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Full text of "Richard Rothe : Gedächtnisrede, gehalten zur Feier des hundersten Geburtstages"

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' Verlag von 3..B, Mohr (Paul Siebeck). 
‚1898. 








GERMAN 





Theology Library 


SCHOOL OF THEOLOGY 
AT CLAREMONT 
California 








Richard Rothe. 


Gedächtnisrede 
gehalten 
zur Feier des hundertsten Geburtstages 
in der Aula der Universität 


von 


Dr. Ernst Troeltsch, 


z. Z. Dekan der Insoloeiean. Fakultät zu Heidelberg. 





Freiburg i.B. 
Leipzig ua Tübingen 
Verlag von J. C. B. Mohr (Paul Siebeck). 
1899. 


Alle Rechte vorbehalten. 


C. A. Wagner’s Universitäts-Buchdruckerei in Freiburg i. B. 


Vorbemerkung. 


Wenn ich die Rothe-Litteratur des Jahres durch Ver- 
öffentlichung dieser Rede vermehre, so geschieht es, weil 
ich mich für verpflichtet halte, die an Rotue’s einstiger 
Fakultät gehaltene Gedächtnisrede dem Publikum vor- 
zulegen. Doch möchte ich daneben ausdrücklich auf die 
ausgezeichneten Arbeiten von HÖönıG, BASSERMANN und 
besonders HOLTZMANN verweisen. Mit der von Houtz- 
MANN geübten Kritik muss ich mich in allen Hauptpunk- 
ten einverstanden erklären. Immerhin darf meine Arbeit 
als Studie zur Geschichte und Psychologie der Theologie 
neben diesen Arbeiten ein selbständiges Existenzrecht 
beanspruchen. Eine Auseinandersetzung mit der wich- 
tigsten Kritik des von ROTHE vertretenen Ideals, mit 
OVERBECK’sS „Ohristlichkeit unserer heutigen Theologie“ 
lag leider ausserhalb des Rahmens meiner Aufgabe. 


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Hochansehnliche Versammlung! 


In unserer festreichen Zeit ist uns die Frage nur 
allzu geläufig geworden, wem zu Ehren diese Feste ge- 
feiert werden, ob mehr dem Gefeierten oder mehr den 
Feiernden zu Ehren. Würde diese Frage unserer 
Fakultät vorgelegt, deren ehrerbietige Einladung diese 
ansehnliche Festversammlung vereinigt hat, so dürfte sie 
wohl den zweiten Fall nicht ganz ablehnen. Denn bei 
der schwierigen Lage, in der sich die theologischen 
Fakultäten der Gegenwart befinden, von links und rechts 
lebhaft befehdet und bei den Genossen unserer gelehrten 
Verbände der Anerkennung ihres wissenschaftlichen 
Existenzrechtes mehr als unsicher, wird jede aus dem 
Laufe der Zeiten erwachsende Gedenkfeier notwendig 
für uns zum Anlass, den Ernst und die Grösse der uns 
anvertrauten Aufgaben laut zu bekennen. Insbesondere 
würde eine Feier der überaus zarten und bescheidenen 
Persönlichkeit RICHARD ROTHE’s uns gegen das Wesen 
seines Charakters zu verstossen scheinen, wenn sie nicht 
in erster Linie eine Feier der von ihm vertretenen und 
von ihm unserer Fakultät zur dauernden Ehrenpflicht 
gemachten Sache wäre. Vor allem aber dürfen wir die 
Feier des hundertsten Geburtstages des verehrungs- 
würdigsten Mitgliedes unserer Fakultät als eine Selbst- 
ehrung betrachten, weil seine Königl. Hoheit, der er- 


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habene Rektor unserer Universität, uns vergönnen wollte, 
uns durch das Bekenntnis zu den Grundsätzen dieses 
von ihm selbst einst hochgeschätzten Mannes vor seinem 
Angesicht zu ehren und damit zu bezeugen, dass das, 
was er einst selbst geschätzt und geliebt hat, auch von 
den Nachfolgern nach dem Masse ihrer Kräfte vertreten 
und gelehrt wird. 

Dass das der Fall ist, möge die Liebe und die Hin- 
gebung zeigen, mit der ich das Bild von Wesen und 
Leben des merkwürdigen Mannes vor Ihnen zeichnen 
möchte. 

RoTnaE’s Geburt fällt in die glänzendste Zeit deutscher 
Geistesgeschichte, in die Jahre des Zusammenwirkens 
der Weimaraner, wo schon die Anfänge der Romantik 
hervortraten und die tiefe Befruchtung der historisch- 
philosophischen Wissenschaften durch die neue poetische 
Weltanschauung und ihre Vereinigung mit der aus KAnt 
entspringenden Spekulation sich zu offenbaren begann. 
Sein Vater, unter dem Oberpräsidium von Merckels 
Geh. Oberregierungsrat, gehörte dem hohen preussischen 
Beamtentum an, sein Vaterhaus war erfüllt von dem die 
vorausgehende Generation beherrschenden Geiste mora- 
listisch-rationalistischer Frömmigkeit, wie er dieses Be- 
amtentum in den ersten Dezennien Friedrich Wilhelms III. 
noch charakterisierte. So war RoTHE von Hause aus 
in die Atmosphäre der neuen deutschen Bildung ein- 
getaucht, mit ihren beiden Haupttypen innig vertraut 
und einer feinen weltläufigen Erziehung teilhaftig. Ihr 
Einfluss ist es, wenn er in beiden einen dauernden Er- 
werb der modernen Gesittung erkennt, wenn er den 
Rationalismus später „eine schlechte Theologie, aber 


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keine üble Religion“ nennt, wenn er in der Humanität 
des deutschen Idealismus „den Aufgang des geistigen 
Sinnes, des geistigen Interesses für die irdische Welt“ 
sieht, des Sinnes „für die uns umgebende äussere Welt 
und für uns selbst als Glied derselben, also des Sinnes 
für die Natur und die Geschichte“. Seine Jugend stand 
dabei ganz überwiegend unter dem Einflusse des zweiten 
Typus, des Klassizismus und vor allem der Romantik. Ihre 
Ziauberwelt nahm auch seinen Sinn gefangen. Neben JEAN 
PAUL, GOETHE und SCHILLER sind es noch mehr TıEck, 
die SCHLEGEL, FOUQUE, WERNER und vor allem Novauıs, 
die seine Ideenwelt bilden und ihr für immer den Hang 
zu träumender Phantasie und zu unmittelbarer Vergegen- 
wärtigung der geliebten Gegenstände verleihen. Ueber 
hundert Gedichte, von der Hand seines Vaters gesammelt, 
zeigen ihn als den für alles Reine, Keusche, Heilige, 
Seltsame und Anonyme schwärmenden Schüler der Ro- 
mantik. Von hier aus genährt ist ihm dieser Hang zu 
einer unerschrockenen Ausbildung seiner Phantasieen, zum 
eigenrichtigen Träumen und Spekulieren, für immer als 
der Grundcharakter seines Denkens verblieben, den er 
später nur mit der nach und nach ausgebildeten Neigung 
zu strengstem logischem Formalismus höchst originell 
verband. Das Wort, das er später, auf die Träume 
des jungen Joseph anspielend, in Rom niederschrieb: 
„Ich bekenne mich im Reiche der Gelehrsamkeit un- 
verhohlen zur Schule der Träumer, warne aber zugleich 
jedermann vor dem Gedanken, als ob Träumen leichte 
Arbeit sei“ bezeichnet sehr richtig diese beiden Seiten 
seines Wesens, die sich erst spät und langsam ineinander 
fanden. So wurde er zum Novalis der Spekulation, wie 


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er ja auch dessen schillernde Orakel noch seiner Ethik 
reichlich einstreute; und noch lange nachher, als die 
poetische Ader längst vertrocknet war, huldigte er den 
romantischen Litteraturformen seiner Jugend, indem an 
die Stelle der Gedichte die Aphorismen traten, die er 
in der oft manieriert zugespitzten oder überraschend bild- 
lichen Weise der berühmten Aphorismen des Athenäums 
zu bilden und zusammen mit seinen Excerpten säuberlich 
zu sammeln bis ins Alter nicht müde wurde. In ihnen 
herrscht bis zuletzt ein Hauch der Jugend, eine Frische 
und Unbefangenheit des Ausdrucks, eine Einfachheit und 
Grösse des Gedankens, die sie bemerkbar unterscheiden 
von den schweren und künstlichen Perioden seiner wissen- 
schaftlichen Darstellungsweise, von der Umständlichkeit 
und Befangenheit seines theologischen Denkens. Sie zeigen 
dauernd an, dass er eine nie versiegende Quelle poetischer 
Anschauung und grosser Eindrücke besass, die ihm den 
Stoff seines Systems lieferte und durch die wir auf den 
klaren Grund seines Seelenlebens blicken können. 

