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Gedächtnisrede
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Sa ‚zur. Feier des hundertsten Geburtstages
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‚Dr. Ernst. Troeltsch, 5
Ay Team der Aueniscischen Fakultät zu eiaslbere:
Freiburg i.B,
Leipzig wa Tübingen
' Verlag von 3..B, Mohr (Paul Siebeck).
‚1898.
GERMAN
Theology Library
SCHOOL OF THEOLOGY
AT CLAREMONT
California
Richard Rothe.
Gedächtnisrede
gehalten
zur Feier des hundertsten Geburtstages
in der Aula der Universität
von
Dr. Ernst Troeltsch,
z. Z. Dekan der Insoloeiean. Fakultät zu Heidelberg.
Freiburg i.B.
Leipzig ua Tübingen
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck).
1899.
Alle Rechte vorbehalten.
C. A. Wagner’s Universitäts-Buchdruckerei in Freiburg i. B.
Vorbemerkung.
Wenn ich die Rothe-Litteratur des Jahres durch Ver-
öffentlichung dieser Rede vermehre, so geschieht es, weil
ich mich für verpflichtet halte, die an Rotue’s einstiger
Fakultät gehaltene Gedächtnisrede dem Publikum vor-
zulegen. Doch möchte ich daneben ausdrücklich auf die
ausgezeichneten Arbeiten von HÖönıG, BASSERMANN und
besonders HOLTZMANN verweisen. Mit der von Houtz-
MANN geübten Kritik muss ich mich in allen Hauptpunk-
ten einverstanden erklären. Immerhin darf meine Arbeit
als Studie zur Geschichte und Psychologie der Theologie
neben diesen Arbeiten ein selbständiges Existenzrecht
beanspruchen. Eine Auseinandersetzung mit der wich-
tigsten Kritik des von ROTHE vertretenen Ideals, mit
OVERBECK’sS „Ohristlichkeit unserer heutigen Theologie“
lag leider ausserhalb des Rahmens meiner Aufgabe.
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Hochansehnliche Versammlung!
In unserer festreichen Zeit ist uns die Frage nur
allzu geläufig geworden, wem zu Ehren diese Feste ge-
feiert werden, ob mehr dem Gefeierten oder mehr den
Feiernden zu Ehren. Würde diese Frage unserer
Fakultät vorgelegt, deren ehrerbietige Einladung diese
ansehnliche Festversammlung vereinigt hat, so dürfte sie
wohl den zweiten Fall nicht ganz ablehnen. Denn bei
der schwierigen Lage, in der sich die theologischen
Fakultäten der Gegenwart befinden, von links und rechts
lebhaft befehdet und bei den Genossen unserer gelehrten
Verbände der Anerkennung ihres wissenschaftlichen
Existenzrechtes mehr als unsicher, wird jede aus dem
Laufe der Zeiten erwachsende Gedenkfeier notwendig
für uns zum Anlass, den Ernst und die Grösse der uns
anvertrauten Aufgaben laut zu bekennen. Insbesondere
würde eine Feier der überaus zarten und bescheidenen
Persönlichkeit RICHARD ROTHE’s uns gegen das Wesen
seines Charakters zu verstossen scheinen, wenn sie nicht
in erster Linie eine Feier der von ihm vertretenen und
von ihm unserer Fakultät zur dauernden Ehrenpflicht
gemachten Sache wäre. Vor allem aber dürfen wir die
Feier des hundertsten Geburtstages des verehrungs-
würdigsten Mitgliedes unserer Fakultät als eine Selbst-
ehrung betrachten, weil seine Königl. Hoheit, der er-
ME
habene Rektor unserer Universität, uns vergönnen wollte,
uns durch das Bekenntnis zu den Grundsätzen dieses
von ihm selbst einst hochgeschätzten Mannes vor seinem
Angesicht zu ehren und damit zu bezeugen, dass das,
was er einst selbst geschätzt und geliebt hat, auch von
den Nachfolgern nach dem Masse ihrer Kräfte vertreten
und gelehrt wird.
Dass das der Fall ist, möge die Liebe und die Hin-
gebung zeigen, mit der ich das Bild von Wesen und
Leben des merkwürdigen Mannes vor Ihnen zeichnen
möchte.
RoTnaE’s Geburt fällt in die glänzendste Zeit deutscher
Geistesgeschichte, in die Jahre des Zusammenwirkens
der Weimaraner, wo schon die Anfänge der Romantik
hervortraten und die tiefe Befruchtung der historisch-
philosophischen Wissenschaften durch die neue poetische
Weltanschauung und ihre Vereinigung mit der aus KAnt
entspringenden Spekulation sich zu offenbaren begann.
Sein Vater, unter dem Oberpräsidium von Merckels
Geh. Oberregierungsrat, gehörte dem hohen preussischen
Beamtentum an, sein Vaterhaus war erfüllt von dem die
vorausgehende Generation beherrschenden Geiste mora-
listisch-rationalistischer Frömmigkeit, wie er dieses Be-
amtentum in den ersten Dezennien Friedrich Wilhelms III.
noch charakterisierte. So war RoTHE von Hause aus
in die Atmosphäre der neuen deutschen Bildung ein-
getaucht, mit ihren beiden Haupttypen innig vertraut
und einer feinen weltläufigen Erziehung teilhaftig. Ihr
Einfluss ist es, wenn er in beiden einen dauernden Er-
werb der modernen Gesittung erkennt, wenn er den
Rationalismus später „eine schlechte Theologie, aber
EG BE
keine üble Religion“ nennt, wenn er in der Humanität
des deutschen Idealismus „den Aufgang des geistigen
Sinnes, des geistigen Interesses für die irdische Welt“
sieht, des Sinnes „für die uns umgebende äussere Welt
und für uns selbst als Glied derselben, also des Sinnes
für die Natur und die Geschichte“. Seine Jugend stand
dabei ganz überwiegend unter dem Einflusse des zweiten
Typus, des Klassizismus und vor allem der Romantik. Ihre
Ziauberwelt nahm auch seinen Sinn gefangen. Neben JEAN
PAUL, GOETHE und SCHILLER sind es noch mehr TıEck,
die SCHLEGEL, FOUQUE, WERNER und vor allem Novauıs,
die seine Ideenwelt bilden und ihr für immer den Hang
zu träumender Phantasie und zu unmittelbarer Vergegen-
wärtigung der geliebten Gegenstände verleihen. Ueber
hundert Gedichte, von der Hand seines Vaters gesammelt,
zeigen ihn als den für alles Reine, Keusche, Heilige,
Seltsame und Anonyme schwärmenden Schüler der Ro-
mantik. Von hier aus genährt ist ihm dieser Hang zu
einer unerschrockenen Ausbildung seiner Phantasieen, zum
eigenrichtigen Träumen und Spekulieren, für immer als
der Grundcharakter seines Denkens verblieben, den er
später nur mit der nach und nach ausgebildeten Neigung
zu strengstem logischem Formalismus höchst originell
verband. Das Wort, das er später, auf die Träume
des jungen Joseph anspielend, in Rom niederschrieb:
„Ich bekenne mich im Reiche der Gelehrsamkeit un-
verhohlen zur Schule der Träumer, warne aber zugleich
jedermann vor dem Gedanken, als ob Träumen leichte
Arbeit sei“ bezeichnet sehr richtig diese beiden Seiten
seines Wesens, die sich erst spät und langsam ineinander
fanden. So wurde er zum Novalis der Spekulation, wie
EIER
er ja auch dessen schillernde Orakel noch seiner Ethik
reichlich einstreute; und noch lange nachher, als die
poetische Ader längst vertrocknet war, huldigte er den
romantischen Litteraturformen seiner Jugend, indem an
die Stelle der Gedichte die Aphorismen traten, die er
in der oft manieriert zugespitzten oder überraschend bild-
lichen Weise der berühmten Aphorismen des Athenäums
zu bilden und zusammen mit seinen Excerpten säuberlich
zu sammeln bis ins Alter nicht müde wurde. In ihnen
herrscht bis zuletzt ein Hauch der Jugend, eine Frische
und Unbefangenheit des Ausdrucks, eine Einfachheit und
Grösse des Gedankens, die sie bemerkbar unterscheiden
von den schweren und künstlichen Perioden seiner wissen-
schaftlichen Darstellungsweise, von der Umständlichkeit
und Befangenheit seines theologischen Denkens. Sie zeigen
dauernd an, dass er eine nie versiegende Quelle poetischer
Anschauung und grosser Eindrücke besass, die ihm den
Stoff seines Systems lieferte und durch die wir auf den
klaren Grund seines Seelenlebens blicken können.
