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Full text of "Russische Revue - Monatsschrift für die Kunde Russlands 1.1872"

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SLOVANSKÄ KNIHOVNA 
3186254025 



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Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff (Karl Röttger). 


PROSPECTUS. 


Vom I. August dieses Jahres ab wird in unserem Vei\age elitmkVfar 

Russische Rev 



'MONATSSCHRIFT 


FÜR DIE KUNDE RUSSLANDS. 


Herausgegeben 

von 

Karl Röttger. 


Der gewaltige Aufschwung, den die gesammte innere Entwickelung 
des Russischen Reiches unter der Regierung des Kaisers Alexander II. 
genommen hat, hat auch einen bedeutend vergrösserten internationalen 
Verkehr Russlands mit dem Auslande zur Folge gehabt. Für einen 
solchen Verkehr ist aber eine richtige Kenntniss und daraus resultirende 
Würdigung und Beurtheilung der einzelnen Länder und ihrer Zustände 
und Verhältnisse ebenso erspriesslich als nothwendig. 

Für die Kunde Russlands fehlte es bisher an genügendem Quellen- 
Material in anderer, als russischer Sprache; die „Russische 
Revue“ will es versuchen, diesem Mangel abzuhelfen, und eine Lücke 
auszufüllen, welche durch die in deutscher und französischer Sprache 
erscheinende Tagespresse nicht beseitigt werden kann. 

Die „Russische Revue“ will in Originalartikeln , Referaten und 
Ucbersetzungen objective , authentische Mittheilungen bringen über das staat¬ 
liche , gesellschaftliche , ökonomische und geistige Leben in allen Theilen des 
ganzen Russischen Reiches , und glaubt allmählich der Lösung der freilich 
schwierigen Aufgabe um so mehr sicher entgegen sehen zu dürfen, als 
hervorragende Kräfte dem Unternehmen ihre fördernde Mitwirkung 
zugesichert haben, unter denen es uns heute gestattet ist zu nennen 
die Herren: W. v. Bcsobrasoio, Mitglied der Akademie der Wissenschaften, 


HL. 

t.i. 


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Ja io'’ 



A. E. Horn,, Chef-Redacteur des «Journal de St. Petersbourg*, Baron 
v . Osten-Sacken, vorm. Sekretär der K. Geogr. Gesellschaft, P. v. Semenow, 
Direktor des Centralstatistischen Comites, v. Thörner, Mitglied des 
Conseils des Finanzministeriums und Wild, Mitglied der Akademie der 
Wissenschaften. 

Kleine Mittheilungen sollen sich ergänzend den grösseren Artikeln 
anschliessen, Literaturberichte werden über bemerkenswerthe Erschei¬ 
nungen auf literarischem Gebiete referiren und eine bibliographische 
Uebersicht wird eine Titel- und eventuell kurze Inhaltsangabe sämmtlicher 
bemerkenswerthen Publikationen der russischen Literatur bringen. 

Indem die „Russische Revue“ es als ihre Aufgabe betrachtet, 
in objectiver Darstellung authentisches Material für die Kenntniss des 
Russischen Reiches und Lebens zu geben, kann sie nicht die Absicht 
haben, polemisch in den Streit der Tagesfragen einzutreten, sie kann nur 
das Ziel haben: zu orientiren und, eventuell, thatsächlich zu berichtigen. 

Wir glauben uns der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass diese Zeit¬ 
schrift nicht bloss im *Auslande, sondern auch in Russland selbst will¬ 
kommen geheissen und dass sie auch im Inlande eine rege Theilnahme 
finden werde. 

Beiträge werden im Falle der Aufnahme angemessen honorirt und 
ebenso, wie alle Zuschriften, erbeten unter der Adresse der Verlags¬ 
handlung mit der Bezeichnung: «Für die Russische Revue». 


Vom i. August ab wird monatlich ein Heft der „Russischen 
Revue“ im Umfange von ca. 6 Bogen 8° Format erscheinen. 

Der Abonnementspreis beträgt jährlich 6 Rubel, — für die Zeit 
vom i. August bis Ende dieses Jahres mit Zustellung und Postversendung 
ins Innere des Reiches 3 Rubel. 

Bestellungen übernehmen alle Buchhandlungen, wie auch die Ver¬ 
lagshandlung 

Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff, 
(Karl Röttge r). 


St. Petersburg, d. 1. Juli 1872. 


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Bestellzettel 


Unterzeichnete bestellt hiermit unter Beifügung von 3 Rbl. S. 

1 Exemplar „RüsssieheRevue“ vom 1. August bis 31. 
December 1872. 

Unterschrift und genaue Adresse des Bestellers: 


NB. Um recht genaue und möglichst deutlich geschriebene 
Angabe der Adresse wird höflichst gebeten. 



/ 


Ao3uo.ieno ueHaypoio, C. FleTepöypn» 8 iiOJi* 1872 r. 


Buchdrockerei von Röttger & Schneider, Nevsky-Prospect Jd 5. 



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Staatliche Organisation des Rassischen Reiches?} ^ 


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Der Kaiser aller Reussen ist unumschränkter Selbstherrscher, 
desgleichen auch die Kaiserin y wenn die Thronfolge auf ein weib¬ 
liches Mitglied der Kaiserlichen Familie übergeht; jedoch wird im 
letzteren Falle der Gemahl der regierenden Kaiserin nicht als 
Kaiser angesehen; ausser dem Titel kommen demselben aber die 
gleichen Ehren und Vorrechte zu, wie den Gemahlinnen der Kai¬ 
ser. — Der Thron des Russischen Reiches und die unzertrennlich 
mit demselben verbundenen Throne des Königreiches Polen und 
des Grossfiirstenthums Finnland vererben sich auf Grundlage des 
. Manifestes vom 5. April 1797, nach welchem beiden Geschlechtern, 
in erster Reihe aber dem männlichen, nach dem Rechte der 
Erstgeburt, und, nur im Falle des Erlöschens aller männlichen 
Linien, dem weiblichen, der Erbfolge gemäss, das Recht auf die 
Thronfolge zusteht. Der Termin der Grossjährigkeit ist für die 
Herrscher (für beide Geschlechter) und für den Thronfolger das 
vollendete 16. Jahr. Falls ein minderjähriger Erbe den Thron be- 
t steigt, so wird bis zu seiner Grossjährigkeit eine Regentschaft für 

I die Regierung und eine Vormundschaft für die Person des Kaisers 
eingesetzt. Nach dem Tode des Kaisers besteigt sein Nachfolger 
; den Thron, ipso jure, Kraft des Gesetzes über die Thronfolge, 
j Die Thronbesteigung des Kaisers wird von dem Todestage seines 
| Vorgängers an gerechnet. • 

Die herrschende Kirche im Russischen Reiche ist die recht- 


*) Wir geben heute diese Uebersicht nach: ^BoenHO-CTa-rHCTiicKofi cöopHHKi», IV* 
BbinycK-b : Poccia, cocTaBJieHHua O^HuepamireHepajiHaroIirraßa no/n» oÖmyiopeAaituiio 
reiiepajn>-Maiopa H. H. Oöpyqeaa. Militär-statistisches Magazin. IV. Band: Russland. 
Bearbeitet von Offizieren des Generalstabes unter der Redaction des General-Major 
Obrutschew. 1871“ und behalten uns die detaillirtere Ausführung einzelner Punkte für 
die folgenden Hefte vor. 


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1 



2 


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gläubige, Griechisch-Russische, welcher der Kaiser Stets an^hören 
muss. Als Hüter der Rechtgläubigkeit wird der Monarch das 
Haupt der Kirche genannt; für seine desfallsigen Handlungen ist 
sein Organ der Allerheiligste Synod. Im Uebrigen erfreuen sich 
nicht nur alle christlichen Confessionen, sondern auch Juden, Muha- 
medaner und Heiden der Glaubensfreiheit. 

Die Wirksamkeit des Kaisers ist eine zweifache; sie erstreckt 
sich: d) auf die Gesetzgebung und b) auf die Regierung. Die ge¬ 
setzgebende (jrewalt steht in ihrer ganzen Fülle nur dem Kaiser zu, 
derart, dass ausser Ihm Niemand irgend ein Gesetz erlassen kann. 
Die höchste Regierungsgcwalt ruht gleichfalls in den Händen des 
Kaisers. — Behörden und Personen, denen der Monarch Regierungs¬ 
gewalt anvertraut, handeln ie Seinem Namen und nach von Ihm 
erlassenen Gesetzen. 

Die Behörden, welchen die verschiedenen Zweige der Regierung 
übertragen sind, werden nach dem Maasse der ihnen zustehenden 
Gewalt eingetheilt in: oberste oder Reichsbehörden, mittlere oder 
Gouvernerfients-, und niedere oder Kreis-* und Stadtbehörden. — Zu 
den letzteren gehören auch die Wolost- und Dorf-Institutionen.' 

Zu den Reichs-Behörden gehören: 

I. Der Reiphsrath. — Der Berathung desselben unterliegen 

alle Regierungsangelegenheiten in ihrem Verhältniss zur Gesetz¬ 
gebung; durch, ihn gelangen dieselben an die Höchste Gewalt. 
Der Reichsrath besteht aus einer allgemeinen Versammlung ( Plenum ) 
und drei Departements : I. dem für Gesetzgebung , 2. dem der Civil- 
und geistlichen Angelegenheiten und 3. dem für den Staats-Haus¬ 
halt. Bei dem Reichsrath besteht die Reichs-Kanzlei, welche vom 
Reichs-Secretär verwaltet wird..— In Verbindung mit dem Reichs- 
rathe bestehen ferner: • 

a) Das Haupt-Comit£ für die bäuerlichen Angelegen¬ 
heiten, welches die Organisation und Verwaltung der gesammten 
bäuerlichen Verhältnisse des Reiches auf einheitliche Principien 
zurückführt. 

b) Das KAUKASISCHE Comit£, dessen Durchsicht und Beurthei- 
lung die sich auf das Kaukasische Gebiet beziehenden Angelegen¬ 
heiten unterliegen. 

II. Der Dirigirende Senat. Er ist die höchste civilgericht- 
liche*) Instanz und wacht über die Befolgung der Gesetze. — Der 


*) Ini Gegensatz zur geistlichen und Militärgerichtsbarkeit. 


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3 


Senat besteht aus n Departements , von welchen das i. f 2., 3., 4., 5., 
das Heroldie - und -Afr.w-Departement in St Petersburg, das 6. 
und 7. in Moskau und das 9. und 10. in Warschau fungiren. — 
Ausserdem sind seit der Einführung der Gerichtsreform bei dem 
Senat zwei Kassations ~Departements eröffnet worden. Es bestehen 
bei dem Senate drei allgemeine Versammlungen (Plenum), zwei in 
St. Petersburg und eine in Moskau. Die erste allgemeine Ver¬ 
sammlung in St. Petersburg wird von dem 1., 2., 3. und dem 
Heroldie-Departement gebildet; die zweite aus dem 4., 5. und 
dem Mess-Departement; die 'Moskausche allgemeine Versamm¬ 
lung aus allen in. Moskau bestehenden Departements. Die Auf¬ 
sicht über die Geschäftsordnung und über die Gesetzlichkeit der 
Beschlüsse kommt in den St. Petersburger allgemeinen Versamm¬ 
lungen unmittelbar dem General-Procureur zu, dessen Amt mit dem 
des Justizministers vereinigt ist; in der Moskauschen allgemeinen 
Versammlung ist der Minister durch einen besonderen Ober-Prö- 
cureur vertreten. In jedem Departement ist ein Ober-Procureur 
angestellt, mit Ausnahme des der Heroldie, in welchem ein 
Heroldmeister mit gleichen Rechten und Pflichten fungirt. Ein 
jedes Departement hat seine besondere Kanzlei . Ausserdem be¬ 
stehen beim Senat: a) eine Registeramt, b) ein ökonomisches 
Comit6, c) Senatsdruckereien in St. Petersburg und Moskau und 
d) Senats-Archive. 

IR. Der Allerheiligste Synod. Die Thätigkeit desselben er¬ 
streckt sich auf alle Gegenstände des geistlichen Ressorts ortho¬ 
doxer Confession in gleicher Weise, wie sie der Sejiat auf seinem 
Gebiete ausübt. Der Synod besteht aus einigen Archijereen 
(apxiepen) (darunter auch Metropoliten), aus Archimandriten und 
Mitgliedern der (sogenannten „weissen“) Welt-Geistlichkeit. Der 
Synod besitzt eine Kanzlei, welche aus den Bureau-Beamten des 
Ober-Procureurs, aus den Ober-Secretairen, Secretairen und anderen 
Beamten gebildet ist. Alle Vorlagen des Synods gelangen an 
den Kaiser durch Vermittlung des Ober-Procureurs. Unter des 
letzteren Ober-Aufsicht sind bei dem Synod: a) ein ökonomisches 
Comite und b) eine Verivaltung der geistlichen Lehranstalten ein¬ 
gerichtet. 

IV. Das Minister-Comite. Es dient dieses als Centrum der 
den Ministem anvertrauten Executiv-Gewalt und erledigt\ über¬ 
dies die ihm durch die Gesetze besonders zugetheilten Geschäfte. 


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4 


V. Die Ministerien und Haupt-Verwaltungen haben die 7 
Aufgabe, durch ununterbrochene Thätigkeit und Aufsicht für eine 
präcise und schnelle Ausfüllung der auf den Gebieten der Gesetz¬ 
gebung und Verwaltung ergriffenen Maassregeln zu sorgen. Die 
Leitung eines jeden Ministeriums wird einer Person mit dem 
Titel eines Ministers, eines Hauptverwaltenden (iviaBHoynpaBAHiömifl) 
oder Hauptdirigirenden (rjiaBHOHaHajibCTByiomitt) anvertraut — 
Die Hauptabtheilungen eines jeden Ministeriums sind: I. die Depar¬ 
tements - oder Haupt-Verwaltungen. 2. der Conseil , 3. die allgetneifien 
Versammlungen ( Plenum ) in den Departements, 4. die Kanzlei und 
5. besondere Institutionen bei einzelnen Ministerien. Alle Minister 
sind in ihrer Thätigkeit unmittelbar der Höchsten Gewalt unter¬ 
geordnet. Das Wesen ihrer Machtbefugniss besteht allein in der 
Executive. Die richterliche Gewalt dagegen kommt in ihre* 
ganzen Ausdehnung dem Senate und den Justizbehörden zu. 
Hiernach kann kein Ministerium über irgend Jemanden aburtheilen 
oder Prozesse entscheiden. 

Die Ministerien und Hauptverwaltungen sind folgende: 

1. Das Ministerium des Kaiserlichen Hofes vewaltet alle 
Hof-Angelegenheiten. Es besteht: a) aus dem Kapitel der Kaiser¬ 
lich und Königlich Russischen Orden, b) dem Apanagendeparte¬ 
ment, c) dem Kabinet Seiner Majestät des Kaisers, d) der Kanzlei, 
e) der Controle, /) dem Hofcomptoir, dem Marstallamt, dem Mos- 
kauschen Palais-Comptoir, dem Jägcrmcisteramt und dem Bau- 
Comptoir, g) der Moskauschen Rüstkammer, h) der Direction der' 
Kaiserlichen Theater, i) den Schlossv^rwaltungen zu Zarskoje-Sselo, 
Peterhof und Gatschina und k ) der Kaiserlichen Akademie der 
Künste. 

2. Das Kriegs-Ministerium verwaltet und disponirt über alle 
militärischen Kräfte des Reichs zu Lande in Bezug auf ihre Zu¬ 
sammensetzung, Organisation, Verproviantirung, Versorgung, Be¬ 
waffnung, Dislocation ifnd Thätigkeit. Das Kriegs-Ministerium be¬ 
steht: a) aus dem Kaiserlichen Haupt-Quartier und der Feldkanzlei 
Sr. Kaiserlichen Majestät, b) dem Kriegs-Rathe, c) dem Haupt- 
Militär-Gerichtshofe, d) der Kanzlei des Ministeriums, e) dem General¬ 
stabe mit der militärisch-topographischen Abtheilung, f) der Haupt- 
Artillerie-Verwaltung, g) der Haupt-Ingenieur-Verwaltung, h) der 
Haupt-Verwaltung der militärischen Lehranstalten, /) der Haupt- 
Intendantur, k ) der Haupt-Kriegs-Medizinal-Verwaltung, l) der Haupt¬ 
verwaltung der irregulären Truppen, nt) der Haupt-Militär-Gerichts- 


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Verwaltung. Beim Kriegs-Rathe bestehen folgende Haupt-Comites : 
a) für Militär-Codificationswesen, b) für Organisation und Ausbildung 
der Truppen, c) für Militär-Unterrichtswesen, d) für Kriegs-Hospitäler 
und e) für Militärgefängnisse. Zum Bestände des Ministeriums gehören 
die Verwaltungen: a) des General-Inspectors der Kavallerie und b) des 
Haupt-Inspectors der Schützen-Batailfone; dem Ministerium ist 
ferner das Verwundeteri-Comite zugezählt. Ausserdem gehört zu 
diesem Ministerium noch ein Intendantur-Museum, und es haben 
die Haupt-Verwaltungen noch ihre besonderen Comites und Re¬ 
dactionen verschiedener fachwissenschaftlicher Zeitschriften. 

3. Das Marine-Ministerium verwaltet die militärischen Kräfte 
des Reiches zur See nach allen Seiten hin. Es besteht d) aus dem 
Admiralitäts-Rathe, b) dem Haupt-Marine-Gericht, c) der Kanzlei 
des Ministeriums, d) dem Inspections-Departement, e) dem hydrogra¬ 
phischen Departement, f) dem technischpn Marine-Comite, welches 
aus der Schiffsbau-, Artillerie-, Bau- und wissenschaftlichen Abthei 
lung besteht, g) der Haupt-Marine-Gerichts-Verwaltung, A) der 
Medicinal-Verwaltung und i ) der Verwaltung der Cotfifications- 
arbeiten. 

4. Das Ministerium des Aeussern. Zu seinem Ressort gehören 
alle politischen Beziehungen mit fremden Staaten; dasselbe sorgt 
für den gesetzlichen Schütz russischer Unterthanen in fremden Län¬ 
dern und für die Befriedigung gerechter Wünsche der Ausländer 
bei ihren Geschäften in Russland. Das Ministerium des Aeussern 
ist zusammengesetzt: d) aus dem Conseil, b ) der Kanzlei, c) dem 
asiatischen Departement, d) dem Departement für die inneren Be¬ 
ziehungen, e) dem Departement für die Personalien und die öco- 
nomischen Angelegenheiten. Dem Ministerium sind ferner unterge¬ 
ordnet: f) das Reichs-Archiv, das St. Petersburgsche und das Mos- 
kausche Haupt-Archiv und bei dem letzteren die Commission 
für den Druck der Reichs-Akten und Verträge. 

5. Das Ministerium des Innern. Dasselbe umfasst die Exe- 
cutiv-Polizei, das Civil-Medicinal-Wesen, die geistlichen Angele¬ 
genheiten fremder Confessionen, die Fürsorge für die aus der Leib¬ 
eigenschaft entlassenen Bauern und die Reichsbauern, das Post- und 
Telegraphen-Wesen, die Landschafts-Abgaben, die allgemeine Cen- 
sur, das Bauwesen, das Gefängnisswesen und die Reichs-Statistik. 
Das Ministerium des Innern besteht: a) aus dem Conseil, b) dem 
Medicinal-Rathe, c) der besonderen Kanzlei des Ministers, d ) dem 
Departement der allgemeinen Angelegenheiten, e) dem Depar- 




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tement der Executiv-Polizei, f) dem Departement der geistlichen 
Angelegenheiten fremder Confessionen, g) dem ökonomischen De¬ 
partement, k\ dem Medicinal-Departement, t) dem statistischen Con¬ 
seil und dem statistischen Central-Comit6, k) der Abtheilung für die 
Landschafts-Angelegenheiten (3eMCKift OTA'tA'b), /) der Haupt-Press- 
Verwaltung, m) dem technischen Bau-Comit£, n) dem Post-Depar¬ 
tement und o) dem Telegraphen-Departement. 

6 . Das Ministerium der Volksaufklärung. Unter der Leitung 
desselben stehen alle, die Volksbildung und die Verbreitung wis¬ 
senschaftlicher Kenntnisse betreffenden Angelegenheiten. Es um¬ 
fasst: a ) den Conseil, b) das wissenschaftliche Comite, c) das De¬ 
partement der Volksautklärung, d) das Archiv des Ministeriums, 
e) die Kanzlei des Ministeriums in Sachen der griechisch-unirten 
Cohfession, /) die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, g) die 
Kaiserliche öffentliche Bibliothek, h) das Lasarewsche Institut für 
orientalische Sprachen in Moskau. 

7) Das Justiz-Ministerium. Unter seiner Direction steht Alles, 
was sich auf das Justiz-Wesen im Reiche bezieht Das Ministerium 
besteht: a) aus dem berathenden Comit6, b) aus dem Departement 
des Justiz-Ministeriums, c ) aus der Kanzlei. Demselben sind ferner un¬ 
tergeordnet: a) die Kaiserliche Rechtsschule, b) das Mess-Corps, 
c) das Moskausche Atchiv. 

8. Das Finanz-Ministerium. Dieses verwaltet alle Staatsein¬ 
nahmen und Ausgaben und die Angelegenheiten des Reichs- 
Credits. Das Finanz-Ministerium bilden: a ) der Conseil, b) die 
allgemeine Kanzlei, c) die besondere Kanzlei für Creditwesen, d) das 
Berg-Departement, e) das Zoll-Departement, f) das Departement der 
indirecten Steuern, g) das Departement der directen Steuern, 
h) das Handels- und Manufactur-Departement, z) das Depar¬ 
tement der Reichs-Haupt-Kasse, i) die Reichs-Haupt-Kasse, und 
./) die Abtheilung für die Finanzen des KönigreichesPolen. — 
Dem Ministerium sind untergeordnet: a) die Staats-Bank, b) die 
Reichs-Schulden - Tilgungs - Kommission, c) die Anstalt zur An¬ 
fertigung der Staatspapiere, d) die Moskausche Depositen-Bank, 
e) das St. Petersburger technologische Institut, f) die Moskausche 
practische Handels-Akademie, g) das Corps der Berg-Ingenieure, 

h) die Moskausche Abtheilung des Manufactur- und Handelsconseils, 

i) der Conseil des Corps der Berg-Ingenieure, k) das wissenschaft¬ 
liche Comit6, 1 ) das Institut des Corps der Berg-Ingenieure (Berg- 
Akademie), m) der St Petersburger Münzhof, 


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7 


. 9* Das Ministerium der Reichs-Domänen. Unter seiner Ver¬ 
waltung stehen die Staatsländereien, die Staatsforsten und die Land¬ 
wirtschaft, im Allgemeinen. Das Ministerium der Reichsdomänen 
besteht a) aus dem Conseil, b) dem Departement der allgemeinen 
Angelegenheiten, c) dem Departement des Ackerbaues und der 
ländlichen Gewerbe, d) dem Forst-Departement, e) der temporären 
Abtheilung ftir die ländliche Organisation der Reichsbauern und 
/) dem wissenschaftlichen Comitö. 

io. Das Ministerium der Verkehrswege. Dasselbe leitet alle 
auf das Verkehrswesen zu Lande und zu Wasser innerhalb des 
Reiches sich beziehenden Angelegenheiten. Es besteht: d) aus dem 
Conseil, b) dem technischen Inspections-Comite für Chaussee- und 
Wasser-Verbindungen, c) dem technischen Inspections-Comitö für 
die Eisenbahnen, d) dem Departement der Chaussee- und Wasser- 
Verbindungen, e) dem Eisenbahn-Departement, /) dem Departement 
der allgemeinen Angelegenheiten, und g) dem berathenden Comite. 

n. Die Haupt-Verwaltung des Reichs-Gestüt-Wesens. Die¬ 
selbe sorgt für Maassregeln zur Veredelung der Pfer^eracen im 
Reiche und wird gebildet: a) aus dem Conseil, b) aus der Kanzlei. 

12 . Die t REICHS-CONTROLE. Sie wacht über die Ordnung inr 
den Ausgaben und Einnahmen der Staats- und öffentlichen Gelder 
und besteht: d) aus dem Conseil, b) der Kanzlei, c) dem Depar¬ 
tement der Marine-Rechnungsablage, d) der temporären Revisions- 
Commission, und c) der temporären Central-Expedition. 

VT. Die Eigene Kanzlei Sr. Majestät des Kaisers. Sie 
besteht aus 4 Abtheilungen: 

An die ERSTE ABTHEILUNG gehen sämmtliche Schriftstücke, 
welche von Personen und Behörden der höchsten Staatsverwaltung 
an Se. Majestät den Kaiser gerichtet werden, sowie die zur. 
Allei^iöchsten Kenntnissnahme Sr. Majestät von Zeit zu Zeit einge¬ 
sandten Berichte der Minister und Gouvernements-Chefs über that- 
sächliche Ausführung Allerhöchster Befehle.—Bei dieser Abtheilung 
besteht ein.Comite zur Fürsorge für emeritirte Civil-Beamte. 

An die zweite Abtheilung gelangen sämmtliche Gesetze und 
Verordnungen auf allen Gebieten der Staatsverwaltung, welche dann 
von ihr alljährlich unter .dem Titel «Vollständige Gesetz-Sammlung» 
herausgegeben werden. Zu ihrer Thätigkeit gehört ferner die Zu¬ 
sammenstellung und Herausgabe der Fortsetzung des allgemeinen 
Codex der Reichsgesetze die Ausarbeitung von Verordnungen und 
anderen Gesetzesprojecten auf besonderen Allershöchsten Befehl, 


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8 


ferner die Censur der von Privatpersonen publicirten Ausgaben russi¬ 
scher Gesetze. 

Zur dritten Abtheilung gehören alle Angelegenheiten der 
höchsten Polizei und alle Bestimmungen in Betreff der in Russland 
lebenden Ausländer. 

• 

Die vierte Abtheilung besorgt die oberste Verwaltung der 
Lehr- und Wohlthätigkeitsanstalten des Ressorts der Kaiserin Maria 
(Feodorowna) und führt die Geschäfte des ; Haupt-Conseils der weib¬ 
lichen Lehranstalten. 

VII. Das Staats-Seeretariat zur Annahme von Bitt¬ 
schriften und 

VIII. Die Bittschriften-Commission sehen die an Se. Ma¬ 
jestät den Kaiser gerichteten Bittschriften durch. 

IX. Die Eigene Kanzlei Sr. Majestät des Kaisers für 
die Angelegenheiten des Königreiches Polen. 

X. Das Staats-Seeretariat des Grossfürstenthums 
Finnland. 


In administrativer Hinsicht ist Russland eingetheilt in Gou¬ 
vernements , Gebiete *) und Länder; — an den Orten, an welchen in 
Folge besonderer Bedingungen eine verstärkte örtliche Thätigkeit 
der Regierung erforderlich ist, sind Statthalterschaften oder General- 
Gouvememenp eingerichtet, welche einige Gouvernements oder Ge¬ 
biete umfassen. Statthalterschaften existiren i) im Kaukasus und 2) 
im Königreiche Polen. General-Gouverneure sind eingesetzt: 1) fiir 
Finnland, 2) die baltischen Provinzen, 3) die nordwestlichen Gou¬ 
vernements, 4) die südwestlichen Gouvernements, 5) Neuru^lland, 
6) Orenburg, 7) West-Sibirien, 8) Ost-Sibirien, und 9) Turkestan. 
Ausserdem fuhrt der Gouverneur von Moskau den Ehrentitel eines 
General-Gouverneurs. 


*) Gebiet e (oÖJiacTü) heissen solche Theile, welche ihrer Bestimmung nach den Gou- 
rernements gleich, aber erst kürzlich mit dem Reiche vereinigt sind und desswegen 
abweichende, lokale Einrichtungen beibehalten haben, oder diejenigen, in welchen die 
Gouvernements-Institutionen nicht vollständig eingefiihrt werden können, = Länder 
(3eMJiu) werden die Gebiete der Kosaken genannt, welche halb militärische, halb civile 
Verwaltung haben. 


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9 


Das Gesammtreich enthält überhaupt: 

Im europäischen Russland . 48 Gouv. 2 Gebiete 1 Land- 3 Stadtgeb. 


In Sibirien ...... 4 » 10 » 

Im Kaukasus.6 » 3 » 2 Kreis. I Abtheil. 

Im Königreich Polen. . . 10 > 

Im Grossfürstenthum 

Finnland.8 » 


Summa . 76 Gouv. 1-5 Gebiete 1 Land 2 Kreise 

1 Abtheilung und 3 Stadtgebiete. 

Die Gouvernements werden in Kreise oder Bezirke und 3 Stadt¬ 
gebiete eingetheilt. In den ersteren bestehen mittlere, in den letzt 
teren niedere Regierungsorgane. Ausser der Theilung nach Gouver¬ 
nements, wird das Reich noch^ einigen speciellen Zweigen der Re¬ 
gierung entsprechend, in besondere Bezirke , welche mehrere Gouver¬ 
nements umfassen, eingetheilt. So wird Russland in militairischer 
Beziehung in 14, in Beziehung aufs Verkehrswesen in 10 und für das 
Unterrichtswesen in 8 Bezirke getheilt u. s. w. 

Der grösste Theil der Ministerien besitzt in jedem Gouvernement 
seine Regierungsorgane, so z. B. sind der Gouverneur und die neben 
demselben bestehende Kanzlei, die Gouvernements-Verwaltung, das 
Collegium der allgemeinen Fürsorge, das Comite für die Pflege des 
Volkswohls, die Medicinalverwaljtung, das Impfungscomite, das Gou- 
vernements-Comitd fiir allgemeine Gesundheitspflege, das Recruten- 
comite, das Comite für die Landessteuern, das statistische und das 
Fürsorge-Comit^ für die Gefängnisse: Organe des Ministeriums des In¬ 
nern; — der Cameralhof, die Gouvernements-Accise-Verwaltung, der 
Handels- und der Manufactur-Rath, und die Abtheilungen der Staats 
bank—sind Organe des Finanzministeriums; der Chef des Domänen* x 

Hofes, das Apanagencomptoir, das Gouvernements-Comite fürs Gestüt¬ 
wesen, der Controlhof, das Gouvernements-Post-Comptoir und die 
Direction der Gouvernements-Schulen — dienen als Organe der ent¬ 
sprechenden Ministerien; der Criminal- und Civil-Gerichtshof (najiara • 
yrojioBHaro h rpaamaHciearo cy^a), der Gouvernements-Procureur 
und der Gouvernements-Fiskal sind dem Justizministerium unter¬ 
geordnet. — Ausserdem bestehen in den Gouvernements dem 
Synod untergeordnete geistliche Consistorien und für die örtliche 
militairische Administration die Verwaltungen der Gouvernements- 
Militair-Chefs. 

In den Kreisen fungiren folgende Behörden und amtliche Personen: 


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IO 


die Kreis-Polizei-Vervvaltung und der Kreisfichter, das Friedensrich¬ 
ter-Plenum und die Friedensrichter; der Kreisarzt; die Kreiskassc 
(Ka3HaHeftcTBo); das Kreis-Postcoraptoir; das Kreisgericht und die 
Kreisfiskale. 


Die Landschafts-Institutionen. 

Seit dem i. Januar 1864 sind die Landschafts-Institutionen an fol¬ 
genden Orten eingefuhrt: im Bessarabischen Gebiete, in den Gouver¬ 
nements: Wladimir, Wologda, Woronesh, Wjätka, Jekaterinosslaw 
Kasan, Kaluga, Kostromä, Kursk, Moskau, Nishny-Nowgorod, Now- 
N gorod, Olonez, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa, Pskow, Rjä- 
san, Ssamara, St. Petersburg, Ssaratow, Ssimbirsk, Ssmolensk, Tau- 
rien, Tambow, Twer, Tula, Charkow, Chersson, Tschemigow, Ufa 
und Jaroslaw. 

Die Versammlungen der Landschaft (3cmctbo) zerfaUen in Kreis - 
und Gouvernements - Versammlungen . Sowohl diese wie jene werden 
aus gewählten Abgeordneten der drei Stände: der Grundbesitzer , 
Städter , und der Bauergetneinden gebildet. Für jeden derselben gilt 
ein besonderer Census. 

In der Wahlversammlung der Grundbesitzer des Kreises haben 
Stimmrecht: 1) Personen, die ein Grundeigenthum von 200—800 
Dessjätinen (für die verschiedenen Kreise je nach dem Landpreise 
verschieden) haben; 2) Personen, welche im Kreise ein anderes Im¬ 
mobiliar im Werthe von 15000 Rbl. oder ein industrielles Etablisse¬ 
ment, dessen jährlicher Umsatz nicht weniger als 6000 Rbl. beträgt, 
besitzen; 3) die Bevollmächtigten von Personen oder von Gesell¬ 
schaften und Compagnien, deren Besitz dem in den ersten beiden 
Punkten angegebenen Bedingungen entspricht; 4) die Bevollmäch¬ 
tigten mehrerer Grundbesitzer, deren Besitzthum einzeln nicht die 
volle erforderliche Grösse, jedoch nicht weniger als 720 derselben,hat 
5) Die Bevollmächtigten von Geistlichen, die ein dem Census ent¬ 
sprechendes Stück Kirchenland besitzen. 

An den städtischen Wahlversammlungen nehmen Theil: 1) die 
berechtigten Kaufleute; 2) diejenigen, welche auf städtischem Grunde 
Gewerbe-Etablissements besitzen, deren jährliche Production nicht 
weniger als 6000 Rbl. beträgt; 3) die Besitzer von Immobilien im 
(abgeschätzten) Werthe von 500— 3000 Rbl. je nach der* Grösse 
der Stadt. 


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Die Versammlung zur Wahl der Deputirten aus den Bauergemein¬ 
den wird aus den Wählern gebildet, welche die Wolost-Versammlung 
aus ihrer Mitte gewählt hat; diese wählen dann die Deputirten zur 
Landschafts-Versammlung. 

Das Recht des Wählers ist ein persönliches und kann nur im Falle 
der Unfähigkeit: persönlich an den Wahlversammlungen Theil zu 
nehmen, .— in Folge von Minderjährigkeit, Abwesenheit u. s. w. 
übergeben werden. Frauen dürfen nicht persönlich an denWahlen Theil 
nehmen; es steht jedoch denselben frei, solchen Personen, welche 
den Bedingungfen des Census nicht entsprechen, zu denen sie aber 
in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnisse stehen, ihre Voll¬ 
macht zu ertheilen, — während für Minderjährige und Abwesende 
nur dem Census entsprechende Personen bevollmächtigt werden 
können. Niemand kann in der Wahlversammlung mehr als 2 Stimmen 
haben, eine: laut persönlichem‘Rechte, die andere: laut Vollmacht. 

Es dürfen nicht als Wähler fungiren: Personen unter 25 Jahren, 
Personen, die sich in einer Criminaluntersuchung befinden oder unter 
Gericht stehen, solche, die vermöge richterlichen Spruches oder 
Gemeinde-Beschlusses für bescholten erklärt sind und endlich Aus¬ 
länder, die den russischen Unterthaneneid nicht geleistet haben. 

Die Zahl der Vertreter für jede der obengenannten Klassen ist 
durch eine Bestimmung für jeden Kreis, je nach der Zahl der Grund¬ 
besitzer und der Grösse ihres Besitzthums, der Einwohnerzahl der 
Städte und dem Weiche des städtischen Eigenthums, der Zahl der 
Landbevölkerung und der Ausdehnung der derselben gehörenden 
Ländereien, fixirt. Meistens überwiegt der Stand des Hausbesitzers 
der Zahl nach. Zu Deputirten werden nur dem, für die Wähler eines 
jeden Standes festgesetzten Census entsprechende Personen gewählt, 
mit Ausnahme der Landgemeinden, welche ausser den an den Ver¬ 
sammlungen des Bauerstandes theilnehmenden Personen, auch Grund¬ 
besitzer und orthodoxe Geistliche zu Deputirten ernennen können. 
Die Zahl der Deputirten ist in den einzelnen Kreisen durchaus ver¬ 
schieden, was sich aus dem Unterschied in der Bevölkerung und 
dem Wohlstände der Kreise erklärt; sie wechselt zwischen 10 und 
96. Auch die Zahl der von den Kreis-Landschaftsversammlungen 
gewählten Gouvemements-Deputirten wechselt zwischen 15 und 100.— 
Zu Deputirten können nicht gewählt werden: der Gouverneur, Vice- 
Gouvemeur, die Mitglieder der Gouvernenjents-Verwaltung, Pro- 
cureure, Fiskale und Polizeibeamte. Die Deputirten werden auf 3 Jahre 
gewählt und erhalten weder besondere Dienstvorrechte noch Gehalt. 