Diese Vorliebe für die Romantik hängt aber bei ihm 
noch mehr als mit der Erregbarkeit der Phantasie mit 
seiner .schon in frühester Jugend hervortretenden reli- 
giösen Oharakteranlage zusammen. Die Romantik war 
für ihn wie für zahllose seiner Zeitgenossen zugleich die 
moderne Gestalt der Religion, die Rehabilitierung der 
Religion bei den Gebildeten unter ihren Verächtern, 
und so entfaltete sich unter der schützenden Hülle poe- 
tischer Jugendeindrücke die starke religiöse Grund- 
richtung, die den eigentlichen Schlüssel seines Wesens 
bildet, wie denn überhaupt die grössere oder geringere 
Stärke dieser Anlage eine Thatsache ist, die, im Ge- 


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heimnis der Bildung der Individualität begründet, von 
jedem Biographen bei seinem Helden berücksichtigt 
werden müsste. Männer wie HumE und Mırr, LAPLACE 
und Darwın hatten von Hause aus eine sehr schwache 
religiöse Anlage, andere wie LEIBnız und Kant, 
SCHLEIERMACHER und RANKE eine sehr starke, und 
dieser Umstand bestimmte die verschiedene Entwickelung 
dieser Männer. Bei RoTHE war der starke religiöse 
Trieb nicht bloss ein einzelner sein Wesen bestimmender 
Umstand, sondern geradezu der Kern seines Wesens, und 
so ist er zu einem der eindringendsten religiösen Denker 
und einem der tiefsten religiösen Charaktere des Jahr- 
hunderts geworden. Freilich war seine Frömmigkeit 
nicht vom heroischen und einfach-naiven, sondern vom 
zarten, innigen und grüblerischen Typus, ohne aber 
deshalb der Festigkeit und Zähigkeit zu entbehren. In 
dieser Hinsicht hat sein Wesen nie einen Bruch oder 
eine Veränderung erlitten. Vom ersten bis zum letzten 
seiner Briefe ist eine alles andere in sich aufsammelnde 
und von sich aus bestimmende religiöse Grundempfindung 
das eigentlich Charakteristische. Alle die schweren 
Kämpfe, die auch ihm nicht erspart blieben, bezogen 
sich nicht auf den Kampf zwischen Glauben und Un- 
glauben, sondern nur auf die Art der Verknüpfung der 
Bestandteile seines inneren Lebens. Hierin die Sonder- 
art seiner Natur vollkommen bewusst empfindend meint 
er: „Das christlich religiöse Einmaleins meines Denkens 
kann ich Gottlob innerlich auswendig und brauche es 
mir nicht immer von frischem nachzurechnen.“ Er ge- 
hörte zu den seltenen Menschen, die in der religiösen 
Krisis unserer Zeit an einer übernatürlichen Erlösungs- 


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offenbarung Gottes an die Menschen nie gezweifelt haben. 
Die illusionistischen Religionstheorien Hume’s, CoMmre’s 
und FEUERBACH’s berührten ihn nicht, die eine immanente 
Entwickelung der religiösen Idee lehrende Spekulation 
der Hegelianer beirrte ihn nicht. Insbesondere die 
Person Jesu strahlte ihm bei allen Wandelungen seiner 
theologischen Gedanken immer in einem vollkommen 
übernatürlichen Lichte und blieb ihm von allen anderen 
Helden der Religion absolut verschieden. STRAUSS und 
RENAN haben ihm mit ihren Versuchen, die Person Jesu 
nach Analogie der sonstigen Geschichtsforschung zu be- 
handeln, nicht einen Augenblick Eindruck gemacht. Für 
die Forschungen der Tübinger hatte er lediglich Achtung. 
Er verstand sie als Ausfluss der Richtung auf immanent- 
rationale Erklärung der Geschichte in ihrer momentanen 
Unvermeidlichkeit zu begreifen, erwartete davon aber 
lediglich die Einsicht in die Unmöglichkeit dieser Be- 
mühungen. Er hat sich persönlich immer bei seinem 
Bedürfnis nach einer solchen supranaturalen Offenbarung 
und bei der „Unerfindbarkeit“ des johanneischen Christus- 
bildes beruhigt. Aus demselben Grunde hat ihm auch 
trotz gründlichster philosophischer Bildung die Philosophie 
nie Sorgen gemacht. Ihre Meinung, ohne fertige religiöse 
Voraussetzung von der Göttlichkeit des Christentums 
erst aus der Ueberschau aller Erfahrungsdaten oder aus 
der blossen Konsequenz eines freien spekulativen Grund- 
gedankens die letzten Wahrheiten zu ergründen, erschien 
ihm immer als Selbsttäuschung. Er konnte sich wirk- 
liche Erkenntnis nur denken als aus dem Grunderlebnis 
des moralisch gereiften Menschen und dem zentralen 
Begriff seiner Gedankenwelt, aus dem religiösen Erlebnis 


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und aus dem Gottesbegriff, fliessend und benutzte die 
philosophische Begriffsbildung nur als Mittel der De- 
duktion aus diesen Grundbegriffen. So gab es für ihn 
eigentlich überhaupt keine Philosophie als Wissenschaft 
ohne durch persönliche Entscheidung zuvor festgestellte 
christlich-religiöse Vorurteile, und als er später in seiner 
Ethik für sie ein Plätzchen zu konstruieren unternahm, 
sorgte er dafür, das niemand dieses Plätzchen einzunehmen 
grosse Lust empfinden konnte. Und wie die Konkurrenz 
der damaligen zahlreichen philosophischen Gottesbegriffe 
ihn nicht erschütterte, so haben ihn auch die Probleme 
der Religionsgeschichte nicht berührt, die das Ohristen- 
tum als eine Religion neben anderen mit gleichen An- 
sprüchen zeigt und seit den Tagen des Deismus ihre 
skeptisch stimmenden Wirkungen mit immer zunehmender 
Deutlichkeit entfaltet, die schon damals zu der ganz 
neuen Unterbauung der Theologie mit einer allgemeinen 
Theorie vom Wesen und der Entwickelung der Religion 
geführt hatte und heute den eigentlichen Hauptgegen- 
stand theologischer Untersuchungen bildet. Hier liess 
er sich auf Verhandlungen irgendwelcher Art überhaupt 
gar nicht ein. Er erklärte in seinem römischen Tage- 
buch kurzer Hand: „Von Vorzügen des Christentums 
vor anderen Religionen kann vollends gar nicht die Rede 
sein, indem andere Religionen gar nicht in dem Sinne 
(nach dem Begriffe von Religion) Religionen sind, in 
welchem es das Christentum ist. Keine Religion in der 
Welt ausser der christlichen versteht unter Religion das 
Reich einer neuen göttlichen Schöpfung durch die Wieder- 
geburt. Dies ist der wesentliche Inhalt des Christentums, 
hierdurch ist es seiner eigenen Aussage nach Christentum; 


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und eben von diesem Gesichtspunkte aus erscheint es 
als eine durchaus einzige und unvergleichbare Erscheinung 
in der Weltgeschichte. Alle übrigen sogenannten Re- 
ligionen gehören in den Umkreis der philosophischen 
Systeme. Hier sind vielerlei Individuen einer und der- 
selben Gattung unterscheidbar und daher auch unter 
einander vergleichbar.“ Universale Religionsgeschichte 
und Religionsvergleichung und damit den Horizont der 
gegenwärtigen Theologie hat es für ihn nicht gegeben. 
Auch als er schliesslich in seiner Ethik sich zur Kon- 
struktion eines allgemeinen Begriffes der Religion und 
zur Einordnung der nichtchristlichen Religionen unter 
diesen Allgemeinbegriff genötigt sah, war ihm das Ohri- 
stentum doch so selbstverständlich die übernatürliche 
Normalreligion, dass er die ausserchristliche Religions- 
entwickelung trotz seines prinzipiellen Evolutionismus ohne 
weiteres als die Entwickelung der „falschen“ Religion kon- 
struirte und zwischen beiden eine jede historische Gemein- 
samkeit und Gleichartigkeit aufhebende Kluft befestigte. 

Die Wurzeln all dieser Anschauungen lagen in seinem 
Wesen und sind schon in seiner frühesten Jugend- 
entwickelung erkennbar. So verstand es sich von selbst, 
dass die Wahl seines Studiums sich auf die Theologie 
lenkte — ohne den Willen seines Vaters — und dass er 
bei der Wahl des Universitätsortes auf diejenige Uni- 
versität verfiel, die dem neuen poetisch-religiösen Geiste 
der Romantik und der Spekulation sich am weitesten ge- 
öffnet hatte und mit dem neugegründeten Berlin und dem 
eben zu gründenden Bonn zusammen als Hochburg des 
neuen Geistes gelten konnte, während an dem Ursprungs- 
orte des neuen Geistes selbst, in Jena, die Theologie 


auge. 22 


noch im rationalistischen Geleise ging. Er zog im Früh- 
ling 1817 nach Heidelberg, dem Heidelberg, das uns die 
vergilbten Blätter des Einsiedlers und die Verse BREN- 
TANO’s und HÖLDERLIN’s in seinem idyllischen dorn- 
röschenhaften Reize schildern, und das eben durch diese 
Reize für RorHE’s poetisches Gemüt der Ort seines 
Schicksals geworden ist. Zwar hausten dort noch weit- 
hin sichtbar zwei Koryphäen des Rationalismus, J. H. 
Voss und E. Pavzus. Aber der Glanz Heidelbergs 
ruhte in RoTHE’s Augen auf ÜREUZER, DAuB und dem 
jungen HEGEL. SCHLOSSER, der zwischen beiden stand, 
den Rationalismus verabscheute und einer positiv-gläubigen 
Theologie sich nicht zuwenden konnte, fesselte ihn durch 
den Reichtum seines Wissens und die Vornehmheit seiner 
Persönlichkeit. Religiös gewann der kindlieh schlichte, 
praktische Theologe ABEs@ den tiefsten Einfluss auf ihn 
und wurde ihm zum dauernden Vorbild der Predigtweise. 
Hingerissen von den auf ihn eindringenden Eindrücken 
der verschiedensten Wissenschaften, begeistert von den 
Reformideen und dem Deutschtum der damaligen Burschen- 
schaft, poetisch ergriffen von den unversieglichen Reizen 
des Neckarthales lebte er das Studentenleben jener Jahre, 
erst überwältigt und hingenommen von der ihn umdrän- 
genden Gedankenfülle, dann immer mehr zu scharfer 
und mitunter altkluger Kritik geneigt. Das Ergebnis 
dieser Jahre ist die Erweckung des historischen Sinnes 
durch SCHLOSSER und ÜREUZER, die ihm die Weite des 
historischen Horizontes erschlossen und die Feinheit 
historischer Beobachtung und Analyse gegeben haben, 
ohne welche sein späteres Denken des kräftigen und 
fruchtbaren Nährbodens entbehrt hätte. Aber wie die 


