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Full text of "Richard Dehmel"

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HANDBOUND 
AT  THE 


UNIVERSITY  OF 
TORONTO  PRESS 


hzo 


S3 


RICHARD      DEHMEL 


VON 


EMIL     LUDWIG 


„Dichter  kann  man  nicht  ergründen; 
seid  nur,  Freunde,  recht  erhoben! 
Jede  Flamme  schlägt  nach  oben, 
jeder  Geist  wird  weiterzünden. 
Durch  den  Rauch  der  Worte  steigen 
alle  auf  ins  blaue  Schweigen." 

R.  D. 


19     13 
S.     FISCHER.   VERLAG-   BERLIN 


Mit  dem  Bilde  Dehmels  nach  einer  Photogra- 
phie von  R.  Dührkoop  und  zwei  Faksimilen. 
Alle  Rechte  vorbehalten 


INHALT 

An  Dehmel 7 

I.  DAS  WELTBILD II 

Erste  Antithese:  Gott  und  Lucifer    .   .  13 

Zweite  Antithese:  Ego  et  Religio  ...  16 
Dritte    Antithese:      Bewußtsein     und 

Ekstase 23 

Synthesis:  Eros 30 

IL  DER  KÜNSTLER 39 

Biologisches 41 

Visionen 44 

Rhythmen 49 

Formen 55 

Mythische  Gegenwart 60 

Barock 66 

Der  Spieler 70 

Dramatisches 75 

III.  ZWEI  MENSCHEN 83 

IV.  ENTWICKLUNG 101 

Der  Deutsche 103 

5 


Zwei  Ahnherrn no 

Nietzsche 118 

Von  Zwanzig  bis  Vierzig 121 

Der  weise  Jüngling 129 

V.  VENUS  FANTASIA 143 


AN  DEHMEL 

Sehn  wir  uns  ins  Auge!  Nun  hast  du,  Lucifer, 
die  Mitte  des  Jahrhunderts  erreicht,  das  zu  voll- 
enden du  dir  vorgesetzt.  Wir  Dreißigjährigen  stehn 
vor  dir,  der  du  uns  Maß  und  Unmaß  lehrtest, 
Hingabe  an  uns  selbst  und  an  die  Welt ;  der  Rhyth- 
men und  Visionen  überliefert  hat,  an  denen  wir  uns 
entwickeln  lernten.  Die  wir  deine  Söhne  könnten 
sein,  wir  sollen  nun  dich  ergründen,  sollen,  angetan 
mit  Schwert  und  Wage,  dich  auf  den  Richtplatz 
der  Geschichte  schleppen :  dich  prüfen.  Eine  gefähr- 
liche Stunde. 

„Aber  wir  leben!"  hast  du  Nietzsche  nachge- 
rufen. 

Wir  rufen  dir  nichts  nach,  wir  rufen  dir  zu. 
Denn  du  stehst  heut  in  unserer  Mitte  wie  in  der 
Mitte  deines  eigenen  Weges.  Laß  dennoch  unsere 
Generation  gewähren,  auch  wo  sie  anders  fühlt. 
Zahle  den  Zoll,  den  du  den  Vorderen  abgenommen. 
Gönne  uns  dein  Losungswort :  Sei  Du !  Ist  es  nicht 
auch  Folge  deines  eigenen  Wirkens,  daß  manches 
sich  in  uns  gewandelt  hat  ?  Daß,  was  du  von  der 
Mitwelt  fordertest,  zu  einem  Teil  den  Söhnen 


schon  geläufig  wurde  ?  Manches,  was  dir  Problem 
gewesen,  ist  uns  deutliche  Wirklichkeit.  Dein 
Wunsch  wurde  Erfüllung: 

„daß  unsre  Kinder  einst  einfach  handeln, 

wo  wir  noch  voller  Zwiespalt  wandeln, 

einfältig  lieben  oder  hassen, 

mit  ganzem  Willen  die  Welt  umfassen, 

sich  heimisch  fühlen  selbst  zwischen  den  Sternen 

und  mit  jedem  Feuer  spielen  lernen  .  .  . 

Und  lebt  dir  ein  Sohn,  dann  lehr'  ihn  mit  Lachen, 

aus  jeder  Not  eine  Tugend  machen  .  .  ." 


Sehn  wir  uns  ins  Auge!  Was  ist  gefährlicher  als 
einen  lyrischen  Dichter  zerpflücken  ?  Täte  man 
nicht  besser,  ihn  gleich  historisch  einzuordnen, 
i.  e.  umzubringen? 

Doch  wie  soll  sich  der  Geist  orientieren  ?  Wol- 
len wir  dem  Pathetiker  mit  Pathos,  dem  Rhapso- 
den mit  Rhapsodien  ins  Innere  leuchten  ?  Mit  Kälte 
will  der  kritische  Geist  sich  nähern,  mit  Wärme 
gab  die  Seele  sich  hin. 

Vollends  vor  diesem  Geiste:  Dehmel  —  der 
sein  Erglühen  stets  in  kalte  Formen  zu  ergießen 
trachtet,  vor  diesem  feuerflüssigen  Krater,  der 
jeden  Augenblick  zu  Eis  erstarrt,  fühlen  wir  den 
Wunsch,  für  eine  Stunde  uns  und  ihn  in  ein  System 
zu  retten.  Diese  Natur,  stets  ihrer  Triebe  sicher, 
fraglos  ruhend  im  eigenen  Grundgefühle,  ist  doch 

8 


immer  nur  voll  Mühe  klugen  Sinnes  nachträglich 
hinter  diese  Triebe  gekommen. 

Gehn  wir  jetzt  den  Weg  zurück:  von  der  Deu- 
tung durch  den  Intellekt  zur  Betrachtung  seiner 
impulsiven  Formen.  Dies  Phänomen:  Dehmel  — 
bedeutet  zugleich  Seher  und  Dichter,  Prophet 
und  Künstler,  Verkünder  und  Gestalter.  Mag 
man  es  darum  dem  kritischen  Führer  verzeihen, 
wenn  er  für  eine  Stunde  die  Elemente  trennt,  so 
innig  sie  gesellt  sind.  Dann  erst,  mit  beruhigtem 
Intellekte,  genießen  wir  am  Ende  klar  und  musisch 
wieder,  was  wir  am  Anfang  verworren  gespürt. 

Und  hier  sogleich,  noch  ehe  wir  ihn  selber  fassen, 
im  Anblick  solcher  doppelten  Sendung,  tritt  der 
Grundzug  seines  Wesens  vor.  Denn  Richard  Deh- 
mel ist  der  Mensch,  der  am  meisten  Widersprüche 
in  sich  versöhnt.  Ein  Blut,  bedrängt  von  Dualis- 
men, ein  Geist,  geladen  mit  Antithesen,  ein  Herz, 
erschüttert  von  Widerspruch,  —  und  doch  ein 
Ganzes,  völlig  entspannt,  seit  Anbeginn  wunder- 
sam geheilt.  Wo  ist  der  Schlüssel  für  dies  Ge- 
heimnis ?   Wer  hat  den  Dämon  befreit  ? 

Sein  Genius,  indem  er  ihn  bändigte.  Hier  liegt 
der  Grund,  warum  Dehmel  wurde,  was  er  zu 
oberst  ist:  Rhapsode.  Nur  als  Rhapsode  vermag 
er  dies  heiße  mit  dem  kalten,  dies  hingegebene 
mit  dem  betrachtsamen  Temperamente  in  Einen 
Ausdruck  zu  verschmelzen.  Nur  Künstler  ?  Schaffe 
Vorbilder!,  ruft  immer  wieder  diese  liebereiche 
Seele  sich  zu  und  umarmt  die  Menschheit.  Was 


Menschen!  Schaffe  Abbilder!,  schüttelt  sich  im- 
mer wieder  dieser  bildnerische  Geist.  Gefühls- 
konflikte darstellen  will  dieser  Dichter  —  und 
braucht  und  mißbraucht  mit  schöner  Kälte  Welt 
und  Menschen,  die  er  noch  eben  an  das  glühende 
Herz  gedrückt. 

Darum  durchströmt  ein  Grundgefühl,  kein 
Grundgedanke  sein  ganzes  Werk.  Dies  Grund- 
gefühl könnte  man  „Weltglück"  —  oder  Liebe 
nennen.  Um  diese  Worte  in  seinem  Geiste 
durchzufühlen,  gilt  es,  alle  Wege  zurückzulaufen, 
auf  denen  Dehmels  Instinkte  sich  durchschlugen, 
ehe  sie  in  die  weite  Rundung  gelangten.  Diese 
Kriege  in  seinem  Inneren  hat  nicht  etwa  eine  lange 
Entwicklung  am  Ende  geschlichtet  oder  geklärt. 
Sie  wirken  in  ihm  kontinuierend  fort.  Und  da 
dieser  Dichter  gern  die  jüngsten  Objekte  im 
Gleichnis  betrachtet,  so  formulieren  wir :  Dehmels 
Leben  läuft  wie  ein  Motorrad :  durch  eine  unend- 
liche Kette  von  Explosionen  feindlicher  Trieb- 
kräfte wird  es  ständig  erschüttert,  zugleich  stän- 
dig vorwärts  getrieben. 


10 


I.  DAS   WELTBILD 


„O  Glück!  Nun  klärt  sich  uns  die  Welt, 
von  allem  Wahrheitswahn  befreit: 
in  jedem  seligen  Augenblick 
enthüllt  sich  uns  die  Ewigkeit." 


Erste  Antithese: 
GOTT  UND   LUCIFER 

„Noch  hat  keiner  Gott  erflogen, 
der  vor  Gottes  Teufeln  flüchtet." 

Lucifer,  mit  steil  gereckten,  blaubrennenden 
Fackeln  in  Silber  und  mit  Sterndiadem,  eilt  wie 
gebannt  der  Mutter  mit  dem  Kinde  nach,  die  auf 
dem  Esel  sitzt,  von  Mönchen,  Doktoren  und  Rit- 
tern umgeben. 

Dies  Bild  aus  seinem  Tanzspiel  „Lucifer"  könnte 
sich  Dehmel,  der  heroische  Phantast,  als  Wappen 
wählen;  der  bürgerliche  Ästhetiker  als  Exlibris. 

Hier  tut  sich  das  Daimonion  dieser  Seele  auf. 
Von  Gott  und  Lucifer  das  Widerspiel  durch- 
zieht sie  seit  Beginn.  Im  Trübsten  fühlt  sich 
dieser  Geist  befangen,  ins  Klarste  steigt  er  immer 
auf.  In  einem  seiner  frühesten  Verse  spiegelt  er 
sich  und  Dante: 

„Wer  sich  durch  eine  Hölle  durchgesungen, 
den  fragt,  welch  Paradies  ihm  endlich  tagte; 
doch  wer  an  seinem  Leben  nie  verzagte, 
hat  um  das  höchste  Leben  nie  gerungen." 

13 


Dasselbe,  in  einem  seiner  spätesten: 

„Selbst  der  Reinste  muß  erleben, 
von  Verführungen  umtobt, 
daß  der  Geist  sein  wahres  Streben 
an  Verirrungen  erprobt." 

Seit  er  begonnen,  und  bis  er  endet :  immer  fühlt 
er  „Das  Tierisch-Trübe,  Göttlich- Klare"  gegen- 
einander streben.  Darum  hat  er  den  Menschen- 
geist den  Bastard  genannt,  den  einst  Apollon 
mit  dem  Vampyrweibe  zeugte. 

„Drum  sollst  du  dulden  Mensch,  dein  Herz, 

das  so  von  Wünschen  bangt  und  glüht, 

wie  nach  dem  ersten  Sonnenschimmer 

die  graue  Nacht  verlangt  und  glüht; 

und  sollst  in  deinen  Lüsten 

nach  Seele  dürsten  wie  nach  Blut, 

und  sollst  dich  mühn  von  Herz  zu  Herz, 

aus  dumpfer  Sucht  zu  lichter  Glut." 

Dehmel  stärkt  sich  an  diesem  Kampfe,  statt 
sich  darin  zu  zerreiben.  Triebselig  hat  er  sich 
einmal  genannt.  Dies  Wort  verklärt,  weit  über 
das  Geschlechtliche  hinaus,  was  das  allzu  wagne- 
rische „brünstig"  etwa  trübte.  Ferne,  je  einem 
Triebe  zu  wehren;  entschlossener  Verächter  aller 
moralischen  Stufenleitern;  durchdrungen  von 
der  Heiligkeit  der  Triebe,  die  im  unbewußten 
Menschen  aufsteigen:  so  schlichtet  er  alle  Feind- 
schaft zwischen  Sinn  und  Seele  und  kann  gläubig 
rufen : 


H 


„Denn  nicht  über  sich, 

denn  nicht  außer  sich, 

nur  noch  in  sich 

sucht  die  Allmacht  der  Mensch, 

der  dem  Schicksal  gewachsen  ist." 

Das  ist  ein  Stichwort.  Dehmel,  von  allen  Wi- 
dersprüchen geschüttelt:  triebselig  schlichtet  er 
sie,  und  statt  die  großen  Gegenspieler :  Welt  und 
Schicksal  zu  bekämpfen,  fühlt  er  sich  „Gotteins 
mit  der  Welt";  vor  dem  Schicksal  fühlt  er  sich 
geborgen,  weil  er  ihm  immer  gewachsen  bleibt. 

Dehmel  ist  der  typisch  untragische  Geist  un- 
serer Epoche. 

Denn  auch  am  Schmerz  kann  diese  Natur,  ent- 
schlossen Sinn  und  Seele  zu  versöhnen,  sich  nie- 
mals brechen.  Also  ein  Optimist  ?  Dazu  hat  sein 
Inneres  zu  tiefe  Furchen.  Also  ein  Platoniker  ? 
Dazu  ist  sein  Herz  zu  hell.  Sagen  wir:  ein  immer 
williger  Geist. 

„Ich  habe  mit  Inbrünsten  jeder  Art 
mich  zwischen  Gott  und  Tier  herumgeschlagen. 
Ich  steh  und  prüfe  die  bestandene  Fahrt: 
nur  eine  Inbrunst  läßt  sich  treu  ertragen: 
zur  ganzen  Welt." 

Gott  und  Tier :  das  erste  der  Kämpferpaare,  die 
in  Kopf  und  Herzen  dieses  Mannes  nimmermüde 
ihre  Klingen  kreuzen. 

Den  besten  seiner  Zeitgenossen  galt  dieser  Kampf 
als  Zentrum  Dehmelschen  Geistes.  Schwächer 
fühlen  wir  Jüngeren  dies  Gegenspiel  und  halten's 

*5 


lieber  mit  jener  Antwort,  die  er  sich  selbst  durch 
eines  Weibes  Mund  gegeben: 

„Was  ist  da  trüb?  Ich  seh  nicht,  was. 
Wir  leben,  wir  lieben;  wie  klar  ist  das!" 


Zweite  Antithese: 
EGO   ET   RELIGIO 

„Herz,  vertraue  deinem  Triebe! 
Seele,  deine  Weltbetrachtung 
wird  nur  durch  den  Mut  der  Liebe 
frei  von  Ekel,  Reue  und  Verachtung." 

Niemand  müßte  diesem  Geiste  fremder  sein 
als  Christus.  Muß  er  ihn  nicht  hassen,  den 
Feind  der  Triebe  ?  Mußt  du,  Lucifer,  nicht  den 
verachten,  der  sich  nur  durch  Tötung  seiner 
Triebe  auf  zur  Gottheit  hob  ?  Ist  nicht,  Sinn  und 
Seele  zu  zertrennen,  Ziel  des  einen?  Sinn  und 
Seele  zu  verschmelzen,  Ziel  des  andern? 

Und  doch  fühlt  Dehmel  sich  niemand  näher 
als  grade  ihm :  den  er,  bezeichnend,  stets  nur  Je- 
sus nennt.  Nicht  müde  wird  er,  seinen  Mythos 
zu  erforschen,  ihm  entlehnt  er  immer  wieder 
seine  Formeln:  „Welche  der  Mächte  .  .  .  dein 
Reich  zu  uns  kommen  lassen"  oder :  „Der  Mensch- 
heit heiliger  Geist..."  oder  „Mein  heiliger  Geist". 
Woher  kommen  solche  Suggestionen?    Sucht  der 

16 


Dichter  den  Heiland  aus  Ungewißheit  ?   Um  sich 
immer  neu  zu  blenden? 

Er  sieht  in  ihm  seinesgleichen.  Denn  Jesus  klagt 
sich  selber  an : ' 

„Übermenschlich  hab'  ich  mich  vermessen, 

und  sie  haben  fromm  gemeint: 

Ich,  ich  lebte  selbstvergessen  .  .  . 

O  zertrennte  mich  doch  mein  Gebet, 
daß  ich  zwiefach  lebte  Wort  und  Taten, 
Menschen  menschlich  irrend  zu  beraten, 
auch  dem  Zweifel  ein  Prophet .  .  . 

Schwerter  stieß  ich  in  die  weichsten  Herzen: 

Allen  wollt  ich  liebend  glühn, 

aber  meiner  Mutter  mach'  ich  Schmerzen, 

und  mit  sehnsuchtswundem  Herzen 

weint  um  mich  die  Magdalenerin." 

Hingabe  an  die  Menschheit,  gekreuzt  vom  Wil- 
len zur  Macht:  in  diesem  Christusprobleme  spie- 
gelt sich  der  Dichter. 

Denn  „Dehmels  Selbstgefühl  ist  so  groß  wie 
sein  Mitgefühl",  formulierte  Liliencron.  Immer 
wieder  steht  es  auf,  dort  wo  es  gilt,  Kraft  und  Mit- 
leid zu  versöhnen,  und  das  schmerzt  ihn.  Nie- 
mand ist  egozentrischer  als  er,  niemand  zugleich 
weniger  egoistisch.  Indem  er  keine  Lehre,  nicht 
Gott  noch  Schicksal,  indem  er  nur  sich  selbst  mit 
allen  Trieben  als  Zentrum  der  Welt  fühlt:  sieht 
Dehmel  in  jedem  Nebenmenschen  ein  neues  Zen- 
trum, das  er  willig  ehrt.  Dehmels  Religion  — 
religio  =  Allverbindlichkeit  —  ist  der  Mitmensch, 
der  sich  als  Gotteskind  fühlt. 

2    Ludwig,  Richard  Defemel  \J 


„Und  hier  steht  einer,  der  mit  tausend  Händen 
sich  selbst  wie  Saat  ins  Weltall  möchte  streuen, 
um  tausendfach  sein  Dasein  zu  vollenden, 
um  tausendfach  sein  Dasein  zu  erneuen." 

Hier  wie  fast  überall  repräsentiert  dieser  Dichter 
in  großen  Maßstäben  die  Grundgefühle,  die  die 
besten  seiner  Generation  in  ihrer  Werdezeit  be- 
wegten. Diese  „Entdeckung  des  Menschen",  die  mit 
ihm  viele  Geister  vor  einem  Menschenalter  er- 
füllte, —  den  Jüngeren  ist  sie  fremder  geworden; 
selbstverständlicher.  Lieber  spiegeln  wir  uns  heute 
in  seinem  extensiven  Machtgefühle,  in  seiner  Lust, 
dem  großen  Strom  der  Triebe  sich  hinzugeben. 

Liebe  zur  Menschheit,  nicht  zu  den  Menschen 
beschwingt  ihn.  Man  hat  dies  Weltgefühl  zu 
blasser  Philanthropie  herabgedeutet.  Aber  Dehmels 
Lieblingsgestalt  heißt  Prometheus;  nicht  Lincoln. 

Erst  durch  ihr  Widerspiel  wird  seine  Mensch- 
heitsliebe interessant.  Denn  dieser  rassigen,  her- 
rischen, dämonisch  angetriebenen  Natur  fällt  es 
sehr  schwer,  dies  Ego  mit  dieser  Religio  zu  ver- 
söhnen. Wenn  in  seinem  Oratorium  „Die  Voll- 
endung" der  Herr  der  Ordnung  nach  dem  Herrn 
der  Kraft,  wenn  die  Pflichten  nach  den  Lüsten  das 
Wort  ergreifen,  wenn  der  Geist  der  Ordnung  singt : 

„Aber  allem  Wechsel  überlegen 

thront  die  Freude  der  Glückseligkeit .  . ." 

dann  fallen  solche  Verse  immer  ab. 

Faßte  man  Dehmel  —  ganz  ohne  seine  Schuld 
und  nur  für  Augenblicke  —  als  Moralisten:  man 

18 


müßte  gestehen :  an  dieser  wichtigen  Stelle  ist  ihm 
der  Atem  ausgegangen.  Denn  was  besagt  es  im 
Grunde,  wenn  der  Geist  der  Menschheit  singt: 

„Nein,  mitnichten 

sollt  ihr  verzichten 

auf  die  Lust,  sie  weckt  die  Kraft; 

aber,  weil  sie  sonst  erschlafft, 

lernt  euch  Pflichten 

draus  erdichten  .  .  . 

Und  so  werde  im  Menschen  die  Lust 

ihrer  göttlichen  Pflicht  bewußt." 

Überhaupt  kann  dieser  triebselige  Geist  mit 
dem  moralischen  Problem  sich  nie  zufrieden  geben. 
Notwendig  lautet  sein  Gebet: 

„Und  führe  uns  in  Versuchung!" 

Auch  meidet  er,  wohl  mit  Bewußtsein,  die  ihm 
unverwandten  Begriffe  des  Guten  und  Schlechten, 
und  jene  eine  Stelle: 

„Denn  der  Kreislauf  der  waltenden  Mächte 
will  nicht  das  Gute,  will  nicht  das  Schlechte. 
Was  euch  mit  Willen,  mit  Sehnsucht  erfüllt: 
wie  ihrs  begreift,  wie  ihrs  enthüllt, 
wird  es  das  Falsche,  wird  es  das  Rechte!" 

deckt  sich  schließlich  mit  der  impressionistischen 
Moral  des  Prinzen  Hamlet. 

Dehmels  großes  Ethos  ist  gänzlich  amoralisch, 
und  hier  liegt  ein  Grundunterschied  gegen  Schil- 
ler, mit  dem  man  ihn,  sehr  irrtümlich,  verglichen 
hat.  Schiller  umschlang  dithyrambisch  die  Millionen 
und  schwärmte  mit  romantischer  Geste  von  einer 

2*  ig 


Zeit,  da  alle  Menschen  Brüder  werden.  Dehmels 
Menschheitsliebe  ist  so  wenig  romantisch  oder  sen- 
timental, wie  er  im  ganzen;  sie  ist  pantheistisch. 

So  erklärt  sich  —  metaphysisch  und  psycholo- 
gisch —  auch  der  größere  Irrtum,  Dehmel  sozial 
oder  gar  sozialistisch  aufzufassen.  Und  doch  ruht 
auf  diesem  Irrtum  ein  guter  Teil  von  Dehmels 
Popularität.   Wir  müssen  ihn  widerlegen. 

Ein  einziges  kleines  Gedicht  (Maifeier-Lied) 
könnte  parteipolitisch  benutzt  werden,  und  das 
ist  unbedeutend.  Im  übrigen  hat  sich  der  Dichter 
—  offenbar  um  jener  Fabel  zu  begegnen  —  noch 
zuletzt,  im  „Michel  Michael"  recht  gründlich  aus- 
gesprochen: „Die  Sorte  Brüderlichkeit,  die  ist  mir 
zu  gleich  und  zu  frei!"  Dehmel  ist  weder  Sozialist 
noch  Anti-Sozialist,  und  er  hat  einmal  einem  kon- 
servativen Abgeordneten,  der  ihn  fragte,  was  er  nun 
eigentlich  politisch  sei,  die  ironische  Dichterantwort 
gegeben:  „Unter  anderm  auch  konservativ." 

Aber  Dehmel  ist  nicht  einmal  sozial,  im  gegen- 
wärtigen Sinne;  wie  etwa  die  Russen.  Seine  frü- 
heste Schwärmerei  für  das  Symbol  Berlin,  wo  „die 
Rauchfahne  der  Arbeit"  loht,  hat  er  höchst  ver- 
nehmlich überwunden  (vgl.  „Michel  Michael" 
und  etwa  das  Gedicht  „Ausschau  bei  Nacht". 
Werke  II,  59).  Ein  sehr  frühes  Gedicht,  „Der 
Bergpsalm",  steht  als  Stimmung  in  seinem  ge- 
samten Werk  fast  allein  und  schließt  mit  dem 
unmelodischen  Verse: 

„Empor  Gehirn!    Hinab,  Herz!   Auf!    Hinab!" 

20 


Diese  eine  Stelle  —  an  der  denn  auch  Verkün- 
der und  Gestalter  sich  nicht  zu  decken  vermoch- 
ten —  wird  von  gewissen  Seiten  als  Dokument 
seines  sozialen  Gewissens  gedeutet.  Man  sollte 
dergleichen  nicht  sagen.  Es  ist  ebenso  falsch,  wie 
Hauptmann  um  seiner  „Weber"  willen  zu  soziali- 
sieren. Verkünder  und  Gestalter  in  Dehmel:  sein 
ganzes  Wesen  widerspricht. 

Freilich  hat  er  ein  soziales  Gewissen;  wie  alle. 
Aber  dieser  Geist  ist  viel  zu  stark,  um  sich  den 
zufällig  zu  seiner  Zeit  Unterdrückten  zu  ver- 
schreiben; viel  zu  weit,  um  eine  Klasse  zu  führen. 
Dehmel  hat  kein  spezielles  „Mitleid"  mit  dem 
Arbeiter;  er  hat  überhaupt  kein  Mitleid,  er  hat 
Mitlust.  Er  liebt  nicht  den  Arbeiter,  nicht  einmal 
den  Menschen;  er  liebt  den  Dämon  im  Menschen. 
Sehr  bittersüß  klagt  es  aus  seinem  Munde: 

„Ach,  wer  die  Menschheit  liebt, 
der  lernt  die  Menschen  hassen." 

Der  Geist  der  Menschheit  scheint  ihm  grade  groß 
genug,  daß  er  in  seinem  Oratorium  erscheine. 

Auch  als  Künstler  sollte  ihn  niemand  länger  in 
solche  Dienste  stellen.  Dehmel  will  durchaus  nicht 
sozial,  er  will  durchaus  mythisch  ins  Volk  wirken. 

Als  Dichter  kennt  er  keine  Probleme,  nur  Ge- 
fühlskonflikte :  so  hat  er  inmitten  der  Erscheinun- 
gen, die  ihm  Erde  und  Landschaft,  Gott  und 
Sterne  dargeboten,  auch  einige  Dachstuben  mit 
ihren  Gefühlskonflikten  gesehen  und  wieder  dar- 
gestellt.   Zuerst   recht   novellistisch:   „Zu   eng", 

21 


„Vierter  Klasse";  dann  die  Ballade  von  der 
„Magd",  im  großen  Rhythmus  der  Jahreszeiten, 
und  den  „Märtyrer".  Dann  das  Lied  vom  Ar- 
beitsmann mit  dem  gewitterdrohenden  „Wir 
Volk",  und  endlich,  rein  freskal,  jene  große  cho- 
rische Hymne,  die  wir  mit  Ehrfurcht  noch  einmal 
niederschreiben: 

„Es  steht  ein  goldenes  Garbenfeld, 
das  geht  bis  an  den  Rand  der  Welt. 
Mahle,  Mühle,  mahle. 

Es  stockt  der  Wind  im  weiten  Land, 
viel  Mühlen  stehn  am  Himmelsrand. 
Mahle,  Mühle,  mahle. 

Es  kommt  ein  dunkles  Abendrot, 
viel  arme  Leute  schrein  nach  Brot. 
Mahle,  Mühle,  mahle. 

Es  hält  die  Nacht  den  Sturm  im  Schoß, 
und  morgen  geht  die  Arbeit  los. 
Mahle,  Mühle,  mahle! 

Es  fegt  der  Sturm  die  Felder  rein, 

es  wird  kein  Mensch  mehr  Hunger  schrein. 

Mahle,  Mühle,  mahle." 

—  Hoch,  ernst,  mit  gewappneter  Gebärde,  die 
Falten  des  Mundes  herabgezogen,  alle  Narben 
und  Wildheiten  des  durchpassionierten  Gesichtes 
wie  erleuchtet:  so  stand  er  vor  seinem  hohen  Ka- 
theder und  sprach  die  schwer  fallenden  Verse,  und 
mehr  als  tausend  Arbeiter,  ihm  zu  Füßen,  spann- 
ten die  Blicke,  reckten  die  Köpfe,  spitzten  die 
Ohren  nach  oben.  Drei  Abende  vorher  hatte 
er     vor     literarischem     Kreise     rezitiert.      Aber 


22 


ihn  dürstete  nach  Tausenden;  nach  Arbeitern. 
Die  ahnten  nichts  vom  Spezifischen  Gewichte 
seiner  Künstlerschaft.  Warum  stürmte  dennoch 
ihr  Herz  ihm  zu  ?  War  es  wirklich  nur  die  Hand 
voll  „sozialer"  Gedichte,  von  denen  er  drei  oder 
vier  im  Laufe  eines  ganzen  Abends  vorgetragen? 
Die  gingen  ihnen  ein,  freilich,  das  geht  ihnen 
ein,  auch  wenn  ein  Dilettant  schlechte  Proletarier- 
Verse  vorträgt.  Warum  folgen  sie  grade  diesem 
Manne,  der  sie  zu  jeder  Art  von  Menschen  und 
Göttern  führt,  zu  Dingen  oft,  die  ihnen  völlig 
fremd  sind,  als  Objekt  wie  als  Kunst? 

Sein  religiöses  Pathos  reißt  sie  hin,  die  große 
Hingabe  dieser  Seele  in  Brunst  und  Inbrunst, 
dieser  strömende  Ausgleich  von  Ich  und  Welt. 

Und  ich  dachte :  Schwarz  bist  du  anzuschaun,  wie 
Lucifer.  Doch  das  Licht  aus  dir  strahlt  weiß,  wie 
aus  Michael. 


Dritte  Antithese: 
BEWUSSTSEIN   UND   EKSTASE 

„Gefühl  treibt  eins  das  andre  fort; 
o  gib  uns,  Geist,  das  Fassungswort." 

Der  feuertrunkene  Pole  Przybyzewski  hat  einmal 
im  Rausch  Dehmel,  der  mit  ihm  zechte,  den  Hahn- 
rei des  Bewußtseins  genannt.  Müssen  wir  das  Wort 
erklären?  Noch  aus  der  Verschwommenheit  des 
Rausches  blitzt  es  auf. 


23 


Wirklich  geschieht  das  Unglaubliche  —  womit 
denn  auch  das  polnische  Gleichnis  endet  — :  mitten 
im  Liebesrausche  mit  der  Phantasie  setzt  diesem 
Dithyrambiker  sein  eigenes  Bewußtsein  Hörner 
auf.  Denn  Dehmel  —  patheticus  —  ist  zugleich 
Analytiker  seines  Gefühls.  Strömt  dort  die  rhap- 
sodierende  Leidenschaft  aus  ihrem  Urgrund  auf: 
hier  sprudelt  ihm  eine  kleine,  kluge  Zweifelquelle 
eigensinnig  dazwischen. 

Mag  er  immerhin  „das  Unbewußte"  hassen, 
mag  er  „den  Herren  Unbewußtlern  empfehlen, 
sich  lebenslänglich  chloroformieren  zu  lassen": 
das  bleibt  ein  Witz.  Der  Zwiespalt  hingegebenen 
Dichterrausches  und  allzu  wachen,  nachprüfenden 
Intellektes  hat  ihm  manche  Wirkung  zerstört.  Er 
kennt  die  Gefahr  und  hat  in  seinem  Essay  über 
„Naivität  und  Genie"  sehr  tiefe  Dinge  darüber 
gesagt.  Freilich,  es  ist  ein  Unterschied,  „ob  man 
über  Gefühle  nachdenkt  oder  über  die  Darstellung 
von  Gefühlen".  Doch  zuweilen,  Lucifer,  dachtest 
du  auch  über  Gefühle  nach:  wenn  du  Prophet 
warst,  nicht  mehr  Künstler. 

„Müßt  euch  versenken 
tief  in  den  innern  Streit, 
fühlend  zerdenken, 
was  in  euch  schreit. 
Wies  immer  wühlt: 
wenn  ihrs  zerfühlt, 
seid  ihr  befreit. 
Nur  wie  ihrs  auslegt, 
wirds  euch  bewußt . . ." 