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12 


Ausser den gewählten Mitgliedern nehmen an den Kreis- und Gou- 
vemementsversammlungen, falls der Staat in den Kreisen Land, 
welches nicht den Bauern zur beständigen Benutzung übergeben ist, 
besitzt, Vertreter des Staates Theil und sind die Apanagen- in dieser 
Beziehung den Staatsländereien gleichgestellt. — Zur Beschlussfä¬ 
higkeit der Landschaftsversammlungen ist die Anwesenheit eines 
Dritttheils der Deputirten erforderlich, und darf diese Zahl nicht ge¬ 
ringer sein als io. Die Beschlüsse der Landschaftsversammlungen 
werden nach einfacher Stimmenmehrheit gefasst. Zur Ausführung 
der Beschlüsse der Landschaftsversammlungen bestehen Gouver¬ 
nements - und Kreis-Landschaftsämter (3eMCKia ynpaßu). Das Gouver¬ 
nements-Landschaftsamt besteht aus einem Vorsitzenden und 2—6 
Mitgliedern, die aus der Landschaftsversammlung für die Dauer 
von 3 Jahren aus ihfer Mitte gewählt werden; der Vorsitzende wird 
vom Minister des Innern bestätigt. — Das Kreis-Landschaftsamt be¬ 
steht aus nicht mehr als 3 gewählten Personen. Die Mitglieder der 
Aemter erhalten von der Landschaft ihre Besoldung, deren Betrag 
die Landschaftsversammlungen festsetzen. Die Landschaftsversamm- 
lungeri treten auf Berufung der Aemter einmal im Jahre zusammen; 
die Kreisversammlungen auf 10, die Gouvemementsversammlung 
auf 20 Tage. — Zum Ressort der Landschafts-Institutionen gehören: 

1) die Verwaltung der Besitzlichkeiten, Kapitalien und Einnahmen 
der Landschaft, 2) der Bau und die Erhaltung der der Landschaft ge¬ 
hörigen Gebäude und der Verkehrswege, welche auf Kosten der- + 
selben unterhalten werden, 3) Maassregeln für das Volkswohl, 4) die 
Verwaltung der landschaftlichen Wohlthätigkeitsanstalten, Maass¬ 
regeln gegen den Bettel und die Sorge für den Bau von Kirchen, 

5) die Verwaltung der auf Gegenseitigkeit gegründeten landschaft¬ 
lichen Assekuranzanstalten, 6) Maassregeln zur Hebung des örtlichen 
Handels und der Industrie, 7) die Fürsorge für die Volksbildung in 
ökonomischer Beziehung, für die öffentliche Gesundheitspflege und 
das Gcfängnisswesen, 8) Maassnahmen gegen Viehseuchen und die 
Verwüstung der Saatfelder durch Heuschrecke^ und Mäuse, 9) die 
Vertheilung der Staatssteuern, deren Repartition der Landschafts¬ 
verwaltung zukommt; die Bestimmung, Vertheilung und Erhebung 
der örtlichen Abgaben, sowie die Verausgabung des Steuerertrages 
zur Befriedigung der Bedürfnisse der Landschaft in den Kreisen und 
im Gouvernement, i'q) die Wahl der Mitglieder der Landschafts 
Institutionen und die Feststellung des Etats der letzteren. 


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*3 


* Die Städte-Ordnung.*) 

Die Städte-Qrdnung ist durch Ukas vom 16. Juni 1870 eingeführt 
in den Städten: Astrachan, Archangel, Kischinew, Wladimir, Wo- 
logda, Woronesh, Wjätka, Jekaterinosslaw, Kasan, Kaluga, Kertsch, 
Kijew, Kostroma, Kronstadt, Kursk, Nishny-Nowgorod, Nikolajew, 
Nowgorod, Petrbsawodsk, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa, 
Pskow, Rjäsan, Ssamara, Ssaratow, Ssimbirsk, Ssmolensk, Ssimfero- 
pol, Taganrog, Tambow, Twer, Tula, Ufa, Charkow, Chersson, 
Tschemigow, Jaroslaw, Irkutsk, Krasnojarsk, Ssemipalatinsk, To- 
bolsk und Tomsk, und soll in den übrigen Städten und Flecken, ausser 
denen West-Russlands, in möglichst kurzer Zeit eingeführt werden. 

Die Sorge für den städtischen Haushalt und die städtische Ord¬ 
nung ist der allgemeinen Stadt-Verwaltung zugetheilt, welche 1) 
aus den städtischen Wahl-Versammlungen, 2) aus dem städtischen 
Magistrate (ropoACKa* AyMa)—der aus den gewählten Deputirten 
gebildet wird, und 3) aus dem Stadt-Amte (ropoACKaa ynpaßa)— 
dessen Mitglieder von dem Magistrate ernannt werden, besteht. 
In kleinen Städten können die Pflichten des Stadt-Amtes auch auf 
das Stadt-Haupt (Bürgermeister) übertragen werden. 

Die Angelegenheiten, welche zum Ressort der allgemeinen Stadt- 
Verwaltung gehören, sind: 1) die Organisation der städtischen 
Verwaltung und des Stadt-Haushalts, 2) die äussere Ordnung der 
Stadt, 3) die Wohlfahrt der städtischen Bevölkerung; die Sorge 
für die städtische Gesundheitspflege, Maassregeln gegen Brände und 
andere Unglücksfälle, die Entwickelung des städtischen Handels 
und der Gewerbe, die Einrichtung von Häfen, Märkten, Kaufhallen, 
Börsen und Kreditanstalten, 4) Organisation von Wohlthätigkeits- 
anstalten und Krankenhäusern, und die Verwaltung derselben, die 
Theilnahme an der Fürsorge für die Volksbildung, die Errichtung 
von Theatern, Bibliotheken und Museen, 5) die Einsendung von 
Auskünften und Gutachten an die Regierung über Fragen, die das 
örtliche Wohl und Wehe der Stadt betreffen. 


Das Gerichtsverfahren nach dem Gesetze (YcTaB*) vom 20. November 1864. 

Die gerichtlichen, durch das Gesetz vom 20. November 1864 
begründeten Institutionen, zerfallen in friedensrichterliche (MHpo- 

*) Eine eingehendere Darstellung der Städte Ordnung folgt schon in einem der näch¬ 
sten Hefte. 


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bmä) und allgemeine. Zu den ersteren gehören die Friedens¬ 
gerichte und das Plenum der Friedensrichter; zu den letzteren 
a) die Bezirksgerichte (oKpyacHbie cy^w), b) die Gerichtshöfe (cy- 
AeÖHbiÄ najiaTbi) (Appell-Instanz) und die Cassations-Departe¬ 
ments des Senates. 

Die Friedensrichter sind entweder Bezirks - oder Ehren-Frie- 

« 

densrichter. —Der Bezirks-Friedensrichter (ynacTKOBott cyÄba) nimmt 
seinen beständigen Aufenthalt in seinem Bezirke zur Verhandlung 
aller seiner Competenz in diesem Bezirke unterliegenden Sachen; 

der Ehren-Friedensrichter tritt nur in dem Falle als Richter auf, 

• • • 

wenn beide Parteien seine Vermittelung anrufen. 

In Civil-Sachen verhandeln die Friedensrichter über folgende 
Klagen: i) in Folge persönlicher Verpflichtungen und Verträge 
im Betrage bis 500 Rbl. incl., 2) wegen Schadenersatzes von nicht 
mehr als 500 Rbl., wie auch, falls die Höhe des Verlustes im Au¬ 
genblicke der Klage nicht genau bestimmt werden kann, 3) wegen 
persönlicher Beleidigungen, un 4 4) wegen Wiederherstellung des 
Eigenthumsrechtes, im Falle, dass seit der Verletzung desselben 
nicht mehr als 6 Monate vergangen sind. 

Der Friedensrichter kann jeden Streit und jede Civil-Klage zur 
Entscheidung annehmen, wenn beide streitenden Theile ihn er¬ 
suchen, ihre Sache nach seinem Gewissen zu entscheiden; jedoch 
ist in diesem Falle seine Entscheidung endgültig und inappellabel. 
Zur Thätigkeit der Friedensrichter gehören ferner die Versieglung 
und Bewahrung der Hinterlassenschaften, die Bestätigung im Erb¬ 
recht und die Vertheilung der Hinterlassenschaften, die aus be¬ 
weglichen Gütern im Werthe von nicht mehr als 500 Rbl. be¬ 
stehen. — Die Verhandlungen der Friedensrichter sind öffentlich 
und mündlich*, jedoch kann, wenn beide Theile um nicht-öffent- 
Hche Verhandlung nachsuchen, der Friedensrichter ihreto Wunsch, 
falls er ihn für begründet erachtet, erfüllen. Der Friedensrichter 
sammelt keine Beweisstücke, sondern gründet seine Entscheidung 
lediglich auf die Beweise, die von den Parteien beigebracht worden 
sind. — Allein zuvor sucht er die letzteren zu einem gütlichen 
Vergleiche zu bewegen. Gelingt ihm dieses nicht, dann fällt er 
nach seinem Gewissen eine dem Gesetz nicht widersprechende 
Entscheidung. Im Falle des Nicht-Erscheinens des Angeklagten 
fällt der Richter eine Entscheidung in contumaciam; im Falle der 
Abwesenheit des Klägers dagegen stellt er das Gerichtsverfahren 
ein, jedoch kann der Kläger dasselbe durch eine neue Klageschrift 


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15 


erneuern. Dem Angeklagten wird eine Copie des Contumacial- 
Urtheils zugeschickt und steht es ihm frei, innerhalb zweier Wochen 
um nochmalige Verhandlung der Sache zu bitten. Gegen eine 
abermalige Entscheidung in contumaciam kann nur auf dem Appel¬ 
lationswege geklagt werden. Dem Friedensrichter-Plenum können 
Appellationsklagen über die Entscheidungen der Friedensrichter in 
Klageforderungen von nicht weniger als 30 Rbl., im Laufe eines 
Monates von dem Tage der Eröffnung der Entscheidung an, ein¬ 
gereicht werden, — und werden die Klagen dem Friedensrichter, 
der in der Sache entschieden hat, eingehändigt. 

, Im Criminal-Verfahren verhandeln die Friedensrichter folgende 
Sachen: 1) Vergehen gegen obrigkeitliche Anordnungen, 2) Stö¬ 
rung des Gottesdienstes und der Ruhe, 3) Vergehen gegen die 
öffentliche Ordnung, 4) Verletzung des Pass-Reglements, 5) Ver¬ 
letzungen des Rau-, Feuerwehr-, Post- und Telegraphen-Reglements, 
6) Vergehen gegen das allgemeine Wohl und die persönliche 
Sicherheit, 7) Verletzung der Ehre, Drohungen und Thätlichkeiten, 
8) Vergehen gegen die Familien-Rechte und fremdes Eigenthum. 
Diese Vergehen unterliegen der Verhandlung Seitens der Friedens¬ 
richter bloss in dem Falle, wenn die Strafe für dieselben sich be¬ 
schränkt: ä) auf einen »Verweis, eine Bemerkung oder Ermahnung, 
b) auf eine Geldstrafe nicht über 300 Rbl., c) auf einen Arrest von 
nicht mehr als 3 Monaten, d ) auf Gefängniss-Strafe von nicht 
mehr eis einem Jahr. Unter der Gerichtsbarkeit eines jeden Frie¬ 
densrichters stehen bloss die Vergehen, welche in seinem Bezirk be¬ 
gangen ^ worden sind. — Die Verhandlung ist öffentlich ausser in 
Verbrechen gegen die Familien-Rechte, die Sittlichkeit u. s. w. 
Der Friedensrichter entscheidet seiner Ueberzeugung gemäss; bei 
Anwendung der Gesetze aber befolgt er die allgemeinen Bestim¬ 
mungen filr das allgemeine Criminal-Gerichtsverfahren. 

Im Falle des, Nicht-Erscheinens des Angeklagten wird, falls das 
Vergehen, dessen er beschuldigt ist, keine härtere Strafe als die des 
Arrestes nach sich zieht, von dem Friedensrichter ein Urtheil in con¬ 
tumaciam gefällt. Der so Verurtheilte kann um eine erneuerte Ver¬ 
handlung der Sache bitten, wird jedoch bei wiederholtem Nicht- 
Erscheinen wegen des letzteren zu 25 Rbl. Strafe verurtheilt, 
wobei das ‘erste Urtheil in Kraft bleibt. Das Urtheil des Friedens¬ 
richters ist endgültig, falls dasselbe auf eine Ermahnung, Verweis 
oder Bemerkung, auf eine Geldstrafe von nicht über 15 Rbl. oder 
einen nicht mehr als 3 Tage dauernden Arrest oder auf einen 


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i6 


Schadenersatz von nicht mehr als 30 Rbl. erkennt. Ueber der¬ 
artige Entscheidungen kann bei dem Friedensrichter-Plenum bloss 
nach der Cassationsordnung geklagt werden, während gegen die 
nicht endgültigen Entscheidungen mündliche und schriftliche Appel¬ 
lationsklagen vorgebracht werden können. 

Das Friedensrichter-Plenum (Mnpoßoft ct^a*) verhandelt 
als Appell-Instanz in Sachen, welche in Folge von Klagen über 
die Urtheile und Entscheidungen der Friedensrichter eingehen. 
Seine Entscheidungen sind endgültig und inappellabel. Jedoch 
sind: ä) in Civil-Sachen innerhalb eines viermonatlichen Termines 
Klagen bei den Cassations-Departements des Senates auf Cassa¬ 
tion der Entscheidung zulässig und b ) in Criminal-Sachen, 
Klagen auf dem Cassationswege in denselben Fällen, wie bei den 
endgültigen Entscheidungen der Friedensrichter, gestattet. 'Letztere 
werden aus dem Plenum in die Cassations - Departements des 
Senates eingesendet. — Das Gerichtsverfahren in den friedens¬ 
richterlichen Instanzen ist von dem Gebrauche des Stempelpapiers 
und von jeglichen Abgaben befreit 

Die Bezirks-Gerichte (oKpyacHwe cyAu) entscheiden alle Pro¬ 
zess- und Criminal-Sachen, welche der Competenz des Friedens¬ 
richters nicht unterliegen, sowie die Sachen wegen Verletzung des 
schriftstellerischen; künstlerischen und musikalischen Eigenthums¬ 
rechtes. 

In Civilsachen schreitet das Bezirks-Gericht bloss auf eine Klage¬ 
schrift (ncKOBoe npoiueHie), welche auf Stempelpapier ä 40 Kop. 
geschrieben sein muss, zur Verhandlung einer Sache.*) Im Falle 
des Nicht-Erscheinens des Angeklagten fällt das Gericht auf Bitten 
des Klägers eine Entscheidung in contumaciam. Gegen dieselbe 
steht es dem Angeklagten frei, einen Protest bei dem GeÄchte ein¬ 
zureichen, während gegen eine wiederholte Contumacial-Entschei- 
dung nur im Appellationswege geklagt werden kann. Gegen 
die Entscheidung des Bezirks-Gerichts ist es gestattet: a) Klagen 
auf Cassation derselben bei den Cassations - Departements des 
Senates innerhalb eines viermonatlichen Termines einzureichen 
und b) dem Gerichte, welches die Entscheidung gefällt hat, eine 
Appellationsklage zur Uebergabe an den Gerichtshof (cyAeÖHaa 
na^aTa) einzuhändigen. # 


*) Ausländer müssen Bittschriften in russischer Sprache einreichen; in Russland lebende 
Ausländer stehen gegenüber den russischen Gerichten den russischen Unterthanen gleich. 


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I 


17 


* 


In Criminal-Sachen beginnt das Gerichts-Verfahren im Bezirks- 
Gerichte: 1) entweder auf die Verfügung des Gerichtshofes, dass 
der Angeklagte dem Gerichte zu übergeben sei, oder 2) inFolge eines 
Anklage-Aktes des Procureurs, oder 3) auf die Klage eines Privat- 
Anklägers hin. — Diejenigen* Criminal-Sachen, welche nach dem 
Gesetze Strafen nach sich ziehen, die mit dem Verluste der Standes- 
Rechte verbunden sind, werden von dem Bezirksgerichte mit Hin¬ 
zuziehung von Geschworenen verhandelt. — Die Klagen können 
mündliche und schriftliche sein und werden jederzeit von den Polizei¬ 
beamten, Untersuchungsrichtern, Procureuren und Procureurs-Gehül- 
fen angenommen. Die Sitzungen sind öffentlich, ausser in Sachen 
wegen Gotteslästerung, .Verleugnung des Glaubens und Verbrechens 
gegen die Sittlichkeit. — Die Urtheile, welche unter Mitwirkung der 
Geschworenen gefällt worden sind, gelten als endgültige und kann 
über dieselben nur auf dem Cassationswege bei den Cassations- 
Departements des Senates geklagt werden. Ueber diejenigen Urtheile 
dagegen, welche beim Bezirksgerichte ohne Zuziehung der Geschwo¬ 
renen gefallt worden, kann auf dem Appellationsweg^ bei dem Ge¬ 
richtshöfe geklagt werden. Beide, die Cassations- wie Appellations¬ 
klagen, müssen innerhalb zweier Wochen vomTageder Publikation des 
Urtheiles an gerechnet, bei dem Bezirksgerichte zur weiteren Ueber- 
gabe an das Cassations-Departement resp. den Gerichtshof einge¬ 
reicht werden. * 

Der Gerichtshof sieht in Civil-Sachen die Appellationsklagen 
über die Entscheidungen des Bezirksgerichtes durch; in Criminal- 
Sachen revidirt er dagegen die Voruntersuchungen bei wichtigeren 
Verbrechen, erkennt endgültig entweder auf Verweisung des Ange¬ 
klagten vor das Gericht oder auf Einstellung des Gerichtsverfahrens 
und fallt ebenfalls Entscheidungen über die Appellationsklagen betreffs 
det Urtheile des Bezirksgerichtes.* Alle Entscheidungen des Ge¬ 
richtshofes sind endgültig und sind gegen dieselben nur Klagen 
auf dem Cassationswege 'zulässig, welche in Civil-Sachen innerhalb 
vier Monate, in Criminal-Sachen innerhalb zweier Wochen vom Tage^ 
der Publikation des Urtheiles an gerechnet, eingereicht werden 
müssen. 

Das Civil- und das Criminal-Cassations-Departement des 
Senates. Ersteres sieht die Gesuche um Cassation der von dem 
Gerichtshöfe, dem Bezirksgerichte und dem Friedensrichter-Plenum 
gefällten Civil-Entscheidungen durch und urtheilt über dieselben ab. 
Das Letztere unterwirft die Klagen über die endgültigen Entschei- 


2 


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düngen derselben Gerichtsbehörden in Criminalsachen seiner Durch¬ 
sicht, gleichwie die Gesuche um erneuerte Verhandlung derjenigen > 
Sachen, in welchen das Urtheil bereits gesetzliche Kraft erlangt hat. 
Ueber die Entscheidung des Senates sind in keinem Falle Klagen 
zulässig. 

Als Advokaten können bei den friedensrichterlichen Institutionen 
sowohl geschworene Rechtsanwälte (npHcnacHBie noB'fcpeHrtsie) als 
auch andere Personen fungiren. In den allgemeinen Gerichts-In¬ 
stitutionen jedoch können Privat-Personen bloss an den Orten als 
Advokaten auftreten, an welchen keine genügende Anzahl geschwo¬ 
rener Anwälte vorhanden ist — Klagen gegen geschworene Rechts¬ 
anwälte hinsichtlich ihrer Wirksamkeit werden bei dem Conseil der 
geschworenen Anwälte, deren in jedem Bezirke eines Gerichtshofes 
einer besteht, eingereicht. 


Die staatliche Organisation defc Grossfürstenthums Finnland und 
des Königreichs Polen. 

a) Das GrossfUrstenthum Finnland. 

Im Jahre 1809 wurde Finnland von Russland erobert und durch 
den Friedrichshamner Tractat auf ^wige Zeiten mit dem Russischen 
Reiche vereinigt Kaiser Alexander I. fügte zu den neu eroberten 
Theilen das, bereits seit Peter I. Zeiten zu Russland gehörende 
Wyborger Gouvernement hinzu und Hess dem Ganzen seine alte 
schwedische Verfassung, welche demselben besondere Criminal- 
und Civil-Gesetze, ein besonderes Heer, eigene Finanzen und 
sogar eine besondere Consulats-Vertretung in den russischen Häfen 
sicher stellte.—Nachdem Kaiser Alexander I. Finnlands alte schwe¬ 
dische Constitution bestätigt hatte, führte .er in demselben eine 
Verwaltung ein auf Grundlagen, die von der Ständeversammlung 
zu Borgo angenommen wordeq waren.—Der Thron Finnlands ist 
untrennbar mit dem Russlands vereinigt. Der Kaiser führt den 
Titel eines Gross-Fürsten vo?i Finnland und es kommt ihm die 
höchste Regierungsgewalt zu; er erlässt, auf Vorstellung des Se¬ 
nates, Ergänzungen und Erläuterungen der Gesetze und bestätigt das 
jährliche Budget In den wichtigsten Angelegenheiten der Gesetz¬ 
gebung beruft er den Landtag , dessen Beschlüsse durch die Be¬ 
stätigung des Monarchen gesetzliche Kraft erhalten.—Der Landtag 


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*9 


besteht aus den Vertretern der 4 Stände: des Adels , der Geist- 
lichkeity der Stadtbewohner und der Bauern, welche ln ihrer Ge- 
sammtheit Reichsstände genannt werden. 

Zum Adel gehören die Geschlechter, welche in die Register 
des Ritterhauses eingetragen sind. Das Haupt jedes dieser Ge¬ 
schlechter hat das Recht, an den Sitzungen des Landtages Theil 
zu nehmen. Der Vorsitzende der Adelskammer, der vom Kaiser 
ernannt wird, ist zu gleicher Zeit der Präsident des ganzen Land¬ 
tages. 

Den Geistlichen Stand vertreten die Bischöfe der herrschenden 
(lutherischen) Kirche und die Abgeordneten der Probstbezirke, ihr 
Vorsitzender ist der Erzbischof von Abo. 

Die Kammer der Städte besteht aus Abgeordneten aller Städte 
ohne Ausnahme. 

Die Kammer der Bauern besteht aus Abgeordneten, welche aus 
der Zahl der bäuerlichen Grundbesitzer oder Pächter gewählt werden. 
Die Vorsitzenden der beiden letzten Kammern werden aus der Zahl 
derjenigen Personen ernannt, welche durch den Kaiser dazu aus¬ 
gewählt werden. 

Zur Gültigkeit eines Beschlusses des Landtages genügt die Ueber- 
einstimmung dreier Stände, ausser in Fragen, welche' Verände¬ 
rungen der Grundgesetze, die Erhebung neuer Steuern, die Rechte 
der Stände oder Recrutenaushebungen betreffen. In solchen Fällen 
ist Einstimmigkeit aller 4 Stände erforderlich.—Der Zeitpunkt zur 
Berufung des Reichstages ist nicht bestimmt. 

Die höchste Staat?- und Gerichtsbehörde Finnlands ist der 
Senat , welcher aus nicht weniger als 14 Mitgliedern besteht, die 
von dem Kaiser aus der Zahl der vom Senate vorgestellten Can- 
didaten auf 3 Jahre * ernannt werden. Nach Ablauf dieser 3 Jahre 
hängt es vom Kaiser ab, die Mitglieder in ihrem Amte zu 
belassen. 

Der Senat besteht aus 2 Departements: dem Justiz-Departement 
und Oeconomischen Departement Das erstere bildet die letzte ge¬ 
richtliche Instanz, mit Ausnahme der Fälle von Staats- und Cri- 
minalverbrechen, welche die Todesstrafe nach sich ziehen und dem 
Kaiser zur Durchsicht unterbreitet werden. Das Oeconomische De - • 

partement verwaltet alle Angelegenheiten in Bezug auf Administra¬ 
tion, Finanzen, allgemeine Fürsorge, Censur, Communicationswesen, 
Post, Domänen, Cuhus und Unterrichtswesen.—Ausserdem unter¬ 
breitet es dem Monarchen den Entwurf des Budgets, wacht über 

2* % 


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20 


die gesetzmässige Verausgabung der Staatsgelder, fuhrt die Auf¬ 
sicht über die Bank u. s. w. In wichtigen Fällen treten beide 
Departements unter dem Vorsitze des General-Gouverneurs zu¬ 
sammen. 

Der General-Gouverneur ist der oberste Chef der Administration 
und der Executive. Er unterbreitet die Beschlüsse des Senates 
dem Kaiser und ist der oberste Chef der Polizei; er überwacht die 
innere Ordnung des Landes und kommandirt die Truppen des 
Finnländischen Militärbezirkes. Er bereist- jährlich in Begleitung 
eines Mitgliedes des Oeconomischen Departements und des Pro- 
cureurs des Senates das^Grosstürstenthum zur Revision der Ver- 
waltungs- und Justizbehörden. In Angelegenheiten, welche der • 
Allerhöchsten Bestätigung bedürfen, giebt er, falls, er mit der Ent¬ 
scheidung des Senates nicht übereinstimmt, sein abweichendes Votum 
ab; in Angelegenheiten, welche der Entscheidung des Senates un¬ 
terliegen, kann der General-Gouverneur, falls er mit der Entschei¬ 
dung nicht einverstanden ist, die Ausführung der Beschlüsse des 
Senates nicht aufhalten, doch hat er das Recht, dem Kaiser seine 
abweichende Ansicht in solchen Fällen vorzustellen. Beim Senate 
fungirt ein Procureur, welcher über die Gesetzmässigkeit der Ent¬ 
scheidungen wacht und der berechtigt ist, im Falle, wo der Senat 
gder der General-Gouverneur vom Gesetze abweichen und seine 
Vorstellungen nicht* beachten, dem Kaiser darüber Bericht abzu¬ 
statten. — Alle Vorlagen des Senates und des General-Gouverneurs 
werden dem Monarchen durch den in St. Petersburg weilenden 
Minister-Staats-Secrctair des Grossfürstenthums 'Finnland unterbreitet. 

Die Administration eines jeden Gouvernements besteht aus dem 
Gouverneur, der demselben untergeordneten Gouvernements- 
Kanzlei und dem Gouvernements-Comptoir. Erstere dient zur Er¬ 
ledigung der Executiv-Angelegenheiten, letztere verwaltet die fisca- 
lischen (Krons-) und finanziellen Sachen. 

Die erste Instanz der Gerichte bilden die Kreis - (Stadt-) Gerichte , 
die aus einem Vorsitzenden, 3 juristisch gebildeten Candidaten und 12 
von den Bauern (Städtern) auf ein halbes Jahr gewählten Beisitzern 
bestehen. Aus dem Kreis-Gerichte gehen die Civil-Sachen durch 
Appellation in das Gouvernements- (Lagmaris) Gericht über, welches 
gleichfalls aus einem Präsidenten und 12 gewählten Beisitzern be¬ 
steht.—Die höchste Instanz repräsentiren die 3 Hofgerichte in Abo, 
Wasa und Wyborg. Vor die Hofgerichte gelangen alle Criminal- 
sachen .und die Civil-Appell-Sachen; sie* bestehen aus Präsi- 


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21 


denten, Rathen und Assessoren, die vom Kaiser aus der Mitte der 
Juristen gewählt werden. 

Alle Stände Finnlands geniessen Kraft der Constitution und der 
Allerhöchsten Manifeste persönliche Freiheit, Glaubensfreiheit und 
Gleichheit vor den Gerichten, und können nur allein durch richter¬ 
lichen Spruch des Lebens, der Ehre und des Besitzthums ver¬ 
lustig gehen; — sie besitzen ferner das Recht, in andere Staaten 
überzusiedeln. — Der Adel ist frei von der Kopfsteuer, wird direct 
von dem Hof-Gerichte abgeurtheilt, und kann allein. steuerfreies 
Grundeigenthum besitzen. — Die offizielle Sprache in Finnland *st 
die schwedische. 

b) Die Organisation des Königreichs Polen. 

Durch den Wiener Tractat wurde das frühere Grossherzogthum 
Warschau auf ewige Zeiten dem Russischen Reiche einverleibt, und 
am 27. November 1815 gab der Kaiser, Alexander I. demselben eine 
eigene Constitution. In Gemässheit der letzteren stand die Höchste 
Gewalt dem Monarchen zu; in seinem Namen wurde Recht ge¬ 
sprochen und Gericht gehalten, er war Oberbefehlshaber der Armee, 
bestimmte die Grösse derselben, ernannte alle Spitzen der militak 
, rischen Civil-Institutionen, bestätigte die Bischöfe, erklärte Krieg und 
schloss Verträge. — Zur Verwaltung des Königreiches ernannte der 
Kaiser einen Statthalter, welcher entweder ein Prinz des kaiserlichen 
Hauses oder ein geborener oder naturalisirterPole sein musste. — Die 
Administration war unter 5 Commissionen vertheilt, die unter der 
obersten Leitung des Statthalters standen. Letzterem zur Seite stand 
ein Reichsrath. Die gesetzgebende Gewalt war zwischen dem Mo- 
# narchen und dem Reichstage, der vom Kaiser berufen und ge* 
schlossen wurde, getheilt; doch stand dem Monarchen das Recht 
des absoluten Veto zu. Der Reichstag bestand aus dem Senate und 
der Kammer der Abgeordneten, welche Abgeordnete des Adels, 
der Städte und Bauer-Gemeinden enthielt. Einmal in 2 Jahren ver¬ 
sammelte sich der Reichstag und tagte nicht länger als 30 Tage; er 
berieth die Criminal- und Civilgesetze, das Budget und andere Ad¬ 
ministrativangelegenheiten. Die gesetzgebende Initiative stand nur 
der Regierung zu, doch stand es dem Reichstage frei, seine Bitten 
und Wünsche in Betreff der Wohlfahrt des Landes durch den Reichs¬ 
rath an den Kaiser zu bringen.—Jede Kammer des Reichstages wählte 
zur vorläufigen Berathung der Gesetze 3 Commissionen, welche ihre 


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22 


Bemerkungen zudenGesetzesprojecten demReichsrathe einschickten* 
dieser berücksichtigte dieselben, oder legte die Projecte in unver¬ 
änderter Fassung den Kammern vor. —In Folge der Revolution des 
Jahres 1830 wurde die Constitution von 1815 aufgehoben und dem 
Lande ein neues organisches Statut gegeben. Dieses hob den Senat 
und die Kammer der Abgeordneten, die Unabsetzbarkeit der Richter 
und die besondere polnische Armee auf und führte die Confiscation 
des Vermögens für Staatsverbrechen ein. — An die Spitze der Re¬ 
gierung wurde der Statthalter und der Regierungs-Rath (npaBHTejib- 
CTBeHHMft coB'k'n») gestellt, welcher letztere seine Beschlüsse, die 
jedoch vom Statthalter, im Falle der Nicht-Zustimmung in der Aus¬ 
führung aufgehalten und dem Kaiser vorgclegt werden konnten, 
nach Stimmenmehrheit fasste. Anstatt der früheren 5 Regierungs- 
Commissionen bestanden noch 3: a) für die inneren und geistlichen 
Angelegenheiten und die Volksaufklärung, b) für die Justiz, und c) für 
die Finanzen. Neben c}em Regierungs-Rathe blieb der Reichsrath in 
Thätigkeit. Seine Geschäfte bestanden hauptsächlich in Durchsicht 
der Gesetzesprojecte und des jährlichen Budgets. In der Folgezeit 
ging der Reichsrath ein und wurde an seiner Stelle das Departement 
für die Angelegenheiten des Königreiches Polen beim Reichsrathe 
des Gesamintreiches eingesetzt; das Ressort der Volksaufklärung 
wurde unter dem Namen des Warschauer Lehrbezirkes dem Minister 
der Volksaufklärung untergeordnet, und an Stelle des früheren 
oberen Gerichtshofes wurden die Departements IX und X des Dirigi- 
renden Senates gebildet. An Stelle der früheren Eintheilung in Woje¬ 
wodschaften wurde das Königreich in 5 Gouvernements eingetheilt. 

Durch Ukase vom 14. März und 24. Mai 1861 stellte der 
Kaiser Alexander II. den Reichsrath des Königreiches wieder 
her. Die Mitglieder desselben ausser den Ministern wurden aus 
der Mitte der» höchsten Geistlichkeit, aus der Zahl der Vor¬ 
sitzenden der Directionen für die Bauer-Creditgenossenschaften 
und der Präsidenten der Gouvernements-Conseils, sowie auch 
aus anderen Personen nach Gutdünken des Monarchen gewählt. 
Ferner wurden Gouvernements- und Kreis-Conseils eingesetzt, 
denen die Sorge für die Entwickelung des Ackerbaues und des 
Handels, für das Communikationswesen, die Versorgung der Armen, 
die Wohlthätigkeits- und Strafanstalten und die öffentlichen Arbeiten 
übergeben wurde. Die Kreis-Conseils hatten das Recht, am Anfänge 
eines jeden Jahres ihre Bemerkungen über die Lage des Kreises 
während des vergangenen Jahres und ihre Vorschläge in Betreff 


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_23__ 

der Abhülfe öffentlicher Nothstände einzureichen; ferner wählten 
sic aus der Zahl der Wähler je drei Candidaten für das Amt der 
Friedensrichter, für das der Conseilsmitglieder, der Wohlthätig- 
keitsanstalten u. s. w. — Diese Entvvickelungsperiode wurde durch 
den Aufstand des Jahres 1863 unterbrochen. — In Folge desselben 
wurde der Ukas vom 19. Februar 1864 erlassen, durch welchen 
der Zwangsverkauf eines Theiles des Grundbesitzes zum Besten 
der Bauern, die Aufhebung der von den Gutsbesitzern eingeführ¬ 
ten Abgaben und die Organisation der Wolost-Gemeinde-Verwal- 
tung anggordnet wurden. Es folgte ferner der Erlass in Betreff 
der Reform des Unterrichtswesens im Königreiche ^olen^ durch 
welchen die Schulen der katholischen Geistlichkeit aus der Hand 
genommen und in gleicher Linie mit den polnischen, russische und 
deutsche Schulen zugelassen wurden. Die Organisation der katho¬ 
lischen Geistlichkeit wurde reformirt und neue Grundsätze für die 
geistliche Verwaltung der unirten Griechen eingeführt, die Finanz¬ 
verwaltung umgeformt und das Budget des Königreiches mit dem 
des Gesammtreiches vereinigt. Endlich wurden alle besonderen 
Institutionen des Königreiches aufgehoben und allö Zweige ihrer 
Verwaltung den entsprechenden Ministerien untergeordnet. Gleich¬ 
zeitig wurde das Königreich Polen anstatt der früheren 5 Gouver¬ 
nements und 39 Kreise zur Erleichterung der Administration in 
10 Gouvernements und 85 Kreise cingctheilt. 



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Das Russische Turkestan. 

Seine Bevölkerung und seine Süsseren Beziehungen- 

. * __ 

* 

1. Exeiodnuxt . MaTepiajiw a-i* ctuthcthkh TypicecTaHCsaro Kpa*. IfeAaHie Typic. 

Ctethct. KoMHTera iioat» peAaicuieio H, A. Maesa . BhinycKi» I. 1872. —Jahrbuch. 
Materialien zur Statistik von Turkestan. Herausg. vom Turkestanischcn Statistischen 
Bureau unter der Redaction von N . A . Majew . Lieferung L 1872. IV-}-133+237 
SS. 8° Mit einer Karte von Turkestan. '• 

2. Pyccxiü TypKCcmaus. CÖopHHKT» ii3AaBaeMUft no noBOAyllojinTexHHMecKOftBwcTaBKH. 

Bbinycvb L Teorpa^ia m CTaTMcniKa, iioat» peAaauieio H. A . Maeea . Mocxna, 
1872. Das Russische Turkestan. Ein Magazin, herausgegeben bei Gelegenheit der 
Polytechnischen Ausstellung. Erste Lief. Geographie und Statistik. Redigirt von 
N. A . Majnu. Moskau 1872. 133 +- 46 SS. 8°. Auszug aus No. 1. 

3. TypuecTancKiH BkAOMoeTH 3a 1869—71 r. Turkestanische Zeitung für 1869—71. 

4. B. IJ. BacuAbeea. ßirfe KUTakcxia 3anacKH o naAemii KyAbAacii h o 3aHjrrin ea 

PyccKHMM. Zwei Memoranda eines Chinesen über den Fall von Kuldsha und seine 
Einnahme durch die Russen. Von W. P. IVassiljau. Siehe „Russischer Bote“. 
(Pyccxift B'fccTHHK'b) herausg. von M, Katkow. 1872. Mai. Seite 130 —191. 