an 


Historie jener Tage in dem Dienste bestimmter allge- 
meiner Gedanken stand, so hat RoTHE diese historischen 
Anregungen ‘von Hause aus im engsten Zusammenhang 
mit der Spekulation Daugß’s und HEGEL’s aufgenommen 
und sie prinzipiell nur als Mittel spekulativ einheitlichen 
Geschichtsverständnisses aufgefasst. Auf dieses letztere 
kam es ihm allein wirklich an. In ihm fand seine un- 
gewöhnlich systematisch-logisch angelegte, man kann sagen 
doktrinäre, Natur ihre Befriedigung und ihre für immer 
nachhaltige Grundrichtung. So wurde ihm durch DAugB 
und HEGeEL die hinter seinem Phantasievermögen liegende 
und im Grunde noch viel mächtigere logische Anlage zum 
Bewusstsein gebracht und fand sein Denken durch ihre 
Schulung seine dauernde, ihm schliesslich selbstverständ- 
liche Gestalt. Er lernte von ihnen als Methode alles 
wissenschaftlichen Denkens die grosse Methode der ersten 
Dezennien unseres Jahrhunderts, die spekulative Methode, 
die auf der Voraussetzung beruht, dass der menschliche 
Geist eine mikrokosmische Wiederholung des makrokos- 
mischen Zusammenhanges sei und daher in der logisch 
nothwendigen Entwickelung aller Folgerungen aus seiner 
allgemeinsten und umfassendsten Idee den ganzen Zu- 
sammenhang der Wirklichkeit konstruierend nachbilden 
könne. Dabei erschien ihm diese apriorische Grundidee 
unter dem Einfluss jener Denker als die Idee einer auf 
Entwickelung, Selbstentfaltung und Werden hindrängen- 
den absoluten Potenz, so dass ein spekulativer, rein logisch 
und apriorisch verfahrender Evolutionismus die Grund- 
form seines Denkens wurde. Von diesem Zusammenhang 
wurden seine historischen Interessen und Gedanken er- 
griffen, von der hiermit verbundenen Terminologie sind seit 


seiner Studentenzeit alle Briefe und vollends später seine 
wissenschaftlichen Werke erfüllt. Freilich war ihm hier- 
aus zunächst nur klar, dass die Wissenschaft als Leistung 
der natürlichen Vernunft dieser Methode sich bedienen 
müsse, Ob die Theologie eine solche Wissenschaft neben 
sich anerkennen oder gar selbst sich der gleichen Me- 
thode bedienen dürfe, blieb ihm lange fraglich. Als er 
aber später den Weg gefunden zu haben glaubte, auf 
dem eine wissenschaftliche Darstellung der christlichen 
Wahrheit ohne Aufhebung ihres übernatürlichen Cha- 
rakters möglich sei, da war ihm selbstverständlich, dass 
eine: solche Darstellung spekulativen Charakters sein 
müsse. Er entkleidete die Spekulation nur ihres voraus- 
setzungslosen, philosophischen Charakters, indem er ihr 
vorschrieb, erst von dem Ergebnis moralischer Reife, 
von persönlicher Erfahrung der christlichen Wahrheit, 
also von dem christlichen Gottesbegriffe, auszugehen, und 
er nahm ihr zugleich die der Offenbarung gegenüber 
selbständige und kritische Tendenz, indem er sie nur 
dann als richtig anerkennen wollte, wenn ihre Ergebnisse 
mit der in der Offenbarung und Erfahrung vorliegenden 
Wirklichkeit übereinstimmten. Indem er den Ausgangs- 
punkt der Spekulation im christlichen Gottesbegriff fest- 
legte, bildete er die philosophische Spekulation um zur 
theosophischen. Er nannte sich mit Vorliebe einen 
Theosophen. Man hat über Recht oder Unrecht dieser 
seiner theosophischen Methode viel gestritten und dabei 
übersehen, dass diese Methode für ihn nur die selbstver- 
ständliche, kanonische Form der Wissenschaft ist, die 
seiner dialektischen Natur wahlverwandt war und durch 
die grossen Meister seiner Jugend ihm selbstverständlich 


Ren | I 


geworden ist. Für den Inhalt seines Denkens ist die 
theosophische Methode ziemlich belanglos gewesen. Wer 
so wie er ‘für die Gebundenheit seiner Spekulation an 
christliche Ausgangspunkte und für die Ablösbarkeit 
ihrer Resultate von der durch Offenbarung und Erfah- 
rung feststehenden Wirklichkeitserkenntnis sorgt, der 
hat damit ausdrücklich eingestanden, dass für ihn die 
endgiltig massgebende Erkenntnis aus der ihm gegebenen 
Wirklichkeit stammt, wie denn auch thatsächlich die 
ausserordentliche Feinheit seiner Beobachtung, sein Offen- 
barungsglaube und sein reiches historisches Wissen die 
wirkliche Substanz seines Denkens geliefert haben. "Als 
Form aber hat die theosophische Methode auf sein 
Denken einen ganz ausserordentlichen Einfluss geübt. 
Sie hat ihn dazu geführt, seinen ganzen reichen Erwerb 
an Gedanken und Gefühlen, Ahnungen und Phantasie- 
bildern, Neigungen und Abneigungen, Geschichtskenntnis 
und Menschenbeobachtung in einen Zusammenhang zu 
bringen, in dem sie mit dem Scheine einer immanenten 
Notwendigkeit verknüpft und mit dem einer vollende- 
ten logischen Symmetrie angeordnet sind. Die ganze 
Künstelei und Gewaltthätigkeit, die ganze Trockenheit 
und Umständlichkeit des Stils, die mit einem solchen 
Unternehmen verknüpft sind, sind nicht ausgeblieben. 
Er hatte sehr nötig zu versichern, dass die Melodieen zu 
diesem abstrakten Texte „reich und voll in seiner Seele 
klingen“. Aber auch die schwereren Gebrechen der 
spekulativen Methode fehlen nicht: die gewaltsame Kor- 
rektur der Wirklichkeit nach den logischen Konsequenzen 
einzelner aus ihr herausgegriffener Elemente, wobei dann 
freilich die Verwirklichung dieser Konsequenzen erst der 


Se 


Zukunft zugewiesen werden kann, und die unhistorische 
Isolierung der als Ziel des Weltprozesses gedachten 
Lebensinhalte, die, direkt mit dem Weltgrunde ver- 
bunden, aus dem Zusammenhange der schlichten histo- 
rischen Wirklichkeit durch eine besondere magische Be: 
leuchtung herausgehoben werden. Aber alle diese Nachteile 
haben ihn nicht angefochten. Er blieb den Meistern 
seiner Jugend immer treu, mit ihnen wetteifernd an 
Sauberkeit der Begriffe und kühnem Mute des Denkens, 
und, so reich und selbständig seine Beobachtung der 
moralischen Welt ist, in der wissenschaftlichen Darstellung 
seiner Beobachtungen und dem hierfür verwendeten be- 
grifflichen Unterbau blieb er ein Epigone der grossen 
Denkerdynastie der klassischen deutschen Spekulation. 

Doch dieses System gehört erst der viel späteren 
Zeit des Friedensschlusses zwischen religiösem Glauben 
und wissenschaftlichem Erkennen an. In dem Studenten 
sah es nach der ersten Ueberwältigung durch die neuen 
Eindrücke nicht nach Frieden aus. Vielmehr empfand 
er unter den zahllosen zerstreuenden und in die Breite 
gehenden Eindrücken doppelt das Bedürfnis der Behaup- 
tung, Konzentration und Festigung des religiösen Ge- 
dankens. Mit verdoppelter Energie stellte er die biblisch- 
religiösen Ideen vor seine Phantasie und suchte ihnen 
all.die neuen Stoffe und Gedanken zu unterwerfen, und, 
soweit die Unterwerfung unmöglich war, begann er sie 
langsam abzustossen. Bald wurde er misstrauisch gegen 
HEsEL, und sogar DAup’s Spekulation war ihm bald nur 
mehr wertvoll als Beweis für die Unfähigkeit der natür- 
lichen Vernunft, die Geheimnisse des Glaubens zu be- 


greifen. Tief erschütterte ihn die tumultuarische Entwicke- 
Troeltsch, Richard Rothe. 2 


ER: ae 


lung der Burschenschaft und Sand’s Attentat. So treffen 
wir ihn in einer wachsenden Richtung auf einen streng 
supranaturalistischen Offenbarungsglauben, und im Zu- 
sammenhang damit sehen wir ihn nach strengerer be- 
kenntnismässiger Geschlossenheit des Protestantismus 
verlangen. In dieser Richtung befestigte ihn der Ab- 
schluss seiner Studien in Berlin, wo er wie die meisten 
seiner Zeitgenossen sich bei dem gewaltigen SCHLEIER- 
MACHER die letzten theologischen Weihen holen wollte. 
Dort fesselte ihn jedoch nur der am meisten wunder- 
gläubige und erbauliche NEANDER und mehr noch als 
dieser der Verkehr mit den pietistischen Zirkeln des 
frommen Adels und erweckter Pastoren. Damit geriet 
er in den Bannkreis des Pietismus, der grossen kirchen- 
geschichtlichen Bewegung, die, in dem Zeitalter des 
Rationalismus und Klassizismus zurückgedrängt, unter der 
Gunst der Stimmung der Befreiungskriege und in Ver- 
mischung mit der romantischen Religiosität und Speku- 
lation aufs neue hervorbrach, um schliesslich im Zeitalter 
Friedrich Wilhelms IV. das Interregnum der Aufklärung 
zu beenden und Kanzeln, Konsistorien und Lehrstühle 
dem Reiche Gottes zurückzugewinnen. Diese Bewegung, 
die wirkliches religiöses Feuer in sich enthielt und zu- 
dem von vielen würdigen, schlichten und kräftigen Per- 
sönlichkeiten getragen wurde, musste den ‘in heftigem 
Kampfe gerade um Ausbildung und Sicherstellung seines 
religiösen Kernes begriffenen RoTHE an sich ziehen. Nach 
längerem Ringen mit den Eindrücken seiner Erziehung 
wurde er von ihr vollständig hingerissen, seit er in das 
Wittenberger Prediger-Seminar eingetreten war. Hier 
wurden zwei Führer des Pietismus, die aus dem Seminar 