Diese Vorliebe für die Romantik hängt aber bei ihm
noch mehr als mit der Erregbarkeit der Phantasie mit
seiner .schon in frühester Jugend hervortretenden reli-
giösen Oharakteranlage zusammen. Die Romantik war
für ihn wie für zahllose seiner Zeitgenossen zugleich die
moderne Gestalt der Religion, die Rehabilitierung der
Religion bei den Gebildeten unter ihren Verächtern,
und so entfaltete sich unter der schützenden Hülle poe-
tischer Jugendeindrücke die starke religiöse Grund-
richtung, die den eigentlichen Schlüssel seines Wesens
bildet, wie denn überhaupt die grössere oder geringere
Stärke dieser Anlage eine Thatsache ist, die, im Ge-
BT RN
heimnis der Bildung der Individualität begründet, von
jedem Biographen bei seinem Helden berücksichtigt
werden müsste. Männer wie HumE und Mırr, LAPLACE
und Darwın hatten von Hause aus eine sehr schwache
religiöse Anlage, andere wie LEIBnız und Kant,
SCHLEIERMACHER und RANKE eine sehr starke, und
dieser Umstand bestimmte die verschiedene Entwickelung
dieser Männer. Bei RoTHE war der starke religiöse
Trieb nicht bloss ein einzelner sein Wesen bestimmender
Umstand, sondern geradezu der Kern seines Wesens, und
so ist er zu einem der eindringendsten religiösen Denker
und einem der tiefsten religiösen Charaktere des Jahr-
hunderts geworden. Freilich war seine Frömmigkeit
nicht vom heroischen und einfach-naiven, sondern vom
zarten, innigen und grüblerischen Typus, ohne aber
deshalb der Festigkeit und Zähigkeit zu entbehren. In
dieser Hinsicht hat sein Wesen nie einen Bruch oder
eine Veränderung erlitten. Vom ersten bis zum letzten
seiner Briefe ist eine alles andere in sich aufsammelnde
und von sich aus bestimmende religiöse Grundempfindung
das eigentlich Charakteristische. Alle die schweren
Kämpfe, die auch ihm nicht erspart blieben, bezogen
sich nicht auf den Kampf zwischen Glauben und Un-
glauben, sondern nur auf die Art der Verknüpfung der
Bestandteile seines inneren Lebens. Hierin die Sonder-
art seiner Natur vollkommen bewusst empfindend meint
er: „Das christlich religiöse Einmaleins meines Denkens
kann ich Gottlob innerlich auswendig und brauche es
mir nicht immer von frischem nachzurechnen.“ Er ge-
hörte zu den seltenen Menschen, die in der religiösen
Krisis unserer Zeit an einer übernatürlichen Erlösungs-
ERW
offenbarung Gottes an die Menschen nie gezweifelt haben.
Die illusionistischen Religionstheorien Hume’s, CoMmre’s
und FEUERBACH’s berührten ihn nicht, die eine immanente
Entwickelung der religiösen Idee lehrende Spekulation
der Hegelianer beirrte ihn nicht. Insbesondere die
Person Jesu strahlte ihm bei allen Wandelungen seiner
theologischen Gedanken immer in einem vollkommen
übernatürlichen Lichte und blieb ihm von allen anderen
Helden der Religion absolut verschieden. STRAUSS und
RENAN haben ihm mit ihren Versuchen, die Person Jesu
nach Analogie der sonstigen Geschichtsforschung zu be-
handeln, nicht einen Augenblick Eindruck gemacht. Für
die Forschungen der Tübinger hatte er lediglich Achtung.
Er verstand sie als Ausfluss der Richtung auf immanent-
rationale Erklärung der Geschichte in ihrer momentanen
Unvermeidlichkeit zu begreifen, erwartete davon aber
lediglich die Einsicht in die Unmöglichkeit dieser Be-
mühungen. Er hat sich persönlich immer bei seinem
Bedürfnis nach einer solchen supranaturalen Offenbarung
und bei der „Unerfindbarkeit“ des johanneischen Christus-
bildes beruhigt. Aus demselben Grunde hat ihm auch
trotz gründlichster philosophischer Bildung die Philosophie
nie Sorgen gemacht. Ihre Meinung, ohne fertige religiöse
Voraussetzung von der Göttlichkeit des Christentums
erst aus der Ueberschau aller Erfahrungsdaten oder aus
der blossen Konsequenz eines freien spekulativen Grund-
gedankens die letzten Wahrheiten zu ergründen, erschien
ihm immer als Selbsttäuschung. Er konnte sich wirk-
liche Erkenntnis nur denken als aus dem Grunderlebnis
des moralisch gereiften Menschen und dem zentralen
Begriff seiner Gedankenwelt, aus dem religiösen Erlebnis
Ri © ER
und aus dem Gottesbegriff, fliessend und benutzte die
philosophische Begriffsbildung nur als Mittel der De-
duktion aus diesen Grundbegriffen. So gab es für ihn
eigentlich überhaupt keine Philosophie als Wissenschaft
ohne durch persönliche Entscheidung zuvor festgestellte
christlich-religiöse Vorurteile, und als er später in seiner
Ethik für sie ein Plätzchen zu konstruieren unternahm,
sorgte er dafür, das niemand dieses Plätzchen einzunehmen
grosse Lust empfinden konnte. Und wie die Konkurrenz
der damaligen zahlreichen philosophischen Gottesbegriffe
ihn nicht erschütterte, so haben ihn auch die Probleme
der Religionsgeschichte nicht berührt, die das Ohristen-
tum als eine Religion neben anderen mit gleichen An-
sprüchen zeigt und seit den Tagen des Deismus ihre
skeptisch stimmenden Wirkungen mit immer zunehmender
Deutlichkeit entfaltet, die schon damals zu der ganz
neuen Unterbauung der Theologie mit einer allgemeinen
Theorie vom Wesen und der Entwickelung der Religion
geführt hatte und heute den eigentlichen Hauptgegen-
stand theologischer Untersuchungen bildet. Hier liess
er sich auf Verhandlungen irgendwelcher Art überhaupt
gar nicht ein. Er erklärte in seinem römischen Tage-
buch kurzer Hand: „Von Vorzügen des Christentums
vor anderen Religionen kann vollends gar nicht die Rede
sein, indem andere Religionen gar nicht in dem Sinne
(nach dem Begriffe von Religion) Religionen sind, in
welchem es das Christentum ist. Keine Religion in der
Welt ausser der christlichen versteht unter Religion das
Reich einer neuen göttlichen Schöpfung durch die Wieder-
geburt. Dies ist der wesentliche Inhalt des Christentums,
hierdurch ist es seiner eigenen Aussage nach Christentum;
Bed NR
und eben von diesem Gesichtspunkte aus erscheint es
als eine durchaus einzige und unvergleichbare Erscheinung
in der Weltgeschichte. Alle übrigen sogenannten Re-
ligionen gehören in den Umkreis der philosophischen
Systeme. Hier sind vielerlei Individuen einer und der-
selben Gattung unterscheidbar und daher auch unter
einander vergleichbar.“ Universale Religionsgeschichte
und Religionsvergleichung und damit den Horizont der
gegenwärtigen Theologie hat es für ihn nicht gegeben.
Auch als er schliesslich in seiner Ethik sich zur Kon-
struktion eines allgemeinen Begriffes der Religion und
zur Einordnung der nichtchristlichen Religionen unter
diesen Allgemeinbegriff genötigt sah, war ihm das Ohri-
stentum doch so selbstverständlich die übernatürliche
Normalreligion, dass er die ausserchristliche Religions-
entwickelung trotz seines prinzipiellen Evolutionismus ohne
weiteres als die Entwickelung der „falschen“ Religion kon-
struirte und zwischen beiden eine jede historische Gemein-
samkeit und Gleichartigkeit aufhebende Kluft befestigte.
Die Wurzeln all dieser Anschauungen lagen in seinem
Wesen und sind schon in seiner frühesten Jugend-
entwickelung erkennbar. So verstand es sich von selbst,
dass die Wahl seines Studiums sich auf die Theologie
lenkte — ohne den Willen seines Vaters — und dass er
bei der Wahl des Universitätsortes auf diejenige Uni-
versität verfiel, die dem neuen poetisch-religiösen Geiste
der Romantik und der Spekulation sich am weitesten ge-
öffnet hatte und mit dem neugegründeten Berlin und dem
eben zu gründenden Bonn zusammen als Hochburg des
neuen Geistes gelten konnte, während an dem Ursprungs-
orte des neuen Geistes selbst, in Jena, die Theologie
auge. 22
noch im rationalistischen Geleise ging. Er zog im Früh-
ling 1817 nach Heidelberg, dem Heidelberg, das uns die
vergilbten Blätter des Einsiedlers und die Verse BREN-
TANO’s und HÖLDERLIN’s in seinem idyllischen dorn-
röschenhaften Reize schildern, und das eben durch diese
Reize für RorHE’s poetisches Gemüt der Ort seines
Schicksals geworden ist. Zwar hausten dort noch weit-
hin sichtbar zwei Koryphäen des Rationalismus, J. H.
Voss und E. Pavzus. Aber der Glanz Heidelbergs
ruhte in RoTHE’s Augen auf ÜREUZER, DAuB und dem
jungen HEGEL. SCHLOSSER, der zwischen beiden stand,
den Rationalismus verabscheute und einer positiv-gläubigen
Theologie sich nicht zuwenden konnte, fesselte ihn durch
den Reichtum seines Wissens und die Vornehmheit seiner
Persönlichkeit. Religiös gewann der kindlieh schlichte,
praktische Theologe ABEs@ den tiefsten Einfluss auf ihn
und wurde ihm zum dauernden Vorbild der Predigtweise.