5. Visits to High Tartary, Yärkand, and Käshgar. By Robert Shaw , British Commis- 

sioner in Ladäk. With Map and Illustrations. London 1871. XV + 486 SS. 8°. 

6. Travels of a Pioneerof Commerce in Pigtail and Petticoats: or, an Overland Journey 

from China towards India. By 7 \ T. Cooper y Late Agent for the Chamber of Com¬ 
merce at Calcutta. With Map and Illustrations. London. 1871. XIV+475 SS. 8*. 


Die Geographie unserer turkestanischen Provinzen wird nach 
Maassgabe der Veröffentlichung unserer eigenen Forschungen über 
diesen Gegenstand auch dem Auslande bekannt. Petermann’s „Mit¬ 
theilungen“, das „Journal“ und die „Proceedings“ der Londoner Geo- 
graphical-Society, die Berliner „Zeitschrift für Erdkunde“, das „Bulle¬ 
tin“ der Pariser Soci^te de Geographie, die „Annales des Voyages“ 
und andere der Erdkunde gewidmete Zeitschriften vermitteln in 
Uebersetzungen # und Referaten die Bereicherungen, welche die 
wissenschaftliche Erdkunde den Arbeiten unserer Forscher in Tur- 


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25 


kestan verdankt. -Wem also die Kenntniss der russischen Sprache 
abgeht, der kann dennoch ziemlich genau über den gegenwärtigen 
Stand der Geographie unserer centralasiatischen Besitzungen sich 
unterrichten. 

Anders aber ist es in der ausländischen Presse mit der Auffassung 
derjenigen historischen Thatsachen bestellt, welche die von uns in 
Centralasien unternommenen geographischen Förschungfen erst er¬ 
möglichten. In Betreff der centralasiatischen Frage ist das Urtheil 
über uns im Westen Europas -nicht selten ein befangenes, ein von 
vorgefassten Meinungen oder gar Mythen (wie z. B. dem Mythus von 
einem Testamente unseres grossen Reformators) beeinflusstes. Un¬ 
zureichende Kenntniss der Geschichte Russlands, namentlich seiner 
Beziehungen zu den östlichen Nachbarländern, sowie Unbekanntschaft 
mit den nur dem Fachmanne zugänglichen Quellen zur Geschichte 
Centralasiens, erschweren dem Publicisten wie dem berichterstatten¬ 
den Reisenden im Orient das zutreffende Urtheil in der bezeichneten 
Frage, und dennoch begeben sich Beide immer von Neuem auf die¬ 
ses Gebiet, vielleicht eben nur deshalb, weil sie auf demselben sich 
noch nicht hinreichend orientirt haben. 

Ueber diese sogenannte Frage ist, wie Oscar Peschei unlängst sehr 
richtig bemerkte, viel überflüssiges Papier verdruckt worden. Gewiss 
ist, dass die ihr gewidmeten Pamphlete und Aufsätze den Gang der 
Ereignisse in Centralasien nicht aufhalten werden, denn dieselbe ist 
bedingt von einer Jahrhunderte, ja Jahrtausende zählenden Ver¬ 
gangenheit, die sich in den gegenwärtigen ethnischen Verhältnissen 
zum Theil noch abspiegelt. Es ist daher zu bedauern, dass die 
wissenschaftliche Erforschung des Russischen Turkestan bisher fast 
nur auf das Einheimsen geographischer Thatsachen, geobotanische 
und zoogeographische Beobachtungen.nicht ausgeschlossen, sich be¬ 
schränkte. Weniger reich, ja sehr spärlich ist die bisherige Ausbeute 
an anthropologischem und ethnologischem Stoff aus jenen Erd¬ 
regionen. Der Grund dazu liegt wohl darin, dass die Befähigung zu 
derartigen Studien nur durch eine sehr vielseitige wissenschaftliche 
Bildung erworben wird und überhaupt. der Erfolg dieser Studien 
von einer speciellen Vorbereitung für das specielle Gebiet, in dem 
sic angestcllt werden sollen, bedingt ist. Der reisende Geograph und 
der reisende Naturforscher, sobald sie befähigt sind, Beobachtungen 
für ihre Wissenschaften anzustellen, sind damit auch in jeder Erd¬ 
gegend dazu befähigt. Anders ist es mit dein Anthropologen und > 
Ethnologen. Je nach dem Lande werden ihre Vorstudien für die 


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26 


Reise verschieden sein müssen. Ausser Sprachfertigkeit ist von 
ihnen ein Vertrautscin mit den gegenwärtigen Zielen der Linguistik 
und genaue Bekanntschaft mit den zahlreichen, und für Asien zum 
Theil nur in Handschriften zugänglichen, historischen Quellen zu 
fordern. 

Die einzelnen, nicht zahlreichen historischen und ethnographischen 
Aufsätze,* die wir’ in der „Turkestanischcn Zeitung“ gelesen, sind 
wenig befriedigend und lassen bei ihren Verfassern die angedeuteten 
Vorbedingungen zu ethnologischen Studien vermissen«, Als eine 
Vorarbeit für das künftige Erforschen der ethnischen und socialen 
Verhältnisse Turkestans müssen uns die statistischen'Daten in dem 
eben erschienenenTurkestanischen, Jahrbuch“einstweilen willkommen 
sein, wenn man auch annchmcn darf, dass das hier gebotene stati¬ 
stische Material noch lange nicht ein ganz zuverlässiges sei, wie das 
auch nicht anders zu erwarten ist aus einem Lande, wo der grössere 
Theil der Bevölkerung aus Nomaden besteht und wo die Administra¬ 
tion erst eben begonnen hat sich einzurichten. Für eine der Wahr¬ 
heit sich nähernde Auffassung der dortigen Verhältnisse im Grossen 
und Ganzen gewährt dieses Material dennoch manche Anhaltspunkte. 

Die am zahlreichsten iiii Russischen Turkestan vertretene Natio¬ 
nalität sind die Qazag, die sogenannten Kirgisen oder Kirgis-Kais- 
saken. Im Sir-Darja-Gebiete, mit Ausschluss der Kreisstädte und 
der Garnisonen der Festungen, bilden sic in 3 en nördlichen Kreisen, 
Kazalinsk und Peroivsk , die ganze Bevölkerung. Im ersteren sollen 
sic in 12,358 Zelten leben, von denen 4,935 von Ackerbau treiben¬ 
den Qazaq (Igintschi) bewohnt sind. Im Durchschnitt kann man fünf 
Individuen beiderlei Geschlechts, Erwachsene und Kinder, auf die 
Familie rechnen. Bei solcher Annahme betrüge die Qazaq-Bevöl- 
kerung des Kreises Kazalinsk 61,790 Individuen beiderlei Geschlechts* 
Im Kreise Perowsk hat man bis jetzt 20,018 Zelte gezählt, was bei 
der obigen Annahme von fünf Personen für das Zelt 100,090 Indi¬ 
viduen beiderlei Geschlechts ergäbe. Im Kreise Tschemkend zählt 
eine Angabe 31,401 Zelte nomadischer Bevölkerung, bestehend aus 
Qazaq von der Grossen Horde, eine andere Angabe 30,391 Zelte. 
Das ergäbe 151,000 bis 157,000 Individuen beiderlei Geschlechts. 
Eine dritte Angabe zählt aber nur 104,705 Individuen beiderlei Ge¬ 
schlechts, während die allgemeine Uebersichtstabelle für das Sir- 
Darja-Gebiet im „Jahrbuch“ Abth. II, S. 4—5, 152,695 Individuen 
beiderlei Geschlechts angiebt, was bei der Annahme der angeführten 
Bewohnerzahl für das Zelt, 30,539 Kibitken ergäbe. Im Kreise Aulie- 


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27 


Ata zählt man 25,380 Zelte, mithin 126,900 Individuen beiderlei Ge¬ 
schlechts. Der grössere Thcil dieser Nomaden, die übrigens wie die 
des Kreises Tschcmkcnd, auch Felder bebauen, besteht aus Qazaq 
von der Grossen Horde, die übrigen sind echte Qirghiz , oder soge¬ 
nannte Karakirgisen. Eine andere Angabe giebt für die ersteren 
73,175 Individuen beiderlei Geschlechts, ftir die zweite Nationalität 
28,850 Individuen beiderlei Geschlechts an. Im Jahre 1867 schätzte 
man, nach dem Berichte des Professors an der hiesigen Kriegs-Aka¬ 
demie, Generals A. Makschejew *), die Qazaq im Kreise Aulie-Ata auf 
8,200 Zelte, die Qirghiz auf 2,250 Zelte, — Angaben, die freilich zu 
niedrig gegriffen wären, doch ungefähr dasselbe Zahlenverhältniss 
zwischen beiden Volksstämmen in diesem Kreise andeuteten. 

Im Kreise Qnrama zählt man 39,000 bis 41,000 Familien Qazaq 
in Höfen und Zelten (die Angaben im „Jahrbuch“ lauten: 39,008, 
39,225 und 40,862) und zwischen 195 bis 286 Tausend Individuen 
beiderlei Geschlechts (195,535, 273,105, 274,099, 286,034). Bei der 
Angabe von 39,008 Zelten und Höfen werden den Nomaden 12,375 
Familien zugewiesen. Es sind, mit Ausnahme einer kleinen Anzahl 
von Uezbeken, Qazaq von den drei Horden, und die grösste Anzahl 
gehört der Grossen Horde an. Im Jahre 1867 gab Makschejew 8,255 
Zelte bei den heutigen Qazaq an — 6,660 von der Grossen Horde, 
565 von der Mittleren Horde und 1,030 von der Kleinen Horde. Die 
Angabe von 195,535 Individuen beiderlei Geschlechts zählt davon 
102,625 für Qazaq, die übrigen zu den ansässigen Qurama, Uezbeken 
und Sarten. 

Im Kreise Khodschehd leben keine Qazaq, wohl aber Qirghiz; im 
Kreise Dizakh wurden 2,100 Qazaq beiderlei Geschlechts angegeben. 
Einer anderen Angabe zufolge sollen hier 11,200 Personen beiderlei 
Geschlechts von diesem Volke leben, doch bezieht sich diese gewiss 
auf die Gesammtzahl der Nomaden im Kreise, zu denen ausser den 
Qazaq'auch Uezbeken und Turkmenen gehören. Im Ganzen noma- 
disiren also über 100,000 Familien Qazaq im Sir-Darja-Gebiet, die. 
nach obigen Zusammenstellungen in den einzelnen Kreisen in fol¬ 
genden Verhältnissen yertheilt wären. Wir geben runde Zahlen: 


Siche dessen Teorpa^HMecKie, STiiorpasuinccKie h CTaTiicTimecKie MaTcpia.ibi o 
TypKCCTaucKoM-b Kpat (d. i. Geographische, ethnograplii>chc und statistische Mate¬ 
rialien aus Russisch-Turkestan) in dem II. Bande der Denkschriften der Kais. Russ. 
Geographischen Gesellschaft, Section für Statistik. Bd. II. 1871. 


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28 


Kreis Tschemkend 31,000 Familien zu der Gr. H. gehörig, 


» 

Perowsk. . . 

20,000 

» 

» * Kl. u. M. H. gehörig, 

» 

Aulie-Ata. . 

18,000 

» 

* * Gr. H. gehörig, 

* 

Kazalinsk . . 

12,000 

» 

* » Kl. H. 

» 

Qurama. . . 

12,000 

» 

» » Gr.M.u.Kl.H. geh., 

» 

Dizakh . . . 

400 

» 

> 


Khodschend 

— 

» 

_ 


• In den Kreisen des Gebietes von Semiretschje sind die Qazaq in 
den Kreisen Kopal , Wemoje> Ssergwpol und Toqntaq vertreten. 

Im Kreise Kopal> wo die nomadisirende Bevölkerung ausschliess¬ 
lich aus Qazaq besteht, zählt man ihrer ca. 24,000 Kibitken — 
23,881 und 24,435 sind die Angaben. 

Im Kreise Wemoje zählt eine Angabe 24,055 Zelte, eine andere 
nur 19,403 Zelte. Makschejcw nahm im Jahre 1867 25,073 Zelte von 
der Grossen Horde der Qazaq in diesem Kreise an. Der südliche 
Theil desselben soll aber von Qirghiz bewohnt sein. 

Im Kreise Ssergiopol sollen nach einer Angabe 20,076, nach einer 
andern 23,881 Familien nomadisiren. Die Individuenzahl beiderlei 
Geschlechts wird auf 74,745 und 91,963 angegeben. Einige wenige 
Kalmücken abgerechnet, sind die hiesigen Nomaden alle Qazah von 
der Mittleren Horde. 

Im Kreise Toqtnaq zählt man 25,070, nach einer zweiten Angabe 
25,599 Familien Nomaden. Von ersterer Zahl sind 7,296 Familien 
Qazaq von der Grossen Horde, 17*774 Familien aber Qirghiz. 

' Es ergäben sich also für die Qazaq im Gebiete von Semiretschje 
ungefähr 80,000 Familien, die sich in folgenden Zahlen auf die ein¬ 
zelnen Kreise vertheilen würden: 

Kreis Wernoje . . 25,000 Familien zu der Gr. H. gehörig, 

» Kopal .... 24,000 * * » M. H. » 

* Ssergiopol . 24,000 » » » M. H. » 

» , Toqmaq. . . 7,000 * » » Gr. H. » , 

* Isi-Kul. ... — » » » — 

Die Qirghiz (Berg-Kirgisen oder Schwarze Kirgisen bei uns ge¬ 
nannt) sind am Geringsten in zwei Kreisen des Sir-Darja-Gebietes, 
Khodschend und Dizakh , vertreten. Im ersteren giebt es deren nach 
den Angaben von A. A. Kuschakewitsch *) 856 Familien* in letzterem 

*) Siche dessen CBdsAhmH o Xo^/Kchckomt» ykaAh, d. i. Nachrichten über den Kreis 
von Khodschend. in den Denkschriften der Kais. Kuss. Geographischen Gesellschaft, 
Section für mathematische und physische Geographie. Bd. IV. Seite 175 — 265- Mit 
2 Karten. 


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2 g 


nach den Angaben von A. /. Makschejew — 300 Familien. Gewiss 
scheint, dass ihre Zahl in diesen Kreisen eine sehr geringe ist. 

Im Kreise Aulie-Ata giebt es nach dem „Jahrbuch“ von denQirghiz 
28,850 Individuen beiderlei Geschlechts, wie wir bereits oben an¬ 
führten. Wir nehmen 6000 Familien für sie in diesem Kreise an. 

Dass dieser Volksstamm auch im Süden des Kreises Wemoje ver¬ 
treten ist, haben wir ebenfalls erwähnt. Ueber die Stärke seiner hie¬ 
sigen Ausbreitung können wir uns kaum Vermuthungen erlauben, 
da unsere Administratoren nicht immer auch zugleich Ethnographen 
sind. * ' 

Für den Kreis Toqmaq giebt, wie Wir oben bereits anführten, 
unsere officielle Statistik 25,070 Nomadenfamilien an. Aus der Auf¬ 
zählung der einzelnen Stämme und Geschlechter in den einzelnen 
Wolosten, denen sie in administrativer Beziehung eingereiht sind, 
lassen sich die zu 13 Wolosten dieses Kreises zugehörigen Nomaden 
als Stämme und Geschlechter der Qirghiz erkennen mit einer An¬ 
zahl von 17,774 Familien. 

Endlich sind die Qirghiz noch im Isi-Kul-Kreise vertreten, wo als 
Nomaden 9,908 Familien angeführt werden, welche alle dem in Rede 
stehenden Volksstammc angehören sollen. Die Zahl der Individuen 
beiderlei Geschlechts wird dabei mit 41,309 angegeben. 

Wenn wir also vom Kreise Wemoje absehen, ergäbe sich für die 
übrigen in Russisch-Turkestan vertretenen Qirghiz die Gesammtzahl 
von 34,848 Familien. Ein Aufsatz in der,,Turkestanischen Zeitung“ von 
1870 schätzt die Gesammtzahl der Qirghiz im ganzen General-Gou¬ 
vernement auf 150,000 bis 200,000 Individuen beiderlei Geschlechts. 
Nach demselben Aufsatze leben sie in den Bergen und viele von 
ihnen sollen sich mit dem Ackerbau beschäftigen. 

Stellen wir wieder unsere Ermittelungen in runden Zahlen über¬ 
sichtlich dar: 


Kreis Dizakh . 

0>A 

•8 

Familien, 

* Khodschend. . . 

. . . 9OO 

» 

» Aulie-Ata . . . 

. . . 6,000 

» 

* Wernoje. 

? 

» 

» Toqmaq . 

. . . 18,000 

■ » 

» Isi-Kul . 

. . . 10,000 

» 


Noch schwieriger als die Bestimmung der Zahl der Qirghiz und 
Qazaq ist die Erstellung der üzbekischen Bevölkerung, weil erstens 
angesiedelte Uezbeken oft für Sorten gelten, und dann weil im 
Qurama-Kreise, wo die Qurama für Uezbeken gelten, dieselben nicht 


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SQ 

allein mit Sorten, sondern auch mit ansässigen Qazaq gemischt sind. 
Wir wollen übrigens hier gleich bemerken, dass der Name Sart un¬ 
serer Ueberzeugung nach von Hause aus durchaus keine ethnische Be¬ 
deutung gehabt hat, sondern, wenn der Ausdruck in diesem Falle 
erlaubt ist, eine kulturhistorische , und bis jetzt dieselbe auch bewahrt 
hat. Wir erlauben uns hier einen kleinen Excurs über diese ethno¬ 
graphische Bezeichnung. 

Schon ziemlich früh tritt der Name Sart in den Niederungen des 
Sir, Silis bei Plinius d. J. («.... flumine Jaxarte, quod Scythae Silin, 
vocant» heisst es bei ihm VI, 18) auf. Wir finden ihn dort bei Pto- 
lomäos in der Form Iaxartäi , womit der Alexandriner ein grosses 
Volk an dem gleichnamigen Flusse bezeichnet. Ihre Wohnsitze 
weist er ihnen an demselben dort an, wo er nach ihm in der Nähe 
der Tapurischen Gebirge eine andere Richtung annehmen soll. Unter 
diesem Gebirge ist, wenigstens zum Theil, der jetzige Qara-Tau zu 
verstehen, in dessen Nähe der Sir jetzt statt der bisher nördlichen 
eine nordwestliche Richtung einschlägt. Dieser Name Tapurisches 
Gebirge tritt später, im XIII. Jahrhundert, unter der Form Tauros 
auf, und zwar in dem Reiseberichte des armenischen Fürsten Khe - 
tum, welchen uns der armenische Historiker Kirakos von Gandscha 
auf bewahrt hat Khetum nennt den Qara-Tau Khartschukh , von dem, 
wie er sagt, die Seldschuken ausgingen und der ein Ausläufer des 
Taurischcn Gebirges ist und bei Partschin endet. Dieses Partschin 
finden wir am Qara-Tau bei Plano Carpini in der Form Barchin 
(.Barschin zu lesen?) und bei einem arabischen Gelehrten des XIV. 
Jahrhunderts in einer Schreibweise überliefert, die Bardschend zu 
lesen wäre. 

Feste Ansiedelungen und Städte waren im unteren Stromgebiete 
des Sir in alter Zeit viel zahlreicher als jetzt. Das alte Faräb oder 
das spätere Otrar , wo Timur starb, an der Mündung des Aris in den 
Sir, und Saurän, das Sab ran der arabischen Geographen, 50 Werst 
nördlich von der jetzigen Stadt Turkestan, wo sich über dem Grabe 
des Heiligen Ahmed Jassawi (Turkes^n hiess früher Jassy) ein 
Prachtbau Timuris erhebt, waren einst volkreiche Städte, von denen 
. jetzt nur wenige Ruinen vorhanden sind. In der Gegend zwischen 
dem jetzigen Kazalinsk und dem Fort Nr. 2 lag, nach meinen anti¬ 
quarischen Untersuchungen in den Niederungen des Sir, die Stadt 
Dschendy nicht Dschond,, wie Deguignes u. A. sclfreiben, wo der 
Stammvater der Seldschukidcn zumlsiam übertrat und starb. Jetzt 
finden sich von dieser ebenfalls früher zahlreich bevölkerten Stadt, 


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G< .gle 



3* 


die am rechten Ufer des Sir Jag, nur wenige Schutthügel und die 
fragmentarischen Ueberreste einiger mit arablschcn-Inschriften ver¬ 
sehener Grabsteine. Die Ziegel von den Gebäuden der alten Stadt, 
die von dem Heere, welches Dschingiz-Khan im Jahre 616 der Hi- 
dschret (1219 n. Chr.) unter Anführung seines Sohnes Dschudschi 
von Otrar aus in die Niederung des Sir schickte, gründlich geplün¬ 
dert wurde, sind zum grossen Theil von den modernen Qazaq dieser 
Gegend zu plumpen Mausoleen über den Gräbern ihrer Väter ven. 
braucht worden. Sonst tritt Dschend noch in der Geschichte der 
Khowarczm-Schahc im XII. Jahrhundert auf, wo auch die Niederungen 
des Sir von den Ufern des Oxus aus . beherrscht wurden. Nach 
Dschingiz-Khan’s Zeit geschieht der Stadt Dschend in den Quellen 
zur Geschichte dieser Gegend nicht mehr Erwähnung. 

Ich habe hier nur der bedeutendsten Städte Erwähnung ge- 
than. Die Beschreibungen des Feldzuges Dschudschis und die 
Reise des erwähnten armenischen Fürsten zählen in den Gegen¬ 
den, wo wir die Wohnsitze des grossen Volkes der Jaxartai des 
Ptolomaeos zu suchen haben, der Städte noch mehrere auf. Plano 
Carpini und sein Begleiter Pater Benedict, die 25 Jahre nach 
Dschudschi’s verheerendem Feldzuge jene Gegenden besuchten, 
berichten, viele zerstörte Festungen und entvölkerte Städte dort 
gesehen zu haben. Die Städte und auch die Weiler, die gewiss 
nicht gefehlt haben, sind in jenen Gegenden gänzlich geschwun¬ 
dem — nur in Qaratau haben sich einige erhalten — seitdem die 
Uezbeken Beherrscher von Transoxanien wurden. Anders war cs 
dort, als die Araber die Länder jenseits des Oxus kennen lernten. 
Ihre ältesten Geographen zählen viele feste Ansiedelungen nörd¬ 
lich von der Provinz Sch&sch (dem jetzigen Taschkend) auf. Aus 
dem südlichen Transoxanien ausgewanderte iranische G§lonen hat¬ 
ten seit den frühesten Zeiten angefangen im Norden sich nieder¬ 
zulassen. Aus dem grossen Strome, so jvie aus seinen Zuflüs¬ 
sen und den Gebirgsbächen konnte der. trockene Boden leicht ge¬ 
wässert werden. Der Ueberschuss des Bodenertrages und der 
Städteindustrie fand Absatz bei den benachbarten Nomaden, welche 
die Städte besuchten, um ihr Vieh gegen die Producte des Land- • 
baugrs und des Handwerkers einzutauschen. So wie es jetzt auf 
den Bazaren von Aulie-Ata, Turkestan und andern in Mitten einer 
no madisirenden Bevölkerung liegenden Städten an Markttagen von 
berittenen Qirghiz und "Qazaq wimmelt, eben so bildeten hier in 
ältesten Zeiten die Städte Anziehungspunkte für den in Zelten 


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32 


lebenden Viehzüchter. . In der Zeit,. auf die sich die Nachrichten 
des alexandrinischen Geographen über die ,,Scythia intra Jmaum“ 
beziehen, war die nomadische Bevölkerung daselbst noch keine 
türkische. Der Vordrang türkischer Hirtenstämme aus dem In¬ 
nern Asiens begann erst später, wahrscheinlich nicht vor dem 
fünften Jahrhundert n. Chr. Die Massageten, die scythischen Stämme, 
die am Jaxartes lebten, waren iranische Nomaden, eben so wie 
die Daher, die südlich vom untern Lauf des Oxus (Amu-Darja) 
lebten. Die Städtebewohner, überhaupt die fest angesiedelten 
Landbauer, im Gegensätze zu sich, den umherstreifenden Hirten, 
benannten sie gewiss mit einem gemeinschaftlichen Worte. Ein 
solcher Collectivname tritt uns nun auch entgegen in dem der 
ptolomaeischen Iaxartai , in dessen zwei letzten Silben, — xartai , 
wir es mit dem Repräsentanten eines altiranischen Stammes kksa - 
tra zu thun haben. Von diesem Stamme findet sich die neuere 
Form in dem neupersischen shchr (sh-sch) d. i. Stadt Das h vor 
dem r in diesem letzteren Worte ist Vertreter einer aspirirten 
Dentalis, zu der sich das ursprüngliche t, wie es das Iranische 
besonders vor r liebt, verändert hatte. In — xartai ist also eine 
v Umstellung (Metathesis) der Lautgruppe tr vor sich gegangen, 
die pbrigens in iranischen Sprachen, namentlich im Ossetischen, 
nicht selten ist Die Anlautssilbe des Namens Jaxartai, ja — be¬ 
trachte ich als Vertreter eines Pronomiilalstammes, für den im 
Altpersischen (in der Sprache der Keilinschriften der Achemeni- 
den) hja und tja , im Zend aber ja gebräuchlich war. Jaxartai ist 
also griechische Wiedergabe nicht einer Wortbildung, sondern ei¬ 
nes Satztheiles, welcher im Munde des iranischen Scythen *der zur 
Stadt Gehörige » bedeutet hätte. Ob am Ende sirfi ein Ajectivsuffix, 
etwa ja, nock befand, ist kaum zu entscheiden. Dem Fluss ist dann 
derselbe Name gegeben. Man sprach von einem «Lande der Städ¬ 
ter» und einem «Flusse der Städter.» Von den iranischen Nomaden 
überkamen später die türkischen Nomaden das Wort Sart als Be¬ 
zeichnung für die ansässigen Einwohner im untfem Stromgebiete des 
Sir. Datier finden wir ihn noch später bei Uezbeken und Qazaq. 

• Es ist bemerkenswerth, dass die in Rede stehende Bezeichnung sich 
nicht auf die angesiedelten Einwohner Sogdiana’s erstreckt hat Hier 
gilt der Name Tadschik , über dessen Ursprung man verschiedene 
Meinungen und Vermuthungen ausgesprochen hat. Soviel ist ge¬ 
wiss, dass er im XIII. Jahrhundert nach Chr. schon im Gebrauch 
war. Bei den persisch ‘schreibenden Historikern Dschingiz- 


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13 


khan’s heisst Mawerennahr (Transoxiana) und die südlich an das¬ 
selbe grenzenden Länder — das Land de» Tadschik. Seit der¬ 
selben Zeit wird damit ein das Persische Redender bezeichnet. 
Die Historiker, die im südlichen Transoxanien nach der angege¬ 
benen Zeit ihre Bücher geschrieben, gebrauchen das Wort Tod - 
scltik im Gegensatz zu Türke. Das Wort Sart kennen sie nicht 
So z. B. der Verfasser des Scheref-name-i schähl, einer Geschichte 
des Abdu-l-lah-khan von Buchara (Ende # des .XVI. Jahrhunderts). 
Ebenso ein viel späterer Schriftsteller, der die Begebenheiten in 
Buchara im vorigen Jahrhundert schildert 

Nicht weniger bezeichnend ist, dass der Name Sari, während er im 
Centrum Transoxaniens ungebräuchlich ist, im Osten und Westen 
auftritt. In Khokand, in Kaschgar und in Khiwa finden 
wir ihn angewendet. Von Historikern finden wir ihn bei 
dem in Khokand geborenen Sultan Baber und bei dem in 
Khiwa geborenen Abulghazi. Letzterer in seiner „Türkische 
Stammtafel“ betitelten Geschichte von Khowarezm (Khiwa), die 
er im XVII. Jahrhundert schrieb, spricht von Tadschiken nur da, wo 
es sich nicht um Einwohner des von ihm beherrschten Landes, sondern 
um das heutige Buchara handelt. Die persische Sprache nennt er 
Tadschikiy nicht allein das Bucharisch-Persische, sondern die persi¬ 
sche Schriftsprache überhaupt. Die Bezeichnung Sart gebraucht $r 
für die ansässige Bevölkerung in seinem Lande, im Gegensatz zu 
den herrschenden Uezbeken, denen er selbst angehört Sultan Ba¬ 
ber erwähnt der Sarten, wo er von der Bevölkerung einzelner 
Städte und Districte in Ferghänä (dem jetzigen Khokand) spricht 
So besteht nach ihm die Bevölkerung von Marghinan (Marghilan) aus 
Sarten. In Asfera, westlich von Marghinan, sind die Bewohner Sar¬ 
ten und Ko/d, d. h. Gebirgsbewohner, nach Nazarow, der jene 
Gegenden i.J. 1813 besuchte, Gebirgstadschik> auch Galtscha genannt 
Das Wort Tadschik kann ich mich nicht erinnern, bei Baber vor¬ 
gefunden zu haben. Er gebraucht augenscheinlich das Wort Sart 
für die iranische Bevölkerung. Im Jahre 1867 fand ich in Auiie- 
ata Auswanderer aus Marghinan, deren .Sprache das Tadschiki, 
das centralasiatische Persische war. 

Der Name Sart für die Städtebewphner, feste Ansiedler (Land¬ 
bauer, Handwerker und Handelsleute) hat sich also vom Norden 
des Sir, das heisst von seinen Niederungen an das Flussgebiet hin¬ 
auf verbreitet Am Amu-daija finden wir die Bezeichnung nur im 
Gebiet von Khiwa. • 

• 3 


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u 


Robert Shaw in seinen anziehenden Schilderungen aus Yarketid 
und Kaschgar hat den Begriff, «der mit dem Worte Sart zu verbinden 
ist, ganz richtig aufgefasst. Er sagt: ,,Unter den verschiedenen 
Stämmen, welche Turkestan bewohnen, sind zweierlei Gegensätze 
zu beobachten. Der eine ist der von Turk und Tadschik oder von 
tatarischem und arischem Blute; der andere ist der von nomadisiren - 
der und angesiedelter Bevölkerung — oder Qirghiz und Sarten. Zu 
den ersteren gehören, ausser Qirghiz, Qazaq, Qiptschaq, Qara-qal- 
paq u. a. Zu den letzteren, den Sarten, gehören sowohl die ari¬ 
schen Tadschik als die tatarischen Uezbeken und andere.“ 

Das türkische Blut drang in die ansässige iranische Bevölkerung 
zunächst dort, wo diese in unmittelbarer Berührung mit den Noma¬ 
den türkischen Stammes sich fand. Wie wir oben sahen, geschah 
es in jener Gegend, wo nachPtolomaeos fozjaxartai lebten. Im IX. u. 
X. Jahrhundert n. Chr. war der in der Nähe der Sirmündung lebende 
Türkenstamm unter dem Namen der Ghuzen bekannt. Die türki¬ 
schen Ghuzen werden es auch gewesen sein, die der Stadt, deren 
Ruinen ich im Jahre 1867 im Aufträge der Kaiserlichen Archäologi¬ 
schen Kommission untersuchte und die auf dem linken Ufer des Sir 
25 Werst unterhalb des jetzigen Kazalinsk lag, den türkischen Na¬ 
men Jangi-kent d. i. Neustadt gaben. Bei den Qazaq heisst sie 
Uschankent*). Im Jahre 1219 war sie von Dschudschi’s Kriegern ein¬ 
genommen, später sah sie Plano-Carpini und in der zweiten Hälfte 
des XIV. Jahrhunderts wurden in ihr noch kunstvolle Grabdenk¬ 
mäler errichtet. Sie scheint nicht zerstört, sondern von ihren Ein¬ 
wohnern verlassen worden zu sein, aus Gründen, die uns unbekannt 
geblieben sind. Die Auswanderung der Einwohner hat lange vor 
1740 stattgefunden, denn in jenem Jahre lag die Stadt schon in 
Ruinen. Nach dem arabischen Geographen Edrisi (aus dem XII. 
Jahrhundert) lebte in Jangi-kent in den Wintermonaten ein Fürst der 
Ghuzen, clie nach Masüdi, der im X. Jahrhundert schrieb, eben so 
wie die modernen Qazaq sich in drei Horden theilten. Eben so wie 
der Stammvater der Seldschuk nach Dschend gezogen war, weiten 
viele andere Ghuzen vor und nach ihm $tädtebewohner geworden 
sein. Ghuzenstämme lebten aber auch um die Oxusmündung, wie 

•) S. meinen Bericht in dem Compte-Rendu de la Commission Implriale Arch6ologi- 
que pour l’ann£e 1867. St. P6tersbourg 1868. — Im Jahre 1870 veröffentlichte ich in 
russischer Sprache einen erweiterten Bericht unter dem Titel: Apxeojionwecjca« 
no-ha^ica m> TypnecraHcicift Kpaft bt> 1867 roay. II. Jlepxa, d. i. Reise nach Turke¬ 
stan zum Behuf archäologischer Untersuchungen im Jahre 1867, X. und 39 SS. gr. 4 0 . 


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35 


wir aus den ältesten arabischen Geographen wissen. Aus denselben 
wissen wir auch, dass mit diesen Ghuzen die Einwohner von Khowa- 
rezm in Handelsverbindungen waren. Daher auch hier das Auftre¬ 
ten des Namens Sart, als Turkstämme hier die Herrscher wurden. 
Dass sich in Buchara, dem alten Sogdiana, der Name Tadschik erhal¬ 
ten hat, mag daher rühren, dass hier das iranische Element von den 
ältesten Zeiten an bis auf die Neuzeit lebenskräftiger war, als in den 
Niederungen des Sir und Amu. Auf den Märkten Buchara^ hört 
man das Tadschiki, auf denen von Khiwa und Taschkend fast .gar 
nicht. In diesen Städten, wie in den Ländern, in denen sie liegen, 
hat das türkische Element das ursprüngliche iranische überfluthet. 
Damit steht in Zusammenhang, dass auf dem Boden des alten Sog¬ 
diana die alten iranischen Ortsnamen sich in viel grösserer Zahl er¬ 
halten haben, als in Khowarezm und um Taschkend herum. In Kho- 
dschend und dem jetzt dazu gehörigen Kreise des Sir-darja-Gebiets, 
eben so in Khokand, das mit dem ersteren zusammen das alte Fer- 
ghana bildete, ist das iranische Element durch die dortigen Tadschik 
auch noch stark vertreten. Nördlich von Khodschend, im Qurama 
Kreise, kommen ihrer nur ungefähr 8000 Individuen beiderlei Ge¬ 
schlechts vor. 

So ist es denn nicht auffallend, dass die Sprache der Sarten 
eine türkische ist, die der dschagataischen Schriftsprache am 
Nächsten steht. An einzelnen Punkten nähert sie sich den Volks- 
dialecten der Uezbek und Qazaq, da wo die Sarten aus diesen 
Volksstämmen neue Elemente in sich aufnahmen. 


In unsem folgenden Mittheilungen statistischer Daten aus dem 
„Jahrbuch“ berücksichtigen wir zunächst die nomadisirenden Uez¬ 
bek. Die Stärke der sesshaften Uezbek, so wie der angesie¬ 
delten Qirghiz, Sart und Tadschik im Einzelnen ist schwer zu er¬ 
mitteln, da diese Elemente unter der sesshaften Bevölkerung oft 
sehr durcheinander gemengt sind. 

Im Sir-darja-Gebiet sind die 1 nomadisirenden Uezbek nicht zahl¬ 
reich. Sie mögen von hier durch die Qazaq verdrängt sein, die 
im XVII. Jahrhundert in Taschkend herrschten, und kommen nur 
in den zwei Kreisen Khodschend und Dizakh vor. Für den 
ersteren fuhrt Kuschakewitsch 526 Zelte nomadisirender und. 487 
Zelte halbnomadisirender Uezbek an. Letztere treiben also auch 

3* 


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36 


Ackerbau, öbgleich sie nicht fest angesiedelt sind. Im Kreise 
Dizakh ist die Zahl der Uezbek eher geringer als stärker. 