re ee 


einen Herd pietistischer Sonderchristlichkeit geschaffen 
hatten, RuUDOLF STIER und RorHe’s späterer Schwager 
HEINRICH HEUBNER die Meister seines Seelenlebens. Von 
ihnen aufgeschreckt zog sich ROTHE mit schärfster Aus- 
schliesslichkeit auf seine religiöse Empfindung zurück; 
indem er zugleich deren Gegenstände mit glühendster 
Inbrunst sich zu vergegenwärtigen strebte und alle 
Qualen der sich absichtlich steigernden religiösen Er- 
regung erfuhr. Er wurde ein Pietist mit der ganzen 
Härte und Schärfe des Urteils über die Weltkinder und 
mit der ganzen subjektiven konventikelmässigen Entgegen- 
setzung gegen die eitle und verlorene Masse der Un- 
christen und Namenchristen. Seine aufgeregten Briefe 
reden die mit biblischen Anspielungen überwürzte Sprache, 
wie sie die Kinder des Gottesreiches „vor dem T'hrone 
des Lammes“ am Ufer des „gläsernen Meeres“ zur 
Unterscheidung von den Kindern der Welt reden, schon 
allein in der Sprache den Vorzug der wenigen Aus- 
erwählten vor den vielen Berufenen geniessend, wie die 
Schwaben schon allein an ihrem Dialekt sich ihre Ueber- 
legenheit über die übrigen Deutschen veranschaulichen. 
Dabei aber ist für ihn charakteristisch, dass diese ganze 
unbegrenzte Hingabe an die biblisch-kirchliche Gedanken- 
welt ihm völlig innerlich und frei aus eigenster innerer 
Nötigung fliesst, dass kein sacrificium intellectus die Welt 
und ihre Bildung und Weisheit entschlossen abzustossen 
und kein Autoritäts- und Buchstabenglaube sich bestimm- 
ten Dogmen gewaltsam zu unterwerfen braucht. Aus 
innerstem Herzensdrang, aus der Gegenwart jener Be- 
griffswelt vor seiner Phantasie, aus dem eingeborenen 
Drange aller Religion, ihre Gegenstände zu isoliren und 
9Q* 


WIE. En 


in eine einzigartige Sphäre zu erheben, fliesst ihm der 
ganze Zustand wie von selbst. 

Der Pietismus ist die letzte der grossen historischen 
Mächte, die an der Bildung von Rorae’s Persönlichkeit 
gearbeitet haben. Er hat ihm die zarte Innigkeit, die seinen 
Hang zu allzu liebevoller Selbstbespiegelung ein- für alle- 
mal brechende, fast übermässige Bescheidenheit und die 
tiefe Kenntnis aller sittlichen und religiösen Seelenzustände 
eingehaucht. Er hat ihm die subjektiv lebendige und my- 
stisch ausdeutende Betrachtung der Bibel verliehen, deren 
geheime und halb angedeuteten Voraussetzungen seine 
theosophische Spekulation anfänglich lediglich zu enthüllen 
strebte, die ihm aber auch bei aller späteren Freigebung 
historischer Kritik doch immer als eine wesentlich authen- 
tische Urkunde von einer absolut supranaturalen Ge- 
schichte und als Weissagung von den Endgeschicken des 
Menschengeschlechtes erschien. Er hat ihn vor allem 
mit der kindlich innigen Christusmystik erfüllt, die den 
im Himmel herrschenden Christus beständig gegenwärtig 
fühlt und alle Angelegenheiten der grossen öffentlichen 
wie der kleinen privaten Welt von ihm persönlich ge- 
leitet sieht. Das war die ihm natürliche Form seiner 
Frömmigkeit, die dann vor allem in seinen Predigten 
und Briefen hervortritt, die axiomatische Grundidee 
seines Lebens, wie anderen andere Ideen zu Axiomen 
geworden sind. Er spricht das selbst in zwei für diese 
Art der Frömmigkeit klassischen und daher oft an- 
geführten Worten aus: „Ich weiss keinen anderen festen 
Punkt, in dem ich wie für mein ganzes menschliches 
Sein überhaupt so auch insbesondere für mein Denken 
den Anker auswerfen könnte, ausser der geschichtlichen 


Erscheinung, welche der heilige Name Jesus Christus 
bezeichnet. Sie ist mir das ‚unantastbar Allerheiligste 
der Menschheit, das Höchste, was je in ein menschliches 
Bewusstsein gekommen ist und ein Sonnenaufgang in der 
Geschichte, von dem aus allein sich Licht verbreitet über 
den Gesamtkreis der Objekte, die in unser Auge fallen. 
Dieser einfache Christenglaube ist mir das letzte Gewisse, 
wogegen ich jede andere angebliche Erkenntnis, die ihm 
widerstritte, unbedenklich und mit Freude bereit bin in 
die Schanze zu schlagen“ und „Ich halte dafür, dass die 
christliche Frömmigkeit ihre volle Kindlichkeit, Wärme 
und Innigkeit, die ihr eigentümliche demutsvolle Weich- 
heit und Zartheit, ihre nicht zu brechende stählerne 
Festigkeit und ihre ganze Kräftigkeit, Frische und 
Freudigkeit nur bei der supranaturalistischen Weltansicht 
finden kann.“ Darüber hinaus aber erstreckte sich die 
Wirkung des Pietismus nicht. Er war nur die Form, in 
der sich die tiefste Triebfeder seines Wesens, die religiöse 
Sehnsucht nach reiner und voller Gemeinschaft mit Gott, 
geltend machte. Er bedurfte der Konzentration und 
Zurückziehung seines inneren Menschen und reifte unter 
dem Schutze des Pietismus zu dem innigen religiösen 
Charakter, zu dem er durch seine Wesensanlage bestimmt 
war und der zu seiner Entfaltung einer solchen Zeit der 
Sammlung und Absonderung bedurfte. 

Dass seine pietistische Periode in der That nichts 
anderes bedeutet, zeigt die Entwickelung, die er ein- 
schlug, sobald er, im Winter 1822 nach Rom als preus- 
sischer Gesandtschaftsprediger berufen, sich selbst zu- 
rückgegeben wurde. Hier sind seine Lehrjahre zu Ende 
und beginnt seine selbständige Entwickelung, deren 


BU.  ERT: 


Wesen und Ergebnis ich nunmehr in einem kurzen 
Ueberblicke darlegen darf. Er entfernte sich zunächst 
immer mehr.von der pietistischen Sonderchristlichkeit und 
von der alles Profane abwehrenden Kirchlichkeit. Er 
begann die Gefahren der Manieriertheit, der Selbstgefällig- 
keit und der Ueberspannung, der Entleerung und Ver- 
holzung zu spüren, die eintreten, sobald die Religion vom 
übrigen Leben abgesondert und für sich allein betrieben 
wird. Er begann zu empfinden, dass insbesondere die 
kirchliche Formung der Religion sie zwar schütze und 
stärke, aber sie zugleich doch auch verhärte und ver- 
äusserliche und bei der besonderen Sonntagsveranstal- 
tung an Innerlichkeit, Naivetät und Natürlichkeit ver- 
lieren lasse. Er erkannte, dass das Ideal kirchlicher 
Form und Festigkeit in unübertrefflicher Weise ein für 
allemal vom römischen Katholizismus verwirklicht sei, 
dafür aber auch an ihm mit seinen gefährlichen Folgen 
sich am klarsten offenbare. Er sah den früher so beklagten 
protestantischen Subjektivismus mit neuen Augen an, in- 
dem er in ihm die Rückkehr der Kirche zu einer freieren, 
innerlicheren, persönlicheren und mit dem Gesamtleben sich 
leichter verschmelzenden Form und in seiner kirchlichen 
Schwäche gerade seinen Vorzug erkennen lernte. Eben 
damit fühlte er aber auch dann weiterhin die Kluft, die 
zwischen seinem religiösen und seinem intellektuellen 
Leben eingetreten war. Die früheren Ideale wachten 
wieder in ihm auf und damit die Sehnsucht nach einem 
Ausgleich beider. Hatte er sich von seinen ursprünglichen 
Ausgangspunkten einer frommen und freien weltlichen 
Bildung immer weiter entfernt und sich immer mehr in 
sich selbst zusammengezogen, so kam diese Zurück- 


RE ee 


ziehung nunmehr zum Stillstand und begann langsam die 
umgekehrte Bewegung, die allmähliche Wiederöffnung 
für die Eindrücke der Welt, der Bildung, der Kultur, 
der geistigen und politischen Interessen, ohne dass aber 
dabei seine eigentlich religiöse Empfindung eine wirkliche 
Veränderung erlitten hätte. Sie dehnte sich nur jetzt 
von dem Kerne, auf den sie sich zusammengezogen 
hatte, wieder aus und zog allmählich den ganzen Geistes- 
gehalt der modernen Welt in eine spezifisch religiöse Auf- 
fassung und Beleuchtung hinein. Er lernte diese moderne 
Welt als eine Wirkung des Christentums betrachten und 
sah so schliesslich alles, was Renaissance, Aufklärung, 
deutscher Idealismus und sogar die französische Revo- 
lution Dauerndes geschaffen hatten, als eine Wirkung 
Christi an, durch die er den Glauben seiner Jünger vor 
neue grössere und reichere Aufgaben stellen, durch die er 
das religiöse Leben tiefer und inniger mit dem sittlich- 
kulturellen verbinden wollte. Er machte sich klar, dass 
die moderne Welt entweder das Ende des Christentums 
oder seinen Uebergang in ein völlig neues Stadium be- 
deute, und angesichts dieser Lage war seinem Glauben 
selbstverständlich, dass nur das zweite der Fall sein 
könne, dass das Christentum vor einer neuen Entwicke- 
lungsphase stehe, die eine innerliche Verschmelzung der 
modernen Humanität und des christlichen Gottesglaubens 
als Ergebnis der gegenwärtigen kritischen Epoche herbei- 
führen werde. „Ihr habt ja gar keine weltgeschichtliche 
Aufgabe für Christum zu lösen vor euch, ihr Pietisten! 
Macht euch das nicht stutzig?“ „Die Streitfrage in 
unserer Kirche ist gegenwärtig: ob weltgeschichtliches 
Christentum oder Sektenchristentum.“ „An freier Luft 


u 


fromm zu sein, das ist’s, worauf es jetzt ankommt.“ In 
diesen Worten liegt die Erkenntnis, durch die er sich vom 
Pietismus lossagte. So bahnte sich langsam seine eigen- 
tümliche Weltanschauung an, die mit radikalster Weit- 
herzigkeit jeden geistigen Fortschritt freudig anerkannte 
und jeden doch zugleich mit wunderbarster Mystik an 
Christus und die Erlösung knüpfte. Er lernte die Sterne 
wieder lieben, die seiner Geburt geleuchtet hatten, aber 
ihren Glanz erkannte er jetzt als den Reflex der Sonne 
Christus, die er inzwischen in ihrem vollen Lichte kennen 
gelernt hatte. Er teilte die Uebernatürlichkeit des spe- 
zifisch Religiösen den kulturellen Elementen der modernen 
Humanität mit und stellte so für sich durch seine Mystik 
eine Einheit her, die andere durch Rationalisierung und Ni- 
vellierung des Christentums zu erreichen gestrebt hatten. 