Hingerissen von den auf ihn eindringenden Eindrücken
der verschiedensten Wissenschaften, begeistert von den
Reformideen und dem Deutschtum der damaligen Burschen-
schaft, poetisch ergriffen von den unversieglichen Reizen
des Neckarthales lebte er das Studentenleben jener Jahre,
erst überwältigt und hingenommen von der ihn umdrän-
genden Gedankenfülle, dann immer mehr zu scharfer
und mitunter altkluger Kritik geneigt. Das Ergebnis
dieser Jahre ist die Erweckung des historischen Sinnes
durch SCHLOSSER und ÜREUZER, die ihm die Weite des
historischen Horizontes erschlossen und die Feinheit
historischer Beobachtung und Analyse gegeben haben,
ohne welche sein späteres Denken des kräftigen und
fruchtbaren Nährbodens entbehrt hätte. Aber wie die
an
Historie jener Tage in dem Dienste bestimmter allge-
meiner Gedanken stand, so hat RoTHE diese historischen
Anregungen ‘von Hause aus im engsten Zusammenhang
mit der Spekulation Daugß’s und HEGEL’s aufgenommen
und sie prinzipiell nur als Mittel spekulativ einheitlichen
Geschichtsverständnisses aufgefasst. Auf dieses letztere
kam es ihm allein wirklich an. In ihm fand seine un-
gewöhnlich systematisch-logisch angelegte, man kann sagen
doktrinäre, Natur ihre Befriedigung und ihre für immer
nachhaltige Grundrichtung. So wurde ihm durch DAugB
und HEGeEL die hinter seinem Phantasievermögen liegende
und im Grunde noch viel mächtigere logische Anlage zum
Bewusstsein gebracht und fand sein Denken durch ihre
Schulung seine dauernde, ihm schliesslich selbstverständ-
liche Gestalt. Er lernte von ihnen als Methode alles
wissenschaftlichen Denkens die grosse Methode der ersten
Dezennien unseres Jahrhunderts, die spekulative Methode,
die auf der Voraussetzung beruht, dass der menschliche
Geist eine mikrokosmische Wiederholung des makrokos-
mischen Zusammenhanges sei und daher in der logisch
nothwendigen Entwickelung aller Folgerungen aus seiner
allgemeinsten und umfassendsten Idee den ganzen Zu-
sammenhang der Wirklichkeit konstruierend nachbilden
könne. Dabei erschien ihm diese apriorische Grundidee
unter dem Einfluss jener Denker als die Idee einer auf
Entwickelung, Selbstentfaltung und Werden hindrängen-
den absoluten Potenz, so dass ein spekulativer, rein logisch
und apriorisch verfahrender Evolutionismus die Grund-
form seines Denkens wurde. Von diesem Zusammenhang
wurden seine historischen Interessen und Gedanken er-
griffen, von der hiermit verbundenen Terminologie sind seit
seiner Studentenzeit alle Briefe und vollends später seine
wissenschaftlichen Werke erfüllt. Freilich war ihm hier-
aus zunächst nur klar, dass die Wissenschaft als Leistung
der natürlichen Vernunft dieser Methode sich bedienen
müsse, Ob die Theologie eine solche Wissenschaft neben
sich anerkennen oder gar selbst sich der gleichen Me-
thode bedienen dürfe, blieb ihm lange fraglich. Als er
aber später den Weg gefunden zu haben glaubte, auf
dem eine wissenschaftliche Darstellung der christlichen
Wahrheit ohne Aufhebung ihres übernatürlichen Cha-
rakters möglich sei, da war ihm selbstverständlich, dass
eine: solche Darstellung spekulativen Charakters sein
müsse. Er entkleidete die Spekulation nur ihres voraus-
setzungslosen, philosophischen Charakters, indem er ihr
vorschrieb, erst von dem Ergebnis moralischer Reife,
von persönlicher Erfahrung der christlichen Wahrheit,
also von dem christlichen Gottesbegriffe, auszugehen, und
er nahm ihr zugleich die der Offenbarung gegenüber
selbständige und kritische Tendenz, indem er sie nur
dann als richtig anerkennen wollte, wenn ihre Ergebnisse
mit der in der Offenbarung und Erfahrung vorliegenden
Wirklichkeit übereinstimmten. Indem er den Ausgangs-
punkt der Spekulation im christlichen Gottesbegriff fest-
legte, bildete er die philosophische Spekulation um zur
theosophischen. Er nannte sich mit Vorliebe einen
Theosophen. Man hat über Recht oder Unrecht dieser
seiner theosophischen Methode viel gestritten und dabei
übersehen, dass diese Methode für ihn nur die selbstver-
ständliche, kanonische Form der Wissenschaft ist, die
seiner dialektischen Natur wahlverwandt war und durch
die grossen Meister seiner Jugend ihm selbstverständlich
Ren | I
geworden ist. Für den Inhalt seines Denkens ist die
theosophische Methode ziemlich belanglos gewesen. Wer
so wie er ‘für die Gebundenheit seiner Spekulation an
christliche Ausgangspunkte und für die Ablösbarkeit
ihrer Resultate von der durch Offenbarung und Erfah-
rung feststehenden Wirklichkeitserkenntnis sorgt, der
hat damit ausdrücklich eingestanden, dass für ihn die
endgiltig massgebende Erkenntnis aus der ihm gegebenen
Wirklichkeit stammt, wie denn auch thatsächlich die
ausserordentliche Feinheit seiner Beobachtung, sein Offen-
barungsglaube und sein reiches historisches Wissen die
wirkliche Substanz seines Denkens geliefert haben. "Als
Form aber hat die theosophische Methode auf sein
Denken einen ganz ausserordentlichen Einfluss geübt.
Sie hat ihn dazu geführt, seinen ganzen reichen Erwerb
an Gedanken und Gefühlen, Ahnungen und Phantasie-
bildern, Neigungen und Abneigungen, Geschichtskenntnis
und Menschenbeobachtung in einen Zusammenhang zu
bringen, in dem sie mit dem Scheine einer immanenten
Notwendigkeit verknüpft und mit dem einer vollende-
ten logischen Symmetrie angeordnet sind. Die ganze
Künstelei und Gewaltthätigkeit, die ganze Trockenheit
und Umständlichkeit des Stils, die mit einem solchen
Unternehmen verknüpft sind, sind nicht ausgeblieben.
Er hatte sehr nötig zu versichern, dass die Melodieen zu
diesem abstrakten Texte „reich und voll in seiner Seele
klingen“. Aber auch die schwereren Gebrechen der
spekulativen Methode fehlen nicht: die gewaltsame Kor-
rektur der Wirklichkeit nach den logischen Konsequenzen
einzelner aus ihr herausgegriffener Elemente, wobei dann
freilich die Verwirklichung dieser Konsequenzen erst der
Se
Zukunft zugewiesen werden kann, und die unhistorische
Isolierung der als Ziel des Weltprozesses gedachten
Lebensinhalte, die, direkt mit dem Weltgrunde ver-
bunden, aus dem Zusammenhange der schlichten histo-
rischen Wirklichkeit durch eine besondere magische Be:
leuchtung herausgehoben werden. Aber alle diese Nachteile
haben ihn nicht angefochten. Er blieb den Meistern
seiner Jugend immer treu, mit ihnen wetteifernd an
Sauberkeit der Begriffe und kühnem Mute des Denkens,
und, so reich und selbständig seine Beobachtung der
moralischen Welt ist, in der wissenschaftlichen Darstellung
seiner Beobachtungen und dem hierfür verwendeten be-
grifflichen Unterbau blieb er ein Epigone der grossen
Denkerdynastie der klassischen deutschen Spekulation.
Doch dieses System gehört erst der viel späteren
Zeit des Friedensschlusses zwischen religiösem Glauben
und wissenschaftlichem Erkennen an. In dem Studenten
sah es nach der ersten Ueberwältigung durch die neuen
Eindrücke nicht nach Frieden aus. Vielmehr empfand
er unter den zahllosen zerstreuenden und in die Breite
gehenden Eindrücken doppelt das Bedürfnis der Behaup-
tung, Konzentration und Festigung des religiösen Ge-
dankens. Mit verdoppelter Energie stellte er die biblisch-
religiösen Ideen vor seine Phantasie und suchte ihnen
all.die neuen Stoffe und Gedanken zu unterwerfen, und,
soweit die Unterwerfung unmöglich war, begann er sie
langsam abzustossen. Bald wurde er misstrauisch gegen
HEsEL, und sogar DAup’s Spekulation war ihm bald nur
mehr wertvoll als Beweis für die Unfähigkeit der natür-
lichen Vernunft, die Geheimnisse des Glaubens zu be-
greifen. Tief erschütterte ihn die tumultuarische Entwicke-
Troeltsch, Richard Rothe. 2
ER: ae
lung der Burschenschaft und Sand’s Attentat. So treffen
wir ihn in einer wachsenden Richtung auf einen streng
supranaturalistischen Offenbarungsglauben, und im Zu-
sammenhang damit sehen wir ihn nach strengerer be-
kenntnismässiger Geschlossenheit des Protestantismus
verlangen. In dieser Richtung befestigte ihn der Ab-
schluss seiner Studien in Berlin, wo er wie die meisten
seiner Zeitgenossen sich bei dem gewaltigen SCHLEIER-
MACHER die letzten theologischen Weihen holen wollte.