Dem Namen Uezbek (Oezbek) begegnen wir in der Geschichte 
erst seit der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Mit ihm trat 
aber kein neues Volk auf. Es waren dieselben Turkstämme, die 
im X. Jahrhundert von ihren südlichen Nachbarn Ghuzen genannt 
würden. Zu diesem letzteren Namen steht jedoch der Name Uez¬ 
bek in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Uezbeken nannten 
sich die türkischen Stämme und Geschlechter, welche Abu-l-kheir- 
khan um den Aralsee herum in der angegebenen Zeit beherrschte. 
Er war aus dem Geschlechte Scheiban’s, eines Sohnes Dschu- 
dschi’s, des Sohnes Dschingiz-khans, hatte einem der letzten Timu- 
riden in Mawerennahr wichtige Dienste geleistet und eine seiner 
Frauen war die Urenkelin Timur’s, eine Tochter des als Astronomen 
berühmten Ulugh-beg. Seine Nachkommen setzten sich unter seines 
Enkels Mohammed Scheibäni Anführung in Mawerennahr fest und 
herrschten dort bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts. In Khowa- 
rezm setzten sich bald nach Scheibäm s Tode andere Nachkommen 
des erwähnten Enkels Dschingiz-khan’s fest, die von einem Bruder 
• des Grossvaters Abu-l-kheir-khans abstammten und unter den Uez- 
b'eken in der nördlichen Steppe sich aufgehalten hatten. 

Zu derselben Zeit, wo der Name Uezbek für gewisse türkische 
Stämme der Nordsteppe aufkam, tritt auch der Name Qazaq in der 
•Geschichte Centralasiens auf. Es waren Unzufriedene aus dem 
Uluss des Abu-l-kheir-khan, die sich um die Nachkommen des Soh¬ 
nes Dschudschi’s Tughaj-Timurs gesammelt hatten. Die Bedeutung 
von „Qazaq“ ist bekanntlich: „Vagabund“. Ein Jahrhundert später 
machten sie dem Abd-ullah-khan von Buchara bereits viel zu schaf¬ 
fen. Es waren wieder dieselben türkischen Stämme, die wir als 
Ghuzen kennen gelernt haben, und von denen ein Theil unter dem 
Namen Uezbek in den Süden gezogen war. 

Aus dem Vorhergehenden lässt sich leicht erklären, woher unter 
den Uezbek und Qazaq dieselben Stämmenamen auftreten und 'die 
Sprachen beider keine bedeutenden dialectischen Unterschiede auf¬ 
weisen. 

Es bleibt noch zu bemerken, dass im Kreise Dizakh Turkmenen 
leben, deren Zahl auf etröa 3500 Ind.. b. G. geschätzt wird. Sie sind 
Nomaden. 

Die zahlreichste sesshafte Bevölkerung hat im Russischen Tur- 
kestan, ausser demZerafschän-Thal, der QuramarKreis. Sie zählt hier 


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37 


circa 27,000 Familien, unter denen die Quramä genannten Einwoh¬ 
ner türkischer Abstammung die zahlreichsten sein werden. Es giebt 
unter ihnen auch viele angesiedelte Qazaq. Qurama giebt es nach 
N. Khanikoff in Buchara, auch kamen sie dort, nach einer histori¬ 
schen Quelle, schon im vorigen Jahrhundert vor. Sie rechnen sich 
zu den Uezbeken, scheinen aber von Hause aus keinen besondem 
türkischen Stamm gebildet zu haben, sondern die Splitter verschie¬ 
dener Stämme zu sein. Der Zahl nach kommen im Kreise nach den 
Qurama die Sart und dann die oben erwähnten 8000 Tadschik . Das 
„Jahrbuch“ (II., S. 26) rechnet 161,532 Ind. b. G. für die sesshaften 
Landbesitzer, ausserdem 24,381 Landloser. 

Im Kreise von Khodschend herrscht in seinem östlichen Theile 
die Tadschikbevölkerung, im westlichen die üzbekische vor. Nach 
Kuschakewitschs Angaben, beträgt die Zahl der ansässigen Bevöl¬ 
kerung in diesem Kreise, die Städte Khodschend und Ura-tepe ausge¬ 
nommen, 7,552 Familien, von denen nach ihm 4,038 Familien auf 
die Tadschik, 3154 auf die Uezbek kommen sollen. In Khodschend 
selbst rechnet er 3,560 Familien mit 17,800 Ind. b. G. (also 5 auf 
die Familie), und ca. 20 Uezbekfamilien mit 100 Ind. beid. Geschl., 
in Ura-tepe 1,767 Tadschikfamilien mit 8,900 Ind. b. G. und 197 
Familien Uezbek mit 985 Ind. b. G. Die Gesammtzahl der ansässi¬ 
gen Bevölkerung des Kreises beträgt also 13,096 Familien. 

Im Kreise Dizakh mit den Städten Dizakh und Zatnin zählt eine 
Angabe 22,714 Einwohner in 7,123 Häusern, und ausserdem 91 Rus¬ 
sen b. G., welche neben der bei Dizakh angelegten Befestigung 
miKWBoe d. i. Kljutschewoe , von Kljutsch Quelle, sich angesiedclt 
haben. Eine andere Angabe, vom Jahre 1870, rechnet allein für 
Sarten, also für die ansässige Bevölkerung, 48,038 Ind. b. G., was 
uns bei der Häuserzahl der ersten Angabe auch mehr Wahrschein¬ 
lichkeit für sich zu haben dünkt. Gewiss bezieht sich jene Annahme 
von 22,714 Einwohnern nur auf die männliche Bevölkerung, da eine 
dritte Angabe 22,115 Muhamedaner männl. Geschl. und 22,047 
weibl. Geschlechts zählt. Nach meinen eigenen Erfahrungen be¬ 
steht die sesshafte Bevölkerung hier aus Uezbek und Tadschik. 

Im Kreise Tchemkend ist die sesshafte Bevölkerung geringer, als 
in jenem der drei südlichen Kreise. Man rechnet in den Städten 
und Weilern, 4936 Höfe mit 29,192 Ind. beiderlei Geschlechts. Die 
Städte sind hier auch nicht so gross wie Khodschend und Ura-tepe. 
In Tschefnketid sollen 925 Häuser, in Sairam 669, in Mankeiid 352, in 
Qarabulaq 603, in Turkestan 965 Häuser sein. Aüsser dem eben 


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3 « 


Angeführten giebt es nur noch sieben Ortschaften mit sesshafter Be¬ 
völkerung. Eine andere Angabe zählt im Tschemkender Kreise 
5,145 Höfe mit 24,560 Ind. beiderlei Geschlechts (12,683 männl., 
11,877 weibl.) 

Im Kreise Aulie-ata beschränkt sich die sesshafte Bevölkerung auf 
die beiden Städte Aulie-ata {667 Häuser) und Merke (71 Häuser), in 
denen zusammen, wenn man 5 Personen aufs Haus rechnet, 3,690 
Individuen beiderlei Geschlechts wohnen. 

Auch in den beiden nordwestlichen Kreisen beschränkt sich 
die sesshafte Bevölkerung auf die beiden Kreisstädte und die 
zwei kleinen Forts Dschulek und Fort Nr. 2. In Perowsk rechnet 
man ohne Garnisonstruppen 3400, in Kazalinsk 1400, ih Dschulek 
nur 16 und in Fort Nr. 2 nur 8 Individuen beiderlei Geschlechts. Die 
Mehrzahl sind hier Russen , ausser ihnen Qazaq und Handelsleute 
aus den südlichen’ Kreisen und den Uezbekenstaaten. 

Im Gebiete Senuretschje finden wir die ansässige Bevölkerung fast 
ausschliesslich durch russische Ansiedler vertreten. In den Kosaken- 
Stanitzen wohnen in den fünf Kreisen ca. 14,000 Russen beiderlei 
Geschlechts, in den Städten, ausser den Gamisonstruppen, ebenfalls 
ungefähr 14,000 Individuen beiderlei Geschlechts. Ausserdem sind 
bis zum 12. October 1871 noch 574 Familien angesiedelt worden. 
Sarten nimmt man etwas über 30ÖO Individuen beiderlei Geschlechts 
an. Am stärksten sind sie vertreten in den Kreisen Wemoje und 
Toqmaq. 

Wir haben noch anzuführen, dass in den Kreisen des Gebiets von 
Semiretschje gegen 13,000 Individuen beiderlei Geschlechts Kal- 
müken leben, die fast alle Nomaden sind. Einzelne Kalmüken leben 
auch in den Städten, wie t in denselben auch ’Qazaq leben. 

Es bleibt uns noch übrig, der Stadtbevölkerung von Taschkend zu 
gedenken, welches inmitten des Qurama-Kreises liegt. Das asiatische 
Taschkend umfasste im Jahre 1868 — 16 ,775 Familien mit 76,092 In¬ 
dividuen beiderlei Geschlechts (41,377 männlichen Geschlechts und 
34,715 weiblichen Geschlechts). Auf Sarten kommen 16,518 Fami¬ 
lien mit 74,848 Individuen beiderlei Geschlechts. Die übrigen 1244 
vertheilen sich auf Tataren aus Russland (610), Qazaq (261), Ju¬ 
den (213), Indier (93), Russen (38), Afghanen (25), Chinesen (3) und 
I Perser. • 

Der russische Theil (bei meiner Anwesenheit daselbst im Jahre 
1867 gerne das „Europäische Viertel“ genannt), soll nach der Zäh¬ 
lung von 1871—2,009 Einwohner beiderlei Geschlechts haben. Davon 


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39 


sind Russen 1289, Deutsche 110, Polen 18, Sarten 318, Qazaq 114, 
Tataren 98, Juden 80, die übrigen 46 Individuen gehören auch noch 
sehr verschiedenen Nationalitäten an, und sind Dänen, Schweden, 
Finnen, Franzosen, Engländer, Grusiner, Moldauer, Perser, Baschkiren; 
Afghanen, von denen manche nur einen Repräsentanten haben. 

Ueber die Bevölkerung des im Jahre 1868 gebildeten Zerafschau - 
Dislricts giebt das „Jahrbuch“ noch keine eingehenden Data. Im Gan¬ 
zen zählt man einstweilen (s. Jahrbuch I, S, 137) 163,185 Individuen 
beiderlei Geschlechts auf einem Flächeninhalte von 204 Quadratmeilen. 
Mein Freund W.Radloff , welcher das Zcrafschanthal im Jahre 1868 be¬ 
suchte, hat über die Topographie des Landes und die Bestandteile, 
der Bevölkerung sehr interessante.Mittheilungen gemacht. Ich vcr- 
* weise daher auf seine Arbeit in der „Zeitschrift der Gesellschaft für 
Erdkunde zu Berlin“ Band VI, Heft 5 und 6 (1871). Er nimmt an, 
dass die türkische Dialekte redende Bevölkerung die überwiegende 
sei. Doch zugleich scheint es, dass die sesshafte Bevölkerung die 
an Zahl stärkere ist. Zu dieser Annahme berechtigt schon die Dich¬ 
tigkeit der Bevölkerung, riämlich 860 Individuen auf die Quadrat- 
mcile. Grösstentheils besteht die Bevölkerung aus Tadschik und 
Uezbek. Auch die sogenannten Berg-Tadschik oder Galtscka sind 
im Zerafschan-Districte vertreten. Sie sollen sich aber in Sitte und 
Lebensweise wenig von den anderen Tadschik unterscheiden. Ihre 
Sprache wird sich aber gewiss reiner von dem fremden (türkischen) 
Elemente erhalten haben. Ausserdem kommen im District noch 
Qara-Qalpak und Türkmen vor. 

Fassen wir nun das von uns über die Bevölkerung des Russischen 
Turkestan Gesagte in einer allgemeinen, gedrängten Uebersicht zu¬ 
sammen. Wir nahmen an; 

I. Unter der nomadischen Bevölkerung: 

1. Qazaq . . . 93,40oFam.,alsozu5Pers.aufdieFam.467,oooInd.b.G. 

* ... 80,000 » » » 400,000 » 

2. Qirghiz . . 35,200 » » * 176,000 * 

(ohne die im Kreise Wernoje:) 

3 .Kalmüken. — .. 13,000 » 

4. Uezbek . . 1,000 Farn., also zu 5 Pers. auf die Farn. 5,000 » 

* 5. Türkmen . —. 3,500 * 

i,o64,50oInd.b.G. 


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II. Für die sesshafte Bevölkerung: 
i. Im Kreise Qurama 27,000 Farn, zu 7 Pers. auf 


die Fam. [Uezbek (Qurama), Sarten und Ta¬ 
dschik} ....'. .. 189,000 Ind. b. G. 

2 . 1 m Kreise Khodschend 13,100 Fam. zu 5 Pers. 

gerechnet [Tadschik, Uezbek]..66,500 » 

3! Im Kreise Dizakh 7,100 Fam. [Uezbek, Tad¬ 
schik und wenige Russen].48,000 * 

4. Im Kreise Tschemkend 5,000 Fam. zu 5 Pers. 

[Sarten].25,000 * 

5. Im Kreise Perowsk [Russen und Qazaq] .... 3,400 » 

6: Im Kreise Kazalinsk [Russen, Qazaq u. A.] . . 1,400 » 

7. In der Stadt* Taschkend [Sarten, Russen u. A.] . 78,100 » • 

8. Im Gebiete von Semiretschje , in den Städten 

[Russen, Qazaq, Sarten]. 14,000 » 

Im Gebiete von Semiretschje in den Kosakcn- 

stanizen. 14,000 » 

Im Gebiete von Semiretschje in neuen Ansiede¬ 
lungen [Russen] 574 Fam. ca. . . .. 1,700 » 

I 411,100 Ind. b. G. 
III. Sesshafte und wandernde Bevölkerung: 
im Zcrafschan-Districte . ..163,000 Ind. b. G. 


Ucbcr die Bevölkerung der Gebirgslandschaften südlich und süd¬ 
östlich von Samarkand, die das Quellenland des Zerafschan bilden, 
giebt uns die „Turkestanische Zeitung“ für 1871 einige Aufschlüsse. 
Nach der Expedition des Generals Abramow zum See Iskender-Kul 
sind die Landschaften Faräb , Mäghian und Kischtud itn Jahre 1870 
mit dem Zerafschan* Districte vereinigt worden. Die Bewohner dieser 
Gebirgsgaue sowie die der östlicher liegenden von Fätt y Jaghnau , 
Masdscha und Falghar , deren Bege sich gegenseitig bekämpften, 
warenx sehr unruhige Nachbarn, welche in die südlichen Theile des 
Zcrafschan-Districtes und der Kreise Dizakh und Khodschend be¬ 
ständige Raubeinfälle machten. Ausserdem beeinträchtigten die 
Einwohner von Mäghian die Speisung eines Kanals, welcher von 
ihrem Flusse, dem Maghian , aus Pendschikend > mit Wasser versorgen 
sollte. Endlich stockte auch die Versorgung des mittleren Zeraf- 
schanthales mit Holz und Kohlen, welche man aus den nächsten* 
Gebirgsgauen bisher immer bezogen hatte. Ausser der Beseitigung 
dieser Uebelstände bringt die Besitzergreifung von 1870 keinen Vor- 


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4* 


theil, denn die Bevölkerung in Farab, Maghiän und Kischtud ist eine 
sehr spärliche und arme, die zu erhebenden Steuern können daher 
auch nur gering ausfallen. In Farab zählt man nur zwei Ansiedelun¬ 
gen mit 120 Häusern, in Mäghiän 19 Weiler mit 510 Häusern, und 
aus Kischtud ist nur die Zahl der Weiler bekannt: man zählte ihrer 17. 

Die bereits erwähnten Gebirgslandschaften Fan, Masdscha und 
Jaghnau liegen an den gleichnamigen Gebirgsflüssen. Der Masdscha , 
auch Matscha genannt, ist der eigentliche Quellfluss des Zerafschan 
(auch Kohik genannt), denn dieser bildet sich aus der Vereinigung 
des Abflusses des Iskender-Kul mit dem weit von Osten herfliessen- 
den Masdscha. Der Jaghnau , welcher mit dem letzteren parallel 
fliesst, vereinigt sich mit dem Abfluss des Iskender-Kul (Iskender- 
Su), welcher nach dieser Vereidigung den Namen Fan annimmt. 
Der Masdscha entspringt aus einem grossen Gletscher. Die Land¬ 
schaft Falghar liegt nördlich von der von Masdscha. Zu ihr führt ein 
Weg aus dem Kreise von Khodschend, und zwar südlich von Sawat. 
Bis zum Jahre 1868 waren die vier letzterwähnten Landschaften von 
ihren Nachbarn abhängig: Masdscha und Jaghnau von dem südlich 
von ihnen liegenden Qarategin , Falghar und Fan bald von Ura-Tepe , 
bald vom Beg von Hisar . Nach Hisar führt von Fan aus ein nörd¬ 
lich vom Iskender-Kul gelegener Pass. Durch den Beg von Hisar 
waren Falghar und Fan mittelbar vom Emir von Buchara abhängig. 

'In die Orographie und Hydrographie der hier besprochenen Ge¬ 
birgslandschaften, welche im ersten Jahre des XVI. Jahrhunderts 
gultan Baber zum Theil durchwanderte, hat erst die vom General- 
Major Abramow geleitete Expedition zum See Iskender-Kul Licht 
gebracht. Baber, damals erst neunzehn Jahre alt, girtg von Kesch 
(Shehrisebz) nach Hisar , von da über den Pass, den er als sehr 
schwierig beschreibt, zum Iskender-Kul. Von Fan wandte er sich 
links gegen Kischtud und dann nach Yäri , von wo er Samarkand er¬ 
reichte und mit einem Handstreich nahm. Diese Gebirgslandschaf¬ 
ten werden in einer Geschichte Buchara’s aus dem vorigen Jahr¬ 
hundert auch sehr oft erwähnt. 

Bis zur Expedition des Generals Abramow herrschte, wie gesagt, 
bei jenen Gebirgsbewohnern vollständige Anarchie. Während der 
kurzen Zeit von 1868 bis 1870 war hier ein beständiger Wechsel der 
Autoritäten. Die Landschaft Masdscha lud zu sich als Beg den 
Neffen des Herrschers von Qarategin, Rahim-Khan, ein, Falghar 
nahm bei sich den früheren Beg von Ura-tepc, Abdul-Ghafar, auf. 
Diesen letzteren erkannten als ihren Herrn auch Fan und Jaghnau 


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an. Es dauerte aber nicht lange, so wurde Abdul-Ghafar von Rahim- 
khan vertrieben und floh nach Schehri-sebz. Seine früheren Unter¬ 
gebenen beriefen den Beg von Kischtud, mussten aber bald dem 
Rahim-Khan unterliegen. Dieser, übermüthig geworden, unternahm 
einen Feldzug gegen Hisär, wobei er aber Alles, was er bisher be¬ 
sessen, verlor. Die Einwohner von Masdscha wählten nun Einen aus 
ihrer.Mitte zum Beg, doch auch der brachte sie bald zur Verzweif¬ 
lung, so dass Viele von ihnen nach Samarkand kamen, um dort 
Schutz zu suchen. 

Um dieser Anarchie nun ein Ende zu machen und die lästigen 
Nachbarn zur Ruhe zu bringen, ward 1870 die erwähnte Expedition, 
nicht ohne Rücksicht auf die Erzielung wissenschaftlicher Resultate, 
unternommen. General Abramow vernichtete die Gewalt der Bege. 
Während er Maghiän, Faräb und Kischtud mit dem von ihm ver¬ 
walteten Districte vereinigte, überliess er in Fan, MasdsCha, Jaghnau 
und Falghar die Verwaltung ihren Qadhi und Gemeinde-Aeltesten, 
und zeigte den Einwohnern an, dass bis zum Schluss des Jahres 1870 
sie von jeder Abgabe frei sein würden. Um weiteren Umtrieben in 
den zuletzt erwähnten Gebirgslandschaften zu steuern und die Ruhe 
in den südlichen Theilen des Zerafschän-Districtes und der Kreise 
Dizakh und Khodschend zu sichern, wurde jenen Gebirgsbewohnern 
(Kohistani) angezeigt, dass sie von nun an sich als unter russischem 
Schutz stehend zu betrachten und dass weder Khokand noch Qara- 
tegin irgend welche Ansprüche auf ihr Land zu erheben hätten. Da¬ 
für sollten sie aber i>ach Samarkand durch ihre Aeltesten (Aqsaqal) 
und Inspectoren (Amin) geringe Abgaben, jährlich 1 Rbl. 20 Kop. 
vom Gehöft, einsenden. Ausserdem sollen sie selbst zum Unterhalt 
der Inspectoren beitragen und zu diesem Zweck hat jeder Hof 
30 Köp., ausser jener Abgabe, einzuschicken. 

Falghar soll in 29 Dörfern 2779 Häuser zählen, Masdscha in 36 
Dörfern 1877 Häuser, Fan in 30 Dörfern 908 Häuser und Jaghnau 
in 27 Dörfern 881 Häuser. 

Wir haben noch des im vorigen Jahre erworbenen Gebiets von 
Kuldscha , am oberen Ili, Erwähnung zu thun. Ueber die Einwohner 
dieses Districts bringen uns das , Jahrbuch“ und ein Artikel des für 
die peographie Central- und Hochasiens unermüdlich wirkenden 
M . Wenjukow in den „Mittheilungen“ unserer Geographischen Ge¬ 
sellschaft*) ziemlich umständliche Angaben. Jenes Gebiet ist deut- 

*) S daselbst Bd. Vül Nr 1, Abth II. Seite 26 28: „Tabelle über die Volks- 

bestandtheil e der Bewohne^ des Kuldscha-Cebietes“. vergl auch von demselben Autor 


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sehen Lesern aus dem umständlichen Aufsatze Dr. W. RadlofTs in 

• 

Petermann’s „Mittheilungen“ für 1866, S. 88—97 und 250—294, 
,Das Ili-Thal in Hochasien und seine Bewohner“ zum Theil bekannt. 
Radloff besuchte das Ilithal und die Stadt Kuldsöha im Jahre 1862, 
als dieses Gebiet noch der chinesischen Regierung unterworfen war. 
Während sein Aufsatz gedruckt wurde, war jene muhammedanische 
Insurrection ausgebrochen, welche die chinesische Autorität be¬ 
seitigte und das fruchtbare und gut angebaute Land ein grässliches 
Blutbad überstehen Hess. Im Jahre 1865 wurden die Dunganen Her¬ 
ren des Landes,. zwei Jahre später traten an ihre Stelle die ihnen 
wohl religionsverwandten, aber nicht blutsverwandten Tarantschi , zu 
denen von russischem Gebiet oft Qazaq übergingen, um auf das¬ 
selbe von den Grenzen des neugebildeten Staates aus Raubanfälle zu 
unternehmen. 

Die statistischen Data, welche Wenjukow uns mittheilt, haben 
dieselbe officielle Quelle, wie die des „Jahrbuchs“, doch weichen sie 
in Einzelnheiten von denen des letzteren ab. Zu der sesshaften Be¬ 
völkerung’ des Kuldsdia-Distric gehören: 

1. Die sogenannten .Tarantschi — von tary , Hirte, tarymaq 
säen—aus dem Sechs-städte-Gcbiet (Altyschar) übergesiedelte Ost- 
Turkestaner, die, obgleich ihre Sprache jetzt eine türkische ist, den¬ 
noch nicht rein türkischer Abkunft sein dürften. In Ost-Turke^:an 
ist das iranische Element schon in früher Zeit vertreten gewesen, 
denn bereits im letzten Jahrhunderte vor Christi Geburt ist nach chi¬ 
nesischen Quellen westlich von Goatschan (jetzt Pitschan), Khotan 
ausgenommen, hier eine Bevölkerung gewesen, die durch ihre 
tief liegenden Augen und gebogenen Nasen den Chinesen auffiel. 
Wenjukow giebt die Zahl der Tarantschi auf 8,540 Familien und 
43,638 Individuen beiderlei Geschlechts (23,598 männliche und 
20,040 weibliche) an. Das „Jahrbuch“ giebt für die Tarantschi 7,693 
Höfe mit 38,211 Individuen beiderlei Geschlechts an. 

2. Die Dunganen, nach Radloff, Wenjukow und Andern, theils 
verbannte, theils freiwillige zum Islam sich bekennende Ansiedler im 
Ili-Thale aus den nordwestlichen Provinzen China’s. Radloff hält sie 
für den ursprünglichen Stock der Muhammedaner in den erwähnten 
Provinzen China’s, für die Nachkommen uigurischer Colonen da¬ 
selbst. Dem widerspricht Vater Palladius in Peking in seinem Auf- 

den Aufsatz: „Bemerkungen über die Bevölkerung des Dzungarischen Grenzgebietes 
in denselben ,,Mittbeilungen“, Bd VII. Nr. 7 , Abth II, Seite 333“34^* 


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satze „lieber die Muhammedaner in China“*). Indem er zugiebt, dass 
die Anfänge des Muhammedanismus in China in jene Zeiten hinauf¬ 
reichen, wo, im X. Jahrhundert, die ersten Handelsbeziehungen der 
Muhammedaner *u China aufkamen und dass die Chinesen den 
Muhammedanern den Namen der Uiguren, Choi-choi, beilegen, so 
meint er doch diesen letzteren Umstand dahin erklären zu müssen, 
dass unter den ersten Repräsentanten des Islam in Chhina die ange¬ 
sehensten di$ Uiguren gewesen und dass daher die Chinesen, ihrer 
Gewohnheit gemäss, Ausländer unter allgemeinem Namen zusammen 
zu fassen, alle Einwanderer aus dem Westen, die sich zum Islam be¬ 
kannten, ohne Rücksicht auf ihre Abstammung, Choi-choi nannten. 
Professor W. P. Wassiljew**) spricht ungefähr dieselbe Ansicht aus. 
Er meint, der Name Choi-choi mag seit langer Zeit durch die Chi¬ 
nesen von den Uiguren, dem ihnen nächsten Volke türkischen Stam¬ 
mes, auch auf die übrigen mehr im Westen lebenden Völker türki¬ 
scher Zunge übertragen worden sein. Iii der That finden wir auch 
bei dem chinesischen. Reisenden Tschan- Tschun im Anfänge des XIII. 
Jahrhunderts, dass er die damals eben von Dschingiz-khan eroberten 
Länder der Charezmschah mit dem Namen Choi-choi belegt. Je¬ 
denfalls ist das Uigurenthum ein sehr unbedeutender, nicht in Be¬ 
tracht zu ziehender Bestandtheil der muhammcdanischen Bevölke¬ 
rung China’s. Die Zahl der Dunganen oder aus China stammenden 
Mohammedaner im obern Ili-Gebiöte giebt das „Jahrbuch“ auf 676 
Höfe mit S130 Ind. b. G., ausser den in Kuldscha lebenden, an. 
Wcnjukow rechnet mit denen, die in dieser Stadt (dem alten chine¬ 
sischen lli ) leben, 5,545 Ind. b. G. — 2,717 männl. u. 2,828 weibl. 

Die Dunganen, nachdem sie die Macht der Mandschu im Ili-Thalc 
gestürzt hatten, wünschten mit uns Frieden au halten, beschützten un¬ 
sere Factorei in Tschugutschak und erboten sich, mit uns die Han¬ 
delsbeziehungen zu erneuern. Ihre Wünsche wurden nicht erwidert, 
da man sie bei uns als Insurgenten gegen dife mit uns in Frieden 
lebende chinesische Regierung betrachtete. 1867 unterlagen sie den 
Tarantschi und ein Theil von ihnen entfernte sich nach Urumtsi und 
Manas. Aus Tschugutschak entfernten sich die Dunganen ebenfalls, 

*) S. den IV Band der Arbeiten der Mitglieder der russischen geistlichen Mission 
zu Peking (TpyAbi PocciftcitoÄ /fyxoBHOÄ Muccin bi* IleKHirfc. Tomt» IV. 1866) 
& 437 ~ 46 o. 

**) S. dessen Vortrag „Ueber die muhammedanisclie Bewegung in Chiwa u (O abh- 
sKeHui uajioMeTaHCTpa bi» Kirrafe. Cn6.) 1867. 30 SS. rait 13 SS. chinesischen 
Textes. 8°, 


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so dass jetzt dieser Ort, der einen nicht unbedeutenden Punkt für 
den russischen Handel bildete, verödete. Unsere Rücksichten für 
die chinesische Regierung hatten zur Folge gehabt, dass unsere ei¬ 
genen Handelsinteressen litten und an unsern Grenzen sich, ein neuer 
muhammedanischer Staat gebildet hatte, der uns durchaus feindlich 
gesinnt war. 

3. Für die im Kuldscha-Districte ansässigen Chinesen giebt das 
„Jahrbuch“ 8,081 Ind. b. G. an und ausserdem noch 3,000 Ind. b. G. 
in den Dörfern — Kent werden hier die Dörfer genannt — Schicho 
(Wenjukow: Tschin-cho) und Takianza. Wenjukow hat nur 4,509 
Ind. b. G. 

4. Die Mandscku , die bei Wenjukow fehlen, werden im „Jahrbuch“ 
in der Stärke von 450 Ind. b. G. angeführt. 

5. Die Sibo oder Sipu sind, nach Radloff, aus der Mandschurei mit 
ihren Familien nebst den Solon übergesiedelte daurische Soldaten 
mit scharf ausgeprägtem mongolischem Gesichtstypus. Ihre Sprache 
soll, nach demselben, ein tungusischer Dialect sein. Im Jahre 1868 
wanderten mehrere Sibo und Solon aus dem Üi-Thale auf russi¬ 
sches Gebiet. 100 Familien haben sich an Borochodzir (zwischen 
Kopal wk 1 Kuldscha), andere, in Gemeinschaft mit Kalmüken, in den 
Kreisen Ssergiopol und Kopal angesiedelt, wo sie das Christenthum 
angenommen und sich als Kosaken haben anschreiben lassen. Im 
Kuldscha-Districte scheinen keine Solon mehr zu leben, wahrschein¬ 
lich sind sie bis auf diejenigen, welche später auswanderten, als Re¬ 
präsentanten der früheren chinesischen Macht mit dem grössten 
Theil der Mandschu von den Insurgenten vernichtet worden. 

Die in Zelten lebende Bevölkerung des Ili-Gebietes bilden Kalmü- 
ken, Qazaq und Qirgihz. 

1. Die Zahl der Kalmüken, , der Ueberreste der früheren (vor 1758) 
Herren des Landes giebt Wenjukow auf 4,283 Zelte und 20,829 Ind. 
b. G. an (11,331 männl. und 9,498 weibl). Im Jahrbuch sind die An¬ 
gaben über sie unvollständig. 

2. Die Qazaq werden im „Jahrbuch“ mit 4,286 Zelten ange 
fuhrt, und 

3. die Qirgluz mit 1,300 Zelten. 

Für beide nimmt das „Jahrbuch“ 22,344 Individuen b. G. an, 
Wenjukow für die Qazaq allein 5,619 Zelte mit 23,361 Jndividuen 
beiderlei Geschlechts. 

Im Ganzen dürfte die sesshafte Bevölkerung des Kuldscha-Distric- 


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Aß 


tes auf 12 bis 13,000 Familien geschätzt werden, während für diewan*- 
dernde Bevölkerung ungefähr 10,000 Zelte anzunehmen wären. 

Nachdem wir die numerischen Grössen der sesshaften wie nömadi- 
sirenden Bevölkerung von Russisch-Turkestan nach ihren Stammes¬ 
verschiedenheiten erörtert und zu Resultaten gekommen sind, die, 
wenn auch, wie schon von uns bemerkt worden, als nicht ganz sicher 
zu betrachten sind, doch im Ganzen von der Wirklichkeit nicht zu 
entfernt sein dürften, wollen wir uns etwas bei der trage nach der 
Gestaltung der Verhältnisse in diesem Lande in der nächsten Zu¬ 
kunft aufhalten. 

Dass die russische Herrschaft, als eine von einem geordneten 
Staatswesen ausgehende, den dortigen Lebensverhältnissen einen be¬ 
sonders schwer ins Gewicht fallenden Vortheil gebracht hat, daran 
wird Niemand zweifeln, der auch nur entfernt mit diesen Verhältnis- 
• sen bekannt war. Viele Jahrhunderte haben die Einwohner die 
Möglichkeit entbehren müssen, der Bestellung der Aecker, der Pflege 
der Gärten, der Züchtung der Heerden und dem Handelsverkehr in 
Ruhe sich hingeben zu können. Den Anwohnern des Sir und des 
Zerafschan wird jedes Jahr, das sie unter der russischen Herrschaft 
verleben, den Vorzug in dieser Beziehung ihrer jetzigen Lage vor 
der früheren immer mehr zum Bewusstsein bringen. Schon im X. 
Jahrhundert hiess es bei einem arabischen Geographen, unter den 
Ländern des Islam gäbe es keines, wo so viel Kriegsgetümmel herrsche 
wie inMawerennahr (Transoxiana). Später hat sich die'Lageder ansäs¬ 
sigen Bevölkerung durchaus nicht verbessert. Die Einfälle roher 
Wänderstämme aus dem Norden nahmen nicht ab, im Gegentheil, sie 
nahmen zu. Jene grosse Schlacht, in welcher der mächtige Sindschar 
eine in den Annalen des Islam unerhörte Niederlage durch denKur-khan 
*der Qara-khataier erlitt, wurde auf den Feldern von Qathwan in der 
Nähe von Samarkand geschlagen. Beiläufig bemerken wir, dass 
dieser Fürst, der nun Besitzer des Landes wurde, nach dem Zeug¬ 
nisse des arabischen Historikers Ibn-al-Athir, für seine Zeit und Ver¬ 
hältnisse sehr gesunde Regierungsprincipien hatte. Seinen Emiren 
gab er keine Lehen, d. h. er überliess ihnen nicht die Verwaltung 
von Provinzen, denn, pflegte er zu sagen, wenn man ihnen solche 
giebt, erlauben sie sich Gewalttaten. Auch ernannte er keinen Emir 
im Heere zum Anführer von mehr als hundert Reitern, um ihm 
die Möglichkeit zum Aufstande zu benehmen. In Ost-Turkestan, das 
sie sich vordem unterworfen, heisst es von den Qara-Khataiem, 
wurden die Einwohner nicht mit der Einführung von Neuerungen 


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belästigt. In der Stadt und auf dem Dorfe nahmen sie von jedem 
Haus£ einen Dinar, die Felder und Gärten den Einwohnern zu unbe¬ 
schränktem Gebrauch überlassend. Fünfundsiebzig Jahre später kam 
Mawerennahr in die Hände des Khowarezmschah Ala-eddin-Muham- 
med, der bald sein Reich an Dschingiz-khan verlor. Nach den meist 
unfähigen Dschaghataiden trat der eroberungssüchtige Timur auf. 
Am Ende des XV. Jahrhunderts welkte die Macht der Timuriden 
hin und im Norden lauerten wieder Horden auf die Beute, als 
welche ihnen das gut angebaute Zerafschänthal zufalleo sollte. Es 
wären bekanntlich die Uezbeken, deren Geschichte bis zur letzten 
Zeit in einer ununterbrochenen Reihe von Bruderkriege^ sich ab¬ 
wickelte. 

Um dem Leser ein Bild zu geben von den Zuständen am Sir wäh¬ 
rend einer kurzen Reihe von Jahren, will ich den gedrängten histo¬ 
rischen Bericht, wie er mir im Jahre 1867 von einem Einwohner von 
Zamin im dortigen Persisch (Tadschiki) aus seiner eigenen Erin¬ 
nerung mitgetheilt wurde, hier folgen lassen. Zamin liegt auf der 
Strasse von Ura-tcpe nach Dizakh, in der früheren Provinz Usru- 
schna y Sutulusena bei dem buddhistischen Pilger aus China Hiuen- 
Disang im Anfänge des VII. Jahrhunderts, und ist jetzt ein kleines 
Städtchen. Die Strasse, auf der sie liegt, führte schon früh aus Sog- 
diana nach Ferghäna. 

„Nach der Ermordung Mnsulman-Quli s *), berichtet der Zaminer, 
regierte in Khokand Khudajär-khan, in Taschkend Mella-k/ian. Nach 
Verlauf eines Jahres entzweiten sie sich (sie waren Brüder). Khu- 
dajär zog gegen Taschkend, von wo Mella-khan floh und sich nach 
Buchara**) begab. Nach einem Jahre kehrte er von dort zurück 

*) Er ward ermordet im Jahre 1853. Von Geburt war er ein Qiptschaq, und Khu- 
daj&r-Khan, welcher eine Tochter von ihm zur Frau hatte, warum das Jahr 1846 
durch ihn auf den Thron gekommen, Hess ihn aber sieben Jahre späterhinrichten. 