Indem er aber so diese Verschmelzung sich anbahnen 
und eine neue Gestalt des Christentums entstehen sah, 
musste er natürlich auch die Ursache der bisherigen Ent- 
zweiung aufsuchen und an seinem Teil zu beseitigen 
trachten. Diese Ursache erkannte er in der Kirche als 
der bisherigen Form des Christentums, in der Verkirch- 
lichung und der damit von selbst gegebenen Isolierung 
der Religion von dem allgemeinen sittlich-kulturellen 
Leben. Diese Verkirchlichung war notwendig bei der 
ersten Ausbreitung und Festsetzung des Christentums in 
einer feindlichen Welt und einer heidnischen Kultur und 
war nicht minder nötig zur Erziehung barbarischer Völker 
im Mittelalter, die erst durch sie langsam zu einer neuen 
und nun christlichen Kultur herangebildet wurden. Aber 
seit so die Kirche selbst eine neue geistige Atmosphäre 
geschaffen hat, ist sie der Religion immer hinderlicher 


BE WER 


und dadurch überflüssig geworden, ist sie zerbröckelt, im 
öffentlichen Interesse zurückgetreten, von der profanen 
Kultur, Kunst und Wissenschaft überall überholt worden. 
Die moderne Zeit ist daher die Zeit der Selbstzersetzung 
der Kirche und der Einwanderung des Christentums in 
die allgemeinen natürlichen Formen menschlicher Gesit- 
tung, deren treibende Kraft und belebende Seele zu sein 
nunmehr seine Aufgabe wird. „Christum frei machen 
zu helfen von der Kirche, das muss in unseren Tagen 
eine der Hauptbestrebungen der Gläubigen sein.“ „Die 
Verkündigung Christi hat schon längst ganz andere, viel 
weltlichere Wege gesucht und gefunden (als die kirch- 
lichen) und ihr höchster Erfolg besteht darin, dass sie 
sich selbst ohne alle besonderen Anstalten ganz von 
selbst tradiert als stehendes Ingredienz der herrschenden 
religiös-sittlichen Atmosphäre.“ „Trage in dir die leben- 
dige Gewissheit von der Realität der geschichtlichen 
Thatsache Christus, und lebe dann im Lichte dieser 
Gewissbeit einfach dein menschliches Leben.* Damit 
ist der grosse Grundgedanke seines inneren Lebens und 
seiner ganzen wissenschaftlichen Arbeit gefunden: die Er- 
kenntnis des Unterschieds zwischen der auf sich selbst 
isolirten und daher in der Kirche Halt und Zusammen- 
schluss suchenden kirchlichen Religion und der die inner- 
weltlichen Aufgaben in sich aufnehmenden und daher in 
das Gesamtleben eintauchenden kirchenfreien Religion, der 
Satz von der nur vorübergehenden Bedeutung der supra- 
naturalen Heilsanstalt der Kirche mit ihren Dogmen, Riten 
und Klerikern und von der in seiner Verschmelzung mit 
der modernen Humanität erst recht erkennbaren ewigen 
Bedeutung des religiös-sittlichen Gehaltes des Christen- 


TB, cut 


tums. Auf diesem Satze beruht seine historische Auf- 
fassung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des 
Christentums, seine theologisch-philosophische Lehre vom 
Wesen der Welt und den Zielen des Lebens und seine 
praktische Arbeit an den kirchlichen Problemen der 
Gegenwart. 

Diese drei Punkte sei mir gestattet noch näher zu be- 
leuchten, da das eigentlich Biographische seit dem Beginn 
seiner selbständigen Entwickelung nur mehr rein persön- 
liche Bedeutung hat. Hierüber genügt es vielmehr zu 
bemerken, dass, wie seine innere Entwickelung ihn in um- 
gekehrter Richtung wieder rückwärts führte, so auch sein 
äusserer Lebensgang ihn wieder der Reihe nach an die 
früheren Orte seiner Arbeit brachte, erst 1828 nach 
Wittenberg, wo er in stiller Zurückgezogenheit und fast 
unglaublicher Arbeitsamkeit die Grundlagen seiner Ge- 
lehrsamkeit und seiner endgiltigen Anschauungen legte, 
und dann seit 1837 nach Heidelberg, das ihm zum 
natürlichen Boden seiner Wirksamkeit und seiner Geistes- 
art wurde und das er nur vorübergehend auf fünf Jahre 
zu Gunsten Bonns verlassen hat. 

Seine historische Gesamtanschauung, wie sie sich 
ihm durch die Einreihung seines Grundgedankens in eine 
spekulative Theorie der Entwickelung der Menschheit 
gestaltete, legt sein erstes grosses Werk dar, das er, in 
die Heimat zurückgekehrt, als Seminarlehrer zu Witten- 
berg verfasste: „Die Anfänge der christlichen Kirche.“ 
Hier untersuchte er den Kirchenbegriff, die historischen 
Prozesse der ersten Entstehung und der Wiederauflösung 
der Kirche, Gedanken, die er dann später immer wieder- 
holte und unablässig fortbildete. Er konstruierte das 


N 


Christenthum als die absolut normale und universale Reli- 
gion, die mit der allgemeinen Humanität innerlichst eins 
ist. Aber da die ihm entsprechende allgemeine Humanität 
bei seiner Entstehung noch nicht ausgebildet war, sondern 
nur erst in fremdartigen und vielspältigen National- 
kulturen vorlag, so war ihm die Einigung mit ihr noch 
nicht möglich und musste es zunächst eine rein religiöse, 
nur der Pflege des religiösen Gedankens und des Kultus 
gewidmete Gemeinschaft, die katholische Kirche, erzeugen. 
Diese musste eben deshalb einen überwiegend weltflüch- 
tigen und asketischen Charakter tragen und durch die 
supranaturale Form des Kirchentums das Christentum 
als sakrale Sonderangelegenheit vom Gesamtleben ab- 
sperren. Aber seit der durch das Christentum selbst 
angeregten Ausbildung einer allgemeinen, alle bisherigen 
Schranken überwindenden Humanität, ist das Kirchen- 
tum immer überflüssiger geworden, und so hat mit der 
Reformation die Wiederabtragung des Kirchentums be- 
gonnen, die fortschreitet, bis dereinst bei erreichter Ver- 
geistigung aller Menschen mit der Wiederkunft Christi 
die religiös beseelte Organisation der sittlichen Vernunft, 
der Staat HEgEL’s, allein vorhanden und auch das letzte 
Minimum von Kirche verschwunden sein wird. Es ist 
ein höchst absonderlicher Gedankengang, der aber doch 
bei der Bedeutung seines Ausgangspunktes zu sehr tiefen 
Einsichten führt, die von den anderen grossen Gesamt- 
entwürfen der Geschichte des Christentums, von den 
Darstellungen F. Cu. Baur’s, Rexan’s und Harnack’s 
nicht erreicht worden sind. Entsteht für die Tübinger 
der Katholizismus geradlinig aus der Dialektik der Ideen 
des Urchristenthums, so sieht RoTHE mit Recht in der 


2). re 


Entstehung der Kirche einen grossen, aus praktischen 
Gründen hervorgehenden Bruch mit dem Urchristentum, 
den Bruch zwischen einer freien, mannigfachster An- 
gleichung und Verschmelzung noch fähigen religiösen 
Bewegung und einem supranaturalen, starren, ausschlies- 
senden und für immer fertigen Kirchentum. Eben 
damit hat er zugleich Recht gegen HARNACK, der diesen 
Bruch zwar vollkommen würdigt, aber ihn nur in der 
Hellenisierung des Christentums und seiner Erfüllung 
mit neuplatonischer Metaphysik statt in der kirchlichen 
Erstarrung und Festlegung der produktiven religiösen 
Kräfte erkennt. Am nächsten berührt sich ROTHE mit 
dem unbefangenen RENAN, nur dass er die innere Not- 
wendigkeit dieser Umformung des Christentums tiefer 
begreift, während RENAN in ihr ein mehr zufälliges, von 
den ursprünglichen Impulsen des ältesten Christusglaubens 
unabhängiges Ereigniss sieht. Die Kirche geht ihm mit 
Notwendigkeit aus dem universalen Missionstriebe des 
Christusglaubens hervor, aber ihre Bildung verändert 
diesen Glauben sofort nach allen Seiten. Sie bringt den 
alle Offenbarung zur fertigen Mitteilung und Stiftung 
versteinernden dogmatischen Supranaturalismus, die Ge- 
setzlichkeit, die Verdienstlichkeit, das Mysterienwesen, 
die Hierurgie, den Dogmatismus hervor. Nicht die 
Synthese von Judenchristentum und Paulinismus, nicht 
die Verschmelzung mit griechischem Moralismus und 
griechischer Metaphysik, sondern die Organisation zum 
kirchlichen Institut ist das entscheidende Ereignis. Frei- 
lich dient diese Konstruktion zunächst RoTHE’s systemati- 
schen Gedanken über das Verhältnis von Religion und 
Humanität zur Unterlage. Auch als solche enthält sie sehr 


