,
Neuplatoniker oder Monist — begänne im Theater
zu zischen; der fromme Christ alarmierte die hohe
Polizei, wenn er am Ende Lucifer und Venus an der
Strahlenkrone der Madonna die erloschenen Fackeln
neu entzünden sähe und hörte dabei einen „Chorus
mysticus" die optimistische Synthese singen:
„Kyrie eleison,
Herr erbarme dich liebreich,
Lucifer !
Allerbarmerin Venus
folgt dir in das Lichtreich,
wo die Mutter mit dem Kinde thront."
Uns stören solche dogmatischen Kombinationen
nur; aber sie verschwinden hinter dem phantasti-
schen Rankewerk, das uns entzückt: Amor sitzt
einsam unter dem Kreuze, den dumpfen Himmel
anstarrend. Oder : Nach Lucifers Versöhnung mit
Venus, wenn alle Paare müder und müder nieder-
gesunken, kommt Saturn mit seiner Sense, die
Sanduhr leuchtet. Nachtschmetterlinge flattern
her und nehmen den Schlafenden die Kränze ab.
Dann geht er wieder in die Finsternis, von Amor
und von Thanatos geleitet . . .
In ähnlichen Formen bewegen sich „Fitze-
butze", „Die Gottesnacht"; am reinsten, wenn
auch minder reich „Die Völkerbrautschau". Dies
Spiel — wie für Dalcroze geschaffen — ist kürzer
und hat den sinnreichen Ausweg, einen unsicht-
72
baren Kinderchor in kleinen Versen Handlung
und Deutung singen zu lassen.
Sein Sinn für Spiele hat ihn manches Lied und
Spielzeug für Kinder erfinden lassen; er hat darin
seine Anbetung des Kindes vor dem Kinde gleich-
sam verheimlicht.
In Fitzebutze (dem Traumspiel) schildert er, was
Maeterlink — wohl etwas später— im,, Blauen Vogel"
dargestellt hat ; und man bedauert, daß er nicht wie
dieser in Worten gedichtet, daß er nur szenisch fabu-
liert hat. Von den Gedichten wirken manche ber-
linisch und etwas kleinbürgerlich; andere (Aurikel-
chen, Die Schaukel) wie unbefangene Kinderlieder;
wieder andere (Das richtige Pferd) schlagen viel zu
sehr ins Heinesche um, als daß sie für Kinder wären.
Am reinsten verschmilzt das Erzieherische mit
dem Dichterischen im ,, Kleinen Held", wieder
durch das Glück eines Refrains. Da faßt der Dichter
die ganze Welt wie in eine Schachtel, als wäre sie
die neue Melusine; man schaut hinein, drinnen
bewegt es sich. Große Buben und kleine mögen
hier bildhaft sehn, was es für sie zu tun gibt in
der Welt. So dient es zum Sporn und zur War-
nung. Denn die modernste Kinderfrage erhält hier
eine mythische Antwort. Man muß sie singen,
man findet gleich selbst eine Melodie. Hier ist
eine Art Volkslied rein erfunden : jeder kann weiter
dichten, wie er mag*.
# In der Schweiz liest man das Gedicht in manchen Schulen.
Da wollen sie alle am liebsten Tierbändiger werden !
73
Manches sinnlos holde Kinderspiel hat dieser
Geist erdacht. Einmal fiel ihm ein: in einem
Kreis von Kindern schreibe jedes ein Hauptwort
auf einen Zettel, der von Hand zu Hand geht;
dann bilde jedes Kind aus den gesammelten Haupt-
wörtern rasch eine Geschichte.
Voll Andacht setzte sich der spielende Dichter
zu den Kindern. Die Wörter lauteten zum Beispiel :
Vogel, Fenster, Pfauenauge, Leuchtturm, Palme,
Buch, Springbrunnen, Spieldose, Dichter, Kaiser.
Ein Kind schrieb : „Es war einmal ein Kaiser, der
hatte einen großen Garten, in dem war ein Spring-
brunnen, eine Palme, ein Vogel und ein Pfauen-
auge. Ein Dichter schrieb ein großes Buch, und
in dem Buch wurde von einer Spieldose erzählt.
Und der Kaiser sah zum Fenster hinaus und war
frohen Mutes. In der Ferne aber sah man einen
Leuchtturm."
Der spielende Dichter schrieb: „Neben dem
Leuchtturm stand eine Palme. Darunter saß ein
Mann und las ein Buch. Da flog ein Pfauenauge
vorbei, und von dem Fenster des Leuchtturmes
her kam ein Vogel und verfolgte den Schmetter-
ling. In diesem Augenblick begann im Innern
des Turmes eine Spieldose zu klingen, so ent-
zückend wie ferner Springbrunnenklang: so daß
der Mann von dem Buch aufsah, — und der Vogel
verschlang den Schmetterling. Da dachte der
Mann, der das mit ansah: Weil ich ein Dichter
bin, möchte ich sterben wie dieses Pfauenauge;
74
wenn ich aber ein Kaiser wäre, möchte ich leben
wie dieser Vogel."
. . . Wir lauschen noch. Wir sehn ihn noch
unter den Kindern sitzen, lächelnd und einsam.
Da klingen von ferne die Stimmen der Mädchen
aus „Venus Regina":
„Kannst du schweben?
Aus dem Tal der Einsamkeiten,
wo die Kräfte sich erheben,
ruft das Leben
heim zum Wettspiel die Befreiten . . . ."
DRAMATISCHES
Balladen sind Versuche des Lyrikers, sich in das
dramatische Himmelreich einzuschleichen.
Und bei den Balladen fängt Dehmels drama-
tischer Impetus an; nicht bei seinen Pantomimen,
die nur gespielte Träume sind, Visionen mit Be-
wegung, ohne Worte.
Was Dehmels Balladen vom Dramatischen ab-
drängt, ist das Stück Romanze, das in vielen steckt;
etwa in der wundervollen Dichtung von der
Rose, dem Falter und dem Licht. (Werke I, 16).
Andres darin treibt zum Dramatischen hin, und
merkwürdig oft zum Tragischen. Nirgends im
gesamten Umkreis seiner Dichtung hat Dehmel,
dieses antitragische Gewissen seiner Zeit, — nur
in den Balladen hat er sich dem Tragischen ge-
75
nähert. Der Rächer, Die Buße, Die Magd, —
und hier lehnt er sich auch anfangs, wie ungewiß
auf ungewohntem Boden, an überlieferte Maße
und Formen an.
Doch schon die Ballade vom Bergmann führt
er, als der Märtyrer ertrunken ist, am Schlüsse
ganz in prachtvolles Dur:
„O rauher, o rauher, mein rauhes Lied!
Kein Witwengewimmer, kein Weibgestöhn!
Nach Opfern schreit der Sturm im Ried.
Doch bald: dann kommt der Frühlingsföhn,
dann schießt in Halme die junge Saat,
der Tag der Auferstehung naht! . . . ."
Ähnlich wird er, während er eben noch Napoleons
Tragödie aufrollen wollte, in dem herrlichen,
„Anno Domini 1812" unversehens ins Männlich-
Siegende gerissen:
„Und es war ein großes schwarzes Heer,
und es war ein stolzer kalter Kaiser.
Aber unser Mütterchen, das heilige Rußland,
hat viel tausend tausend stille warme Herzen;
ewig, ewig blüht das Volk."
Hinreißend entwickelt sich aus dem Gange der
Handlung selbst dieser Aufstieg im „Befreiten
Prometheus".
Zuweilen rückt er — wie ein dämonisch brausen-
der, szenisch unbekümmerter Grabbe — die Ge-
schehnisse in ein paar Zeilen zusammen, um dann
wieder ein einzelnes lyrisch auszudehnen; etwa in
„Venus Homo" (Der Bastard), unübertroffen an
Gedrungenheit. Da wird in je einer Strophe ge-
76
schildert: Erwachen des Nachtweibes; Ankunft
des Sonnenfürsten; Begattung; Geburt.
„Da kommt genaht und ist schon da
Apoll im Sonnenwagen.
Es flammt sein Blick den Baum hinan,
die Vampyrbraut genießt den Bann
mit dürstendem Behagen.
Es sehnt sein Arm sich wild empor,
vier Augen leuchten trunken;
das Nachtweib und der Sonnenfürst,
sie liegen hingesunken."
Auf diesem Höhepunkte seiner Balladen wird
Dehmels große Unähnlichkeit mit Schiller aufs
neue deutlich, mit dem er irrig verglichen wurde.
Knüpft hier der Dichter an den Dichter an, so
kann es nur die Braut von Korinth sein, die ihm
vorgeleuchtet.
Wäre Dehmel nichts als der größte Balladen-
dichter seiner Zeit : grade im Ausbau dieser Form
könnte man eine Hinderung für ihn erblicken,
zum Drama fortzuschreiten. Der Auftrieb zu
seinem furor dramaticus muß tiefer liegen.
Dehmel, von so vielen Antithesen geschüttelt,
trägt diese unwillkürlich in seine Werke; nur zu-
weilen löst er sie vorher auf. Oft erscheint sein
kleinstes Gedicht so straff gespannt, daß es, um
drei Worte vermehrt, das Grundseil zerreißen und
ins Chaos stürzen würde. Solche Gedichte sind
keine verkappten Balladen; vielmehr verkappte
Dramen. Geladen mit dramatischer Elektrizität,
wollen sie allenthalben den Bannkreis ihrer Form
77
zersprengen. Es sind dramatische Visionen : Ge-
ständnis (Werke I, 84), Lebewohl (II, 48), Dunkle
Gewalt (III, 52), Masken (III, 116). Die dialo-
gischen Gedichte nähern sich schon formal dem
Drama: Nächtliches Zwiegespräch (III, 72), Herr
und Herrin, das große Duett „Eines Tages"
(III, 147) und schließlich jede einzelne der hun-
dertundacht „Romanzen", die die „Zwei Men-
schen" bilden.
In 15 Zeilen rückt das „Erntelied" mit dem
nämlichen Riesencrescendo an, wie die „Macht
der Finsternis" in fünf Akten.
Hier sind zwei kleinste Gedichte; ein Erster Akt
in acht Zeilen:
Vorspiel
„Sie ist nur durch mein Zimmer gegangen
und hat mir scheu von Träumen erzählt;
und ich habe sie mit Trost gequält
und saß und starb fast vor Verlangen.
Sie hat geträumt von meinen Händen:
sie aß von ihres Mannes Brot,
da kam ich an und drückte sie tot,
sie hielt ganz still . . . Wie wird das enden . . ."
Und ein Letzter Akt in vier Zeilen:
Finale
„Da hast du dich von meiner Brust gelöst.
Doch als ich fürchtete, das Fest sei aus,
hobst du mir meinen Kranz auf,
meinen Kranz auf."
Zweimal hat Dehmel die dramatische Form
selber versucht. „Michel Michael" ist zwittrig
78
geblieben; er kommt noch von der Pantomime
her, statt von der Ballade. Der Dichter möchte
hier symbolischer Naturalist sein; doch er bleibt
Allegoriker wider Willen. Beispiel: Man soll ihm
glauben, Ekkehard und Kaiser Rotbart seien wirk-
liche vornehme Herren, die nur eben auf den Mas-
kenball gehn ; aber sie wirken als Geister (schon durch
die Art, spukartig immer Michels letzte Worte zu
wiederholen) und werden sie am Ende „Exzellenz"
angesprochen, so greift vollends Unruhe Platz.
Dehmel versucht hier, das Bildhafte und das
Symbolische übereinander zu komponieren; etwa
wie manZweifarben-Photographien durch Chromo-
platten herstellt. Da kommt ihm der Traum da-
zwischen, doch selbst bei Calderon ist niemand ge-
neigt, auf der Bühne einen Traum von der Länge
eines ganzen Aktes, vollends des dritten auszuhal-
ten. Diese Komödie, die das Widerspiel von Maske
und Realität als Kunstmittel benutzen möchte,
baut sich, statt auf doppelte, auf drei- und vier-
fache Symbolik auf; das verwirrt die Sinne.
Noch verwirrter wird die Seele. Wenn mitten
in ihrer grotesken Träumerei die geträumte Frau
Venus ihre schönsten Dehmelverse spricht: je
schöner sie sind, um so peinlicher wird dem Hörer.
Als bei der ersten Aufführung, da wir das Stück
nicht kannten, die Stelle kam:
„Sag, Michel: Ist's Schmerz? — Ist's Wonne?"
da stieg manchem Freunde des Dichters ein Angst-
gefühl hoch.
79
Aber im ersten und letzten Akt tritt dieser
Michel prachtvoll vor. Da ist er eine traumlos,
spuklos atmende Landgestalt; die das Grauen vor
der Stadt überkommt, in die es sie zieht. Schlau
und tumb, in mitmenschlichem Ernste steht er da,
trägt Züge, birgt Rhythmen: wie Bach, der Pro-
testant.
Was im „Michel Michael" allegorisch zerronnen,
das ist im „Mitmensch" psychologisch versponnen.