24 


Was  ist  der  Grund  für  solchen  Zwiespalt  zwischen 
Bewußtsein  und  Ekstase?  Dehmel  will  alles  Be- 
wußtsein ins  Triebhafte  zurückleiten  —  und  alle 
Triebe  ins  Bewußtsein  erheben.  Da  entstehen  denn 
zuweilen  Verse  von  so  barockem  „ Gefühlsgeist" 
wie  die  obigen.  Allzu  klug  hämmert  der  Geist 
auf  das  Pathos.  Mischt  sich  hierzu  noch  das  pe- 
dantisch ordnende,  systematisch  deutsche  Element, 
das  Dehmel  beherbergt,  so  wird  gar  ein  Monstrum 
geboren,  wie  die  Zeile: 

„Erde,  enthölle  dein  Himmelsblut!" 

Hier  läuft  ein  Sprung  durch  die  Seele  des  Mannes 
und  wird  auf  seine  Dichtung  projiziert.  Diese  Er- 
scheinung ist  typisch  für  alle  Dichter,  die  sich  zu 
sehr  für  Philosophen,  zu  wenig  für  reine  Dichter 
halten;  ähnlich  wie  Dehmel  geht  es  darin  Milton, 
Victor  Hugo,  auch  Byron.  Wachsein  hemmt  den 
schönen  Wahnsinn,  Gedanke  hemmt  das  strömende 
Gefühl.  Dieser  Kulturspalt  ist  schwerer  zu  schlich- 
ten als  jene  Spaltungen  der  Triebe,  die  Tier  und 
Gott,  die  Ich  und  Mitwelt  trennen.  Und  weil  er 
deutlicher  ins  Auge  fällt,  ist  jeder  Ahnungslose 
gern  bereit,  dem  Dichter  Geschmacklosigkeit  vor- 
zuwerfen. Das  Unvollkommene  zerrt  ihr  hervor, 
statt  das  Vollkommene  zu  lieben. 

Denn  hundert  Male,  fern  von  diesem  Zwiespalt, 
mit  einem  himmlischen  Gelächter  über  alle  Klä- 
rung des  Bewußtseins,  springt,  läuft,  rennt  der 
Genius  über  die  Felder  der  Phantasie,  ekstatisch, 
ungezügelt.   Da  funkelt  das  Trinklied  auf:  „Noch 

25 


eine  Stunde,  dann  ist  Nacht  . .  /',  da  atmen  abend- 
lich Narzissen,  da  sinkt  der  Wunschberauschte 
nieder  vor  seiner  ersten  Königin,  da  reißt  er  noch 
die  Nebel  jener  großen  Elegie  entzwei,  in  der  er 
eben  sich  dreifachen  Treubruchs  angeklagt:  denn 
plötzlich,  aus  dem  Moll  der  Grübeleien,  steigt  er 
empor  und  fühlt  sich  hingerissen: 

„.  .  .  .  o  ja:  die  Erde  ist  voll  Grauen, 
doch  —  voll  von  Sonnen  steht  die  Welt. 
Raum!  Raum!  Brich  Bahnen,  wilde  Brust! 
Ich  fühl's  und  staune  jede  Nacht, 
daß  nicht  bloß  Eine  Sonne  lacht !  . . . 
Zehntausend  Sterne  aller  Enden, 
zehntausend  Sonnen  stehn  und  spenden 
uns  ihre  Strahlen  in  die  Brust!" 

Mit  großem  Einsatz,  scheinbar  unvermittelt, 
steigt  das  empor,  wie  der  kurze  steile  Aufgang 
vom  dritten  in  den  letzten  Satz  der  Fünften 
Symphonie.  Solcher  Aufschwung  reißt  überall 
fort :  etwa  in  „Venus  Excelsior" : 

„Da  — :  Flügel  — :  frei  — !  und  an  der  Brust  die  Blume! 
Schon  naht  der  Hain  mit  seinem  Heiligtume, 
wo  auch  die  Rosen  immer  grünen  dürfen." 

Oder  gar  in  „Venus  Urania"  —  das  dahinrast, 
immer  an  der  Klippe  des  Wahnsinns,  bis  es  in  der 
tollen  Hyperbel  zerplatzt: 

„Wir  lieben  alle,  — 

alle  Welt  muß  uns  lieben!" 

Wir  legten  das  Widerspiel  zwischen  Ekstase  und 
Bewußtsein  dar,  weil  es  zum  psychischen  Abbild 

26 


des  Mannes  gehört.  Erdrücken  kann  auch  dieser 
Zwiespalt  seinen  Träger  nie.  Zu  stark,  zu  einge- 
boren lebt  Phantasie  in  ihm;  der  kleinere,  der  Ge- 
danke ist  von  ihm  nur  groß  gezüchtet  worden. 
Hierfür  gibt  es  ein  Zeugnis,  deutlicher  als  selbst 
jene  ekstatischen  Dichtungen,  in  deren  Abgrund 
noch  immer  ein  Gedanke  murmelt. 

Dies  Zeugnis  sind  seine  mystischen  Gedichte. 
Manche  meinen,  das  tiefe  Mitmenschengefühl,  das 
ihn  bewegt,  entfernte  Dehmel  mehr  und  mehr 
von  der  reinen  Natur;  wer  sich  so  tief  ins  Mensch- 
liche vergrub,  verlernte  das  zwecklose  Belauschen 
natürlicher  Mächte,  er  wäre  zu  heiß  für  die  Kühle 
des  mystischen  Rausches.  Und  man  könnte  wieder- 
um auf  Schiller  weisen  als  auf  ein  prangendes, 
warnendes  Beispiel.  Finden  sich  —  fragen  Jene 
mit  Mißtrauen  —  finden  sich  rein  lyrische  Dich- 
tungen bei  Dehmel,  ohne  ein  wollendes  Ich?  Ohne 
ein  sollendes  Du  ?  Verdirbt  er  uns  nicht  noch 
seine  reinsten  Versenkungen  —  etwa  den  „Som- 
merabend" —  durch  die  plötzlich  hervorbrechende 
Schlußzeile : 

„So  sei  doch  froh,  mein  Herz,  in  all  dem  Frieden!" 

Sie  finden  sich,  vollkommene.  Wie  verstummt 
dann  dieser  Pathetiker,  wie  ruht  er  wahrhaft  am 
Busen  der  Natur;  bis  sich  langsam  Töne  lösen 
aus  dem  Horchen  und  wie  große  Tropfen  nieder- 
fallen. 

„Morgenandacht"  (Werke  I,  54)  mit  dem  pan- 
theistischen  Schlüsse,  oder  die  kurzen  Gedichte: 

27 


Hoher  Mittag  (III,  114),  Geheimnis  (III,  78),  Tief 
von  Fern  (I,  62)  und,  um  eins  der  reinsten  hin- 
zuschreiben: Am  Ufer: 

„Die  Welt  verstummt,  dein  Blut  erklingt; 
in  seinen  hellen  Abgrund  sinkt 
der  ferne  Tag, 

er  schaudert  nicht;  die  Glut  umschlingt 
das  höchste  Land,  im  Meere  ringt 
die  ferne  Nacht, 

sie  zaudert  nicht;  der  Flut  entspringt 
ein  Sternchen,  deine  Seele  trinkt 
das  ewige  Licht." 

An  diesem  Punkte  nähert  sich  Dehmel  den  mysti- 
schen Gesichten  Goethes. 

„Plötzlich  wird,  was  dunkel  war, 
dir  von  Grund  aus  offenbar; 
und  dann  kannst  du  nicht  verstehen, 
daß  du  sonst  es  nicht  gesehen. 

Aus  dem  Grund  der  Welt  durch  dich 
offenbart  der  Welt  es  sich; 
aus  der  Ewigkeit  geboren 
bleibt  es  ewig  unverloren." 

Und  nach  der  kalten  Klarheit  solcher  Erleuch- 
tung überkommt  diesen  Dichter  das  Bangen  und 
der  Schauer  vor  den  Läuterungen  durch  die 
Träume : 

„Wie  mit  zauberischen  Händen 
greifen  Träume  in  mein  Leben, 
will  ein  altes  sich  vollenden, 
will  ein  neues  sich  begeben. 

28 


Eine  Flamme  sah  ich  lodern 
hoch  und  rein  aus  goldner  Schale, 
und  die  Flamme  schien  zu  fodern: 
wirf  dein  Leid  in  diese  Schale! 

Und  anbetend  hingezwungen 
fühlt  ich  Gluten  mich  umfangen; 
rauschend  küßten  ihre  Zungen 
mir  die  Augen,  Stirn  und  Wangen. 

Und  ich  fühlte  hell  vergehen 
all  mein  Leid  mit  einem  Male, 
rauschend  mich  als  Flamme  wehen 
selber  in  der  goldnen  Schale. 

Wie  mit  zauberischen  Händen 
greifen  Träume  in  mein  Leben. 
Will  ein  altes  sich  vollenden? 
Will  ein  neues  sich  begeben?" 

Mehr  und  stiller  ebbt  der  Strom  zurück. 

„Eines  Abends  —  erzählte  der  Dichter  —  kam 
ich  in  die  Stadt  und  ging  in  ein  Konzert.  Viele 
Winterwochen  hatte  ich  am  Bodensee  verbracht, 
und  die  beschneite  Kette  der  Berge,  die  Fläche 
überglänzend,  hatte  sich  wie  eine  Naturmelodie 
fest  mir  eingegraben.  Nun  tauchte  plötzlich,  nach 
langer  Zeit  zum  ersten  Male,  Kunst  an  mein  Ohr : 
Bach  und  Beethoven.  Und  mit  einem  Mal  fühlte 
ich :  Was  will  das  alles,  nach  der  Kette  der  Berge  ? 
Das  Ewig-Stille  ist  nicht  auszudrücken.  Wozu 
ahmen  wir  es  nach?" 

Und  so  ergeht  es  ihm,  wenn  er  im  Eis  der  höch- 
sten Berge  steht,  von  Nacht  umgiert,  von  Licht 
umschäumt. 


29 


Und  so  hat  er  sein  und  aller  Bewußtsein,  seine 
und  alle  Verse  in  sieben  unvergänglichen  Zeilen 
mit  Lächeln  ad  absurdum  geführt. 

„Was  sind  Worte,  was  sind  Töne, 
all  dein  Jubeln,  all  dein  Klagen, 
als  dies  meereswogenschöne, 
unstillbare  laute  Fragen. 
Rauscht  es  nicht  im  Grunde  leise, 
Seele,  immer  nur  die  Weise: 
Still,  o  still,  wer  kann  es  sagen?" 


Synthesis: 
EROS 

„Schnee  und  Eis  zerschmilzt  in  Lavafluten." 

Einmal  stand  Dehmel  vor  den  orphischen  Ur- 
worten,  die  sein  Gastfreund  in  den  Tragebalken  des 
Hauses  eingegraben  hatte.  Still  blickte  er  hinauf, 
Eros  stand  inmitten.  Er  sann  eine  Weile,  nach  seiner 
Art,  und  hörte  nicht,  was  man  zu  ihm  sprach. 
Er  fragte:  „Sollte  man  nicht  Tyche  in  die  Mitte 
rücken?"  Dann  aber  lächelte  er  auf  seine  Art 
(zwischen  Ungewißheit  und  Verklärung) :  „Frei- 
lich, Eros  enthält  sie  alle."  — 

Ein  paar  hundert  Entsetzte  haben  Dehmel  als 
Pornographen  ausgerufen.  Habeant.  Aber  ein 
paar  tausend  Huldigende  —  und  diese  sind  ge- 
fährlicher —  suchen  aus  ihm  stets  nur  das  Ge- 
schlechtliche heraus.    Nichts  ist  leichter,  man  be- 

30 


gegnet  ihm  aller  Orten.  Schon  die  Titel  seiner  wich- 
tigsten Bücher  heißen :  Aber  die  Liebe,  Weib  und 
Welt,  Verwandlungen  der  Venus,  Zwei  Menschen. 

(Noch  amüsanter  ist  ein  populärer  Dehmel.  Man 
erkennt  ihn  —  wie  Schiller  —  an  der  Zitierung  seiner 
unerheblichsten  Zeilen :  „Weib  sein  ist  doch  das  herr- 
lichste Los  !a  „Schwarz  oder  weiß,  nur  nit  grau,  kalt 
oder  heiß,  nur  nit  lau",  „Ich  und  die  Zukunft !"  und 
„Wer  glücklich  ist,  verdients  zu  sein!")  — 

In  Eros  schlichtet  sich  für  Dehmel  jeder  seiner 
Zwiste. 

In  ihm  verschmelzen  Gott  und  Luzifer:  „Aus- 
zuruhn  am  Herzen  Gottes",  ruft  er  brünstig.  In 
ihm  verschmelzen  Ego  et  Religio,  Lüste  und  Pflich- 
ten, Ich  und  Welt: 

„Denn  Liebe  ist  die  Freiheit  der  Gestalt 

vom  Bann  der  Welt,  vom  Wahn  der  eignen  Seele." 

In  ihm  verschmelzen  Bewußtsein  und  Ekstase. 

„Immer  im  Zweifel  zerläuft  der  Gedanke, 
oder  nur  höher  häuft  er  die  Schranke 
um  den  versessenen  Geist  empor. 
Aber  im  Zaubermantel  der  Liebe 
trägt  dich  der  lachende  Sturm  der  Triebe 
auf  vom  Staub  und  ins  Himmeltor." 

Oder  in  seinen  Lieblingsversen: 

„Erst  wenn  der  Geist  von  jedem  Zweck  genesen 
und  nichts  mehr  wissen  will  als  seine  Triebe, 
dann  offenbart  sich  ihm  das  weise  Wesen 
verliebter  Torheit:  die  große  Liebe." 

Wie  die  Alten,  denen  Dehmel  sonst  nichts  ab- 
geborgt —  die  Antike  ist  ihm  fremd  wie  die  Ro- 


mantik  — ,  so  fühlt  er  wieder,  der  erste  nach  hun- 
dert Jahren,  das  Mysterium  im  Geschlecht,  und  so 
wird  ihm  die  Huldigung  des  Eros  zum  sakralen 
Dienste:  beginnend  mit  der  eigenen  Erzeugung; 
erfüllt  in  der  Geburt;  wachsend  mit  dem  Auf- 
keimen eigener  Triebe,  steigend  in  der  Werdelust 
des  Jünglings,  der  Jungfrau,  des  Frühlings;  kul- 
minierend im  Zusammensturze  der  Geschlechter; 
neu  verklärt  in  neuer  Zeugung  und  Geburt  der 
Kommenden. 

In  einem  seiner  allerersten  Gedichte  warf  er 
sich  zurück,  appassionato: 

„Ward  ich  durch  frommer  Lippen  Macht 
und  zahmer  Küsse  Tausch? 
Ich  ward  erzeugt  in  wilder  Nacht 
und  großem  Wollustrausch." 

Ähnlich  später,  Largo: 

„Nur  durch  die  Pforte,  durch  die  dich  ins  Leben 
die  Brünste  stießen,  kann  dein  Streben 
brünstig  zurück  in  den  Schoß  der  Welt." 

Hier  gilt  es  nicht  die  Stufen  durchzulaufen.  Sie 
finden  sich,  kosmisch  geordnet,  in  den  „Verwand- 
lungen der  Venus";  trotz  mancher  Kluft  und  Stö- 
rung folgt  man  ihm  dort,  als  wäre  er  Merlin,  der 
Wandlungsreiche. 

Doch  ordnungslos  und  reizender  liegt  dies  alles 
in  seinen  Gedichten.  War  es  dort  Venus,  die 
herrschte,  hier  ist  es  Eros.  Als  Triebkraft  der  Seele 
springt  er  hier  empor:  im  Jüngling  und  im  Mäd- 
chen, in  der  Jungfrau,  in  dem  dunkel  erschütterten 

32 


Nachtgebet  der  Braut,  in  jeder  Entbietung  und 
Entsagung,  in  Sucht,  Verschmelzung,  Trennung: 
überall  strömt  der  freiste  Trieb  der  Sinne  neben 
dem  zagesten  Aufblick  der  Seele  hin. 

Es  leuchtet  ein :  den  willigen,  triebseligen  Geist, 
dem  es  im  Ohre  klingt: 

„Nur  noch  Seele,  nur  noch  Sinn, 

der  du  bist  und  der  ich  bin  .  . ." 

ihn  wie  keinen  andern  treibt  es,  das  Tier  dem  Gott 
in  seiner  Brust  im  Liebesstrome  zu  versöhnen. 
Wäre  der  Dichter  nicht  jener  „Bastard",  als  den 
er  den  Menschen  darstellt;  war'  er  vielleicht  in 
holderer  Harmonie  mit  sich  geboren :  dann  glühte 
schwächer  in  ihm  der  Wille,  sich  gänzlich  hinzu- 
geben, um  sich  gänzlich  neu  zu  empfangen. 

Da  Eros  zum  Erlöser  seines  Weltgefühles  ward, 
muß  Eros  sich  ins  Weltall  dehnen,  muß  sich  auf- 
lösen im  Kosmos.  Nur  das  Meer  erschien  dem 
Dichter  maßlos  genug,  es  dem  Grundgefühl  des 
Menschen  zu  vergleichen,  und  er  schloß  seinen 
„Lobgesang": 

„Aufrausch  der  Unendlichkeit 
ist  das  Meer, 
ist  die  Liebe." 

.  .  .  Wagner.  Erinnert  dies  wirklich  an  Wagner  ? 
Sein  Tristan  will  im  Liebestode,  Dehmels  Helden 
wollen  im  Liebesleben  sich  selbst  entströmen.  Aber 
bei  Wagner  ist  es  tragisch-romantische  Brunst; 
bei  Dehmel  gefaßte  Inbrunst.  Nicht  im  eigen- 
willigen Tode:  im  Gleichgewicht   der  Welt,  im 

3    Ludwig,  Richard  Dehmel  11 


„Weltglück"  löst  Dehmels  lyrischer  Charakter  sich 
empor.  Wagners  Liebe  ist  Wollust,  Dehmels  Liebe 
ist  Weltgefühl.  — 

Diese  reine  Demut  im  Begehren,  dies  herbe  Mit- 
gefühl im  süßesten  Durchronnensein  ist  wunder- 
voll zur  Form  gekommen  in  dem  Gedichte 

Jesus  bettelt 
Schenk  mir  deinen  goldnen  Kamm; 
jeder  Morgen  soll  dich  mahnen, 
daß  du  mir  die  Haare  küßtest. 
Schenk  mir  deinen  seidnen  Schwamm; 
jeden  Abend  will  ich  ahnen, 
wem  du  dich  im  Bade  rüstest  — 
oh,  Maria! 

Schenk  mir  Alles,  was  du  hast; 
meine  Seele  ist  nicht  eitel, 
stolz  empfang  ich  deinen  Segen. 
Schenk  mir  deine  schwerste  Last: 
willst  du  nicht  auf  meinen  Scheitel 
auch  dein  Herz,  dein  Herz  noch  legen  — 
Magdalena  ? 

Von  Eros  zur  Ehe  ist  für  Dehmel  nur  ein  Schritt. 
Denn  mit  dem  Ernste,  mit  dem  er  alle  bürger- 
lichen Umstände  zu  Symbolen,  sein  Jahrhundert 
zum  Gleichnis  der  Ewigkeit  erhebt,  hat  Dehmel 
auch  die  Ehe  ergriffen.  Er  setzt  einen  deutschen 
Spruch  davor: 

„Ehret  einander, 

wehret  einander!" 

Und  dann  erklingt  sein  Lied  bald  dem  Ehrenden, 
bald  dem  Wehrenden.     Selten  stürzt  er  in  den 

34 


eigenen  Strudel:  dann  ergreift  er  doppelt  den  Be- 
trachter („Wirrsal",  Werke  III,  61). 
Wir  hören  seine  Stimme  singen: 

„Seit  wann  du  mein,  ich  weiß  es  nicht; 
was  weiß  das  Herz  von  Zeit  und  Raum! 
Mir  ist,  als  wär's  seit  gestern  erst, 
daß  du  erfülltest  meinen  Traum, 

mir  ist,  als  wär's  seit  immer  schon, 
so  eigen  bist  du  mir  vertraut: 
so  ewig  lange  schon  mein  Weib, 
so  immer  wieder  meine  Braut." 

Wann  immer  dieser  Mann  von  Sinnen  hinge- 
rissen wird,  sogleich  steigt  seine  Inbrunst  rein 
empor.  Schildert  er  die  Enthüllung  seiner  Ge- 
liebten, immer  steht  die  nämliche  Wendung: 

„Still  schaut  sie  auf,  er  muß  die  Augen  schließen  . .  . 

er  sieht  nur,  wie  zwei  Augen  Licht  ergießen  .  .  ." 

In  feierlichem  Trauschwur  hat  er  sein  Welt- 
gefühl von  sich  und  seinem  Weibe  am  schlichte- 
sten gestaltet: 

„.  . .  Ich  bin  der  Herr  dein  Gott!  Du  sollst  mich  ehren: 

auf  meine  Kraft  dein  ganzes  Leben  baun, 

in  jeder  Drangsal  selig  mir  vertraun, 

nach  keiner  Zuflucht  außer  mir  begehren  .  .  . 

Denn  du  bist  meine  Welt!  Dich  will  ich  segnen. . . 

Und  will  auch  dir  mich  weihn:  will  meine  Fehle 
durch  unsern  Bund  entsühnen  und  versöhnen, 
mich  mit  dir,  in  dir  immerfort  verschönen, 
du  meine  Welt,  du  deines  Gottes  Seele!" 

Aber  noch  ein  anderes  Paar,  ein  männlicher 
gefaßtes,  trägt  er  im  Blut:   „Herr  und  Herrin" 

35 


(Werke  III,  52).  In  einem  seiner  vollkommensten 
Gedichte  (das  die  „Zwei  Menschen"  in  nuce  ent- 
hält) steht  auf  sechzehn  Zeilen  alles,  was  hier- 
von zu  berichten  wäre. 

Grenzenlos  vertraut  er  dem  Instinkt  des  Weibes, 
unproblematisch  in  höchst  begehrenswertem  Sinn 
erscheint  es  ihm. 

Ist  sie  da  und  schreitet  sie  fort,  die  Ehe:  so 
erhebt  sich  gleich  sein  Mitmenschengefühl  und 
zwar  in  bürgerlicher  Art;  Eros  scheint  zurück- 
gedrängt. „Mit  der  bloßen  Liebeslust  —  schrieb 
er  einem  Freunde  —  kommt  man  nicht  weit;  sie 
ist  nur  der  Keim  für  die  reife  Ehe.  Auch  Kamerad- 
schaft und  Freundschaft  reichen  nicht  aus.  Ich 
möchte  es  Spießgenossenschaft  nennen.  Zwei  Ein- 
same kämpfen  um  eine  gemeinsame  Welt,  gegen  die 
allgemeine,  allzu  gemeine  Welt.  Es  ist  ein  Kampf 
um  gegenseitige  Großmut;  es  gilt,  den  edelsten 
Selbstsüchtigen  ein  heldenmütiges  Beispiel  zu 
geben." 

Diesem  Synthetiker,  dieser  Zukunftsnatur  voll- 
endet sich  Ehe  und  Eros  erst,  wenn  sie  fruchtbar 
werden.  Im  Kinde  betet  Dehmel  an,  was  Nietz- 
sche nannte :  ein  aus  sich  rollendes  Rad.  Will  sagen : 
das  Symbol  des  Helden.  Doch  weiter  sieht  er  im 
Kinde:  Narrheit,  Widersinn,  holde  Lüge,  —  das 
Dämonische  im  Naiven. 

Ist  das  erstaunlich?  Reagiert  nicht  das  Kind 
simpler,  gradliniger  als  die  Großen?  Und  muß 
nicht  dieser  Dichter,  so  vieler  Widersprüche  sich 

36 


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Verkleinertes  Faksimile  (1894). 


37 


bewußt,  zum  höchst  Eindeutigen  sich  wenden, 
als  wär's  das  Venerabile?  Hier  endlich  sieht  der 
Brünstige  seine  Inbrunst  verklärt.  Mit  einem  Male 
steht  der  ungewollte  Zeuge  seiner  Lüste,  —  ein 
kleiner  Heiliger  steht  da. 

„Meine  Kinder  werden  einst 

oben  auf  dem  Regenbogen  spielen." 


Beim  Menschen  beginnt,  bei  dem  erneuten 
Menschen  endet  Dehmels  Weltbild.  Und  doch 
ist  grade,  was  dahinter  schimmert,  der  unver- 
gleichbarste Teil  seines  Wesens  und  Werkes. 

Dehmels  Werk  erinnert  an  die  Bildnisse  des 
Lionardo.  Wir  treten  davor :  ein  Menschenhaupt, 
groß,  nahe,  steht  ganz  vorn  und  blickt  uns  an, 
fest,  undurchdringlich.  Hinter  ihm  aber  öffnet 
sich  die  Landschaft,  mystisch  blau;  felsenreich, 
voll  Klippen  und  Grüften,  verdämmernd  in  eine 
unendliche  Helle. 

Und  mehr  und  tiefer  wenden  wir  den  Blick,  fort 
von  jenen  Augen,  —  der  phantastischen,  der  ma- 
gisch erblassenden  Landschaft  zu.  Aber  wie  tief 
wir  auch  in  sie  sinken,  immer  bewacht  uns  der 
große  Blick  des  nahen  Menschenhauptes. 


38 


II.  DER  KÜNSTLER 

„Künstler,  die  Welt  ist  bodenlos. 

Wer  kühn  ist,  schöpft  aus  tiefstem  Schoß. 

Wer  nicht  versinkt  dabei,  ist  groß." 


BIOLOGISCHES 

„Das  Unermeßne  ist 
der  Kunst  so  eingemessen, 
daß  du  vermessen  bist, 
willst  du's  allein  ermessen." 

Sehn  wir  uns  ins  Auge!  Es  war  im  Grunde  ein 
Opfer  an  dein  bittersüßes  Herze,  daß  wir  dich, 
Lucifer,  zuerst  bei  deinen  Trieben,  deinen  Wider- 
sprüchen aufgesucht.  „Denkt  ihr  etwa,  ich  will 
Zuchtwahl  predigen  ?"  riefest  du  zu  guter  Stunde. 
„Ich  will  überhaupt  nichts  predigen!  Schöne 
Verse  machen  will  ich!    Weiter  nichts!" 

Dein  Ich  kann  manchem  Vorbild  sein.  Dein 
Abbild  muß  allen  Vorbild  werden:  allen,  denen 
die  deutsche  Sprache  poetischer  Ausdruck  ist.  Wer 
sie  heut  meistern  will,  muß  durch  dich  gehn, 
Sänger  und  Dichter!  Visionär  und  Rhythmiker! 
Musiker,  Entdecker  du,  Phantast,  Merlin! 

Mancher  kritische  Geist  deiner  Epoche  brach 
sich  freilich  schon  die  Zähne  aus  an  deinen  Ideen, 
bis  sich  schließlich  einer  zu  der  Metapher  verstieg : 
„Dehmel  liebt  wie  ein  analytischer  Philosoph  und 
philosophiert  wie  ein  Verliebter." 

41 


Wir  formulieren  dagegen :  Dehmel  der  Künstler 
ist  dem  Philosophen  um  so  viel  überlegen,  als 
Nietzsche  der  Philosoph  dem  Künstler  war.  Noch 
kürzer :  in  fünfzig  Jahren  heißt  es  nur  noch :  Nietzsche 
philosophus,  Dehmel  poeta. 

Dehmel  fragt:  Was  ist  Kunst.  Seine  Antwort: 
„Rhythmische  Ausgestaltung  des  Lebens  zu  einem 
harmonischen  Sinnbild  der  Welt."  Oder,  in  Versen: 

Klage  und  juble,  Dichter, 

wie  du  willst; 

das  wirkt  Seele  ins  All, 

du  bist  Gott. 

Aber  beklage  nicht! 

Bejuble  nicht! 

Nichts ! 

Du  bist  Gottes  Werk; 

brüste  dich  nicht!" 

In  einem  Urteil  über  Beaudelaire  —  das  wich- 
tiger ist  um  Dehmels  als  um  Beaudelaires  willen, 
dem  es  nicht  gerecht  wird,  —  hat  Dehmel  ge- 
äußert: „Ich  vermisse  an  ihm  die  unmittelbare 
Hingabe  an  seinen  kühnen  Inhalt.  Seine  Form 
hat  den  Takt  geschulten  Begreifens,  nicht  den 
Rhythmus  gemeisterter  Ergriffenheit."  In  den 
letzten  Worten  gewinnen  wir  eine  Formel:  wie 
Dehmel  der  Künstler  seinem  Dämon  gegenüber- 
steht: mit  gemeisterter  Ergriffenheit. 

So  drückt  sich  jene  Versöhnung  feindlicher  Trieb- 
kräfte ästhetisch  aus.  Dehmel  besaß  von  je  die  Gabe 
—  und  hat  sie  später  gezüchtet  — :  die  stete  und 
kontinuierende  Ergriffenheit  seiner  Seele  grade  in 

42 


ihrer  Entladung  zu  meistern;  das  drängende  Blut 
dieses  heißen  Herzens  mit  einem  Ruck  in  Gestal- 
tung zu  vereisen;  das  Bild  der  Seele  und  das  Bild  der 
Welt,  wann  immer  er  es  brauchte,  zu  petrifizieren. 

So  wurde  Bildkraft  ein  Ursprung  seines  Dichtens, 
Verdichtens.  Bild,  nicht  Gefühl  ist  das  Primäre.  Als 
Beispiele  dieEntstehungzweierberühmterGedichte. 

Längere  Zeit  stand  auf  seinem  Tische  eine  grie- 
chische Vase,  er  vertiefte  sich  oft  in  die  Stellung 
der  Bacchantin.  Plötzlich  schreibt  er:  ,,Leih  mir 
noch  einmal  die  leichte  Sandale  .  .  ." 

Er  sah  Rembrandts  „Flucht  der  Proserpina", 
und  ganz  gefangen  von  dem  goldenen  Wagen 
wünscht  er  den  Glanz  zu  verdichten:  „Diesen 
goldnen  Glanz  —  erzählte  der  Dichter  —  schau- 
kelte ich,  sozusagen,  in  mir,  ich  weiß  nicht,  wie 
lange:  bis  mir  eines  Abends  der  Rhythmus  hoch- 
kam. Ich  sehe  mich  noch  immer  vom  Abend- 
essen aufspringen,  um  an  meinen  Schreibtisch  zu 
laufen  und  wieder  ein  paar  Zeilen  hinzuwerfen. 
Aus  der  Proserpina  machte  ich  den  Apoll.  Das 
ganze  Gedicht  ist  also  durchaus  nicht  aus  einer 
Fieberstimmung  entstanden,  sondern  kalt  künst- 
lerisch aus  Bild  und  Rhythmus."  Das  Gedicht  war 
„Der  Bastard"  (Venus  Homo). 

Einiges  wenige  hat  er,  wenn  das  Bewußtsein 
schwieg,  im  dionysischen  Rhythmus  gemacht. 
Dann  befeuerten  ihn  Chopins  Polonäsen,  und  er 
hat  dem  trunkenen  Freunde,  der  ihm  das  Wort 
vom  Hahnrei  des  Bewußtseins  zugerufen,  seine  pol- 

43 


nischen  Rhapsodien  ins  Deutsche  nachgedichtet, 
ohne  ein  Wort  zu  verstehn :  nur  dem  Rausch,  nur 
dem  Rhythmus  zu  Liebe.  Einen  großen  Teil  der 
„Zwei  Menschen"  schrieb  er  in  wenig  Wochen  auf 
einer  Nordseeinsel  und  ließ  das  meiste  unverändert. 
Aus  Rhythmen  und  aus  Bildern  wirkt  dieser 
Dichter  sein  Werk.  Darum  bergen  Dehmels 
Visionen  und  Dehmels  Rhythmen  den  reichsten 
Teil  seiner  Künstlerschaft. 


VISIONEN 

Den  größten  Visionär  seines  Jahrhunderts  darf 
man  ihn  nennen.  In  seinem  dämonischen  Wesen 
liegt  das  begründet;  solche  Naturen  sind  visionen- 
reich. Hierin  (und  auch  an  Barocke)  stellt  er  sich 
neben  Matthias  Grünewald.  Dehmel  hat,  was 
Schopenhauer  die  „Wahrheit  des  Traumes"  nennt. 