Aa 


zutreffende,. nur zu sehr dogmatisch befangene Beobach- 
tungen. Aber sie enthält darüber hinaus eine noch 
wichtigere von ihm weniger betonte, immerhin jedoch 
genügend hervorgehobene Erkenntnis, die Erkenntnis des 
Unterschiedes von Religion und Kirche, insoferne die Reli- 
gion für sich eine lebendige, schöpferische, aus beständiger 
Inspiration schöpfende Kraft ist und die Kirche diese 
Kraft zur ein- für allemal fertigen, vorliegenden und 
nur mehr auszuspendenden und anzueignenden Sub- 
stanz macht. Das ist zugleich die Erkenntnis des Unter- 
schiedes der produktiven Ursprungsepoche, in der die 
prophetische Inspiration und die religiöse Persönlichkeit 
die Hauptsache sind, von dem daraus erwachsenden 
religiösen Gebilde, in dem Dogma, Ritus, Klerus, Autori- 
tät und Theologie das Zentrum eines übersichtlichen und 
berechenbaren Baus ausmachen. Diese Erkenntnis, die 
nicht bloss für die Geschichte des Christentums grund- 
legend und nicht bloss für die der Religionen fruchtbar ist, 
hat von ihm aus in der ganzen neueren Theologie erleuch- 
tend fortgewirkt, Ansätze richtiger Einsichten prinzipiell 
erhellt und den Anstoss zu einer eben erst beginnenden 
neuen Auffassung der Urgeschichte des Christentums 
gegeben. Nicht minder fruchtbar als diese Gedanken 
über die Entstehung sind die über die Entwickelung der 
Kirche, wobei ihm neben seinem Hauptgedanken wieder- 
um die Einsicht in den Antagonismus der unausrott- 
baren produktiven religiösen Kräfte und der. starren 
supranaturalen Einrichtungen der Kirche trefflich zu 
statten kam. Von dieser Erkenntnis aus hat er die Ver- 
teilung der geschichtlichen Erforschung des Christentums 
auf zwei Disziplinen vorgeschlagen, auf eine „Kultur- 


RR. eh 


geschichte des Christentums“ und auf eine „eigentliche 
Geschichte der Kirche als Institution“. Von hier aus 
konnte er das Gesamtergebnis dahin zusammenfassen: 
„Das Christentum ist das allerveränderlichste, das ist sein 
besonderer Ruhm.“ Aber auch die einzelnen Ergebnisse 
sind von bleibender Bedeutung. Dass der Katholizismus 
das völlig folgerichtige und kontinuierlich aus dem ältesten 
Christentum stammende Gebilde ist, in welchem der von 
der christlichen Bewegung der antiken Welt gegebene 
Anstoss auf anderthalb Jahrtausende zur Ruhe kam, ist 
eine von aller weiteren Forschung bestätigte Erkenntnis; 
und das gleiche gilt von dem anderen Satze, dass die 
Reformation in erster Linie die Abschwächung und die 
Zersetzung des supranaturalen Kirchenbegriffes und die 
Wiederentbindung der freien, beweglichen religiösen 
Kräfte bedeutet. Sie ist eine prinzipiell „neue Gestalt 
des Christentums“, eine Ausweitung und Verinnerlichung 
der Religion zugleich, „die ein besonderes Aeussere 
gar nicht kennt und bedarf, sondern schon vermöge der 
Naturverhältnisse der Menschen das entsprechende Aeus- 
sere unmittelbar gegeben hat, am Sittlichen“. Vor allem 
aber hat RoruE mit Recht erkannt, dass die gegen- 
wärtige Lage des Christentums keineswegs vorwiegend 
von den Ergebnissen und Ideen der Reformation be- 
herrscht ist, sondern von der grossen europäischen Be- 
wegung, die eine völlig neue Bildung und Kultur im 17. 
und 18. Jahrhundert heraufgeführt und das von der 
Reformation stehen gelassene Kirchentum noch bedeutend 
weiter eingeschränkt hat. Hiermit hater die Lage voll- 
kommen zutreffend bestimmt und die Voraussetzungen klar- 
gelegt, unter denen jede Theologie der Gegenwart zu 


RA green 


arbeiten hat. Es sind die Voraussetzungen seiner eigenen, 
von der er daher auch sagt: „Meine Theologie ist von 
ganz anderem Datum als die der Reformatoren; dieses 
Datum ist nicht mein individuelles, sondern das der 
modernen Zeit überhaupt.“ 

In der Reife seiner Jahre als Professor in Heidel- 
berg empfand RoOTHE das Bedürfnis, diese seine moderne 
Theologiein ihrem Gesamtumfang prinzipiell klarzu- 
legen. Er machte sich an die Aufgabe, die sonst in der 
Dogmatik oder Glaubenslehre erledigt zu werden pflegt. 
Aber seine Darstellung konnte keine Dogmatik werden, 
da die Dogmatik ja nur Verarbeitung, Zusammenstellung 
und apologetische Bewährung der kirchlichen Dogmen 
ist und also, auf den Voraussetzungen des kirchlichen 
Christentums beruhend, jenen tötlichen Zwiespalt profanen 
und sakralen Wissens in sich enthält, den er vermeiden 
wollte. Er konnte aber auch keine Glaubenslehre 
schreiben, da die Glaubenslehre nur den religiösen Ge- 
danken im Auge hat und bei aller Freiheit von kirch- 
licher Gebundenheit doch eben deshalb die moderne 
Verschmelzung des Religiösen und Sittlich-Kulturellen 
nicht aufweisen kann, auf die es ihm gerade ankam. So 
konnte er seine Theologie nur als Ethik darlegen, als 
Lehre von dem letzten notwendigen Zweck des mensch- 
lichen Daseins, in welchem Zwecke das Religiöse und 
Sittlich-Kulturelle sich gegenseitig decken und durch- 
dringen. In dem johanneischen Ohristusbilde sah er, 
ähnlich wie SCHLEIERMACHER, mit der damals üblichen 
allzusehr hellenisierenden Auffassung des vierten Evan- 
geliums diese Durchdringung urbildlich verwirklicht. 
Aber diese Ethik musste nach dem ganzen Wesen seines 


BR We 


Denkens begründet werden auf den Unterbau einer all- 
gemeinen Metaphysik und Kosmologie, Naturphilosophie 
und Anthropologie, die das Wesen des Weltprozesses 
spekulativ enthüllen. Erst auf diesem Unterbau konnte 
der im irdischen und nachirdischen Geschichtsverlauf der 
Menschheit verwirklichte sittliche Zweck als der not- 
wendige Abschluss des tellurischen Weltprozesses auf- 
gezeigt werden. So wurde seine Ethik zu einem Riesen- 
werke, das die Ergebnisse schlechterdings aller Wissen- 
schaften verwendet, um die christlich beseelte Humanität 
als das Ziel der Menschheit zu schildern. In der That 
ist sie so ein Kompendium der ganzen vormärzlichen 
deutschen Wissenschaft geworden, und aus den tausend 
Zitaten seiner Ethik dringt uns der milde Duft jener 
phantasiereichen und doch feinen, besonnenen und ver- 
mittelnden Wissenschaft wie der Lavendelduft aus einem 
wohlgeordneten altväterlichen Linnenschrein entgegen. 
Sie ist durch und durch eklektisch und kombiniert mit 
feinstem Spürsinn die grossen Gedanken der .J. G. FICHTE, 
SCHELLING, HEGEL und SCHLEIERMACHER mit den um- 
sichtigen Systemen der jüngeren spekulativen Generation 
und der Vermittelungstheologie. Aber indem RoTHE 
diese Begriffsmasse mit seiner innigen Christusmystik, 
seinem entschlossenen Wunderglauben und seiner poeti- 
sierten Apokalyptik durchdrang, schuf er doch aus ihr 
etwas völlig Persönliches, Unnachahmliches, das nur bei 
ihm möglich war. Ueberdies umgab er den so von seiner 
Dialektik zusammengeschmiedeten festen Körper seiner 
Spekulation mit einem bunten Rankenwerk, in dem die 
naive Sinnlichkeit und Bildlichkeit seiner Phantasie sich 
ein aller Abstraktionen spottendes Spiel vergönnte. Der 


RE: We 


Stufenbau des Weltprozesses mit seinen beständigen gött- 
lichen Eingriffen gemahnt an JakoB BÖHME und die Be- 
wohner des vollendeten Vernunftstaates schweben wie die 
Engel und Mönche des Fra Angelico. Durch eine Art ver- 
klärter Chemie sollten sie die übrig gebliebenen Schlacken 
der materiellen Welt ausscheiden, und die gegen Gott ver- 
härteten Unfrommen sollten als dämonisierte Wesen den 
hoffnungslosen Kampf des verzehrenden Feuers gegen den 
zarten himmlischen Lichtglanz führen. In dem ihm nicht 
unbehaglichen Bewusstsein um die Paradoxien seines 
Weltgemäldes sprach er gerne von seinen Naivetäten, 
womit er freilich nur eine allzu schulmässige Betastung 
seiner Bilder fern halten wollte, und wollte er seine 
Ethik von seinen Kritikern lieber als Kuriosität be- 
trachtet sehen als sie durch halbe Annahme in die 
breiten theologischen Bettelsuppen verkochen lassen. 
Zugleich aber streute er über das Ganze eine solche Fülle 
feiner Beobachtungen und tiefdringender Einzelerkennt- 
nisse aus, dass man immer wieder staunt, wie so viel 
Scharfsinn und Tiefe bei so viel Wunderlichkeit möglich 
ist. Es weht durch seine Ethik das mächtige Pathos 
der FicHte’schen Moral, des in der schöpferischen 
Freiheitsthat sich selbst setzenden und aus dem blossen 
Naturwesen Geist erzeugenden Ichs, und es erfüllt sich 
dieses Ich mit dem feinen und reichen Gehalte SCHLEIER- 
MACHER’scher Bildung wie mit der Wärme christlicher 
Menschheitsliebe, im Verhältnis wozu die Frömmigkeit 
„nichts irgend Besonderes ist, nichts als die gesunde, 
erfrischende und kräftige Atmosphäre, die wir bei jedem 
Athemzuge einschlürfen“. Diese Grundlage, von der aus 


ROTHE seine tiefsten und sinnreichsten Einsichten ge- 
Troeltsch, Richard Rothe. 3 