Dies Drama zeigt, wie ein Lyriker, aus Furcht
im Drama zu lyrisch zu werden, zu epigramma-
tisch werden kann. So werden die Tugenden dieses
Stückes (das noch mitten in der naturalistischen
Zeit des deutschen Dramas geschrieben wurde)
zugleich seine Schwächen. Um den Lyriker nicht
zu leidenschaftlich zu verraten, verheimlicht ihn
der Dichter zu sehr. Karg wie von Hebbel,
deutlich wie von Tolstoi, ist es, statt im Sinne
Ibsens bürgerlich symbolisch oder Strindbergs
ausgehöhlt zu werden, so spintisiert, daß keine
der Wirkungen erreicht wird, die diese vier Dra-
matiker mit ähnlichen Dingen hervorgebracht
haben.
Vier Akte sind hier deutliches Paradigma für
eine Idee, die dann im fünften kalt ausgesprochen
wird. Das kann nicht wirken. Dieser Konflikt:
ein Mensch tötet einen andern, um einem Dritten,
den er liebt — noch nicht einmal zu helfen, ist
viel zu systematisch ausgerechnet; das Publikum
stutzt und fühlt sich für seine Atemlosigkeit am
80
Schluß enttäuscht. Zudem fällt der Schuß, um
den das Stück geschrieben ist, erst, als der Vorhang
über dem letzten Akte sinkt, statt am Ende des
vorletzten zu fallen, und die Hörer haben weder
Zeit noch Raum, den Schuß zu „deuten". —
Doch kann es, im Anblick eines so großen
Dichters, die Aufgabe nicht sein, seine Mißgriffe
zu begründen, ohne seine Versprechungen zu er-
weisen.
In beiden Dramen hat Dehmel dramatische
Qualitäten in solchem Grade dargelegt, daß jeder
in ihm den Dramatiker errechnen könnte, der
diese Qualitäten zu der Grundkraft seiner Künst-
lerschaft und zu den Grundkräften seines Wesens
addiert. Nicht was er als Dramatiker, grade was
er als Lyriker geschaffen hat, birgt ein starkes
dramatisches Versprechen.
Man kann einwenden: dieser typische Rhap-
sode wird als solcher, als Monologiker stetig vom
dialogischen Wesen des Dramas abgedrängt. Ist
aber Dehmel Monologiker ?
„. . . Und Schritt für Schritt dies dunkle Du,
es scheint von Pol zu Pol zu sausen.
Und tausend Worte hör ich brausen
und schreite stumm der Heimat zu."
In diesem Monologe liegen die dramatischen und
die antidramatischen Elemente Richard Dehmels
symbolisch nebeneinander. Der Widerspruch in
seiner Seele drängt zum Drama, Hingebung hält
ihn auf. Aber jene willige Kampfesfreude, die
6 Ludwig, Richard Dehmel 8l
sich schon vor dem Kampfe ihres trostreichen
Sinnes bewußt ist: der Kämpfer und Spieler, der
an Tyche glaubt, fühlt sich zum untragischen
Schauspiel getrieben.
Ergreift er jemals einen Mythos, vielleicht einen
biblischen, und formt ihn ohne Deutung, wie er
ist : so kann das stärkste Dokument dieses Lyrikers
mit einem Mal ein Drama sein.
82
III. ZWEI MENSCHEN
„Steig auf, steig auf mit deinen Leidenschaften . . .'
Es sind zehn Jahre, wir waren Studenten; die
letzten Formeln, die wir vorgefunden, hießen
Schopenhauer und Tristan. (Nietzsche war viel zu
limpido für unsere zwanzigjährige Dunkelheit.)
Der Freund, der alles las und kannte, hatte
schon seit längerer Zeit sonderbare Bruchstücke
in einer großen, seltenen und teuren Zeitschrift
verfolgt und uns anvertraut: ,,Dort stehen dunkle
Gesänge, Zwiegesänge. Es muß etwas Großes sein.
Alle Worte enden auf -ung.u
Eines Tages, kaum war es erschienen, brachte
er dann das Buch auf -ung. Das war in dunkel-
roten sonderbaren Lettern auf dickes graues Papier
gedruckt. Auf dem Einband stand ein unentwirr-
bares Wappen. Jeder las das Buch für sich. Als
wir uns auf der Straße trafen, — jeder hatte be-
sondere Blicke und Worte, verworrene, entzückte,
kühne und bange. Jeder fühlte : eine neue Formel
ist gefunden.
In jugendlichem Schwünge zwangen wir sie den
armen Eltern auf. Sie zischten, sie lachten, sie
parodierten. Aber alle sprachen von dem Buch.
Und doch war dieser geschlechtliche Roman in
85
ungenauen Versen — wie sie ihn spöttisch — ,
dieses Epos in Gesängen, wie wir es ehrfürchtig
nannten, in keinem Betrachte „interessant". Eine
Handlung, ziemlich abgebraucht, überdies nur
schwer zu entziffern. Personen: vakant, denn die
beiden Menschen, die allein das Buch erfüllten,
trugen kaum jene Eigenheiten, an denen man
Romanfiguren sich merkt. Alles an diesem Buch
schien allgemein.
Doch noch nie war uns eine Dichtung so ge-
reicht worden. Nummern, fortlaufende, anonyme
Nummern überall. Eine kerzengerade Symmetrie
befremdete, ängstigte, wirkte mysteriös. Nur ein
einziges Gedicht, so zugeschnitten, war uns be-
gegnet : das war Dante, und den kannten wir kaum.
Wie bei Dante waren hier drei Teile. Wie bei
Dante — dreimal dreiunddreißig plus Eins —
umschloß jeder Teil gleich viele Gesänge. Im
Innern aber ging's noch symmetrischer zu. Jeder
Gesang hatte gleich viel Verse. Ja, wir bemerkten
(mit diesem Buche war es infernalisch bestellt) :
die Zahl der Verse jedes Gesanges glich der Zahl
der Gesänge jedes Teiles; immer waren es 36.
Vor jedem Teil standen 12 Verse als Einleitung,
— das waren unversehens wieder 36.
In jedem Gesänge tauchte zuerst eine Land-
schaft aus dem Dunkel oder auch eine Szenerie.
Darin stand Mann und Weib, in modernen Ko-
stümen. Nun erhob eines von beiden die Stimme.
Bewegung. Die Landschaft kehrte für kurze
86
Augenblicke wieder. Dann kam die Antwort.
Dann schmolz Landschaft und Gespräch zu einer
inneren Bewegung zusammen. Zuletzt fielen die
Worte: Zwei Menschen.
Was lag im Innern dieses verschnittenen Gartens
verborgen ? Die Welt zweier Liebenden. Hatten
wir dergleichen nie gesehn?
Nie. Alles, was wir chaotisch durchfühlt und
durchdacht, was wir in Kopf und Herzen ge-
wälzt : zum ersten Male lag es vor uns ausgebreitet,
geordnet, und wie in sanft bewegtem, immer
gleichen Trabe durcheilten wir auf ebener Straße
die Landschaft unserer Seele. Gebettet lag, zu
beiden Seiten, eingefaßt in reine Marmorgrenzen,
was bisher unwirsch in Trieben auseinander strebte.
Nicht Antworten gab uns das Buch; was lag an
Antworten. Jugend ist viel zu ernst, um nur zu
fragen. Es gab uns Formeln — und verflachte, wie
sonst Formeln pflegen, die Probleme dennoch nicht :
Genius und Dämon, Eros und die Muse, Wille zur
Macht und Fügung in das Schicksal, Dunkelheiten
und Entzückungen des Geschlechtes, Verwirrung
der Sinne, Entwirrung der Seele: alles schien in
dieser Dichtung auf neue Formeln gebracht. —
Heut wirkt sie anders. Nicht weil die Kraft
unserer Gefühle gewachsen — wir müssen uns,
nach dem Ernste der Jugend, nur hüten, daß sie
nicht kleiner werde — ; nur weil der Umkreis von
Erfahrung und Erkenntnis wachsen mußte. Wir
erweiterten zudem die Kenntnis der Kunst, der
87
Dichter und dieses Dichters. Geschmack erwachte.
Und wir folgten Antonios Rat: „Vergleiche dich!
Erkenne, wer du bist!"
Und doch lebt dieses Werk nach einem Jahr-
zehnt noch immer in uns, ganz allein, ganz ohne
seines Gleichen: auf einer Insel.
Hauptwerk. Nicht durch geniales Abweichen
von den übrigen hebt es sich heraus, vielmehr
durch glückliche Vereinigung der besten Züge
aller früheren; somit ist es dem Kenner nicht
erstaunlich.
In den „Zwei Menschen" geht Dehmel nirgends
über sich hinaus; weder neue Erkenntnisse noch
eine überraschende Fabel wird man hier finden.
Das Weltbild bleibt das nämliche, wie wir es aus
den Gedichten abgebildet, die „Fabel" altbekannt
und ohne Bedeutung. Alles liegt auch hier begrün-
det im Geheimnis einer wahrhaft bronzenen Form.
Schon einige Jahre vorher hatte der Dichter
zwei Zwiegespräche gedichtet; sie standen in
„Weib und Welt". Sie fügten sich aus einer Land-
schaft, der Rede eines Weibes, Bewegung und
wieder Landschaft, der Rede eines Mannes; end-
lich Akkord der Landschaft und der Seelen. Beide
Gedichte erwiesen sich ihm nachträglich als gleich
gebaut und als gleich lang.
Bald darauf, auf der Suche nach einer neuen Form
für ein Epos, las der Dichter wieder diese Gedichte
88
— und sah plötzlich, daß er, ganz unwillkürlich,
die rechte Form für das moderne Epos bereits ge-
funden, ,,die seit Goethe und Byron vergebens
gesuchte".
Ebenso unwillkürlich rollte alles übrige ab. Nach
dem Plane seines Romans fügte er Zwiegespräch
an Zwiegespräch, unbefangen. Man hat ihm vor-
geworfen, er hätte pedantisch „abgezählt". Dies
wäre wohl das Schlimmste nicht. Ottaven, Disti-
chen, Terzinen, in denen Epen sonst gedichtet
werden, wollen schließlich ebenso abgezählt sein;
Racine führt seine Reime von einem Akt in den
anderen hinüber; die Fuge ist beinahe Mathe-
matik, und ein vollkommenes Sonett hat Nietz-
sche das vollkommenste Gedicht genannt, weil
es den Dichter in die engsten Fesseln legt. Was
der Bourgeoisie als Pedanterie erscheinen mag,
ist in Wahrheit höchste künstlerische Geschlossen-
heit: ein metallisches Netz.
Dehmel hat aber nie im voraus gezählt. (Später,
bei Durchsicht und Niederschrift, hat er zuweilen
ergänzt oder gestrichen.) Somit muß in der Form,
die Tyche dem Genius reichte, ein organisches Ge-
setz verborgen liegen. Ein einziges Mal — erzählt
er — konnte er mit einer Romanze nicht ins Reine
kommen ; zwei Zeilen fehlten ihr, und was er auch
ergänzen mochte, nichts wuchs an. Als er dann,
sehr verstimmt, noch einmal das Stück überblickte,
sah er : er hatte sich bei seiner Prüfung verzählt.
Und jene beiden Stücke, die er ehedem unab-
89
hängig von dem Roman geschrieben, konnte er,
der ewig Ändernde, wörtlich in sein Werk hinüber-
nehmen (I, I und I, 5).
Alle weitere Symmetrie — Ablauf der Jahres-
zeiten, Ablauf des Jahres zwischen den Geburten
zweier Kinder — hat dieser poetische Architekt
mit Willen und Bewußtsein kunstvoll aufgestellt.
Auch der Titel ,, Roman in Romanzen" ist wohl
nur des Gleichklanges wegen da. Das Ganze ist
in Wahrheit eher eine Symphonie, etwa : Maestoso.
— Allegro con brio; Largo. — Andante sereno. —
Jeder der 108 Teile ist gleichermaßen: ein musi-
kalisches Duo; eine psychische Landschaft; eine
dramatische Szene.
Jedes Duo — älterer Form — , in dem eine
Stimme der anderen mit Abwandlungen folgt, bis
sie am Ende harmonisch verschmelzen, wird durch
gewisse wiederkehrende Motive und durch den Re-
frain am Ende mit den andern verbunden. Jede
Landschaft erregt, ebnet und steigert zugleich die
psychische Stimmung, die selten das Primäre im
Dichten gewesen sein mag. Alles ist aber so ver-
dichtet, so risselos, das niemand mehr die Ent-
stehung spürt, (besonders in den Berglandschaften
des zweiten Teiles). Fast jede dramatische Szene
beschreibt den Weg: Bewegung — Hohe Stille —
Betrachtung (Besondere Beispiele: I, 14, 17, 33).
Weit mehr. Jede Romanze verschmilzt in sich
völlig organisch das Duo, die Landschaft und die
dramatische Szene. Und alle Stücke bilden eine
90
ununterbrochene Kette, jedes Glied aus dem
vorigen entwickelnd. (Nur sehr selten bemerkt
man die künstelnde Hand, etwa in der nicht ge-
lungenen Romanze II, 27, Übergang zum Meere).