Dem  Dichter  geht  —  das  ist  nicht  erstaunlich  — 
was  er  mit  Augen  sieht,  plötzlich  in  seiner  Symbol- 
kraft auf.  Er  erzählte :  „Mit  achtzehn  Jahren  kam  ich 
zum  ersten  Male  aus  der  Fläche  der  Mark  nach  dem 
bergigen  Süden.  Da  sah  ich  auf  dem  Kamme  Wol- 
ken lagern.  Das  war  mir  neu,  ich  dachte :  Hier  sind 
ja  so  viele  Kohlenmeiler.  Aber  als  die  Wolken  zu 
wandern  begannen,  auf  dem  Kamm :  da  fiel  mir  ein, 
wie  Gott  vor  dem  Volke  Israel  in  einer  Wolke  ein- 
herzog.   Davon  war  ich  erschüttert." 

Aber  die  meisten  Visionen,  die  dann  sein  Werk 

44 


zu  einem  phantastischen  Bilderbuche  machten, 
sind  nicht  gesehen,  sind  rein  erschaut;  ihr  Ursprung 
für  uns  wie  für  den  Dichter  nicht  mehr  zu  er- 
spüren, so  wenig  wie  der  Ursprung  jener  mysti- 
schen Gedichte,  von  denen  wir  gesprochen. 

Nicht  immer  sind  sie  vollkommen;  zuweilen 
beginnt  das  glühende  Symbol  zur  Allegorie  zu 
verblassen.  An  anderen  Stellen  geht  die  Vision 
nicht  völlig  im  empirischen  Ereignis  auf  (etwa 
die  Zimmerleute  in  Venus  Heroica,  Werke  IV, 
129).  Oder  die  große  Vision  verwirrt  sich,  etwa 
in  „Venus  Mea"  (Werke  IV,  132): 

„Sein  Scheitel  schimmert:  eine  Phönixfeder 
ragt  aus  der  Rechten  steil  zum  Sonnenrande"; 

worauf  aus  der  Feder  ein  Spiegel  wird,  dann  Siegel 
und  Kette.  Oder  das  gedankliche  Symbol  bringt 
die  Vision  um  ihre  Wirkung,  wenn  es  —  wie  Phor- 
kyas  —  am  Ende  von  den  Kothurnen  steigt,  um, 
sofern  es  nötig  wäre,  im  Epilog  das  Stück  zu  kom- 
mentieren; (etwa  die  Zeile:  „Da  liegt  Jesus  von 
Nazareth."  Werke  II,  151). 

Manchmal  entwickelt  sie  sich  aus  der  Alltäglich- 
keit, meist  in  Form  des  Traumes,  auch  in  der 
Prosa;  höchst  glaubhaft  in  der  „Gottesnacht". 

Doch  alles  dies  verblaßt  vor  dem  Lichtstrom 
visionären  Schauens. 

Ich  schlage  auf:  da  sitzt  der  Dichter,  trinkt 
und  ruft  die  Freunde  an,  zweimal,  dreimal:  „Noch 
eine  Stunde,  dann  ist  Nacht!"  Doch  plötzlich 
fährt  er  fort: 


45 


„Wächst  übern  Strom  ein  Brückenjoch, 
hoch,  o  hoch! 

Ein  Reiter  kommt,  die  Brücke  kracht; 
saht  ihr  den  schwarzen  Reiter  noch  ?  .  .  ." 

Ich  blättere  um:  da  liegt  er  träumend  vor  einem 
Kuppelbau:  dem  Tempel  der  Erfüllung, 

„und  rasselnd  sprang  die  Pforte  auf. 
Und  grübelnd  starrt'  ich  in  die  dunkle  Öffnung. 
Mir  war,  als  wohnten  die  Milliarden  Wünsche 
des  Erdballs  drin,  die  ungestillten  alle  .  .  ." 

Ich  blättere  weiter :  und  er  steht  im  Kiefernforst  der 
Heimat  und  blickt  an  den  Riesenstämmen  empor : 

„Und  Eine  steht,  wie  eines  Erdgotts  Hand 

in  fünf  gewaltige  Finger  hochgespalten  .  .  . 

Durch  die  fünf  Finger  geht  ein  zäher  Kampf, 

als  wollten  sie  sich  aneinander  zwängen; 

durch  ihre  Kuppen  wühlt  und  spielt  ein  Krampf, 

als  rissen  sie  mit  Inbrunst  an  den  Strängen 

einer  verwunschnen  Harfe  .  .  ." 

Ich  blättere,  und  er  steht  und  spricht: 
„Lege  deine  Hand  auf  meine  Augen, 
daß  mein  Blut  wie  Meeresnächte  dunkelt: 
fern  im  Nachen  lauscht  der  Tod. 

Lege  deine  Hand  auf  meine  Augen, 

bis  mein  Blut  wie  Himmelsnächte  funkelt: 

silbern  rauscht  das  schwarze  Boot." 

Ich  blättere  und  sehe  den  „Herrn  der  Kraft" 

„von  Erden  zu  Monden  schreiten, 
Samen  ihn  streun  mit  strahlender  Hand: 
um  seine  Schultern  brausen  die  Weiten, 
Sterne  beglänzen  ihm  Haupt  und  Seiten, 
feurige  Nebel  sind  sein  Gewand." 

46 


Und  weiter 

„schreitet  die  Wahrheit, 

deine  listige  Tochter, 

verhüllten  Wandels  ihre  Bahn, 

die  Füße  im  Staub, 

das  Haupt  in  Wolken, 

die  spärliche  Leuchte 

mit  dunklen  Fingern  schützend  . .  ." 

Und  um  aus  hundert  gleich  großen  Visionen  Eine 
ganz  herauszuheben,  freskal  wie  ein  Bild  der  Bibel, 
darin  Gedanke  und  Erschautes  völlig  sich  decken, 
erinnern  wir  an  diese 

Tragische  Erscheinung 

„In  einer  Wüste  lagen  viele  Menschen, 

die  fast  verschmachteten;  sie  wimmerten. 

Ein  schönes  Mädchen  nur 

mit  hilflos  braunen  Augen 

litt  stumm  den  Durst;  denn  gieriger  als  der  Durst 

brannte  ihr  seliges  Mitleid. 

Da  trat,  vom  glühenden  Horizont  herwachsend, 

ein  fremder  Mann  vor  dieses  Volk; 

der  hob  den  Zeigefinger  ihnen  dar. 

Aus  der  gereckten  zitternden  Spitze  quoll 

ein  großer  Tropfen  Blut,  quoll,  hing  und  fiel, 

fiel  in  den  Sand; 

verwundert  sah  das  Volk  den  fremden  Mann. 

Der  stand  und  stand,  Tropfen  auf  Tropfen  fiel 

aus  seinem  Finger  in  den  Sand; 

und  immer,  wenn  die  rote  Quelle  troff, 

erbleichte  schauernd  Er,  sie  aber  staunten, 

und  einige  ächzten:  Er  verhöhnt  uns. 

Da  schrie  er  laut  mit  seiner  letzten  Glut: 

47 


So  kommt  doch,  trinkt!  für  Euch  verblut*  ich  mich! 
Doch  jenes  Mädchen  sprach,  indes  er  hinlosch: 
sie  brauchen  Wasser  .  .  .  ." 

Wie  der  Dichter,  was  er  sah,  zu  Visionen  steigert, 
so  steigert  er  die  natürliche  Landschaft  zur  psy- 
chischen Landschaft.  Nur  zuweilen  bleibt  sie  ihm 
dann,  was  sie  ist :  Bild  der  Natur,  in  Worten  nach- 
zufühlen. 

„Aus  des  Abends  weißen  Wogen 

taucht  ein  Stern; 

tief  von  fern 

kommt  der  junge  Mond  gezogen. 

Tief  von  fern 

aus  des  Morgens  grauen  Wogen 
langt  der  große  blasse  Bogen 
nach  dem  Stern." 

Da  trägt  er  nur  seine  Landschaft  vor;  tritt  zurück; 
verstummt. 

Meist  aber  muß  dies  dialogische  Gemüt  dem 
andern  sagen,  was  ihm  die  Landschaft  bedeutet. 

„Sieh,  wie  wir  zu  den  Sternen  aufsteigen! 

Unsern  glückstrahlenden  Augen 

leuchtet  der  Schnee  der  Gebirge, 

bald  blitzt  dort  unten  die  Sonne  durch. 

O!  schon  röten  sich 

Tiefen  und  Höhen; 

durch  den  Rauch  unsrer  Atemzüge, 

bis  über  das  fernste  Fünkchen  dort  oben 

fern  hinauf, 

schimmert  die  Nacht  deiner  Geburt, 

glänzt  der  Tag  unsrer  Himmelfahrt." 

48 


Hinter  so  verdichteter  Landschaft  steigt  die 
Erinnerung  auf  an  manche  gemalten.  Hodler 
(„In  Sehnsucht"),  Puvis  de  Chavannes  („Venus 
Regina"),  Rubens  („Venus  Homo"),  Marees 
(„Eines  Tages"),  mögen  hier  nur  als  Exempel 
dienen. 

Und  wir  setzen  an  den  Ausgang  diese  wahrhaft 

Ideale  Landschaft 
„Du  hattest  einen  Glanz  auf  deiner  Stirn, 
und  eine  hohe  Abendklarheit  war, 
und  sahst  nur  immer  weg  von  mir 
ins  Licht,  ins  Licht  — 
und  fern  verscholl  das  Echo  meines  Aufschreis." 


RHYTHMEN 

Nichts  belebt  diesen  Dichter  stärker  —  er  hat 
es  selbst  erklärt  —  als  Rhythmus,  sei  das  Musik, 
Maschinenstampfen,  Rollen  der  Eisenbahn.  Nichts 
liegt  ihm  aber  ferner,  als  irgend  einen  Rhythmus 
der  Natur  oder  der  Kunst  „tonmalerisch"  nach- 
zuahmen. 

Hier  muß  man  ihn  auch  theoretisch  hören, 
denn  eben  hier  hemmt  sein  Bewußtsein  nicht  mehr 
die  Ekstase,  —  es  meistert  sie.  Was  Dehmel  Auf- 
lösung überlieferter  Formen  in  sprachlich  natür- 
liche Rhythmen  nennt,  schildert  er  selbst  an 
einem  lustigen  Beispiel.  In  einem  Jugendgedicht 
hieß  es: 

4    Ludwig,  Richard  Dehmel  IQ 


„Ich  lege  eher  nicht  das  Schwert  von  Händen, 
bis  Wunden  oder  Kronen  mich  ermatten; 
und  eher  nicht  entglitt'  ich  meine  Lenden, 
bis  im  Olymp  ich  oder  bei  den  Schatten." 

Nun  steht  er  vor  dem  Opus  und  lacht:  „So 
spricht  doch  kein  Mensch!"  Er  setzt  es  in  rich- 
tiges Deutsch  um: 

„Ich  lege  nicht  eher  das  Schwert  aus  den  Händen, 
als  bis  mich  Wunden  oder  Kronen  ermatten; 
und  nicht  eher  entgürt'  ich  meine  Lenden, 
als  bis  ich  auf  dem  Olymp  bin  oder  .  .  ." 

Hier  bricht  der  kritische  Dichter  ab.  Nicht  als 
Verbesserung  führt  er  diese  Zeilen  vor,  denn  so 
holprig  würde  er  sie  gewiß  nicht  lassen;  nur  als 
Beispiel  seiner  Forderung  ungezwungenen  Satz- 
baues. Wirklich  scheint  er  hier  eine  Art  Methode 
entdeckt  zu  haben,  jedes  künstlich  Poetische  in  ein 
natürlich  Dichterisches  zu  verwandeln.  (Literar- 
historisch könnte  man  diese  Erneuerung  mit  jener 
vergleichen,  die  Goethe  als  junger  Lyriker  in  deut- 
scher Dichtersprache  angeregt  hat.) 

Hält  er  es  mit  der  Überlieferung,  immer  muß 
er  sie  weiterbilden.  Den  Heineschen  Vers  —  den 
er,  wie  den  Heineschen  Geist,  sehr  früh  verließ  — 
unterbricht  er  durch  habgierige  Synkopen.  Man 
wird  sie  allenthalben  wiederfinden:  sein  trotziges 
Temperament  drückt  sich  in  ihnen  aus.  (Dehmel 
hat  das  Synkopische  im  Verse  so  durchgebildet  wie 
etwa  Schumann  in  der  Melodik). 

Beispiel:    „Die    Tochter    der    Sonne".     Wäre 

50 


Heine  an  diese  Dehmelsche  Ballade  gebunden, 
an  dieselben  Worte,  dieselben  Bilder,  dieselbe  erste 
Zeile,  er  könnte  etwa  beginnen: 

Noch  war  Polen  nicht  verloren, 
Warschau  schwoll  von  Maskenfesten, 
Kavaliere  klirrten  Sporen 
vor  den  Damen  in  Palästen  .  .  . 

Dehmel:    „Noch  war  Polen  nicht  verloren, 

Warschau  schwirrte  von  Maskenfesten. 

Die  Kavaliere  klirrten  mit  silbernen  Sporen 

um  die  Gunst  der  Damen  in  den  Palästen  . .  ." 

Wo  Landschaft  und  Stimmung  es  fordern,  folgt 
ihnen  der  Rhythmus,  unbekümmert  um  alles, 
was  voraufgegangen.    „Die  Harfe"  beginnt: 

„Unruhig  steht  der  hohe  Kiefernforst . . ." 

und  alle  sieben  Strophen  folgen  mit  ihrer  ersten 
Zeile  genau  diesem  Rhythmus.  Plötzlich  setzt 
die  letzte  synkopierend  ein: 

„Komm,  Sturm  der  Allmacht,  schüttel'  den  starren  Forst!" 
„Evas  Klage",  diese  wundervolle  Elegie,  beginnt: 

„Stern  im  Abendgrauen, 
laß  dein  bleich  Erschauern; 
laß  mich  endlich  ruhig 
heim  gen  Eden  trauern," 

und  dann  wiegt  sich  das  lange  Gedicht  im  Gleich- 
maß dieses  Rhythmus,  wie  in  Wollust.  Plötzlich 
bricht  zweimal  der  Rhythmus  der  Verzweiflung 
durch : 

51 


„O  Eden,  mein  Eden, 
Garten  meiner  Träume, 
warum  gab  mir  Gott  den  Anblick 
deiner  Frühlingsbäume!" 

Zuweilen  läßt  er  —  nach  vielen  längeren  und  kür- 
zeren Zeilen  —  ein,  zwei  oder  drei  Silben  mit  einem 
Male  fallen;  wie  pizzikati:  „Dir  wird  leicht",  am 
Schluß  von  „Nacht  für  Nacht"  (Werke  III,  117). 
Oder  er  fährt  wie  mit  einem  einzigen  Cellostrich 
in  seine  Instrumentation,  etwa  mit  dem  einen 
Wort  „lastet"  („Um  Ibsens  Schatten",  Werke  II, 
98).  Ähnliches  im  „Trinklied",  das  überhaupt 
Dehmels  rhythmische  Finessen  sämtlich  bis  ins 
Barock  hinein  wie  eine  Fibel  umschließt. 

Am  klarsten  tritt  sein  rhythmischer  Impressionis- 
mus im  Anblick  seiner  „Refrains"  hervor.  Bekämpft 
der  Dichter  schon  ganz  allgemein  jede  Uniformie- 
rung des  Verses  durch  den  sogenannten  Blankvers 
und  stößt  überall  dessen  glatte  Wände  ein :  so  ver- 
geistigt er  vollends  den  noch  viel  klapprigeren  Re- 
frain, ohne  ihn  —  wie  die  modernen  Liederkom- 
ponisten —  ganz  zu  meiden.  Schon  in  Gedichten 
wie  „Narzissen"  (Werke  III,  12),  „Schutzengel" 
(III,  26),  „Der  gute  Hirte"  (111,62)  oder  in  „Masken" 

—  einem  seiner  vollkommensten  Gedichte  (III,  116) 

—  wird  der  übliche  Refrain  verwandelt.  Noch  deut- 
licher in  der  entzückenden 

Verkündigung 

„Du  tatest  mir  die  Tür  auf, 
ernstes  Kind. 

52 


Ich  sah  mich  um  in  deinem  kleinen  Himmel, 

lächelnde  Jungfrau. 

Du  sollst  einst  einen  großen  Himmel  hüten, 

Mutter  mit  dem  Kind. 

Ich  tu  die  Tür  mit  ernstem  Lächeln  zu." 

Groß  geweitet  tritt  der  Refrain  auf  in  den  „Drei 
Ringen";  vollkommen  gewappnet  in  „Herr  und 
Herrin".  Hier  ist  er  in  die  Form  einer  Fuge  auf- 
gewachsen, und  auch  der  Musiker  hat  später  dies 
Duett  fugato  komponiert. 

Aus  dem  Refrain  macht  Dehmel  Architektur. 

Hinreißend  hat  dieser  architektonische  Sinn  die 
Phantasien  zweier  Liebenden:  „Eines  Tages" 
gefügt  (Werke  III,  147) :  dieses  schönste  von  allen 
seinen  erotischen  Gedichten,  fürstlich  gebändigt 
wie  ein  irischer  Hengst,  immer  im  Begriffe,  in 
Wahnsinn  durchzugehen,  dennoch  immer  gehalten 
durch  Rhythmus  und  Gedanken,  durch  refrain- 
artige Inversion  und  dialektisches  Raffinement. 
Hier — und  immer,  wenn  Dehmel  sich  an  natürliche 
Abschnitte  halten  kann :  Morgen,  Mittag,  Abend, 
Nacht;  die  Jahreszeiten  oder  dergleichen  —  atmet 
sein  formsuchender  Genius  auf.  Da  hat  er  sozu- 
sagen die  Meilensteine  der  Natur,  da  läßt  er  sich 
los,  da  weiß  er,  das  Ziel  ist  nicht  zu  überspringen. 

Hoch  beglänzt  stehn  diese  achtzig  Verse  in  der 
neuen  deutschen  Dichtung  da.  Wie  der  Morgen 
klingt,  im  Ruf  des  Weibes: 

„Laß  die  Strahlen  nicht  verwittern, 
die  dem  Morgenstern  entsplittern. 

53 


Heute  mittag  muß  die  Erde 

sich  entzücken  am  Geschnauf 

deiner  wilden  Siegespferde! 

Auf,  mein  schwarzer  Zaubrer,  auf!" 

Dann  aber  die  ruhend  strahlenden  Strophen  des 
Helden: 

„Überirdisch  ist  die  Nacht, 

wo  die  heiligen  Gesänge 

meiner  Sieben  Schlangen  tönen; 

Sprich  mir  nicht  vom  Tag  der  Schlacht, 

laß  uns  träumen,  Zauberin, 

nimm  den  ganzen  Himmel  hin  .  .  .  ."  — 

.  .  .  Musik.  Und  wie  Musik  sind  viele  seiner 
Gedichte.  Da  steigt  —  wie  Chopins  —  Dehmels 
„Notturno"  auf;  wie  Brahms  die  „Helle  Nacht" 
oder  „Stimme  im  Dunkeln";  wie  Schubert  „Die 
stille  Stadt";  wiederum  nur  zum  Exempel.  Darum 
hat  er  von  je  die  Musiker  angelockt ;  und  ist  es  wahr, 
daß  Dem  der  Preis  gebührt,  der  sich  am  tiefsten 
in  sein  Volk  gesungen,  so  ist  es  Dehmel,  der  sich 
diesen  Preis  vor  allen  lebenden  Dichtern  ersang. 

Er  hat  über  500  Gedichte  geschrieben.  Und 
über  500  Kompositionen  seiner  Gedichte  sind  bis 
jetzt  schon  da:  vom  kleinsten  Lied  zur  großen 
Ballade,  von  der  Kantilene  zum  Oratorium,  vom 
symphonischen  Duett  bis  zur  Märchenoper;  in 
kaum  zwanzig  Jahren*. 

Kein  Dichter  dieser  Zeit  hat  eine  ähnliche,  rein 
musische  Wirkung  erregt,  auch  nicht  Liliencron. 

*  Die  stille  Stadt  ist  neunzehnmal  komponiert  worden,  Venus 
Mater  zehnmal,  Der  Arbeitsmann  elfmal,  Helle  Nacht  dreiund- 
zwanzigmal. 

54 


Ist  es  nun  wirklich  der  Verkünder,  —  ist  es  nicht 
der  Gestalter  in  Dehmel,  dem  diese  reichen  Wir- 
kungen entströmen? 


FORMEN 

„Bin  ich  das  selbst?  Ausdruck,  du  nickst  mir  zu. 
Grundsiegel  —  Maske  —  bin  ich  du?" 

„Im  Anfang  war  der  Rhythmus":  dies  Credo  ist 
dem  Dichter  so  tief  eingegraben,  daß  er  es  einmal 
ernstlich  für  möglich  erklärte,  durch  verschieden 
schnelle  und  gefärbte  Luftwirbel,  denen  man  weiße 
Blüten  dauernd  aussetzt,  bestimmte  erbliche  Vari- 
anten zu  erzeugen;  ja  daß  selbst  jeder  Stein  aus 
Partikeln  bestehe,  die  ein  spezifischer  Rhythmus 
zusammenhält. 

Dehmel  hat  sich  selbst  einen  Dichter  genannt, 
der  sich  „meistens  von  komplizierten  Impulsen 
anregen  läßt,  die  er  bei  rhythmisch  lebhaftestem 
Tempo  in  unvermutet  einfachen  Zusammenklang" 
zu  setzen  weiß.  Er  hat  diese  Impulse  auch  in  un- 
vermutet einfache  Formen  gezwungen. 

Denn  ihm  ist  ein  besonderer  Sinn  für  poetische 
Architektur  zu  eigen,  der  sich  vom  Aufbau  einer 
Strophe  an  bis  in  die  kunstvolle  Anordnung  seiner 
Gedichtbände  erstreckt  und  in  den  „Zwei  Men- 
schen" seinen  höchsten  Ausdruck  findet.  Sehn 
wir  von  diesem  Roman  und  von  seinen  Dramen 
ab,  so  sind  hier  vor  allem  die  beiden  Oratorien  zu 

55 


nennen,  die  mit  bedeutendem  Unrecht  für  schwer 
ausgegeben  werden.  Durch  sinnliche  Gliederung 
und  schlichte  Allegorie  wird  hier  das  metaphy- 
sische Problem  eindringlich,  bildhaft,  federleicht. 

Diese  beiden  Chorwerke  sind  an  Wert  schwer 
abzuwägen.  In  der  „Lebensmesse"  fand  Dehinel 
jenes  Stichwort  für  sein  Grundgefühl:  der  Mensch, 
der  dem  Schicksal  gewachsen  ist.  Dieser  Refrain 
würde  das  Werk  schon  formal  über  die,,  Vollendung" 
erheben,  wenn  es  weniger  anekdotisch  wäre  (die 
Waise,  die  beiden  Sonderlinge);  auch  wird  der 
Held  nicht  so  deutlich  wie  in  „Eines  Tages"*. 

Vollends  in  seiner  Prosa  hat  Dehmel  die  ein- 
fachste Form  gesucht. 

Man  fragt:  Ist  es  nicht  von  vornherein  absurd, 
daß  der  Rhapsode  Prosa  spricht  ?  Es  ist  vielmehr 
ein  erneuter  Beweis  für  das  intermittierend  Ge- 
dankliche in  Dehmel. 

Der  minder  wichtige  seiner  Prosabände  ist  der 
Band  Novellen  (Werke  VII),  ohne  die  Dehmel  und 
die  deutsche  Novelle  unverändert  bleiben  würden. 
Nur  eine  monologische  Stimmung  —  zu  Unrecht 
Novelle  genannt  — :  „Der  Menschenkenner  und 
sein  Gleichgewicht"  ist  von  Gewicht.  Wie  hier  die 
Stimmung  der  Trauer  um  den  toten  Volksmann 
in  die  Melancholie  von  Genua  —  und  wieder  in 
das  innere  Zittern  des  Menschenkenners  übergeht  : 

*  Völlig  ins  Mythische  ist  erst  die  wunderbare  „Schöpfungs- 
feier" erhoben,  in  Dehmels  letztem  Gedichtband  („Schöne 
wilde  Welt"). 

56 


dies  alles  ist  voll  von  heimlichem  Rhythmus,  die 
erzwungene  Nüchternheit  des  Bandes  ist  durch- 
brochen, die  letzten  Seiten  sind  im  Grunde  Verse. 
Auch  der  „Wettlauf"  ist  merkwürdig,  wiederum 
weil  er  keine  Novelle  ist,  sondern  visionäre  Skizze. 
Unter  den  Märchen  (Werke  VI)  scheint  nur  das  vom 
Maulwurf  ganz  gerundet,  weil  dies  allein  in  eine  ein- 
fache Realität  ausmündet,  von  der  es  heimlich  aus- 
gegangen und  die  in  allen  Einzelheiten  märchenhaft 
vorbereitet  wurde.  Hier  treibt  einmal  der  Dichter 
kein  Spiel  mit  Symbolen,  nötigt  uns  nicht,  fort- 
während Bild  und  Deutung  parallel  zu  verfolgen. 
Eine  Geschichte,  höchst  simpel,  wird  erzählt :  plötz- 
lich kommt  am  Ende  das  Wort  Maulwurf  —  und 
ein  Märchen  strahlt  auf,  groß  wie  eine  Fabel.  (Der 
„alte  Wodtke"  wäre  ein  rechtes  Märchen,  war'  er 
nur  weniger  breit  geraten.) 

Dann  hat  der  Dichter  einen  Band  „Betrach- 
tungen" (Werke  VIII)  geschrieben:  so  knorplig, 
gründlich  und  schwerflüssig,  daß  man  sie  besser 
Traktate  nennt.  Schwer  ringt  sich  hier  der  Ge- 
danke zur  Klarheit  auf. 

Dehmel  weiß  sehr  wohl,  wie  alles,  was  er  darin 
schreibt,  nur  nachträglich  erklären  will,  was  ihm 
der  Genius  längst  willig  eingegeben.  Dies  Buch 
ist  eines  der  deutschesten  Dokumente.  Es  scheint 
ausschließlich  dazu  zu  dienen,  daß  sich  ein  Dichter 
mit  sich  selber  auseinandersetzt.  Manches  ist  um- 
gebogen, übergebogen,  zuweilen  verbogen,  und  es 
ist  amüsant  zu  belauschen,  wie  er  gelegentlich  seine 

57 


eigene  Gründlichkeit,  wie  er  diesen  Reiterstiefel-Stil 
höchst  zierlich  ad  absurdum  führt.  In  seinem  spiri- 
tistischen Dialog  mit  Goethe  läßt  er  diesen  auf 
Goetheische  Manier  sprechen  und,  da  ihm  dies 
vollkommen  glückt,  wird  der  Unterschied  mit  der 
eigenen  Prosa  verräterisch  deutlich.  Überhaupt  ist 
dieser  Dialog  (über  „Naivität  und  Genie")  darum 
stilistisch  der  reinste,  weil  sich  der  Zivil  tragende 
Dichter  hier,  in  so  hoher  Gesellschaft,  unwillkürlich 
respektvoll  zurückhält.  Nur  hier,  dialogisierend, 
und  dort,  wo  er  zu  einer  Menge  spricht  („Hörer 
und  Dichter",  „Der  Wille  zur  Tat") :  wo  er  also 
dem  Dramatischen  oder  Rhapsodischen  sich  wieder 
nähert,  wird  seine  Prosa  genußreich. 

An  andern  Stellen  stört  grade  das,  was  seinem 
Dichterpathos  so  reine  Strahlen  gab :  der  Stolz  des 
Ich,  der  Reiz  des  Neubeginnens,  Weltgefühl  und 
Ahnung,  an  einem  neuen  Anfang  zu  stehn.  Und 
wenn  der  Kulturforscher  Dehmel  auf  den  Tisch 
schlägt  und  Erkenntnisse  wünscht  und  logische 
Schlüsse  will,  die  wir  längst  haben,  so  wird  der  Ein- 
druck peinlich.  „Aristoteles  und  Gefolge  in  Ehren", 
beginnt  einer  seiner  Traktate,  „aber  wenn  die  Kunst- 
wissenschaft nicht  ewig  leeres  Stroh  dreschen  will, 
dann  muß  sie  endlich  bis  auf  den  Grund  mit  dem 
alten  Aberglauben  aufräumen,  als  wolle  oder  könne 
die  Kunst  die  Natur  nachahmen."  (Sind  unsere 
Ästhetiker  denn  noch  immer  Naturalisten  ?) 

Dehmel  hält  offenbar  den  Essay  für  eine  Form, 
in  der  man  Dinge  zu  Ende  denkt.   So  überschätzt 

58 


und  unterschätzt  er  gleichermaßen  diese  Form. 
Weniger  starke  Dichter  als  er  haben  sie  sehr  dich- 
terisch durchströmen  lassen ;  während  stärkere  Den- 
ker als  er  wohl  wissen,  daß  man  keinen  Gedanken 
zu  Ende  denkt.  Dehmel,  vielleicht  im  Vorgefühle, 
daß  er  dem  Gedanken  nicht  gewachsen  sei,  will 
ihm  Gewalt  antun,  indem  er,  im  Ablauf  einer 
Stunde,  mit  ihm  „ins  Reine  kommen"  möchte. 
Je  freier  er  sein  Gefühl  im  Kosmos  schwärmen 
läßt,  um  so  härter  faßt  er  den  Gedanken  an.  Es 
ist,  als  erzöge  er  dieses  schwächere  seiner  Kinder 
doppelt  streng,  aus  Furcht,  es  zu  sehr  zu  lieben. 
Dennoch  sollte,  wer  diesen  Dichter  ganz  be- 
greifen will,  durchaus  dies  Buch  studieren,  sei 
es  auch  nur  als  Kommentar.  Das  schlimmste  wäre 
immer  noch,  er  legt  es  fort  und  lächelt  mit  Deh- 
mels  Distichon: 

„Stets  enteignet  der  Mensch  sich  selbst,  je  eigner  sein  Wille; 
was  sein  innerster  Trieb,  äußert  sich  lehrhaft  als  Zweck." 

Halten  wir  beim  Distichon.  Es  leuchtet  ein, 
daß  dieser  gedankenhaft  irritierte  Dichter  das 
Epigramm,  den  Spruch  wie  ein  Ventil  anfaßt, 
um  im  Sturm  ergriffener  Gefühle  seiner  stets  be- 
reiten Logik  Luft  zu  machen.  Bedrängt  vom 
Kampf  des  Bewußtseins  mit  der  Ekstase,  hält  er 
in  seinen  Sprüchen  gern  die  reine  Mitte. 

Hier,  vor  dem  wachesten  Denken,  muß  denn 
auch  sein  lyrischer  Formtrieb  schweigen:  in  allen 
Versformen  schuf  Dehmel  sich  Eigenheiten  und 
verwandelte  die  Überlieferung,  —  nur  nicht  im 

59 


Epigramm.  Alle  seine  Sprüche,  wenn  sie  nicht 
grade  Distichen  sind  oder  sonst  antiker  Form  sich 
nähern,  haben  die  Form  von  Goethes  Sprüchen 
angenommen. 


MYTHISCHE  GEGENWART 

„Eigenes  Leid  und  fremde  Klage, 
einst  wird  alles  schöne  Sage." 

Rembrandt,  der  dunkel  umwitterte  Prosaist, 
ward  nicht  müde,  seine  Inbrunst  immer  wieder 
hinter  mythischer  Maske  zu  verbergen;  er  wählte 
vor  allem  die  Fabeln  der  beiden  Testamente. 

Dehmel,  der  hellsüchtige  Pathetiker,  weicht  dem 
überlieferten  Mythos  auf  erstaunliche  Weise  aus. 

Jener  liebte  das  Bild  der  Seele  im  Gewände  der 
Vergangenheit,  dieser  liebt  es  im  Kleide  der  Gegen- 
wart. Stofflich  gemeinsam  ist  diesen  dämonisch 
verwandten  Geistern  nur :  immer  wieder  die  Welt 
im  Spiegel  des  Ich  darzustellen. 