Dort fesselte ihn jedoch nur der am meisten wunder-
gläubige und erbauliche NEANDER und mehr noch als
dieser der Verkehr mit den pietistischen Zirkeln des
frommen Adels und erweckter Pastoren. Damit geriet
er in den Bannkreis des Pietismus, der grossen kirchen-
geschichtlichen Bewegung, die, in dem Zeitalter des
Rationalismus und Klassizismus zurückgedrängt, unter der
Gunst der Stimmung der Befreiungskriege und in Ver-
mischung mit der romantischen Religiosität und Speku-
lation aufs neue hervorbrach, um schliesslich im Zeitalter
Friedrich Wilhelms IV. das Interregnum der Aufklärung
zu beenden und Kanzeln, Konsistorien und Lehrstühle
dem Reiche Gottes zurückzugewinnen. Diese Bewegung,
die wirkliches religiöses Feuer in sich enthielt und zu-
dem von vielen würdigen, schlichten und kräftigen Per-
sönlichkeiten getragen wurde, musste den ‘in heftigem
Kampfe gerade um Ausbildung und Sicherstellung seines
religiösen Kernes begriffenen RoTHE an sich ziehen. Nach
längerem Ringen mit den Eindrücken seiner Erziehung
wurde er von ihr vollständig hingerissen, seit er in das
Wittenberger Prediger-Seminar eingetreten war. Hier
wurden zwei Führer des Pietismus, die aus dem Seminar
re ee
einen Herd pietistischer Sonderchristlichkeit geschaffen
hatten, RuUDOLF STIER und RorHe’s späterer Schwager
HEINRICH HEUBNER die Meister seines Seelenlebens. Von
ihnen aufgeschreckt zog sich ROTHE mit schärfster Aus-
schliesslichkeit auf seine religiöse Empfindung zurück;
indem er zugleich deren Gegenstände mit glühendster
Inbrunst sich zu vergegenwärtigen strebte und alle
Qualen der sich absichtlich steigernden religiösen Er-
regung erfuhr. Er wurde ein Pietist mit der ganzen
Härte und Schärfe des Urteils über die Weltkinder und
mit der ganzen subjektiven konventikelmässigen Entgegen-
setzung gegen die eitle und verlorene Masse der Un-
christen und Namenchristen. Seine aufgeregten Briefe
reden die mit biblischen Anspielungen überwürzte Sprache,
wie sie die Kinder des Gottesreiches „vor dem T'hrone
des Lammes“ am Ufer des „gläsernen Meeres“ zur
Unterscheidung von den Kindern der Welt reden, schon
allein in der Sprache den Vorzug der wenigen Aus-
erwählten vor den vielen Berufenen geniessend, wie die
Schwaben schon allein an ihrem Dialekt sich ihre Ueber-
legenheit über die übrigen Deutschen veranschaulichen.
Dabei aber ist für ihn charakteristisch, dass diese ganze
unbegrenzte Hingabe an die biblisch-kirchliche Gedanken-
welt ihm völlig innerlich und frei aus eigenster innerer
Nötigung fliesst, dass kein sacrificium intellectus die Welt
und ihre Bildung und Weisheit entschlossen abzustossen
und kein Autoritäts- und Buchstabenglaube sich bestimm-
ten Dogmen gewaltsam zu unterwerfen braucht. Aus
innerstem Herzensdrang, aus der Gegenwart jener Be-
griffswelt vor seiner Phantasie, aus dem eingeborenen
Drange aller Religion, ihre Gegenstände zu isoliren und
9Q*
WIE. En
in eine einzigartige Sphäre zu erheben, fliesst ihm der
ganze Zustand wie von selbst.
Der Pietismus ist die letzte der grossen historischen
Mächte, die an der Bildung von Rorae’s Persönlichkeit
gearbeitet haben. Er hat ihm die zarte Innigkeit, die seinen
Hang zu allzu liebevoller Selbstbespiegelung ein- für alle-
mal brechende, fast übermässige Bescheidenheit und die
tiefe Kenntnis aller sittlichen und religiösen Seelenzustände
eingehaucht. Er hat ihm die subjektiv lebendige und my-
stisch ausdeutende Betrachtung der Bibel verliehen, deren
geheime und halb angedeuteten Voraussetzungen seine
theosophische Spekulation anfänglich lediglich zu enthüllen
strebte, die ihm aber auch bei aller späteren Freigebung
historischer Kritik doch immer als eine wesentlich authen-
tische Urkunde von einer absolut supranaturalen Ge-
schichte und als Weissagung von den Endgeschicken des
Menschengeschlechtes erschien. Er hat ihn vor allem
mit der kindlich innigen Christusmystik erfüllt, die den
im Himmel herrschenden Christus beständig gegenwärtig
fühlt und alle Angelegenheiten der grossen öffentlichen
wie der kleinen privaten Welt von ihm persönlich ge-
leitet sieht. Das war die ihm natürliche Form seiner
Frömmigkeit, die dann vor allem in seinen Predigten
und Briefen hervortritt, die axiomatische Grundidee
seines Lebens, wie anderen andere Ideen zu Axiomen
geworden sind. Er spricht das selbst in zwei für diese
Art der Frömmigkeit klassischen und daher oft an-
geführten Worten aus: „Ich weiss keinen anderen festen
Punkt, in dem ich wie für mein ganzes menschliches
Sein überhaupt so auch insbesondere für mein Denken
den Anker auswerfen könnte, ausser der geschichtlichen
Erscheinung, welche der heilige Name Jesus Christus
bezeichnet. Sie ist mir das ‚unantastbar Allerheiligste
der Menschheit, das Höchste, was je in ein menschliches
Bewusstsein gekommen ist und ein Sonnenaufgang in der
Geschichte, von dem aus allein sich Licht verbreitet über
den Gesamtkreis der Objekte, die in unser Auge fallen.
Dieser einfache Christenglaube ist mir das letzte Gewisse,
wogegen ich jede andere angebliche Erkenntnis, die ihm
widerstritte, unbedenklich und mit Freude bereit bin in
die Schanze zu schlagen“ und „Ich halte dafür, dass die
christliche Frömmigkeit ihre volle Kindlichkeit, Wärme
und Innigkeit, die ihr eigentümliche demutsvolle Weich-
heit und Zartheit, ihre nicht zu brechende stählerne
Festigkeit und ihre ganze Kräftigkeit, Frische und
Freudigkeit nur bei der supranaturalistischen Weltansicht
finden kann.“ Darüber hinaus aber erstreckte sich die
Wirkung des Pietismus nicht. Er war nur die Form, in
der sich die tiefste Triebfeder seines Wesens, die religiöse
Sehnsucht nach reiner und voller Gemeinschaft mit Gott,
geltend machte. Er bedurfte der Konzentration und
Zurückziehung seines inneren Menschen und reifte unter
dem Schutze des Pietismus zu dem innigen religiösen
Charakter, zu dem er durch seine Wesensanlage bestimmt
war und der zu seiner Entfaltung einer solchen Zeit der
Sammlung und Absonderung bedurfte.
Dass seine pietistische Periode in der That nichts
anderes bedeutet, zeigt die Entwickelung, die er ein-
schlug, sobald er, im Winter 1822 nach Rom als preus-
sischer Gesandtschaftsprediger berufen, sich selbst zu-
rückgegeben wurde. Hier sind seine Lehrjahre zu Ende
und beginnt seine selbständige Entwickelung, deren
BU. ERT:
Wesen und Ergebnis ich nunmehr in einem kurzen
Ueberblicke darlegen darf. Er entfernte sich zunächst
immer mehr.von der pietistischen Sonderchristlichkeit und
von der alles Profane abwehrenden Kirchlichkeit. Er
begann die Gefahren der Manieriertheit, der Selbstgefällig-
keit und der Ueberspannung, der Entleerung und Ver-
holzung zu spüren, die eintreten, sobald die Religion vom
übrigen Leben abgesondert und für sich allein betrieben
wird. Er begann zu empfinden, dass insbesondere die
kirchliche Formung der Religion sie zwar schütze und
stärke, aber sie zugleich doch auch verhärte und ver-
äusserliche und bei der besonderen Sonntagsveranstal-
tung an Innerlichkeit, Naivetät und Natürlichkeit ver-
lieren lasse. Er erkannte, dass das Ideal kirchlicher
Form und Festigkeit in unübertrefflicher Weise ein für
allemal vom römischen Katholizismus verwirklicht sei,
dafür aber auch an ihm mit seinen gefährlichen Folgen
sich am klarsten offenbare. Er sah den früher so beklagten
protestantischen Subjektivismus mit neuen Augen an, in-
dem er in ihm die Rückkehr der Kirche zu einer freieren,
innerlicheren, persönlicheren und mit dem Gesamtleben sich
leichter verschmelzenden Form und in seiner kirchlichen
Schwäche gerade seinen Vorzug erkennen lernte. Eben
damit fühlte er aber auch dann weiterhin die Kluft, die
zwischen seinem religiösen und seinem intellektuellen
Leben eingetreten war. Die früheren Ideale wachten
wieder in ihm auf und damit die Sehnsucht nach einem
Ausgleich beider. Hatte er sich von seinen ursprünglichen
Ausgangspunkten einer frommen und freien weltlichen
Bildung immer weiter entfernt und sich immer mehr in
sich selbst zusammengezogen, so kam diese Zurück-
RE ee
ziehung nunmehr zum Stillstand und begann langsam die
umgekehrte Bewegung, die allmähliche Wiederöffnung
für die Eindrücke der Welt, der Bildung, der Kultur,
der geistigen und politischen Interessen, ohne dass aber
dabei seine eigentlich religiöse Empfindung eine wirkliche
Veränderung erlitten hätte. Sie dehnte sich nur jetzt
von dem Kerne, auf den sie sich zusammengezogen
hatte, wieder aus und zog allmählich den ganzen Geistes-
gehalt der modernen Welt in eine spezifisch religiöse Auf-
fassung und Beleuchtung hinein. Er lernte diese moderne
Welt als eine Wirkung des Christentums betrachten und
sah so schliesslich alles, was Renaissance, Aufklärung,
deutscher Idealismus und sogar die französische Revo-
lution Dauerndes geschaffen hatten, als eine Wirkung
Christi an, durch die er den Glauben seiner Jünger vor
neue grössere und reichere Aufgaben stellen, durch die er
das religiöse Leben tiefer und inniger mit dem sittlich-
kulturellen verbinden wollte. Er machte sich klar, dass
die moderne Welt entweder das Ende des Christentums
oder seinen Uebergang in ein völlig neues Stadium be-
deute, und angesichts dieser Lage war seinem Glauben
selbstverständlich, dass nur das zweite der Fall sein
könne, dass das Christentum vor einer neuen Entwicke-
lungsphase stehe, die eine innerliche Verschmelzung der
modernen Humanität und des christlichen Gottesglaubens
als Ergebnis der gegenwärtigen kritischen Epoche herbei-
führen werde. „Ihr habt ja gar keine weltgeschichtliche
Aufgabe für Christum zu lösen vor euch, ihr Pietisten!