Hauptgrund für das Gelingen dieses Werkes:
Dehmel hat den Denker und den Dichter in sich
verschmelzen dürfen, wiederum nur durch das
Geheimnis der Form. Denn diese Art Dialog, in
seiner ganzen Struktur, mit seinen langen und
kurzen Zeilen gibt Raum dem Dehmelschen Pa-
thos und Raum seinem epigrammatischen Geiste.
Alle früheren Formen, dem Strom der Landschaft,
des Gefühls geöffnet, ließen nur unwirsch ein Ge-
dachtes in sich ein. Wird aber hier ein Geistiges
zwischen den zwei Menschen erörtert, so zieht
sich das Pathos still in seine Landschaft zurück,
während der Reden; diese selbst aber werden frei
für epigrammatischen Stil.
Zweiter Grund: Die Länge und Kürze der
Zeilen, die hier mit höchster Souveränität be-
handelt werden, schützte Dehmel vor seiner andern
Gefahr. Das Höchste und das Täglichste — beides
durchaus Elemente seiner Dichtung — ließ sich
gemeinsam in diese Formen spannen; wie etwa in
I, 9 und I, 10 dem Dunkelsten das Konventionell-
ste folgt. Wo er den Ton simpler Konversation be-
nötigt, diesen gewissen bürgerlich-modernen Ton,
der manches Gedicht gestört hatte, — in diese
Zeilen, diese Reime kann er ihn fließend fügen.
Nur im dritten Teil ist ihm diese Form schon
91
so gebräuchlich, daß er manche unnötigen Natu-
ralismen („Also") an den Anfang einer Zeile setzt.
Endlich mildert diese Form, was an mythisch
ungestaltbarer Gegenwart sich hier noch findet.
(„Banknoten" sind möglich, „Braune Lappen" sind
slang. „Telephon" in 1, 1 8, trotz seiner Vorbereitung
und trotz der wunderbar fallenden Silben: „ — Es
— ist — blind" ist doch als Klang nicht bewältigt;
die „Radfahr jacke" recht entbehrlich). Wo er ins
Gegenteil stürzt : wo er vor Ekstase barock wird —
„Nenn's nicht Wahnsinn, nenn's lieber Ahnsinn"
oder:
„Ich will, muß, willmuß fliegen"
oder:
„O, ich war ja am liebsten mit vier Wagen
nach allen vier Winden auseinander gejagt"
oder:
„Dann ist der Wahnsinn eben Seligkeit!"
selbst diese Stellen gehen in so gefesselter Form
beinahe auf.
Das bürgerliche Geschehnis, das hier geschildert
wird, besagt nicht viel. Die Fürstin liebt den
Sekretär ihres Gatten, von dem sie ein Kind trägt.
Sie gebiert es und tötet es, aus Haß gegen den
Gatten, dem Geliebten zu Liebe und weil es
blind ist. Der Sekretär entwendet Papiere, die er
als Anarchist benutzen will. Sie fliehn. Sie
reisen. Er bricht sich die Hand. Seine Frau zu
Hause bringt sich um, aus Gram. Nun sind sie,
92
er und seine Geliebte „quitt". Er stellt die Pa-
piere dem Fürsten zurück. Sie läßt sich scheiden,
bekommt ihr Vermögen. Er will los von ihr, spürt
aber plötzlich die elementare Untrennbarkeit. Er
trennt sich von den Anarchisten. Sie gründen ein
Idealbergwerk am Rhein. Da wird er wegen
früherer Umtriebe landesverwiesen: grade ehe sie
sein Kind zur Welt bringen soll. Sie scheiden,
vielleicht für kurze Frist, vielleicht für immer.
Solch flächenhaften Inhalt teilt das Werk mit
mancher außerordentlichen Dichtung. Und nur
weil diesem Werke sein „geringer Inhalt" immer
wieder vorgeworfen worden, müssen wir die ba-
nale Antwort erneuen: daß es das Amt des Dich-
ters nicht ist, Handlungen zu erfinden; daß dies
der Mythos für ihn tut, die Geschichte und die
ordinäre Realität; daß man im allgemeinen sehr
erfinderischen Dichtern fast so skeptisch begegnen
darf wie sehr erfinderischen Malern. Je größer die
bildnerische Kraft, um so geringer meist die er-
finderische; geläufigste Beispiele: Shakespeare und
Dante. Sehr wenige Ausnahmen, die geläufigsten
ersten Ranges: Goethe und Balzac.
Vor Homer, behauptet Dehmel, haben sicher
ganze Generationen dieselben Stoffe gedichtet;
ihm aber gelang es erst, diesen Stoffen endgültig
Form zu geben. Genau so ständen die „Zwei
Menschen" zu den bisherigen Romanen. Meint
er die bisherigen Romane der letzten Generation,
so ist dies ganz die Wahrheit ; nirgends sonst findet
93
sich solche Konzentration und Gradlinigkeit in
der Behandlung des modernen „Stoffes".
Man hat dem Dichter, im Anblick dieses Inhaltes,
auch „Autobiographie" teils vorgeworfen, teils als
„heilige Schamlosigkeit" verherrlicht. Er selbst
besteht aber darauf, grade dort, wo ein schlüpf-
riges Publikum nach „Modellen" stöbert, er-
finderisch oder doch kombinatorisch und selbst
in Zeitungsausschnitten finderisch gewesen zu
sein. (Vergleiche die Anregungen zu gewissen
graphischen Zyklen von Klinger.)
In summa: für einen Phantasten wie Dehmel
ist es noch immer besser, sich eine schmale Ge-
schichte zu erfinden, als eine faltenreiche Kolpor-
tage, wie sie Wilde seinem schönsten Buch unter-
gelegt. Schließlich sind in einem Werke vom Range
der „Zwei Menschen" Physiologie und Psychologie
wichtiger als die Anatomie.
Die beiden Menschen sind nicht so typisch, wie
sie zuerst erscheinen; sehr klug hat ihnen ihr
Schöpfer kleine Ornamente angeheftet. Seine
Hiebnarben, ihre sommersprossige Haut, ihr süd-
deutscher Dialekt etwa rücken die Gestalten ins
Persönliche; dergleichen läßt sie — außerhalb ihrer
symbolischen Sendung — als diesen Herrn Sekretär
und jene Frau Fürstin faßbar werden.
Dagegen bleibt die rein intellektuelle Haltung
des Helden ziemlich typisch. Zwei Teile hindurch
94
ist er Mitglied obskurer Gemeinschaften (zerstö-
rendes Prinzip) ; im dritten entwickelt er sich vom
lichtscheuen Anarchisten zum gefaßten Tat-
menschen (aufbauendes Prinzip). Ihm ist aufge-
gangen :
„Ein einziges Fünkchen neue Tugend wecken
frommt mehr, als tausend alte Sünder töten."
Dehmel bricht sich hier an derselben Klippe,
wie Alle, die den aufbauenden Helden schildern
wollten. Wir sehen nur:
„Der Mann steht auf von Rechnungen und Plänen."
Die Tatkraft selber muß man auch hier dem
Helden glauben. Sie fängt überhaupt erst bei
der 23. Romanze des letzten Teiles an und würde
bestimmt auch dann nicht sinnbildlicher werden,
wenn der Held nicht verbannt würde, sondern
weiter wirken dürfte.
Am Ende erklingt das letzte Faust-Motiv, (das
Du Boys-Reymond in seiner ewig schmachvollen
Rede als „gute Ingenieurarbeit" bezeichnen zu
dürfen glaubte). Sogar der Wortlaut schmiegt sich
jenem Wortlaut an.
Goethe: „Solch ein Gewimmel möcht' ich sehn:
mit freiem Volk auf freiem Grund zu stehn."
Dehmel: „Dann soll mein Grubenvölkchen bald verstehn,
daß freies Land noch freiere Leute heckt."
Jenes freilich war der „höchste Augenblick",
dies ist nur Hebel zu neuen Schicksalsschlägen.
95
Eros aber strömt in dieser Dichtung nach allen
Seiten aus, in allen Gestalten. Wenn sie einsetzt,
ist der erste Zusammenstoß der beiden Lieben-
den schon vorüber, die Instinkte haben sich er-
kannt.
Die Grundtriebe dieser Menschen nannte der
Dichter einmal: „seinen harmonischen Intellekt
und ihren heroischen Instinkt". Im Laufe der hun-
dert Romanzen steigt ihre Harmonie zu solchem
Gleichklang des Herzschlages, daß späterhin statt
eines Widerspiels der Charaktere nur mehr ein
Durchfühlen ineinander die innere Handlung
weitertreibt.
Und doch, mitunter ziehen die Todfeindschaf-
ten auf, die in jeder erotischen Neigung tief ein-
gelassen ruhn: wenn das Weib, das ihren Gatten
verlassen will, mit entzücktem Hasse von dem alten
Krongeschmeide spricht und seine Edelsteine dem
umwölkten Mond vergleicht : da erwidert der Ge-
liebte kalt:
„Vergleich mir nicht den Reiz von toten Steinen
mit dem belebenden Licht, dem reinen;
daß du jetzt arm bist, leite dich hinauf!
Was buhlst du mit Topasen und Karfunkeln;
sei reicher — hebe deine dunkeln
Augen mit mir zum Himmel auf."
Da strebt in ihr empor „Auflehnung, Pein, Ver-
wunderung, Glück, Ermatten". Aber plötzlich,
diese wahrhaft physikalische Einigung:
„Zwei Menschen werfen einen Schatten."
96
Noch gegen Ende, als sie schon ein Kind von
ihm trägt: wie sie ihn da fesseln will; wie er
weicht; wie er kalte Wahrheit zu ihr spricht:
„Die reinste Glückseligkeit zwischen uns beiden
ist die zwischen Heiden, —
und daß dein Leib dir nicht heilig gewesen ist,
das zu vergessen vermag nur ein Christ . . ."
Da erschrickt er, denn „es war, als flog
jäh ein Glanz hoch, überirdisch schlank . . . ."
und Kampf und Sühne folgen.
Und wieder der kosmische Eros, in dem großen
Bilde:
„So klar, so kalt ergriff mich dein Gelüst,
mit mir gleich zwei erschütterten Kristallen,
die mächtig warm das ewige Licht beschlich,
in einen Tropfen zusammenzufallen . . ."
Und wieder der sakrale Eros:
„. . . . will ich, nach so viel Sehnsucht und Kasteiung
nicht wie ein Nachttier mich mit dir vergehn:
Ich will mit dir ins Licht der Menschlichkeit!
Sei bereit!"
Und wieder Eros Dionysos:
„Ja, greif nach den Sternen, als ob sie wüßten,
was Menschenherzen Reinstes verlangen!
Du hast mich geheilt von allen Lüsten,
die nicht der Einen Lust entsprangen,
die ganze Welt im Weib zu umfangen;
du bist es, bist mir, was mich gebar!
Du tauchst mich wieder in die Erde,
als sie noch eins mit dem Himmel war;
in dir fühl ich ihr feuerflüssig Werde
7 Ludwig, Richard Dehmei Q7
dem kreisenden Weltraum noch immer sich entwühlen,
und hingenommen von den Urgefühlen
bringt ihre Glut uns dem ewigen Kreislauf dar . . .
. . . Zwei Menschen nahn dem Paradiese."
Doch gegen Ende, aus so viel überschwenglichen
Rollen, aus bürgerlich gebannten Personen, aus
romantisch befreiten Menschen kristallisieren sich
in festen Formen der Mann und sein Weib, auf
Erden, und er spricht:
„Jetzt seh ich dort die Nebelgeister walten
und freu' mich unsrer festeren Gestalten."
Am Ende fühlt er sich
„klar aufgetan bis ins Unendliche,
Unüberwindliche, Unabwendliche,
bis wir im Schoß alles Daseins sind . . ."
Als aber dann das Weib anhebt:
„Wir aber, die wir nicht mehr einsam sind . . .",
da kommt es langsam über des Mannes Lippen:
„Es ist in uns ein Ewig Einsames —
es ist das, was uns alle eint.
Es tut sich kund als Urgemeinsames,
je eigner es die Seele meint.
Sie wurzelt rings im grenzenlos Alleinen;
sie liebt es, sich im Weltspiel zu entzwein,
um immer wieder selig sich zu einen
durch Zwei, die grenzenlos allein.
So lebt die Liebe ; das ist kein Traum . . . ."
— Ist dies die Überwindung des Eros ?
Gegen Ende gibt der Mann für sein und für
das Weltbild seines Dichters die schlichteste und
98
reinste Formel, die Dehmel je für sich und ihn
gefunden. Während einer Mondfinsternis:
„Und man erkennt: Verbindlichkeit ist Leben,
und jeder lebt so völlig, wie er liebt:
die Seele will, was sie erfüllt, hingeben,
damit die Welt ihr neue Fülle gibt.
Dann wirst du Gott im menschlichen Gewühle
und sagst zu mir, der dich umfangen hält:
du bist mir nur ein Stück der Welt,
der ich mich ganz verbunden fühle.