Was  scheint  natürlicher  für  den  Rhapsoden, 
für  den  Pathetiker,  als  daß  er  immer  wieder 
zum  Mythos  griffe?  Aber  in  vier  Bänden  Deh- 
melscher  Gedichte  finden  sich  knapp  zwölf,  die 
einen  Mythos  gestalten,  und  diese  sind  —  wie  bei 
Rembrandt  —  fast  alle  den  beiden  Testamenten 
entnommen;  meist  dem  Neuen,  Jesu  Gestalt  um- 
kreisend. Im  ganzen  Umkreis  seines  Werkes  hat 
Dehmel  nur  zweimal  einen  unchristlichen  Mythos 

60 


dargestellt  (Prometheus  und  Das  Urteil  des  Paris). 
Daß  zuweilen  antike  Splitter  sich  in  christlichen 
Stoffen  finden  (Lucifer,  Jesus  und  Psyche)  ist  zu  be- 
dauern, ändert  aber  theoretisch  nichts.  Doch  kann 
und  mag  dieser  Dichter  nicht  schlicht  den  Mythos 
rhapsodieren.  Mit  geheimnisvoller  Geste  wendet 
er  ihn  immer  neu.  Denn  immer  wird  ihm  der 
Mythos  zur  Gegenwart,  sei  es  auch  um  den  Preis, 
am  Sakrosankten  als  ein  Moderner  zu  freveln. 

Der  psychische  Grund  für  dies  ästhetische  Phä- 
nomen: Dehmel  ist  kein  Idealist.  Seine  pathe- 
tische Idealität  darf  man  nicht  mit  Idealismus 
verwechseln.    Er  selbst  hat  das  schlagende  Wort 

geformt : 

„Was  ist  ein  Ideal? 

Dem  Weisen  eine  Not, 

dem  Helden  eine  Qual, 

den  Schwätzern  Himmelsbrot." 

Wie  hilft  sich  nun  dieser  Zukunfts-Süchtige,  der 
dem  Vergangenen  mißtraut,  dieser  Pathetiker  des 
gegenwärtigen  Lebens  ?  Denn  er  braucht  mythische 
Komplexe;  er  wäre  denn  kein  Pathetiker. 

Dehmel  wandelt  sich  die  Gegenwart  selbst  zum 
Mythos.  Das  macht  ihm  manchen  Feind.  Mit  heili- 
gem Eifer,  aus  ethischem  Starrsinn  führt  der  Dichter 
einen  ästhetisch  aussichtslosen  Kampf,  dessen  Motiv 
etwa  die  Worte  des  Pylades  beschreiben : 

„.  .  .  .  Wir  möchten  jede  Tat 
so  groß  gleich  tun,  als  wie  sie  wächst  und  wird, 
wenn  jahrelang  durch  Länder  und  Geschlechter 
der  Mund  der  Dichter  sie  vermehrend  wälzt." 

61 


Dehmel  schließt:  Alle  Kunst,  die  „Selbstzweck" 
ist,  bleibt  unfruchtbar;  l'art  pour  Part  ist  ein 
„echter  Auswuchs  einer  Zeit  voll  prätentiöser  Par- 
venüs, die  es  sehr  nötig  haben,  vornehm  zu  tun." 
(sie!).  Die  Gestalten  der  Kunst  müssen  Vorbild 
werden,  Volkseigentum,  Symbol:  so  sehr,  daß  sie 
das  Volk  auch  fühlt,  ohne  sie  zu  kennen  (Achil- 
leus,  Faust,  Don  Juan). 

Diese  ästhetische  Überzeugung  ist  nur  ein  Korre- 
lat seiner  ethischen :  wie  sich  die  Dichterseele  ganz 
in  die  Welt  auflösen  möchte,  so  will  sie  ihr  Werk 
ganz  ins  Volk  auflösen.  Weil  dieser  Visionär  im 
Alltäglichen  das  Ewige  schaut,  will  er,  daß  es  auch 
die  Andern,  daß  sie  es  heut,  sogleich  als  das  Ewige 
empfinden.  In  300  Jahren  —  meint  er,  und  wir 
zweifeln  —  wird  Tolstois  Name,  werden  Strind- 
berg  und  Ibsen  so  mythisch,  so  rein  dichterisch 
wirken,  wie  heute  schon  Napoleon.  Also  setze  ich 
ihre  wirklichen  Namen  in  den  Glanz  meiner  un- 
wirklichen Rhapsodien;  sub  specie  aeternitatis. 

Ein  Rest  von  sogenanntem  „Naturalismus"  (von 
dessen  Zeitgenossenschaft  man  auch  dem  jüngeren 
Dehmel  wahrlich  nicht  viel  anmerkt)  mag  diesen 
Irrtum  in  ihm  pflegen  helfen.  Dennoch  wäre  er 
wohl  romantisch  genug,  jene  Namen  zu  ver- 
schweigen,  wenn  sie  Meyer  und  Müller  hießen. 

Ein  Lieblingswort,  das  er  durchaus  mythisch 
empfunden  wissen  will,  das  ist  Berlin.  Wird  je 
Berlin  von  mythischem  Fluidum  umrauscht  sein, 
wie    Rom    und    wie    Athen  ?     Warum    Madrid  ? 

62 


Warum  nicht  London?  Warum  nicht  Magde- 
burg? Warum  kann  Paris  sogar  ekstatisch  ge- 
sungen werden  (in  „Louise"  von  Charpentier)  und 
wird  stets  wirken,  als  war'  es  Bagdad  oder  Ninive  ? 
Ob  solche  Namen  dichterisch  wirken  oder  modern, 
liegt  häufig  mehr  am  Klange  als  am  Alter,  liegt  in 
ihrem  Rhythmus  mitbegründet  und  in  der  Stim- 
mung um  sie  her. 

Darum  gelingt  dem  Dichter,  was  er  als  my- 
thische Gegenwart  empfunden  wissen  will,  doch 
nur  zuweilen;  etwa  in  der  Stelle  der  „Venus 
Occulta": 

„Nur  auf  deinen  schwarzen  Haaren 

flimmern  noch  die  Purpurfunken 

deines  Hutes  aus  Paris, 

rot  wie  unsre  Lippenpaare  .  .  ." 

In  diesem  Gedicht  ist  alles  phantastisch  umhüllt; 
das  ominöse  „Berlin",  das  in  ein  früheres  Gedicht 
wie  eine  Klingel  fuhr,  wird  verschwiegen  und  durch 
ein  einziges  Wort  zum  Mythos  erhoben: 

„Diese  tote  Stadt  ist  Babel, 
und  ihr  blasser  Dampf  umspinnt 
eine  tausendjährig  trübe  Fabel." 

Ebenso  müht  sich  Dehmel  um  die  poetische 
Reinigung  und  Erhebung  moderner  Errungen- 
schaften, Werkzeuge,  Fahrzeuge.  „Eine  Seefahrt 
—  argumentiert  er  —  kam  dem  Homer  hörenden 
Griechen  nicht  romantischer  vor  als  uns  eine 
Gletscherpartie;  der  ehern  dröhnende  Renn- 
wagen   nicht    poetischer    als    uns    das    stählern 

63 


blitzende  Zweirad."  Nun,  Seefahrt  und  Rennwagen 
waren  Hunderte  von  Jahren  alt,  als  Homer  sie  be- 
sang. Und  doch  macht  es  auch  hier  nicht  das  Alter 
allein.  Immer  war  der  Rennwagen  dem  Griechen 
Symbol,  wie  uns  das  Schwert  noch  heute;  aber  das 
Fahrrad  erinnert  uns  ausschließlich  an  Depeschen- 
boten. Freilich  können  Dinge  mythisch  werden, 
die  noch  ganz  neu  sind:  das  Flugzeug  wird 
gleichsam  mythisch  geboren;  die  Dampfmaschine 
erarbeitet  sich  diese  Ehre  nie  und  wird  nicht  ein- 
mal romantisch  werden  wie  die  Post  der  Guten 
Alten  Zeit. 

In  der  Ballade  vom  Bergmann  — „Ein  Märtyrer" 
—  stehn  die  neuen  Worte  Wahlruf  und  Genosse 
prachtvoll  da:  weil  sie  von  Natur  poetisch  sind. 
Dagegen  muß  es  jeden  —  den  Naivsten  wie  den 
Raffiniertesten  —  gründlich  stören,  wenn  im 
„Lucifer"  nach  der  Mutter  Gottes,  nach  Venus, 
Thanatos,  Saturn,  zwischen  Faunen  und  Mönchen, 
eine  Gruppe  moderner  Arbeiter  den  pantomi- 
mischen Aufzug  beendet  oder  wenn  ein  quasi- 
historischer Zug  von  Soldaten  nach  Söldnern, 
Landsknechten  und  anderen  mythisch  gewordenen 
Masken  zum  Schluß  Uniformen  des  zwanzigsten 
Jahrhunderts  vorführt. 

Zur  Poetisierung  solcher  Dinge  gehört  eine  ge- 
wisse Eleganz,  die  Dehmel  nicht  besitzt.  D'An- 
nunzio  —  zuweilen  auch  Liliencron  —  ist  imstande, 
das  modernste  Gerät  derart  für  den  poetischen 
Salon  zu  erziehen,    daß  es   im   Kreise   der   ehr- 

6+ 


würdigsten,  weißbärtigsten  Requisiten  mit  meta- 
physischer Verbeugung  anständig  auftreten  kann. 

Tief  in  seinem  Innern  liegt  dieser  Selbstbetrug 
des  Dichters  begründet.  Dehmel  ist  so  gewohnt, 
sich  selbst  mit  allem  Weltgefühle  den  andern 
hinzugeben,  daß  es  ihm  entgehen  muß,  wie  viel 
stumpfer  seine  Hörer  die  gemeinsame  Gegenwart 
begreifen.    Dichterschicksal. 

Nach  solchen  Irrtümern  muß  er  auch  die  Tu- 
genden seines  edlen  Eigensinns  ernten.  Manche 
Gestalten  des  letzten  Jahrhunderts  vermag  er 
mythisch  so  zu  durchfühlen,  mit  solcher  Sprach- 
kraft zum  Mythos  aufzurufen,  daß  sie,  kaum  ins 
Grab  gesunken,  noch  lebend  wie  sagenhafte 
Wesen  der  Vorzeit  vor  uns  stehn. 

Napoleon  glich,  als  er  lebte,  schon  einer  mytho- 
logischen Figur;  so  stellten  ihn  bereits  zu  seiner 
Zeit  die  Dichter  dar.  Rembrandt  ist  es  seit  langem, 
Goethe  wird  es  eben  jetzt,  und  Nietzsche  erreicht 
Dehmel  auf  dem  Umweg  über  die  poetische 
Zarathustra-Maske.  Dem  Bismarck  aber  hat  er, 
noch  da  er  lebte,  die  großen  Abendglocken  nach- 
geläutet. Im  Sturmwind  hebt  der  Dichter  das 
Ereignis  seiner  Absetzung  zum  Mythos  empor: 
dunkle  Glocken  umringen  den  Sohn  der  Macht: 

„Immer  hungrig, 

tief  auf  nach  Opfern 

stöhnt  der  Mund  der  Macht .... 

Bismarck,  graue  Klippe  du !  .  .  ." 

Ein  Jahr  nach  Bismarcks  Sturze  hat  er  diese  Rhap- 

5    Ludwig,  Richard  Dehmel  65 


sodie  veröffentlicht;  geschrieben  hat  er  sie  wohl 
in  den  kritischen  Tagen.  Neuerdings  hat  er  sie 
abermals  in  der  „Ballade  vom  Volk"  mythologisiert. 

Und  mit  einem  Male  gewahren  wir,  wie  nichts 
von  allem  sich  vorauswissen  läßt:  wie  die  Ent- 
wickelung  dem  Dichter  recht,  dem  Kritiker  un- 
recht geben  kann.  Denn  damals  wirkte  wohl  auch 
diese  Hyperbel  überspannt,  und  man  zuckte  die 
Achsel :  Ein  Minister  —  eine  graue  Klippe  ? 

Heute  schon,  nach  zwei  Jahrzehnten,  besingen 
ihn  so  die  Jünglinge,  wie  Dehmel  einst  den  Leben- 
den besang. 


BAROCK 

Für  Wagner  hat  Dehmel  einmal,  in  einem  Briefe, 
das  schlagende  Wort  „Bastard-Barock"  erfunden, 
„kentaurische  Zwittergattung".  Und  seine  Lei- 
denschaft gegen  Wagner  mag  auch  der  Furcht 
vor  Verwandtschaft  entspringen. 

Dieser  Grundgefahr  jedes  visionären  Künstlers: 
barock  zu  werden,  ist  auch  Grünewald,  auch 
Dürer  nicht  entgangen.  Darum  hat  jenes  Wort 
in  Dehmels  Munde  einen  bedenklichen  Untersinn. 
Ehe  er  es  sichtete,  war  sein  Werk  reicher  an  Über- 
spannungen und  Unförmigkeiten  als  jetzt.  Immer- 
hin gibt  auch  jetzt  noch  „Venus  Mors"  dem  toll- 
sten Scheerbart  an  Barocke  nichts  nach.  Dies  Ge- 
dicht beginnt: 

66 


„Eine  rote  Feuerlilie  schreitet 
riesig  durch  die  Weltennacht" 

und  endet: 

„Eine  neue  Welt  entrollt  der  toten. 
Strahlend  quillt  sie  aus  dem  morgenroten, 
furchtbarn  Siriusliebestodesbrand." 

Auch  jenes  früh  gedichtete  „Heinedenkmal"  — 
das,  wie  so  vieles  Kommensurable  von  Dehmel, 
populär  geworden  ist  — ,  wo  um  den  Krankenstuhl 
des  Dichters  Knabe,  Greis  und  Jungfrau,  Schwein, 
Greif  und  andere  Utensilien  versammelt  stehn, 
möchte  man  sich  durchaus  nicht  gemeißelt  denken. 

In  einem  Werk  hat  sich  Dehmel  zum  Barock 
hin,  nicht  von  ihm  fort  entwickelt.  „Die  Ver- 
wandlungen der  Venus"  waren  ehemals  ein  längeres 
Gedicht.  Später  hat  sie  der  Dichter  zu  einem 
ganzen  Bande  ausgestaltet,  um  darin  seine  „Ver- 
strickung in  die  erotischen  Probleme  zu  entwirren." 
Zu  diesem  architektonischen  Zwecke  hat  er  eine 
Reihe  erotischer  Gedichte  aus  ihrer  schönen  Iso- 
lation gelöst,  verbunden,  neue  hinzugedichtet  und 
nun  eine  dreißig  Male  verwandelte  Venus  vorge- 
führt. Die  Folge:  manche  Gedichte,  ehedem 
wunderbar  einsam,  wirken  nun  wie  Nummern,  um 
die  der  Kompositeur  verbindende  Rezitation  ge- 
schlungen. Oft  bemerkt  man,  aus  wie  verschiedenen 
Lebensepochen  und  Stimmungen  diese  Nummern 
stammen.  Oft  bleibt  also  die  künstliche  Verbin- 
dung sichtbar  und  nimmt  dem  Werk  die  Ge- 
schlossenheit der  „Zwei  Menschen",  mit  denen  es 
konkurrieren  möchte. 

5*  6j 


Daß  wir  die  Beweggründe  des  Dichters  spüren, 
macht  den  Eindruck  nicht  besser.  Er  wollte  das 
Ganze  ins  Kosmische  heben.  Wirklich  gelingt  ihm 
hier  —  mit  Ausnahme  der  Ouvertüre  —  dieser 
Aufgang  vom  Realistischen  ins  Mystische,  wirklich 
scheint  dieser  nachtwachende  Seher  der  Liebe  wie 
mit  hängenden  Armen  durch  einen  Rauchfang  aus 
dem  Keller  zu  den  Sternen  aufzuschweben.  Wie 
wundervoll  folgen  manchmal  drei  oder  vier  Ver- 
wandlungen einander!  Wie  feierlich  stehen  die 
lateinischen  Namen!  Und  wie  barock  ist  den- 
noch diese  Symmetrie  aufgestellt,  wie  erdacht  dies 
Labyrinth,  —  in  dem  es  himmlische  Täler  und 
brausende  Berge  gibt. 

Viel  wagnerischer  sind  aber  Dehmels  Ver- 
schmelzungsgelüste. Berühmtestes  Beispiel:  das 
gefährliche  Gedicht  „Jesus  und  Psyche",  Phanta- 
sie bei  Klinger.  Der  Maler  hatte  diese  Geister 
schon  —  mit  sehr  verdächtiger  Gebärde  —  zu- 
sammengeführt; doch  der  Zusammenstoß  er- 
starrte, bewegungslos  blickten  sie  sich  an.  Über- 
dies blieb  das  Ganze  in  einem  tiefen  Moll,  das  die 
burleske  Note  dämpfte.  Dehmel  fängt  aber  vor 
dem  Bilde  zu  träumen  an,  spinnt  die  Mythen- 
verschmelzung weiter  —  und  läßt  am  Ende  mit 
Zimbeln  und  Flöten  Jesus  seine  Hochzeitsnacht 
mit  Psyche  feiern. 

Freilich  bleibt  alles  Barocke  bei  Dehmel  so 
gelegentlich,  wie  es  bei  Wagner  principium  war. 
Und  es  festigt  sich  in  solchen  Augenblicken,  da 

68 


man  diese  Künstler  nahe  beieinander  sieht,  die 
Erkenntnis :  wie  sehr  Richard  Wagner  dem  Richard 
Dehmel  an  Vielfalt  des  Genialischen  und  an  wilder 
Brunst  überlegen  ist;  wie  sehr  er  ihm  an  Wucht 
des  Visionären  und  reiner  Inbrunst  nachsteht. 

Wo  sie  am  nächsten  verwandt  erscheinen:  im 
Erotischen  sind  sie  grundverschieden.  Denn  das 
sind  durchaus  Correggios  Töne,  nicht  Wagners, 
in  denen  Dehmel  Aphroditen  schildert.  Und  mit 
Correggios  hold  geheimen  Mächten  dichtet  er  den 
Zusammenstoß  der  Geschlechter. 

Um  ganz  die  große  Kluft  zu  spüren,  diesseits 
welcher  Wagner  noch  barock,  jenseits  welcher 
Dehmel  schon  befreit  erscheint,  vergleichen  wir 
zwei  inhaltlich  synonyme  erotische  Passagen:  aus 
Siegfried  und  aus  Venus  Creatrix,  das  von  allen 
Dehmelschen  Gedichten  das  wagnerischeste  ist. 

Wagner:     „Göttliche  Ruhe 

rast  mir  in  Wogen; 

keuschestes  Licht 

lodert  in  Gluten  .  . . 

Wie  des  Blutes  Ströme  sich  zünden; 

wie  der  Blicke  Strahlen  sich  zehren; 

wie  die  Arme  brünstig  sich  pressen  — 

kehrt  mir  zurück 

mein  kühner  Mut." 

Dehmel:     „Und  Brust   an  Brust   gedrängt    von    blendenden 

Schauern, 
von  goldenen  Dunkelheiten  weit  umwölkt, 
wiegen  uns  fernhintastende  Schwingen 
Schoß  an  Schoß  hinüber 
in  die  Gärten  der  Ewigkeit." 

69 


DER  SPIELER 

„Nimm,  vernimm  und  frag'  nicht  viel, 
tiefster  Ernst  wird  höchstes  Spiel; 
sieh  nur,  mit  dem  Schmerz  der  Zeit 
spielt  die  ewige  Seligkeit." 

Es  war  nur  halb  im  Scherz,  als  der  Dichter 
einmal  von  sich  sagte:  „Wenn  ich  noch  eine  ge- 
wisse Leichtigkeit  des  Ausdrucks  hätte,  wäre  ich 
ein  Genie  ersten  Ranges.  So  bin  ich  eigentlich 
nur  ein  geniales  Monstrum." 

Eine  Metapher,  der  wir  ihn  überlegen  wissen. 
Dennoch  der  Ausdruck  einer  schweren  Natur,  die 
die  leichtere  mit  edler  Eifersucht  betrachtet.  Jene 
Göttin,  von  der  er  die  leichte  Sandale  erfleht, 
würde  er  nie  seine  Geliebte  nennen,  nur  „seit  ewig 
bist  du  meine  Braut". 

Doch  ist  dies  nicht  die  dumpfe  Sucht  eines 
Nachtalben  nach  dem  Lichte,  noch  ist  es  Strind- 
bergs  Sucht  zur  Heiligkeit.  Aus  sich  heraus,  für 
immer  weg  von  sich  in  andere  Gestalt,  kann  sich 
ein  Mann  nicht  sehnen,  der  sich  selbst  so  willig 
hingegeben  lebt.  In  Dehmel  atmet  kein  Wille  zur 
Leichtheit;  nur  ein  Wunsch. 

Und  so  gestaltet  er  diesen  Wunsch  nicht  in  ge- 
dehnter Klage,  nach  Art  der  Romantiker;  nur  im 
Spiele,  in  Spielen.  Zuweilen  nämlich  nimmt  der 
Dichter  seinen  Visionen  die  großen  Traumflügel  ab 
und  bindet  ihnen  kleine  Engelsschwingen  an.  Kaum 
aber  will  er  sie  in  die  Luft  entlassen,  —  da  senkt 

70 


sich  wieder  seine  Schwere  auf  sie  nieder.  Da  heischt 
sein  Formwille  wieder  von  ihm,  die  phantastischen 
Seifenblasen  einzufangen  und  in  Erz  zu  gießen. 

So  entstehen  Dehmels  Pantomimen:  Gebilde, 
entzückend  an  Phantastik;  beängstigend  an  Bedeu- 
tung und  Symbol;  einProblema  für  den  Regisseur. 

Dehmels  Liebe  zur  Pantomime  ist  unglücklich: 
nicht,  weil  ihn  die  Pantomime  nicht  wieder  liebte; 
nur  weil  sie  seine  besten  Dichterkräfte,  noch  eben 
im  Blauen  schweifend,  fest  bindet  an  die  Physiologie 
des  Beleuchters,  des  Schnürbodens,  der  Versenkung. 

Warum  schweigst  du  ?  fragt  den  Dichter  der 
Kenner,  wenn  er  120  Seiten  „Lucifer"  gelesen  hat, 
die  nichts  enthalten  als  Regiepläne  eines  Spieles 
ohne  Worte,  das  vorher  auf  15  Seiten  in  holder 
Wirrnis  und  in  kluger  Ordnung  vorgeträumt  ward. 
Wie  groß  muß  —  schließt  aber  der  Kenner  — 
dein  Reichtum  sein,  wenn  du  noch  wortlos  wirkst, 
deiner  eigensten  Kunst  beraubt.  „Lucifer"  ist  als 
phantastisches  Barock  so  reizend,  wie  , Jesus  und 
Psyche"  gefährlich  war.  Mag  immerhin  auch  hier 
eine  goetheische  Verschmelzung  antiker  und  christ- 
licher, sagen  wir  einmal:  naiver  und  sentimen- 
talischer  Dichtung  gedacht  sein,  —  wir  sehen 
nur  ein  Spiel  und  folgen  willig.  Dehmel  selber 
würde  wohl  die  Bedeutung  dieses  Spieles  in  die 
Mitte  der  Betrachtung  rücken. 

Griechische  Thyrsosstäbe  und  der  Apfelbaum  des 
Paradieses,  darwinische  Affen  und  glorreiche  Amo- 
retten, Saturn  und  Thanatos,  Venus,  Mönche  und 

71 


Lucifer :  und  alles  gruppiert  sich  um  die  Mutter  mit 
dem  Kinde.  Ein  Gläubiger  —  Christ  oder  Heide, 
Neuplatoniker  oder  Monist  —  begänne  im  Theater 
zu  zischen;  der  fromme  Christ  alarmierte  die  hohe 
Polizei,  wenn  er  am  Ende  Lucifer  und  Venus  an  der 
Strahlenkrone  der  Madonna  die  erloschenen  Fackeln 
neu  entzünden  sähe  und  hörte  dabei  einen  „Chorus 
mysticus"  die  optimistische  Synthese  singen: 

„Kyrie  eleison, 

Herr  erbarme  dich  liebreich, 

Lucifer ! 

Allerbarmerin  Venus 

folgt  dir  in  das  Lichtreich, 

wo  die  Mutter  mit  dem  Kinde  thront." 

Uns  stören  solche  dogmatischen  Kombinationen 
nur;  aber  sie  verschwinden  hinter  dem  phantasti- 
schen Rankewerk,  das  uns  entzückt:  Amor  sitzt 
einsam  unter  dem  Kreuze,  den  dumpfen  Himmel 
anstarrend.  Oder :  Nach  Lucifers  Versöhnung  mit 
Venus,  wenn  alle  Paare  müder  und  müder  nieder- 
gesunken, kommt  Saturn  mit  seiner  Sense,  die 
Sanduhr  leuchtet.  Nachtschmetterlinge  flattern 
her  und  nehmen  den  Schlafenden  die  Kränze  ab. 
Dann  geht  er  wieder  in  die  Finsternis,  von  Amor 
und  von  Thanatos  geleitet  .  .  . 

In  ähnlichen  Formen  bewegen  sich  „Fitze- 
butze",  „Die  Gottesnacht";  am  reinsten,  wenn 
auch  minder  reich  „Die  Völkerbrautschau".  Dies 
Spiel  —  wie  für  Dalcroze  geschaffen  —  ist  kürzer 
und  hat  den  sinnreichen  Ausweg,  einen  unsicht- 

72 


baren  Kinderchor  in  kleinen  Versen  Handlung 
und  Deutung  singen  zu  lassen. 

Sein  Sinn  für  Spiele  hat  ihn  manches  Lied  und 
Spielzeug  für  Kinder  erfinden  lassen;  er  hat  darin 
seine  Anbetung  des  Kindes  vor  dem  Kinde  gleich- 
sam verheimlicht. 

In  Fitzebutze  (dem  Traumspiel)  schildert  er,  was 
Maeterlink — wohl  etwas  später— im,,  Blauen  Vogel" 
dargestellt  hat ;  und  man  bedauert,  daß  er  nicht  wie 
dieser  in  Worten  gedichtet,  daß  er  nur  szenisch  fabu- 
liert hat.  Von  den  Gedichten  wirken  manche  ber- 
linisch und  etwas  kleinbürgerlich;  andere  (Aurikel- 
chen,  Die  Schaukel)  wie  unbefangene  Kinderlieder; 
wieder  andere  (Das  richtige  Pferd)  schlagen  viel  zu 
sehr  ins  Heinesche  um,  als  daß  sie  für  Kinder  wären. 

Am  reinsten  verschmilzt  das  Erzieherische  mit 
dem  Dichterischen  im  ,,  Kleinen  Held",  wieder 
durch  das  Glück  eines  Refrains.  Da  faßt  der  Dichter 
die  ganze  Welt  wie  in  eine  Schachtel,  als  wäre  sie 
die  neue  Melusine;  man  schaut  hinein,  drinnen 
bewegt  es  sich.  Große  Buben  und  kleine  mögen 
hier  bildhaft  sehn,  was  es  für  sie  zu  tun  gibt  in 
der  Welt.  So  dient  es  zum  Sporn  und  zur  War- 
nung. Denn  die  modernste  Kinderfrage  erhält  hier 
eine  mythische  Antwort.  Man  muß  sie  singen, 
man  findet  gleich  selbst  eine  Melodie.  Hier  ist 
eine  Art  Volkslied  rein  erfunden :  jeder  kann  weiter 
dichten,  wie  er  mag*. 

#  In  der  Schweiz  liest  man  das  Gedicht  in  manchen  Schulen. 
Da  wollen  sie  alle  am  liebsten  Tierbändiger  werden ! 

73 


Manches  sinnlos  holde  Kinderspiel  hat  dieser 
Geist  erdacht.  Einmal  fiel  ihm  ein:  in  einem 
Kreis  von  Kindern  schreibe  jedes  ein  Hauptwort 
auf  einen  Zettel,  der  von  Hand  zu  Hand  geht; 
dann  bilde  jedes  Kind  aus  den  gesammelten  Haupt- 
wörtern rasch  eine  Geschichte. 

Voll  Andacht  setzte  sich  der  spielende  Dichter 
zu  den  Kindern.  Die  Wörter  lauteten  zum  Beispiel : 
Vogel,  Fenster,  Pfauenauge,  Leuchtturm,  Palme, 
Buch,  Springbrunnen,  Spieldose,  Dichter,  Kaiser. 
Ein  Kind  schrieb :  „Es  war  einmal  ein  Kaiser,  der 
hatte  einen  großen  Garten,  in  dem  war  ein  Spring- 
brunnen, eine  Palme,  ein  Vogel  und  ein  Pfauen- 
auge. Ein  Dichter  schrieb  ein  großes  Buch,  und 
in  dem  Buch  wurde  von  einer  Spieldose  erzählt. 
Und  der  Kaiser  sah  zum  Fenster  hinaus  und  war 
frohen  Mutes.  In  der  Ferne  aber  sah  man  einen 
Leuchtturm." 

Der  spielende  Dichter  schrieb:  „Neben  dem 
Leuchtturm  stand  eine  Palme.  Darunter  saß  ein 
Mann  und  las  ein  Buch.  Da  flog  ein  Pfauenauge 
vorbei,  und  von  dem  Fenster  des  Leuchtturmes 
her  kam  ein  Vogel  und  verfolgte  den  Schmetter- 
ling. In  diesem  Augenblick  begann  im  Innern 
des  Turmes  eine  Spieldose  zu  klingen,  so  ent- 
zückend wie  ferner  Springbrunnenklang:  so  daß 
der  Mann  von  dem  Buch  aufsah,  —  und  der  Vogel 
verschlang  den  Schmetterling.  Da  dachte  der 
Mann,  der  das  mit  ansah:  Weil  ich  ein  Dichter 
bin,  möchte  ich  sterben  wie  dieses  Pfauenauge; 

74 


wenn  ich  aber  ein  Kaiser  wäre,  möchte  ich  leben 
wie  dieser  Vogel." 

.  .  .  Wir  lauschen  noch.  Wir  sehn  ihn  noch 
unter  den  Kindern  sitzen,  lächelnd  und  einsam. 

Da  klingen  von  ferne  die  Stimmen  der  Mädchen 

aus  „Venus  Regina": 

„Kannst  du  schweben? 

Aus  dem  Tal  der  Einsamkeiten, 

wo  die  Kräfte  sich  erheben, 

ruft  das  Leben 

heim  zum  Wettspiel  die  Befreiten  .  .  .  ." 


DRAMATISCHES 

Balladen  sind  Versuche  des  Lyrikers,  sich  in  das 
dramatische  Himmelreich  einzuschleichen. 

Und  bei  den  Balladen  fängt  Dehmels  drama- 
tischer Impetus  an;  nicht  bei  seinen  Pantomimen, 
die  nur  gespielte  Träume  sind,  Visionen  mit  Be- 
wegung, ohne  Worte. 

Was  Dehmels  Balladen  vom  Dramatischen  ab- 
drängt, ist  das  Stück  Romanze,  das  in  vielen  steckt; 
etwa  in  der  wundervollen  Dichtung  von  der 
Rose,  dem  Falter  und  dem  Licht.  (Werke  I,  16). 
Andres  darin  treibt  zum  Dramatischen  hin,  und 
merkwürdig  oft  zum  Tragischen.  Nirgends  im 
gesamten  Umkreis  seiner  Dichtung  hat  Dehmel, 
dieses  antitragische  Gewissen  seiner  Zeit,  —  nur 
in  den  Balladen  hat  er  sich  dem  Tragischen  ge- 

75 


nähert.  Der  Rächer,  Die  Buße,  Die  Magd,  — 
und  hier  lehnt  er  sich  auch  anfangs,  wie  ungewiß 
auf  ungewohntem  Boden,  an  überlieferte  Maße 
und  Formen  an. 

Doch  schon  die  Ballade  vom  Bergmann  führt 
er,  als  der  Märtyrer  ertrunken  ist,  am  Schlüsse 
ganz  in  prachtvolles  Dur: 

„O  rauher,  o  rauher,  mein  rauhes  Lied! 

Kein  Witwengewimmer,  kein  Weibgestöhn! 

Nach  Opfern  schreit  der  Sturm  im  Ried. 

Doch  bald:  dann  kommt  der  Frühlingsföhn, 

dann  schießt  in  Halme  die  junge  Saat, 

der  Tag  der  Auferstehung  naht!  .  .  .  ." 

Ähnlich  wird  er,  während  er  eben  noch  Napoleons 
Tragödie  aufrollen  wollte,  in  dem  herrlichen, 
„Anno  Domini  1812"  unversehens  ins  Männlich- 
Siegende  gerissen: 

„Und  es  war  ein  großes  schwarzes  Heer, 
und  es  war  ein  stolzer  kalter  Kaiser. 
Aber  unser  Mütterchen,  das  heilige  Rußland, 
hat  viel  tausend  tausend  stille  warme  Herzen; 
ewig,  ewig  blüht  das  Volk." 