Macht euch das nicht stutzig?“ „Die Streitfrage in
unserer Kirche ist gegenwärtig: ob weltgeschichtliches
Christentum oder Sektenchristentum.“ „An freier Luft
u
fromm zu sein, das ist’s, worauf es jetzt ankommt.“ In
diesen Worten liegt die Erkenntnis, durch die er sich vom
Pietismus lossagte. So bahnte sich langsam seine eigen-
tümliche Weltanschauung an, die mit radikalster Weit-
herzigkeit jeden geistigen Fortschritt freudig anerkannte
und jeden doch zugleich mit wunderbarster Mystik an
Christus und die Erlösung knüpfte. Er lernte die Sterne
wieder lieben, die seiner Geburt geleuchtet hatten, aber
ihren Glanz erkannte er jetzt als den Reflex der Sonne
Christus, die er inzwischen in ihrem vollen Lichte kennen
gelernt hatte. Er teilte die Uebernatürlichkeit des spe-
zifisch Religiösen den kulturellen Elementen der modernen
Humanität mit und stellte so für sich durch seine Mystik
eine Einheit her, die andere durch Rationalisierung und Ni-
vellierung des Christentums zu erreichen gestrebt hatten.
Indem er aber so diese Verschmelzung sich anbahnen
und eine neue Gestalt des Christentums entstehen sah,
musste er natürlich auch die Ursache der bisherigen Ent-
zweiung aufsuchen und an seinem Teil zu beseitigen
trachten. Diese Ursache erkannte er in der Kirche als
der bisherigen Form des Christentums, in der Verkirch-
lichung und der damit von selbst gegebenen Isolierung
der Religion von dem allgemeinen sittlich-kulturellen
Leben. Diese Verkirchlichung war notwendig bei der
ersten Ausbreitung und Festsetzung des Christentums in
einer feindlichen Welt und einer heidnischen Kultur und
war nicht minder nötig zur Erziehung barbarischer Völker
im Mittelalter, die erst durch sie langsam zu einer neuen
und nun christlichen Kultur herangebildet wurden. Aber
seit so die Kirche selbst eine neue geistige Atmosphäre
geschaffen hat, ist sie der Religion immer hinderlicher
BE WER
und dadurch überflüssig geworden, ist sie zerbröckelt, im
öffentlichen Interesse zurückgetreten, von der profanen
Kultur, Kunst und Wissenschaft überall überholt worden.
Die moderne Zeit ist daher die Zeit der Selbstzersetzung
der Kirche und der Einwanderung des Christentums in
die allgemeinen natürlichen Formen menschlicher Gesit-
tung, deren treibende Kraft und belebende Seele zu sein
nunmehr seine Aufgabe wird. „Christum frei machen
zu helfen von der Kirche, das muss in unseren Tagen
eine der Hauptbestrebungen der Gläubigen sein.“ „Die
Verkündigung Christi hat schon längst ganz andere, viel
weltlichere Wege gesucht und gefunden (als die kirch-
lichen) und ihr höchster Erfolg besteht darin, dass sie
sich selbst ohne alle besonderen Anstalten ganz von
selbst tradiert als stehendes Ingredienz der herrschenden
religiös-sittlichen Atmosphäre.“ „Trage in dir die leben-
dige Gewissheit von der Realität der geschichtlichen
Thatsache Christus, und lebe dann im Lichte dieser
Gewissbeit einfach dein menschliches Leben.* Damit
ist der grosse Grundgedanke seines inneren Lebens und
seiner ganzen wissenschaftlichen Arbeit gefunden: die Er-
kenntnis des Unterschieds zwischen der auf sich selbst
isolirten und daher in der Kirche Halt und Zusammen-
schluss suchenden kirchlichen Religion und der die inner-
weltlichen Aufgaben in sich aufnehmenden und daher in
das Gesamtleben eintauchenden kirchenfreien Religion, der
Satz von der nur vorübergehenden Bedeutung der supra-
naturalen Heilsanstalt der Kirche mit ihren Dogmen, Riten
und Klerikern und von der in seiner Verschmelzung mit
der modernen Humanität erst recht erkennbaren ewigen
Bedeutung des religiös-sittlichen Gehaltes des Christen-
TB, cut
tums. Auf diesem Satze beruht seine historische Auf-
fassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des
Christentums, seine theologisch-philosophische Lehre vom
Wesen der Welt und den Zielen des Lebens und seine
praktische Arbeit an den kirchlichen Problemen der
Gegenwart.
Diese drei Punkte sei mir gestattet noch näher zu be-
leuchten, da das eigentlich Biographische seit dem Beginn
seiner selbständigen Entwickelung nur mehr rein persön-
liche Bedeutung hat. Hierüber genügt es vielmehr zu
bemerken, dass, wie seine innere Entwickelung ihn in um-
gekehrter Richtung wieder rückwärts führte, so auch sein
äusserer Lebensgang ihn wieder der Reihe nach an die
früheren Orte seiner Arbeit brachte, erst 1828 nach
Wittenberg, wo er in stiller Zurückgezogenheit und fast
unglaublicher Arbeitsamkeit die Grundlagen seiner Ge-
lehrsamkeit und seiner endgiltigen Anschauungen legte,
und dann seit 1837 nach Heidelberg, das ihm zum
natürlichen Boden seiner Wirksamkeit und seiner Geistes-
art wurde und das er nur vorübergehend auf fünf Jahre
zu Gunsten Bonns verlassen hat.
Seine historische Gesamtanschauung, wie sie sich
ihm durch die Einreihung seines Grundgedankens in eine
spekulative Theorie der Entwickelung der Menschheit
gestaltete, legt sein erstes grosses Werk dar, das er, in
die Heimat zurückgekehrt, als Seminarlehrer zu Witten-
berg verfasste: „Die Anfänge der christlichen Kirche.“
Hier untersuchte er den Kirchenbegriff, die historischen
Prozesse der ersten Entstehung und der Wiederauflösung
der Kirche, Gedanken, die er dann später immer wieder-
holte und unablässig fortbildete. Er konstruierte das
N
Christenthum als die absolut normale und universale Reli-
gion, die mit der allgemeinen Humanität innerlichst eins
ist. Aber da die ihm entsprechende allgemeine Humanität
bei seiner Entstehung noch nicht ausgebildet war, sondern
nur erst in fremdartigen und vielspältigen National-
kulturen vorlag, so war ihm die Einigung mit ihr noch
nicht möglich und musste es zunächst eine rein religiöse,
nur der Pflege des religiösen Gedankens und des Kultus
gewidmete Gemeinschaft, die katholische Kirche, erzeugen.
Diese musste eben deshalb einen überwiegend weltflüch-
tigen und asketischen Charakter tragen und durch die
supranaturale Form des Kirchentums das Christentum
als sakrale Sonderangelegenheit vom Gesamtleben ab-
sperren. Aber seit der durch das Christentum selbst
angeregten Ausbildung einer allgemeinen, alle bisherigen
Schranken überwindenden Humanität, ist das Kirchen-
tum immer überflüssiger geworden, und so hat mit der
Reformation die Wiederabtragung des Kirchentums be-
gonnen, die fortschreitet, bis dereinst bei erreichter Ver-
geistigung aller Menschen mit der Wiederkunft Christi
die religiös beseelte Organisation der sittlichen Vernunft,
der Staat HEgEL’s, allein vorhanden und auch das letzte
Minimum von Kirche verschwunden sein wird. Es ist
ein höchst absonderlicher Gedankengang, der aber doch
bei der Bedeutung seines Ausgangspunktes zu sehr tiefen
Einsichten führt, die von den anderen grossen Gesamt-
entwürfen der Geschichte des Christentums, von den
Darstellungen F. Cu. Baur’s, Rexan’s und Harnack’s
nicht erreicht worden sind. Entsteht für die Tübinger
der Katholizismus geradlinig aus der Dialektik der Ideen
des Urchristenthums, so sieht RoTHE mit Recht in der
2). re
Entstehung der Kirche einen grossen, aus praktischen
Gründen hervorgehenden Bruch mit dem Urchristentum,
den Bruch zwischen einer freien, mannigfachster An-
gleichung und Verschmelzung noch fähigen religiösen
Bewegung und einem supranaturalen, starren, ausschlies-
senden und für immer fertigen Kirchentum. Eben
damit hat er zugleich Recht gegen HARNACK, der diesen
Bruch zwar vollkommen würdigt, aber ihn nur in der
Hellenisierung des Christentums und seiner Erfüllung
mit neuplatonischer Metaphysik statt in der kirchlichen
Erstarrung und Festlegung der produktiven religiösen
Kräfte erkennt. Am nächsten berührt sich ROTHE mit
dem unbefangenen RENAN, nur dass er die innere Not-
wendigkeit dieser Umformung des Christentums tiefer
begreift, während RENAN in ihr ein mehr zufälliges, von
den ursprünglichen Impulsen des ältesten Christusglaubens
unabhängiges Ereigniss sieht. Die Kirche geht ihm mit
Notwendigkeit aus dem universalen Missionstriebe des
Christusglaubens hervor, aber ihre Bildung verändert
diesen Glauben sofort nach allen Seiten. Sie bringt den
alle Offenbarung zur fertigen Mitteilung und Stiftung
versteinernden dogmatischen Supranaturalismus, die Ge-