Bei Tag, bei Nacht umschlingt uns wie ein Schatten
im kleinsten Kreis die große Pflicht:
wir alle leben von geborgtem Licht
und müssen diese Schuld zurückerstatten.
Im Mond der Schatten schickt sich an zu weichen;
zwei Menschen sehn den Himmel voller Zeichen."
Dies ist Dehmels Eros: er mündet im Welt-
gefühl.
Über den Eingang dieses geheimnisvoll ge-
schnittenen Gartens schrieb der Dichter, wie an
den Himmel : Wir Welt ! Über dem Ausgang liest,
wer sich nochmals umblickt, die Worte:
„Leb wohl, leb wohl — du hältst dich selbst in Händen.
Du sahst, o Mensch, zwei Wesen deinesgleichen
im kleinsten Kreis Unendliches erreichen.
Du sahst dein Glück ins Weltglück enden."
Weltglück . . . Wie, wenn wir es am Ende ge-
fühlt, — doch nicht gesehen hätten ? Wie, wenn
ein Sinnbild für dies Weltglück fehlte? Nur ein
geheimnisvolles Wappen: Wir Welt!, dem Brausen
des Meeres abgelauscht.
7* 99
„Mir fehlt die Himmelsrose!" sagte leise der
Dichter immer wieder, als er von seinem Werke
sprach. Ein sinnliches Symbol für das Zentrum
seiner Gefühle, seines Liedes, — ein Ding, wie
Dantes Himmelsrose, den Bau bekrönend, fehlt
ihm. Der Architekt sieht nicht mehr, was er schuf;
nur was der Kuppel fehlt, das muß er unablässig
aufstarrend beklagen.
Denn Dehmel ist — bei allem Selbstgefühl —
als Künstler unsäglich bescheiden. Immer Schüler
fühlt er sich, immer Versuchender, immer Steigerer.
Die Reinheit seines künstlerischen Strebens ist
selbst der Reinheit seines menschlichen Fühlens
ganz gewachsen.
ioo
IV. ENTWICKELUNG
„Laßt uns nur ins Blaue schweifen;
scheltet nur, wie weit wir's treiben.
Aber Ein Band sollte bleiben:
jeden, wie er strebt, begreifen."
DER DEUTSCHE
Der Fall Dehmel — Schulfall für den Kampf
zwischen Chaos und Ordnung, zwischen Gefühl
und Bewußtheit — ist eben darum ein typisch
deutscher Fall. „In Dehmel," schrieb Liliencron,
„findet sich das immerwährend fesselnde Rätsel:
bei einem grenzenlosen Freiheitsdrange jenes un-
bedingte Pflichtgefühl, wie man es vorbildlich
an altpreußischen Staatsbeamten antrifft."
Entrückt man dieses treffliche Wort der junker-
lichen Sphäre, in der es ganz zu unrecht steht, so
beschreibt es empirisch dasselbe nämliche Wieder-
spiel, das wir metaphysisch im Weltbilde des Dich-
ters aufzuzeigen suchten.
Dehmel ist durchaus nicht typisch preußisch
— wie etwa Liliencron selber — ; aber doch
typischer Märker. Man hat ihn slawisch oder
wendisch genannt, und wirklich ließe seine Phy-
siognomie manchmal darauf schließen. Soweit er's
aber selbst verfolgen kann, steht es anders.
Seiner Mutter Geschlecht stammt halb aus der
Mark, halb aus Thüringen, des Vaters aus Schlesien;
der Vater war schon als junger Mann in die Mark
103
eingewandert. Mehrere Ahnen waren Schmiede
und Kurschmiede, der Vater Revierförster in
der Mark. Dehmel ist beim Spreewald geboren
(Wendisch-Hermsdorf, 18. November 1863). Mit
Berlin hat weder sein Geschlecht noch seine Kind-
heit etwas zu schaffen.
Immer dringen seine schlichtesten Naturgefühle
in die Mark zurück, und noch in den „Zwei Men-
schen" schwärmt der Held:
„Hier graut im Schnee mein ernstes märkisches Land,
dies Land, in dem sich Rußlands Steppen
schwer zu Deutschlands Bergen hinschleppen . . .
. . . Wenn hoch im Abendsonnenbrand
der alten Kiefern verschämte Glut
sich aufreckt aus der Versunkenheit,
dann atmen die Wiesen Unendlichkeit . . ."
Als Märker mag man Dehmel bäurisch nennen :
,,Kopf hoch, Beine breit,
alles andre macht die Zeit."
Bäuerisch sind seine Manieren wider Virtuosen
und Poseure, wie sie sich in „Kumpaney" und
„Der Tiefsinn" auftun. Grundbauer der Mark ist
Michel Michael geworden, in ihm gelingt zuweilen
dem Dichter, was er gern als Luthers Wort zitiert :
dem Volke auf das Maul zu sehn. Er selber steht
nicht weit von seinem Michel. Wenn Michel in-
mitten von Träumen und Gesichten ruft : „Ich —
will — nach Hause!", ruft Dehmel dasselbe aus
inmitten von Gesichten, wenn sie einmal so keck
sind, nicht Phantasie, sondern Realität zu sein.
104
„Auf den blumigsten Inseln Griechenlands,
an Italiens blauesten Uferborden
saß ich echter deutscher Duselhans
voller Heimweh nach dem Norden."
Seine Fremdheit gegen die Antike liegt hierin,
zwar nicht allein, doch mitbegründet; zuweilen
grollt er selbst Goethen ins Gesicht um seines
Hellenismus willen. (Mit dem fragwürdigsten
Mittelalter hat Dehmels Schwere noch immer
mehr gemein als mit der Antike.)
Seitlich von deutschem Bauerntum ist er aber
auch gut deutsch bürgerlich, an Schlichtheit wie
an Pedanterie. Überblickt er seine Struktur, so
mag er diesen Zusatz herzlich segnen: das ist ein
besseres Gegengewicht zur Ekstase als das stark
problematische Bewußtsein.
Denn wirklich dient diese deutsche Schlichtheit
seinem phantastischen Pathos als natürliches Äqui-
valent.
„Laß die tragische Gebärde,
sei wie Gott, du bist es schon:
Jedes Weib ist Mutter Erde,
jeder Mann ein Gottessohn."
In welcher Sprache werden solche Verse ge-
dichtet ? Oder er singt die „Heilige Nacht",
recht wie die deutschen Holzschnitzer es getan
(Werke III, 143), worin es heißt:
„Ich ging auf Erden hin und her;
es hieß, daß Gott gestorben war.
Doch siehe da, von jeder Magd
wird er aufs neu zur Welt gebracht."
105
Oder er bringt diesen wundersamen Glückwunsch
dar:
„Ich wünsche dir Glück.
Ich bring' dir die Sonne in meinem Blick.
Ich fühle dein Herz in meiner Brust,
es wünscht dir mehr als eitel Lust.
Es fühlt und wünscht: die Sonne scheint,
auch wenn dein Blick zu brechen meint.
Es wünscht dir Blicke so sehnsuchtlos,
als trügest du die Welt im Schoß.
Es wünscht dir Blicke so voll Begehren,
als sei die Erde neu zu gebären.
Es wünscht dir Blicke voll der Kraft,
die aus Winter sich Frühling schafft.
Und täglich leuchte durch dein Haus
aller Liebe Blumenstrauß."
Zugleich ist er Pedant wie nur ein Deutscher.
Im Vorwort zu seinem ersten Buch hat er um-
ständlich begründet, warum er gewisse Worte
und Verse breit drucken werde. Seine Theorie
war trefflich; die Wirkung nicht zu ertragen. Noch
heute finden sich in seinen Gedichten einige
Stellen, die breiter Druck hervorheben soll (oder
„seeelig" mit drei e); man stutzt, man fragt sich:
ist dies eine Fibel oder ein Repetitorium ?
Mit schamhafter Pedanterie nannte er die drei
Stuf en seiner „Erlösungen" (erste Ausgabe) : Ringen
und Trachten; Liebe; dann aber nicht: Leben und
Arbeit, sondern: „Zur dritten Stufe: Leben und
Arbeit"; weil er sich noch unvollkommen fühlte.
Dies Lehrhafte findet man allerorten: es folgt
aus jenem Zusammenstoß von Ekstase und Be-
106
wußtsein. Sein lehrhafter Wille treibt ihn zu-
weilen, die reinste Form zu trüben, um der „Aus-
einandersetzung" mit sich selber willen.
Das alles ist sehr deutsch. Aber es ist dieses
Mannes Schicksal, zu jedem Triebe einen Gegen-
trieb zu spüren; sie zu versöhnen — sein innerstes
Wesen. Zum typischen Deutschen heißt der
Gegentrieb: Schwäche für das Orientalische;
(wiederum der Fall Rembrandt). Morgenlän-
disch ist dieser Hang zum alten Testament, der
sich in seinem Dichten und Leben zeigt. Die
Heldin der „Zwei Menschen" preist, daß auch
durch sie
„zum Glück, dank einer Ahnensünde,
auch etwas Blut vom Stamme Davids rinnt."
Und Dehmel hat zweimal Jüdinnen zur Ehe
genommen.
Höchst deutsch ist sein Humor. Ein gewisser
Bauernwitz scheint ihm selbst manche Befreiung
zu schaffen, — Freiheit schafft er uns darum
noch nicht. Dinge wie die Ouvertüre zu den
„Verwandlungen der Venus" können dem ge-
samten Werk und dem Dichter nur schaden : man
sieht, daß der Pathetiker nicht lustig, auch nicht
diabolisch lustig sein soll. (Ähnlich die Stelle in
V, 118 der „Zwei Menschen" mit dem unhaltbaren
Schlüsse: „Es war mir lieb als Äußerung deines
Lebens . . .").
107
Dehmel ist viel zu sehr pathetischer Rhapsode,
als daß ihm diese Grimasse glückte, die er etwa in
der gleichfalls unhaltbaren „Venus Metaphysika"
aufzieht. Hält man uns Rabelais entgegen, so
zeigt man doppelt Dehmels Irrtum auf. Nur ein-
mal scheint er diesen — ins Deutsche abgewandelt
— erreicht zu haben, in den prachtvollen Versen :
„Es klagt die Zeit: die Welt vergreist,
wo ist der alte heilige Geist!
Indes liegt Seine Heiligkeit
im Schoß der Jungfrau Sinnlichkeit,
was zwar die Jungfernschaft befleckt,
doch eine neue Welt ausheckt.
Dann ruft die Zeit: Halleluja,
der heilige Geist ist wieder da!"
Wo Dehmel nur heiter sein will, etwa in dem
Gedicht an den Hofhund Strubel (Werke I, 37)
oder in manchem Kindergedicht, öffnen sich ihm
willig alle Arme. Diabolisch lustig sollte er nimmer-
mehr sein.
Den freien und den gezwungenen Humor kann
man am besten an zwei benachbarten Prosadia-
logen vergleichen. In seinem Gespräch mit Goethe
ist sein Humor nobel, satirisch, gehalten; gegen
das Fräulein, mit der er über Rhythmus streitet,
gar lehrhaft, nur zuweilen sieht man sein ver-
schmitztestes Gesicht durchblicken, wenn er mit
seiner Pedanterie Fangball spielt.
Und doch kann er, in jenem glücklichen Ge-
spräch mit Goethe, von seiner deutschen Gründ-
lichkeit nicht lassen. Nachdem er mit reizender
108
Arabeske geendet und Goethe — wohlgelaunt —
ihm erwidert hat : „Wir sprechen wohl einst noch
gewisser darüber . . ." — kann er nicht abschließen,
er muß Goethen nochmals mit den Worten be-
lehren: „Doch ist uns schon jetzt zum Bewußtsein
gekommen, daß . . .", und er faßt das Resultat zu-
sammen, wie am Ende eines Kollegs. Und wir
denken: wenn er einst in jenen Sphären noch ge-
wisser mit ihm darüber sprechen wird, wird er
sicher nochmals die Thesen zusammenfassen. —
Doch auch hier, wie immer, schlägt der Genius
mit Lachen alle kritische Analyse entzwei; mit
Lächeln. In einem seiner frühen Gedichte,
schwebend zwischen gallischer Heiterkeit und
deutschem Humor wie gewisse Bilder des Meisters
Schwind: in den „Glücklichen" hat Dehmel alle
Gefahren seiner verzwickten Humore sicher um-
schifft und ist dabei sehr deutsch geblieben.
Mörike hat es nicht übertroffen, Hugo Wolf
hätte es gar hold umsungen. Fast scheint es nach
einem Bilde gedichtet. Es ist von solcher reinen
Anmut, wie man sie grade Dehmel kaum zutrauen
mag, es ist sehr unbekannt und es lautet:
„Nun will ich mir die Locken
mit Birkenlaub behängen;
der Frühling sitzt am Wocken,
von dem er mit Gesängen
um meine Wildnis grüne Schleier spinnt.