Hinreißend  entwickelt  sich  aus  dem  Gange  der 
Handlung  selbst  dieser  Aufstieg  im  „Befreiten 
Prometheus". 

Zuweilen  rückt  er  —  wie  ein  dämonisch  brausen- 
der, szenisch  unbekümmerter  Grabbe  —  die  Ge- 
schehnisse in  ein  paar  Zeilen  zusammen,  um  dann 
wieder  ein  einzelnes  lyrisch  auszudehnen;  etwa  in 
„Venus  Homo"  (Der  Bastard),  unübertroffen  an 
Gedrungenheit.   Da  wird  in  je  einer  Strophe  ge- 

76 


schildert:   Erwachen  des  Nachtweibes;    Ankunft 
des  Sonnenfürsten;  Begattung;  Geburt. 

„Da  kommt  genaht  und  ist  schon  da 

Apoll  im  Sonnenwagen. 

Es  flammt  sein  Blick  den  Baum  hinan, 

die  Vampyrbraut  genießt  den  Bann 

mit  dürstendem  Behagen. 

Es  sehnt  sein  Arm  sich  wild  empor, 

vier  Augen  leuchten  trunken; 

das  Nachtweib  und  der  Sonnenfürst, 

sie  liegen  hingesunken." 

Auf  diesem  Höhepunkte  seiner  Balladen  wird 
Dehmels  große  Unähnlichkeit  mit  Schiller  aufs 
neue  deutlich,  mit  dem  er  irrig  verglichen  wurde. 
Knüpft  hier  der  Dichter  an  den  Dichter  an,  so 
kann  es  nur  die  Braut  von  Korinth  sein,  die  ihm 
vorgeleuchtet. 

Wäre  Dehmel  nichts  als  der  größte  Balladen- 
dichter seiner  Zeit :  grade  im  Ausbau  dieser  Form 
könnte  man  eine  Hinderung  für  ihn  erblicken, 
zum  Drama  fortzuschreiten.  Der  Auftrieb  zu 
seinem  furor  dramaticus  muß  tiefer  liegen. 

Dehmel,  von  so  vielen  Antithesen  geschüttelt, 
trägt  diese  unwillkürlich  in  seine  Werke;  nur  zu- 
weilen löst  er  sie  vorher  auf.  Oft  erscheint  sein 
kleinstes  Gedicht  so  straff  gespannt,  daß  es,  um 
drei  Worte  vermehrt,  das  Grundseil  zerreißen  und 
ins  Chaos  stürzen  würde.  Solche  Gedichte  sind 
keine  verkappten  Balladen;  vielmehr  verkappte 
Dramen.  Geladen  mit  dramatischer  Elektrizität, 
wollen  sie  allenthalben  den  Bannkreis  ihrer  Form 


77 


zersprengen.  Es  sind  dramatische  Visionen :  Ge- 
ständnis (Werke  I,  84),  Lebewohl  (II,  48),  Dunkle 
Gewalt  (III,  52),  Masken  (III,  116).  Die  dialo- 
gischen Gedichte  nähern  sich  schon  formal  dem 
Drama:  Nächtliches  Zwiegespräch  (III,  72),  Herr 
und  Herrin,  das  große  Duett  „Eines  Tages" 
(III,  147)  und  schließlich  jede  einzelne  der  hun- 
dertundacht „Romanzen",  die  die  „Zwei  Men- 
schen" bilden. 

In  15  Zeilen  rückt  das  „Erntelied"  mit  dem 
nämlichen  Riesencrescendo  an,  wie  die  „Macht 
der  Finsternis"  in  fünf  Akten. 

Hier  sind  zwei  kleinste  Gedichte;  ein  Erster  Akt 

in  acht  Zeilen: 

Vorspiel 
„Sie  ist  nur  durch  mein  Zimmer  gegangen 
und  hat  mir  scheu  von  Träumen  erzählt; 
und  ich  habe  sie  mit  Trost  gequält 
und  saß  und  starb  fast  vor  Verlangen. 

Sie  hat  geträumt  von  meinen  Händen: 

sie  aß  von  ihres  Mannes  Brot, 

da  kam  ich  an  und  drückte  sie  tot, 

sie  hielt  ganz  still  .  .  .  Wie  wird  das  enden  .  .  ." 

Und  ein  Letzter  Akt  in  vier  Zeilen: 

Finale 
„Da  hast  du  dich  von  meiner  Brust  gelöst. 
Doch  als  ich  fürchtete,  das  Fest  sei  aus, 
hobst  du  mir  meinen  Kranz  auf, 
meinen  Kranz  auf." 

Zweimal  hat  Dehmel  die  dramatische  Form 
selber  versucht.     „Michel  Michael"  ist  zwittrig 

78 


geblieben;  er  kommt  noch  von  der  Pantomime 
her,  statt  von  der  Ballade.  Der  Dichter  möchte 
hier  symbolischer  Naturalist  sein;  doch  er  bleibt 
Allegoriker  wider  Willen.  Beispiel:  Man  soll  ihm 
glauben,  Ekkehard  und  Kaiser  Rotbart  seien  wirk- 
liche vornehme  Herren,  die  nur  eben  auf  den  Mas- 
kenball gehn ;  aber  sie  wirken  als  Geister  (schon  durch 
die  Art,  spukartig  immer  Michels  letzte  Worte  zu 
wiederholen)  und  werden  sie  am  Ende  „Exzellenz" 
angesprochen,  so  greift  vollends  Unruhe  Platz. 

Dehmel  versucht  hier,  das  Bildhafte  und  das 
Symbolische  übereinander  zu  komponieren;  etwa 
wie  manZweifarben-Photographien  durch  Chromo- 
platten  herstellt.  Da  kommt  ihm  der  Traum  da- 
zwischen, doch  selbst  bei  Calderon  ist  niemand  ge- 
neigt, auf  der  Bühne  einen  Traum  von  der  Länge 
eines  ganzen  Aktes,  vollends  des  dritten  auszuhal- 
ten. Diese  Komödie,  die  das  Widerspiel  von  Maske 
und  Realität  als  Kunstmittel  benutzen  möchte, 
baut  sich,  statt  auf  doppelte,  auf  drei-  und  vier- 
fache Symbolik  auf;  das  verwirrt  die  Sinne. 

Noch  verwirrter  wird  die  Seele.  Wenn  mitten 
in  ihrer  grotesken  Träumerei  die  geträumte  Frau 
Venus  ihre  schönsten  Dehmelverse  spricht:  je 
schöner  sie  sind,  um  so  peinlicher  wird  dem  Hörer. 
Als  bei  der  ersten  Aufführung,  da  wir  das  Stück 
nicht  kannten,  die  Stelle  kam: 

„Sag,  Michel:  Ist's  Schmerz?  —  Ist's  Wonne?" 
da  stieg  manchem  Freunde  des  Dichters  ein  Angst- 
gefühl hoch. 

79 


Aber  im  ersten  und  letzten  Akt  tritt  dieser 
Michel  prachtvoll  vor.  Da  ist  er  eine  traumlos, 
spuklos  atmende  Landgestalt;  die  das  Grauen  vor 
der  Stadt  überkommt,  in  die  es  sie  zieht.  Schlau 
und  tumb,  in  mitmenschlichem  Ernste  steht  er  da, 
trägt  Züge,  birgt  Rhythmen:  wie  Bach,  der  Pro- 
testant. 

Was  im  „Michel  Michael"  allegorisch  zerronnen, 
das  ist  im  „Mitmensch"  psychologisch  versponnen. 
Dies  Drama  zeigt,  wie  ein  Lyriker,  aus  Furcht 
im  Drama  zu  lyrisch  zu  werden,  zu  epigramma- 
tisch werden  kann.  So  werden  die  Tugenden  dieses 
Stückes  (das  noch  mitten  in  der  naturalistischen 
Zeit  des  deutschen  Dramas  geschrieben  wurde) 
zugleich  seine  Schwächen.  Um  den  Lyriker  nicht 
zu  leidenschaftlich  zu  verraten,  verheimlicht  ihn 
der  Dichter  zu  sehr.  Karg  wie  von  Hebbel, 
deutlich  wie  von  Tolstoi,  ist  es,  statt  im  Sinne 
Ibsens  bürgerlich  symbolisch  oder  Strindbergs 
ausgehöhlt  zu  werden,  so  spintisiert,  daß  keine 
der  Wirkungen  erreicht  wird,  die  diese  vier  Dra- 
matiker mit  ähnlichen  Dingen  hervorgebracht 
haben. 

Vier  Akte  sind  hier  deutliches  Paradigma  für 
eine  Idee,  die  dann  im  fünften  kalt  ausgesprochen 
wird.  Das  kann  nicht  wirken.  Dieser  Konflikt: 
ein  Mensch  tötet  einen  andern,  um  einem  Dritten, 
den  er  liebt  —  noch  nicht  einmal  zu  helfen,  ist 
viel  zu  systematisch  ausgerechnet;  das  Publikum 
stutzt  und  fühlt  sich  für  seine  Atemlosigkeit  am 

80 


Schluß  enttäuscht.  Zudem  fällt  der  Schuß,  um 
den  das  Stück  geschrieben  ist,  erst,  als  der  Vorhang 
über  dem  letzten  Akte  sinkt,  statt  am  Ende  des 
vorletzten  zu  fallen,  und  die  Hörer  haben  weder 
Zeit  noch  Raum,  den  Schuß  zu  „deuten".  — 

Doch  kann  es,  im  Anblick  eines  so  großen 
Dichters,  die  Aufgabe  nicht  sein,  seine  Mißgriffe 
zu  begründen,  ohne  seine  Versprechungen  zu  er- 
weisen. 

In  beiden  Dramen  hat  Dehmel  dramatische 
Qualitäten  in  solchem  Grade  dargelegt,  daß  jeder 
in  ihm  den  Dramatiker  errechnen  könnte,  der 
diese  Qualitäten  zu  der  Grundkraft  seiner  Künst- 
lerschaft und  zu  den  Grundkräften  seines  Wesens 
addiert.  Nicht  was  er  als  Dramatiker,  grade  was 
er  als  Lyriker  geschaffen  hat,  birgt  ein  starkes 
dramatisches  Versprechen. 

Man  kann  einwenden:  dieser  typische  Rhap- 
sode wird  als  solcher,  als  Monologiker  stetig  vom 
dialogischen  Wesen  des  Dramas  abgedrängt.  Ist 
aber  Dehmel  Monologiker  ? 

„. .  .  Und  Schritt  für  Schritt  dies  dunkle  Du, 
es  scheint  von  Pol  zu  Pol  zu  sausen. 
Und  tausend  Worte  hör  ich  brausen 
und  schreite  stumm  der  Heimat  zu." 

In  diesem  Monologe  liegen  die  dramatischen  und 
die  antidramatischen  Elemente  Richard  Dehmels 
symbolisch  nebeneinander.  Der  Widerspruch  in 
seiner  Seele  drängt  zum  Drama,  Hingebung  hält 
ihn  auf.    Aber  jene  willige  Kampfesfreude,    die 

6    Ludwig,  Richard  Dehmel  8l 


sich  schon  vor  dem  Kampfe  ihres  trostreichen 
Sinnes  bewußt  ist:  der  Kämpfer  und  Spieler,  der 
an  Tyche  glaubt,  fühlt  sich  zum  untragischen 
Schauspiel  getrieben. 

Ergreift  er  jemals  einen  Mythos,  vielleicht  einen 
biblischen,  und  formt  ihn  ohne  Deutung,  wie  er 
ist :  so  kann  das  stärkste  Dokument  dieses  Lyrikers 
mit  einem  Mal  ein  Drama  sein. 


82 


III.  ZWEI  MENSCHEN 

„Steig  auf,  steig  auf  mit  deinen  Leidenschaften  . . .' 


Es  sind  zehn  Jahre,  wir  waren  Studenten;  die 
letzten  Formeln,  die  wir  vorgefunden,  hießen 
Schopenhauer  und  Tristan.  (Nietzsche  war  viel  zu 
limpido  für  unsere  zwanzigjährige  Dunkelheit.) 

Der  Freund,  der  alles  las  und  kannte,  hatte 
schon  seit  längerer  Zeit  sonderbare  Bruchstücke 
in  einer  großen,  seltenen  und  teuren  Zeitschrift 
verfolgt  und  uns  anvertraut:  ,,Dort  stehen  dunkle 
Gesänge,  Zwiegesänge.  Es  muß  etwas  Großes  sein. 
Alle  Worte  enden  auf  -ung.u 

Eines  Tages,  kaum  war  es  erschienen,  brachte 
er  dann  das  Buch  auf  -ung.  Das  war  in  dunkel- 
roten sonderbaren  Lettern  auf  dickes  graues  Papier 
gedruckt.  Auf  dem  Einband  stand  ein  unentwirr- 
bares Wappen.  Jeder  las  das  Buch  für  sich.  Als 
wir  uns  auf  der  Straße  trafen,  —  jeder  hatte  be- 
sondere Blicke  und  Worte,  verworrene,  entzückte, 
kühne  und  bange.  Jeder  fühlte :  eine  neue  Formel 
ist  gefunden. 

In  jugendlichem  Schwünge  zwangen  wir  sie  den 
armen  Eltern  auf.  Sie  zischten,  sie  lachten,  sie 
parodierten.  Aber  alle  sprachen  von  dem  Buch. 
Und  doch  war  dieser  geschlechtliche  Roman  in 

85 


ungenauen  Versen  —  wie  sie  ihn  spöttisch  — , 
dieses  Epos  in  Gesängen,  wie  wir  es  ehrfürchtig 
nannten,  in  keinem  Betrachte  „interessant".  Eine 
Handlung,  ziemlich  abgebraucht,  überdies  nur 
schwer  zu  entziffern.  Personen:  vakant,  denn  die 
beiden  Menschen,  die  allein  das  Buch  erfüllten, 
trugen  kaum  jene  Eigenheiten,  an  denen  man 
Romanfiguren  sich  merkt.  Alles  an  diesem  Buch 
schien  allgemein. 

Doch  noch  nie  war  uns  eine  Dichtung  so  ge- 
reicht worden.  Nummern,  fortlaufende,  anonyme 
Nummern  überall.  Eine  kerzengerade  Symmetrie 
befremdete,  ängstigte,  wirkte  mysteriös.  Nur  ein 
einziges  Gedicht,  so  zugeschnitten,  war  uns  be- 
gegnet :  das  war  Dante,  und  den  kannten  wir  kaum. 

Wie  bei  Dante  waren  hier  drei  Teile.  Wie  bei 
Dante  —  dreimal  dreiunddreißig  plus  Eins  — 
umschloß  jeder  Teil  gleich  viele  Gesänge.  Im 
Innern  aber  ging's  noch  symmetrischer  zu.  Jeder 
Gesang  hatte  gleich  viel  Verse.  Ja,  wir  bemerkten 
(mit  diesem  Buche  war  es  infernalisch  bestellt) : 
die  Zahl  der  Verse  jedes  Gesanges  glich  der  Zahl 
der  Gesänge  jedes  Teiles;  immer  waren  es  36. 
Vor  jedem  Teil  standen  12  Verse  als  Einleitung, 
—  das  waren  unversehens  wieder  36. 

In  jedem  Gesänge  tauchte  zuerst  eine  Land- 
schaft aus  dem  Dunkel  oder  auch  eine  Szenerie. 
Darin  stand  Mann  und  Weib,  in  modernen  Ko- 
stümen. Nun  erhob  eines  von  beiden  die  Stimme. 
Bewegung.     Die    Landschaft    kehrte    für    kurze 

86 


Augenblicke  wieder.  Dann  kam  die  Antwort. 
Dann  schmolz  Landschaft  und  Gespräch  zu  einer 
inneren  Bewegung  zusammen.  Zuletzt  fielen  die 
Worte:  Zwei  Menschen. 

Was  lag  im  Innern  dieses  verschnittenen  Gartens 
verborgen  ?  Die  Welt  zweier  Liebenden.  Hatten 
wir  dergleichen  nie  gesehn? 

Nie.  Alles,  was  wir  chaotisch  durchfühlt  und 
durchdacht,  was  wir  in  Kopf  und  Herzen  ge- 
wälzt :  zum  ersten  Male  lag  es  vor  uns  ausgebreitet, 
geordnet,  und  wie  in  sanft  bewegtem,  immer 
gleichen  Trabe  durcheilten  wir  auf  ebener  Straße 
die  Landschaft  unserer  Seele.  Gebettet  lag,  zu 
beiden  Seiten,  eingefaßt  in  reine  Marmorgrenzen, 
was  bisher  unwirsch  in  Trieben  auseinander  strebte. 
Nicht  Antworten  gab  uns  das  Buch;  was  lag  an 
Antworten.  Jugend  ist  viel  zu  ernst,  um  nur  zu 
fragen.  Es  gab  uns  Formeln  —  und  verflachte,  wie 
sonst  Formeln  pflegen,  die  Probleme  dennoch  nicht : 
Genius  und  Dämon,  Eros  und  die  Muse,  Wille  zur 
Macht  und  Fügung  in  das  Schicksal,  Dunkelheiten 
und  Entzückungen  des  Geschlechtes,  Verwirrung 
der  Sinne,  Entwirrung  der  Seele:  alles  schien  in 
dieser  Dichtung  auf  neue  Formeln  gebracht.  — 

Heut  wirkt  sie  anders.  Nicht  weil  die  Kraft 
unserer  Gefühle  gewachsen  —  wir  müssen  uns, 
nach  dem  Ernste  der  Jugend,  nur  hüten,  daß  sie 
nicht  kleiner  werde  — ;  nur  weil  der  Umkreis  von 
Erfahrung  und  Erkenntnis  wachsen  mußte.  Wir 
erweiterten  zudem  die  Kenntnis  der  Kunst,  der 

87 


Dichter  und  dieses  Dichters.  Geschmack  erwachte. 
Und  wir  folgten  Antonios  Rat:  „Vergleiche  dich! 
Erkenne,  wer  du  bist!" 

Und  doch  lebt  dieses  Werk  nach  einem  Jahr- 
zehnt noch  immer  in  uns,  ganz  allein,  ganz  ohne 
seines  Gleichen:  auf  einer  Insel. 


Hauptwerk.  Nicht  durch  geniales  Abweichen 
von  den  übrigen  hebt  es  sich  heraus,  vielmehr 
durch  glückliche  Vereinigung  der  besten  Züge 
aller  früheren;  somit  ist  es  dem  Kenner  nicht 
erstaunlich. 

In  den  „Zwei  Menschen"  geht  Dehmel  nirgends 
über  sich  hinaus;  weder  neue  Erkenntnisse  noch 
eine  überraschende  Fabel  wird  man  hier  finden. 
Das  Weltbild  bleibt  das  nämliche,  wie  wir  es  aus 
den  Gedichten  abgebildet,  die  „Fabel"  altbekannt 
und  ohne  Bedeutung.  Alles  liegt  auch  hier  begrün- 
det im  Geheimnis  einer  wahrhaft  bronzenen  Form. 

Schon  einige  Jahre  vorher  hatte  der  Dichter 
zwei  Zwiegespräche  gedichtet;  sie  standen  in 
„Weib  und  Welt".  Sie  fügten  sich  aus  einer  Land- 
schaft, der  Rede  eines  Weibes,  Bewegung  und 
wieder  Landschaft,  der  Rede  eines  Mannes;  end- 
lich Akkord  der  Landschaft  und  der  Seelen.  Beide 
Gedichte  erwiesen  sich  ihm  nachträglich  als  gleich 
gebaut  und  als  gleich  lang. 

Bald  darauf,  auf  der  Suche  nach  einer  neuen  Form 
für  ein  Epos,  las  der  Dichter  wieder  diese  Gedichte 

88 


—  und  sah  plötzlich,  daß  er,  ganz  unwillkürlich, 
die  rechte  Form  für  das  moderne  Epos  bereits  ge- 
funden, ,,die  seit  Goethe  und  Byron  vergebens 
gesuchte". 

Ebenso  unwillkürlich  rollte  alles  übrige  ab.  Nach 
dem  Plane  seines  Romans  fügte  er  Zwiegespräch 
an  Zwiegespräch,  unbefangen.  Man  hat  ihm  vor- 
geworfen, er  hätte  pedantisch  „abgezählt".  Dies 
wäre  wohl  das  Schlimmste  nicht.  Ottaven,  Disti- 
chen, Terzinen,  in  denen  Epen  sonst  gedichtet 
werden,  wollen  schließlich  ebenso  abgezählt  sein; 
Racine  führt  seine  Reime  von  einem  Akt  in  den 
anderen  hinüber;  die  Fuge  ist  beinahe  Mathe- 
matik, und  ein  vollkommenes  Sonett  hat  Nietz- 
sche das  vollkommenste  Gedicht  genannt,  weil 
es  den  Dichter  in  die  engsten  Fesseln  legt.  Was 
der  Bourgeoisie  als  Pedanterie  erscheinen  mag, 
ist  in  Wahrheit  höchste  künstlerische  Geschlossen- 
heit: ein  metallisches  Netz. 

Dehmel  hat  aber  nie  im  voraus  gezählt.  (Später, 
bei  Durchsicht  und  Niederschrift,  hat  er  zuweilen 
ergänzt  oder  gestrichen.)  Somit  muß  in  der  Form, 
die  Tyche  dem  Genius  reichte,  ein  organisches  Ge- 
setz verborgen  liegen.  Ein  einziges  Mal  —  erzählt 
er  —  konnte  er  mit  einer  Romanze  nicht  ins  Reine 
kommen ;  zwei  Zeilen  fehlten  ihr,  und  was  er  auch 
ergänzen  mochte,  nichts  wuchs  an.  Als  er  dann, 
sehr  verstimmt,  noch  einmal  das  Stück  überblickte, 
sah  er :  er  hatte  sich  bei  seiner  Prüfung  verzählt. 
Und  jene  beiden  Stücke,  die  er   ehedem   unab- 

89 


hängig  von  dem  Roman  geschrieben,  konnte  er, 
der  ewig  Ändernde,  wörtlich  in  sein  Werk  hinüber- 
nehmen (I,  I  und  I,  5). 

Alle  weitere  Symmetrie  —  Ablauf  der  Jahres- 
zeiten, Ablauf  des  Jahres  zwischen  den  Geburten 
zweier  Kinder  —  hat  dieser  poetische  Architekt 
mit  Willen  und  Bewußtsein  kunstvoll  aufgestellt. 
Auch  der  Titel  ,, Roman  in  Romanzen"  ist  wohl 
nur  des  Gleichklanges  wegen  da.  Das  Ganze  ist 
in  Wahrheit  eher  eine  Symphonie,  etwa :  Maestoso. 
—  Allegro  con  brio;  Largo.  —  Andante  sereno.  — 
Jeder  der  108  Teile  ist  gleichermaßen:  ein  musi- 
kalisches Duo;  eine  psychische  Landschaft;  eine 
dramatische  Szene. 

Jedes  Duo  —  älterer  Form  — ,  in  dem  eine 
Stimme  der  anderen  mit  Abwandlungen  folgt,  bis 
sie  am  Ende  harmonisch  verschmelzen,  wird  durch 
gewisse  wiederkehrende  Motive  und  durch  den  Re- 
frain am  Ende  mit  den  andern  verbunden.  Jede 
Landschaft  erregt,  ebnet  und  steigert  zugleich  die 
psychische  Stimmung,  die  selten  das  Primäre  im 
Dichten  gewesen  sein  mag.  Alles  ist  aber  so  ver- 
dichtet, so  risselos,  das  niemand  mehr  die  Ent- 
stehung spürt,  (besonders  in  den  Berglandschaften 
des  zweiten  Teiles).  Fast  jede  dramatische  Szene 
beschreibt  den  Weg:  Bewegung  —  Hohe  Stille  — 
Betrachtung  (Besondere  Beispiele:  I,  14,  17,  33). 

Weit  mehr.  Jede  Romanze  verschmilzt  in  sich 
völlig  organisch  das  Duo,  die  Landschaft  und  die 
dramatische  Szene.    Und  alle  Stücke  bilden  eine 


90 


ununterbrochene  Kette,  jedes  Glied  aus  dem 
vorigen  entwickelnd.  (Nur  sehr  selten  bemerkt 
man  die  künstelnde  Hand,  etwa  in  der  nicht  ge- 
lungenen Romanze  II,  27,  Übergang  zum  Meere). 

Hauptgrund  für  das  Gelingen  dieses  Werkes: 
Dehmel  hat  den  Denker  und  den  Dichter  in  sich 
verschmelzen  dürfen,  wiederum  nur  durch  das 
Geheimnis  der  Form.  Denn  diese  Art  Dialog,  in 
seiner  ganzen  Struktur,  mit  seinen  langen  und 
kurzen  Zeilen  gibt  Raum  dem  Dehmelschen  Pa- 
thos und  Raum  seinem  epigrammatischen  Geiste. 
Alle  früheren  Formen,  dem  Strom  der  Landschaft, 
des  Gefühls  geöffnet,  ließen  nur  unwirsch  ein  Ge- 
dachtes in  sich  ein.  Wird  aber  hier  ein  Geistiges 
zwischen  den  zwei  Menschen  erörtert,  so  zieht 
sich  das  Pathos  still  in  seine  Landschaft  zurück, 
während  der  Reden;  diese  selbst  aber  werden  frei 
für  epigrammatischen  Stil. 

Zweiter  Grund:  Die  Länge  und  Kürze  der 
Zeilen,  die  hier  mit  höchster  Souveränität  be- 
handelt werden,  schützte  Dehmel  vor  seiner  andern 
Gefahr.  Das  Höchste  und  das  Täglichste  —  beides 
durchaus  Elemente  seiner  Dichtung  —  ließ  sich 
gemeinsam  in  diese  Formen  spannen;  wie  etwa  in 
I,  9  und  I,  10  dem  Dunkelsten  das  Konventionell- 
ste folgt.  Wo  er  den  Ton  simpler  Konversation  be- 
nötigt, diesen  gewissen  bürgerlich-modernen  Ton, 
der  manches  Gedicht  gestört  hatte,  —  in  diese 
Zeilen,  diese  Reime  kann  er  ihn  fließend  fügen. 
Nur  im  dritten  Teil  ist  ihm  diese  Form  schon 


91 


so  gebräuchlich,  daß  er  manche  unnötigen  Natu- 
ralismen („Also")  an  den  Anfang  einer  Zeile  setzt. 
Endlich  mildert  diese  Form,  was  an  mythisch 
ungestaltbarer  Gegenwart  sich  hier  noch  findet. 
(„Banknoten"  sind  möglich,  „Braune  Lappen"  sind 
slang.  „Telephon"  in  1, 1 8,  trotz  seiner  Vorbereitung 
und  trotz  der  wunderbar  fallenden  Silben:  „ —  Es 
—  ist  —  blind"  ist  doch  als  Klang  nicht  bewältigt; 
die  „Radfahr jacke"  recht  entbehrlich).  Wo  er  ins 
Gegenteil  stürzt :  wo  er  vor  Ekstase  barock  wird  — 

„Nenn's  nicht  Wahnsinn,  nenn's  lieber  Ahnsinn" 
oder: 

„Ich  will,  muß,  willmuß  fliegen" 
oder: 

„O,  ich  war  ja  am  liebsten  mit  vier  Wagen 
nach  allen  vier  Winden  auseinander  gejagt" 

oder: 

„Dann  ist  der  Wahnsinn  eben  Seligkeit!" 

selbst  diese  Stellen  gehen  in  so  gefesselter  Form 
beinahe  auf. 

Das  bürgerliche  Geschehnis,  das  hier  geschildert 
wird,  besagt  nicht  viel.  Die  Fürstin  liebt  den 
Sekretär  ihres  Gatten,  von  dem  sie  ein  Kind  trägt. 
Sie  gebiert  es  und  tötet  es,  aus  Haß  gegen  den 
Gatten,  dem  Geliebten  zu  Liebe  und  weil  es 
blind  ist.  Der  Sekretär  entwendet  Papiere,  die  er 
als  Anarchist  benutzen  will.  Sie  fliehn.  Sie 
reisen.  Er  bricht  sich  die  Hand.  Seine  Frau  zu 
Hause  bringt  sich  um,  aus  Gram.   Nun  sind  sie, 

92 


er  und  seine  Geliebte  „quitt".  Er  stellt  die  Pa- 
piere dem  Fürsten  zurück.  Sie  läßt  sich  scheiden, 
bekommt  ihr  Vermögen.  Er  will  los  von  ihr,  spürt 
aber  plötzlich  die  elementare  Untrennbarkeit.  Er 
trennt  sich  von  den  Anarchisten.  Sie  gründen  ein 
Idealbergwerk  am  Rhein.  Da  wird  er  wegen 
früherer  Umtriebe  landesverwiesen:  grade  ehe  sie 
sein  Kind  zur  Welt  bringen  soll.  Sie  scheiden, 
vielleicht  für  kurze  Frist,  vielleicht  für  immer. 

Solch  flächenhaften  Inhalt  teilt  das  Werk  mit 
mancher  außerordentlichen  Dichtung.  Und  nur 
weil  diesem  Werke  sein  „geringer  Inhalt"  immer 
wieder  vorgeworfen  worden,  müssen  wir  die  ba- 
nale Antwort  erneuen:  daß  es  das  Amt  des  Dich- 
ters nicht  ist,  Handlungen  zu  erfinden;  daß  dies 
der  Mythos  für  ihn  tut,  die  Geschichte  und  die 
ordinäre  Realität;  daß  man  im  allgemeinen  sehr 
erfinderischen  Dichtern  fast  so  skeptisch  begegnen 
darf  wie  sehr  erfinderischen  Malern.  Je  größer  die 
bildnerische  Kraft,  um  so  geringer  meist  die  er- 
finderische; geläufigste  Beispiele:  Shakespeare  und 
Dante.  Sehr  wenige  Ausnahmen,  die  geläufigsten 
ersten  Ranges:  Goethe  und  Balzac. 

Vor  Homer,  behauptet  Dehmel,  haben  sicher 
ganze  Generationen  dieselben  Stoffe  gedichtet; 
ihm  aber  gelang  es  erst,  diesen  Stoffen  endgültig 
Form  zu  geben.  Genau  so  ständen  die  „Zwei 
Menschen"  zu  den  bisherigen  Romanen.  Meint 
er  die  bisherigen  Romane  der  letzten  Generation, 
so  ist  dies  ganz  die  Wahrheit ;  nirgends  sonst  findet 

93 


sich  solche  Konzentration  und  Gradlinigkeit  in 
der  Behandlung  des  modernen  „Stoffes". 

Man  hat  dem  Dichter,  im  Anblick  dieses  Inhaltes, 
auch  „Autobiographie"  teils  vorgeworfen,  teils  als 
„heilige  Schamlosigkeit"  verherrlicht.  Er  selbst 
besteht  aber  darauf,  grade  dort,  wo  ein  schlüpf- 
riges Publikum  nach  „Modellen"  stöbert,  er- 
finderisch oder  doch  kombinatorisch  und  selbst 
in  Zeitungsausschnitten  finderisch  gewesen  zu 
sein.  (Vergleiche  die  Anregungen  zu  gewissen 
graphischen  Zyklen  von  Klinger.) 

In  summa:  für  einen  Phantasten  wie  Dehmel 
ist  es  noch  immer  besser,  sich  eine  schmale  Ge- 
schichte zu  erfinden,  als  eine  faltenreiche  Kolpor- 
tage, wie  sie  Wilde  seinem  schönsten  Buch  unter- 
gelegt. Schließlich  sind  in  einem  Werke  vom  Range 
der  „Zwei  Menschen"  Physiologie  und  Psychologie 
wichtiger  als  die  Anatomie. 


Die  beiden  Menschen  sind  nicht  so  typisch,  wie 
sie  zuerst  erscheinen;  sehr  klug  hat  ihnen  ihr 
Schöpfer  kleine  Ornamente  angeheftet.  Seine 
Hiebnarben,  ihre  sommersprossige  Haut,  ihr  süd- 
deutscher Dialekt  etwa  rücken  die  Gestalten  ins 
Persönliche;  dergleichen  läßt  sie  —  außerhalb  ihrer 
symbolischen  Sendung  —  als  diesen  Herrn  Sekretär 
und  jene  Frau  Fürstin  faßbar  werden. 