ER 


winnt, schlägt durch alle Absonderlichkeiten immer wieder 
durch, und sie ist es auch, die das theosophische Welt- 
drama Rorne’s als moderne Ansicht gründlich scheidet 
von den biblizistischen Phantasieen eines ÖETINGER, auf 
die er sich mit seiner Liebe zum Verkannten und Be- 
sonderen gerne bezog, von denen er aber selbst sich 
deutlich abgrenzt, wenn er der gangbaren Theosophie 
vorwirft, dass sie „das Verhältnis des Menschen zu Gott 
nicht durch das Verhältnis des Menschen zu sich selbst 
und der ihm äusseren Natur, sondern umgekehrt dieses 
unmittelbar durch jenes ermittelt“. Das heisst: ROTHE 
stellt sich trotz allem auf den modernen Standpunkt der 
Immanenz des Göttlichen in der Welt und nicht auf den 
vormodernen der Transzendenz einer unsere Erkenntnis 
und unser Handeln von aussen durch göttliche Gebote 
bestimmenden Offenbarung. So bunt und merkwürdig 
unter diesen Umständen auch das Ganze ist, so einfach 
und gross ist sein Grundgedanke, die Idee einer religiös 
erfüllten Humanität, die frei von dem Dualismus kirch- 
licher und ausserkirchlicher Moral das Gesamtleben von 
innen heraus als ein zugleich religiöses und zugleich sitt- 
liches gestalten soll. Es ist der Gedanke, der auch 
Lessing, HERDER und SCHLEIERMACHER vorgeschwebt 
hatte, nur dass ihn ROTHE ganz anders verknüpft mit 
dem Wunder der Erlösung und den Wundern der Escha- 
tologie und dass er den Abstand dieses modernen 
Christentums vom kirchlichen viel tiefer empfindet als 
jene Denker. Damit hat er das grosse Zentralproblem 
der modernen Gesittung ergriffen, das nur in etwas an- 
deren Ausdrucksformen heute noch ebenso im Mittel- 
punkte steht. Die religiös begründete Moral enthält 


EN 


einen Zug zum Jenseitigen und Innerlichen, der das 
Leben auf ewige Ziele spannt und darüber die innerwelt- 
liche Lebens- und Kraftentfaltung weit zurückstellt. An- 
dererseits aber enthält unsere Gesittung seit der Re- 
naissance die Richtung auf volle Diesseitigkeit, kräftige 
Daseinsfreude und innerweltliche Lebensentfaltung. GIoR- 
DANO BRUNO und MONTAIGNE, SHAFTESBURY und VOL- 
TAIRE, der GOETHE der mittleren Jahre und die Jung- 
hegelianer, JAKOB BURCKHARDT und NIETZSCHE auf 
der einen Seite, LUTHER und Carvin, PascAL und 
SPENER, LAVATER und HAMANN, KIERKEGAARD und 
VINET auf der anderen Seite haben den Gegensatz grell 
beleuchtet. RoTHE glaubte ihn zu überwinden, wenn er 
die Verkirchlichung des Christentums als das trennende 
Hindernis beseitigte und dafür die innerlichste Christus- 
mystik mit weltfreudigster Humanität um so enger zu 
verknüpfen strebte. RorHr’s Spekulation hat das Pro- 
blem wohl schwerlich gelöst, aber das von ihm gestellte 
und tiefsinnig bearbeitete Problem bleibt das Haupt- 
problem der modernen Gesittung für alle, die nicht eine 
geistreiche Skepsis für vernünftiger halten als den Glauben 
an ewige Ziele der Wirklichkeit oder gar die Rätsel des 
Lebens mit Technik und Hygiene am besten zu lösen 
meinen. 

Erst in den letzten Jahren seines Lebens, wo der 
Tod seiner lange schwer leidenden Frau seine Kraft 
wieder frei werden liess und die Gestaltung der kirch- 
lichen Verhältnisse in Baden, sowie das besondere Ver- 
trauen seines Landesherrn seine Mitwirkung in Anspruch 
nahmen, zog er die praktischen Konsequenzen seines 
Standpunktes. Früher hatte ihn das Gefühl seiner iso- 

3*+ 


ee 


lierten theologischen Stellung und seiner gelehrten Son- 
derlingsnatur davon zurückgehalten, in kirchlich feste 
Verhältnisse den Gährungsstoff seiner Heterodoxieen 
hineinzuwerfen. In Baden aber, wo die Neigung der 
Bevölkerung und der Gang der politischen Dinge zu 
einer freieren kirchlichen Gestaltung führten, fand er 
schliesslich den immer von ihm geliebten und gepriesenen 
Boden für eine auch praktische Durchführung seiner 
Gedanken. Von seinem Landesfürsten hoch geehrt und 
diese Hochschätzung mit aufrichtigster Hingebung er- 
widernd, nahm er die norddeutsche Ironie von dem 
„badischen Musterland“ immer für völlig zutreffenden 
Ernst und war überzeugt, dass das Christentum. die 
politische Freiheit, die er im Sinne der damaligen deut- 
schen Intelligenz als die Freiheit des Konstitutionalismus 
verstand, „aufrichtig als seine legitime Schwester an- 
erkennen müsse, wenn es das Vertrauen der Zeit- 
genossen im Grossen wieder erlangen wolle“. Diesen 
Bund sah er in Baden und seinem edlen Fürsten ver- 
wirklicht, und so hoffte er hier auch auf die Erfüllung 
der Verheissungen, die diesem Bunde gegeben schienen. 
Und nicht blos das Vertrauen des Volkes sollte diese 
Anerkennung vernunftgemässer Freiheit der Kirche zurück- 
gewinnen, sondern auch auf die Kirche selbst sollte der 
Geist der modernen Freiheit und Völkerreife belebend 
und neubildend wirken. Wie die Führung in der mo- 
dernen Kultur überhaupt an den Staat übergegangen 
ist und in der liberalen politischen Theorie und der 
konstitutionellen Praxis die erreichte Stufe höherer 
Moralität sich darstellt, so sollte dieser Fortschritt auf‘ 
die Kirche zurückwirken und auch hier zu einem ihrem 


ee 


Wesen entsprechend modifizierten Konstitutionalismus 
führen. Von diesen Voraussetzungen aus sah er in Baden 
die Möglichkeit für die Verwirklichung seines Ideals von 
einem modernen Kirchentum gegeben, das als Staats- und 
Landeskirche schon ganz von selbst eine Abschwächung 
des rein kirchlichen Charakters erfahren hat und nur 
noch mehr diese kirchliche Schwäche zu einer innerlichen 
Verschmelzung von Volksleben und Religion fruchtbar 
machen soll, um sich schliesslich dadurch einmal selbst 
überflüssig zu machen. Wie die Sozialisten auf Grund 
der gleichen HzgeEr’schen Methode die Monopole und 
Ringe als den Uebergang der bürgerlichen zur sozialisti- 
schen Gesellschaft ansehen, so sah RoTHE die Landes- 
kirchen als Uebergangsformen an, die zum innerlich re- 
ligiös beseelten Volksleben führen sollten, zur religiös 
sittlichen Gestaltung des Staates als der vollkommenen 
Gemeinschaft, wobei nur nicht zu vergessen ist, dass er 
bis zur völligen Moralisierung der Menschheit — und das 
heisst bis zur Wiederkunft Ohristi — ein „Minimum von 
Kirche“ für unentbehrlich hielt. Dieser Idee entsprechend 
sollten die Leiter der Landeskirchen verfahren, und die 
grossen und schweren hieraus entspringenden Aufgaben 
schienen ihm das Programm eines modernen Kirchen- 
regiments. Dass er die Aufgabe einer solchen Landes- 
kirche überaus ernst und schwer nahm und der Kirche 
gerade um ihretwillen eine ausserordentliche Bedeutung 
beimass, geht aus seiner besonnenen und eifrigen Mit- 
wirkung an dem Kirchenregiment hervor. Hierbei zog er 
keineswegs einfach die Konsequenzen seines Systems. 
„Der Doctrinarismus“, sagt er bezeichnend, „besteht nicht 
in der Aufstellung einer exakten Doktrin, sondern in der 


PER RE 


Tendenz, diese Doktrin, in ihrer wissenschaftlichen Rein- 
heit und folgeweise Abstraktheit, unmittelbar auf den 
gegebenen konkreten Fall anzuwenden“. Er wollte nur das 
praktisch Mögliche, aber dieses mit mutigem Idealismus. 
So trat er im Agendenstreit für grössere liturgische Freiheit 
der Einzelgemeinde ein und bei der Revision der Kirchen- 
verfassung für das Gemeindeprinzip, das die Kluft zwischen 
Klerus und Laien und damit die zwischen Kirche und 
Volk aufheben oder doch vermindern und eben dadurch die 
Kirchlichkeit ihrer verderblichen Folgen berauben sollte, 
ohne doch ihren Segen für religiöse Volkserziehung 
und Volksbelehrung aufzuheben. In dem grossen um 
SCHENKEL’s Leben Jesu entbrannten dogmatischen Streit 
kämpfte er für die Lehrfreiheit, aber nicht um SCHENKEL’s 
rationalisierendes Charakterbild zu verteidigen, sondern 
in der Ueberzeugung, dass nur die Gewährung voller 
Lehrfreiheit die verderbliche Kluft zwischen profaner und 
kirchlich-sakraler Wissenschaft aufheben und das Miss- 
trauen des Volkes gegen die letztere überwinden könne, zu- 
gleich auch in dem festen Glauben, dass keine Lehrfreiheit 
der Welt der Macht Christi hinderlich sein könne, sondern 
jede schliesslich nur zur Anerkennung seiner Herrlichkeit 
führen könne. Sein Entwurf für den oberkirchenrätlichen 
Bescheid und der darauf begründete Bescheid selbst sind die 
schönsten Aktenstücke, die eine kirchliche Kanzlei in 
diesem Jahrhundert verlassen haben. Eben dieselben 
Gründe bewogen ihn auch bei der Gründung des Pro- 
testantenvereins hilfreiche Hand anzulegen. Er sollte 
das Volkschristentum, die Versöhnung von Sittlichkeit 
und Religion, Kirche und Staat, kirchlicher und ausser- 
kirchlicher Wissenschaft anbahnen helfen und als freie 