Und du auf deinem Throne
im Astwerk unsrer Linde,
beglänzt mit deinem Sohne
109
vom goldnen Mittagswinde,
bist meine Jungfrau mit dem Wunderkind.
Ein Lamm mit weißem Felle
auf unserm Wiesenlande,
mit einer Silberschelle
und blauem Seidenbande,
bringt uns zum Lachen, wenn wir traurig sind.
So würden wir uns gerne
mit aller Welt vertragen,
nicht Sonne, Mond noch Sterne
um unser Glück befragen,
doch — manchmal haben wir kein Brot im Spind.
Drum stehn im jungen Schilfe
mit aufgesperrter Miene,
als schnappten sie nach Hilfe,
zwei steinerne Delphine
am Wasser, das um unsre Insel rinnt."
ZWEI AHNHERRN
Man hat Schiller und Heine genannt: aus den
sehr äußerlichen Gründen, daß dieser als Ero-
tiker, jener als Pathetiker in Deutschland typisch
geworden. So äußerlich bleiben auch Dehmels
Beziehungen zu diesen Dichtern.
Heine: ganz Moll, nur Dur wenn er frech
wird; Dehmel: ganz Dur, nur Moll wenn er
elegisch wird. Heine: Erotiker von Profession,
aus Schwäche, und um so mehr Dichter, je
„unglücklicher" er liebt; Dehmel: Erotiker von
HO
Distinktion, aus Stärke und stets im Zweikampf
mit der „glücklichen" Liebe. Heine: ein elegi-
scher Windhund; Dehmel: eine nervöse Dogge.
Auch Schiller ist Dehmel ganz unverwandt.
Schillers Pathos ist geistig, Dehmels (meist) lyrisch.
Schiller: fast rein apollinisch; Dehmel: fast ganz
dionysisch. —
Statt Schiller und Heine wären Goethe und
Lord Byron zu nennen.
Dehmels formale Beziehungen zu Goethe liegen
am Tage. Ein Beispiel für Freie Rhythmen, die
den Sturm bedeuten:
Wanderers Sturmlied beginnt:
„Wen du nicht verlassest, Genius,
nicht der Regen, nicht der Sturm
haucht ihm Schauer ins Herz.
Wen du nicht verlassest, Genius,
wird dem Regengewölk,
wird dem Schloßensturm
entgegensingen
wie die Lerche,
du da oben "
Venus Urania beginnt:
„Der du in Gewittern hausest,
kommst du, Grollender?
Tief von unten,
über Berge und Wolken her:
suchst du mich, im dunkeln Mantel du,
schwarzgekrönter Wetterherr
mit der bleiernen Stirne ? . . ."
III
Ein Beispiel für die Lieder, die Eros Pantheos
umschließen.
Goethes Gegenwart:
„Alles kündet dich an!
Erscheint die herrliche Sonne,
folgst du, so hoff ich es, bald.
Trittst du im Garten hervor,
so bist du die Rose der Rosen,
Lilie der Lilien zugleich.
Wenn du im Tanz dich regst,
so regen sich alle Gestirne
mit dir und um dich umher.
Nacht! O war' es denn Nacht!
Nun überscheinst du des Mondes
lieblich ladenden Glanz.
Ladend und lieblich bist du,
und Blumen, Mond und Gestirne
huldigen, Sonne, nur dir.
Sonne! So sei du auch mir
die Schöpferin herrlicher Tage;
Leben und Ewigkeit ist's."
Dehmels Allgegenwart:
„Du gehst nie von mir,
ich bleibe bei dir,
denn du bist in mir,
fern wie nah.
In jedem Herzschlag,
der mich belebt,
bist du's, die mit mir
durchs Leben strebt.
112
Mit jedem Atemzug,
der mir die Seele klärt,
fühl' ich, wie deine
Seele mich nährt,
die mir allinnerlich
Seele der Welt ist,
in allem such ich dich,
du Welt mit mir!
In allem find ich dich:
dich in dem bangen
Hinausverlangen
des Winds im Wald,
dich in dem Widerstreit
der Blätter über mir,
dich in der Innigkeit
der Gräser hier,
dich in der Wolke dort,
aus der die Sonne quillt,
wie du so lauter,
so warm und mild,
dich in der Träne,
die jetzt von Herzen still
aus meinen Augen
zu dir will."
Ein Beispiel für chorische Metaphysik:
Goethes Chor der Jünger:
„Hat der Begrabene,
schon sich nach oben,
lebend Erhabene
herrlich erhoben;
ist er in Werdelust
schaffender Freude nah;
8 Ludwig, Richard Debrael 11^
ach! an der Erde Brust
sind wir zum Leide da.
Ließ er die Seinen
schmachtend uns hier zurück;
ach! wir beweinen,
Meister, dein Glück!"
Dehmels Geist der Menschheit:
„Die ihr im Abgrund brütet in Schweigen,
seht aus dem Abgrund die Rettung steigen!
Denn aus den Tiefen, drin ihr kreist,
wurde und wuchs auch euer Geist;
und zu den Tiefen wieder,
die ihn erschufen,
neigt er sich nieder,
den ihr gerufen . . ."
Vor jenen, an Zahl geringen, an dichterischer
Reine unvergleichbaren mystischen Naturanschau-
ungen Dehmels fühlen wir goetheische Luft, und
,, Morgenandacht" endet völlig goetheisch:
„Wie es mir ins Innre dringt,
all das Große, all das Kleine,
wie's mit mir zusammenklingt
in das übermächtig Eine!"
Ähnlich: „Manche Nacht" (Werke III, 30, frei-
lich mit rein Dehmelschem Schlüsse); „Stimme
des Abends" (ebenda).
Aber der Akt mystischer Versenkung ist, ob
auch oft überheitert, für Goethes Gedichte die
Regel, für Dehmel die Seltenheit. Dehmel —
im allgemeinen — belebt die Natur durch den
Menschen; Goethe öffnet ein Stück Natur und
läßt den Menschen als Sekundäres zu. Goethe
114
liebt die Natur, Dehmel die Welt. Niemand soll
diese Gestalten in toto vergleichen: das Format
ist unvergleichbar. Wir wollten reine künstlerische
Einflüsse deutlich machen.
Im übrigen ist Dehmel im höchsten Sinne frei-
heitlich, Goethe im tiefsten konservatorisch. Deh-
mel praktischer Optimist, Goethe zuversichtlicher
Melancholiker. Und so fort, in infinitum. Be-
trachtet man rein die Charaktere: ein Meer liegt
zwischen ihnen. — $
Doch nur ein Gebirge trennt Dehmel und
Byron. Die Dämonie, die beide mit Goethe ver-
bindet, ist nur der Orgelton in solcher Ähnlich-
keit. Aber auch die Grundfarben ihrer Tempera-
mente schlagen sich nicht so sehr, als man glauben
könnte. Denn Byron war niemals „Pessimist",
und auch Melancholiker war er im Grunde nur
aus Passion. (Seine Verbannung wirkte auf ihn
nicht tragisch, — er war nur entschlossen, sie so
zu fühlen.)
„Der große Zweck des Lebens ist Gefühls-
erregung" : in diesem Leitwort Byrons drückt sich
ein Stück Blutsverwandtschaft mit Dehmel aus,
und man versteht, warum das Werk beider Dichter
ein unablässiges Bekenntnis bedeutet. (Überdies
verbindet beide das Sonderbare: Pathetiker mit
epigrammatischer Sucht zu sein.)
Die Formel dieser Affinität ließe sich auf brei-
terer Basis im einzelnen erweisen. Hier scheint es
wichtiger, die Ähnlichkeit der Klangfarben anzu-
i*
"5
deuten. Wir zitieren neben einem Gedichte Byrons
eines von Dehmel in englischer Übertragung.
Byron: "Remind me not, remind me not,
of those beloved, those vanish'd hours,
when all my soul was given to thee;
hours that may never be forgot,
tili time unnerves our vital powers,
and thou and I shall cease to be.
Can I forget — canst thou forget,
when playing with thy golden hair,
how quick thy fluttering heart did move ?
O! by my soul, I see thee yet,
whith eyes so languid, breast so fair,
and lips, though silent, breathing love.
When thus reclining on my breast,
those eyes threw back a glance so sweet,
as half reproach'd yet raised desire,
and still we near and nearer prest,
and still our glowing lips would meet,
as if in kisses to expire . . ."
Dehmel (übertragen von J. Bithell):
"Know'st thou yet, how pale, how white,
when I lay in eves of Maytime,
after kisses of the daytime,
poured out at thy feet before thee,
daffodillies trembled o'er me?
Then in deep June's azure night,
know'st thou yet, how soft and seething,
when we, tired of wild caresses,
wove around us thy wild tresses,
daffodillies scents were breathing?
At thy feet again are gleaming,
when the silvery gloamings shimmer,
116
whcn the nights of azure glimmer,
daffodillies scents are Streaming.
Know'st thou yet, how hot? how white?"
Wir stellen, in neuer Übertragung, noch fol-
gende Stelle aus Childe Harold her (III, 72, 75), als
Exempel für einen anderen, Dehmel verwandten
Ausdruck :
„. . . Ich bin nicht Ich; bin nur ein Teil der Welt,
muß mich als Teil von jedem Berg empfinden.
Qual schafft die Stadt, vom Stimmenchor durchgellt.
Anbetend aber soll Natur mich finden,
will sie mich nicht in trübe Lüste binden.
Empor und schwinge, Seele! dich hinan,
die du im Berg, im Sterne magst entschwinden,
die du dem Meer, dess' Fläche atmend rann,
dich selig mischest, los von deinem wilden Bann! . . .
. . . Sind Berg und WelP und Himmel nicht ein Stück
von meiner Seele, ich ein Stück von ihnen?
Inbrunst empor nicht meines Herzens Glück,
in willigem Triebe? Was mir schön erschienen,
muß es nicht fürder der Verachtung dienen?
Kein Leiden schreckt mich: Inbrunst will ich hegen!
Wie? Glich ich Feigen, die mit stumpfen Mienen
weltliche Blicke hin zur Erde legen, —
voll. Wünschen, die sich nie zur Feuerglut erregen?"
Diese Ausweitung des Ich ins All — bis ins
Barocke — ist beiden Dichtern gemein: Gefühls-
breite, um das Ich gelagert.
Wir fühlen, bei alledem, ihre Fremdheit. Byron
ist immer Romantiker; Dehmel nie. Man könnte
sie zwei Ekstatiker mit meist umgekehrten Vor-
zeichen nennen.
117
Jenseits dessen hat jener Weltmann, der zufällig
Sänger wurde, mit diesem Sänger, der aus Er-
griffenheit Verkünder ist, nichts mehr zu schaffen.
Ihre Motive sind konträr. Aber Beide haben ihr
Prophetentum so überschätzt, wie sie ihr reines
Dichtertum zu unterschätzen liebten.
NIETZSCHE
Als Nietzsche, nur eben erst erkrankt, in einer
helleren Stunde Dehmels „Erlösungen" las, gab er
Ausdruck seiner Freude und hörte still jenen
Nachruf an Nietzsche an, in dem der Jünger sich
von dem Meister trennte.
Nietzsche ist der einzige Zeitgenosse, mit dem
Dehmel in Vergleich zu setzen fruchtbar werden
könnte. Denn diese Beiden wurden die größten
Verkünder einer lebensfesten, einer untragischen
Epoche. Beide spüren den untragischen Helden.
Ein Hauptwort Dehmels: „Der Mensch, der dem
Schicksal gewachsen ist", liegt in einer Kurve, wenn
auch nicht in einer Fläche mit Nietzsches Haupt-
wort : „Ich liebe den, der an sich zugrunde geht",
und dieseVerse könnten wörtlich von Nietzsche sein :
„Jeder Lehre zuwider,
nur dem Leben zuliebe
rühmen wir Kindern und Kindeskindern
opferselig den einen,
schöpferselig den Menschen,
der dem Schicksal gewachsen ist."
118
Ein zweites Hauptwort Dehmels lautet: „Statt
nur zu fragen: Was ist uns das Leben wert?,
lautet heute die Frage . . . : Was sind wir dem
Leben wert?" Ebenso Nietzsche: „Was uns das
Leben verspricht, das wollen wir dem Leben ge-
treulich halten."
Und Dehmels Prophetie:
„Gott ist der Mensch, auf den wir hoffen"
deckt sich mit Nietzsche.
Wichtig sind diese Ähnlichkeiten überhaupt nur,
weil sie niemals Nachbildungen bedeuten. Denn
Dehmel, der sich ganz im Beginne seiner Bahn
von Nietzsche auch förmlich trennte, fühlt ihn
im Grunde fremd. „Nietzsche hat mich ein-
mal — erzählte der Dichter — acht Tage lang
völlig berauscht, die Kampflust der Zarathustra-
Rhvthmen riß mich hin. Dann trat eine ebenso
völlige Ernüchterung ein. Vergebens suchte ich
nach den neuen Tafeln, ich fand nur alte Gemein-
plätze in neuen Übertreibungen, fast unwert
eines so heftigen Kampfes. In dieser Ernüchte-
rung, die einer Erschütterung glich, schrieb ich den
Nachruf."