Dagegen  bleibt  die  rein  intellektuelle  Haltung 
des  Helden  ziemlich  typisch.  Zwei  Teile  hindurch 

94 


ist  er  Mitglied  obskurer  Gemeinschaften  (zerstö- 
rendes Prinzip) ;  im  dritten  entwickelt  er  sich  vom 
lichtscheuen  Anarchisten  zum  gefaßten  Tat- 
menschen (aufbauendes  Prinzip).  Ihm  ist  aufge- 
gangen : 

„Ein  einziges  Fünkchen  neue  Tugend  wecken 
frommt  mehr,  als  tausend  alte  Sünder  töten." 

Dehmel  bricht  sich  hier  an  derselben  Klippe, 
wie  Alle,  die  den  aufbauenden  Helden  schildern 
wollten.    Wir  sehen  nur: 

„Der  Mann  steht  auf  von  Rechnungen  und  Plänen." 

Die  Tatkraft  selber  muß  man  auch  hier  dem 
Helden  glauben.  Sie  fängt  überhaupt  erst  bei 
der  23.  Romanze  des  letzten  Teiles  an  und  würde 
bestimmt  auch  dann  nicht  sinnbildlicher  werden, 
wenn  der  Held  nicht  verbannt  würde,  sondern 
weiter  wirken  dürfte. 

Am  Ende  erklingt  das  letzte  Faust-Motiv,  (das 
Du  Boys-Reymond  in  seiner  ewig  schmachvollen 
Rede  als  „gute  Ingenieurarbeit"  bezeichnen  zu 
dürfen  glaubte).  Sogar  der  Wortlaut  schmiegt  sich 
jenem  Wortlaut  an. 

Goethe:    „Solch  ein  Gewimmel  möcht'  ich  sehn: 

mit  freiem  Volk  auf  freiem  Grund  zu  stehn." 

Dehmel:    „Dann  soll  mein  Grubenvölkchen  bald  verstehn, 
daß  freies  Land  noch  freiere  Leute  heckt." 

Jenes  freilich  war  der  „höchste  Augenblick", 
dies  ist  nur  Hebel  zu  neuen  Schicksalsschlägen. 


95 


Eros  aber  strömt  in  dieser  Dichtung  nach  allen 
Seiten  aus,  in  allen  Gestalten.  Wenn  sie  einsetzt, 
ist  der  erste  Zusammenstoß  der  beiden  Lieben- 
den schon  vorüber,  die  Instinkte  haben  sich  er- 
kannt. 

Die  Grundtriebe  dieser  Menschen  nannte  der 
Dichter  einmal:  „seinen  harmonischen  Intellekt 
und  ihren  heroischen  Instinkt".  Im  Laufe  der  hun- 
dert Romanzen  steigt  ihre  Harmonie  zu  solchem 
Gleichklang  des  Herzschlages,  daß  späterhin  statt 
eines  Widerspiels  der  Charaktere  nur  mehr  ein 
Durchfühlen  ineinander  die  innere  Handlung 
weitertreibt. 

Und  doch,  mitunter  ziehen  die  Todfeindschaf- 
ten auf,  die  in  jeder  erotischen  Neigung  tief  ein- 
gelassen ruhn:  wenn  das  Weib,  das  ihren  Gatten 
verlassen  will,  mit  entzücktem  Hasse  von  dem  alten 
Krongeschmeide  spricht  und  seine  Edelsteine  dem 
umwölkten  Mond  vergleicht :  da  erwidert  der  Ge- 
liebte kalt: 

„Vergleich  mir  nicht  den  Reiz  von  toten  Steinen 
mit  dem  belebenden  Licht,  dem  reinen; 
daß  du  jetzt  arm  bist,  leite  dich  hinauf! 
Was  buhlst  du  mit  Topasen  und  Karfunkeln; 
sei  reicher  —  hebe  deine  dunkeln 
Augen  mit  mir  zum  Himmel  auf." 

Da  strebt  in  ihr  empor  „Auflehnung,  Pein,  Ver- 
wunderung, Glück,  Ermatten".  Aber  plötzlich, 
diese  wahrhaft  physikalische  Einigung: 

„Zwei  Menschen  werfen  einen  Schatten." 

96 


Noch  gegen  Ende,  als  sie  schon  ein  Kind  von 
ihm  trägt:  wie  sie  ihn  da  fesseln  will;  wie  er 
weicht;  wie  er  kalte  Wahrheit  zu  ihr  spricht: 

„Die  reinste  Glückseligkeit  zwischen  uns  beiden 
ist  die  zwischen  Heiden,  — 
und  daß  dein  Leib  dir  nicht  heilig  gewesen  ist, 
das  zu  vergessen  vermag  nur  ein  Christ .  .  ." 

Da  erschrickt  er,  denn  „es  war,  als  flog 

jäh  ein  Glanz  hoch,  überirdisch  schlank  .  .  .  ." 

und  Kampf  und  Sühne  folgen. 

Und  wieder  der  kosmische  Eros,  in  dem  großen 

Bilde: 

„So  klar,  so  kalt  ergriff  mich  dein  Gelüst, 
mit  mir  gleich  zwei  erschütterten  Kristallen, 
die  mächtig  warm  das  ewige  Licht  beschlich, 
in  einen  Tropfen  zusammenzufallen  . .  ." 

Und  wieder  der  sakrale  Eros: 

„.  .  .  .  will  ich,  nach  so  viel  Sehnsucht  und  Kasteiung 
nicht  wie  ein  Nachttier  mich  mit  dir  vergehn: 
Ich  will  mit  dir  ins  Licht  der  Menschlichkeit! 
Sei  bereit!" 

Und  wieder  Eros  Dionysos: 

„Ja,  greif  nach  den  Sternen,  als  ob  sie  wüßten, 

was  Menschenherzen  Reinstes  verlangen! 

Du  hast  mich  geheilt  von  allen  Lüsten, 

die  nicht  der  Einen  Lust  entsprangen, 

die  ganze  Welt  im  Weib  zu  umfangen; 

du  bist  es,  bist  mir,  was  mich  gebar! 

Du  tauchst  mich  wieder  in  die  Erde, 

als  sie  noch  eins  mit  dem  Himmel  war; 

in  dir  fühl  ich  ihr  feuerflüssig  Werde 

7    Ludwig,  Richard  Dehmei  Q7 


dem  kreisenden  Weltraum  noch  immer  sich  entwühlen, 
und  hingenommen  von  den  Urgefühlen 
bringt  ihre  Glut  uns  dem  ewigen  Kreislauf  dar  .  .  . 
.  .  .  Zwei  Menschen  nahn  dem  Paradiese." 

Doch  gegen  Ende,  aus  so  viel  überschwenglichen 
Rollen,  aus  bürgerlich  gebannten  Personen,  aus 
romantisch  befreiten  Menschen  kristallisieren  sich 
in  festen  Formen  der  Mann  und  sein  Weib,  auf 
Erden,  und  er  spricht: 

„Jetzt  seh  ich  dort  die  Nebelgeister  walten 
und  freu'  mich  unsrer  festeren  Gestalten." 

Am  Ende  fühlt  er  sich 

„klar  aufgetan  bis  ins  Unendliche, 
Unüberwindliche,  Unabwendliche, 
bis  wir  im  Schoß  alles  Daseins  sind  .  .  ." 

Als  aber  dann  das  Weib  anhebt: 

„Wir  aber,  die  wir  nicht  mehr  einsam  sind  .  .  .", 

da  kommt  es  langsam  über  des  Mannes  Lippen: 

„Es  ist  in  uns  ein  Ewig  Einsames  — 

es  ist  das,  was  uns  alle  eint. 

Es  tut  sich  kund  als  Urgemeinsames, 

je  eigner  es  die  Seele  meint. 

Sie  wurzelt  rings  im  grenzenlos  Alleinen; 

sie  liebt  es,  sich  im  Weltspiel  zu  entzwein, 

um  immer  wieder  selig  sich  zu  einen 

durch  Zwei,  die  grenzenlos  allein. 

So  lebt  die  Liebe ;  das  ist  kein  Traum  .  .  .  ." 

—  Ist  dies  die  Überwindung  des  Eros  ? 

Gegen  Ende  gibt  der  Mann  für  sein  und  für 
das  Weltbild  seines  Dichters  die  schlichteste  und 

98 


reinste  Formel,  die  Dehmel  je  für  sich  und  ihn 
gefunden.    Während  einer  Mondfinsternis: 

„Und  man  erkennt:  Verbindlichkeit  ist  Leben, 

und  jeder  lebt  so  völlig,  wie  er  liebt: 

die  Seele  will,  was  sie  erfüllt,  hingeben, 

damit  die  Welt  ihr  neue  Fülle  gibt. 

Dann  wirst  du  Gott  im  menschlichen  Gewühle 

und  sagst  zu  mir,  der  dich  umfangen  hält: 

du  bist  mir  nur  ein  Stück  der  Welt, 

der  ich  mich  ganz  verbunden  fühle. 

Bei  Tag,  bei  Nacht  umschlingt  uns  wie  ein  Schatten 

im  kleinsten  Kreis  die  große  Pflicht: 

wir  alle  leben  von  geborgtem  Licht 

und  müssen  diese  Schuld  zurückerstatten. 

Im  Mond  der  Schatten  schickt  sich  an  zu  weichen; 
zwei  Menschen  sehn  den  Himmel  voller  Zeichen." 

Dies  ist  Dehmels  Eros:  er  mündet  im  Welt- 
gefühl. 

Über  den  Eingang  dieses  geheimnisvoll  ge- 
schnittenen Gartens  schrieb  der  Dichter,  wie  an 
den  Himmel :  Wir  Welt !  Über  dem  Ausgang  liest, 
wer  sich  nochmals  umblickt,  die  Worte: 

„Leb  wohl,  leb  wohl  —  du  hältst  dich  selbst  in  Händen. 
Du  sahst,  o  Mensch,  zwei  Wesen  deinesgleichen 
im  kleinsten  Kreis  Unendliches  erreichen. 
Du  sahst  dein  Glück  ins  Weltglück  enden." 

Weltglück  .  .  .  Wie,  wenn  wir  es  am  Ende  ge- 
fühlt, —  doch  nicht  gesehen  hätten  ?  Wie,  wenn 
ein  Sinnbild  für  dies  Weltglück  fehlte?  Nur  ein 
geheimnisvolles  Wappen:  Wir  Welt!,  dem  Brausen 
des  Meeres  abgelauscht. 

7*  99 


„Mir  fehlt  die  Himmelsrose!"  sagte  leise  der 
Dichter  immer  wieder,  als  er  von  seinem  Werke 
sprach.  Ein  sinnliches  Symbol  für  das  Zentrum 
seiner  Gefühle,  seines  Liedes,  —  ein  Ding,  wie 
Dantes  Himmelsrose,  den  Bau  bekrönend,  fehlt 
ihm.  Der  Architekt  sieht  nicht  mehr,  was  er  schuf; 
nur  was  der  Kuppel  fehlt,  das  muß  er  unablässig 
aufstarrend  beklagen. 

Denn  Dehmel  ist  —  bei  allem  Selbstgefühl  — 
als  Künstler  unsäglich  bescheiden.  Immer  Schüler 
fühlt  er  sich,  immer  Versuchender,  immer  Steigerer. 
Die  Reinheit  seines  künstlerischen  Strebens  ist 
selbst  der  Reinheit  seines  menschlichen  Fühlens 
ganz  gewachsen. 


ioo 


IV.  ENTWICKELUNG 

„Laßt  uns  nur  ins  Blaue  schweifen; 
scheltet  nur,  wie  weit  wir's  treiben. 
Aber  Ein  Band  sollte  bleiben: 
jeden,  wie  er  strebt,  begreifen." 


DER  DEUTSCHE 

Der  Fall  Dehmel  —  Schulfall  für  den  Kampf 
zwischen  Chaos  und  Ordnung,  zwischen  Gefühl 
und  Bewußtheit  —  ist  eben  darum  ein  typisch 
deutscher  Fall.  „In  Dehmel,"  schrieb  Liliencron, 
„findet  sich  das  immerwährend  fesselnde  Rätsel: 
bei  einem  grenzenlosen  Freiheitsdrange  jenes  un- 
bedingte Pflichtgefühl,  wie  man  es  vorbildlich 
an  altpreußischen  Staatsbeamten  antrifft." 

Entrückt  man  dieses  treffliche  Wort  der  junker- 
lichen Sphäre,  in  der  es  ganz  zu  unrecht  steht,  so 
beschreibt  es  empirisch  dasselbe  nämliche  Wieder- 
spiel, das  wir  metaphysisch  im  Weltbilde  des  Dich- 
ters aufzuzeigen  suchten. 

Dehmel  ist  durchaus  nicht  typisch  preußisch 
—  wie  etwa  Liliencron  selber  — ;  aber  doch 
typischer  Märker.  Man  hat  ihn  slawisch  oder 
wendisch  genannt,  und  wirklich  ließe  seine  Phy- 
siognomie manchmal  darauf  schließen.  Soweit  er's 
aber  selbst  verfolgen  kann,  steht  es  anders. 

Seiner  Mutter  Geschlecht  stammt  halb  aus  der 
Mark,  halb  aus  Thüringen,  des  Vaters  aus  Schlesien; 
der  Vater  war  schon  als  junger  Mann  in  die  Mark 

103 


eingewandert.  Mehrere  Ahnen  waren  Schmiede 
und  Kurschmiede,  der  Vater  Revierförster  in 
der  Mark.  Dehmel  ist  beim  Spreewald  geboren 
(Wendisch-Hermsdorf,  18.  November  1863).  Mit 
Berlin  hat  weder  sein  Geschlecht  noch  seine  Kind- 
heit etwas  zu  schaffen. 

Immer  dringen  seine  schlichtesten  Naturgefühle 
in  die  Mark  zurück,  und  noch  in  den  „Zwei  Men- 
schen" schwärmt  der  Held: 

„Hier  graut  im  Schnee  mein  ernstes  märkisches  Land, 

dies  Land,  in  dem  sich  Rußlands  Steppen 

schwer  zu  Deutschlands  Bergen  hinschleppen  .  .  . 

. .  .  Wenn  hoch  im  Abendsonnenbrand 

der  alten  Kiefern  verschämte  Glut 

sich  aufreckt  aus  der  Versunkenheit, 

dann  atmen  die  Wiesen  Unendlichkeit .  .  ." 

Als  Märker  mag  man  Dehmel  bäurisch  nennen : 

,,Kopf  hoch,  Beine  breit, 
alles  andre  macht  die  Zeit." 

Bäuerisch  sind  seine  Manieren  wider  Virtuosen 
und  Poseure,  wie  sie  sich  in  „Kumpaney"  und 
„Der  Tiefsinn"  auftun.  Grundbauer  der  Mark  ist 
Michel  Michael  geworden,  in  ihm  gelingt  zuweilen 
dem  Dichter,  was  er  gern  als  Luthers  Wort  zitiert : 
dem  Volke  auf  das  Maul  zu  sehn.  Er  selber  steht 
nicht  weit  von  seinem  Michel.  Wenn  Michel  in- 
mitten von  Träumen  und  Gesichten  ruft :  „Ich  — 
will  —  nach  Hause!",  ruft  Dehmel  dasselbe  aus 
inmitten  von  Gesichten,  wenn  sie  einmal  so  keck 
sind,  nicht  Phantasie,  sondern  Realität  zu  sein. 

104 


„Auf  den  blumigsten  Inseln  Griechenlands, 
an  Italiens  blauesten  Uferborden 
saß  ich  echter  deutscher  Duselhans 
voller  Heimweh  nach  dem  Norden." 

Seine  Fremdheit  gegen  die  Antike  liegt  hierin, 
zwar  nicht  allein,  doch  mitbegründet;  zuweilen 
grollt  er  selbst  Goethen  ins  Gesicht  um  seines 
Hellenismus  willen.  (Mit  dem  fragwürdigsten 
Mittelalter  hat  Dehmels  Schwere  noch  immer 
mehr  gemein  als  mit  der  Antike.) 

Seitlich  von  deutschem  Bauerntum  ist  er  aber 
auch  gut  deutsch  bürgerlich,  an  Schlichtheit  wie 
an  Pedanterie.  Überblickt  er  seine  Struktur,  so 
mag  er  diesen  Zusatz  herzlich  segnen:  das  ist  ein 
besseres  Gegengewicht  zur  Ekstase  als  das  stark 
problematische  Bewußtsein. 

Denn  wirklich  dient  diese  deutsche  Schlichtheit 
seinem  phantastischen  Pathos  als  natürliches  Äqui- 
valent. 

„Laß  die  tragische  Gebärde, 
sei  wie  Gott,  du  bist  es  schon: 
Jedes  Weib  ist  Mutter  Erde, 
jeder  Mann  ein  Gottessohn." 

In  welcher  Sprache  werden  solche  Verse  ge- 
dichtet ?  Oder  er  singt  die  „Heilige  Nacht", 
recht  wie  die  deutschen  Holzschnitzer  es  getan 
(Werke  III,  143),  worin  es  heißt: 

„Ich  ging  auf  Erden  hin  und  her; 
es  hieß,  daß  Gott  gestorben  war. 
Doch  siehe  da,  von  jeder  Magd 
wird  er  aufs  neu  zur  Welt  gebracht." 

105 


Oder  er  bringt  diesen  wundersamen  Glückwunsch 
dar: 

„Ich  wünsche  dir  Glück. 

Ich  bring'  dir  die  Sonne  in  meinem  Blick. 

Ich  fühle  dein  Herz  in  meiner  Brust, 

es  wünscht  dir  mehr  als  eitel  Lust. 

Es  fühlt  und  wünscht:  die  Sonne  scheint, 

auch  wenn  dein  Blick  zu  brechen  meint. 

Es  wünscht  dir  Blicke  so  sehnsuchtlos, 

als  trügest  du  die  Welt  im  Schoß. 

Es  wünscht  dir  Blicke  so  voll  Begehren, 

als  sei  die  Erde  neu  zu  gebären. 

Es  wünscht  dir  Blicke  voll  der  Kraft, 

die  aus  Winter  sich  Frühling  schafft. 

Und  täglich  leuchte  durch  dein  Haus 

aller  Liebe  Blumenstrauß." 

Zugleich  ist  er  Pedant  wie  nur  ein  Deutscher. 
Im  Vorwort  zu  seinem  ersten  Buch  hat  er  um- 
ständlich begründet,  warum  er  gewisse  Worte 
und  Verse  breit  drucken  werde.  Seine  Theorie 
war  trefflich;  die  Wirkung  nicht  zu  ertragen.  Noch 
heute  finden  sich  in  seinen  Gedichten  einige 
Stellen,  die  breiter  Druck  hervorheben  soll  (oder 
„seeelig"  mit  drei  e);  man  stutzt,  man  fragt  sich: 
ist  dies  eine  Fibel  oder  ein  Repetitorium  ? 

Mit  schamhafter  Pedanterie  nannte  er  die  drei 
Stuf en  seiner  „Erlösungen"  (erste  Ausgabe) :  Ringen 
und  Trachten;  Liebe;  dann  aber  nicht:  Leben  und 
Arbeit,  sondern:  „Zur  dritten  Stufe:  Leben  und 
Arbeit";  weil  er  sich  noch  unvollkommen  fühlte. 

Dies  Lehrhafte  findet  man  allerorten:  es  folgt 
aus  jenem  Zusammenstoß  von  Ekstase  und  Be- 

106 


wußtsein.  Sein  lehrhafter  Wille  treibt  ihn  zu- 
weilen, die  reinste  Form  zu  trüben,  um  der  „Aus- 
einandersetzung" mit  sich  selber  willen. 

Das  alles  ist  sehr  deutsch.  Aber  es  ist  dieses 
Mannes  Schicksal,  zu  jedem  Triebe  einen  Gegen- 
trieb zu  spüren;  sie  zu  versöhnen  —  sein  innerstes 
Wesen.  Zum  typischen  Deutschen  heißt  der 
Gegentrieb:  Schwäche  für  das  Orientalische; 
(wiederum  der  Fall  Rembrandt).  Morgenlän- 
disch ist  dieser  Hang  zum  alten  Testament,  der 
sich  in  seinem  Dichten  und  Leben  zeigt.  Die 
Heldin  der  „Zwei  Menschen"  preist,  daß  auch 
durch  sie 

„zum  Glück,  dank  einer  Ahnensünde, 

auch  etwas  Blut  vom  Stamme  Davids  rinnt." 

Und  Dehmel  hat  zweimal  Jüdinnen  zur  Ehe 
genommen. 


Höchst  deutsch  ist  sein  Humor.  Ein  gewisser 
Bauernwitz  scheint  ihm  selbst  manche  Befreiung 
zu  schaffen,  —  Freiheit  schafft  er  uns  darum 
noch  nicht.  Dinge  wie  die  Ouvertüre  zu  den 
„Verwandlungen  der  Venus"  können  dem  ge- 
samten Werk  und  dem  Dichter  nur  schaden :  man 
sieht,  daß  der  Pathetiker  nicht  lustig,  auch  nicht 
diabolisch  lustig  sein  soll.  (Ähnlich  die  Stelle  in 
V,  118  der  „Zwei  Menschen"  mit  dem  unhaltbaren 
Schlüsse:  „Es  war  mir  lieb  als  Äußerung  deines 
Lebens  .  .  ."). 

107 


Dehmel  ist  viel  zu  sehr  pathetischer  Rhapsode, 
als  daß  ihm  diese  Grimasse  glückte,  die  er  etwa  in 
der  gleichfalls  unhaltbaren  „Venus  Metaphysika" 
aufzieht.  Hält  man  uns  Rabelais  entgegen,  so 
zeigt  man  doppelt  Dehmels  Irrtum  auf.  Nur  ein- 
mal scheint  er  diesen  —  ins  Deutsche  abgewandelt 
—  erreicht  zu  haben,  in  den  prachtvollen  Versen : 

„Es  klagt  die  Zeit:  die  Welt  vergreist, 

wo  ist  der  alte  heilige  Geist! 

Indes  liegt  Seine  Heiligkeit 

im  Schoß  der  Jungfrau  Sinnlichkeit, 

was  zwar  die  Jungfernschaft  befleckt, 

doch  eine  neue  Welt  ausheckt. 

Dann  ruft  die  Zeit:  Halleluja, 

der  heilige  Geist  ist  wieder  da!" 

Wo  Dehmel  nur  heiter  sein  will,  etwa  in  dem 
Gedicht  an  den  Hofhund  Strubel  (Werke  I,  37) 
oder  in  manchem  Kindergedicht,  öffnen  sich  ihm 
willig  alle  Arme.  Diabolisch  lustig  sollte  er  nimmer- 
mehr sein. 

Den  freien  und  den  gezwungenen  Humor  kann 
man  am  besten  an  zwei  benachbarten  Prosadia- 
logen vergleichen.  In  seinem  Gespräch  mit  Goethe 
ist  sein  Humor  nobel,  satirisch,  gehalten;  gegen 
das  Fräulein,  mit  der  er  über  Rhythmus  streitet, 
gar  lehrhaft,  nur  zuweilen  sieht  man  sein  ver- 
schmitztestes Gesicht  durchblicken,  wenn  er  mit 
seiner  Pedanterie  Fangball  spielt. 

Und  doch  kann  er,  in  jenem  glücklichen  Ge- 
spräch mit  Goethe,  von  seiner  deutschen  Gründ- 
lichkeit nicht  lassen.    Nachdem  er  mit  reizender 

108 


Arabeske  geendet  und  Goethe  —  wohlgelaunt  — 
ihm  erwidert  hat :  „Wir  sprechen  wohl  einst  noch 
gewisser  darüber  . . ."  — kann  er  nicht  abschließen, 
er  muß  Goethen  nochmals  mit  den  Worten  be- 
lehren: „Doch  ist  uns  schon  jetzt  zum  Bewußtsein 
gekommen,  daß  .  .  .",  und  er  faßt  das  Resultat  zu- 
sammen, wie  am  Ende  eines  Kollegs.  Und  wir 
denken:  wenn  er  einst  in  jenen  Sphären  noch  ge- 
wisser mit  ihm  darüber  sprechen  wird,  wird  er 
sicher  nochmals  die  Thesen  zusammenfassen.  — 

Doch  auch  hier,  wie  immer,  schlägt  der  Genius 
mit  Lachen  alle  kritische  Analyse  entzwei;  mit 
Lächeln.  In  einem  seiner  frühen  Gedichte, 
schwebend  zwischen  gallischer  Heiterkeit  und 
deutschem  Humor  wie  gewisse  Bilder  des  Meisters 
Schwind:  in  den  „Glücklichen"  hat  Dehmel  alle 
Gefahren  seiner  verzwickten  Humore  sicher  um- 
schifft und  ist  dabei  sehr  deutsch  geblieben. 
Mörike  hat  es  nicht  übertroffen,  Hugo  Wolf 
hätte  es  gar  hold  umsungen.  Fast  scheint  es  nach 
einem  Bilde  gedichtet.  Es  ist  von  solcher  reinen 
Anmut,  wie  man  sie  grade  Dehmel  kaum  zutrauen 
mag,  es  ist  sehr  unbekannt  und  es  lautet: 

„Nun  will  ich  mir  die  Locken 

mit  Birkenlaub  behängen; 

der  Frühling  sitzt  am  Wocken, 

von  dem  er  mit  Gesängen 

um  meine  Wildnis  grüne  Schleier  spinnt. 

Und  du  auf  deinem  Throne 

im  Astwerk  unsrer  Linde, 

beglänzt  mit  deinem  Sohne 

109 


vom  goldnen  Mittagswinde, 

bist  meine  Jungfrau  mit  dem  Wunderkind. 

Ein  Lamm  mit  weißem  Felle 

auf  unserm  Wiesenlande, 

mit  einer  Silberschelle 

und  blauem  Seidenbande, 

bringt  uns  zum  Lachen,  wenn  wir  traurig  sind. 

So  würden  wir  uns  gerne 

mit  aller  Welt  vertragen, 

nicht  Sonne,  Mond  noch  Sterne 

um  unser  Glück  befragen, 

doch  —  manchmal  haben  wir  kein  Brot  im  Spind. 

Drum  stehn  im  jungen  Schilfe 

mit  aufgesperrter  Miene, 

als  schnappten  sie  nach  Hilfe, 

zwei  steinerne  Delphine 

am  Wasser,  das  um  unsre  Insel  rinnt." 


ZWEI  AHNHERRN 

Man  hat  Schiller  und  Heine  genannt:  aus  den 
sehr  äußerlichen  Gründen,  daß  dieser  als  Ero- 
tiker, jener  als  Pathetiker  in  Deutschland  typisch 
geworden.  So  äußerlich  bleiben  auch  Dehmels 
Beziehungen  zu  diesen  Dichtern. 

Heine:  ganz  Moll,  nur  Dur  wenn  er  frech 
wird;  Dehmel:  ganz  Dur,  nur  Moll  wenn  er 
elegisch  wird.  Heine:  Erotiker  von  Profession, 
aus  Schwäche,  und  um  so  mehr  Dichter,  je 
„unglücklicher"  er  liebt;  Dehmel:  Erotiker  von 

HO 


Distinktion,  aus  Stärke  und  stets  im  Zweikampf 
mit  der  „glücklichen"  Liebe.  Heine:  ein  elegi- 
scher Windhund;  Dehmel:  eine  nervöse  Dogge. 

Auch  Schiller  ist  Dehmel  ganz  unverwandt. 
Schillers  Pathos  ist  geistig,  Dehmels  (meist)  lyrisch. 
Schiller:  fast  rein  apollinisch;  Dehmel:  fast  ganz 
dionysisch.  — 

Statt  Schiller  und  Heine  wären  Goethe  und 
Lord  Byron  zu  nennen. 

Dehmels  formale  Beziehungen  zu  Goethe  liegen 
am  Tage.  Ein  Beispiel  für  Freie  Rhythmen,  die 
den  Sturm  bedeuten: 

Wanderers  Sturmlied  beginnt: 

„Wen  du  nicht  verlassest,  Genius, 
nicht  der  Regen,  nicht  der  Sturm 
haucht  ihm  Schauer  ins  Herz. 
Wen  du  nicht  verlassest,  Genius, 
wird  dem  Regengewölk, 
wird  dem  Schloßensturm 
entgegensingen 
wie  die  Lerche, 
du  da  oben " 

Venus  Urania  beginnt: 

„Der  du  in  Gewittern  hausest, 

kommst  du,  Grollender? 

Tief  von  unten, 

über  Berge  und  Wolken  her: 

suchst  du  mich,  im  dunkeln  Mantel  du, 

schwarzgekrönter  Wetterherr 

mit  der  bleiernen  Stirne  ?  . .  ." 


III 


Ein  Beispiel  für  die  Lieder,    die  Eros  Pantheos 
umschließen. 

Goethes  Gegenwart: 

„Alles  kündet  dich  an! 
Erscheint  die  herrliche  Sonne, 
folgst  du,  so  hoff  ich  es,  bald. 

Trittst  du  im  Garten  hervor, 
so  bist  du  die  Rose  der  Rosen, 
Lilie  der  Lilien  zugleich. 

Wenn  du  im  Tanz  dich  regst, 
so  regen  sich  alle  Gestirne 
mit  dir  und  um  dich  umher. 

Nacht!    O  war'  es  denn  Nacht! 
Nun  überscheinst  du  des  Mondes 
lieblich  ladenden  Glanz. 

Ladend  und  lieblich  bist  du, 
und  Blumen,  Mond  und  Gestirne 
huldigen,  Sonne,  nur  dir. 

Sonne!  So  sei  du  auch  mir 
die  Schöpferin  herrlicher  Tage; 
Leben  und  Ewigkeit  ist's." 

Dehmels  Allgegenwart: 


„Du  gehst  nie  von  mir, 
ich  bleibe  bei  dir, 
denn  du  bist  in  mir, 
fern  wie  nah. 

In  jedem  Herzschlag, 
der  mich  belebt, 
bist  du's,  die  mit  mir 
durchs  Leben  strebt. 


112 


Mit  jedem  Atemzug, 
der  mir  die  Seele  klärt, 
fühl'  ich,  wie  deine 
Seele  mich  nährt, 

die  mir  allinnerlich 
Seele  der  Welt  ist, 
in  allem  such  ich  dich, 
du  Welt  mit  mir! 

In  allem  find  ich  dich: 
dich  in  dem  bangen 
Hinausverlangen 
des  Winds  im  Wald, 

dich  in  dem  Widerstreit 
der  Blätter  über  mir, 
dich  in  der  Innigkeit 
der  Gräser  hier, 

dich  in  der  Wolke  dort, 
aus  der  die  Sonne  quillt, 
wie  du  so  lauter, 
so  warm  und  mild, 

dich  in  der  Träne, 
die  jetzt  von  Herzen  still 
aus  meinen  Augen 
zu  dir  will." 

Ein  Beispiel  für  chorische  Metaphysik: 
Goethes  Chor  der  Jünger: 

„Hat  der  Begrabene, 
schon  sich  nach  oben, 
lebend  Erhabene 
herrlich  erhoben; 
ist  er  in  Werdelust 
schaffender  Freude  nah; 

8    Ludwig,  Richard  Debrael  11^ 


ach!  an  der  Erde  Brust 
sind  wir  zum  Leide  da. 
Ließ  er  die  Seinen 
schmachtend  uns  hier  zurück; 
ach!  wir  beweinen, 
Meister,  dein  Glück!" 

Dehmels  Geist  der  Menschheit: 

„Die  ihr  im  Abgrund  brütet  in  Schweigen, 
seht  aus  dem  Abgrund  die  Rettung  steigen! 
Denn  aus  den  Tiefen,  drin  ihr  kreist, 
wurde  und  wuchs  auch  euer  Geist; 
und  zu  den  Tiefen  wieder, 
die  ihn  erschufen, 
neigt  er  sich  nieder, 
den  ihr  gerufen  .  .  ." 

Vor  jenen,  an  Zahl  geringen,  an  dichterischer 
Reine  unvergleichbaren  mystischen  Naturanschau- 
ungen Dehmels  fühlen  wir  goetheische  Luft,  und 
,, Morgenandacht"  endet  völlig  goetheisch: 

„Wie  es  mir  ins  Innre  dringt, 
all  das  Große,  all  das  Kleine, 
wie's  mit  mir  zusammenklingt 
in  das  übermächtig  Eine!" 

Ähnlich:  „Manche  Nacht"  (Werke  III,  30,  frei- 
lich mit  rein  Dehmelschem  Schlüsse);  „Stimme 
des  Abends"  (ebenda). 