setzlichkeit, die Verdienstlichkeit, das Mysterienwesen,
die Hierurgie, den Dogmatismus hervor. Nicht die
Synthese von Judenchristentum und Paulinismus, nicht
die Verschmelzung mit griechischem Moralismus und
griechischer Metaphysik, sondern die Organisation zum
kirchlichen Institut ist das entscheidende Ereignis. Frei-
lich dient diese Konstruktion zunächst RoTHE’s systemati-
schen Gedanken über das Verhältnis von Religion und
Humanität zur Unterlage. Auch als solche enthält sie sehr
Aa
zutreffende,. nur zu sehr dogmatisch befangene Beobach-
tungen. Aber sie enthält darüber hinaus eine noch
wichtigere von ihm weniger betonte, immerhin jedoch
genügend hervorgehobene Erkenntnis, die Erkenntnis des
Unterschiedes von Religion und Kirche, insoferne die Reli-
gion für sich eine lebendige, schöpferische, aus beständiger
Inspiration schöpfende Kraft ist und die Kirche diese
Kraft zur ein- für allemal fertigen, vorliegenden und
nur mehr auszuspendenden und anzueignenden Sub-
stanz macht. Das ist zugleich die Erkenntnis des Unter-
schiedes der produktiven Ursprungsepoche, in der die
prophetische Inspiration und die religiöse Persönlichkeit
die Hauptsache sind, von dem daraus erwachsenden
religiösen Gebilde, in dem Dogma, Ritus, Klerus, Autori-
tät und Theologie das Zentrum eines übersichtlichen und
berechenbaren Baus ausmachen. Diese Erkenntnis, die
nicht bloss für die Geschichte des Christentums grund-
legend und nicht bloss für die der Religionen fruchtbar ist,
hat von ihm aus in der ganzen neueren Theologie erleuch-
tend fortgewirkt, Ansätze richtiger Einsichten prinzipiell
erhellt und den Anstoss zu einer eben erst beginnenden
neuen Auffassung der Urgeschichte des Christentums
gegeben. Nicht minder fruchtbar als diese Gedanken
über die Entstehung sind die über die Entwickelung der
Kirche, wobei ihm neben seinem Hauptgedanken wieder-
um die Einsicht in den Antagonismus der unausrott-
baren produktiven religiösen Kräfte und der. starren
supranaturalen Einrichtungen der Kirche trefflich zu
statten kam. Von dieser Erkenntnis aus hat er die Ver-
teilung der geschichtlichen Erforschung des Christentums
auf zwei Disziplinen vorgeschlagen, auf eine „Kultur-
RR. eh
geschichte des Christentums“ und auf eine „eigentliche
Geschichte der Kirche als Institution“. Von hier aus
konnte er das Gesamtergebnis dahin zusammenfassen:
„Das Christentum ist das allerveränderlichste, das ist sein
besonderer Ruhm.“ Aber auch die einzelnen Ergebnisse
sind von bleibender Bedeutung. Dass der Katholizismus
das völlig folgerichtige und kontinuierlich aus dem ältesten
Christentum stammende Gebilde ist, in welchem der von
der christlichen Bewegung der antiken Welt gegebene
Anstoss auf anderthalb Jahrtausende zur Ruhe kam, ist
eine von aller weiteren Forschung bestätigte Erkenntnis;
und das gleiche gilt von dem anderen Satze, dass die
Reformation in erster Linie die Abschwächung und die
Zersetzung des supranaturalen Kirchenbegriffes und die
Wiederentbindung der freien, beweglichen religiösen
Kräfte bedeutet. Sie ist eine prinzipiell „neue Gestalt
des Christentums“, eine Ausweitung und Verinnerlichung
der Religion zugleich, „die ein besonderes Aeussere
gar nicht kennt und bedarf, sondern schon vermöge der
Naturverhältnisse der Menschen das entsprechende Aeus-
sere unmittelbar gegeben hat, am Sittlichen“. Vor allem
aber hat RoruE mit Recht erkannt, dass die gegen-
wärtige Lage des Christentums keineswegs vorwiegend
von den Ergebnissen und Ideen der Reformation be-
herrscht ist, sondern von der grossen europäischen Be-
wegung, die eine völlig neue Bildung und Kultur im 17.
und 18. Jahrhundert heraufgeführt und das von der
Reformation stehen gelassene Kirchentum noch bedeutend
weiter eingeschränkt hat. Hiermit hater die Lage voll-
kommen zutreffend bestimmt und die Voraussetzungen klar-
gelegt, unter denen jede Theologie der Gegenwart zu
RA green
arbeiten hat. Es sind die Voraussetzungen seiner eigenen,
von der er daher auch sagt: „Meine Theologie ist von
ganz anderem Datum als die der Reformatoren; dieses
Datum ist nicht mein individuelles, sondern das der
modernen Zeit überhaupt.“
In der Reife seiner Jahre als Professor in Heidel-
berg empfand RoOTHE das Bedürfnis, diese seine moderne
Theologiein ihrem Gesamtumfang prinzipiell klarzu-
legen. Er machte sich an die Aufgabe, die sonst in der
Dogmatik oder Glaubenslehre erledigt zu werden pflegt.
Aber seine Darstellung konnte keine Dogmatik werden,
da die Dogmatik ja nur Verarbeitung, Zusammenstellung
und apologetische Bewährung der kirchlichen Dogmen
ist und also, auf den Voraussetzungen des kirchlichen
Christentums beruhend, jenen tötlichen Zwiespalt profanen
und sakralen Wissens in sich enthält, den er vermeiden
wollte. Er konnte aber auch keine Glaubenslehre
schreiben, da die Glaubenslehre nur den religiösen Ge-
danken im Auge hat und bei aller Freiheit von kirch-
licher Gebundenheit doch eben deshalb die moderne
Verschmelzung des Religiösen und Sittlich-Kulturellen
nicht aufweisen kann, auf die es ihm gerade ankam. So
konnte er seine Theologie nur als Ethik darlegen, als
Lehre von dem letzten notwendigen Zweck des mensch-
lichen Daseins, in welchem Zwecke das Religiöse und
Sittlich-Kulturelle sich gegenseitig decken und durch-
dringen. In dem johanneischen Ohristusbilde sah er,
ähnlich wie SCHLEIERMACHER, mit der damals üblichen
allzusehr hellenisierenden Auffassung des vierten Evan-
geliums diese Durchdringung urbildlich verwirklicht.
Aber diese Ethik musste nach dem ganzen Wesen seines
BR We
Denkens begründet werden auf den Unterbau einer all-
gemeinen Metaphysik und Kosmologie, Naturphilosophie
und Anthropologie, die das Wesen des Weltprozesses
spekulativ enthüllen. Erst auf diesem Unterbau konnte
der im irdischen und nachirdischen Geschichtsverlauf der
Menschheit verwirklichte sittliche Zweck als der not-
wendige Abschluss des tellurischen Weltprozesses auf-
gezeigt werden. So wurde seine Ethik zu einem Riesen-
werke, das die Ergebnisse schlechterdings aller Wissen-
schaften verwendet, um die christlich beseelte Humanität
als das Ziel der Menschheit zu schildern. In der That
ist sie so ein Kompendium der ganzen vormärzlichen
deutschen Wissenschaft geworden, und aus den tausend
Zitaten seiner Ethik dringt uns der milde Duft jener
phantasiereichen und doch feinen, besonnenen und ver-
mittelnden Wissenschaft wie der Lavendelduft aus einem
wohlgeordneten altväterlichen Linnenschrein entgegen.
Sie ist durch und durch eklektisch und kombiniert mit
feinstem Spürsinn die grossen Gedanken der .J. G. FICHTE,
SCHELLING, HEGEL und SCHLEIERMACHER mit den um-
sichtigen Systemen der jüngeren spekulativen Generation
und der Vermittelungstheologie. Aber indem RoTHE
diese Begriffsmasse mit seiner innigen Christusmystik,
seinem entschlossenen Wunderglauben und seiner poeti-
sierten Apokalyptik durchdrang, schuf er doch aus ihr
etwas völlig Persönliches, Unnachahmliches, das nur bei
ihm möglich war. Ueberdies umgab er den so von seiner
Dialektik zusammengeschmiedeten festen Körper seiner
Spekulation mit einem bunten Rankenwerk, in dem die
naive Sinnlichkeit und Bildlichkeit seiner Phantasie sich
ein aller Abstraktionen spottendes Spiel vergönnte. Der
RE: We
Stufenbau des Weltprozesses mit seinen beständigen gött-
lichen Eingriffen gemahnt an JakoB BÖHME und die Be-
wohner des vollendeten Vernunftstaates schweben wie die
Engel und Mönche des Fra Angelico. Durch eine Art ver-
klärter Chemie sollten sie die übrig gebliebenen Schlacken
der materiellen Welt ausscheiden, und die gegen Gott ver-
härteten Unfrommen sollten als dämonisierte Wesen den
hoffnungslosen Kampf des verzehrenden Feuers gegen den
zarten himmlischen Lichtglanz führen. In dem ihm nicht
unbehaglichen Bewusstsein um die Paradoxien seines
Weltgemäldes sprach er gerne von seinen Naivetäten,
womit er freilich nur eine allzu schulmässige Betastung
seiner Bilder fern halten wollte, und wollte er seine
Ethik von seinen Kritikern lieber als Kuriosität be-
trachtet sehen als sie durch halbe Annahme in die
breiten theologischen Bettelsuppen verkochen lassen.