Später aber entdeckte Dehmel den andern,
jenen zweiten Nietzsche, den erst die großartige
Leistung des Archives freigelegt hat, — und hier
fand er den stärksten Denker der Zeit.
Beide Reaktionen erwiesen das nämliche: Deh-
mel hat Nietzsche nur als Dichter, nur als Sprach-
künstler angefaßt. Es ist klar, daß den Dithyram-
119
biker Dehmel der Dithyrambiker Nietzsche schließ-
lich enttäuschen mußte; daß aber der Epigram-
matiker ihn stets im Banne hält. Durch springen-
den Wortschlag hat Nietzsche, durch gelagertes
Pathos hat Dehmel die deutsche Sprache in einem
Maße bereichert, wie kein dritter Geist der
letzten Generation.
Und hierin liegt zugleich die Grundverschieden-
heit der Temperamente angezeigt. Nietzsche:
hinreißend; Dehmel: hingerissen. Nietzsche fährt
immer im Freiballon über die Landschaft; Deh-
mel durchrast sie mit vier Pferden.
Der Mensch, der dem Schicksal gewachsen ist:
das ist Dehmels Ziel; das ist Nietzsches Vor-Ziel.
Nietzsche — der Antichrist, wie er sich selber
nannte — verachtet den Mitmenschen. Dehmel,
in Christus tief verloren, verachtet den Über-
menschen. „Die Züchtung des Übermenschen —
sagte er einmal — ist metaphysisch ein Aberwitz.
Sie geht längst vor sich in jedem Genie von Gottes
unerziehlichen Gnaden." Und als man dennoch
auf jene Treffpunkte deutete und Zarathustras
Wort zitierte: ,, Liebe den, der über sich hinaus
schaffen will und so zugrunde geht", rief Dehmel
hitzig: „Ich liebe solche Pfuscher gar nicht! Jede
Maschine schafft über sich hinaus und geht daran
langsam zugrunde!"
So rannte er, in prachtvoller Attacke, gegen
Nietzsche vor; ein deutscher Morgenländer mit
dem Kreuz. Jenen aber deckte sein abendlän-
120
discher Schuppenpanzer. Es fließt kein Blut.
Doch Speer und Panzer funkeln. —
Nietzsche hat es leicht und schwer, die eigene
Gegenwart gering zu achten, die Dehmel so ent-
zückt: sein gallischer Geist, der abgeschnellte,
überschwebt die Stufen um so leichter, je schwerer
er seine Gegenwart erträgt. Symbol: sein Körper
war leidenschaftslos, frei, weil er zart war und litt.
Dawider Dehmel, langsam Schwere um Schwere
überwindend, kampfreich und allenthalben durch
sich selbst gehindert. Symbol: sein Körper war
der Schauplatz jeder Leidenschaft, weil er stark ist.
Nietzsche singt die höchsten Berge und kann
sie nicht ersteigen. Dehmel ist vainqueur du
Montblanc und singt nur zuweilen die Berge.
Das Ende: Nietzsche bricht zusammen, sein Geist
entflieht im Leben. Dehmel wird alt und niemals
wird sich dieser Geist vom Lebenden trennen.
Nietzsche war kein Übermensch. Aber Dehmel
ist der Mensch, der dem Schicksal gewachsen ist.
VON ZWANZIG BIS VIERZIG
„Bin Mensch, All, Nichts,
nach Wahl des Lichts."
In harten Zügen schweigt ein kühner Wille,
keusch und entschlossen bricht der dunkle Blick
hervor; soldatisch die Haltung, das Haar starrt
kurz: der Zwanzigjährige.
121
Wüst und schwielig wurde das Antlitz, durch
sein aufgerissenes Auge stiert es vorwärts, dicke
Locken tropfen herunter; in barocken Schnörkeln
stehen Spitzbart und Schnurrbart, zwei schwere
Narben flankieren die Nasenflügel: der Fünfund-
dreißigj ährige.
Hoch schwebt Gelassenheit auf durchgebrann-
ten Zügen; ein Blick, mehr grau als blau, Stimmung
mehr als Wille rieselt ins Leere; die Narben sind
Furchen geworden, die Stirn von vorn wie Mi-
chaels, en face zurückfliehend wie eines Lämmer-
geiers; die Nase hat zwei Profile gewonnen: ein
handwerkerlich befangenes, ein herrisch gereiftes;
Bart kurz, die kühl zurückgekämmten Haare schon
ergrauend: der Fünfzigjährige.
Und dennoch liegt nicht etwa zwischen diesen
drei Punkten seine interessanteste „Entwicklung".
Bedingten einander von Stufe zu Stufe dies Werk
und die Geschichte dieser Seele, von Stufe zu
Stufe hätten wir dies dargelegt. Aber Dehmel
hat, noch deutlicher als manches Genie vor ihm,
das Vorgefühl seines Lebens von Anbeginn so
stark besessen, daß er mit dreißig Jahren schon
gestaltete, was erst dem Fünfzigjährigen em-
pirisch geläufig geworden. Sein Leben ist ein
Nach- und Ausgestalten seiner dichterischen
Grundgefühle. Noch jung, noch still, sah er
schon den lauten Strom voraus, noch strömend
schon die Mündung, und so, a priori, hat er sie
besungen.
122
Und doch darf man von ihm nicht sagen, er
sei von Anfang einem Ziele zugegangen. Er ging
und geht, dieser Mann und Dichter, er sinnt, er
lacht, er trauert, das ist alles. „Zielbewußt, sagte
er selbst, sind nur die Dilettanten unter den
Künstlern."
Eine Psychographie Dehmels würde aus diesen
Gründen auch dann nicht viel ergeben, wenn sie
der Takt vor einem Lebenden gestattete. Das
Zeugnis persönlichster Dokumente kann erst nach
dem Tode eines Künstlers zur Anonymität heran-
reifen, dann erst der Öffentlichkeit preisgegeben
sein. Im Bilde dieses Mannes wird sich auch nach
dem Tode sicher nichts Überraschendes zeigen.
Ist nicht sein Werk sein Tagebuch? Und hat er
es nicht mit höchst ergriffener Gebärde immer
neu der Welt geöffnet? Nicht nur als Zeugnis
reifender Künstlerschaft, wachsender Einsichten,
vor allem auch als Akte zur Geschichte eines
Menschen.
Dazu tritt die empirische Ereignislosigkeit, die
die Kulisse dieses vielbewegten inneren Lebens
bildet.
Leicht ließe sich mit diesem Leben literarisch
experimentieren; man könnte es etwa in die drei
Teile scheiden, in die er sein Epos schied:
Erkenntnis, Seligkeit, Klarheit. Wichtig aber war
und bemerkenswert ist in Richard Dehmels Leben
im Grunde nur eines : die sehr späte, sehr schwere,
verantwortungsreiche Entwicklung.
123
„Denn ich, bin wie jene großen
Tagraubvögel, die zum Fliegen
sich nur schwer vom Boden heben,
aber, wenn sie aufgestiegen,
frei und leicht und sicher schweben."
Er war als Kind verschlossen und „ein Schmerz
mußte schon fast übergroß für mich sein, ehe ich
damit zu Muttern ging". Zugleich war er aber
unbändig lustig, und die Jungen nannten ihn
Kladderadatsch, weil er so viel lachte. Plötzlich,
mit beginnender Pubertät, wurde er grüblerisch,
und das war sehr spät. Dieser Erotiker wurde
erst im 18. Jahre mannbar und hat sich vor dem
21. nicht verliebt. In den kritischen Jahren
wurde er von „allerlei krampfhaftem Spuk heim-
gesucht"; hatte auch später noch sonderbare
Sehkrämpfe, die er sich aberzogen hat.
Wegen sehr schlechten Betragens aus dem Ber-
liner Gymnasium entfernt, hat er wegen sehr
guten Verstandes sein Examen in Danzig leicht ge-
macht; dann vom 19. — 24. Jahre die philosophische
Fakultät durchaus studiert, von der Chemie bis zur
Soziologie, dazu fürs Geld zwei Zeitungen redigiert
und ist schließlich als Leipziger Doktor gelandet.
Mit Zwanzig, als ihn
„das Jugendblut noch trieb
mit offener Hand an jedes Herz zu stürzen",
schwankt sein Ideal noch zwischen Deutzer Kü-
rassieren und Gardeducorps. Als Student ist er
124
offizieller Sprecher einer Burschenschaft, toastet in
Knittelversen immer aus dem Stegreif, ohne auf-
zuschreiben. (Später, als er sich hieran gewöhnte,
wurde ihm die Rede schwer).
Vor 22 hat er nichts gedichtet, erst nach 24 be-
gonnen, sich ,,als Künstler zu züchten". Aber
erst mit 28 veröffentlicht er sein erstes Buch.
Alle diese Daten fallen später als bei den meisten
Dichtern.
Nach dem Examen setzt er sich acht Jahre
lang in einen harten Dienst. Dieser Lyriker hat
über Versicherungswesen promoviert und war
„Sekretär des Verbandes Deutscher Feuerver-
sicherungsgesellschaften". (Dem nachgeborenen
Symbolisten eröffnet sich ein ungemessenes Feld
für reizende Glossen.) In einer autobiographischen
>kizze schreibt Dehmel darüber, trocken, kalt : „In
diesem Amt, mit seinem peinlichen Bürodienst,
der mich manchmal der Verzweiflung nahe brach-
te, lernte ich Selbstbeherrschung und gab meine
ersten drei Gedichtbücher heraus: Erlösungen,
Aber die Liebe, Lebensblätter." Und setzt hin-
zu : „Es war mir also wie den Singvögeln ergangen,
die erst im Käfig ihre volle Stimme entwickeln."
In diesem Jahrzehnt — von 25 bis 35 — ist
er schwerer und auch schwüler geworden, als er
zuvor gewesen und als er nachher wurde. In solcher
Schwere hat ihn kürzlich Dauthendey sehr dichte-
risch geschildert. An diese Schwere dachte Dehmel
wohl auch zurück, als er später einen jungen Künst-
125
ler staunend fragte: „Fünfundzwanzig Jahre sind
Sie erst — und schon so heiter ?"
Schon im Beginn dieses Jahrzehntes hat er, der
sich doch sonst in allen Stücken spät entwickelte,
geheiratet. Am Ende dieses Jahrzehntes hat er
seine Ehe gelöst. Kurz darauf hat er seine zweite
Ehe geschlossen.
Hiermit korrespondiert die zivile Entwicklung.
„Als ich mir gestehen durfte, daß meine künst-
lerische Wirkungskraft mich wirklich dazu be-
rechtigte, gab ich mein bürgerliches Amt auf,
nach 71/2jähriger Tätigkeit, 32 Jahre alt." Schwer,
deutsch, lapidar.
Seitdem gibt es in diesem Leben keine Daten
mehr. Die schmale Liste endet schon hier. Innere
Selbstzucht ist das Stichwort dieses Lebens.
Man stutzt. Ein Erotiker, der eine frühe Ehe
schließt und kurz nach deren Trennung, noch
jung die zweite ? Ein prophetisches, ein herri-
sches Gemüt, das früh ein Amt nimmt und acht
Jahre aushält ? Und nachher keine Daten ? Man
könnte fragen: Warum ist diese dämonisch okku-
pierte Natur, mit ihrem ungemessenen Trieb ins
Allgemeine, mit ihrem Stolz, mit ihrer dunklen
Kühnheit, — warum ist sie nicht Held noch
Abenteurer geworden?
Und hinderte ihn seine Schwere, sein Ge-
wissen, zu abenteuern : warum ist er, der tausend
126
Arbeiter zum Sturm hinreißen kann, warum ist
dieser Mitmensch nicht Volksführer geworden?
Ein einziges Mal hat er wie ein Volksmann ge-
sprochen, — nicht mündlich und nicht in seinen
Versen. D'Annunzio hatte sich von seinen
Bauern ins Parlament wählen lassen und sie er-
mahnt, kein Gemeingut, stets jeder seine Scholle
zu halten. Dagegen warf sich Dehmel auf, mit
einer Glut, die er seiner Prosa sonst fernhält.
Man fühlt, dies konnte ein Absprung sein.
Doch es blieb Dichterglut, auf dem Papiere.
D'Annunzio hat sicher wie Cicero gesprochen;
Dehmel sprach nicht wie Luther. Jener — der
am reichsten begabte unter allen Dichtern seiner
Zeit — nahm, mit lateinischer Gebärde, auch diese
Maske einmal vor: um Macht zu spüren. Weil
D'Annunzio Künstler in reiner Kultur ist und
nur zuweilen mit Verkündigungen spielt, konnte
er spielend ein Stück Wirklichkeit erraffen. Weil
Dehmel mit ethischem Pathos ein Stück Ver-
künder ist, konnte er sich nie in den engeren
Kampf seiner Gegenwart mischen.