Aber  der  Akt  mystischer  Versenkung  ist,  ob 
auch  oft  überheitert,  für  Goethes  Gedichte  die 
Regel,  für  Dehmel  die  Seltenheit.  Dehmel  — 
im  allgemeinen  —  belebt  die  Natur  durch  den 
Menschen;  Goethe  öffnet  ein  Stück  Natur  und 
läßt   den  Menschen  als   Sekundäres  zu.    Goethe 

114 


liebt  die  Natur,  Dehmel  die  Welt.  Niemand  soll 
diese  Gestalten  in  toto  vergleichen:  das  Format 
ist  unvergleichbar.  Wir  wollten  reine  künstlerische 
Einflüsse  deutlich  machen. 

Im  übrigen  ist  Dehmel  im  höchsten  Sinne  frei- 
heitlich, Goethe  im  tiefsten  konservatorisch.  Deh- 
mel praktischer  Optimist,  Goethe  zuversichtlicher 
Melancholiker.  Und  so  fort,  in  infinitum.  Be- 
trachtet man  rein  die  Charaktere:  ein  Meer  liegt 
zwischen  ihnen.  —        $ 

Doch  nur  ein  Gebirge  trennt  Dehmel  und 
Byron.  Die  Dämonie,  die  beide  mit  Goethe  ver- 
bindet, ist  nur  der  Orgelton  in  solcher  Ähnlich- 
keit. Aber  auch  die  Grundfarben  ihrer  Tempera- 
mente schlagen  sich  nicht  so  sehr,  als  man  glauben 
könnte.  Denn  Byron  war  niemals  „Pessimist", 
und  auch  Melancholiker  war  er  im  Grunde  nur 
aus  Passion.  (Seine  Verbannung  wirkte  auf  ihn 
nicht  tragisch,  —  er  war  nur  entschlossen,  sie  so 
zu  fühlen.) 

„Der  große  Zweck  des  Lebens  ist  Gefühls- 
erregung" :  in  diesem  Leitwort  Byrons  drückt  sich 
ein  Stück  Blutsverwandtschaft  mit  Dehmel  aus, 
und  man  versteht,  warum  das  Werk  beider  Dichter 
ein  unablässiges  Bekenntnis  bedeutet.  (Überdies 
verbindet  beide  das  Sonderbare:  Pathetiker  mit 
epigrammatischer  Sucht  zu  sein.) 

Die  Formel  dieser  Affinität  ließe  sich  auf  brei- 
terer Basis  im  einzelnen  erweisen.  Hier  scheint  es 
wichtiger,  die  Ähnlichkeit  der  Klangfarben  anzu- 


i* 


"5 


deuten.  Wir  zitieren  neben  einem  Gedichte  Byrons 
eines  von  Dehmel  in  englischer  Übertragung. 

Byron:     "Remind  me  not,  remind  me  not, 

of  those  beloved,  those  vanish'd  hours, 
when  all  my  soul  was  given  to  thee; 
hours  that  may  never  be  forgot, 
tili  time  unnerves  our  vital  powers, 
and  thou  and  I  shall  cease  to  be. 

Can  I  forget  —  canst  thou  forget, 
when  playing  with  thy  golden  hair, 
how  quick  thy  fluttering  heart  did  move  ? 
O!  by  my  soul,  I  see  thee  yet, 
whith  eyes  so  languid,  breast  so  fair, 
and  lips,  though  silent,  breathing  love. 

When  thus  reclining  on  my  breast, 
those  eyes  threw  back  a  glance  so  sweet, 
as  half  reproach'd  yet  raised  desire, 
and  still  we  near  and  nearer  prest, 
and  still  our  glowing  lips  would  meet, 
as  if  in  kisses  to  expire  .  .  ." 

Dehmel  (übertragen  von  J.  Bithell): 

"Know'st  thou  yet,  how  pale,  how  white, 

when  I  lay  in  eves  of  Maytime, 

after  kisses  of  the  daytime, 

poured  out  at  thy  feet  before  thee, 

daffodillies  trembled  o'er  me? 

Then  in  deep  June's  azure  night, 
know'st  thou  yet,  how  soft  and  seething, 
when  we,  tired  of  wild  caresses, 
wove  around  us  thy  wild  tresses, 
daffodillies  scents  were  breathing? 

At  thy  feet  again  are  gleaming, 
when  the  silvery  gloamings  shimmer, 

116 


whcn  the  nights  of  azure  glimmer, 

daffodillies  scents  are  Streaming. 

Know'st  thou  yet,  how  hot?  how  white?" 

Wir  stellen,  in  neuer  Übertragung,  noch  fol- 
gende Stelle  aus  Childe  Harold  her  (III,  72,  75),  als 
Exempel  für  einen  anderen,  Dehmel  verwandten 
Ausdruck : 

„.  . .  Ich  bin  nicht  Ich;  bin  nur  ein  Teil  der  Welt, 

muß  mich  als  Teil  von  jedem  Berg  empfinden. 

Qual  schafft  die  Stadt,  vom  Stimmenchor  durchgellt. 

Anbetend  aber  soll  Natur  mich  finden, 

will  sie  mich  nicht  in  trübe  Lüste  binden. 

Empor  und  schwinge,  Seele!  dich  hinan, 

die  du  im  Berg,  im  Sterne  magst  entschwinden, 

die  du  dem  Meer,  dess'  Fläche  atmend  rann, 

dich  selig  mischest,  los  von  deinem  wilden  Bann!  .  .  . 

.  .  .  Sind  Berg  und  WelP  und  Himmel  nicht  ein  Stück 

von  meiner  Seele,  ich  ein  Stück  von  ihnen? 

Inbrunst  empor  nicht  meines  Herzens  Glück, 

in  willigem  Triebe?    Was  mir  schön  erschienen, 

muß  es  nicht  fürder  der  Verachtung  dienen? 

Kein  Leiden  schreckt  mich:  Inbrunst  will  ich  hegen! 

Wie?    Glich  ich  Feigen,  die  mit  stumpfen  Mienen 

weltliche  Blicke  hin  zur  Erde  legen,  — 

voll.  Wünschen,  die  sich  nie  zur  Feuerglut  erregen?" 

Diese  Ausweitung  des  Ich  ins  All  —  bis  ins 
Barocke  —  ist  beiden  Dichtern  gemein:  Gefühls- 
breite, um  das  Ich  gelagert. 

Wir  fühlen,  bei  alledem,  ihre  Fremdheit.  Byron 
ist  immer  Romantiker;  Dehmel  nie.  Man  könnte 
sie  zwei  Ekstatiker  mit  meist  umgekehrten  Vor- 
zeichen nennen. 

117 


Jenseits  dessen  hat  jener  Weltmann,  der  zufällig 
Sänger  wurde,  mit  diesem  Sänger,  der  aus  Er- 
griffenheit Verkünder  ist,  nichts  mehr  zu  schaffen. 
Ihre  Motive  sind  konträr.  Aber  Beide  haben  ihr 
Prophetentum  so  überschätzt,  wie  sie  ihr  reines 
Dichtertum  zu  unterschätzen  liebten. 


NIETZSCHE 

Als  Nietzsche,  nur  eben  erst  erkrankt,  in  einer 
helleren  Stunde  Dehmels  „Erlösungen"  las,  gab  er 
Ausdruck  seiner  Freude  und  hörte  still  jenen 
Nachruf  an  Nietzsche  an,  in  dem  der  Jünger  sich 
von  dem  Meister  trennte. 

Nietzsche  ist  der  einzige  Zeitgenosse,  mit  dem 
Dehmel  in  Vergleich  zu  setzen  fruchtbar  werden 
könnte.  Denn  diese  Beiden  wurden  die  größten 
Verkünder  einer  lebensfesten,  einer  untragischen 
Epoche.    Beide  spüren  den  untragischen  Helden. 

Ein  Hauptwort  Dehmels:  „Der  Mensch,  der  dem 
Schicksal  gewachsen  ist",  liegt  in  einer  Kurve,  wenn 
auch  nicht  in  einer  Fläche  mit  Nietzsches  Haupt- 
wort :  „Ich  liebe  den,  der  an  sich  zugrunde  geht", 
und  dieseVerse  könnten  wörtlich  von  Nietzsche  sein : 

„Jeder  Lehre  zuwider, 

nur  dem  Leben  zuliebe 

rühmen  wir  Kindern  und  Kindeskindern 

opferselig  den  einen, 

schöpferselig  den  Menschen, 

der  dem  Schicksal  gewachsen  ist." 

118 


Ein  zweites  Hauptwort  Dehmels  lautet:  „Statt 
nur  zu  fragen:  Was  ist  uns  das  Leben  wert?, 
lautet  heute  die  Frage  .  .  . :  Was  sind  wir  dem 
Leben  wert?"  Ebenso  Nietzsche:  „Was  uns  das 
Leben  verspricht,  das  wollen  wir  dem  Leben  ge- 
treulich halten." 

Und  Dehmels  Prophetie: 

„Gott  ist  der  Mensch,  auf  den  wir  hoffen" 
deckt  sich  mit  Nietzsche. 

Wichtig  sind  diese  Ähnlichkeiten  überhaupt  nur, 
weil  sie  niemals  Nachbildungen  bedeuten.  Denn 
Dehmel,  der  sich  ganz  im  Beginne  seiner  Bahn 
von  Nietzsche  auch  förmlich  trennte,  fühlt  ihn 
im  Grunde  fremd.  „Nietzsche  hat  mich  ein- 
mal —  erzählte  der  Dichter  —  acht  Tage  lang 
völlig  berauscht,  die  Kampflust  der  Zarathustra- 
Rhvthmen  riß  mich  hin.  Dann  trat  eine  ebenso 
völlige  Ernüchterung  ein.  Vergebens  suchte  ich 
nach  den  neuen  Tafeln,  ich  fand  nur  alte  Gemein- 
plätze in  neuen  Übertreibungen,  fast  unwert 
eines  so  heftigen  Kampfes.  In  dieser  Ernüchte- 
rung, die  einer  Erschütterung  glich,  schrieb  ich  den 
Nachruf." 

Später  aber  entdeckte  Dehmel  den  andern, 
jenen  zweiten  Nietzsche,  den  erst  die  großartige 
Leistung  des  Archives  freigelegt  hat,  —  und  hier 
fand  er  den  stärksten  Denker  der  Zeit. 

Beide  Reaktionen  erwiesen  das  nämliche:  Deh- 
mel hat  Nietzsche  nur  als  Dichter,  nur  als  Sprach- 
künstler angefaßt.   Es  ist  klar,  daß  den  Dithyram- 

119 


biker  Dehmel  der  Dithyrambiker  Nietzsche  schließ- 
lich enttäuschen  mußte;  daß  aber  der  Epigram- 
matiker ihn  stets  im  Banne  hält.  Durch  springen- 
den Wortschlag  hat  Nietzsche,  durch  gelagertes 
Pathos  hat  Dehmel  die  deutsche  Sprache  in  einem 
Maße  bereichert,  wie  kein  dritter  Geist  der 
letzten  Generation. 

Und  hierin  liegt  zugleich  die  Grundverschieden- 
heit der  Temperamente  angezeigt.  Nietzsche: 
hinreißend;  Dehmel:  hingerissen.  Nietzsche  fährt 
immer  im  Freiballon  über  die  Landschaft;  Deh- 
mel durchrast  sie  mit  vier  Pferden. 

Der  Mensch,  der  dem  Schicksal  gewachsen  ist: 
das  ist  Dehmels  Ziel;  das  ist  Nietzsches  Vor-Ziel. 
Nietzsche  —  der  Antichrist,  wie  er  sich  selber 
nannte  —  verachtet  den  Mitmenschen.  Dehmel, 
in  Christus  tief  verloren,  verachtet  den  Über- 
menschen. „Die  Züchtung  des  Übermenschen  — 
sagte  er  einmal  —  ist  metaphysisch  ein  Aberwitz. 
Sie  geht  längst  vor  sich  in  jedem  Genie  von  Gottes 
unerziehlichen  Gnaden."  Und  als  man  dennoch 
auf  jene  Treffpunkte  deutete  und  Zarathustras 
Wort  zitierte:  ,, Liebe  den,  der  über  sich  hinaus 
schaffen  will  und  so  zugrunde  geht",  rief  Dehmel 
hitzig:  „Ich  liebe  solche  Pfuscher  gar  nicht!  Jede 
Maschine  schafft  über  sich  hinaus  und  geht  daran 
langsam  zugrunde!" 

So  rannte  er,  in  prachtvoller  Attacke,  gegen 
Nietzsche  vor;  ein  deutscher  Morgenländer  mit 
dem   Kreuz.    Jenen  aber  deckte  sein  abendlän- 

120 


discher  Schuppenpanzer.  Es  fließt  kein  Blut. 
Doch  Speer  und  Panzer  funkeln.  — 

Nietzsche  hat  es  leicht  und  schwer,  die  eigene 
Gegenwart  gering  zu  achten,  die  Dehmel  so  ent- 
zückt: sein  gallischer  Geist,  der  abgeschnellte, 
überschwebt  die  Stufen  um  so  leichter,  je  schwerer 
er  seine  Gegenwart  erträgt.  Symbol:  sein  Körper 
war  leidenschaftslos,  frei,  weil  er  zart  war  und  litt. 
Dawider  Dehmel,  langsam  Schwere  um  Schwere 
überwindend,  kampfreich  und  allenthalben  durch 
sich  selbst  gehindert.  Symbol:  sein  Körper  war 
der  Schauplatz  jeder  Leidenschaft,  weil  er  stark  ist. 

Nietzsche  singt  die  höchsten  Berge  und  kann 
sie  nicht  ersteigen.  Dehmel  ist  vainqueur  du 
Montblanc  und  singt  nur  zuweilen  die  Berge. 
Das  Ende:  Nietzsche  bricht  zusammen,  sein  Geist 
entflieht  im  Leben.  Dehmel  wird  alt  und  niemals 
wird  sich  dieser  Geist  vom  Lebenden  trennen. 

Nietzsche  war  kein  Übermensch.  Aber  Dehmel 
ist  der  Mensch,  der  dem  Schicksal  gewachsen  ist. 


VON  ZWANZIG  BIS  VIERZIG 

„Bin  Mensch,  All,  Nichts, 
nach  Wahl  des  Lichts." 

In  harten  Zügen  schweigt  ein  kühner  Wille, 
keusch  und  entschlossen  bricht  der  dunkle  Blick 
hervor;  soldatisch  die  Haltung,  das  Haar  starrt 
kurz:  der  Zwanzigjährige. 

121 


Wüst  und  schwielig  wurde  das  Antlitz,  durch 
sein  aufgerissenes  Auge  stiert  es  vorwärts,  dicke 
Locken  tropfen  herunter;  in  barocken  Schnörkeln 
stehen  Spitzbart  und  Schnurrbart,  zwei  schwere 
Narben  flankieren  die  Nasenflügel:  der  Fünfund- 
dreißigj  ährige. 

Hoch  schwebt  Gelassenheit  auf  durchgebrann- 
ten Zügen;  ein  Blick,  mehr  grau  als  blau,  Stimmung 
mehr  als  Wille  rieselt  ins  Leere;  die  Narben  sind 
Furchen  geworden,  die  Stirn  von  vorn  wie  Mi- 
chaels, en  face  zurückfliehend  wie  eines  Lämmer- 
geiers; die  Nase  hat  zwei  Profile  gewonnen:  ein 
handwerkerlich  befangenes,  ein  herrisch  gereiftes; 
Bart  kurz,  die  kühl  zurückgekämmten  Haare  schon 
ergrauend:  der  Fünfzigjährige. 

Und  dennoch  liegt  nicht  etwa  zwischen  diesen 
drei  Punkten  seine  interessanteste  „Entwicklung". 
Bedingten  einander  von  Stufe  zu  Stufe  dies  Werk 
und  die  Geschichte  dieser  Seele,  von  Stufe  zu 
Stufe  hätten  wir  dies  dargelegt.  Aber  Dehmel 
hat,  noch  deutlicher  als  manches  Genie  vor  ihm, 
das  Vorgefühl  seines  Lebens  von  Anbeginn  so 
stark  besessen,  daß  er  mit  dreißig  Jahren  schon 
gestaltete,  was  erst  dem  Fünfzigjährigen  em- 
pirisch geläufig  geworden.  Sein  Leben  ist  ein 
Nach-  und  Ausgestalten  seiner  dichterischen 
Grundgefühle.  Noch  jung,  noch  still,  sah  er 
schon  den  lauten  Strom  voraus,  noch  strömend 
schon  die  Mündung,  und  so,  a  priori,  hat  er  sie 
besungen. 


122 


Und  doch  darf  man  von  ihm  nicht  sagen,  er 
sei  von  Anfang  einem  Ziele  zugegangen.  Er  ging 
und  geht,  dieser  Mann  und  Dichter,  er  sinnt,  er 
lacht,  er  trauert,  das  ist  alles.  „Zielbewußt,  sagte 
er  selbst,  sind  nur  die  Dilettanten  unter  den 
Künstlern." 

Eine  Psychographie  Dehmels  würde  aus  diesen 
Gründen  auch  dann  nicht  viel  ergeben,  wenn  sie 
der  Takt  vor  einem  Lebenden  gestattete.  Das 
Zeugnis  persönlichster  Dokumente  kann  erst  nach 
dem  Tode  eines  Künstlers  zur  Anonymität  heran- 
reifen, dann  erst  der  Öffentlichkeit  preisgegeben 
sein.  Im  Bilde  dieses  Mannes  wird  sich  auch  nach 
dem  Tode  sicher  nichts  Überraschendes  zeigen. 
Ist  nicht  sein  Werk  sein  Tagebuch?  Und  hat  er 
es  nicht  mit  höchst  ergriffener  Gebärde  immer 
neu  der  Welt  geöffnet?  Nicht  nur  als  Zeugnis 
reifender  Künstlerschaft,  wachsender  Einsichten, 
vor  allem  auch  als  Akte  zur  Geschichte  eines 
Menschen. 

Dazu  tritt  die  empirische  Ereignislosigkeit,  die 
die  Kulisse  dieses  vielbewegten  inneren  Lebens 
bildet. 

Leicht  ließe  sich  mit  diesem  Leben  literarisch 
experimentieren;  man  könnte  es  etwa  in  die  drei 
Teile  scheiden,  in  die  er  sein  Epos  schied: 
Erkenntnis,  Seligkeit,  Klarheit.  Wichtig  aber  war 
und  bemerkenswert  ist  in  Richard  Dehmels  Leben 
im  Grunde  nur  eines :  die  sehr  späte,  sehr  schwere, 
verantwortungsreiche  Entwicklung. 

123 


„Denn  ich,  bin  wie  jene  großen 
Tagraubvögel,  die  zum  Fliegen 
sich  nur  schwer  vom  Boden  heben, 
aber,  wenn  sie  aufgestiegen, 
frei  und  leicht  und  sicher  schweben." 


Er  war  als  Kind  verschlossen  und  „ein  Schmerz 
mußte  schon  fast  übergroß  für  mich  sein,  ehe  ich 
damit  zu  Muttern  ging".  Zugleich  war  er  aber 
unbändig  lustig,  und  die  Jungen  nannten  ihn 
Kladderadatsch,  weil  er  so  viel  lachte.  Plötzlich, 
mit  beginnender  Pubertät,  wurde  er  grüblerisch, 
und  das  war  sehr  spät.  Dieser  Erotiker  wurde 
erst  im  18.  Jahre  mannbar  und  hat  sich  vor  dem 
21.  nicht  verliebt.  In  den  kritischen  Jahren 
wurde  er  von  „allerlei  krampfhaftem  Spuk  heim- 
gesucht"; hatte  auch  später  noch  sonderbare 
Sehkrämpfe,  die  er  sich  aberzogen  hat. 

Wegen  sehr  schlechten  Betragens  aus  dem  Ber- 
liner Gymnasium  entfernt,  hat  er  wegen  sehr 
guten  Verstandes  sein  Examen  in  Danzig  leicht  ge- 
macht; dann  vom  19. — 24.  Jahre  die  philosophische 
Fakultät  durchaus  studiert,  von  der  Chemie  bis  zur 
Soziologie,  dazu  fürs  Geld  zwei  Zeitungen  redigiert 
und  ist  schließlich  als  Leipziger  Doktor  gelandet. 

Mit  Zwanzig,  als  ihn 

„das  Jugendblut  noch  trieb 

mit  offener  Hand  an  jedes  Herz  zu  stürzen", 

schwankt  sein  Ideal  noch  zwischen  Deutzer  Kü- 
rassieren und  Gardeducorps.    Als  Student  ist  er 

124 


offizieller  Sprecher  einer  Burschenschaft,  toastet  in 
Knittelversen  immer  aus  dem  Stegreif,  ohne  auf- 
zuschreiben. (Später,  als  er  sich  hieran  gewöhnte, 
wurde  ihm  die  Rede  schwer). 

Vor  22  hat  er  nichts  gedichtet,  erst  nach  24  be- 
gonnen, sich  ,,als  Künstler  zu  züchten".  Aber 
erst  mit  28  veröffentlicht  er  sein  erstes  Buch. 

Alle  diese  Daten  fallen  später  als  bei  den  meisten 
Dichtern. 

Nach  dem  Examen  setzt  er  sich  acht  Jahre 
lang  in  einen  harten  Dienst.  Dieser  Lyriker  hat 
über  Versicherungswesen  promoviert  und  war 
„Sekretär  des  Verbandes  Deutscher  Feuerver- 
sicherungsgesellschaften". (Dem  nachgeborenen 
Symbolisten  eröffnet  sich  ein  ungemessenes  Feld 
für  reizende  Glossen.)  In  einer  autobiographischen 
>kizze  schreibt  Dehmel  darüber,  trocken,  kalt :  „In 
diesem  Amt,  mit  seinem  peinlichen  Bürodienst, 
der  mich  manchmal  der  Verzweiflung  nahe  brach- 
te, lernte  ich  Selbstbeherrschung  und  gab  meine 
ersten  drei  Gedichtbücher  heraus:  Erlösungen, 
Aber  die  Liebe,  Lebensblätter."  Und  setzt  hin- 
zu :  „Es  war  mir  also  wie  den  Singvögeln  ergangen, 
die  erst  im  Käfig  ihre  volle  Stimme  entwickeln." 

In  diesem  Jahrzehnt  —  von  25  bis  35  —  ist 
er  schwerer  und  auch  schwüler  geworden,  als  er 
zuvor  gewesen  und  als  er  nachher  wurde.  In  solcher 
Schwere  hat  ihn  kürzlich  Dauthendey  sehr  dichte- 
risch geschildert.  An  diese  Schwere  dachte  Dehmel 
wohl  auch  zurück,  als  er  später  einen  jungen  Künst- 

125 


ler  staunend  fragte:  „Fünfundzwanzig  Jahre  sind 
Sie  erst  —  und  schon  so  heiter  ?" 

Schon  im  Beginn  dieses  Jahrzehntes  hat  er,  der 
sich  doch  sonst  in  allen  Stücken  spät  entwickelte, 
geheiratet.  Am  Ende  dieses  Jahrzehntes  hat  er 
seine  Ehe  gelöst.  Kurz  darauf  hat  er  seine  zweite 
Ehe  geschlossen. 

Hiermit  korrespondiert  die  zivile  Entwicklung. 
„Als  ich  mir  gestehen  durfte,  daß  meine  künst- 
lerische Wirkungskraft  mich  wirklich  dazu  be- 
rechtigte, gab  ich  mein  bürgerliches  Amt  auf, 
nach  71/2jähriger  Tätigkeit,  32  Jahre  alt."  Schwer, 
deutsch,  lapidar. 

Seitdem  gibt  es  in  diesem  Leben  keine  Daten 
mehr.  Die  schmale  Liste  endet  schon  hier.  Innere 
Selbstzucht  ist  das  Stichwort  dieses  Lebens. 


Man  stutzt.  Ein  Erotiker,  der  eine  frühe  Ehe 
schließt  und  kurz  nach  deren  Trennung,  noch 
jung  die  zweite  ?  Ein  prophetisches,  ein  herri- 
sches Gemüt,  das  früh  ein  Amt  nimmt  und  acht 
Jahre  aushält  ?  Und  nachher  keine  Daten  ?  Man 
könnte  fragen:  Warum  ist  diese  dämonisch  okku- 
pierte Natur,  mit  ihrem  ungemessenen  Trieb  ins 
Allgemeine,  mit  ihrem  Stolz,  mit  ihrer  dunklen 
Kühnheit,  —  warum  ist  sie  nicht  Held  noch 
Abenteurer  geworden? 

Und  hinderte  ihn  seine  Schwere,  sein  Ge- 
wissen, zu  abenteuern :  warum  ist  er,  der  tausend 

126 


Arbeiter  zum  Sturm  hinreißen  kann,  warum  ist 
dieser   Mitmensch  nicht  Volksführer  geworden? 

Ein  einziges  Mal  hat  er  wie  ein  Volksmann  ge- 
sprochen, —  nicht  mündlich  und  nicht  in  seinen 
Versen.  D'Annunzio  hatte  sich  von  seinen 
Bauern  ins  Parlament  wählen  lassen  und  sie  er- 
mahnt, kein  Gemeingut,  stets  jeder  seine  Scholle 
zu  halten.  Dagegen  warf  sich  Dehmel  auf,  mit 
einer  Glut,  die  er  seiner  Prosa  sonst  fernhält. 
Man  fühlt,  dies  konnte  ein  Absprung  sein. 

Doch  es  blieb  Dichterglut,  auf  dem  Papiere. 
D'Annunzio  hat  sicher  wie  Cicero  gesprochen; 
Dehmel  sprach  nicht  wie  Luther.  Jener  —  der 
am  reichsten  begabte  unter  allen  Dichtern  seiner 
Zeit  —  nahm,  mit  lateinischer  Gebärde,  auch  diese 
Maske  einmal  vor:  um  Macht  zu  spüren.  Weil 
D'Annunzio  Künstler  in  reiner  Kultur  ist  und 
nur  zuweilen  mit  Verkündigungen  spielt,  konnte 
er  spielend  ein  Stück  Wirklichkeit  erraffen.  Weil 
Dehmel  mit  ethischem  Pathos  ein  Stück  Ver- 
künder ist,  konnte  er  sich  nie  in  den  engeren 
Kampf  seiner  Gegenwart  mischen. 

Zu  Anfang  schien  er  dazu  bereit.  Dehmels 
erstes  Gedicht  hieß:  An  Robert  Koch.  Das  ist 
symbolisch  für  den  ersten  Auftrieb.  Es  ist  aber 
auch  ein  Pfand  an  seine  Generation.  War  es  nicht 
damals,  daß  —  umgekehrt  wie  heute  —  die  besten 
Geister  entschlossen  schienen,  die  Natur  durch 
den  Menschen  zu  beleben  ?  Es  war  eine  Art 
ekstatischer    Darwinismus.     Dehmel    wollte    die 


127 


Mitwelt  umfassen  —  und  er  ergriff  das  nächste 
Stück  davon.  Das  Soziale  —  ein  Teil  seines 
Stoffes  in  der  ersten  Zeit  —  war  ihm  schon  damals 
nichts  als  Symbol.    Schnell  wurde  es  ihm  zu  eng, 

„weil  mein  Herz  so  wild, 

weil  es  Meere  braucht .  .  ." 

Doch  auch  diese  Meere  hört  man  schon  in  seinen 
ersten  Gedichten  rauschen.  Man  sollte  nicht  stets 
wiederholen,  das  „große  Ringen"  wäre  Kennzeichen 
von  Dehmels  Entwicklung.  Es  ist  vielmehr  —  wir 
dürfen  wiederholen  —  Kennzeichen  seines  Wesens. 
Und  deshalb  ist  sein  erstes  Werk  weder  epigonisch 
noch  unreif,  sondern  frühreif;  doppelt  erstaunlich, 
da  es  von  einem  schon  achtundzwanzigj  ährigen 
Dichter  stammt.  Alle  Motive  dieser  Seele  sind 
darin.    Er  hat  sich  im  Folgenden  bloß  bestätigt. 

Nur  ein  Stück  erotischer  Ekstase  kam  hinzu, 
und  auch  dies  sehr  bald  („Aber  die  Liebe").  Es 
war  die  Zeit,  in  der  seine  Züge  jenen  verwüsteten 
Ausdruck  gewannen.  Es  war  die  Zeit,  als  Dehmel 
mit  Strindberg,  Prszybyszewski  und  den  Andern 
manche  Nacht  vertrank.  Sein  viertes  Buch  „Weib 
und  Welt"  brennt  dann  noch  heller  als  die 
vorigen. 

Nachträglich  hat  man  jene  Monate  eine  Kette 
von  Orgien  genannt.  Es  ist  banal.  „Wir  haben", 
erzählte  der  Dichter,  „nie  Geschlechtsorgien 
zusammen  gefeiert,  wie  manche  meinen.  Das  Ge- 
schlechtliche war  uns  nur  die  unerschöpfliche  Quelle 
für  Reden,  Philosophieren,  Dichten.    Wir  haben 

128 


Wortorgien  gefeiert,  das  ist  alles."  (Dieser  Eksta- 
tiker  hat  nur  sehr  selten  in  der  Ekstase  gedichtet.) 

Man  kann  formulieren :  Zuerst  brach  —  spät  — 
aus  diesem  Dichter  ein  großes  Credo  los,  gespeist 
von  inneren  Quellen;  rhythmisch  stieß  er  sein 
Weltgefühl  hervor.  Darum  waren  die  „Erlösun- 
gen" —  erste  Ausgabe  —  demagogischer,  pro- 
grammatischer, geistiger.  Dehmel  liebte  damals 
Schiller,  aus  Widerspruch  gegen  den  „Naturalis- 
mus", denn  auch  an  anderen  bedeutete  ihm  „der 
rein  geistige,  sprachlich  schöne  Ausdruck  die  Fülle 
der  Poesie". 

Später  wurde  sein  Werk  mehr  Gelegenheits- 
dichtung, im  Goetheischen  Sinne:  sinnlicher,  zu- 
fälliger, suggestiver.  „Das  viele  schwül  Geschlecht- 
liche, das  in  meinen  früheren  Dichtungen  steht, 
war  nur  unbefriedigtes  Geschlecht.  Jetzt  kann 
ich  in*  meiner  ganzen  Dichtung  harmonisch  sein." 

Bei  dieser  Äußerung  des  Dichters  lassen  wir  es  be- 
wenden. Der  Nachwelt  —  die  empirischen  Belege. 


DER  WEISE  JÜNGLING 

„Lern  in  der  Zeit  dein  Urbild  finden, 
Kunst  geht  dem  Leben  Hand  in  Hand, 
es  gilt  den  Stoff  zu  überwinden. 
Tod  ist  des  Lebens  höchstes  Unterpfand." 

Mit    Vierzig    ließ    Dehmel    sein    Hauptwerk, 
„Zwei  Menschen",  erscheinen.     Dann  schien   er 

9    Ludwig,  Richard  Dehmel  I  29 


bis  Fünfzig  fast  stillzustehn.  Einige  Jahre  ver- 
wandte er  zur  Sammlung  seiner  sämtlichen  Werke. 
Aber  bei  diesem  Anlaß  hat  er  in  Wahrheit  drei 
Bände  neu  geschaffen.  Viele  neue  Verse  sind  in 
die  alten  Bände  eingeflossen,  zwei  Prosabände 
waren  neu,  vieles  kam  in  völlig  verwandelter  Ge- 
stalt zum  andern  Male  an  das  Licht. 

Wir  sehen  drei  Antriebe  für  diese  Arbeit. 
Deutschheit,  Gründlichkeit,  Dehmelsche  Geistig- 
keit, die  alle  Ekstasen  in  Systeme  glätten  möchte 
(wozu  sich  auch  Goethe  schon  jung  getrieben 
fühlte);  ferner  der  Wunsch  nach  einer  großen 
Fermate;  endlich  sogar  der  Gedanke,  sich  mehr 
und  mehr  von  seiner  Urform  abzuwenden,  einer 
andern,  etwa  der  dramatischen  zu;  und  darum 
seine  Habe  wie  vor  dem  Beginn  einer  neuen 
Epoche  zu  sichten. 

Dehmel  fühlte  sehr  wohl  den  Aufschwung,  den 
die  deutsche  Dichtersprache  in  den  letzten  zwei 
Jahrzehnten  genommen  —  mit  ihm  und  auch 
durch  ihn  —  und  war  entschlossen,  sich  vor  der 
Nachwelt  seinen  Teil  daran  zu  sichern. 