••) Zwölf Jahre früher war Khokand von Nasr-ullahy dem Vater des jetzigen 
Emirs von Buchara, erobert worden. Als er in seine Hauptstadt zurückgekehrt war, 
brach in Khokand ein Aufstand gegen seine Regierung aus, die dort auch gestürzt 
wurde. Ueber diese Episode der Geschichte von Khokand hat W % Wcljaminow-Zernow 
im II. Bande der Schriften der OrientalischenSection der St. Petersburger Archaeologischen 
Gesellschaft ausführliche Mittheilungen gemacht (s. Tpyabi BocroHHaro OTA*üJia M*n- 
ApxeoJioiHHecicaro OömeCTBa, t. II.,St. Petersburg 1856, S. 329 u. folg ) Daselbst sind 
auch zwei Aufsätze von W. Grigorjew und P. Saweljeiv über die neuere Numismatik 
von Khokand mit Historischen Erläuterungen. 


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und ging nach Khokand, wo er ein Jahr blieb, aber bald wieder Um* 
triebe anfing, in Folge deren er fliehen musste, sich zu den Qtighiz* 
Qiptsaq begab, dort ein Heer zusammenbrachte und gegen Khokand 
zog. Khudajar zog ihm entgegen, kämpfte mit ihm und schliesslich 
sah er sich genöthigt, nach Buchara zu fliehen. In Folge dessen ge¬ 
langte Mclla-khan zur Herrschaft und regierte vier Jahre *). Unter, 
dessen starb der Emir Nasr-ullah (1860). Damals war Gouverneur 
von Ura-tepe ein gewisser Bazar-bai, Abdul - Ghafar (derselbe,der, wie wir 
oben sahen, in der neuesten Zeit eine Rolle in den Gebirgsgauen 
desZerafschän spielte), Gouverneur in Nau (westlichvonKhodschend) 
zog gegen Ura-tepe und nahm es. Als nun Mella-khan gegen ihn 
zog, unterwarf sich Abdul-Ghafar dem Emir Mozza/ar von Buchara. 
Mella-khan kam ein zweites Mal und belagerte Ura-tepe zwei Mo¬ 
nate. Mozzafar schickte ein Heer gegen Ura-tepe. Mella-khan, der 
es nicht nehmen konnte, zog sich zurück. Die Truppen des Emirs 
von Buchara verfolgten ihn und zwangen ihn nach kurzem Kampfe 
zu weiterem Rückzuge. An Stelle des Abdul-Ghafar wurde* in Ura- 
tepe vom Emir ein gewisser Berat-beg zum Gouverneur eingesetzt. 
Nach einem Jahre kündigte dieser dem Herrscher von Buchara 
den Gehorsam und unterwarf sich dem von Kkokand. 
Mella-khan kapi wieder, nach Ura-tepe und von dort nach Zamin, wo 
er zwölf Jahre blieb. Der Emir Mozzaar ging von Schebri-sebz gen 
Dizakky von wo er einen Gesandten schickte, welcher mit Mella- 
khan Frieden schloss. Mella-khan verliess Zamin und der Emir zog 
aus Dizakh nach Hause. In Zamin hatte Mella-khan einen gewissen 
Musa-Mohammed zum Gouverneur eingesetzt, in Ura-tepe Hess er 
aberBerat-beg an seinemPlatze. Dieser jedoch neigte sich nach fünf 
sechs Monaten schon wieder zum Efnir hin. Da kam Mella-kjian 
wieder, nahm Ura-tepe und setzte hier einen gewissen Duscha-bai 
zum Gouverneur ein. Ein Jahr später erschlugen die Qiptschaq den 
Mella-khan und setzte einen der Ihrigen, Schalt-Murad-khan , als 
Herrscher ein **). Der Emir rief wieder sein Heer zusammen und zog 
Khudajar-kltan mit sich nehmend, gen Khokand. Khokand ward 


•) Bis zum Jahre 1274 der Hidschrit (begann den 22. August 1857) tragen die 
Münzen von Khokand den Namen Khudajär-khans. Im nächsten Jahre finden wir auf 
ihnen die Namen Mella-khans. Das dauert bis zum Jahre 1277 (endet den 8. Juli 1S61). 

**) Vom Jahre 1278 (1861 — 1862) ist mir eine Münze Schah-Murad-khans 
bekannt. 


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genommen *). ‘Als der Emir Khokand verlassen, begab sich Mella - 
Alim-qul zu den Qiptschaq , rief dort den (minderjährigen) Sohn 
Mella-khans**) zum Khan aus, sammelte ein Heer, nahm Andidschän, 
Marghilän und zog gegen Khokand. Da kam der Emir Mozzafar 
wieder, nahm Khokand und zog im Rücken der Qiptschaq bis Uz- 
kend. Da er sie nicht erreichen konnte, zog er sigh zurück, Hess 
Murad-fthan in Khokand und zog sich mit Khudajar-khan nach Di- 
zakh zurück. Bald darauf zogen die Qiptschaq wieder heran, 
nahmen Khokand und Alim-qul regierte im Namen des Sohnes 
Mella-khans. Zwei oder drei Jahre regierte er, kämpfte einige Mal 
mit Jen Russen und starb den Märtyrertod, worauf die Russen 
Taschkend einnahmen ***). Abermals zog Emir Mozzafar .jnit Khu- 
dajär-khan gegen Khokand, nahm es, vertrieb die Qirghiz-Qiptschaq 
bis nach Usch, konnte sie aber nicht erreichen. Khudajär-khan blieb 
Khan in Khokand“. 

So weit der Aqsaqal von Zamin. In den wenigen von ihm nieder¬ 
geschriebenen Zeilen giebt er uns ein widerwärtiges Bild beständi¬ 
ger Kämpfe, wo wir die Khane in Khokand eben so oft wechseln 
sehen, wie die Gouverneure in den westlichen Provinzen, auf die der 
blutdürstige Nächbar beständig sein habgieriges Auge gerichtet hat. 
Zur Vervollständigung dieses wenig ansprechenden Bildes gebe ich 
noch die kurze Uebersicht der Geschichte der Gouverneure von Za¬ 
min und Ura-tepe, von den dreissiger Jahren an bis zur Unterwerfung 
der Länder am mittleren Sir unter Russland, wie sie mir derselbe 
Zaminer mittheilte. 

„Zur Zeit Mohammed-Ali^khans'***) gehörte Zamin mit seinem Ge¬ 
biete bis Atschi zu Khokand. Der Parwanatschi *****) Ibrahim war hier 
Gouverneur und verwaltete Zamin zwölf Jahre lang. Nach ihm er¬ 
nannte Mohammed-Ali einen gewissen Abdal-Ali zum Gouverneur 
von Zamin, worauf er Feindseligkeiten gegen Buchara begann, indem 
er Truppen zusammen zog, gen Dizakh ging, über die Feste Bischa- 
ghar herfiel und in der Gegend Venvüstungen anrichtete. Darauf 

*) Im Jahre 1279 d. Hidschret (29. Juni 1862— 17. Juni 1863) prägte man wieder 
Münzen mit Khudaj&r-khans Namen. 

**) Es war Muhammed-Sultan, in dessen Namen Alim-qul 1280 und 1281 (18. Juni 
1863—26 Mai 1865) Münzen prägen liess. 

***) Bekanntlich im Juni 1865. 

•*•*) Mohammed-Ali-khan regierte von 1823 b'is 1842, wo eraufBefehl Nasr-ullahs mit 
seiner Familie getödtet wurde. 

*++**') Pcrwanatseki heisst nicht „butterfly-man“, wie der Verfasser der „Travels in 
CentTal Asia“, die 18Ö4 bei John Murray in London erschienen, S. 374 angiebt, sondern 

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kam Nasr-ullah, nahm Bischaghar*) und zog sich zurück. Das 
nächste Jahr kam er wieder, nahm zuerst Jatn> darauf Zamin> Ura - 
tepe und setzte in letzterem Orte einen gewissen Bardijär-bcg zum 
Gouverneur ein. Das darauf folgende Jahr zog er gegen Khokand, 
nahm es ein, tödtete den Khan und, einen Gouverneur (Hekim) dort 
zurücklassend, # kehrte er heim. Nach einem Monat kam SchirAli - 
kkan, nahm Khokand. Nach einem oder zwei Jahren karrt Musul - 
man-Quli, tödtete den Schir-Ali-khan und setzte Khudajär als Khan 
ein, regierte aber selbst ungefähr zehn Jahre. 

* „In Ura-tepe war nach Bardijär-beg Jahja-bai Gouverneur, dann 
ain halbes Jahr später wieder Bardijär-beg y zwei, drei Jahre Sarauf 
Ishaq-beg. aus dem Stamme Mangit, nach neun Monaten Allah-Schu- 
kur-bai. Nachdem Letzterer ein Jahr lang Ura-tepe verwaltet hatte, 
kamen die Qiptschaq, nahmen Ura-tepe, tödteten Allah-Schukur-bai 
und machten Isa*bai zum Gouverneur, worauf sie sich zurückzogen. 
Nach einem Jahre erkannte Isa-bai die Oberhoheit des Emirs (von 
Buchara) an. Da kam Musulman-Quli, belagerte Ura-tepe, und, da 
er es nicht nehmen konnte, kehrte er um. Isa-bai kam aber in die 
Enge und musste Ura-tepe den Qiptschaq überlassen, ging selbst 
nach Khokand, worauf Musulman-Quli den Dädkhah Terdi-bai zum 
Gouverneur von Ura-tepe machte. Nach fünf, sechs Monaten 
machten die Qiptschaq 'einen gewissen Schir-Dädkhäh zum Hekim, 
der es nur fünf, sechs Monate blieb, bis es unter den Qiptschaq zu 
blutigen Zwistigkeiten kam. Darauf wurden als Gouverneure Abdul - 
Ghafar nach Ura-tepe und Rustem-bcg nach Zamin geschickt, die 
nach fünf Monaten mit einander in Hader geriethen. Abdyl-Ghafar 
zog gegen Zamin, Rustem-beg ihm entgegen 1 und Letzterer nahm 
Ura-tepe. Sieben Jahre war er hier Mir (Fürst). Bald erkannte er die 
Oberhoheit des Emirs von Buchara, bald die des Khans von Kho¬ 
kand an. Nicht lange darauf nahm Nasr-ullah Ura-tepe, er schlug den 
Kustem-beg und ernannte Bazar-bai zum Gouverneur daselbst, cfer 


kommt von dem bekannten persischen Worte fertnän Befehl her, welcher der Tadschik- 
Pialect in perman verändert hat. Der ,«Ueberbringer der Befehledes Emirs heisst 
nicht desshalb Perwanatschi, weil er wie ein'Schmetterling {perwan e) mit den Aufträgen 
.seines Herrn umherfliegt, sondern weil er eben ,,Befehle 11 überbringen soll. Eine so 
witzige Stimmung herrscht gar nicht an üzbekischen Höfen- — Dieser Titel wird 
eben so vom Herrscher von Khokand, wie von dem von Buchara ertheilt und besteht 
schon lange. 

*) BischagTutr liegt auf dem Wege von Dizakh nach Zamin und wird oft in Baber’s 
Memoiren erwähnt. • * 


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5i 




drei Jahre es blieb. Darauf kam Abdul-Ghafar und nahm Urartepe. 
Nachdem Mella-khan erschlagen (s. oben), kam Abdtfl-Ghafar wieder 
von Buchara und nahm Ura-tepe. Nach drei Monaten kam Emir 
Mozzafar nach Ura-tepe, gab . es dem Ullah-jär-bäi und zog sich 
zurück. Ullah-jär war drei Jahre Mir. Nachdem der Emir sich von 
den Ufern des Flusses (Sir) zurückgezogen, gab er.Ura-tepe wiedef 
dem Abdul-Ghafar. Sechs Monate später nahmen es die Russen.“ 

Nicht erfreulicher als beim Lesen dieser Zeilen sind die Eindrücke, 
welche wir aus den Berichten der Geschichtschreiber der Uezbe- 
k^n-Dynastien des XVI., XVU. und XVIII. Jahrhunderts empfangen. 
Seit Scheibäni-khan, dem Zeitgenossen Baberis, des Stifters des Rei¬ 
ches des sogenannten Gross-Moguls in Indien, ist die gegenwärtige 
die dritte Dynastie, die in Transoxiana herrscht. Keine von ihnen 
hat einen Herrscher aufzuweisen, dem es gelungen wäre, auf die 
Dauer die zügellosen Elemente der Nomadenstämme, die im Lande 
zerstreut sind, zur Ruhe zu bringen. Abdullah-khan, die einzige be¬ 
deutende Persönlichkeit in der Geschichte der Uezbeken seit Schei¬ 
bäni-khan — er herrschte am Ende des XVI. Jahrhunderts und in den 
ersten Jahren des XVII. Jahrhunderts — wenn er es auch verstand, 
die Uezbeken in fester Hand zu halten und während seiner zahlrei¬ 
chen Kriege im Norden und auf dem rechten Ufer des Amu noch 
Zeit fand, für die reellen Bedürfnisse seiner Unterthanen zu sorgen, 
so fehlte ihm doch der Nachfolger, der mit derselben Ausdauer und 
Energie gegen innere und äussere Feinde aufzutreten gewusst hätte. 

Uebrigens ist ein Staat mit zahlreicher nomadisirender Bevölke¬ 
rung, wenn dazu noch die streitbaren Kräfte desselben von diesem 
Theile der Bevölkerung geliefert we/den, keiner Entwickelung fähig. 
Gelingt es einem Herrscher, die Sonderinteressen der Nomaden¬ 
stämme zu. unterdrücken, so können nur Eroberungen und glückliche 
Kriege seiner Macht Dauer verleihen. Sobald diesen Eroberungen 
und Kriegen Schranken gesetzt werden, beginnt der Verfall der 
Macht. Bei den Uezbeken, überhaupt bei der türkischen Race, 
kommt noch hinzu, dass, wenn sie das Nomadenleben aufgiebt, ein 
warmes Gefühl für den heimathlichen Boden sich bei ihr nicht ent¬ 
wickelt. Ohne Kreuzung mit anderer Race erhebt sie sich auch nicht 
zur fleissigen Sorgt für ihr Heim. Ich habe in der Umgegend von 
Taschkend Qazaqfamilien gesehen, die, ausser Feldern, Gärten besas- 
sen, die wohl die Felder bebauten und die Ernte von ihnen einsam¬ 
melten, aber die Bäume in ihren Gärten verdorren Hessen. Statt die¬ 
selben zu wässern und in ihnen Schatten zu suchen, stellten sie ihr 

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Zelt auf die freie Fläche, wo die Sonne Boden und Atmosphäre er¬ 
hitzt. Auch in Khiwa, in derHauptstadt des Padischäh von Khälezm, 
wie sich der Herrscher dieses Raubstaates nennt, sah ich oft 
Zelte in den Höfen stehen, wo das für Baumanpflanzungen nothwen- 
dige Wässer nicht fehlte. Die Uezbeken, welche Gärten in Khiwa 
besitzen, lassen sie von persischen Sklaven besorgen. 

Ebenso fehlt dem Uezbek wie dem Qazaq die Anhänglichkeit api 
seinen Clan, wie wir sie bei andern Völkern, zum Beispiel bei Kur¬ 
den und Afghanen, noch finden. Stolz auf die eigene Abstammung 
ist der Uezbeke nur, wenn er einem in der Gegenwart mächtigen 
Stamme angehört. Aus diesem Mangel an Anhänglichkeit beim Tür¬ 
ken für den Clan, aus dem er stammt, wäre auch die grosse Zer¬ 
splitterung der Uezbek- und Qazaq-Stämme zu erklären, die schon 
manchem Beobachter central-asiatischer Verhältnisse aufgfcfallen ist. 

Der Leser sieht, dass wir nicht zu den Verehrern der Turk“ 
Stämme gehören. Es ist in letzter Zeit von Kennern central¬ 
asiatischer Verhältnisse oft der Nomade, Uezbek wie Qirghiz 
und Qazaq, über den ansässigen Tadschik und Sart, ja es sind 
die geistigen wie physischen Kräfte des Nomaden über¬ 
haupt über die des sesshaften Landbauers erhoben worden. 
Diese Vorliebe für den wandernden Hirten und seine Sitten 
ist eben keine neue Erscheinung in der Literatur^ Sie ist am 
Ende eben so alt, wie Homer, der die Abier glücklich preist, oder 
wenigstens nicht neuer als Choerilus, der die Schafe weidenden 
Saken die gerechtesten unter den Menschen nennt. Hier macht sich 
eben der Reiz geltend, den selbst für den civilisirtesten Menschen 
der naive Naturmensch mit seinen geringen Bedürfnissen und ein¬ 
fachen Sitten hat. Man findet, der Tadschik und Sart seien kriechend, 
falsch, habgierig. Erstens muss ich bemerken, dass das nicht so all¬ 
gemein ist, als man annimmt. Zweitens, wo es der Fall ist, da sind 
diese Eigenschaften die Waffen, womit der Unterjochte den Kampf 
um das Dasein gegen die rohe Gewalt seines Unterdrückers kämpft. 
Wäre es den Uezbeken gelungen, am Zerafschan die Tadschik aus¬ 
zurotten, oder gänzlich in die Berge zu verdrängen, dort wo jetzt 
noch Gärten und Felder sich ausbreiten, wären diese längst ge¬ 
schwunden, denn dem Sohn der Steppe hätte es an Energie gefehlt, 
die zahlreichen, 1 weit verzweigten Wasserleitungen zu unterhalten. 
Eben dasselbe wäre mit der Oase von Khiwa gewesen. Dass Khiwa 
und Buchara überhaupt noch Staaten, wenn auch erbärmlich regierte 
Staaten sind, haben diese Länder den Sarten und Tadschik allein 


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zu verdanken. Dieser Gedanke drängte sich mir oft bei meiner dor¬ 
tigen Anwesenheit im Jahre 1858 auf. 

Man hat gesagt, wäre der Nomade dem sesshaften Ackerbauer 
nicht geistig und physisch an Kraft überlegen, wie hätte es ihm so 
oft gelingen können, diesen zu besiegen und sich zu unterwerfen. 
IJ)ie Thatsache ist richtig, aber aus ihr folgt keineswegs jene^ Schluss, 
denn der Nomade und cler Sesshafte kämpfen mit ungleichen Waf¬ 
fen. Der Erstere, wenn er dem Andern auch an Zahl nicht über¬ 
legen ist, kann dennoch eine grössere Zahl von Kämpfern ins Feld 
schicken, als dieser. Jener kann über die ganze waffenfähige Mann¬ 
schaft für seinen Krieg dispoiliren, der Ackerbauer dagegen muss 
einen, und zwar nicht unbeträchtlichen, Theil derselben zur Be¬ 
stellung der Felder zurücklassen. Ausserdem sind die Sesshaften für 
den Krieg weniger geübt, da unter ihnen gegenseitige Ueberfälie 
seltener Vorkommen, als unter den Nomaden. Diese können ihre 
Heerden, ihre Weiber und Kinder in den Steppen und Wüsten hin¬ 
ter sich zurücklassen, sie haben also weder den Verlust von Land 
noch von Eigenthum zu fürchten, da die Wüste, die Steppe selbst 
das Letztere schützt, während bei jenen die Sorge um die Familie 
und die Erhaltung der Productionsmittel sie viel eher den an und 
für sich schon ungleichen Kampf aufzugeben zwingt. 

Diejenigen, welche von der höheren Begabung des Nomaden 
im Vergleich sum sesshaften Landbauer sprechen, weisen gewöhn¬ 
lich auf die Volkspoesie der ersteren hin, so zum Beispiel auf die 
Poesie der Wüstenbewohner Arabiens im Alterthum, in der Neu¬ 
zeit auf die Gesänge der Qazaq, von denen uns W. Radloff 
eine so reiche Auswahl im III. Bande seiner „Proben der Volks¬ 
literatur der türkischen Stämme Süd-Sibiriens“ (St. Petersburg 1870) 
geliefert hat Wenn beim Nomaden die Volkspoesie mehr blüht 
als beim sesshaften Landbaüer, so haben wir den Grund dafür in 
dem Umstande zu suchen, dass die Lebensweise, die jeder von 
ihnen führt, d. h. die Mittel, die der Eine und der Andere anwen¬ 
det, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, sehr verschie¬ 
den sind, und dass der Nomade viel weniger Zeit der Händear¬ 
beit widmet, als der Landbauer. Ausserdem sorgt bei jenem fast 
ausschliesslich das Weib für den Unterhalt der Familie. Die Wei¬ 
ber melken das Vieh, scheeren die Schafe und Kameele, sie be^ 
reiten die Speise, fertigen den Filz und die Teppiche an, sie weberi 
und nähen die Kleider, nicht allein für sich,, sondern auch für den 
Mann und die Kinder. Da hat nun der Mann, wenn er nicht be~ 


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schäftigt ist, Fehden auszukämpfen, volle Müsse, der Poesie zu 
leben und seine poetischen Anlagen zu entwickeln. Der sbsshafte 
Landmann ist ebenso wie sein Weib, seine Tochter, oder seine 
Schwester genöthigt, seine Kraft dem Felde und dem Garten zu 
widmen.. Blüht beim Landbauer die Poesie, so ist es vorzüglich 
di^ lyrische, während beim Nomaden das^ Epos zur Entwickelung 
gelangt und vorherrscht. Bei Letzterem ist der Mann der Träger 
der Poesie, bei Ersterem das Weib. 

# Der Reichthum und die Blüthe der VolkSpoesie beim Nomaden 
sind folglich mehr durch die Lebensweise, als durch die ursprüng- 
' liehe natürliche Anlage bedingt. 

Wenn also der sesshafte Landbauer so oft dem- Wanderhirten 
unterliegt, so ist das nicht Folge der grösseren Ueberlegenheit 
des Letzteren vor dem Ersteren an physischer und geistiger Kraft. 
Der tlrund liegt in den Verhältnissen- des Bodens, den jeder von 
ihnen bewohnt. * 

Was nun den türkischen Volksstamm anbetrifft, so dürfte man 
ihm gewiss nicht physische und geistige Ueberlegenheit im Ver¬ 
gleich zum iranischen Volksstamm zuschreiben. Das lehrt schon 
die Geschichte, obgleich der Türke viel häufiger als Herrscher über 
den Iraner, denn als vom Iranier Beherrschter auftritt. Von Türken 
beherrschte Staaten sind wohl zu bedeutender Macht, aber nie zur 
Blüthe gelangt. Den Türken fehlt die Fähigkeit, ein Staatswesen 
zu organisiren. Daher ist ihr Vordringen nach Vorderasien und 
nach Europa als ein Unglück für viele Länder zu betrachten. 

Der geringere Grad an physischer und geistiger Kraft bei den 
Turkstämmen Centralasiens im Vergleich zu den von ihnen unter¬ 
worfenen Iraniern spricht sich hauptsächlich, in der geringen Be¬ 
fähigung der dort lebenden Turkstärfime zum Landbau und zum 
Handel aus, in denen dem Uezbeken wie dem Qazaq der Tadschik 
und der aus der Vermischung von iranischem und türkischem Blute 
hervorgegangene Sart überlegen sind. Am Augenscheinlichsten 
spricht sich dieser Gegensatz aus, wenn man die Städte Khodschend 
und Taschkend mit einander vergleicht. Die eine ist die Stadt 
der iranischen Tadschik, die andere die der aus Kreuzung her¬ 
vorgegangenen Sart, bei denen das türkische Element aber vor¬ 
herrschend sein muss, da ihre Sprache eine türkische ist. Bezeich¬ 
nend für den Uezbek ist das von Vambery (Skizzen aus Mittel¬ 
asien. Leipzig 1*68) angeführte üzbekische Sprichwort«: „Wenn der 


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Sart reich wird, baut er gleich ein Haus“. Der Uezbek prunkt mit 
Pferden und Waffen. 

Die Beschränktheit des Uezbek gegenüber dem Tadschik spricht 
sich auch darin aus, dass er dem stupiden Fanatismus des # central- 
asiatischen Muselmans zugänglicher ist als der Tadschik, den 
auch der Sart an Fanatismus übertrifft. Der Einwohner von Kho- 
dschend ist gegen den europäischen Fremden leutseliger als der 
von Taschkend. In Khodschend besuchte ich eine Moschee jn Ge¬ 
sellschaft mehrerer unserer Vaterlandsgenossen, worunter auch 
eine Dame war. In Taschkend wäre es unmöglich gewesen.. Unter 
den Ischänen sind Turkestaner, deren Muttersprache das Türkische, 
auch häufiger als das Tadschiki Redende. Der. eifrigste Pfleger der 
Bigotterie in Buchara war der Stifter der jetzigen Dynastie, die 
bekanntlich aus dem üzbekischen Stamme der Manghit ist. Abge¬ 
schmackte Heiligengeschichten und asketische Dichtungen circuliren 
meist in türkischer Sprache. Die türkische Bevölkerung, sobald §ie 
ansässig wird, ist dem Fanatismus viel zugänglicher, als die ur¬ 
sprüngliche iranische. Es scheint, als ob sie im Fanatismus und der 
Askese einen Ersatz für die verlorene Steppenpoesie suche. 

Hier bin ich bei einem Punkte angelangt,’ wo ich mit meinem 
verehrten Freunde Radloff nicht übereinstimme. Er sieht, ebenso 
wie ich, in Turkestan zwei Elemente mit einander kämpfen. Das 
eine ist ihm aber das türkisch-volksthümliche, das andere das per- 
sisch-arabisch-muhammedanische (s. seinen Aufsatz: „Das mittlere 
Zerafschanthal“ im VI. Bande der Zeitschrift der Gesellschaft für 
Erdkunde zu Berlin, S. 512). Letzteres hätte, meint er, schon hier 
die Oberhand gewonnen und halte jede Entwickelung des Volkes 
zurück. Einen Fortschritt hält er nur dann für möglich, wenn das 
volksthümliche türkische Element durch europäische Civilisation 
eine Hülfe gewinnen könnte, die die Uebermacht der Muhammedaner 
paralysirte. Jetzt, wo der Volksgeist in der Steppe noch kräftig 
sich erhalte, sei dies nicht schwer. Daher müsste eilig Hülfe ge¬ 
schafft werden. 

Radloff sieht weiter in der Vermischung der türkischen Bevöl¬ 
kerung der Städte mit dem iranischen Elemente das Gefährliche.' 
Meiner Ansicht nach wären die productiven Kräfte jener Länder viel 
geringer, wenn diese Vermischung nicht in dem Grade vor sich gegan¬ 
gen wäre, als sie es ist. Das reine türkische Blut, wie ich es oben 
ausgesprochen,, ist für die Cultur des Bodens nicht so geeignet, 
als das an den Anbau desselben seit Jahrtausenden gewöhnte ira- 


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nische Blut. Den nomadisirenden Qazaq, Qirghiz oder Uezbek, 
die eine scf besondere Vorliebe für’s Zelt haben, zu civilisiren, 
ist keine »leichte Aufgabe. Zum Ackerbau greifen sie nur, wo die 
Noth sig dazu zwingt, wie überhaupt Nomaden von der ausschliess¬ 
lichen Viehzucht zum theilweisen oder sesshaften Landbau nur 
durch die Noth, gezwungen übergehen. In den Niederungen des 
Sir-Därja, wo der Qazaq schon seit längerer Zeit unter russischem 
Schutt lebt, sind von ihm noch keine festen Ansiedelungen ge¬ 
gründet, obgleich die Bodenverhältnisse dem nicht hinderlich sind, 
wie sie es auch vor dem XIII. Jahrhundert nicht waren. Bis jetzt 
hat er sich damit begnügt, Getreide vereinzelt zu säen, ohne sich 
auf Gartenbau zu legen. Schulen bei den Nomaden anzulegen, 
abgesehen davon, dass es eine Unmöglichkeit, ist zwecklos. Die 
in Schulen erzogenen Kinder der Nomaden werden ihrer Natio¬ 
nalität entfremdet und können daher nicht derselben nützlich werden. 
Ueberhaupt ist jede formelle Bildung und jeder religiöse Cultus für 
ein Volk, das noch keine sesshafte Lebensweise führt, ein un¬ 
brauchbarer Luxus. Der tatarische Mulla, der sich so gerne beim 
Zeltbewohner einschleicht, um ihn materiell auszubeuten, macht 
sich bei ihm hauptsächlich als Zauberer beliebt. Für den Nomaden, 
namentlich für den Nomaden türlaschen und mongolischen Stam¬ 
mes, hat jede Religion nur dann Werth, wenn sie seinem Glauben 
an die Kraft des Zaubers Genüge leistet Mangu-Khan hatte an 
seinem Hofe christliche, moslimische und heidnische Priester, aber 
erlegte Werth auf das Gebet und den Segen aller, dieser Priester 
nur desshalb, weil er sie als Zaubermittel betrachtete, welche Un¬ 
glück ab wenden und Glück zu wenden können. Als einmal in der 
Nacht grosse Kälte eingetreten war, schickte er nach Rubruquis und 
einem armenischen Mönch, welcher mit jenem zusammen wohnte, und 
liess sie bitten, sie möchten zu Gott beten, dass er diese Kälte und 
diesen Wind mässige, indem sonst alles Vieh darauf ginge. — Erst 
bei fortgeschrittener Cultur sieht der Mensch ein, dass für sein gei¬ 
stiges Wohl die angeerbten Sitten nicht ausreichen. 

In Russisch-Turkestan wird unter der sesshaften Bevölkerung der 
Einfluss der muhammedanischen Geistlichkeit abnehmen, je mehr 
die im Lande herrschende Ruhe die Entwickelung des Ackerbaus,; 
des Handels und der Hausindustrie (die Industrie hat sich bis jetzt dort 
fast ausschliesslich aufs Haus beschränkt) befördert. Der gegen 
früher geringere Bedarf an einheimischen Beamten im Lande wird 
von nun an den muhammedanischen Gelehrtenschulen auch eine 


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geringere Zahl von Schülern zuführen. Wenn dabei unsere Verwal¬ 
tung darauf bedacht ist, zu ihren Beamten vorzüglich Leute zu wäh¬ 
len, die der im Lande vertretenen einheimischen Sprachen mächtig 
und ausserdem auch mit der früheren Geschichte des* Landes" und 
der des Muhammedanismus vertraut sind, dann wird es ihr auch 
eher gelingen, die Volksstimmung kennen zu lernen und bedacht¬ 
sam gewählte Maassregeln zu ergreifen, um nach • Möglichkeit die 
Volk$stimmung zu leiten. In geeignetster Weise können gut unter¬ 
richtete Beamte durch ihren persönlichen Verkehr mit der Bevölke¬ 
rung wirken. Als nothwendig erscheint uns aber dabei die Beseiti¬ 
gung einheimischer Dolmetscher, die den wohlthätigsten Einfluss 
eines Beamten zu paralysiren immer Gelegenheit haben. Doch 
,ßind wir weit davon entfernt, die gänzliche Beseitigung einheimi¬ 
scher Beamten anzurathen, am wenigsten aus der Polizei, weil ein 
.Polizeibeamter bei jeder Bevölkerung* mag es sein welche es wolle, 
selten eine personagrata ist. Die Verwaltung der Gemeindeangelegen¬ 
heiten ist gleichfalls in den Händen der Einheimischen zu lassen, was 
auch, so viel wir wissen, eben so ivie mit den Richterämtem, gesche¬ 
hen ist. Was wir hier eben ausgesprochen, ist schon vor fünf Jahren 
von einemKenner centralasiatischer Verhältnisseangerathen worden. 
So viel uns bekannt, ist man noch nicht auf die Beseitigung der 
Dolmetscher bedacht gewesen. Wir halten dieselbe als eine durch¬ 
aus nothwendige Bedingung für ein erfolgreiches Wirken jeder euro¬ 
päischen Regierung in asiatischem Lahde. Ausserdem wäre noch 
wünschenswerth, dass die russischen Beamten in Turkestan, die sich 
als ihren dortigen Aufgaben gewachsenerweisen, zu längerem Ver¬ 
weilen im Lande aufgemuntert würden. Freilich muss, wer nach 
Turkestan geht, manche seiner europäischen Lebensgewohnheiten 
aufgeben, s<^hon der Unterschied im Klima verlangt es. 

Uebrigens ist das turkestanische Kliitia für den Europäer kein 
schädliches, denn wer bei seiner häuslichen Einrichtung den An¬ 
forderungen desselben Rechnung trägt und auch sonst eine demselben 
entsprechende Lebensweise führt, im Sommer zum Beispiel die frühen 
Morgenstunden zur Arbeit benutzt, kann sich dort wohl fühlen. Frei¬ 
lich darf ein solcher Umstand, wie z. B. der, dass Kartoffeln in jenem 
Lande viermal theurer als Weintrauben sind, keinen Gegenstand der 
Klage für ihn ausmachen, wie eine solche vor einigen Jahren in einer 
Correspondenz aus Taschkend zu lesen war. Das Ziel einer einiger- 
maassen bedeutenden Coionisation von Aussen wird Turkestan nie 
werden. Auch eine bedeutende Industrie wird sich dort nicht ent- 


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I 


S8 

* 

wickeln, wenigstens nicht indernächstenZeit. Füris Erste ist daraufhin¬ 
zuwirken, dass die zifr Handarbeit nothwendigen Utensilien zweckmäs¬ 
siger seien als die bisher gebräuchlichen, die in vielen Fällen sehr pri¬ 
mitiver Art sind. Ich erwarte viel mehr von der allmählichen % Verbes- 
serung der Handwerkzeuge, als von einer Errichtung von Maschinen¬ 
fabriken, an die man etwa jetzt schon denken wollte. Der einzelne 
Fremde, mag er Beamter oder Kaufmann sein, kann bei gutem Wik- 
len und einigem Interesse für seine Umgebung schon sehr nützlich 
wirken, wenn er eine Reihe 4 von Jahren im Lande ansässig bleibt. 
Eben so können ansässige Europäer durch Einführung zweckmässi-. 
ger Geräthschaften für den Land- und Gartenbau ihre, wenn auch 
nicht umfangreichen häuslichen Wirthschaftcn zu Musterwirtschaf¬ 
ten für den Eingeborenen erheben. Sobald die Mehrzahl der russi^ 
sehen Beamten, und zwar diejenigen unter ihnen, die bei ihren Pflicht¬ 
erfüllungen in tägliche Berührung mit der Bevölkerung ihres Auf- • 
enthaltsortes kommen, mit der an demselben herrschenden Sprache 
vertraut sein werden, wird das Interesse für ihre Umgebung ein 
viel grösseres sein, als es bis jetzt der Fall sein könnte. 

Zu den aus Russisch- Turkestan ausgeführten Rohstoffen, gehört 
vorzüglich dieBaumwolle, die hauptsächlich von Tadschik und Sarten 
angebaut wird. 'Im Jahre 1867 wurden aus Taschkend in das Euro¬ 
päische Russland 30,000 Pud Baumwolle eingeführt. Der bedeutend¬ 
ste Theil der Baumwollenernte wird im Lande selbst von der Haus¬ 
industrie verarbeitet. Eine bedeutende Steigerung der Ausfuhr aft 
Baumwolle ist nicht zu erwarten, so lange noch ein beträchtlicher 
Theil des Bodens, welcher zur Baumwollencultur geeignet wäre, von 
den Heerden der Nomaden abgeweidet wird. Die im genannten Jahre 
aus Central-Asien bezogene Baumwolle betrug ungefähr den sechsten 
Theil' der gesammten in Russland eingeführten Quantitäten diese» 
Rohstoffes. Nach den Erfahrungen, welche in Indien gemacht wur¬ 
den, als die Manchesterschule während des amerikanischen Krieges^ 
daselbst die Production der Baumwolle auf Kosten anderer Produc- 
tionen zu steigern sich bemühte; wäre auch in Jiussisch-Turkestan 
vor einer einseitigen Baunvwollencultur zu warnen, namentlich wenn 
dadurch die Brodpreise in die Höhe getrieben werden könnten. Die 
Qualität der centralasiatischen Baumwolle bleibt hinter der amerika- 
nischei*sowohl als indischen und ägyptischen zurück. In letzterer Zeit 
ist HerrN. M. Rajewski bemüht gewesen, amerikanischen Baumwol¬ 
lensamen im Lande zu verbreiten und eine ratiönelle Methode der 
Reinigung der Baumwolle und ihrer Verpackung einzuführen. Diese 


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Bemühungen um die Erhöhung des Werthes der in Rüssisch-Tur- 
kestan angebauten Baiynwolle verdienen volle Anerkennung. Eben 
so ist man seit 1866 darauf bedacht gewesen, die in Russisch-Turkestan 
producirte Seide durch zweckmässige Behandlung der Cocons zu ver¬ 
bessern, und vor einiger Zeit ist die Ausfuhr der Seidenraupeneier von 
dort verboten worden. Wenn auch zu erwarten steht, dass die Bo¬ 
denerzeugnisse in Russisch-Turkestan in den meisten ihrer Zweige 
eines jährlichen* Zuwachses sich zu erfreuen haben werden, so glaube 
ich dennoch nicht, dass bald die Zeit eintreten dürfte, wo das Land 
dem Staate Einnahmen bieten kann, welche die Kosten seiner Ver¬ 
waltung und des Unterhalts der Truppen in ihm decken würden. 
Wie schon bemerkt, ist am wenigsten an irgend eine bedeutende Fa- 
brikindustie zu denken. Was die in Russisch-Turkestan entdeckten 
Kohlenlager betrifft, so ist zunächst daran zu denken, wie ihr Inhalt 
in der Hauswirthschaft allgemeinere Anwendung finde. Das ist 
um so mehr zu wünschen, als der Mangel an Brennholz ein sehr fühl¬ 
barer ist, eben so wie der an Bauholz. 