TER 


religiöse, unkirchliche Vereinigung eine Vorform des 
kirchenfreien Christentums werden. Dabei hat er den 
ausgesprochenen Wunderglauben, den seine dialektische 
Kunst in ein rein evolutionistisches System zu verweben 
wusste, niemals verleugnet. Aber er hielt diesen Glauben 
für eine „Wohlthat“, die er seiner Freiheit von modernen 
Vorurteilen verdankte und die er „niemand aufdrängen“ 
wollte. Er hatte „nichts dagegen einzuwenden, wenn 
man ihm seinen Wunderglauben und überhaupt seinen 
Supranaturalismus eben als eine kindliche Naivetät zu 
gute hielte*. Ja er achtete es für gut, dass man der 
Theologie erlaube, ihre monistischen Gedankengänge 
zu Ende zu gehen, weil sie anders sich schwerlich davon 
bekehren werde. So übte er in seiner Praxis eine un- 
begrenzte Toleranz gegen jeden ernsten religiösen Sinn, 
den er irgendwo bemerkte, und gegen jedes aufrichtige 
Wahrheitsstreben, das sich irgendwo hervorthat. Er 
glaubte in einer Zeit religiöser Gährung wie die Gegen- 
wart alle Kräfte sammeln zu sollen und war der festen 
Ueberzeugung, dass die Wahrheit nur gedeihen könne in 
der Luft unbedingter Freiheit. Insbesondere sah er von 
diesem Grundsatze aus die Aufgabe der theologischen 
Fakultäten an. Er empfand aufs tiefste das Misstrauen, 
das von den anderen Fakultäten der listenreichen Kunst 
einer kirchlich gebundenen Theologie entgegengebracht 
wird, und ging mit seiner Forderung völliger Freiheit 
der wissenschaftlichen Theologie so weit, dass er es 
für das allerdringendste Bedürfnis erklärte, „dass die 
weltliche Wissenschaft das Objekt der Theologie auf ihre 
eigene Hand in die Arbeit nehme“. „Es giebt jetzt 
unter uns keine privilegierte Wahrheit mehr. Die Wahr- 


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heit hat nur mehr soviel Anspruch auf Geltung, als sie 
sich thatsächlich geltend zu machen vermag in der Ueber- 
zeugung der Menschen.“ Ja er wollte den ganzen Aus- 
druck „christliche Wahrheit“ nicht gelten lassen. 
Denn „Was ist christliche Wahrheit? Erkenntnis im 
Lichte der Thatsache „Christus“, einem Lichte, das fort 
und fort im Wachsen begriffen ist“. Das bedeutet das 
Programm einer völlig undogmatischen und untheologischen 
Theologie, die, womöglich von Nichttheologen geschaffen, 
die Grundlage eines wissenschaftlichen Verständnisses der 
modernen Umformung des Christentums feststellen sollte. 
Alle diese Aeusserungen sind freilich getragen von 
seinem unverwüstlichen Glauben an die Macht der 
Thatsache „Ohristus“, und diese wie seine ganze poli- 
tische und kirchenpolitische Lehre hängt eng zusammen 
mit dem Vernunft- und Moral-Optimismus des deutsch- 
nationalen Liberalismus, auf dessen Hochschätzung die 
enge in Rom geknüpfte Freundschaft mit dem glück- 
haften und phantasiereichen Diplomaten und Gelehrten 
KaArtL Josıas von Bunsen nicht ohne Einfluss war. 
Aber bei aller Kindlichkeit enthalten diese Forderungen 
doch mehr Weisheit als manche moderne Versuche, auf 
das geistige Leben die Regeln einer an ganz anderen 
Gegenständen ausgebildeten Realpolitik zu übertragen 
und Kirche und Fakultäten wieder für politische Zwecke 
auszunutzen. Vor allem bleibt der Grundsatz im Rechte, 
dass die Wahrheit nur in der Freiheit gedeihen könne 
und dass nur die Rücksicht auf die Wahrheit auf die 
Dauer dem religiösen Leben frommen könne. Heute 
dürfen wir vielleicht hinzufügen, dass diese Forderung 
der Freiheit der theologischen Fakultäten nicht bloss im 


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Interesse der Theologie zu erheben ist. Die theologische 
Fakultät ist das Barometer des Zustandes der Wissen- 
schaft überhaupt, und es könnte nur zum Schaden des 
Ganzen vergessen werden, dass für die Wissenschaft das 
Wetter um so günstiger ist, je geringeren Druck dieses 
Barometer zeigt. 

Aus dieser tapferen und erfolgreichen Thätigkeit 
wurde er am 20. August 1867 durch den Tod abgerufen. 
Er hatte längst empfunden, dass er einer dahinschwin- 
denden Generation angehöre. Die empiristische Wen- 
dung der Wissenschaft drängt ihn in der zweiten Auflage 
seiner Ethik bereits in die Verteidigungsstellung, seine 
Bestrebungen um Versöhnung von Kultur und Religion 
traten bald im allgemeinen Interesse zurück, seit Politik 
und soziale Frage brennendere oder doch unmittelbarer 
nach Lösung verlangende Probleme in den Vordergrund 
gestellt hatten. Er dankte Gott, dass er „sein Leben 
in die Zeit des alten Deutschland hatte fallen lassen“ 
und hatte „für die Bismarckerei und die Gewaltthätig- 
keiten Preussens“ keinen Sinn. Er sah für sein Volk eine 
neue Aera heraufsteigen, von der er nicht zweifelte, dass 
sie eine schönere sein würde. Für seine Person aber 
sehnte er sich nach dem Morgenglanz der Ewigkeit, den 
seine vorahnende Phantasie in das Netzwerk seiner Be- 
griffe hineinzuweben versucht hatte, so dass er darin 
allenthalben sonnenspiegelnd glänzt wie der Morgentau 
in den Spinngeweben des Herbstes. So ging er hin, seinen 
Glauben auf dem Totenbette noch einmal fest bezeugend, 
einer der lautersten und edelsten, feinsinnigsten und lie- 
benswürdigsten, selbstlosesten und darum furchtlosesten 


Lehrer, die unsere Universität gehabt hat. Ueber sein 
BEL: 


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Grab ergoss sich mit der Liebe der Freunde und Schüler 
die Rohheit der Gegner, die Trivialität der Kurzsichtigen 
und die unedle Salbung derer, die ihn wegen seiner 
grossen und kühnen Gedanken entschuldigen zu müssen 
glaubten. Allen denen aber, die unabhängig von Partei- 
rücksichten den Zauber einer eigentümlichen und in ihrer 
Art vollendet durchgebildeten Persönlichkeit zu empfinden 
wissen, blieb rührend und ergreifend der Gesamteindruck 
seines Wesens zurück, wie er es selbst in den einfachen 
und innigen Worten seines Tagebuches zusammengefasst 
hatte: „Wie so ganz anders steht doch die anbetende 
Bewunderung vor dem Rätsel der Welt als die auf ihre 
Ironie eingebildete misstrauische Skepsis!“ 

RıcHuarp RoTHE gehört zu ‘den Sonderlingen der 
Theologie, ähnlich wie in ihrer Weise SÖREN KIERKEGAARD 
und PAUL DE LAGARDE. Er hat, wie es bei geistreichen 
Sonderlingen zu geschehen pflegt, durch die Unabhängig- 
keit seines Denkens grosse und bleibende Wahrheiten 
entdeckt, er hat sie aber in einer Weise vorgetragen 
und mit persönlichen Sonderinteressen so paradoxer 
Art verknüpft, dass von einer ihm nachfolgenden theo= 
logischen Schule nicht die Rede sein kann. Es bleibt 
einer späteren Generation nichts anderes, als die Frucht- 
körner zu sammeln, die er in seinem Zaubergarten hat 
reifen lassen, und sie in gewöhnliches Erdreich zu 
senken. 

So kann sich auch die heutige Fakultät bei aller 
Stärke seiner Nachwirkungen nicht als eine Art Schule 
RorHe’s bezeichnen. Wohl aber darf sie, in Verehrung 
zu seiner edlen Persönlichkeit aufblickend, sich als die 
Erbin seiner grossen Grundgedanken bezeichnen. Er 


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hat den Rechtsboden erstreiten helfen, auf dem unsere 
Landeskirche jede Parteiherrschaft einzelner Richtungen 
ausschliesst, aber alle duldet, die selbst Christen sein 
wollen. Er hat den Unterschied von Religion und Kirche 
erkannt, der das gegenwärtige kritische Stadium des 
Christentums erst in seinem wirklichen Wesen begreifen 
lehrt; er hat die grossen ethischen Probleme einer inner- 
weltliche und überweltliche Ziele verknüpfenden Moral 
aufgerollt; und er hat in seiner Persönlichkeit ein Muster 
aufgestellt, wie erst der Einsatz des ganzen Menschen 
den Theologen macht. Diesen Rechtsboden wollen wir 
vertheidigen, diese Einsicht in ihren Folgen ausbilden, 
diese Probleme durch eifrige Mitarbeit fördern und 
dieses Vorbild befolgen, so lange unserem Tage zu 
dauern vergönnt ist. 








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Sammlung gemeinvorständlicher Vorträge und Schriften i Re 


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Gebiet der Theologie und Beigionsgescichte. 22 
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Bernoulli, c. Ki Dan: Kong von Nicäa. SE. — 80. 


Bertholet, A., Der Verfassungsentwurf des Hesekiel ins ‚seiner, we En 
religionsgeschichtlichen Bedeutung. M. —.80. 2 er 


Duhm, B., Das Geheimnis in der Religion. M. — .60. : 
Duhm, B., Die Entstehung des Alten Testaments. M. 60. Dar Sr 





Fries, S. A., Moderne. Darstellungen der Geschichte tert; ei 
M. —.60. ;e Be 


Krüger, @., Die Entstehung des Neuen Mostaments =. ..60. H \ E 


Löhr, M., Der Missbnnsedaike; im Alten Testament. Ein Bei-. 
trag zur alttestamentlichen Religionsgeschichte. M. —.80. 





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M. —.60. ER 


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Urchristentums. M. 1.20. ze ‚a ee ER 
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“IM. 60: vr T ee 
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© A. WAGNER’S UNIVERSITETS-BUCHDRUCKEREI, FREIBURG IL. ER.