Manches  hat  bei  dieser  „Sturzackerei"  gelitten; 
so  hat  etwa  „Dante  guidante"  seine  beste  Zeile 
verloren.  Die  „Verwandlungen  der  Venus"  haben 
viel  selige  Einsamkeit  eingebüßt,  um  Glieder  einer 
nicht  überzeugenden  Architektur  zu  werden.  Doch 
sollte  Niemand  den  Wert  vieler  wunderbarer  Um- 
wandlungen unterschätzen.  Zwei  Beispiele  für 
diese  Formvollendung. 

130 


1891:  Die  Flur  will  ruhn: 

in  Halmen,  Zweigen 

ein  leises  Neigen. 

Aus  Wiesen  nun 

die  Nebel  steigen: 

ob's  wohl  zu  hören? 

Lauschen  ich  will .... 

Still,  Liebchen,  still: 

wir  stören 

ihr  seliges  Schweigen. 
1907:  Die  Flur  will  ruhn. 

In  Halmen,  Zweigen 

ein  leises  Neigen. 

Dir  ist,  als  hörst  du 

die  Nebel  steigen. 

Du  horchst  —  und  nun: 

dir  wird,  als  störst  du 

mit  deinen  Schuhn 

ihr  Schweigen. 

1891:  Schlaflos  lieg  ich,  wie  im  Fieber 
starr  ich  in  die  Schatten  hin, 
ob  mir  eben  nicht  ihr  lieber 
Augenstrahl  erglänzte  drin. 
Ob  nicht  solche  Grüße  brächten 
auch  zwei  Seelen  sich  von  fern, 
wie  in  heitren  Sommernächten 
fällt  vom  Himmel  Stern  zu  Stern. 

1907:  Schlaflos  lieg  ich,  wie  im  Fieber 
starr  ich  in  ein  Schattenmeer. 
Endlich  glänzt  vielleicht  dein  lieber 
Augenstern  darüber  her. 
Endlich!    Und  zwei  Seelen  brächten 
solchen  Gruß  sich  durch  die  Welt, 
wie  aus  hohen  Sommernächten 
Stern  zu  Stern  vom  Himmel  fällt. 


131 


Außer  dieser  Sammlung  seiner  Habe  und  der 
Habe  des  toten  Liliencron,  sowie  dem  „Michel 
Michael"  —  einem  Zwischenwerke  —  hat  der 
Dichter  von  Vierzig  bis  gegen  Fünfzig  nichts  ge- 
schaffen; er  hat  geruht. 

Indessen  ist  er  aus  einem  wild  durchschüttelten  ein 
himmlisch  geklärtes  Wesen  geworden;  im  Kampf 
mit  Gott  ward  Lucifer  zu  Michael  erhöht.  Das  hat 
nicht  er  aus  sich,  noch  ein  Erlebnis  aus  ihm  gemacht ; 
„nur  Zeit".  Will  man  ihm  selber  ein  Verdienst  er- 
kennen :  er  ließ  seinen  Dämon  gewähren,  ließ  ihm 
Zeit. 

Der  Kampf  der  Widersprüche,  der  diesen  Mann 
seit  zwanzig  und  dreißig  Jahren  geschüttelt,  den 
er  mit  jedem  Tage  neu  zu  schlichten  trachtete, 
hat  sich  von  selbst  beruhigt;  der  allzu  große 
Pendelausschlag  glich  sich  aus,  bis  zu  jenem  Gleich- 
maß, das  den  regelmäßigen  Gang  eines  Werkes 
verbürgt.  Leidenschaft  ebbte  zurück,  Geistigkeit 
wich  aus  der  Sphäre  der  Störungen  fort;  Tyche 
wurde  die  oberste  Göttin.  Einst  war  die  Seele 
dieses  Mannes  zerklüftet  vom  Wettstreit  der 
Triebe;  Selbstgefühl  und  Mitgefühl,  Tier  und 
Gott,  Bewußtsein  und  Ekstase  schlugen  immer 
wieder  feindlich  zusammen  und  traten  doch  im- 
mer neu  geschlichtet  ans  Licht:  Eros  war  immer 
der  Heilende  gewesen.  Jetzt  gleicht  diese  Seele 
wahrhaft  einer  glänzenden  Fläche,  und  nur  die 
Narben,  welche  Furchen  wurden,  geben  noch 
am  Körper  Kunde  von  jenen  Erschütterungen. 

132 


„Wenn  ich  sterbe,"  sagte  der  Dichter,  „spielt  mir 
Glucks  Elysium!" 

Von  den  Seinen  hier  zu  sprechen,  dünkt  uns 
nicht  der  Ort  und  noch  lange  nicht  die  Stunde. 
Dehmel  hat  eine  merkwürdige  Scheu  vor  dem 
Worte  Freund,  und  halb  ironisch  führt  er  in  sei- 
nem Kapriccio  „Autobiographie"  an  fünfzig 
„Freunde"  mit  Namen  vor. 

Vor  allem  am  meisten  liebte  erLiliencron.  „Liebe 
ist  eigentlich  nicht  das  rechte  Wort",  sagte  er  ein- 
mal. „Ich  habe  solche  Freude  an  ihm;  alles,  was 
er  tut,  freut  mich."  Die  Dokumente  dieses  sonder- 
baren Bruderbundes  stehn  in  Liliencrons  Briefen, 
auch  in  dem  prachtvollen  Grundriß,  den  Dehmel 
als  Einleitung  dazu  von  dem  Freunde  entworfen 
hat ;  vor  allem  in  den  Worten,  die  er  über  sein 
offenes  Grab  hinhallen  ließ. 

* 

Manches  ist,  was  den  gelassenen  Mann  erregen 
könnte. 

Frei,  seine  Wohnstätte  zu  wählen,  lebt  dieser 

Dichter  fern  von  seiner  Heimat,  der  er  sich  innigst 

verbunden  fühlt,  in  einer  Landschaft,  die  ihm  ganz 

fremd  war  und  recht  fremd  geblieben  ist. 

„O  mit  welchem  Bangen 

schaue  ich  manchmal  vom  Fenster  herunter, 

durch  die  enge  Hafengasse 

wie  von  einer  Festungsterrasse, 

auf  den  kahlen  Inselrand 

da  mitten  in  dem  grauen  Fluß !  .  . ." 

Aber  es  trifft  ihn  nicht,  und  er  lächelt. 

133 


Nicht  nur  in  die  heimatliche  Landschaft;  sein 
größerer  Wunsch :  ins  Volk  zu  dringen,  bleibt  ihm 
einstweilen  unerfüllt.  Vieler  Völker  könnte  er 
sich  rühmen*.  Er  sucht  „das  Volk".  Zumindest 
möchte  er  in  alle  Seelen  dringen,  die  seine 
Sprache  reden,  —  höchst  anonym  mit  seinen  Ge- 
sängen, Gestalten.  Da  fragt  er  sich  nicht,  ob 
überhaupt  in  Deutschland,  ob  es  um  1900  möglich 
sei,  mit  Kunst  ins  Volk  zu  dringen,  wie  das  noch 
Schiller  und  Weber  glückte;  (ob  nicht  vielleicht 
die  Einigung  des  Reiches  das  Volkstümliche  er- 
schwert, statt  zu  erleichtern). 

Ein  Stück  Ersatz  sucht  er  in  seinem  Bardentum. 
Denn  wenn  Dehmel  in  den  Formen  seines  Jahr- 
hunderts, im  Konzertsaal  und  im  Frack,  seine 
Lieder  und  Gesänge  rhapsodiert,  ändern  die  For- 
men nichts  an  dem  innersten  Motiv,  das  ihn,  zu- 
mindest anfangs,  angetrieben.  Unter  allen  rezi- 
tierenden Dichtern  ist  keiner,  der  so  wie  er  aus 
Religiosität  dies  moderne  Martyrium  aufgenom- 
men. 

Hoch  steht  er,  mit  dem  großen  Ernste  steht  er  da, 
mit  seltener  Geste  seinen  Ton  belebend.  Und  wirk- 
lich ist  in  ihm  jene  ekstatische  Vibration,  die  er 
vom  redenden  Dichter  fordert:  „im  ganzen  mehr 

*  Dehmel  ist  übersetzt :  ins  Russische  von  Lydia  Lepesch- 
kin;  ins  Böhmische  von  Rudolf  Illovy,  Otto  Klein,  Fred  Bowles 
u.  A. ;  ins  Italienische  von  Tom  Gnoli,  Bruno  Vignola  u.  A. ; 
ins  Französische  von  Henri  Guilbeaux,  Henri  Albert  u.  A. ;  ins 
Englische  von  Jethro  Bithell;  ins  Polnische  von  Josef  Wittlin 
und  Jean  Paul  d'Ardeschah. 

134 


Hingerissenheit  als  beim  Rezitator,  im  einzelnen 
mehr  Verhaltenheit." 

Herman  Bang  schien,  ganz  Schauspieler,  sein 
Werk,  das  er  ganz  memoriert  hatte,  in  diesem 
Augenblick  erst  vor  den  Hörern  zu  konzipieren,  — 
die  er  doch  verachtete.  Dehmel,  ganz  Dichter, 
gibt  mit  Bewußtsein  seine  besten  Werke  den  Ab- 
gesandten seines  Volkes  preis.  Jener  verheimlichte 
die  Vorbereitung,  dieser  betont  sie.  Und  niemand 
vergißt,  wer  sie  je  sah  und  hörte,  seine  dunkle  Er- 
scheinung, die  Verklärung  im  Ton,  wie  er  vortrug: 
Die  Harfe,  Prometheus,  Zwei  Menschen,  Hohes 
Lied. 

Und  doch  ist  dies  mitnichten  ein  Ersatz. 

Immer  wieder  wendet  sich  hierauf  seine  Rede. 
Im  nächtlichen  Garten  —  Jupiter  stand  ihm  zu 
Häupten  —  richtete  der  Dichter  seinen  Blick 
in  eine  fremde  Landschaft,  auf  einen  italischen 
See.  „Wer  kennt  uns  ?  Eine  schmale  Oberschicht. 
Was  kann  die  bedeuten,  wenn  sechzig  Millionen 
die  deutsche  Sprache  sprechen.  —  Da  liegen  die 
vielen  Orte  von  fremder  Zunge,  und  überall 
neue  und  überall  Schicksal,  —  und  man  denkt: 
diese  alle  ahnen  garnichts  von  dem,  was  man 
schafft  .  .  .  Und  fühlt  doch  immer:  für  Alle!" 

Wohl  mag  er  fühlen,  in  welche  Gefahr  sein  Volk 
ihn  grade  jetzt  bringt:  als  moderner  Klassiker  ein- 
geordnet, ohne  gelesen  zu  werden.  Keinen  Dichter 
trifft  dieser  Mangel  an  großem  Echo  tiefer  als 
Dehmel,  denn  Mitgefühl,  nicht  Eitelkeit  ist  hier 

135 


der  Urtrieb.  Aber  es  trifft  ihn  wiederum  garnicht, 
—  und  er  lächelt. 

Nun  wird  er  leichter,  wird  eleganter;  man  kann 
Dehmel  jetzt  sogar  das  Rokoko  preisen  hören. 

Nun  steigt  er  auf  die  höchsten  Berge;  auch  dies 
hat  er  erst  spät  geübt.  Früher  dürstete  dieser 
Gaumen  nach  heißen  Räuschen;  jetzt  rühmt  er 
Gletscherluft  als  den  kühlsten  Rausch. 

Und  nun  gibt  er  am  Ende  dieses  ruhenden 
Jahrzehnts,  an  dessen  Ausgang  ein  arbeitsvolles 
wartend  steht,  den  Freunden  einen  kleinen  Band 
neuer  Gedichte,  seit  fünfzehn  Jahren  das  erstemal*. 
Sie  bergen  alles,  was  jetzt  an  süßer  Reife,  was  an 
Gleichmaß  und  Entzückung  in  ihm  lebt.  Fünf- 
jährigem Burgunder  gleichen  sie:  noch  herb  und 
schon  süß. 

Milder  wird  das  Brausen  der  Visionen,  ein 
reineres  Anschauen  kam.  Was  früher  strahlte, 
nun  erglüht  es.  Wo  Verkündigungen  schrien,  ist 
nun  ein  Gebet. 

Das  Format  ist  kleiner,  fast  alle  Gedichte  sind 
kurz.  Den  alten  großen  Oratorien  folgt  hier  die 
knappe  „Schöpfungsfeier";  worin  die  Seele  einer 
Mutter  singt: 

„Immer  heller  wird  uns  angezündet 
rings  vom  Vater  Geist  das  Flammenspiel. 
Jede  Kerze  flimmert  ihm  verbündet, 
jede  Blume  schimmert  einbegründet 
in  sein  glanzverhülltes  Ziel." 


*  „Schöne  wilde  Welt* 
I36 


Dies  ganze  Gedicht  läuft  ab  im  regelmäßigen 
Rhythmus  Rameauscher  Wechselgesänge,  und  ein 
„Morgenländisches  Preislied"  variiert  sechs  Stro- 
phen lang  dieselben  Reime,  in  der  Art  Plauens. 
Und  doch  bedeutet  das  keine  abtrünnige  Rück- 
kehr zur  Überlieferung;  nur  Meisterschaft.  Denn 
jetzt  vermag  dieser  Dichter  leicht,  was  ihm  sonst 
nur  selten  vergönnt  war :  zu  spielen. 

Dehmel,  der  dionysisch  oft  Berauschte,  erschim- 
mert nun  gleich  einem  apollinischen  Geist. 

Das  Barocke,  das  noch  die  umgeformten  Venus- 
Verwandlungen  bedrängte,  hier  ist  es  fast  ganz 
geschwunden;  höchstens  gibt  es  noch  einmal  eine 
„weltenvolle  Welt"  oder  dergleichen. 

Eros,  —  da  ist  auch  Eros  wieder.  Ein  leichter, 
fließender,  ein  endlich  ganz  gedankenloser  Eros, 
und  streut  eine  ganze  Menge  kleiner  Gedichte 
aus,  an  die  Jugend.  Goetheisch  sind  die  Titel: 
Entzückung,  Verklärung,  Benedeiung,  Entrük- 
kung. 

„Einmal,  Erde,  wollt  ich  dich  küssen: 

ein  Weib  in  Armen,  jach  Schoß  an  Schoß, 

zu  Boden  stürzend  in  rasendem  Tanz. 

Da  winkte  ein  Mädchen  mir  zum  Reigen, 

einen  weißen  Mantel  um  die  Hüften, 

in  den  tiefblauen  Augen  einsamen  Glanz  .  .  ." 

Von  aller  Schwüle,  aller  Schwere,  die  noch  in 
ihm  geschwelt,  auf  ihm  gelastet,  sind  diese  Lieder 
ganz  genesen.  Leichter  liebt  er  und  dichtet;  mehr 
germanisch,  weniger  orientalisch: 

137 


„Hab*  ich  schon  mit  dir  gespielt, 
ah  wir  Kinder  waren, 
scheu  um  Nachbars  Ecke  geschielt 
nach  deinen  flirrenden  Haaren? 

Wenn  mich  nur  dein  Atem  streift, 
fühl'  ich  uns  durchs  Heidekraut  springen; 
wenn  mich  deine  Hand  ergreift, 
möcht  ich  mit  dir  ringen. 

Bist  du  doch  so  schlank  und  schmeid, 
daß  ich  Tag  für  Tag  sinne: 
spielst  du  mit  mir  Engelsmaid 
oder  Frau  Teufelinne? 

Denn  in  Nächten,  da  schwing'  ich  dich 
flügeltraumwild  um  hohe  Feuer. 
O,  umschling,  umschlinge  mich, 
glühendes  Abenteuer!" 

Wo  sind  die  „Störungen"  nun?  Ist  nicht  die 
Gegenwart  wahrhaft  mythisch  geworden  in  jenem 
„Gebet  im  Flugschiff";  wo  jedes  moderne  Wort 
seine  Stelle  hat  und  alles  am  Schlüsse  in  den 
großen  Schoß  des  einen  Wortes  mündet :  Phantasie ! 
Seine  Menschensucht  ist  sehr  gestillt.  Lieber 
blickt  er  nun  ins  Unvergängliche  hinüber  als  auf  die 
Menschen  neben  ihm.  Zum  erstenmal  im  Leben 
wünscht  er :  die  Toten  wiederzusehen,  verwandelt : 

„. .  . .  Jetzt  lächeln  wir,  jetzt  lächeln  wir, 
wir  Unvergänglichen." 

Naturgefühl,    menschenleer,    tritt   stärker   vor. 
Hochsommerlied : 

„Golden  streift  der  Sommer  meine  Heimat, 
brotwarm  schwillt  das  hohe  reife  Korn, 

138 


wie  in  meiner  goldnen  Kinderzeit; 
habe  Dank,  geliebte  Erde! 

Schwalben  rufen  mich  hinauf  ins  Blaue, 
weiße  Wolken  türmen  Glanz  auf  Glanz, 
wie  in  meiner  blauen  Jünglingszeit; 
habe  Dank,  geliebte  Sonne!" 

Die   Symbole   haben   den   härtesten   Ausdruck 
gefunden,  die  schlichteste  Formel.    Gleichnis: 

„Es  ist  ein  Brunnen,  der  heißt  Leid; 
draus  fließt  die  lautre  Seligkeit. 
Doch  wer  nur  in  den  Brunnen  schaut, 
den  graut. 

Er  sieht  im  tiefen  Wasserschacht 
sein  lichtes  Bild  umrahmt  von  Nacht. 
O  trinke!    da  zerrinnt  dein  Bild: 
Licht  quillt." 

Solcher  elegischen   Klarheit  folgt   diese  melo- 
dische: Zweier  Seelen  Lied: 

„Lieber  Morgenstern, 
lieber  Abendstern, 
ihr  scheint  zwei 
und  seid  eins. 

Ob  der  Tag  beginnt, 

ob  die  Nacht  beginnt, 

findet  euer  Schein 

in  uns  Zweien  die  Liebe  wach. 

Lieber  Abendstern, 

lieber  Morgenstern, 

hilf  uns  Tag  für  Tag 

eins  sein,  bis  die  letzte  Nacht  uns  eint." 

Nun  steht  der  Dichter  und  reißt  nicht  mehr  das 
Schicksal  an  sich,  nun  prangt  er  nicht  mehr  in  jenem 

139 


Mannesbewußtsein :  dem  Schicksal  gewachsen !  Ich 
und  die  Zukunft !  Stumm  sieht  er  nun  die  Zukunft 
vor  sich  stehn,  mit  gefesselten  Händen  hält  sie 

„eine  geschlossene  Schriftrolle, 

drin  mein  Schicksal  verzeichnet  steht. 

Langsam,  Tag  für  Tag, 

ringe  ich  deinen  Fingern 

Zoll  für  Zoll  die  Urkunde  ab, 

Zeile  für  Zeile. 

Bis  der  Augenblick  kommt, 

wo  das  entrollte  Papier, 

eh  ich  das  letzte  Wort  noch  las, 

meinem  erschöpften  Arm  entfällt; 

und  mit  gefesselten  Händen 

gibst  du  den  Winden  zur  Sage  anheim, 

was  ich  tat." 

Und  wie  eine  Folge  milden  Atems  und  großer 
Herzschläge,  wie  am  Abend  schließt  er  das  Buch 
mit  einem  Nachtgebet. 


Den  Kampf  zwischen  Brunst  und  Inbrunst, 
den  Dehmel  dreißig  Jahre  auf  und  ab  gekämpft, 
dem  freilich  sind  die  Jüngeren  entwachsen.  A 
priori  lebt  in  ihnen  eine  natürlichere  Helle,  die 
jene  Naturen  sich  erst  erringen  mußten.  Ist 
Dehmel  Kämpfer  von  Natur  — ,  sie  sind  die 
Tänzer. 

„Ich  weiß  sehr  gut,"  schrieb  er  einem  jungen 
Dichter,  „was  euch  junge  Ibykusse  („Götter- 
freunde") an  mir  verdrießt;  vielleicht  ist  es  aber 

140 


72^. 


Verkleinertes  Faksimile  (1911). 

grade  das,  oder  doch  die  schlackenhafte  Mitgift 
von  dem,  wodurch  ich  Allzu  menschlicher  immer 
noch  jünger  bin  als  ihr,  durch  meine  erzgründ- 
liche Inbrünstigkeit.  Eines  Tages,  als  alter  Knabe, 
werde  ich  hoffentlich  so  geläutert  sein,  daß 
meine  menschlichen  Liebesgaben  ganz  auf  euren 
jungen  Göttertisch  passen;  aber  die  Inbrunst 
ist  dann  zum  Teufel!" 

Nun  ist  ihm  das  Außerordentliche  gelungen: 
Klarheit  schwebte  zu  ihm  nieder  und  nahm  ihm 
seine  Inbrunst  dennoch  nicht. 


141 


„Glanz  aus  fern  aufsteigenden  Räumen, 
Glanz  aus  längst  versunkener  Zeit, 
Glanz  des  Mondes  im  stillen  Meere, 
Glanz  der  Sterne  über  der  Wüste: 
Lauterkeit  ..." 

Und  doch,  während  seine  Haare  silbrig  werden, 
während  Angesicht  und  Stimme  sich  wahrhaft 
verklären  können,  —  gleich  darauf  zürnen  und 
streiten  sie  wieder  wie  eines  Jünglings  Angesicht 
und  Stimme. 

Dehmel  hat  sich  einmal  über  eine  Art  zweiter 
Naivität  beim  Künstler  geäußert,  einer  zweiten 
Pubertät  vergleichbar.    In  dieser  steht  er  nun. 

Es  lügt,  wer  ihn  erloschen  nennt.  Nichts  ist 
ungerechter,  als  von  dem  so  gereiften  Gemüte  das 
Feuer  seines  Jugendtrotzes  zu  fordern,  nur  weil  es 
für  diesen  Dichter  typisch  war.  Weil  er  reif  ge- 
worden, klagen  sie,  er  blühe  nicht  mehr. 

Dies  ist  ein  Baum,  der  seine  Jahreszeiten  hat. 
Man  soll  ihn  fürder  wachsen  lassen. 


142 


V.  VENUS  FANTASIA 

„Feire  dich  in  deiner  Klause, 

wie  kein  Mensch  dich  feiern  mag, 

stiller  Geist  im  Weltgebrause : 

Dein  Geburtstag  ist  der  Schöpfungstag!" 


Aber  Eine  laß  ein,  aus  der  Welt  in  deine 
Klause,  da  du  nun  dein  Fest  begehst,  Sänger!, 
in  der  Mitte  eines  langen  Lebens. 

Sie  tritt  zu  dir,  zu  der  du  flehtest: 

„Leih  mir  noch  einmal  die  leichte  Sandale; 

sage,  wer  bist  du,  holde  Gestalt? 

Reich*  mir  die  volle,  die  funkelnde  Schale, 

die  du  mir  fülltest  so  viele  Male! 

Bist  du  die  Jugend?  Werde  ich  alt?" 

Sinnst  du  heute  zurück :  wie  in  immer  erneuten 
Gestalten  Venus  Fantasia  zu  dir  kam  ? 

Kam  sie  nicht  durch  die  Nacht  geweht,  eine 
geflügelte  Fackel  ?  Lag  sie  nicht  im  Schoß  der 
Rose,  deren  Traum  vom  Lichte  du  belauschtest  ? 
Und  im  Jüngling  und  im  Mädchen,  —  warst  du 
es  nicht,  der  sie  in  Sehnsucht  fühlte  ?  Der  horchte, 
wie  die  Braut  in  ihren  Kissen  nächtlich  rief  und 
verging  in  Wünschen? 

Durch  die  schlafende  Lagune  hörtest  du  ver- 
liebte Worte  tönen,  aus  dem  Zelt  der  Gondel: 
bis  die  trügerische  Donna  Anna  in  der  trüben 
Flut  verschwand.  Rittest  mit  dem  Grafen  Ri- 
chard durch  die  Nacht  und  durch  die  Waldung, 
wie  im  Wahnsinn,   da  er  sein  Weib  erschlagen: 

io    Ludwig,  Richard  Dehmel  14-5 


bis  das  dunkle  Moor  Mann  und  Pferd  verschlang. 
In  die  marmorne  Rotunde  sahst  du  Klythia 
sommerlich  treten,  hin  zum  Bade:  und  sie  stand 
mit  einem  Male  vor  dem  nackten  Schläfer  und 
entfloh  und  ließ  die  Rose  fallen. 

Du  träumtest  den  Sarg  im  Vorstadthaus,  die 
Kammer,  die  den  jungen  Leuten  zu  eng  geworden. 
Dir  stammelte  die  Magd  ihre  Todesangst  um  das 
Sündenkind,  das  doch  aus  blinder  Liebe  stammte. 
Finster  trug  der  Bergmann  übers  junge  Eis  zu 
früh  den  Wahlruf :  bis  sein  Tod  das  Volk  befeuerte. 
Strichest  durch  das  Land  mit  dem  singenden 
Landstreicher;  träumtest  aber  von  der  Leichen- 
feier jener  Fürstin,  und  du  wurdest  selber  Fürst 
und  du  hast  es  abgeworfen,  das  beschwerende 
Krönungskleid,  da  die  nackten  Mädchen  leicht 
vor  dir  zum  Reigen  schritten. 

Don  Alvaro  warst  du,  lägest  an  den  Lippen  der 
verseuchten  Braut  und  erstandest  dennoch  aus 
den  Klauen  der  Judenpest.  Rembrandt,  betetest 
du  auf  zum  Lichte,  —  fuhrst  als  der  geschlagene 
Kaiser  mit  dem  Bauern  in  dem  Schlitten,  pelz- 
verhüllt, über  Rußlands  Leichenwüstenei.  Bis- 
marck  warst  du,  Sohn  der  Macht,  und  erlauschtest 
deine  Glocken,  —  und  du  tanztest  mit  dem  Prin- 
zen, Tochter  der  Sonne,  und  Krasinska  wurde 
Polens  Fürstin:  pauvre  coeur! 

Paris,  saßest  du  mit  Hermes,  da  drei  Göttinnen 
dich  umbuhlten,  —  und  Prometheus  riß  in  brül- 
lender Enttäuschung  Stück  für  Stück  vom  Felsen- 

146 


grate:  bis  du  hörtest,  wie  in  dem  durchwühlten 
Meere  Mensch  dem  Menschen  rief  und  Hilfe 
brachte. 

Und  zum  Mond  die  Arme  wild  gebreitet,  sahst 
du  ihn  aufschluchzen,  Jesus,  um  den  eignen 
Zwiespalt  ringend,  in  Gethsemane.  Aber  eine 
heilige  Sünderin,  aus  den  beiden  Marien  ver- 
schmolzen, denen  willig  dein  Herz  sich  öffnet, 
wies  dir  die  Wunden  von  Lüsten  und  Schmerzen, 
hob  dich  auf  zu  mütterlicher  Huld. 

—  Und  stehst  doch  lächelnd,  Wandlungsreicher !, 
stehst,  Merlin !,  in  der  Mitte  deiner  Zeit,  aus  allem 
Zwiespalt  wunderbar  gehoben,  auf  der  wohlge- 
ründeten  Erde  da.  Bist  du  der  Schwimmer  nicht, 
der,  schwer  gerettet  aus  dem  wilden  Meere,  den 
Strand  noch  streichelnd,  um  den  er  rang,  mit 
grauem  Blick  zum  grauen  Meer  zurücksieht  — 
und  sehnt  sich  nach  dem  Kampfe? 

„O  Fantasie, 

allwissende  Lügnerin 

dich  lieb  ich, 

ich  Menschengeist, 

ewig!" 


10* 


H7 


LITERATUR 


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EINZELAUSGABEN  DEHMELSCHER  WERKE: 
ERLÖSUNGEN.  Gedichte  und  Sprüche.  6.  Aufl.  Geheftet 

M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

ABER  DIE  LIEBE.  Zwei  Folgen  Gedichte.  6.  Aufl.  Ge- 
heftet M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

WEIB  UND  WELT.  Ein  Buch  Gedichte.  6.  Aufl.  Geheftet 

M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

SCHÖNE  WILDE  WELT.  Neue  Gedichte  und  Sprüche. 
3.  Aufl.  Geheftet  M  3. — .  Gebunden  M  4. — 

DIE  VERWANDLUNGEN  DER  VENUS.  Erotische 
Rhapsodie  mit  einer  moralischen  Ouvertüre.  5.  Aufl. 
Geheftet  M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

ZWEI  MENSCHEN.  Roman  in  Romanzen.  15.  Aufl.  Ge- 
heftet M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

DER  KINDERGARTEN.  Gedichte,  Spiele  und  Ge- 
schichten. 3.  Aufl.  Geheftet  M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

LEBENSBLÄTTER.  Novellen  in  Prosa.  4.  Aufl.  Geheftet 
M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

BETRACHTUNGEN  ÜBER  KUNST,  GOTT  UND 
DIE  WELT.  Essays  und  Dialoge.  3.  Aufl.  Geheftet  M  3.50. 
Gebunden  M  4.50 

DER  MITMENSCH.  Tragikomödie.  Nebst  einer  Ab- 
handlung über  Tragik  und  Drama.  4.  Aufl.  Geheftet 
M  3.50.  Gebunden  M  4.50 

LUCIFER.  Pantomimisches  Drama.  Mit  einem  Vorwort 
über  Theaterreform  und  einem  Reigenspiel:  DIE 
VÖLKERBRAUTSCHAU.  4.  Aufl.  Geheftet  M  3.50.  Ge- 
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DIE  LIEBE.  Zwei  Folgen  Gedichte.  —  Bd.  III:  WEIB  UND 
WELT.  Ein  Buch  Gedichte.  —  Bd.  IV:  DIE  VERWANDLUNGEN 
DER  VENUS.  Erotische  Rhapsodie  mit  einer  moralischen  Ouver- 
türe. —  Bd.  V:  ZWEI  MENSCHEN.  Roman  in  Romanzen.  — 
Bd.  VI.  DER  KINDERGARTEN.  Gedichte,  Spiele  und  Geschichten. 
—  Bd.  VII:  LEBENSBLÄTTER.  Novellen  in  Prosa.  —  Bd.  VIII: 
BETRACHTUNGEN  über  Kunst,  Gott  und  die  Welt.  —  Bd.  IX: 
DER  MITMENSCH.  Tragikomödie.  Nebst  einer  Abhandlung 
über  Tragik  und  Drama.  Bd.  X:  LUCIFER.  Pantomimisches  Drama. 
Mit  einem  Vorwort  über  Theaterreform  und  einem  Reigenspiel: 
DIE  VÖLKERBRAUTSCHAU. 

Preis  der  zehnbändigen  Gesamtausgabe: 

geheftet 30  Mark, 

gebunden  in  Halbpergament 40  Mark, 

in  Ganzpergament 50  Mark. 

DEHMELS  GESAMMELTE  WERKE 

IN  DREI  BÄNDEN 
Bd.  I:  ERLÖSUNGEN.  ABER  DIE  LIEBE.  DIE  VERWAND- 
LUNGEN DER  VENUS.  Bd.  II:  WEIB  UND  WELT.  ZWEI 
MENSCHEN.  DER  KINDERGARTEN.  Bd.  III:  LEBENS- 
BLÄTTER. BETRACHTUNGEN.  DER  MITMENSCH.  MICHEL 
MICHAEL. 

Preis  der  dreibändigen  Gesamtausgabe: 

gebunden  in  Leinen .  12,50  Mark, 

in  Halbleder 16  Mark. 


WERKE  VON   EMIL  LUDWIG 

EIN  FRIEDLOSER.     Dichtung  in  vier  Akten.     1903. 

NAPOLEON.     Drama.     1906. 

DER  SPIEGEL  VON  SHALOTT.     Dichtung  in  drei 
Akten.     1907. 

TRISTAN   UND   ISOLDE.      Dramatische  Rhapsodie. 
1909. 

SYMPHONIE: 

I.  EIN  UNTERGANG.     Drama.     1904. 
IL  DIE  BORGIA.     Schauspiel.     1907. 
III.  DER  PAPST  UND  DIE  ABENTEURER. 
Komödie.     1910. 

ATALANTA.      Tragische   Dichtung.    —    ARIADNE. 
Ballett.     191 1. 

MANFRED  UND  HELENA.     Roman.     191 1. 
Zweite  Auflage. 

BISMARCK.     Ein  psychologischer  Versuch.     191 1. 
6. — 7.  Auflage. 

WAGNER    oder    DIE    ENTZAUBERTEN.       1913. 

Zweite  Auflage. 

DIE  REISE  NACH  AFRIKA.     Mit  42  Abbildungen. 
191 3.     Dritte  Auflage. 

Druck  der  Spamerschen  Buchdruckerei  in  Leipzig 

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