Mit einiger Genugthuung habe ich bemerkt, dass man in letzterer 
Zeit von dem Gedanken an die Möglichkeit, den Sir für die Commu- 
nication in erheblicher Weise nutzbar zu machen, zurückgekommen 
ist. Seitdem ich den Sir und den Amu kennen gelernt, habe ich ihre 
eigentliche Bedeutung in der Fruchtbarkeit gesehen, die sie den von 
ihnen durchströmten Ländern gewähren und in noch höherem Gradei, 
als es. seit einigen Jahrhunderten der Fall gewesen, gewähren kön¬ 
nen. Als Bewegungsmittel wird in jenen Ländern noch länge das Ka- 
meel dienen müssen, und es giebt in ihnen noch genug Strecken, 
welche nur zur Züchtung dieses nützlichen Thieres geeignet sind. 

In dem Schluss dieses Aufsatzes, welchen das nächste Heft der 
„Russischen Revue“ bringen wird, werden wir über die Beziehungen 
Russisch-Turkestans zu den Nachbarländern reden und daran eine 
gedrängte Uebersicht der Thatsachcn knüpfen, welche unser bisheri¬ 
ges Vorschreiten in Central-Asien bedingt haben. 


(Schluss folgt.) 


P. Lerch. 


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Der Verein der Freunde geistlicher Aufklärung 

in St. Petersburg und Moskau. 


Die Griechische Kirche wandelt unter ihren Schwestern, wie die 
Frauen des Orients, verhüllt und schweigend. Nur das aufgeschla¬ 
gene Aifge der still Dahinschreitenden lässt den Nähertretenden 
Tiefen des Seelenlebens ahnen, die wohl den Wunsch rege machen, 
mehr von den verhüllten Zügen schauen und genauere Kunde des 
inneren Lebens erhalten zu dürfen. Darum begrüssen wir mit Freude 
und Dank jede Mittheilung, die uns die vorder Oeffentlichkeit so 
scheue Schwester giebt und haben denn auch mit dem grössten 
Interesse von der Entstehung eines Vereins Notiz genommen, der 
durch die Ziele, die er verfolgt, wohl geeignet ist, jenem Wunsche 
entgegenzukommen und das Bedürfniss nach Mittheilung zu be¬ 
friedigen'. 

Auch $n die Pforte der griechischenKirche hat die berechtigte For¬ 
derung der Zeit, die Gemeinde zur innigen und lebendigen Theilnahme 
an den ernsten, tiefgehenden religiösen Fragen aufzurufen, nicht ver¬ 
geblich geklopft, vielmehr freundlichen Einlass erhalten. Schon vor 
zehn Jahren (am 22. Juni 1862) war in Moskau eine Anzahl Glieder 
der griechischen Kirche zu einem Verein zusammengetreten, der es 
sich zur Aufgabe stellte, „die Verbreitung und Entwicklung religiös¬ 
sittlichen und anderen Wissens zu fördern, welches den Bedürfnissen 
des orthodoxen Glaubens entspricht und zwar sowohl unter der Geist¬ 
lichkeit, wie unter den übrigen Volksclassen durch Herausgabe von 
Schriften religiösen und sittlichen Inhalts und kurzer gemeinver¬ 
ständlicher Abhandlungen ähnlicher Art zur Erbauung des Volkes, 
durch Vorlesungen über Gegenstände aus dem Gebiet des ortho¬ 
doxen Glaubens, der Kifche und des christlichen Lebens und durch 
andere Mittel.“ 

Nur wenig ist von der Thätigkeit dieses Moskauer Vereins in 
weiteren Kreisen bekannt geworden und die Zeit ist auch noch zu 


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kurz, zu prüfen, mit welchem Erfolg diese gewiss zeitgemässen Be¬ 
strebungen gekrönt wurden. Die Zeitströmung hat unterdessen in 
gewaltiger, noch vor einem Lustrum kaum geahnter Weise die tief¬ 
eingreifendsten, religiösen Fragen herangefiihrt und zwingt ihre Er¬ 
ledigung dem gegenwärtigen Geschlechte fast auf. Die römische 
Kirche ist bis in ihre innersten Fügen erschüttert und in eine Be¬ 
wegung hineingerathen, deren Zielpunkt noch kein Menschenauge 
entdeckt hat. Die erste entscheidungsvolle Arbeit des deutschen 
Reiches und doch auch nur ein Anfang, dem sich eine weitere Folge 
nothwendig anreihtf ist auf kirchlichem Gebiete geschehen. Unsere 
grössten Tagesblätter lesen sich augenblicklich wie Kirchenblätter: 
so beherrscht die eine brennende Frage den ganzen Inhalt. Die 
Wogen dieser Bewegung schlagen auch hier an; es ist nicht 
mehr ein Rauschen und Branden nur in der Ferne: unmittelbar 
nahe sind einzelne Punkte der Bewegung der griechischen Kirche 
gerückt. t 

Das Bedürfnis, das vor zehn Jahren in Moskau jenen Verein ins 
Leben gerufen, erheischt unter solchen Verhältnissen in gesteigertem 
Grade seine Befriedigung nun auch in der Hauptstadt des Reiches. 
Der Grossfürst Constantin Nicolajewitsch ist es gewesen, der als 
erster Gründer hier in St. Petersburg eineSection jen^s Moskauer Ver¬ 
eins vor wenigen Monaten ins Leben gerufen. Auf seine Anregung hin 
bildete sich in St. Petersburg eine Gesellschaft, diesich am 14. Februar 
1872 zum ersten Male in einer Anzahl von 40 Mitgliedern versammelte. 
Unter den Anwesenden finden wir Namen, die im Auslande bekannt 
sind, zum Theil dort einen guten Klang haben, wie den des Ober¬ 
priesters Wassiljew, der der russischen Kirche in Paris vorgestanden, 
des Oberpriesters Janischew, der als Priester der russischen Kapelle 
lange in Wiesbaden geweilt und dort auch mit deutscher Theologie 
sich vertraut gemacht und des Professors Ossinin, der bei dem Alt- 
katholikencongress in München zugegen gewesen. 

Man beschloss in dieser ersten Versammlung, nicht das sehr 
vollständige Programm des Moskauer Vereines anzunehmen, sondern 
zunächst noch bis zur weiteren Entwickelung und der Gewinnung von 
Anhaltspunkten durch eigene Erfahrung die Wirksamkeit der Section 
vorzugsweise auf folgende Ziele zu lenken: 

„1. Die Annäherung zwischen unserem Clerus und der weltlichen 
Gesellschaft und den Gedanken-Austausch über Fragen, welche 
die rechtgläubige Kirche betreffen, zu fördern; 

2. der Verbreitung gesunder Anschauungen von der wahrhaften 
Lehre > den historischen Schicksalen und den derzeitigen Desi- 


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derien der rechtgläubigen Kirche durch t Schriften und Vorle¬ 
sungen, wissenschaftliche sowohl als populäre, zu dienen; 

3. «mit den Vorkämpfern der rechtgläubigen Wahrheit im Aus- - 
lande Beziehungen zu unterhalten, ihnen einen moralischen Halt 
zu bieten und zur Läuterung der Ansichten über die orthodoxe 
Kirche im Auslande mitzuwirken.“ 

Schon am 26. März konnte d%r Oberprocurator des Synod mit- 
theilen, .„dass seine Majestät der Kaiser, der Resolution des hlg. 
Synod entsprechend, die Gründung der ^t. PetersburgerSection des Ver- 
eins der Freunde geistlicher Aufklärung auf der Basis des von den 
Gründern der Section eingereichten Programmes Allerhöchst zu 
genehmigen geruht habe.“ 

In einem darauf entworfenen Memoire hat die Section ihre Ziel¬ 
punkte näher bestimmt mit der Absicht, durch seine Veröffentlichung 
dem Verein Freunde zu gewinnen. Aus dem bedeutsamen Schrift¬ 
stücke heben wir folgende Stellen hervor: 

„Eine der hauptsächlichsten öffentlichen Calamitäten unserer 
Zeit liegt in der Gleichgültigkeit des weltlichen Publikums für die 
Fragen und Bedürfnisse des kirchlichens Lebens. Auch bei uns 
zieht die weltliche Gesellschaft allzugeringen Nutzen von dem 
aufklärenden Einflüsse der Kirche; die Geistlichkeit hat das Ge¬ 
füge und die Gewohnheiten eines abgeschlossenen Standes an¬ 
genommen und die russische Kirche selbst ist Angriffen wegen 
ihrer angeblichen Leblosigkeit ausgesetzt, die dem Wesen der Or¬ 
thodoxie doch so wenig eigen ist. 

Dieser Missstand wird bereits von Vielen anerkannt; die Hierarchie 
hat eine Reihe wichtiger Maassnahmen ergriffen, um jene hi¬ 
storisch ausgebildeten Verhältnisse zu beseitigen, welche die Ent¬ 
wickelung desselben begünstigten; plrivate Anstrengungen geist¬ 
licher Personen haben sich demselben Ziele zugewandt, und gegen¬ 
wärtig ist es mehr denn je von nöthen, dass das weltliche Pub¬ 
likum diesem Streben die Hand bietet. ... 

Unter den zahlreichen öffentlichen Institutionen unserer Resi¬ 
denz gibt es keine, welche die Geistlichkeit und die Laien zu ge¬ 
meinsamer Erörterung allgemein kirchlicher Fragen und zu ver¬ 
eintem Wirken für die Beseitigung der kirchlichen Nothstände 
aufforderte. Bis zur Stunde harren in St. Petersburg Maassnahmen der 
Verwirklichung, wie sie von dem Moskauer Verein der Freunde 
geistlicher Aufklärung zur Verbreitung genauer Kenntnisse von 
der orthodoxen Kirche und zur Bearbeitung der im Laufe der Zeit 
auftauchenden Fragen des kirchlichen Lebens ergriffen worden 
sind. So geschah es z. B., dass Personen aus dem Westen, welche 
das Studium der Quellen der christlichen Glaubenslehre zur Wahr-, 
heit der Orthodoxie geführt hatte, wenn sie sich an uns wandten, 
einzig und allein der Hierarchie gegenüber standen und unter uns 


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kein öffentliches Organ fanden, das ihnen; im Namen der ms» 
sischen Gesellschaft hätte Rede stehen können. Augenblicklich 
wird der Mangel eines solchen gesellschaftlichen Centrums noch 
fühlbarer und kann aus demselben ein directer Nachtheil für die 
Erfolge der Orthodoxie erwachsen, denn bei der gewaltigen reli¬ 
giösen Bewegung, wie sie .der Westen Europas darbietet, steht zu 
erwarten, dass man sich immer häufiger an uns Russen als Mit¬ 
glieder der orthodoxen Kirche wenden wird. Wer von uns aber 
soll auf diese Fragen die Antwort ertheilen? Der Kirchen-Obrig- 
keit steht es nicht an, sich auf alle Einzelheiten der religiösen 
Fragen einzulassen, welche unsere Epoche aufregen; ihr Wort ist 
nur in entscheidenden Fällen am Platze.“ 

Die in diesem Memoire zum Theil nur angedeuteten Gedanken 
hat der Erzbischof Wassiljew in einer ausführlichen Rede näher 
erörtert. Wer mit den hiesigen Verhältnissen näher vertraut ist und 
die Hoffnung nicht aufgeben will, dass den Worten, deren Trag^ 
weite der hochgestellte Kirchenmann gewiss zu ermessen vermag, 
nun auch ihre Ausführung folgen möchte, der ist geneigt, in dieser 
Rede den Markstein einer Entwickelung zu sehen, die einflussreich 
und bedeutsam auf die Ausgestaltung der erwähnten Gegen¬ 
stände einwirken muss. Der Erzbischof erkennt die Sonderung 
zwischen der Geistlichkeit und der Gesellschaft und die Fcrnhaltung 
der Gesellschaft von der Betheiligung an kirchlichen Angelegen¬ 
heiten an und zeigt, dass es vordem nicht so gewesen und die Ver¬ 
hältnisse dringend die Wiederherstellung der alten Ordnung fordern. 

In freudig-überraschei\d freisinniger Weise deckt nün der Erz- # 
bischofdcn Ursprung und den Umfang der Theilnahme der Laien an 
kirchlichen Angelegenheiten auf. So wird heute kein römischer 
Priester zu sprechen mehr wagen! Die einzelnen Gedanken erinnern 
an die tiefe Auffassung der evangelischen Kirche, und zwar, was 
den behandelten Punkt betrifft, näher noch, wie diese Auffassung 
ihren lebendigen Ausdruck in der reformirten Kirche gefunden. 

• Das ist eben der grosse Vorzug, den die griechische Kirche vor der 
römischen voraus hat, dass sie in solchen Fällen unbehelligt in den 
Rcichthum der alten Kirche zurückgreifen und die dort aufge- ' 
häuften Schätze, als heute noch zu Recht bestehend, für sich ver¬ 
wenden kann. 

Treten wii* einzelnen dieser epochemachenden Sätze des Erz¬ 
bischofs etwas näher. 

Scho» in dem Begriffe der Kirche, wie er von den Aposteln auf¬ 
gestellt, so sagt* Wassiljew, wurzelt das Recht oder vielmehr die 


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Pflicht aller Glieder der Kirche, nach dem Maasse ihres Berufes, 
ihrer Kräfte und ihrer Gaben, zum Leben und zu der Stärke dieser 
heiligen Gemeinschaft mitzuwirken*). Selbst bei der Vollziehung der 
Sacramente, wo den Laien allerdings der geringste Antheil gestattet 
ist, sind sie doch nicht theilnahmlos. Unter Umständen ist ihnen der 
Vollzug der Taufe gestattet; eine gewisse vorbereitende Seite des 
Sacramentes der Busse, nämlich die brüderliche gegenseitige 
Beichte in Begleitung von gegenseitigen Rathschlägen und des Ge¬ 
betes ist auch ihnen zugänglich. „Die von Gott berufenen und ge¬ 
weihten Vollzieher des Sacramentes der Eucharistie sind die Bischöfe 
und Priester; als vernünftige Werkzeuge Christi aber, des Dar¬ 
bringers muLdes Dargebrachten, sondern sie sich bei der Ver¬ 
richtung ihres heiligen Amtes nicht von den Gläubigen und diese 
nicht von ihnen. Der Administrirende fleht zu Gott: und lass uns 
%iit einstimmigem Munde und einstimmigem Herzen verherrlichen und 
preisen Deinen hochgefeierten Hamen des Vaters, des Sohnes und 
des heiligen Geistes . Die Gläubigen theilen das Gebet des Admini- 
strirenden, sie antworten auf seine Anrufung mit der Bekräftigung 
des Glaubens und der Zuversicht: Amen; sie singen einige kurze 
Bruchstücke aus dem eucharistischen Gebete selbst, legen das Glau- 
bensbekenntniss ab und sprechet das Gebet des Herrn; auf das 
Herabflehen des Segens unseres Herrn Jesu Christi, der Liebe Gottes 
des Vaters und. der Gemeinschaft des heiligen Geistes antworten 
sie mit dem Herabflehen derselben Segnung auf den Administri- 
renden: und mit Deinem Geiste. Wenn somit der berufene Priester 
im Geheimen das Sacrament vollzieht, so unterstützen ihn die Gläu¬ 
bigen moralisch und durch das Gebet.“ 

Ausführlicher geht der Erzbischof auf die Administration der 
Kirche ein, in der der weltlichen Seite grösserer Spielraum gewährt 
wird. Von den Aposteln war es eingesetzt, dass dem Laien eine 
lebendige und thätige Mitwirkung bei der Wahl der Candidateh 
für hierarchische Aemter gestattet werde. „Es unterliegt keinem 
. Zweifel, dass die Laien während der vier ersten Jahrhunderte das 
Recht der Bischofs- und Presbyterwahl besassen und dass die Hie¬ 
rarchie ihre Wahl nicht nur als einen von den Aposteln eingesetzten 
Gebrauch und als ein Vorbild anerkannte, sondern bisweilen der 
Beharrlichkeit der Wähler nachgab“. Auch bei den Provincial- und 


*) Wie nahe berührt sich dieser Gedanke mit dem reformirten Bekenntmss, z. B. 
in der 55. Krage des Heidelberger Catechismus. 


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öconomischen Synoden war die Betheiligung der Laien in ver¬ 
schiedener Form und in verschiedenem Grade gestattet. 

Der Erzbischof kommt dann darauf Zureden, dass, wenn den Gläu¬ 
bigen die moralischeMitwirkung bei derkirchlichenGesetzgebung nicht 
versagt wurde, um so wenigerder christliche Staat von derselben fern 
gehalten werden konnte. Aus mehr wie einem Grunde sind wir 
gewillt, dem Redner bei dieser Gedankenreihe zu folgen; als inte¬ 
ressant unter den gegenwärtigen Verhältnissen heben wir nur den 
einen Satz hervor, dessen Spitze gegen die römische Kirche ge¬ 
richtet ist. „Mögen uns die Anhänger jener andersgläubigen Kirche 
dafür rügen, wo herrschsüchtige Isolirung der Kirche vom Staate 4 
und von der Gesellschaft für Ordnung, fruchtloser Kampf gegen die 
politische Macht für Unabhängigkeit gehalten wird. Wir folgen dem 
Worte des Erlösers: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und 
Gott, was Gottes ist. Wie eine Bürgerin, die dem Herrscher unter- 
than, wie eine Scelsorgerin, die für ihn betet und ihn erleuchtet, 
wie eine Erdenpilgerin, die sich unter seinen Schutz stellt, nähret 
sich die orthodoxe Kirche dem Ideal des Apostels Paulus: auf 
dass wir ein geruhlichcs und stilles Leben führen mögen in aller 
Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut,* dazu auch 
angenehm vor Gott.“ 

Auch auf dem Gebiete der. Lehrthätigkeit weist der Erzbischof 
den Laien und der Gesellschaft den ihnen schon von den Aposteln 
eingeräumten Platz an. Im Anschluss an das Wort des Apostels 
Petrus, dass „die Gläubigen allzeit bereit sein sollen zur Verant¬ 
wortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist“, 
giebt das „Orthodoxe Glaubensbekcnntniss“ als zweite Handlung 
der christlichen Barmherzigkeit an: „zu belehren den Unwissenden 
upd Thoren; dieses Werk vollbringt Derjenige recht, der den Unwis¬ 
senden lehrt, wie man an den dreieinigen Gott glaubt.“ 

Möchten die Worte des Erzbischofs nicht erfolglos verhallen! 
Möchte der Verein im innigen, lebendigen Glauben an die Wahrheit, 
die von Gott ist, muthig auf der eingeschlagenen Bahn vorwärts 
gehen! Riesengross*ist die Aufgabe, die ihm gestellt ist; unendlich 
kann der Segen sein, der da aus treuer und beharrlicher Arbeit für 
das Land und sein Volk hervorgehen wird. Ein Wunsch kann 
nicht unterdrückt werden, dass der Verein seine ganze Aufmerk¬ 
samkeit der Heimath zuwenden und den Blick nicht allzusehr in die 
Ferne möge schweifen lassen.—Der erste und zweite Artikel desPro- 

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grammes gehen dem dritten wohlweislich voraus: sie haben die erste 
Berechtigung an die ungetheilte Arbeitskraft der Männer, die den 
Verein bilden. 

Ein Blick auf das dritte Protokoll der Gesellschaft vom 12. Mai 
hiess dem Wunsch Ausdruck geben. Es will uns bedünken, als ob der 
ausländischen altkatholischen Bewegung eine zu grosse Beachtung 
eingeräumt sei gegenüber den unendlich wichtigen Aufgaben, die sich 
der Verein im Vaterlandc gestellt und die so dringend ihrer Inan¬ 
griffnahme harren. Wo man in der Heimath und mit ihren Verhält¬ 
nissen und Bedürfnissen vertraut, sichere und feste Schritte thun 
kann, da ist der Gang unsicher und schwankend bei der Beurtheilung 
der Strömungen im fremden Lande. Als Beispiel dafür könnte die 
günstige Beurtheilung der Thätigkeit eines Geistlichen angesehen 
werden, wie die des Aloysius Anton in Wien, dessen rapide Ent¬ 
wickelung eher geeignet sein dürfte, die altkatholische Bewegung 
in gewissem Sinne zu compromittiren, als ihr einen grossen Erfolg zu 
sichern. In einer seiner letzten Schriften (Das gefälschte Christenthum 
und die Welt. Pest 1871) hat dieser altkatholische Weltpriester An¬ 
sichten entwickelt, von denen man doch wohl nicht wünschen kann, 
dass sie überall Eingang fänden. 

Doch unsere Absicht ist es nicht, die Thätigkeit des Vereins einer 
Beurtheilung zu unterwerfen, als vielmehr sein Zustandekommen in 
St. Petersburg herzlich zu begrüssen als Lebensäusserung einer 
Kirche, der wir räumlich so nah gestellt sind. 


H. Dalton. 


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Die polytechnische Ausstellung in Moskau 

vom Jahre»V872. 


I. 

Das Andenken an die Geburt Peter’s des Grossen durch die Ab¬ 
haltung einer allgemeinen polytechnischen Ausstellung zu feiern, war 
jedenfalls ein würdiger und im Geiste des gefeierten Mannes liegen¬ 
der Gedanke. Dass die Auffassung dieses Gedankens und dessen 
practische Ausführung von den Mitgliedern der MoskauerUniversität 
ausgegangen, und von andern aufgeklärten und mit der Zeit fort¬ 
schreitenden Männern der alten Zarenstadt unterstützt worden ist, 
gereicht nicht nur all diesen Männern zur Ehre, sondern liefert auch 
einen schlagenden Beweis der universellen Wirksamkeit aller jener 
volkswirtschaftlichen Maassnahmen, die ihr Entstehen der Initiative 
Peters dtfs Grossen verdanken, einer Wirksamkeit, welche das weite 
Gebiet Russlands umfasst, und die eben einen neuen Ausdruck in 
der. diesjährigen polytechnischen Ausstellung Moskaus gefunden 
hat. Der Gründer St. Petersburgs, der den politischen Schwerpunkt 
des russischen Reiches vonMoskau an dieUfer des Baltischen Meeres 
verlegt und dadurch die damals erste Hauptstadt Russlands zur 
zweiten herabgedrückt hatte, sorgte durch seine wirtschaftlichen In¬ 
stitutionen auch für die Zukunft der alten Krönungsstadt, indem sei¬ 
nen Anordnungen und Maassnahmen vorzugsweise Moskau seine, 
jetzige Blüthe und d^is hochentwickelte industrielle Leben dankt, 
dessen es sich heute in so ausgedehntem Maasse erfreut. Dieser 
Umstand genügt, um einen Anhaltspunkt dafür zu bieten, warum es 
gerade Moskau war, das sich berufen fühlte, sich gewissermaassen 
zum Schwerpunkt der Feier des zweihundertjährigen Geburtstages 
Peters des Grossen zu machen. 

Was nun die Ausstellung selbst anbelangt, so wurde der Gedanke 
an eine solche zwar allgemein mit Sympathie begrüsst, trotz dem, dass 
die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung vom Jahre 1870 noch 

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68_ 

nicht einmal geschlossen war, als derselbe schon zu reifen begann; allein 
diese anfängliche Sympathie erkaltete namentlich unter den russi¬ 
schen, von Moskau entfernt wohnenden Industriellen nicht unerheb¬ 
lich und in dem Verhältnisse, als sich dieselben des Zweckes und der 
Bedeutung der in Anregung gebrachten Ausstellung klarer bewusst 
wurden. Etwas enttäuscht betreffs der materiellen Erfolge der St- 
Petersburger Ausstellung, fand ein grosser Theil unserer russischen 
Industriellen kein Interesse darum, der „belehrenden“ Aufgabe der 
Ausstellung seine Unterstützung zu leihen. Hätte es sich um eine 
reine Concurrcnz-Ausstcllung gehandelt, wie dies bei der letzten 
St. Petersburger mehr oder weniger der Fall war, so würde trotz 
dem die Betheiligung der industriellen Kreise Russlands eine leb¬ 
haftere gewesen sein. Allein der dem Unternehmen zu Grunde lie¬ 
gende Zweck „das Publicum auf den Nutzen der Anwendung der 
Naturkunde auf das Leben in wissenschaftlicher und practischer 
Hinsicht hinzuweisen und dasselbe mit den verschiedenen techni¬ 
schen Productionen bekannt zu machen“, musste zwar die Billigung 
aller ernst denkenden Leute finden, harmonirte aber wenig nlit den 
Ansichten einer grossen Anzahl unserer Industriellen, welche gewohnt 
sind, in den Ausstellungen das Mittel für eine wirksame und dabei 
gerechtfertigte Reclamc für ihre industriellen Erzeugnisse zu finden. 
Die Zahl der russischen Aussteller, insoweit man solche' im Kreise 
der russischen Gewerbetreibenden der verschiedenen Art sucht, ist 
daher auch eine verhältnissmässig geringe, und steht im Vergleiche 
zu derjenigen, welche die St. Petersburger Ausstellung vom Jahre 
1870 beschickten, weit zurück. Diese letztere bot daher auch ein 
viel vollständigeres Bild des, russischen Industriclebens, als dies die 
heutige Moskauer Ausstellung thut, welche dafür aber in anderer 
Beziehung von ungleich höherem Interesse ist. 

Dass sich das Ausstellung^ - Comite so zu sagen in letzter 
Stunde noch entschloss, die Ausstellung . des Characters einer spe- 
cifisch russischen zu entkleiden und ihr den einer mehr oder weniger 
internationalen zu geben, mag wohl die Ursache in den eben ange¬ 
deuteten .Verhältnissen finden, obgleich der Ausstcllungsreferent 
der deutschen „St. Petersburger Zeitung“ ausdrücklich hervorhebt, 
dass schon während der letzten St. Petersburger Ausstellung mit 
dem deutschen Commissär Dr. Grothe wegen Betheiligung Deutsch¬ 
lands an der gegenwärtigen Ausstellung verhandelt worden sei. 
Wäre letzteres wirklich der Fall gewesen, so muss es auffallen, warum 
man so lange Zeit vergehen liess, bevor man die ausländischen In- 


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Ö9_ 

dustriellcn officiell zur Betheiligung an der Moskauer Ausstellung 
auffordertc. Dies bestärkt nur in der Ansicht, dass letzteres wahr¬ 
scheinlich ganz unterblieben seih würde, wenn die gehoffte Betheili- 
4 gung der russischen Industriellen eingetreten wäre. 

Schon der Name „polytechnische“ Ausstellung, obgleich durchaus 
nicht erschöpfend und, zum Theil wenigstens, irreführend, deutet 
darauf hin, dass sich das Moskauer Unternehmen von den bisherigen 
sogenannten Industrie!- und Manufactur-Ausstellungen nicht unwe¬ 
sentlich unterscheidet. Während diese letzteren dem Beschauer das 
fertige Industrieproduct vor Augen führen, bezweckt die polytechni¬ 
sche Ausstellung nicht n.ur, wie im Programm hervorgehoben, „den 
Nutzen der Anwendung der Naturkunde auf das Leben in. wissen - 
schaftlicher und practischer Hinsicht darzustellen, sondern auch die 
Besucher mit dem Gange der Entstehung der einzelnen Industrie er Zeug¬ 
nisse selbst bekannt zu machen “, ihnen die verschiedenen Stadien der 
Production, angefangen von der Gewinnung des Rohstoffes bis hin¬ 
auf zur Herstellung des fertigen Fabricates in allen Details vor 
Augen zu führen und ihnen an practiscjien Beispielen die verschiede¬ 
nen Manipulationen zu zeigen, welche vorgenommen werden müssen, 
um den Rohstoff in ein oft complicirtes Kunstproduct umzuwandeln. 
So erblicken wir beispielsweise den Samen (das Ei) der Seidenraupe, 
sehen die Entwickelung dieser letzteren in ihren verschiedenen Le¬ 
bensperioden, ihre Verpuppung, das Entstehen, die Verwendung 
der Cocons, die Abhaspelung der Seide nach den verschiedenen 
üblichen Methoden, das Spinnen der abgehaspcltcn Seidenfaden, die 
Verwebung der gesponnenen Seide zu Stoff, der sich schliesslich 
unserem Auge als vollendetes Seidenbrocat darstellt, mit einem 
Worte, wir überblicken das ganze Gebiet der Seiden-Industrie mit 
allen von ihr benutzten Hülfsstoffen und Hülfsmaschinen und es ist 
gewiss nicht abzuleugnen, dass eine derartige Ausstellung des Inte¬ 
ressanten und wirklich Belehrenden viel bietet, dass sic darnach an- 
gethan ist, den Sinn für gewerbliche Thätigkeit in weiten Kreisen 
zu wecken, dass mit ihr ein neuer und practischer Weg betreten 
worden ist, um unser modernes Ausstcllungswesen, weniger wie 
früher zu einem Mittel blosser*Rcclame, sondern vielmehr zu einem 
Bildungsmittel hervorragendster Art und auf breitester Grundlage 
zu machen. Den Moskauern gebührt das Verdienst, diese Idee in 
grossartigem Maassstabe zur practischen Ausführung gebracht zu 
haben. Dass der dem ganzen Unternehmen zu Grunde liegende 
Zweck, obgleich der Hauptsache nach und im Allgemeinen, doch 


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bei diesem ersten grossen Versuche nicht vollständig erreicht wurde, 
j?t selbst bis in alle Details nicht erreicht werden konnte, darf weder 
Wunder nehmen, noch den Veranstaltern zum Vorwurf gereichen; 
im Gegentheil muss man anerkennen, dass sie unter äusserst schwieg 
rigen Verhältnissen das nur Mögliche geleistet haben; ja, dass sie das 
Unternehmen in Russland überhaupt zu Stande bringen konnten, ist ein 
grosses Verdienst, das ihnen Niemand, der es ehrlich meint, abstrei¬ 
ten wird. Der persönliche Egoismus, der im modernen Industrie¬ 
leben eine so hervorragende Rolle spielt, ja der gewissermaassen als 
der Impuls der Entwicklung desselben angesehen werden muss, wird 
immer und selbst aüch in der Zukunft ein mächtiges Hinderniss bil¬ 
den, um eine derartige, wenn auch ungemein nützliche, doch mehr 
oder weniger ideale Idee, wie die hier vorliegende, zur Ausführung 
zu bringen. 

Wenn auch eine verhältnissmässig nur geringe Zahl unserer russi¬ 
schen Industriellen und unter diesen auch hauptsächlich nur solche^ 
welche Fabricate erzeugen, zu deren Herstellung keine besondern 
Geheimnisse oder mindestens geheim zu haltende Kunstgriffe erforder¬ 
lich sind und daher auch nicht gewahrt zu • werden brauchen, die 
Ausstellung beschickt haben, so sind dieselben doch meistens, wenn 
auch unter Opfern verschiedener Art, dem ursprünglichen Pro¬ 
gramme einer ,,polytechnischen“ Ausstellung treu geblieben und 
haben gewissenhaft Alles aufgeboten, um die Besucher der Ausstel¬ 
lung mit den verschiedenen technischen Manipulationen des von 
ihnen betriebenen Gewerbes bekannt zu machen. Diesen Männern 
gebührt der Dank nicht nur unserer lebenden Generation, sondern 
auch der kommenden, denn sie haben, und wäre es auch nur durch 
die jetzige Moskauer Ausstellung, der Zukunft vorgearbeitet und sie 
sind nicht davor zurückgeschreckt, ihr eigenes Wissen und Können 
nach besten Kräften zum Gemeingute zu machen. Hierin liegt die 
Bedeutung, ja selbst die epochemachende Bedeutung der Moskauer 
polytechnischen Ausstellung und dieser eine Umstand schon lässt 
diese Ausstellung in einem Lichte erscheinen, das zur Leuchte für 
die Zukunft und mehr oder weniger^ maassgebend für andere kom¬ 
mende Ausstellungen werden muss. Man kann wohl sagen, die 
Moskauer Ausstellung ist die erste bis zu einem gewissen Grade 
wirklich practische, weil auf die Praxis einflussnehmende, grössere 
Ausstellung der Gegenwart und es ist nicht daran zu zweifeln, dass das 
ihr zu Grunde liegende Princip in Zukunft immermehr Anerkennung 
finden wird, dass die Ausstellungen in Folge davon ihren gegen- 


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7 * 


wärtigen Character jnehr oder weniger* ändern und zu wirklichen 
Volksbildungsmitteln heranreifen werden. Der Hauptcharacter, den 
die gegenwärtige Moskauer Ausstellung mindestens in wesentlichen 
Theilen trägt, ist daher auch der eines Volksbildungsmittels. 

Die ausländischen Industriellen, sowie diejenigen russischen, deren 
Etablissements in grösserer Entfernung von Moskau liegen,, waren 
schon in Folge dieses letzteren Umstandes nicht in der Lage, durch 
ihre Ausstellungen dazu beizutragen, den belehrenden Character des 
Moskauer Unternehmens zu fördern. Jede Ausstellung ist ohnedem 
für den Aussteller mit Kosten und Ungelegcnheiten verschiedener 
Art verbunden und er ist in den meisten Fällen froh, wenn er sein 
Ausstellungsobject, das fertige Fabricat, ungefährdet in den Aus¬ 
stellungsräumen aufgestellt sieht. Die meisten Aussteller sind Ge¬ 
schäftsleute und bezwecken durch ihre Betheiligung zunächst ein 
Bekanntwerden ihrer Fabricate in weiteren Kreisen und in Folge 
davon die Erwerbung neuer Absatzgebiete. Unter Berücksichtigung 
dieser Verhältnisse hiesse es mehr von ihnen verlangen, als sie zu 
leisten im Stande sind, wollte man ihnen auch noch die Pflicht auf¬ 
erlegen, dier hiesigen Industriellen dadurch zu belehren, dass sie die¬ 
selben mit den ausländischen Fabricationsmethoden bekannt machen, 
dass sie die Kunstgriffe preisgeben sollen, deren Handhabung sie be¬ 
fähigt, für ihre Waaren Absatz in Russland zu finden und der hiesigen 
wie ausländischen Concurrenz die Spitze zu bieten. Man hat von 
mancher Seite den ausländischen Ausstellern hieraus einen Vorwurf 
gemacht, der mir nicht gerechtfertigt zu sein scheint. Diese Herren 
haben zunächst nur ein Interesse daran, sich von ihren Geschäfts¬ 
rücksichten leiten zu lassen und diese zu dem Ausgangspunkt ihrer 
Betherligung zu machen. !Man kann ihnen um so weniger einen 
Vorwurf daraus machen, dass sie dem Ausstellungs-Programm nicht 
nach allen Richtungen entsprochen haben, als einerseits eine strenge 
Einhaltung desselben wegen der grossen Entfernung geradezu un¬ 
möglich war, weil ihnen andererseits der Termin zu ihrer Bethei- 
ligung nur sehr kurz zugemessen war, und weil man schliesslich 
an die ausländischen Industriellen doch nicht strengere Anforderun¬ 
gen stellen darf, als an die russischen, welche auch zum grossen 
Theil nur ihr fertiges Fabricat zur Ausstellung sandten. Was nützt 
es auch im Ganzen viel, wenn man neben dem Wollenstoff ein 
Bündel Schafwolle ausstellt, aus welchem schliesslich das Fabricat 
entstanden ist, nachdem es einmal die Umstände unmöglich gemacht 
haben, das ganze Verfahren der Fabrication dem Beschauer prac- 


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72 


tisch vorzuführen. Haben sich doch selbst viele russische Indu¬ 
strielle von der Beschickung der Ausstellung nur deshalb abhalten 
lassen, weil ihnen die Ausführung der letzterwähnten Forderung 
ungelegen kam. Hätte das Ausland sich von gleichen Gesinnungen 
leiten lassen : aus der Moskauer Ausstellung wäre nicht entfernt das 
geworden, was aus ihr in Wirklichkeit geworden ist. Dass auch 
das Ausland die der Moskauer Ausstellung zu Grunde liegende 
Idee richtig erfasst hat, beweisen die Collectionen, welche einzelne 
Regierungen, namentlich die deutsche, österreichische, wiirtem- 
bergische etc. zum Zwecke der Moskauer Ausstellung zusammen- 
stellen Hessen und welche ein anschauliches Bild über den Zustand 
wichtiger Staatsinstitutionen, z. B. des Montanwesens, .des Tele¬ 
graphen- und Postwesens, des Erziehungswesens etc. in den ver¬ 
schiedenen Staaten liefern und welche wesentlich dazu beigetragen 
haben, der Moskauer Ausstellung ihren bedeutungsvollen, die Zu¬ 
kunft beeinflussenden und belehrenden Character zu wahren. In 
erster Linie ist dieser letztere auch der russischen Regierung und 
dem Ausstcllungs-Comite selbst zu danken, das mit unermüdlichem 
Eifer und mit opferwilliger Thätigkeit bemüht war, die' Ausstellung 
in Wirklichkeit zu einem Bildungsmittel des russischen Volkes zu 
machen. 