Zu Anfang schien er dazu bereit. Dehmels
erstes Gedicht hieß: An Robert Koch. Das ist
symbolisch für den ersten Auftrieb. Es ist aber
auch ein Pfand an seine Generation. War es nicht
damals, daß — umgekehrt wie heute — die besten
Geister entschlossen schienen, die Natur durch
den Menschen zu beleben ? Es war eine Art
ekstatischer Darwinismus. Dehmel wollte die
127
Mitwelt umfassen — und er ergriff das nächste
Stück davon. Das Soziale — ein Teil seines
Stoffes in der ersten Zeit — war ihm schon damals
nichts als Symbol. Schnell wurde es ihm zu eng,
„weil mein Herz so wild,
weil es Meere braucht . . ."
Doch auch diese Meere hört man schon in seinen
ersten Gedichten rauschen. Man sollte nicht stets
wiederholen, das „große Ringen" wäre Kennzeichen
von Dehmels Entwicklung. Es ist vielmehr — wir
dürfen wiederholen — Kennzeichen seines Wesens.
Und deshalb ist sein erstes Werk weder epigonisch
noch unreif, sondern frühreif; doppelt erstaunlich,
da es von einem schon achtundzwanzigj ährigen
Dichter stammt. Alle Motive dieser Seele sind
darin. Er hat sich im Folgenden bloß bestätigt.
Nur ein Stück erotischer Ekstase kam hinzu,
und auch dies sehr bald („Aber die Liebe"). Es
war die Zeit, in der seine Züge jenen verwüsteten
Ausdruck gewannen. Es war die Zeit, als Dehmel
mit Strindberg, Prszybyszewski und den Andern
manche Nacht vertrank. Sein viertes Buch „Weib
und Welt" brennt dann noch heller als die
vorigen.
Nachträglich hat man jene Monate eine Kette
von Orgien genannt. Es ist banal. „Wir haben",
erzählte der Dichter, „nie Geschlechtsorgien
zusammen gefeiert, wie manche meinen. Das Ge-
schlechtliche war uns nur die unerschöpfliche Quelle
für Reden, Philosophieren, Dichten. Wir haben
128
Wortorgien gefeiert, das ist alles." (Dieser Eksta-
tiker hat nur sehr selten in der Ekstase gedichtet.)
Man kann formulieren : Zuerst brach — spät —
aus diesem Dichter ein großes Credo los, gespeist
von inneren Quellen; rhythmisch stieß er sein
Weltgefühl hervor. Darum waren die „Erlösun-
gen" — erste Ausgabe — demagogischer, pro-
grammatischer, geistiger. Dehmel liebte damals
Schiller, aus Widerspruch gegen den „Naturalis-
mus", denn auch an anderen bedeutete ihm „der
rein geistige, sprachlich schöne Ausdruck die Fülle
der Poesie".
Später wurde sein Werk mehr Gelegenheits-
dichtung, im Goetheischen Sinne: sinnlicher, zu-
fälliger, suggestiver. „Das viele schwül Geschlecht-
liche, das in meinen früheren Dichtungen steht,
war nur unbefriedigtes Geschlecht. Jetzt kann
ich in* meiner ganzen Dichtung harmonisch sein."
Bei dieser Äußerung des Dichters lassen wir es be-
wenden. Der Nachwelt — die empirischen Belege.
DER WEISE JÜNGLING
„Lern in der Zeit dein Urbild finden,
Kunst geht dem Leben Hand in Hand,
es gilt den Stoff zu überwinden.
Tod ist des Lebens höchstes Unterpfand."
Mit Vierzig ließ Dehmel sein Hauptwerk,
„Zwei Menschen", erscheinen. Dann schien er
9 Ludwig, Richard Dehmel I 29
bis Fünfzig fast stillzustehn. Einige Jahre ver-
wandte er zur Sammlung seiner sämtlichen Werke.
Aber bei diesem Anlaß hat er in Wahrheit drei
Bände neu geschaffen. Viele neue Verse sind in
die alten Bände eingeflossen, zwei Prosabände
waren neu, vieles kam in völlig verwandelter Ge-
stalt zum andern Male an das Licht.
Wir sehen drei Antriebe für diese Arbeit.
Deutschheit, Gründlichkeit, Dehmelsche Geistig-
keit, die alle Ekstasen in Systeme glätten möchte
(wozu sich auch Goethe schon jung getrieben
fühlte); ferner der Wunsch nach einer großen
Fermate; endlich sogar der Gedanke, sich mehr
und mehr von seiner Urform abzuwenden, einer
andern, etwa der dramatischen zu; und darum
seine Habe wie vor dem Beginn einer neuen
Epoche zu sichten.
Dehmel fühlte sehr wohl den Aufschwung, den
die deutsche Dichtersprache in den letzten zwei
Jahrzehnten genommen — mit ihm und auch
durch ihn — und war entschlossen, sich vor der
Nachwelt seinen Teil daran zu sichern.
Manches hat bei dieser „Sturzackerei" gelitten;
so hat etwa „Dante guidante" seine beste Zeile
verloren. Die „Verwandlungen der Venus" haben
viel selige Einsamkeit eingebüßt, um Glieder einer
nicht überzeugenden Architektur zu werden. Doch
sollte Niemand den Wert vieler wunderbarer Um-
wandlungen unterschätzen. Zwei Beispiele für
diese Formvollendung.
130
1891: Die Flur will ruhn:
in Halmen, Zweigen
ein leises Neigen.
Aus Wiesen nun
die Nebel steigen:
ob's wohl zu hören?
Lauschen ich will ....
Still, Liebchen, still:
wir stören
ihr seliges Schweigen.
1907: Die Flur will ruhn.
In Halmen, Zweigen
ein leises Neigen.
Dir ist, als hörst du
die Nebel steigen.
Du horchst — und nun:
dir wird, als störst du
mit deinen Schuhn
ihr Schweigen.
1891: Schlaflos lieg ich, wie im Fieber
starr ich in die Schatten hin,
ob mir eben nicht ihr lieber
Augenstrahl erglänzte drin.
Ob nicht solche Grüße brächten
auch zwei Seelen sich von fern,
wie in heitren Sommernächten
fällt vom Himmel Stern zu Stern.
1907: Schlaflos lieg ich, wie im Fieber
starr ich in ein Schattenmeer.
Endlich glänzt vielleicht dein lieber
Augenstern darüber her.
Endlich! Und zwei Seelen brächten
solchen Gruß sich durch die Welt,
wie aus hohen Sommernächten
Stern zu Stern vom Himmel fällt.
131
Außer dieser Sammlung seiner Habe und der
Habe des toten Liliencron, sowie dem „Michel
Michael" — einem Zwischenwerke — hat der
Dichter von Vierzig bis gegen Fünfzig nichts ge-
schaffen; er hat geruht.
Indessen ist er aus einem wild durchschüttelten ein
himmlisch geklärtes Wesen geworden; im Kampf
mit Gott ward Lucifer zu Michael erhöht. Das hat
nicht er aus sich, noch ein Erlebnis aus ihm gemacht ;
„nur Zeit". Will man ihm selber ein Verdienst er-
kennen : er ließ seinen Dämon gewähren, ließ ihm
Zeit.
Der Kampf der Widersprüche, der diesen Mann
seit zwanzig und dreißig Jahren geschüttelt, den
er mit jedem Tage neu zu schlichten trachtete,
hat sich von selbst beruhigt; der allzu große
Pendelausschlag glich sich aus, bis zu jenem Gleich-
maß, das den regelmäßigen Gang eines Werkes
verbürgt. Leidenschaft ebbte zurück, Geistigkeit
wich aus der Sphäre der Störungen fort; Tyche
wurde die oberste Göttin. Einst war die Seele
dieses Mannes zerklüftet vom Wettstreit der
Triebe; Selbstgefühl und Mitgefühl, Tier und
Gott, Bewußtsein und Ekstase schlugen immer
wieder feindlich zusammen und traten doch im-
mer neu geschlichtet ans Licht: Eros war immer
der Heilende gewesen. Jetzt gleicht diese Seele
wahrhaft einer glänzenden Fläche, und nur die
Narben, welche Furchen wurden, geben noch
am Körper Kunde von jenen Erschütterungen.
132
„Wenn ich sterbe," sagte der Dichter, „spielt mir
Glucks Elysium!"
Von den Seinen hier zu sprechen, dünkt uns
nicht der Ort und noch lange nicht die Stunde.
Dehmel hat eine merkwürdige Scheu vor dem
Worte Freund, und halb ironisch führt er in sei-
nem Kapriccio „Autobiographie" an fünfzig
„Freunde" mit Namen vor.
Vor allem am meisten liebte erLiliencron. „Liebe
ist eigentlich nicht das rechte Wort", sagte er ein-
mal. „Ich habe solche Freude an ihm; alles, was
er tut, freut mich." Die Dokumente dieses sonder-
baren Bruderbundes stehn in Liliencrons Briefen,
auch in dem prachtvollen Grundriß, den Dehmel
als Einleitung dazu von dem Freunde entworfen
hat ; vor allem in den Worten, die er über sein
offenes Grab hinhallen ließ.
*
Manches ist, was den gelassenen Mann erregen
könnte.
Frei, seine Wohnstätte zu wählen, lebt dieser
Dichter fern von seiner Heimat, der er sich innigst
verbunden fühlt, in einer Landschaft, die ihm ganz
fremd war und recht fremd geblieben ist.
„O mit welchem Bangen
schaue ich manchmal vom Fenster herunter,
durch die enge Hafengasse
wie von einer Festungsterrasse,
auf den kahlen Inselrand
da mitten in dem grauen Fluß ! . . ."
Aber es trifft ihn nicht, und er lächelt.
133
Nicht nur in die heimatliche Landschaft; sein
größerer Wunsch : ins Volk zu dringen, bleibt ihm
einstweilen unerfüllt. Vieler Völker könnte er
sich rühmen*. Er sucht „das Volk". Zumindest
möchte er in alle Seelen dringen, die seine
Sprache reden, — höchst anonym mit seinen Ge-
sängen, Gestalten. Da fragt er sich nicht, ob
überhaupt in Deutschland, ob es um 1900 möglich
sei, mit Kunst ins Volk zu dringen, wie das noch
Schiller und Weber glückte; (ob nicht vielleicht
die Einigung des Reiches das Volkstümliche er-
schwert, statt zu erleichtern).
Ein Stück Ersatz sucht er in seinem Bardentum.
Denn wenn Dehmel in den Formen seines Jahr-
hunderts, im Konzertsaal und im Frack, seine
Lieder und Gesänge rhapsodiert, ändern die For-
men nichts an dem innersten Motiv, das ihn, zu-
mindest anfangs, angetrieben. Unter allen rezi-
tierenden Dichtern ist keiner, der so wie er aus
Religiosität dies moderne Martyrium aufgenom-
men.
Hoch steht er, mit dem großen Ernste steht er da,
mit seltener Geste seinen Ton belebend. Und wirk-
lich ist in ihm jene ekstatische Vibration, die er
vom redenden Dichter fordert: „im ganzen mehr
* Dehmel ist übersetzt : ins Russische von Lydia Lepesch-
kin; ins Böhmische von Rudolf Illovy, Otto Klein, Fred Bowles
u. A. ; ins Italienische von Tom Gnoli, Bruno Vignola u. A. ;
ins Französische von Henri Guilbeaux, Henri Albert u. A. ; ins
Englische von Jethro Bithell; ins Polnische von Josef Wittlin
und Jean Paul d'Ardeschah.
134
Hingerissenheit als beim Rezitator, im einzelnen
mehr Verhaltenheit."
Herman Bang schien, ganz Schauspieler, sein
Werk, das er ganz memoriert hatte, in diesem
Augenblick erst vor den Hörern zu konzipieren, —
die er doch verachtete. Dehmel, ganz Dichter,
gibt mit Bewußtsein seine besten Werke den Ab-
gesandten seines Volkes preis. Jener verheimlichte
die Vorbereitung, dieser betont sie. Und niemand
vergißt, wer sie je sah und hörte, seine dunkle Er-
scheinung, die Verklärung im Ton, wie er vortrug:
Die Harfe, Prometheus, Zwei Menschen, Hohes
Lied.
Und doch ist dies mitnichten ein Ersatz.
Immer wieder wendet sich hierauf seine Rede.
Im nächtlichen Garten — Jupiter stand ihm zu
Häupten — richtete der Dichter seinen Blick
in eine fremde Landschaft, auf einen italischen
See. „Wer kennt uns ? Eine schmale Oberschicht.
Was kann die bedeuten, wenn sechzig Millionen
die deutsche Sprache sprechen. — Da liegen die
vielen Orte von fremder Zunge, und überall
neue und überall Schicksal, — und man denkt:
diese alle ahnen garnichts von dem, was man
schafft . . . Und fühlt doch immer: für Alle!"
Wohl mag er fühlen, in welche Gefahr sein Volk
ihn grade jetzt bringt: als moderner Klassiker ein-
geordnet, ohne gelesen zu werden. Keinen Dichter
trifft dieser Mangel an großem Echo tiefer als
Dehmel, denn Mitgefühl, nicht Eitelkeit ist hier
135
der Urtrieb. Aber es trifft ihn wiederum garnicht,
— und er lächelt.