Zugleich aber streute er über das Ganze eine solche Fülle
feiner Beobachtungen und tiefdringender Einzelerkennt-
nisse aus, dass man immer wieder staunt, wie so viel
Scharfsinn und Tiefe bei so viel Wunderlichkeit möglich
ist. Es weht durch seine Ethik das mächtige Pathos
der FicHte’schen Moral, des in der schöpferischen
Freiheitsthat sich selbst setzenden und aus dem blossen
Naturwesen Geist erzeugenden Ichs, und es erfüllt sich
dieses Ich mit dem feinen und reichen Gehalte SCHLEIER-
MACHER’scher Bildung wie mit der Wärme christlicher
Menschheitsliebe, im Verhältnis wozu die Frömmigkeit
„nichts irgend Besonderes ist, nichts als die gesunde,
erfrischende und kräftige Atmosphäre, die wir bei jedem
Athemzuge einschlürfen“. Diese Grundlage, von der aus
ROTHE seine tiefsten und sinnreichsten Einsichten ge-
Troeltsch, Richard Rothe. 3
ER
winnt, schlägt durch alle Absonderlichkeiten immer wieder
durch, und sie ist es auch, die das theosophische Welt-
drama Rorne’s als moderne Ansicht gründlich scheidet
von den biblizistischen Phantasieen eines ÖETINGER, auf
die er sich mit seiner Liebe zum Verkannten und Be-
sonderen gerne bezog, von denen er aber selbst sich
deutlich abgrenzt, wenn er der gangbaren Theosophie
vorwirft, dass sie „das Verhältnis des Menschen zu Gott
nicht durch das Verhältnis des Menschen zu sich selbst
und der ihm äusseren Natur, sondern umgekehrt dieses
unmittelbar durch jenes ermittelt“. Das heisst: ROTHE
stellt sich trotz allem auf den modernen Standpunkt der
Immanenz des Göttlichen in der Welt und nicht auf den
vormodernen der Transzendenz einer unsere Erkenntnis
und unser Handeln von aussen durch göttliche Gebote
bestimmenden Offenbarung. So bunt und merkwürdig
unter diesen Umständen auch das Ganze ist, so einfach
und gross ist sein Grundgedanke, die Idee einer religiös
erfüllten Humanität, die frei von dem Dualismus kirch-
licher und ausserkirchlicher Moral das Gesamtleben von
innen heraus als ein zugleich religiöses und zugleich sitt-
liches gestalten soll. Es ist der Gedanke, der auch
Lessing, HERDER und SCHLEIERMACHER vorgeschwebt
hatte, nur dass ihn ROTHE ganz anders verknüpft mit
dem Wunder der Erlösung und den Wundern der Escha-
tologie und dass er den Abstand dieses modernen
Christentums vom kirchlichen viel tiefer empfindet als
jene Denker. Damit hat er das grosse Zentralproblem
der modernen Gesittung ergriffen, das nur in etwas an-
deren Ausdrucksformen heute noch ebenso im Mittel-
punkte steht. Die religiös begründete Moral enthält
EN
einen Zug zum Jenseitigen und Innerlichen, der das
Leben auf ewige Ziele spannt und darüber die innerwelt-
liche Lebens- und Kraftentfaltung weit zurückstellt. An-
dererseits aber enthält unsere Gesittung seit der Re-
naissance die Richtung auf volle Diesseitigkeit, kräftige
Daseinsfreude und innerweltliche Lebensentfaltung. GIoR-
DANO BRUNO und MONTAIGNE, SHAFTESBURY und VOL-
TAIRE, der GOETHE der mittleren Jahre und die Jung-
hegelianer, JAKOB BURCKHARDT und NIETZSCHE auf
der einen Seite, LUTHER und Carvin, PascAL und
SPENER, LAVATER und HAMANN, KIERKEGAARD und
VINET auf der anderen Seite haben den Gegensatz grell
beleuchtet. RoTHE glaubte ihn zu überwinden, wenn er
die Verkirchlichung des Christentums als das trennende
Hindernis beseitigte und dafür die innerlichste Christus-
mystik mit weltfreudigster Humanität um so enger zu
verknüpfen strebte. RorHr’s Spekulation hat das Pro-
blem wohl schwerlich gelöst, aber das von ihm gestellte
und tiefsinnig bearbeitete Problem bleibt das Haupt-
problem der modernen Gesittung für alle, die nicht eine
geistreiche Skepsis für vernünftiger halten als den Glauben
an ewige Ziele der Wirklichkeit oder gar die Rätsel des
Lebens mit Technik und Hygiene am besten zu lösen
meinen.
Erst in den letzten Jahren seines Lebens, wo der
Tod seiner lange schwer leidenden Frau seine Kraft
wieder frei werden liess und die Gestaltung der kirch-
lichen Verhältnisse in Baden, sowie das besondere Ver-
trauen seines Landesherrn seine Mitwirkung in Anspruch
nahmen, zog er die praktischen Konsequenzen seines
Standpunktes. Früher hatte ihn das Gefühl seiner iso-
3*+
ee
lierten theologischen Stellung und seiner gelehrten Son-
derlingsnatur davon zurückgehalten, in kirchlich feste
Verhältnisse den Gährungsstoff seiner Heterodoxieen
hineinzuwerfen. In Baden aber, wo die Neigung der
Bevölkerung und der Gang der politischen Dinge zu
einer freieren kirchlichen Gestaltung führten, fand er
schliesslich den immer von ihm geliebten und gepriesenen
Boden für eine auch praktische Durchführung seiner
Gedanken. Von seinem Landesfürsten hoch geehrt und
diese Hochschätzung mit aufrichtigster Hingebung er-
widernd, nahm er die norddeutsche Ironie von dem
„badischen Musterland“ immer für völlig zutreffenden
Ernst und war überzeugt, dass das Christentum. die
politische Freiheit, die er im Sinne der damaligen deut-
schen Intelligenz als die Freiheit des Konstitutionalismus
verstand, „aufrichtig als seine legitime Schwester an-
erkennen müsse, wenn es das Vertrauen der Zeit-
genossen im Grossen wieder erlangen wolle“. Diesen
Bund sah er in Baden und seinem edlen Fürsten ver-
wirklicht, und so hoffte er hier auch auf die Erfüllung
der Verheissungen, die diesem Bunde gegeben schienen.
Und nicht blos das Vertrauen des Volkes sollte diese
Anerkennung vernunftgemässer Freiheit der Kirche zurück-
gewinnen, sondern auch auf die Kirche selbst sollte der
Geist der modernen Freiheit und Völkerreife belebend
und neubildend wirken. Wie die Führung in der mo-
dernen Kultur überhaupt an den Staat übergegangen
ist und in der liberalen politischen Theorie und der
konstitutionellen Praxis die erreichte Stufe höherer
Moralität sich darstellt, so sollte dieser Fortschritt auf‘
die Kirche zurückwirken und auch hier zu einem ihrem
ee
Wesen entsprechend modifizierten Konstitutionalismus
führen. Von diesen Voraussetzungen aus sah er in Baden
die Möglichkeit für die Verwirklichung seines Ideals von
einem modernen Kirchentum gegeben, das als Staats- und
Landeskirche schon ganz von selbst eine Abschwächung
des rein kirchlichen Charakters erfahren hat und nur
noch mehr diese kirchliche Schwäche zu einer innerlichen
Verschmelzung von Volksleben und Religion fruchtbar
machen soll, um sich schliesslich dadurch einmal selbst
überflüssig zu machen. Wie die Sozialisten auf Grund
der gleichen HzgeEr’schen Methode die Monopole und
Ringe als den Uebergang der bürgerlichen zur sozialisti-
schen Gesellschaft ansehen, so sah RoTHE die Landes-
kirchen als Uebergangsformen an, die zum innerlich re-
ligiös beseelten Volksleben führen sollten, zur religiös
sittlichen Gestaltung des Staates als der vollkommenen
Gemeinschaft, wobei nur nicht zu vergessen ist, dass er
bis zur völligen Moralisierung der Menschheit — und das
heisst bis zur Wiederkunft Ohristi — ein „Minimum von
Kirche“ für unentbehrlich hielt. Dieser Idee entsprechend
sollten die Leiter der Landeskirchen verfahren, und die
grossen und schweren hieraus entspringenden Aufgaben
schienen ihm das Programm eines modernen Kirchen-
regiments. Dass er die Aufgabe einer solchen Landes-
kirche überaus ernst und schwer nahm und der Kirche
gerade um ihretwillen eine ausserordentliche Bedeutung
beimass, geht aus seiner besonnenen und eifrigen Mit-
wirkung an dem Kirchenregiment hervor. Hierbei zog er
keineswegs einfach die Konsequenzen seines Systems.
„Der Doctrinarismus“, sagt er bezeichnend, „besteht nicht
in der Aufstellung einer exakten Doktrin, sondern in der
PER RE
Tendenz, diese Doktrin, in ihrer wissenschaftlichen Rein-
heit und folgeweise Abstraktheit, unmittelbar auf den
gegebenen konkreten Fall anzuwenden“. Er wollte nur das
praktisch Mögliche, aber dieses mit mutigem Idealismus.