Diese, meinen Ausstellungsberichten vorausgeschickten allgemei¬ 
nen Bemerkungen kann ich nicht schliesscn, ohne noch einen Irr¬ 
thum zu berichtigen, der mir in mehreren namhaften deutschen 
Zeitungen, z. B. der Augsburger ,,Allg. Zeitung“, der „Leipziger 
Zeitung“ etc. aufgestossen* Man trägt sich darnach im Auslande 
mit dem Gedanken oder vielmehr mit der Hoffnung, dass die gegen¬ 
wärtige Moskauer Ausstellung und die Betheiligung der auslän¬ 
dischen Industrie an derselben ein Anzeichen sei, als ob man in den 
maassgebenden Kreisen Russlands einer Aenderung der bisherigen 
Handelspolitik nicht abgeneigt sei, und durch die Ausstellung einen 
Maassstab gewinnen wolle, in wie weit es unter den gegenwärtigen 
gegenseitigen Industrieverhältnissen möglich sei, den Eingangszoll 
auf einzelne ausländische Industrieerzeugnisse herabzusetzen. Der 
Verfasser des vorliegenden Artikels gehört nicht zu den Vertei¬ 
digern des russischen Schutzzollsystems, glaubt aber, dass die Han¬ 
delspolitik Russlands zur Ausstellung wohl in gar keiner Bezie¬ 
hung steht. Die Reformen, welchen der russische Zolltarif 


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_73_ 

von Zeit zu Zeit, gewissermaassen periodenweise, unterzogen wurde, 
und deren letzte vom Jahre 1868 datirt, bezeugen zwar einerseits, 
dass man in den maassgebenden Kreisen nicht daran denkt, den 
Zollschutz noch zu erweitern, zugleich aber auch, dass Zollermäs- 
sigungen nur gradatim eintreten und dieselben keineswegs den 
ausländischen Erwartungen entsprechen dürften. Dass man in den 
Weg der handelspolitischen Reform in Russland eingelenkt ist, 
steht zwar wohl fest, allein ebenso fest steht es auch, dass man 
diesen Weg nur äusserst behutsam verfolgt und hierbei allein das 
Interesse der russischen Industrie berücksichtigt und befragt. Die 
Industriellen Russlands haben sich aber in einer Weise an den 
Schutzzoll gewöhnt, haben ihre ganzen Einrichtungen auf densel- 
_ ben und in Folge dessen auf die Ausbeutung der inländischen Con- 
sumenten so basirt, dass sie'jedcr nennenswerthen Reform abhold 
sind und ihren nicht zu unterschätzenden Einfluss in entgegenwir¬ 
kender Weise zur Geltung zu* bringen suchen. Diese Verhältnisse 
erinnern lebhaft an jene Oesterreichs, bevor dieses Land in seiner 
Handelspolitik das Prinzip des Finanzzolles zur Geltung brachte. 
Auch dfg dortigen Industriellen glaubten sich «ohne ihren Schutz- 
* zoll dem Untergänge geweiht. Fragt man sie aber heute, ob sie 
zum Schutzzoll zurückkehren wollen, so werden sic mit einem ent¬ 
schiedenen „Nein! 44 antworten, denn wenige Jahre haben genügt, 
sie eines Besseren zu belehren und ihnen zu zeigen, dass der Fi¬ 
nanzzoll ihren Interessen besser dient, als dei J ehemalige Schutzzoll 
Erst nachdem dieser letztere beseitigt war, konnte die österrei¬ 
chische Industrie zur vollkommenen Entwickelung gelangen und 
heute steht sie bereits in voller Bliithe. Dieselbe Bewandtniss 
wird es auch mit der russischen Industrie haben. Auch sic hat in 
den meisten ihrer Zweige einen ganz gesunden Boden unter sich, 
sie kennt nur ihre Kraft noch nicht und das, was sie zu leisten im 
Stande sein dürfte, wenn sie vom Schutzzoll befreit wird. Jede 
Ausstellung liefert einen neuen Beweis von dieser innern Kraft, 
und die russische Industrie rafft sich bereits heute stellenweise zu 
Leistungen auf, welche jeder ausländischen Industrie zur Ehre ge¬ 
reichen würden. Dennoch würde es voreilig sein, hieraus den 
Schluss zu ziehen, dass die Zeit bereits gekommen sei, um eine 
einflussreiche Acnderung der russischen Handelspolitik zur Geltung 
zu bringen. Die russischen Industriellen müssen erst die Einsicht 
gewinnen, dass ein massiger Finanzzoll im Grossen und Ganzen 
ihren Interessen mehr entspricht, als der gegenwärtige Schutzzoll. 


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Wann ‘ dieser Zeitpunkt eintreten wird, dafür liegen noch keine 
Anhaltspunkte vor. 

Durch meinen vorliegenden ersten Bericht über die Moskauer 
polytechnische Ausstellung beabsichtige ich den Lesern ein Ge- 
sammtbild derselben zu geben. In den späteren demselben Gegen¬ 
stand gewidmeten Artikeln werde ich speciell auf einzelne hervor¬ 
ragende Momente der Ausstellung zurückkommen und hierbei na¬ 
mentlich auch die Productions- und industriellen Verhältnisse Russ¬ 
lands berücksichtigen, und in so fern solche namentlich auch für 
das Ausland von Interesse sind, dieselben auf Grundlage statisti¬ 
scher Daten eingehender erörtern. Für heute enthalte ich mich 
jeder weiteren Kritik in dieser Beziehung, und beschränke mich 
auf eine allgemeine Beschreibung der Ausstellung, welche sich, wie. 
bereits oben erwähnt, sclion in ihrem äusseren Arrangement ebenso, 
wie hinsichtlich ihrer Tendenz von den bisherigen Industrie-Aus¬ 
stellungen unterscheidet. 

Was zunächst die räumliche Einrichtung anbetriflft, so hat man 
cs, im Gegensätze zu dem bisher üblichen Verfahren, vorgezogen, 
die Ausstellung nffcht in einem einzelnen grossen, für diesen Zweck 
besonders eingerichteten Gebäude abzuhalten, sondern anstatt des-' 
sen in einer grösseren Anzahl kleinerer Pavillons, deren Grösse 
der Räumlichkeit der in jeder einzelnen Abtheilung oder Gruppe 
auszustellenden Gegenstände möglichst entspricht. Mit Ausnahme 
der grossen steinernen Manege, welche durch geschicktes Arrange¬ 
ment mit den übrigen Theilen der Ausstellung in unmittelbare Ver¬ 
bindung gebracht ist und gewfesermaassen den Hauptpunkt bildet, 
wozu sie sich ihrer baulichen Ausdehnung wegen an und für sich 
schon eignet, hat man noch 90 grössere und kleinere Pavillons, Bau¬ 
ten und selbst Zelte errichtet, welche zur Aufnahme der verschiede¬ 
nen Ausstellungsgegenstände, zur Einrichtung der Administrations¬ 
lokale und der nothwendigen Restaurationen und Erfrischungsräume 
etc. dienten. Zur Aufnahme dieser Baulichkeiten dient der Garten, 
welcher den altcrthümlichen und denkwürdigen fcreml in der Rich¬ 
tung nach dem Moskwa-Quai wie'ein Gürtel umgiebt, so dass eine 
Gesammtfläche von 44,000 Quadratfaden den Ausstellungszwecken 
dienstbar gemacht worden ist. Dieses Arrangement der ganzen Aus¬ 
stellung kann, da es sich hier nicht um eine systematisch geordnete 
Industrie-Ausstellung handelt, sondern jede einzelne Ausstellungs¬ 
gruppe gewissermaassen als ein abgeschlossenes Ganzes zu betrach¬ 
ten ist, als ein glückliches, die Uebersicht in gewisser Beziehung er- 


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t 

leichterndes angesehen werden, obgleich auch in dieser Beziehung, 
wie auch in Betreff des Werthes und Nutzens der ganzen Ausstellung, 
im Allgemeinen die Ansichten getheilt sind und oft weit auseinander 
gehen. Nachdem man sich einmal für die Einzelpavillons entschieden 
hatte, konnte man wohl keinen schöneren und zweckmässigeren Platz 
auswählen, als eben den genannten Kremlgarten, der mit seinem 
schattigen Boulevard und den allenthalben angebrachten Blumen¬ 
gruppen so recht geeignet ist, den vom Anschauen ermüdeten Be¬ 
suchern eine wohlthuende und erfrischende Ruhestätte zu bieten. 
Zu beiden Seiten des schattigen Hauptganges sind die einzelnen Pa¬ 
villons in abwechslungsreichem Baustyle erbaut, so dass deren Be¬ 
such und Auffindung verhältnissmässig leicht zu bewerkstelligen ist. 

Das ganze Arrangement freilich ist ein sehr kostspieliges, wurde 
aber durch die reichen Beiträge ermöglicht, welche dem Ausstellungs- 
Comite durefy Privatspenden zuflossen, Beiträge, deren Gesammt- 
summe sich auf über eine Viertel-Million Rubel beläuft. Leider ist 
bisher im Ganzen der Besuch der Ausstellung ein verhältnissmässig 
schwacher gewesen, was möglicherweise seinen Grund in dem etwas 
hohen Entree von I Rbl. S. findet, das man i ! /2 Monate hindurch für 
den Besuch der Ausstellung zu zahlen hatte. Gegenwärtig ist dieses 
Entree auf 60 Kop. (20 Sgr. = 1 fl. österr. Währ.) herabgesetzt. 
Auch der Besuch aus dem Auslande hat nicht jene Dimensionen an¬ 
genommen, welche man Anfangs erhoffte, indem derselbe bis jetzt 
ein beschränkter, gewissermaassen nur officieller geblieben ist. Die 
Nähe der bevorstehenden Wiener Weltausstellung hat in dieser Be¬ 
ziehung jedenfalls störend gewirkt, und wird die genannte Ausstel¬ 
lung auch als Grund angeführt, dass noch so wenige Russen aus dem 
Innern des Reiches die polytechnische Ausstellung Moskaus be¬ 
suchen. 

Sachgemäss zerfällt die Ausstellung in zwei Hauptabtheilungen: in 
die naturgeschichtliche mit ihren drei Reichen, dem Pflanzen-, Thjer- 
und Mineralreiche, welche die Kenntnisse yeranschaulicht, die der 
Mensch in Bezug auf diese drei Reiche erworben hat und die Art 
und Weise, wie er dieselben gewinnt, während in der zweiten Haupt¬ 
abtheilung der Einfluss versinnlicht wird , welchen diese Naturreiche 
auf die Verhältnisse des practischen Lebens , auf die Industrie, auf die 
Schule und die Erziehung des Menschen , überhaupt auf die Befriedigung 
der menschlichen Bedürfnisse üben. Entstammen doch diesen drei Na¬ 
turreichen alle jene Grundstoffe, welche durch die Arbeit des Geistes 
und der Hand in Fabricate der verschiedensten Art • umgewandelt 


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werden, die die Bedürfnisse des Erdenlebens befriedigen. Dem 
instructiven Zwecke entsprechend, musste alles Das dem Beschauer 
in logischer Gliederung, in systematischer Entwickelung klar gelegt 
werden. Es muss anerkannt werden, dass dies dem Ausstellungs ■ 
comite im Grossen und Ganzen auch vollkommen gelungen ist. 

Wir betreten daher auch zunächst die Pavillons, in welchen die 
Naturreiche dem Besucher vorgefuhrt werden und beginnen mit 
der botanischen Abtheilung , welche in zwei Gebäuden, von denen 
das kleinere für Warmhauspflanzen reservirt ist, untergebracht wer¬ 
den konnte. Der Hauptpavillon stellt ein elegantes mit gewölbtem 
Glasdache versehenes Gewächshaus dar, dessen hübsche äussere 
Form mit dem reichen inneren Schmuck exotischer Gewächse 
vollkommen harmonirt. Der berühmte botanische Garten St. Peters¬ 
burgs hatte mit den rcichausgestatteten Gewächshäusern Moskaus 
und seiner Umgebung und mit anderen, selbst ausländischen, Aus¬ 
stellern gewetteifert, um die botanische Abtheilung mit schönen 
Palmen und anderen Decorationspflanzen und seltenen Gewächsen 
reich aiiszustatten. Gleichzeitig wurde dieser Pavillon benutzt zur 
Aufstellung von Vitrinen, welche kleinere Specialausstellungen ent¬ 
hielten für Gegenstände, welche zur Botanik, in wenn auch theil- 
weise mehr entfernter,* Beziehung stehen, oder welche als bota¬ 
nische Lehrmittel, thcils als Hiilfsmittel für den Gartenbau vorw Be¬ 
deutung sind. Auch den künstlichen Blumen hat man hier ihren 
Platz angewiesen, und will ich hier nur vorübergehend erwähnen, 
dass die Ausstellung den Beweis liefert * dass Russland in der Er¬ 
zeugung von Kunstblumen grosse Fortschritte gemacht und sich 
dieser Industriezweig bereits zu einer anerkennenswerthen Ver¬ 
vollkommnung entwickelt hat, wenn auch die aus Berlin zur Aus¬ 
stellung gesandten Kunstblumen ihrer naturgetreuen Nachbildung 
wegen den Vorzug haben. 

Die zoologische Abtheilung ist in 4 Pavillons untergebracht, von 
welchen sich namentlich Pavillon Nr. 3, der Hauptpavillon dieser 
Abtheilung, durch seine Grösse auszeichnet, indem er aus drei 
mit einander verbundenen Oblongen besteht. Die Baukosten des¬ 
selben sind ebenfalls, wie die der meisten übrigen Pavillons, aus 
Privatmitteln bestritten worden, und zwar durch die Herren Sset- 
schinski, von Meck und Gubonin. Selbstverständlich konnte es nicht 
in der Absicht des Ausstellungscomites liegen, ein vollständiges 
zoologisches Museum herzustellen, sondern es musste sich, der 
Tendenz der Ausstellung *entsprechend, darauf beschränken, vorzugs- 


\ 


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77 


weise diejenigen Thiere vorzufiihren, deren Producte Handelsartikel 
bilden, die daher in landwirtschaftlicher wie industrieller Beziehung 
von besonderem Interesse sind. Zunächst begegnen wir derFischerei, 
repräsentirt durch einen Apparat für künstliche Fischzucht und ei¬ 
ner grösseren Anzahl von Aquarien verschiedener Grösse und Art. 
Mehr Interesse bietet die Collection von Fischen; wie solche in den 
russischen Gewässern, dem Ural,. der Wolga, Occa, Moskwa und 
dem schwarzen Meere Vorkommen, so wie der Netze und sonstigen 
Fischapparate, deren sich die Uralischen Kosaken zum Fangen der' 
verschiedenen Störgattungen bedienen. Das mittlere Oblong gehört 
den Säugetieren, und hier finden wir eine schöne Auswahl von 
Pelzen und Pelztieren von. M. Grünwald in Riga und von N. P. So- 
bolew in Moskau. Die Haustiere sind vorzugsweise durch eine 
schöne Sammlung von der Natur treu nachgebildeten Köpfen von 
englischem und Schweizer Rindvieh von Bartlett in London und 
Rütimeier in der Schweiz vertreten, welche für das Moskauer zoolo¬ 
gische Museum angekauft ist, und durch eine Sammlung fiusgc- 
stopfter nützlicher Haustiere, als Schafe, Ziegen, Katzen, Kaninchen, 
Hunde etc. Auch ausgestopfte Raubtiere: Wölfe, Füchse, Scha- 
cals, Löwen etc. fehlen ebensowenig, wie Vögel verschiedener Gat¬ 
tungen. Endlich sind auch die niederen Thierarten durch reiche Col- 
lectionen vertreten. Von industriellen Erzeugnissen finden wir hier 
gute Ledersorten von Liedtke in. Warschau, einer alten berühmten 
Fabrik, von Schmemotschkin und von Woluiski in Moskau, welche 
den Beweis liefern, dass die Gerberei, überhaupt Lederfabrikation 
und Lederzurichtung in Russland ihren alten Ruhm gewahrt hat, 
und auch mit der Zeit vorwärts schreitet. Leider gewährt die gegen¬ 
wärtige Moskauer Ausstellung bei Weitem kein zutreffendes Bild des 
jetzigen Zustandes dieses für Russland so ausserordentlich 
wichtigen und zukunftsreichen Industriezweiges, und ist zu bedauern, 
dass man die wenigen Lederexponenten, welche die Ausstellung 
beschickt haben, in die verschiedensten Gruppen und Pavillons ver¬ 
theilt hat. Leider kann ich bei dieser allgemeinen.Uebcrsicht nicht 
näher in die Details dieses jedenfalls interessanten Pavillons ein- 
gehen, doch dürfte das bereits Mitgetheilte genügen, ein allge¬ 
meines Bild desselben zu bieten. 

Kleinere Pavillons (Nr. 4 und Nr. 5) dienen zur Belehrung über 
die Bienen - und Seidenraupenzucht. Eine Collection von Bienen¬ 
stöcken aller Art befindet sich vor Pavillon Nr. 4, in welchem wir 
den Producten der Bienenzucht von der eben aus dem Bienenstock 


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7 « 


geschnittenen Wachswabe bis zum Honigkuchen, dem Wachsstock 
und der Kunstblume aus Wachs begegnen. Im Pavillon für Seiden¬ 
zucht ist alles Das zu sehen, dessen ich in der Einleitung dieses 
Artikels Erwähnung gethan habe, und bemerke ich hier nur noch, 
dass der Pavillon mit zu den interessantesten-der ganzen Ausstellung 
gehört. Ueber die Bedeutung der Seidenkultur und Bienenzucht 
für Russland werde ich mich übrigens noch in einem besondern Ar¬ 
tikel aussprechen. 

Mindestens seiner Lage nach ist der sogenannte Jagdpcrcillon 
noch zur zoologischen Abtheilung zu rechnen, obgleich die in dem¬ 
selben aufgestellten ausgestopften Thiere: mächtige Bären, einzelne 
Wölfe und Füchse, eine Collection von Schnepfen und anderen 
agdbaren Sumpfvögeln, im Ganzen eine untergeordnete Rolle 
spielen und gewissermaassen nur als Staffage dienen. Dennoch bietet 
dieser Pavillon des Interessanten genug und das Publicum hat Recht, 
wenn es ihn mit Vorliebe besucht. Gestatten uns doch die hier aus¬ 
gestellten Gegenstände, wenigstens einen Blick auf die Entwickelung 
einiger Ihdustriezweige Russlands zu werfen, mag auch die Zahl der¬ 
selben immerhin eine sehr beschränkte sein. So begegnen wir z. B. 
gleich der Eingangsthür gegenüber einer vorzüglich ausgeführten 
Bronzegruppe, den Kaiser Alexander II. darstellend, in dem Au- t 
genblickc, wo Allerhöchst derselbe aus nächster Nähe einen Bären 
erschiesst, der einen der kaiserlichen Jäger niedergerannt hat und 
mit Ingrimm diesen letztem angreift. Diese in allen Details ganz vor¬ 
züglich ausgestattete Gruppe stammt aus dem Kunsfgussatelier des 
Herrn Licbcrich in St. Petersburg. Eine reiche Auswahl alter und 
neuer Jagdgewehre aus allen Ländern bis zu den neuesten Hinter¬ 
ladern, bildet den Hauptschmuck der einen Hälfte dieses Pavillons, 
während die andere Hälfte von anderen auf das Jagdwesen bezug¬ 
habenden Gegenständen ausgefüllt ist. Hierher gehören namentlich 
die Jagdanzüge, Pelzpaletots, Jagdmützen, Muffe etc. von Grümvald 
in Riga, so wie dessen Fussdecken, Tische, Stühle etc. zur Aus¬ 
schmückung von Jagdsalons. Die von Eck in St. Petersburg ausge¬ 
stopften Thiere liefern einen Beweis grosser Kunstfertigkeit. Die 
Tulaschen Gewehre des Hrn. Toljakoiv zeigen bereits eine gute, sorg¬ 
fältige Arbeit sowohl in den Eisen- wie in den Holztheilen. Auch 
österreichische (die Waffenfabriksgesellschaft zu Steyer), belgische 
französische und schwedische Gewehrfabriken haben ihre Erzeugnisse 
ausgestellt. 

Die mineralogische , geologische und Bergbauabtheilung ist in drei / 


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79 


Pavillons untergebracht, von welchen der grösste. auf Kosten "des 
Fürsten S. AL Golizyn erbaut worden ist. Dieser Pavillon enthält in 
seinem Mittelraume vorzugsweise Producte der russischen Eisen-, in 
seinem hinterenTheile die der russischen Steinkohlenindustrie; doch 
ist zu bemerken, dass durch diese Ausstellung durchaus nicht ein 
selbst nur annähernd richtiges, Bild von der w r eittragenden Bedeu¬ 
tung des russischen Montanwesens gegeben worden ist. Nur um 
anzudeuten, in welcher anschaulichen Weise einzelne Aussteller be¬ 
müht waren, den itistructiven Character der Ausstellung festzu- s 
halten, sei hier erwähnt, dass die Herren Ryko'tv und Bemard\ die 
Besitzer der Kohlengrube Pawelez im Rjannsanschen Gouvernement, 
die Rückwand des Pavillons benutzt hatten, um den Eingang in eine 
Kohlengrube und deren Abbau lediglich und genau der Natur ent¬ 
sprechend darzustellen. Man sieht die verschiedenen Bodenschichten, 
unter denen die Kohle lagert, an der Wand angedeutet und die Art 
und Weise der Gewinnung dieser letztem wird in einem nachgebildeten 
Stollen dargestellt, indessen Tiefe ein Bergmann bei seinem Gruben¬ 
lichte arbeitet. Ausser dem Steinkohlenmuster dieser beiden ge¬ 
nannten Herren begegnet man auf der Ausstellung auch noch anderen 
Proben bedeutender Kohlenwerkc. So intercssiren namentlich die 
Malewkaschen Steinkohlen des Grafen A. A. Bobrinski , dessen Ober¬ 
ingenieur Herr Emil Leo , bekannt durch sein interressantes Buch • 
über Steinkohlenexploitation ') es durch seine energische und kennt¬ 
nisreiche Thätigkeit dahin gebracht hat, das in Rede stehende Koh- 
tenwerk in Malewka zu einem der bedeutendsten und hoffnungsreich¬ 
sten Russland» zu machen. Aus dem Donezbassin, das durch seinen 
Anthracitreichthum bekannt ist, waren vortreffliche Kohlen aus den 
Werken der Gebrüder Popow und des Herrn 6*. Popow ausgestellt;, 
aus dem Rjäsanschen Gouvernement* begegnen wir Kohlen, ausser 
denen der obengenannten Herren Rykoiv und Bemard , noch aus 
der Murajewninsker Grube, ausgestellt durch Herrn Lehman . Eine 
reiche Auswahl auf das Bergwesen sich beziehender in-^ind ausländi¬ 
scher Modelle schmückt das Mittelschiff, unter diesen namentlich eine 
gut gewählte Collection der Freiberger Bergacademie. In der linken 
Seitenhalle begegnen wir einer übersichtlich und geschmackvoll ge¬ 
ordneten Sammlung von schwedischen Bergbauproducten (Eisen, 


*) E. Leo, Die Steinkohlen Central-Russlands, mit besonderer Berücksichtigung 
ihrer Verbreitung, Aufsuchung und Verwerthung, mit 128 Holzschnitten und Tafeln, ctc. 
4 ° 100 S. St. Petersburg. 


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So 

Kupfer, Marmor etc.), einer Sammlung der in Preussen vorlcom- 
menden Kohlenarten, die treffliche Ausstellung der wiirtember- 
gischen Hüttenwerke, namentlich der königlichen Eisengiesserei 
Wasseralfingen, des Eisenwerkes Königsbronn, so wie des Stein¬ 
salzwerkes Friedrichshall, endlich auch einer Sammlung geschliffener 
Serpentingcfässe, Vasen, Schalen, Schrcibzcuge, Leuchter etc. der 
Zöblitzer (Sachsen) Aktiengesellschaft. Zwei hübsche Modelle (von 
der St. Petersburger Ausstellung her bekannt) stellen die Salzge¬ 
winnung im Astrachanschen Gouvernement bildlich dar. Die rechte 
Seitenhalle bietet kaum viel Bemerkcnswcrthes, wenn wir von einer 
Petrofaktensammlung, einer Collection von Bernsteinschnitzereien, 
Proben Orenburgschen Steinsalzes etc. absehen. Ich kann mich um 
so mehr mit diesen Andeutungen begnügen, als ich noch Gele¬ 
genheit nehmen werde, spater in mehr ausführlicher Weise auf das 
russische Monkamvesen zurückzukommen. 

Den zu dieser Abtheilung gehörigen Pavillon No. 9 haben die 
Herren Barkow und Kusnezen^ erbaut und denselben auch aus¬ 
schliesslich mit denProducten ihrer im Rjäsanschen Gouvernement lie¬ 
genden Eisenwerke gefüllt. Sehr anerkennenswerth sind die Lei¬ 
stungen dieser Herren in der Herstellung von Eisen- und Kupfer¬ 
drähten, sowie in Drahtnägeln. Erstcrc erzeugen sie in 38 Num¬ 
mern, und namentlich auch die feinsten Sorten zeigen gute 
Qualität. Weniger gelungen sind die Leistungen in der Nähnadcl- 
fabrication, dagegen sind die Gussstücke (Treppen etc.) beachtens- 
werth. 

Der Pavillon No. io ist der Steinschleifern gewidmet, einem 
Industriezweige, der mit zu den entwickeltsten Russlands zahlt. Die 
ser Pavillon gehört zu*' den wenigen, welche ausschliesslich nur 
russische Erzeugnisse enthalten. Allerdings ist auch die Zahl der 
Aussteller eine sehr geringe. Bemerkenswerth ist, dass die Stein- 
scldciferei in Russland, vorzugsweise und in grösster Vollkommen¬ 
heit auf den Kaiserlichen (Krons-) Fabriken betrieben wird. Auf 
der letzten St. Petersburger Ausstellung hatten wir Gelegenheit, 
die ausgezeichneten Leistungen der Kaiserlichen Steinschleifern zu 
Jekaterinburg und die gleichwertigen der Koliwan’schcn Schleif¬ 
fabrik des Kabinets Sr. Majestät des Kaisers in grösseren Verhält¬ 
nissen kennen zu lernen, heute bietet uns die Moskauer polytech¬ 
nische Ausstellung Gelegenheit, die der Kaiserlichen Fabrik in 
Peterhof in Augenschein zu nehmen. Spezialität dieser letzteren 
scheint die Herstellung von polirten Steintischplatten mit eingeleg- 


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8i 


ten Blumen und Fruchtstücken zu sein, und ich glaube behaupten 
zu dürfen, dass derartige Kunsterzeugnisse nirgends besser und 
vollkommener hergestellt werden können, als in Peterhof. Anderer¬ 
seits schliessen die wahrhaft kaiserlichen Mittel, welche zur Unter¬ 
haltung dieser Fabriken gewährt werden, jede Concurrenz von 
Privaten aus, obgleich immerhin auch die. Leistungen dieser letz¬ 
teren sehr beachtenswerth sind. Namentlich hat sich in Jekaterinburg 
selbst die Steinschleiferei zu einem Industriezweige ausgebildet, der 
nicht ohne Bedeutung ist und es darf wohl kaum bezweifelt werden, 
dass letztere mit der Zukunft noch wachsen werde. J. Sp'örhase in 
St. Petersburg hatte die Moskauer Ausstellung mit seineri! unver¬ 
meidlichen Malachittisch für 6000 Rbl. beschickt, den die russischen 
Leser von der St. Petersburger Ausstellung her kennen und den 
die ausländischen voraussichtlich auf der Wiener Weltausstellung 
im kommenden Jahre kennen lernen werden. Uebrigens bietet 
dieser Tisch ein seltenes Beispiel von Malachitschleiferei, das 
volle Anerkennung verdient. Auch A. Vogt in St. Petersburg 
bewährt sich durch seine Collection geschliffener Edelsteine als 
efti^tüchtiger Juwelenschleifcr. 

Folgen wir dem Plane und zugleich auch gewissermaassen dem 
Programme der Ausstellung, so haben wir uns jetzt der pädagogi¬ 
schen Abtheilutig zuzuwenden, welche mit zu den bestorganisirten 
der Ausstellung zählt.* Von der Klc^nkinderschule an bis zum 
Gymnasium sind die einzelnen Schulen in ihren Lehrmitteln ver¬ 
treten. Pavillon Nr. 11 enthält das Fröbclhaus nebst dem Kinder¬ 
garten in solidem Bau, und war dieses Gebäude Anfangs bestimmt, 
das Mustermodell eines Fröbelhauses für etwa 30 Kinder darzu¬ 
stellen. „Leider“, schreibt die „ Deutsche Moskauer Zeitung „musste 
sich Architect Schulz, der den Plan zu diesem Hause entworfen 
hatte, später manche Veränderungen gefallen lassen, um hier noch 
die Blinden- und Taubstummenschule unterzubringen, so dass wir 
jetzt allerdings keine instructive Vorstellung eines Normalfröbel- 
hauses mit all* seinen für nothwendig erachteten Räumen erhalten, 
sogar durch die jetzige Eintheilung leicht, wenn die stets bereit¬ 
willig ertheilte Unterweisung versäumt wird, zu einer falschen Vor¬ 
stellung gelangen.“ Es existiren bereits in Russland: in St. Petersburg 
und Moskau, Fröbelschulen und beide waren durch ihre Arbeiten, oder 
vielmehr durch die Arbeiten der dort beschäftigt gewesenen Kinder 
auf der Ausstellung vertreten. In diesem Augenblicke wird in Russ¬ 
land ziemlich starke Propaganda in Betreff der vielseitigen Errichtung 

6 


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82 


Fröberscher Kinderschulen (Kindergärten) oder Spielschulen, 
wie man sie in der Regel nennt, gemacht (in St. Petersburg exi- 
stirt seit vorigem Jahre ein Fröbel-Verein) und deshalb war auch das 
Moskauer Fröbelhaus (d. h. auf der Ausstellung) Gegenstand eines 
sich dokumentirenden allgemeinen Interesses. Die Lehrmittel 
für Blinde und Taubstumme waren in reichen Collectionea vertreten, 
so wie auch die von Blinden und Taubstummen angefertigten Hand¬ 
arbeiten. Die obengenannte „Deutsche Moskauer Zeitung“ giebt die 
Zahl der in Russland lebenden Blinden auf 46,000 an, von denen 
jedoch nur einige Hundert in den heimathlichen Anstalten Unterricht 
und Pf^pge finden. Dem Moskauer Oberpastor Dickhoff gebührt’ 
da# Verdienst, durch aufopfernde und rastlose Thätigkeit die oben 
erwähnten Collectionea von Lehrmitteln zusammengebracht und ein 
allgemeineres Interesse für das Blindenwesen angeregt zu haben. 

Iift 2. Kremlgartcn unter Nr. 47 finden wir ein Gebäude, welches 
die Normaldorf schule darstellt. Nebst der Wohnung für den Schul¬ 
lehrer — 2 Zimmern, 1 Küche — enthält es eine helle geräumige 
Schulstube, deren Wände mit Karten, Bildern für den Anschauungs¬ 
unterricht, näturhistorischen Abbildungen etc. behängen sind. Oas 
Lokal ist für den Besuch von 45 Schülern eingerichtet und vor¬ 
sorglich mit allen pädagogischen Hülfsmitteln versehen. Es wäre 
nur zu wünschen, dass in Russland nicht blos auf der Ausstellung, son- * 
dern auch in Wirklichkeit recht viele derartig eingerichtete Volks¬ 
schulen angetroffen werden möchten und dass auch das Lehrer- 
personal und die Schülerzahl diesen Einrichtungen entsprächen. Ob¬ 
gleich nach dieser Richtung hin Vieles .geschieht, so bleibt das Ge¬ 
schehene hinter dem Bedürfnisse doch noch weit zurück. 

Wir müssen wieder in den 1. Kremlgarten zurückkehren, weil 
sich der übrige Theil der pädagogischen Ausstellung in der gros¬ 
sen Manege und einem Anbaue derselben (Nr. 12) befindet. Be¬ 
treten wir diesen letzteren, so begegnen wir zunächst einer zwei - 
clässigen städtischen Normalschule und dem Inventar eines Gymna¬ 
siums, das sich besonders durch eine hübsche Collection mathema¬ 
tischer und physikalischer Instrumente und Apparate von F. Schwade 
in Moskau auszeichnet. Hier finden sich auch in einem grossem 
und zwei kleinern Zimmern die verschiedenen Lehrmittel der russi¬ 
schen Volksschule in einer sehr vollständigen Zusammenstellung von 
Herrn Szimaschko in St. Petersburg ausgestellt. Besonders reichhal¬ 
tig erweist sich die mathematisch*; und naturhistorische Ab¬ 
theilung. 


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»3 


Wir betreten jetzt vom Anbaue aus die Gallerie der Manege und 
begegnen hier zunächst den ausländischen Expositionen pädagogi¬ 
scher Hülfsmittel. Den Anfang macht die schwedische Volksschule, 
welche mit allem Nöthigen, aber auch mit nichts Ueberflüssigem 
ausgestattet wird, und die mit nordischer Kaltblütigkeit das unter 
allen Umständen Erreichbare festzuhalten sucht Von den deut¬ 
schen Bildungsanstalten sind es besonders die Würtembergischen , . 
welche reich und in hervorragender Weise vertreten sind, weshalb 
auch diese Abtheilung eine allgemeine Anerkennung und Würdigung 
gefunden hat. In Folge besonderer Aufforderung des Kaiserlich Russi¬ 
schen Ministers der Volksaufklärung hat der Würtembergische Unter¬ 
richtsminister eine Repräsentation sämmtlicher Zweige des öffent¬ 
lichen Unterrichtes auf der Ausstellung angeordne't u\\d daher fin¬ 
den wir denn auch die Stuttgarter Töchterschule, das Polytechni- 
cum und die Baugewerbcschule, die Kaufmännische Bildungsschule, 
die Gewerbe-Fortbildungsschule, die Volksschule und die gelehrte • 
.Realschule auf derselben vertreten. Es bietet sich uns hier ein sehr 
reiches und beachtenswerfhes Material, dessen Studium für*den Pä- 
dagogen von höchster Wichtigkeit ist. Namentlich . das Volks, 
schulfach hat würdige Vertretung gefunden. — Zu den deutschen 
Lehrmitteln müssen auch die Karten und Atlanten des Geographi¬ 
schen Instituts zu Weimar gezählt werden, deren Bedeutung schon 
längst anerkannt ist. 'Aus England sind zunächst astronomische 
Karten und naturhistorische Abbildungen in schönem Farbendruck 
eingesandt worden, so wie andere Schulmittel, welche aber nichts 
Characteristisches bieten. Auch einige Fabrikanten und Händler 
haben die sich bietende Gelegenheit benutzt, um ihre Erzeugnisse und 
in das Schulfach schlagende Waaren in weiteren Kreisen bekannt 
zu machen. 