Nun wird er leichter, wird eleganter; man kann
Dehmel jetzt sogar das Rokoko preisen hören.
Nun steigt er auf die höchsten Berge; auch dies
hat er erst spät geübt. Früher dürstete dieser
Gaumen nach heißen Räuschen; jetzt rühmt er
Gletscherluft als den kühlsten Rausch.
Und nun gibt er am Ende dieses ruhenden
Jahrzehnts, an dessen Ausgang ein arbeitsvolles
wartend steht, den Freunden einen kleinen Band
neuer Gedichte, seit fünfzehn Jahren das erstemal*.
Sie bergen alles, was jetzt an süßer Reife, was an
Gleichmaß und Entzückung in ihm lebt. Fünf-
jährigem Burgunder gleichen sie: noch herb und
schon süß.
Milder wird das Brausen der Visionen, ein
reineres Anschauen kam. Was früher strahlte,
nun erglüht es. Wo Verkündigungen schrien, ist
nun ein Gebet.
Das Format ist kleiner, fast alle Gedichte sind
kurz. Den alten großen Oratorien folgt hier die
knappe „Schöpfungsfeier"; worin die Seele einer
Mutter singt:
„Immer heller wird uns angezündet
rings vom Vater Geist das Flammenspiel.
Jede Kerze flimmert ihm verbündet,
jede Blume schimmert einbegründet
in sein glanzverhülltes Ziel."
* „Schöne wilde Welt*
I36
Dies ganze Gedicht läuft ab im regelmäßigen
Rhythmus Rameauscher Wechselgesänge, und ein
„Morgenländisches Preislied" variiert sechs Stro-
phen lang dieselben Reime, in der Art Plauens.
Und doch bedeutet das keine abtrünnige Rück-
kehr zur Überlieferung; nur Meisterschaft. Denn
jetzt vermag dieser Dichter leicht, was ihm sonst
nur selten vergönnt war : zu spielen.
Dehmel, der dionysisch oft Berauschte, erschim-
mert nun gleich einem apollinischen Geist.
Das Barocke, das noch die umgeformten Venus-
Verwandlungen bedrängte, hier ist es fast ganz
geschwunden; höchstens gibt es noch einmal eine
„weltenvolle Welt" oder dergleichen.
Eros, — da ist auch Eros wieder. Ein leichter,
fließender, ein endlich ganz gedankenloser Eros,
und streut eine ganze Menge kleiner Gedichte
aus, an die Jugend. Goetheisch sind die Titel:
Entzückung, Verklärung, Benedeiung, Entrük-
kung.
„Einmal, Erde, wollt ich dich küssen:
ein Weib in Armen, jach Schoß an Schoß,
zu Boden stürzend in rasendem Tanz.
Da winkte ein Mädchen mir zum Reigen,
einen weißen Mantel um die Hüften,
in den tiefblauen Augen einsamen Glanz . . ."
Von aller Schwüle, aller Schwere, die noch in
ihm geschwelt, auf ihm gelastet, sind diese Lieder
ganz genesen. Leichter liebt er und dichtet; mehr
germanisch, weniger orientalisch:
137
„Hab* ich schon mit dir gespielt,
ah wir Kinder waren,
scheu um Nachbars Ecke geschielt
nach deinen flirrenden Haaren?
Wenn mich nur dein Atem streift,
fühl' ich uns durchs Heidekraut springen;
wenn mich deine Hand ergreift,
möcht ich mit dir ringen.
Bist du doch so schlank und schmeid,
daß ich Tag für Tag sinne:
spielst du mit mir Engelsmaid
oder Frau Teufelinne?
Denn in Nächten, da schwing' ich dich
flügeltraumwild um hohe Feuer.
O, umschling, umschlinge mich,
glühendes Abenteuer!"
Wo sind die „Störungen" nun? Ist nicht die
Gegenwart wahrhaft mythisch geworden in jenem
„Gebet im Flugschiff"; wo jedes moderne Wort
seine Stelle hat und alles am Schlüsse in den
großen Schoß des einen Wortes mündet : Phantasie !
Seine Menschensucht ist sehr gestillt. Lieber
blickt er nun ins Unvergängliche hinüber als auf die
Menschen neben ihm. Zum erstenmal im Leben
wünscht er : die Toten wiederzusehen, verwandelt :
„. . . . Jetzt lächeln wir, jetzt lächeln wir,
wir Unvergänglichen."
Naturgefühl, menschenleer, tritt stärker vor.
Hochsommerlied :
„Golden streift der Sommer meine Heimat,
brotwarm schwillt das hohe reife Korn,
138
wie in meiner goldnen Kinderzeit;
habe Dank, geliebte Erde!
Schwalben rufen mich hinauf ins Blaue,
weiße Wolken türmen Glanz auf Glanz,
wie in meiner blauen Jünglingszeit;
habe Dank, geliebte Sonne!"
Die Symbole haben den härtesten Ausdruck
gefunden, die schlichteste Formel. Gleichnis:
„Es ist ein Brunnen, der heißt Leid;
draus fließt die lautre Seligkeit.
Doch wer nur in den Brunnen schaut,
den graut.
Er sieht im tiefen Wasserschacht
sein lichtes Bild umrahmt von Nacht.
O trinke! da zerrinnt dein Bild:
Licht quillt."
Solcher elegischen Klarheit folgt diese melo-
dische: Zweier Seelen Lied:
„Lieber Morgenstern,
lieber Abendstern,
ihr scheint zwei
und seid eins.
Ob der Tag beginnt,
ob die Nacht beginnt,
findet euer Schein
in uns Zweien die Liebe wach.
Lieber Abendstern,
lieber Morgenstern,
hilf uns Tag für Tag
eins sein, bis die letzte Nacht uns eint."
Nun steht der Dichter und reißt nicht mehr das
Schicksal an sich, nun prangt er nicht mehr in jenem
139
Mannesbewußtsein : dem Schicksal gewachsen ! Ich
und die Zukunft ! Stumm sieht er nun die Zukunft
vor sich stehn, mit gefesselten Händen hält sie
„eine geschlossene Schriftrolle,
drin mein Schicksal verzeichnet steht.
Langsam, Tag für Tag,
ringe ich deinen Fingern
Zoll für Zoll die Urkunde ab,
Zeile für Zeile.
Bis der Augenblick kommt,
wo das entrollte Papier,
eh ich das letzte Wort noch las,
meinem erschöpften Arm entfällt;
und mit gefesselten Händen
gibst du den Winden zur Sage anheim,
was ich tat."
Und wie eine Folge milden Atems und großer
Herzschläge, wie am Abend schließt er das Buch
mit einem Nachtgebet.
Den Kampf zwischen Brunst und Inbrunst,
den Dehmel dreißig Jahre auf und ab gekämpft,
dem freilich sind die Jüngeren entwachsen. A
priori lebt in ihnen eine natürlichere Helle, die
jene Naturen sich erst erringen mußten. Ist
Dehmel Kämpfer von Natur — , sie sind die
Tänzer.
„Ich weiß sehr gut," schrieb er einem jungen
Dichter, „was euch junge Ibykusse („Götter-
freunde") an mir verdrießt; vielleicht ist es aber
140
72^.
Verkleinertes Faksimile (1911).
grade das, oder doch die schlackenhafte Mitgift
von dem, wodurch ich Allzu menschlicher immer
noch jünger bin als ihr, durch meine erzgründ-
liche Inbrünstigkeit. Eines Tages, als alter Knabe,
werde ich hoffentlich so geläutert sein, daß
meine menschlichen Liebesgaben ganz auf euren
jungen Göttertisch passen; aber die Inbrunst
ist dann zum Teufel!"
Nun ist ihm das Außerordentliche gelungen:
Klarheit schwebte zu ihm nieder und nahm ihm
seine Inbrunst dennoch nicht.
141
„Glanz aus fern aufsteigenden Räumen,
Glanz aus längst versunkener Zeit,
Glanz des Mondes im stillen Meere,
Glanz der Sterne über der Wüste:
Lauterkeit ..."
Und doch, während seine Haare silbrig werden,
während Angesicht und Stimme sich wahrhaft
verklären können, — gleich darauf zürnen und
streiten sie wieder wie eines Jünglings Angesicht
und Stimme.
Dehmel hat sich einmal über eine Art zweiter
Naivität beim Künstler geäußert, einer zweiten
Pubertät vergleichbar. In dieser steht er nun.
Es lügt, wer ihn erloschen nennt. Nichts ist
ungerechter, als von dem so gereiften Gemüte das
Feuer seines Jugendtrotzes zu fordern, nur weil es
für diesen Dichter typisch war. Weil er reif ge-
worden, klagen sie, er blühe nicht mehr.
Dies ist ein Baum, der seine Jahreszeiten hat.
Man soll ihn fürder wachsen lassen.
142
V. VENUS FANTASIA
„Feire dich in deiner Klause,
wie kein Mensch dich feiern mag,
stiller Geist im Weltgebrause :
Dein Geburtstag ist der Schöpfungstag!"
Aber Eine laß ein, aus der Welt in deine
Klause, da du nun dein Fest begehst, Sänger!,
in der Mitte eines langen Lebens.
Sie tritt zu dir, zu der du flehtest:
„Leih mir noch einmal die leichte Sandale;
sage, wer bist du, holde Gestalt?
Reich* mir die volle, die funkelnde Schale,
die du mir fülltest so viele Male!
Bist du die Jugend? Werde ich alt?"
Sinnst du heute zurück : wie in immer erneuten
Gestalten Venus Fantasia zu dir kam ?
Kam sie nicht durch die Nacht geweht, eine
geflügelte Fackel ? Lag sie nicht im Schoß der
Rose, deren Traum vom Lichte du belauschtest ?
Und im Jüngling und im Mädchen, — warst du
es nicht, der sie in Sehnsucht fühlte ? Der horchte,
wie die Braut in ihren Kissen nächtlich rief und
verging in Wünschen?
Durch die schlafende Lagune hörtest du ver-
liebte Worte tönen, aus dem Zelt der Gondel:
bis die trügerische Donna Anna in der trüben
Flut verschwand. Rittest mit dem Grafen Ri-
chard durch die Nacht und durch die Waldung,
wie im Wahnsinn, da er sein Weib erschlagen:
io Ludwig, Richard Dehmel 14-5
bis das dunkle Moor Mann und Pferd verschlang.
In die marmorne Rotunde sahst du Klythia
sommerlich treten, hin zum Bade: und sie stand
mit einem Male vor dem nackten Schläfer und
entfloh und ließ die Rose fallen.
Du träumtest den Sarg im Vorstadthaus, die
Kammer, die den jungen Leuten zu eng geworden.
Dir stammelte die Magd ihre Todesangst um das
Sündenkind, das doch aus blinder Liebe stammte.
Finster trug der Bergmann übers junge Eis zu
früh den Wahlruf : bis sein Tod das Volk befeuerte.
Strichest durch das Land mit dem singenden
Landstreicher; träumtest aber von der Leichen-
feier jener Fürstin, und du wurdest selber Fürst
und du hast es abgeworfen, das beschwerende
Krönungskleid, da die nackten Mädchen leicht
vor dir zum Reigen schritten.
Don Alvaro warst du, lägest an den Lippen der
verseuchten Braut und erstandest dennoch aus
den Klauen der Judenpest. Rembrandt, betetest
du auf zum Lichte, — fuhrst als der geschlagene
Kaiser mit dem Bauern in dem Schlitten, pelz-
verhüllt, über Rußlands Leichenwüstenei. Bis-
marck warst du, Sohn der Macht, und erlauschtest
deine Glocken, — und du tanztest mit dem Prin-
zen, Tochter der Sonne, und Krasinska wurde
Polens Fürstin: pauvre coeur!
Paris, saßest du mit Hermes, da drei Göttinnen
dich umbuhlten, — und Prometheus riß in brül-
lender Enttäuschung Stück für Stück vom Felsen-
146
grate: bis du hörtest, wie in dem durchwühlten
Meere Mensch dem Menschen rief und Hilfe
brachte.
Und zum Mond die Arme wild gebreitet, sahst
du ihn aufschluchzen, Jesus, um den eignen
Zwiespalt ringend, in Gethsemane. Aber eine
heilige Sünderin, aus den beiden Marien ver-
schmolzen, denen willig dein Herz sich öffnet,
wies dir die Wunden von Lüsten und Schmerzen,
hob dich auf zu mütterlicher Huld.
— Und stehst doch lächelnd, Wandlungsreicher !,
stehst, Merlin !, in der Mitte deiner Zeit, aus allem
Zwiespalt wunderbar gehoben, auf der wohlge-
ründeten Erde da. Bist du der Schwimmer nicht,
der, schwer gerettet aus dem wilden Meere, den
Strand noch streichelnd, um den er rang, mit
grauem Blick zum grauen Meer zurücksieht —
und sehnt sich nach dem Kampfe?
„O Fantasie,
allwissende Lügnerin
dich lieb ich,
ich Menschengeist,
ewig!"
10*
H7
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