So trat er im Agendenstreit für grössere liturgische Freiheit
der Einzelgemeinde ein und bei der Revision der Kirchen-
verfassung für das Gemeindeprinzip, das die Kluft zwischen
Klerus und Laien und damit die zwischen Kirche und
Volk aufheben oder doch vermindern und eben dadurch die
Kirchlichkeit ihrer verderblichen Folgen berauben sollte,
ohne doch ihren Segen für religiöse Volkserziehung
und Volksbelehrung aufzuheben. In dem grossen um
SCHENKEL’s Leben Jesu entbrannten dogmatischen Streit
kämpfte er für die Lehrfreiheit, aber nicht um SCHENKEL’s
rationalisierendes Charakterbild zu verteidigen, sondern
in der Ueberzeugung, dass nur die Gewährung voller
Lehrfreiheit die verderbliche Kluft zwischen profaner und
kirchlich-sakraler Wissenschaft aufheben und das Miss-
trauen des Volkes gegen die letztere überwinden könne, zu-
gleich auch in dem festen Glauben, dass keine Lehrfreiheit
der Welt der Macht Christi hinderlich sein könne, sondern
jede schliesslich nur zur Anerkennung seiner Herrlichkeit
führen könne. Sein Entwurf für den oberkirchenrätlichen
Bescheid und der darauf begründete Bescheid selbst sind die
schönsten Aktenstücke, die eine kirchliche Kanzlei in
diesem Jahrhundert verlassen haben. Eben dieselben
Gründe bewogen ihn auch bei der Gründung des Pro-
testantenvereins hilfreiche Hand anzulegen. Er sollte
das Volkschristentum, die Versöhnung von Sittlichkeit
und Religion, Kirche und Staat, kirchlicher und ausser-
kirchlicher Wissenschaft anbahnen helfen und als freie
TER
religiöse, unkirchliche Vereinigung eine Vorform des
kirchenfreien Christentums werden. Dabei hat er den
ausgesprochenen Wunderglauben, den seine dialektische
Kunst in ein rein evolutionistisches System zu verweben
wusste, niemals verleugnet. Aber er hielt diesen Glauben
für eine „Wohlthat“, die er seiner Freiheit von modernen
Vorurteilen verdankte und die er „niemand aufdrängen“
wollte. Er hatte „nichts dagegen einzuwenden, wenn
man ihm seinen Wunderglauben und überhaupt seinen
Supranaturalismus eben als eine kindliche Naivetät zu
gute hielte*. Ja er achtete es für gut, dass man der
Theologie erlaube, ihre monistischen Gedankengänge
zu Ende zu gehen, weil sie anders sich schwerlich davon
bekehren werde. So übte er in seiner Praxis eine un-
begrenzte Toleranz gegen jeden ernsten religiösen Sinn,
den er irgendwo bemerkte, und gegen jedes aufrichtige
Wahrheitsstreben, das sich irgendwo hervorthat. Er
glaubte in einer Zeit religiöser Gährung wie die Gegen-
wart alle Kräfte sammeln zu sollen und war der festen
Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gedeihen könne in
der Luft unbedingter Freiheit. Insbesondere sah er von
diesem Grundsatze aus die Aufgabe der theologischen
Fakultäten an. Er empfand aufs tiefste das Misstrauen,
das von den anderen Fakultäten der listenreichen Kunst
einer kirchlich gebundenen Theologie entgegengebracht
wird, und ging mit seiner Forderung völliger Freiheit
der wissenschaftlichen Theologie so weit, dass er es
für das allerdringendste Bedürfnis erklärte, „dass die
weltliche Wissenschaft das Objekt der Theologie auf ihre
eigene Hand in die Arbeit nehme“. „Es giebt jetzt
unter uns keine privilegierte Wahrheit mehr. Die Wahr-
ee
heit hat nur mehr soviel Anspruch auf Geltung, als sie
sich thatsächlich geltend zu machen vermag in der Ueber-
zeugung der Menschen.“ Ja er wollte den ganzen Aus-
druck „christliche Wahrheit“ nicht gelten lassen.
Denn „Was ist christliche Wahrheit? Erkenntnis im
Lichte der Thatsache „Christus“, einem Lichte, das fort
und fort im Wachsen begriffen ist“. Das bedeutet das
Programm einer völlig undogmatischen und untheologischen
Theologie, die, womöglich von Nichttheologen geschaffen,
die Grundlage eines wissenschaftlichen Verständnisses der
modernen Umformung des Christentums feststellen sollte.
Alle diese Aeusserungen sind freilich getragen von
seinem unverwüstlichen Glauben an die Macht der
Thatsache „Ohristus“, und diese wie seine ganze poli-
tische und kirchenpolitische Lehre hängt eng zusammen
mit dem Vernunft- und Moral-Optimismus des deutsch-
nationalen Liberalismus, auf dessen Hochschätzung die
enge in Rom geknüpfte Freundschaft mit dem glück-
haften und phantasiereichen Diplomaten und Gelehrten
KaArtL Josıas von Bunsen nicht ohne Einfluss war.
Aber bei aller Kindlichkeit enthalten diese Forderungen
doch mehr Weisheit als manche moderne Versuche, auf
das geistige Leben die Regeln einer an ganz anderen
Gegenständen ausgebildeten Realpolitik zu übertragen
und Kirche und Fakultäten wieder für politische Zwecke
auszunutzen. Vor allem bleibt der Grundsatz im Rechte,
dass die Wahrheit nur in der Freiheit gedeihen könne
und dass nur die Rücksicht auf die Wahrheit auf die
Dauer dem religiösen Leben frommen könne. Heute
dürfen wir vielleicht hinzufügen, dass diese Forderung
der Freiheit der theologischen Fakultäten nicht bloss im
une.’ Mae
Interesse der Theologie zu erheben ist. Die theologische
Fakultät ist das Barometer des Zustandes der Wissen-
schaft überhaupt, und es könnte nur zum Schaden des
Ganzen vergessen werden, dass für die Wissenschaft das
Wetter um so günstiger ist, je geringeren Druck dieses
Barometer zeigt.
Aus dieser tapferen und erfolgreichen Thätigkeit
wurde er am 20. August 1867 durch den Tod abgerufen.
Er hatte längst empfunden, dass er einer dahinschwin-
denden Generation angehöre. Die empiristische Wen-
dung der Wissenschaft drängt ihn in der zweiten Auflage
seiner Ethik bereits in die Verteidigungsstellung, seine
Bestrebungen um Versöhnung von Kultur und Religion
traten bald im allgemeinen Interesse zurück, seit Politik
und soziale Frage brennendere oder doch unmittelbarer
nach Lösung verlangende Probleme in den Vordergrund
gestellt hatten. Er dankte Gott, dass er „sein Leben
in die Zeit des alten Deutschland hatte fallen lassen“
und hatte „für die Bismarckerei und die Gewaltthätig-
keiten Preussens“ keinen Sinn. Er sah für sein Volk eine
neue Aera heraufsteigen, von der er nicht zweifelte, dass
sie eine schönere sein würde. Für seine Person aber
sehnte er sich nach dem Morgenglanz der Ewigkeit, den
seine vorahnende Phantasie in das Netzwerk seiner Be-
griffe hineinzuweben versucht hatte, so dass er darin
allenthalben sonnenspiegelnd glänzt wie der Morgentau
in den Spinngeweben des Herbstes. So ging er hin, seinen
Glauben auf dem Totenbette noch einmal fest bezeugend,
einer der lautersten und edelsten, feinsinnigsten und lie-
benswürdigsten, selbstlosesten und darum furchtlosesten
Lehrer, die unsere Universität gehabt hat. Ueber sein
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Grab ergoss sich mit der Liebe der Freunde und Schüler
die Rohheit der Gegner, die Trivialität der Kurzsichtigen
und die unedle Salbung derer, die ihn wegen seiner
grossen und kühnen Gedanken entschuldigen zu müssen
glaubten. Allen denen aber, die unabhängig von Partei-
rücksichten den Zauber einer eigentümlichen und in ihrer
Art vollendet durchgebildeten Persönlichkeit zu empfinden
wissen, blieb rührend und ergreifend der Gesamteindruck
seines Wesens zurück, wie er es selbst in den einfachen
und innigen Worten seines Tagebuches zusammengefasst
hatte: „Wie so ganz anders steht doch die anbetende
Bewunderung vor dem Rätsel der Welt als die auf ihre
Ironie eingebildete misstrauische Skepsis!“
RıcHuarp RoTHE gehört zu ‘den Sonderlingen der
Theologie, ähnlich wie in ihrer Weise SÖREN KIERKEGAARD
und PAUL DE LAGARDE. Er hat, wie es bei geistreichen
Sonderlingen zu geschehen pflegt, durch die Unabhängig-
keit seines Denkens grosse und bleibende Wahrheiten
entdeckt, er hat sie aber in einer Weise vorgetragen
und mit persönlichen Sonderinteressen so paradoxer
Art verknüpft, dass von einer ihm nachfolgenden theo=
logischen Schule nicht die Rede sein kann. Es bleibt
einer späteren Generation nichts anderes, als die Frucht-
körner zu sammeln, die er in seinem Zaubergarten hat
reifen lassen, und sie in gewöhnliches Erdreich zu
senken.
So kann sich auch die heutige Fakultät bei aller
Stärke seiner Nachwirkungen nicht als eine Art Schule
RorHe’s bezeichnen. Wohl aber darf sie, in Verehrung
zu seiner edlen Persönlichkeit aufblickend, sich als die
Erbin seiner grossen Grundgedanken bezeichnen. Er
N
hat den Rechtsboden erstreiten helfen, auf dem unsere
Landeskirche jede Parteiherrschaft einzelner Richtungen
ausschliesst, aber alle duldet, die selbst Christen sein
wollen. Er hat den Unterschied von Religion und Kirche
erkannt, der das gegenwärtige kritische Stadium des
Christentums erst in seinem wirklichen Wesen begreifen
lehrt; er hat die grossen ethischen Probleme einer inner-
weltliche und überweltliche Ziele verknüpfenden Moral
aufgerollt; und er hat in seiner Persönlichkeit ein Muster
aufgestellt, wie erst der Einsatz des ganzen Menschen
den Theologen macht. Diesen Rechtsboden wollen wir
vertheidigen, diese Einsicht in ihren Folgen ausbilden,
diese Probleme durch eifrige Mitarbeit fördern und
dieses Vorbild befolgen, so lange unserem Tage zu
dauern vergönnt ist.
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