. yon Specialschulen waren auf der polytechnischen Ausstellung 
und zwar im gleichen Ausstellungsräume vertreten, zunächst die 
Kaiserlich technische Schule in Moskau^ welche ihren ganzen Lehrgang 
theila durch die Arbeiten derZöglinge, theils durch die Hülfsmittel und 
Maschinen, welche diesen letzteren zur Verfügung stehen, versinn¬ 
licht hat. Wir sehen daher die Leistungen der Drechslerei, der 
Tischlerei, der Schlosserei und der Schmiedearbeit und Giesserei, 
in welchen Branchen die Zöglinge der Reihe nach unterrichtet wer¬ 
den, und die uns vorgeführten Arbeiten lassen die Leistungen die¬ 
ses trefflichen Instituts in einem äusserst günstigen Lichte erschei¬ 
nen. Der Verkaufswerth der von dieser Schule jährlich geliefer- 

6 * 


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8 4 


ten Arbeiten beziffert sich auf ca. 40,000 Rbl. Von weit geringerer 
Bedeutung erscheint dem gegenüber die practischc Abtheilung des 
St. Petersburger technologischen Instituts, welche ebenfalls hier ihre 
Vertretung gefunden hat. Die technische Alcxanderschule an Tschere- 
poivez , sowie die Strogamnv sehe technische Zeichenschule zu Moskau 
haben Zeichnungen verschiedener Art, letztere in trefflicher Ausfüh¬ 
rung und grosser Mannigfaltigkeit ausgestellt. Schliesslich erwähne 
ich noch der Lehrmittel der Veterinär - und 7 hierarzneisc hule, welche 
Herr Gubonin ausgestellt hat, und schliesse hiermit den pädagogischen 
Theil der polytechnischen Ausstellung, welcher sehr reiches Mate¬ 
rial üncfrdadurch Gelegenheit zu den eingehendsten Studien bietet. 

Der Turkestanischcn und Kaukasischen Abtheilung erwähne ich hier ^ 
nur vorübergehend, um nicht eine Lücke in dem Gesammtbilde zu 
lassen, das ich von der Moskauer polytechnischen Ausstellung zu 
geben beabsichtige. Diese Abtheilungen erscheinen aber wichtig 
• genug, um später nochmals im Detail auf dieselben zurückzukommen, 
da sie wesentliche Anhaltspunkte inBetrcff derCultur- undProductions-» 
Verhältnisse dieser asiatischen Länder bieten, die erst seit verhältniss- 
mässig so kurzer Zeit dem russischen Reiche einverleibt worden sind. 

Der Kaukasus ist in all seinen Thcilen schon ziemlich bekannt und 
man weiss die reichen Naturproductc, welche er birgt, gebührend 
zu schätzen. Mit Turkestan dagegen ist 6s anders, dieses grosse 
Land ist nur erst wenig erforscht, und daher ist Alles, was geeignet 
ist, über dasselbe Aufschluss zu geben, von hohem Interesse, und muss 
mit Eifer gesammelt und benutzt werden. Die 7 nrkestanische Ab¬ 
theilung auf der polytechnischen Ausstellung bietet in Betreff der 
Culturverhältnisse dieses Landes weit mehr Anhaltspunkte als z. B. 
die Turkestanische Abtheilung der letzten grossen St. Petersburger 
Manufacturausstellung, wie; denn auch das ganze Arrangement mit 
Sorgfalt und unter Anwendung nicht unbedeutender pecuniärer 
Mittel getroffen worden ist. Schon das Aüsstellungsgebäude (No. 25) 
deutet darauf hin, dass das Comite. bestrebt war, den Beschauer 
mitten in das Land zu versetzen, dessen Naturproducte und Indu¬ 
strieerzeugnisse ihm in diesem Gebäude vorgeführt werden. Dieses 
letztere stellt nämlich mit nur geringfügigen Abweichungen die Ko¬ 
ranschule Schirdar in Samarkand dar, deren Entstehung in’s 17. 
Jahrhundert zurückreicht und welche eines der schönsten und best¬ 
erhaltenen Baudenkmäler dieses Landes ist. Ueber das, was ’das 
Innere bietet, werde ich, wie gesagt, in einem späteren Artikel aus¬ 
führlich berichten, und kann mich daher jetzt der Kaukasischen Ab - 


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thcilung zuwenden, welche man auffallenderweise und wohl wegen 
Mangels eines besonderen Gebäudes in die grosse technische Cen- 
tralabthfcilong verwiesen hat, wohin sie meiner Ansicht nach am we¬ 
nigsten gehört. Diese Abtheilung liegt ebenfalls noch im ersten 
Kremlgarten, der turkestanischen Abtheilung schräg gegenüber. 
War dem Arrangement dieser letzteren ein besonderes Lob zu 
spenden, so ist im Gegensätze hierzu, was das Arrangement anbe¬ 
langt, der Kaukasus ziemlich stiefmütterlich behandelt worden; auch 
wollte es mir scheinen, als wären wir auf der letzten St. Petersburger 
Manufacturausstellung nicht nur einer weit systematischer geordne¬ 
ten, sondern auch vollständigeren Sammlung kaukasischer Natur-, 
Industrie- und Kunstproductc begegnet. Trotz dem werde ich 
auch auf diese Abtheilung nochmals detaillirtcr zurückkommen, und 
etwaige Lücken der heutigen Ausstellung durch Bezugnahme auf 
die letzte St. Petersburger. Manufacturausstellung ausfüllen. 

Da wir nun schon einmal die technische Centralabtheilung betreten 
haben und ohnedem veranlasst sind, jetzt in das eigentliche Ge¬ 
biet der Industrie überzutreten, so sei es uns gestattet, an dieser 
Stelle sogleich eine kurze Beschreibung der in Rede stehenden 
Abtheilung folgen zu lassen. In derselben sind Industrieerzeugnisse 
aufgenommen, welche mit Ausnahme der Nähmaschinen, die hier 
ihren Platz finden, niejit in das Maschinenfach und auch nicht 
in das Manufacturfach, denen beiden besondere Räume ange¬ 
wiesen sind, gehören. Es herrscht daher hier ein ziemlich bun¬ 
tes ‘Durcheinander. Wir bemerken englische Stärke, die 
nicht gekocht zu werden braucht, und neben amerikanischem Ce- 
ment zum Kitten von Porzellan und Glas, böhmische, sächsische, 
schwedische Glaswaare und Krystallgläser, denen sich auch 
eine russische Fabrik, die bekannte Malzend sehe, zugesellt 
hat. Diese geringe russische Betheiligung muss um so mehr 
auffallen, als die Glasindustrie Russlands zu den vollständig selbst¬ 
ständigen Industriezweigen zählt, und schon recht anerkennenswerthe 
Leistungen aufzuweisen hat. Russische Porzellane und Fayence da¬ 
gegen waren durch die Kus?ijezow sc\\e. Fabrik in einem ausgewähl¬ 
ten und recht hübschen Sortiment vertreten, während sich wiederum 
die ausländischen Industriellen dieser Branoi^, mit Ausnahme eines 
schwedischen, sehr zurückhaltend gezeigt hatten. Nach der Besich- 
tigung der russischen, wiener und Stockholmer Streichhölzchen ge¬ 
langen wir dann in den Bereich von londoner und wiener Hutfabri- 
canten, denen sich eine nicht unbedeutende Anzahl in- untf ausländi? 




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86 


scher Papier- und Pappfabricanten anschliesst, in deren Reihe wir 
auch einem sächsischen Fabricanten von Papierwäsche begegnen- 
Dann folgen Nahrungsmittel: die berühmte Erbswurst* Wurzener 
Grützen und Graupen, Liebig’scher Fleischextract, condensirte Milch 
und andere Conserven, ungarische, deutsche Natur--und Kunstweine 
und deutsche, galizische, namentlich aber russische Branntweine und 
Liqueure. Den Schluss dieser Abtheilung * bilden, ausser mannig¬ 
faltigen Bleistiftfabricaten, Farbewaaren und Lacken verschiede¬ 
ner Art, Tinten und Chemikalien; letztere auch in sehr gelungener 
Weise von russischen Fabricanten ausgestellt. Im Ganzen aber 
wird diese umfangreiche Abtheilung vorzugsweise von ausländischen 
Fabricaten eingenommen, so dass sich von ihr aus ein Schluss auf 
die russischen Industrieverhältnisse nicht ziehen lässt. Die Abthei¬ 
lung für Nähmaschinen war reich besetzt, doch sehen wir hier 
fast ausschliesslich nur die bekannten Systeme und Fabriken. Von 
Interesse dürfte jedoch noch sein, dass auch eine russische Fabrik, 
die von Tschikoljew & Co. in Moskau, angefangen hat, sehr brauch¬ 
bare, vielseitig verwendbare und dabei verhältnissmässig billige Näh¬ 
maschinen (complett für 45—60 Rbl.) zu liefern, eine Erscheinung, 
die bei der grossen Concurrenz der berühmtesten ausländischen 
Nähmaschinenfabriken in Russland beachtenswerth genug ist, indem 
sich das Preisverhältniss unter allen Umständen günstig für das rus¬ 
sische Fabricat stellt, da die ausländischen Nähmaschinen auch heute 
noch in Russland mit 60—100 Rbl. bezahlt werden. Bemerkt sei 
noch, dass die Tschikoljew’schen Maschinen im Ganzen accurat und 
sorgfältig gearbeitet sind, leicht gehen und dabei dieselben verschie¬ 
denen Nähte arbeiten, wie die ausländischen Maschinen. 

Di e Flachs-, Hanf-, Jute -, Baumwollen -, Wollen - und Seidenindustrie 
findet sich in dem schönen und grossen Pavillon No. 15 für dxzManufac- 
turabtheilung vertreten. Das Arrangement dieser Abtheilung ist ganz 
derSache angemessen und würdig, und die meisten Aussteller haben 
ihre Fabricate in hübsch ausgestatteten Vitrinen ausgestellt, so dass 
der eleganten äussern Form und Ausstattung des ganzen Pavillons 
auch die innere Einrichtung entspricht. Obgleich eine nicht ganz 
unbedeutende Anzahl russischer Fabricanten diese Abtheilung der 
verschiedenen hier genanten Industriezweige beschickt hatten, und 
denselben auch unbedingt die besten Plätze angewiesen w^-en, 
demnach die ausländischen Aussteller, wie es scheint etwas absicht¬ 
lich, in den Hintergrund, wenigstens in die Nebenschiffe verwiesen 
worden waren, so würde man doch fehlen, wollte man annehmen, 


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«7 


dass das russische Manufacturvvesen, dessen Sitz doch in erster 
Linie Moskau ist, auf der Ausstellung seiner Bedeutung entsprechend 
vertreten sei. Sehen wir vom Mittelraum des Pavillons ab, der, 
wie gesagt, fast ausschliesslich russischen Fabricanten eingeräumt 
worden war, so überwiegen doch die ausländischen Aussteller sowohl 
in qualitativer als quantitativer Beziehung sehr bedeutend. Die 
russische Industrie hatte ihre ersten Matadore ins Feld rücken 
lassen, oder vielmehr diese letzteren waren für die erstere frei¬ 
willig in’s Feld gerückt. Die russische Flachsindustrie, Leinwand- 
und Damastweberei sind durch die Fabriken von /. D. Sidorow , 
Jacob Gribanazv Sohne (Ustjug Welika) und durch die neue 
Kostroma'sc he Leincnmanufactnr, die Hanfindustrie (Taue) durch 
N, M. Shurenvljew , die Wollweberei durch Gebrüder Bahntch in Lodz 
und Rabianitz , die Tuchfabrfcation durch A. G. Wycozki und W. 
Jokisch & Söhne und' Moes, sämmtlich in sehr entsprechenderWeise 
vertreten. Aus der in Russland so auffallend hoch entwickelten 
Branche der Baumwollenindustrie begegnen wir den hier hoch 
geachteten Namen eines Sawwa Morosow (Nikolsker Fabrik )*. Baum- 
wollenfabricate aller Axt Garne, Mitkal, gedruckte und gewebte 
Stoffe; W. E. Morosow. Baumwollenstoffe verschiedener Art, Sam¬ 
met, Mitkal etc.; A. A. Korospelow: Mitkal und Sammet (Plüsch); 
J. N. Simin , Ludwig Rabenek: Türkischrothfärberei, Emil Ziin - 
del und Albert Hübner: Zitze. — Gedruckte Wollentücher hatten 
Gebrüder Steffko in grosser Mannigfaltigkeit ausgestellt. Als jus- 
ische Aussteller für die Seidenbranche waren vertreten: S? Sub- 
kow: Kleiderstoffe, /. S. Solowjew: Atlas, Sammet, gemusterte Sei¬ 
denstoffe, Gebrüder Kondraschew : schwere Seiden- und Möbelstoffe, 
und endlich A. & W. Ssaposcknikoiv mit ihren selbst über die Gren¬ 
zen Russlands hinaus berühmten Brocaten. Fast sämmtliche Aus¬ 
steller waren Moskauer. Die ausgestellten Fabricate lassen aller¬ 
dings fast Nichts zu wünschen übrig, wie verschwindend klein er¬ 
scheint aber die Zahl der Aussteller selbst, wenn man bedenkt, 
dass Russland 

111 Flachsspinnereien und Leinwandwebereien, 

139 Hanfspinnereien und Taufabriken, 

635 Wollspinnereien, Webereien und Tuchfabriken, 

759 Baumwollspinnereien, Webereien und Zitzfabriken und . 

* 81 Seidenstofffabriken 

besitzt Jutefabricate hatte nur England gestellt, dagegen hatten 
sich Deutschland und Oesterreich namentlich mit Tuchen und WoL 


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88 


lenstoffen stark betheiligt. Auch die schönen sächsischen und 
österreichischen Damaste und Leinwänden verdienen Erwähnung, 
ebenso die Dannenberg sehe und Wolf sehe (Nathan Wolf & Sohn) 
Kattundruckerei in Berlin, die vortrefflichen Gobelins von Jid. 
Schmidt in Elberfeld, und von W. Sodom & Sohn in Wien, die 
treffliche Maschinenstickerei von Emil Kloss in Kappel bei Chemnitz 
unef vieles Andere. Die Zahl der ausländischen Aussteller in dieser 
Abtheilung war eine ungleich bedeutendere wie die der russischen, 
und wollte ich Alle namhaft machen, die es ihrer.Leistungen wegen 
verdienen, ich müsste den mir reservirten Raum weit überschreiten. 

Der interessanteste Theil der ganzen Ausstellung, und gewisser- 
maassen deren Centralpunkt, ist die grosse Manege selbst, schon des¬ 
halb, weil sich in ihr die der Ausstellung zu Grunde liegende Idee am 
klarsten veranschaulicht. Diese Reitbahn gehört zu den grössten Ge¬ 
bäuden Moskaus und ihr weiter innerer Raum gestattet es, nicht nur 
eine grosse Anzahl von Maschinen aller Art aufzustellen, sondern 
auch in Betrieb zu setzen. So sehen wir denn auch hier eine grosse 
Auswahl namentlich von industriellen und Werkzeugmaschinen 
durch ein geschickt angelegtes System von Transmissionen in Be¬ 
wegung gesetzt, sind im Stande ihre Leistungen zu beurtheilen und 
werden durch diese so recht in das eigentliche Gebiet der Industrie 
mit ihren verschiedenen Apparaten und Hülfsmitteln eingeführt. Hat 
die polytechnische Ausstellung den Zweck, ‘ das Publikum mit der 
Fabrication industrieller Producte bekannt zu machen; so muss man 
wohl sagen, dass dieser Zweck durch das, was uns in der Manege 
geboten wird, auch am Vollständigsten erreicht wird. Hier ist den 
Ausstellern Gelegenheit geboten worden, dem Publicum zu zeigen, 
was sie von ihren Leistungen der Oeffejitlichkeit preisgeben wollen; 
hier ist es den Maschinenfabricanten gestattet, ihre verschiedenen 
Maschinen in Betrieb zu setzen und das Publikum mit den Leistun¬ 
gen derselben bekannt zu machen. Viele haben davon einen recht 
umfassenden Gebrauch gemacht, viele haben es aber auch hier vor¬ 
gezogen, die sich ihnen bietende Gelegenheit unbenutzt zu lassen. 
Ausser den erwähnten Leistungen der Grossindustrie, welche mitZu- 
hülfenahmb von Dampfkraft und complicirten Arbeitsmaschinen 
ihre Production liefert, gewahren wir aber auch noch einen zahl¬ 
reichen Handbetrieb, wie solcher in vielen russischen Industrie¬ 
zweigen an der Tagesordnung ist; wir finden hier das sogenanftte 
Kleingewerbe, für welches die Mechanik noch nicht durch leistungs¬ 
fähige Arbeitsmaschinen gesorgt hat, wir sehen selbst die einfachen 


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__ 8 9 _ 

Handgewerbe, die Drechslerei in ihren verschiedenen Branchen, die 
Buchbinderei, die Putzmacherei, die Lederzurichtung, überhaupt 
eine ganze Reihe von fabriks- und handwerksmässig betriebenen Ge¬ 
werben, jedoch mit Ausschluss jederFeuerarbeit, die sich ja ohnedem 
aus naheliegenden Gründen bei solchen Gelegenheiten-verbietet; 
zwar ist auch letztere vertreten, wenn auch nur in einer kleinen vor 
der Manege angebrachten Militairschmiede. 

In der heutigen Generalübersicht der Moskauer polytechnischen 
Ausstellung kann ich selbstverständlich nicht auf alle Einzelheiten 
eingehen. An den eigentlich industriellen Productionen, d. h. an der 
Herstellung des Fabricates vor plfcn Augen des Publieums, haben 
sich, wie es in der Natur der Sache liegt, vorzugsweise nur russische 
Industrielle betheiligt, wenn auch die Maschinen, deren sich Einzelne 
derselben bedienten, ausländischen Ursprungs sind, wie dies z. B. 
bei den Baumwollspinnmaschinen der Fall ist, die in der Ausstellung 
die Rohbaumwolle zu Garn verarbeite. . Um meinen Bericht jedoch 
nicht gar zu lückenhaft abzufassen, will ich die Hauptgewerbszwcige 
hier anführen, die in der Manege vertreten waren und welche durch 
practische Arbeiten den Entstehungsprozess ihrer Fabricate dem 
Publicum vorlegten. Der Handbetrieb herrscht, wie gesagt, hier 
grossen Theils vor und gebe ich nur eine ganz summarische Ueber- 
sicht, die keineswegs auf Vollständigkeit vollen Anspruch machen 
kann, um so weniger, als viele Industrielle, durch räumliche und 
andere Verhältnisse gezwungen, nur im Stande sind, die Herstel¬ 
lung einzelner Theile ihrer Fabricate dem Publicum zu zeigen. 
Wir begegnen der Cigarren- und Papierfabrication, der Erzeugung 
kohlensaurer Wasser, der Handdruckerei von vielfarbigen Wollen¬ 
tüchern, der Seidenstoff- (Fai-) Weberei (Gebrüd. Kondraschew, 
Moskau),derTeppichweberei(GebrüderProtopopow), Schirmmacherei, 
Fabrication gebogener Möbel, Drechslerei, Glasschleiferei, Töpferei 
und Fayencefabrication (Gardener), Näherei und Putzmacherei, 
Buchbinderei, Mützenmacherei, Lederzurichtung und schliesslich 
der Juwelierkunst, welche abweichend von, den bisher genannten 
practischen Betrieben durch eine grössere Anzahl bedeutender 
Industrieller vertreten ist, die auch den Beschauern in einem 
grösseren Maassstabe und in vollem Detail alle jene Manipulationen 
zeigen, welche vorgenommen werden müssen, um Schmuckgegen¬ 
stände verschiedenster Art, vom einfachen Ringe an bis zum von 
Brillanten strotzendem Diadem herzustellen. Mit dieser sachlichen 
Darstellung ist aber auch gleichzeitig in sehr practischer Weise der 


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90 


Verkauf von Juwelen- und Goldschmuck verbunden und, wie es scheint, 
machen die Herren Fulda, Nemirow-Kolodkin, Krumbügel, Chleb- 
nikow u. And. auf der Ausstellung recht gute Geschäfte. 

Von weit mehr Interesse, als die vorerwähnten Ausstellungsob¬ 
jecte, sind die eigentlichen grossen Kraft- und Arbeitsmaschinen, 
welche in der Manege und deren nächster Umgebung in reicher 
Fülle aufgestellt, und, wie gesagt, zum Theil in Thätigkeit gesetzt 
sind. Hier nimmt das russische Fabricat, wie vorauszusehen war, 
kaum einen wesentlichen Antheil und verschwindet unter der Fülle 
der von auswärts hierher gesandten trefflichen Fabricate. Unter den 
grossen Kraft- und Industriemäßig nen dominiren die englischen, 
unter den sogenannten Werkzeugmaschinen uncj den kleineren 
Hülfsmaschinen die deutschen Erzeugnisse. 

Von Dampfkesseln und Dampfmaschinen, unter unseren heutigen 
Culturverhältnissen als die eigentlichen Krafterzeuger die wichtigsten 
Maschinen, sind hervorzuhehen: ein neuer Sicherheitsdampfkessel 
von J. B. Howards & Sohn in Manchester, der die strengsten Kraft¬ 
proben glücklich überstanden hat; die horizontalen Dampfmaschinen 
(Corlisspatent)vonHickHargreavs & Co. in Bolton, von der Buckauer 
Maschinenfabrik bei Magdeburg und der Wilhelmshütte Sprottau. 
Der Ausstellungscatalog weist 22 Aussteller für diese Branche aus, 
darunter auch solche, die nur Modelle ausgestellt haben. Unter 
diesen Ausstellern finden sich nur 5 russische Namen, und zwar die/ 
Herren Schipow, Nikolski, Kusnezow, Kolotow und Wetschinkin. 

Wenden wir uns den grossen Industriemaschinen zu, so finden 
wir die Schlag-, Karden-, Strick-, Spinn- und Webmaschinen (für die 
Baumwollenmanufactur) von Platt Brothers in Manchester, unter 
denen sich auch ein dreifarbiger Webstuhl (drop-bot loom) neuester 
Construction befindet; ferner eine treffliche Spinnmaschine (Mulle) 
von Curtis, Parr & Madeley in Manchester, deren Aussteller S. Mo- 
rosow Sohn & Co. ist, welche letztere auch zwei Webstühle für 
Halbwollen-Tricot und Baumwollen-Sammet ihrer eigenen Fabrik 
ausgestellt hatten. Für Zitzdruckerei findet sich eine beachtenswerthe 
Maschine von Mather & Platt in Manchester vor, und von den aus¬ 
gestellten Webstühlen werden die von R. Illingworth (Manchester 
und Moskau) für Brillantine und ein Chek-Gingham-Webstuhl als 
besonders beachtenswerth hervorgehoben. Von Maschinen, welche 
der Wollindustrie dienen, sind zu nennen: eine aus 3 verschiedenen 
zusammenhängenden Maschinen bestehende Wollgarn- und Krem¬ 
pelmaschine für Streichgarn von Curtis, Parr & Madeley in Man- 


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9 1 


ehester; eine ähnliche Maschine, wenn auch anderer Construction 
genannt Selfactor, ist die von Gebrüder Netnkow in Moskau, die 
das Kämmen und Spinnen der Wolle in sich vereinigt und die, ob¬ 
gleich der Vervollkommnung noch sehr bedürftig, doch immerhin 
beachtenswerth ist. Tuchwebstühle hatten ausgestellt A. Schön¬ 
herr, Chemnitz, die sächs. Maschinenfabrik, ebendaselbst, und Möh- 
ring & Co, in Berlin, dessen mechanischer Webstuhl, System Brach, 
als eines der besten auf der ganzen Ausstellung befindlichen Er¬ 
zeugnisse gerühmt wird. Von den, der Seidenindustrie dienenden 
Maschinen ist eine Collection von Greenwood Battley & Co., Leads, 
zu nennen, bestimmt, aus fehlerhaften Cocons noch eine schöne 
Seide zu gewinnen, und wird deren«grosse lucrative Wirksamkeit 
hervorgehpben, indem das Pfund des zu verarbeitenden Rohma¬ 
terials nur i Rubel, die Bearbeitungskosten aber nur 75 Kop. zu 
stehen kommen sollen, während das Fabricat, die gesponnene Seide, 
einen doch 'ungleich und vielfach höheren Werth hat. Es würde 
mich zu weit fuhren, wollte ich alle Maschinen von Bedeutung nam¬ 
haft machen, welche sich in dieser Abtheilung befinden; ich will nur 
erwähnen, dass sich Deutschland in höchst vortheilhafter Weise 
namentlich in Werkzeugmaschinen ausgezeichnet hat, dass auch 
Schweden mit einer kleinen aber gediegenen Collection (Blatt- und 
Kreissägen, Raspeln und Feilen, Guillochirmaschinen etc.) vertreten 
ist und will schliesslich, bevor ich zu einer anderen Abtheilung über- • 
gehe, noch einige russische Firmen nennen, die sich durch ihre Ausstel¬ 
lungsobjecte bemerkbar .gemacht haben: Die Herren Jachnenko & 
Simirenko (Gorodistschensky-Maschinenfabrik) horizontale Dampf¬ 
maschine mit Luftpumpe zum Evacuiren der Verdampfungsräume 
in Zuckersiedereien; Centrifugal-Apparat zum Klären des Zucker¬ 
saftes. Lilpop, Rauh & Co. in Warschau undM. Walkowin Kijew Va- 
cuummaschinen. Sobolew & Sohn, und Apraxin, beide in Moskau, 
Branntweindestillir- und Brennap*pärate. W. N. Tenischew, Moskau, 
eine Sägemaschine grosser Dimension mit 22 Sägen von ungewöhn¬ 
licher Leistungsfähigkeit. Froom & Co., Moskau, Metallhobelma^ 
schine. Tschikolow & Co. Werkzeugmaschine. Gebrüder Buch, St. 
Petersburg, Schraubenmaschine und Koltschin, Moskau, DrahUtift- 
maschine. Ob die drei letztgenannten Maschinen wirklich russische 
Maschinen sind, oder nur russische Aussteller haben, ist nicht an¬ 
geführt. 

Der Ausstellungscatalog weist für diese Abtheilung 374 Aus¬ 
steller auf, doch hat sich nachträglich die 2ahl derselben noch weit 


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92 

höher herausgestellt, da sich selbst erst nach der Eröffnung der 
Ausstellung noch eine nicht unbedeutende Anzahl von Ausstellern 
eingefunden hat. 

Bevor wir den ersten Kremlgarten verlassen, liegt uns noch ob, 
einen Blick in einige kleinere Pavillons zu werfen, welche’wir bisher 
noch nicht berührten. Der Manege zunächst begegnen wir der Ex¬ 
position der Herren Froom & Co. (Moskau und St. Petersburg) von 
Maschinen, namentlich Sägen verschiedener Art, welche zur Holz¬ 
bearbeitung dienen; mehr Interesse bieten noch zwei Pavillons (Re¬ 
misen) mit englischen, russischen, pariser und wiener Equipagen» 
von welchen besonders die ersteren und die letzteren (Jakob Löhner & 
Co., Wien, Binder, Paris) sehr gefielen. Die Fabrication von 
Schmuckgegenständen und Gold- und Silberarbeiten, letztere im 
Moskauer und im kirchlichen Style, zeigen die Herren Tschitschelew, 
Postnikow und Owtschinikow in besondern, auf ihre Kosten recht 
geschmackvoll erbauten Pavillons. In der Fabrication' von Silber 
waaren, namentlich auch in getriebener Arbeit, hat es Moskau Von 
Alters her sehr weit gebracht, und ist dieser Industriezweig, unter¬ 
stützt durch die schwerwiegende Kundschaft des Landesklerus, wohl 
in wenig Städten dermaassen entwickelt, wie in Moskau. Es giebt 
hier Fabriken dieser Branche, wie z. B. die bekannte Fabric W. J. 
Ssasikow (welcher, nebenbei gesagt, die Moskauer Ausstellung, so 
viel mir bekannt, nicht beschickt hatte), welche in derartigen Fa- 
bricaten einen jährlichen Umsatz von gegen 800,000 Rbl. machen. 
Besonderes Interesse in dieser Beziehung bietet die Ausstellung von 
P. A. Owtschinikow, da dieselbe mit dem ganzen Mechanismus der 
Fabrication in ziemlich übersichtlicher Weise bekannt macht. 

Auch die Fabrication von kosmetischen Waaren, * Toilettseifen, 
Parfümerien etc. hatte ihre Vertretung in dem Pavillon von Bouis & 
Comp, in Moskau gefunden, unS muss auch von diesem Industrie¬ 
zweige bemerkt werden, dass er Sich in dieser Stadt ziemlich ent¬ 
wickelt hat. Es giebt hier sehr bedeutende Fabriken, welche ihren 
jährlichen Umsatz nach Hunderttausenden vonRubeln zählen. Moskau 
ist namentlich zum Sitze der Eierseifenfabrication geworden, welche 
z. B..die unter der Firma Ralle bekannte Fabrik in einem gross¬ 
artigen Verhältnisse betreibt. Eine ähnliche Bewandtniss hat es mit 
der Confect- und Chocoladenfabrication, welcher auf der Ausstellung 
der Pavillon des Hertri N. J. Kazaraki eingeräumt war. Auch in 
dieser Branche giebt es in Moskau *Fabricen, deren jährlicher 
Umsatz sich nach Hunderttausenden Von Rubeln berechnen lässt 
* 


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93 


so die oben genannte, die ‘Chocoladen- und Confectfabrik von 
Einem und A. Die günstige Lage Moskaus zu den innern Gouver¬ 
nements Russlands, die nachhaltige Vermehrung der Eisenbahnver¬ 
bindungen, für welche Moskau immer einer der wichtigsten Knoten¬ 
punkte bleibt, und der steigende Wohlstand des Landes sind stich¬ 
haltige Erklärungsgninde für die stetig wachsende industrielle Be¬ 
deutung Moskaus, das sich bereits zum Centrum des russischen 
Manufacturwesens emporgeschwungen hat. 

Noch ist eines Pavillon^ zu gedenken,, der von hohem Interesse 
und von hoher culturhistorischer Bedeutung sein könnte, wenn er 
das hielte, was er verspräche, der Pavillon nämlich, in welchem die 
häusliche und genossenschaftliche Industrie Russlands ihre Vertretung 
finden sollte. Abgesehen davon, dass sich in diesem Pavillon viele • 

Ausstellungsgegenstände befinden, welche unbedingt nicht in die 
Classe der sogenannten häuslichen Industrie gehören, indem sie un, 
verkennbare Merkgiale an sich tragen, dass sie das Product eines- 
und zwar recht entwickelten Fabrikbetriebes sind, z. B. die von den 
Herren Pesterow, Marugin und Prodow ausgestellten sogenannten # 
Jaroslawschen Leinwandfabricate,SchuwalowscheLederfabricate etc., 
so vermissen wir andererseits'wichtige Erzeugnisse der häuslichen 
Industrie Russlands, einer Industrie, die sich »in keinem Lande so 
herausgebildet hat, wie gerade hier. Bei der Entwickelung der rus¬ 
sischen Culturverhältnissc, die nur eine langsame Einbürgerung des 
europäischen Industriewesens gestatteteft, musste die häusliche In¬ 
dustrie einen grossen Theil jener Bedürfnisse decken, die für das 
russische 'Volk unentbehrlich waren. Wie in den meisten wirt¬ 
schaftlich wenig vorgeschrittenen Ländern waren in vielen Gegenden 
Russlands, namentlich in solchen, die von den grossen Verkehrs¬ 
strassen entfernt lagen, .die Bewohner angewiesen, den grössten 
Theil ihrer Bedürfnisse durch Selbstproduction zu befriedigen. Fand die 
häusliche Industrie in diesen Verhältnissen ihre Begründung, so war 
es wiederum der russische Volkscharacter, der in so ausgesprochener 
Weise, wie die Institution des ganzen russischen Artelwesens be¬ 
kundet, der Association zuneigt, der sie ihre weitere Entwickelung 
zu danken hat. Zuerst vereinigten sich einzelne, gfösstentheils mit 
einander verwandte Familien zum gemeinsamen Betriebe gewisser 
Gewerbe, später dehnte sich diese Association auf andere Fami¬ 
lien aus, bis sie ganze Dörfer und Ortschaften umfasste, ohne 
selbst hier noch ihre Grenzen zu finden. Es entstanden fh Russ. 
land, und zwar noch in einer Zeit, von welcher uns Jahrhunderte 


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94 


• f 


trennen, Gemeindeindustrien, eine* Art Genossenschaften, welche 
unseren modernen Productivgenossenschaften als Vorbild hätten 
dienen können, wenn sie von den westeuropäischen Volkswirthen 
wären gekannt und gewürdigt worden. Was. im Westen Europas das 
Resultat volkswirtschaftlicher Studien war, was hier gewisser- 
maassen als Regulator des überhandnehmenden Einflusses des (ka¬ 
pitales geschafft wurde, das bestand längst in Russland als Volks¬ 
institution und fand seine Verkörperung in der genossenschaftl¬ 
ichen Hausindustrie, von welcher fast jedes Gouvernement einzelne 
und ihm eigne Branchen aufzuweisen hat. 

Dass eine derartig entwickelte häusliche Industrie nicht nur für 
den Volkswirt von hohem Interesse ist, sondern auch auf die Wohl¬ 
stands- und Industrieverhältnisse Russlands von maassgebendem Ein¬ 
fluss sein musste, wird wohl nicht bestritten werden können. Um 
so mehr lag Veranlassung vor, dieselbe auf der polytechnischen Aus¬ 
stellung von Moskau in würdiger Weise und mit der ihrer Wichtig¬ 
keit angemessenen Specialität vertreten zu sehen. Es ist zu be- 
# dauern, dass das Ausstellungscomite nicht in die Lage versetzt wor¬ 
den ist, diese Bedingung zu erfüllen. Wir begegnen zwar in dem 
der häuslichen Industrie Russlands eingeräumten Pavillon vielfachen 
häuslichen Erzeugnissen, wir vermissen aber unter denselben gerade 
diejenigen, welche wirklich maassgebend auf die Entwickelung dieses 
genossenschaftlichen Industriewesens waren, welche dasselbe zu 
einer industriellen Macht Russlands erhoben haben und welche zu¬ 
gleich den Beweis liefern, dass das Genossenschaftswesen, wie es 
sich in Russland entwickelt und ausgebildet hat, im Stande ist, Er¬ 
zeugnisse zu liefern, welche selbst unsern modernen Begriffen von 
Industrieerzeugnissen und deren Eigenschaften nahe kommen. Da¬ 
gegen finden wir in jenem Theile der Ausstellung Erzeugnisse so 
untergeordneter und primitiver Art, dass deren Besichtigung dem 
mit den wirklichen Verhältnissen Unbekannten ein ganz falsches Bild 
von der Bedeutung und Entwickelung der häuslichen Industrie 
Russlands geben muss. Wenn man in jener Abtheilung die Filz¬ 
pantoffeln und andere primitive Fussbekleidungen betrachtet, so 
kommt man sicherlich nicht auf den Gedanken, dass es in Russland, 
und zwar in den verschiedensten Gegenden, ganze Dörfer, Ort¬ 
schaften, ja Kreise giebt, die grossentheils von der Schuhwerksfa- 
brication leben, die so massenhafte* Erzeugnisse liefern, dass sie, 
wie z. B. in Kymra, alle Wochen messenähnliche Jahrmärkte abhal¬ 
ten, auf welchen diese Fabricate im Werthe von vielen Tausenden 


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95 


von Rubeln verkauft werden, um in den Schuhmagazinen St. Peters¬ 
burgs, Moskaus und anderen Städten als permanenteVerkaufswaaren 
ihren Platz zu finden. Das Twer’sche, Nowgorod’sche, Wladimir- 
sche, Wjatka sehe, Jaroslaw’sche, Nishnij-Nowgorod’sche Gouverne¬ 
ment sind reich an Industriezweigen, welche als genossenschaftliche 
und häusliche Industrien eine grosse Bedeutung erlangt haben und 
die zum Ausgangspunkt eines äusserst lebhaften innern Verkehrs 
geworden sind. Bis an die Grenzen Asiens dehnt sich dieses Indu¬ 
strieleben aus, das sich an den Ufern der Wolga und Kama mit 
gleicher Intensität entwickelt hat, wie an denen der Oka und Twerza. 
Es geschieht so Vieles, um über die Verhältnisse Russlands ein 
klares Licht zu verbreiten, um dessen natürliche Hülfsquellen zu 
erforschen und zu erweitern, es ist aber zu bedauern, dass sich diese 
Forschung noch nicht auch auf die genossenschaftliche und häus¬ 
liche Industrie Russlands ausgedehnt, dass sich noch nicht der Mann 
gefunden hat, der ohne Vorurtheil und mit Wohlwollen sich 
einem Studium hingiebt, das nicht nur Aufschluss über die natür¬ 
liche Basis der russischen Industrie geben, sondern das selbst dem 
Auslande practische Anhaltspunkte bieten müsste für seine Bestre¬ 
bungen in Betreff der Entwickelung der genossenschaftlichen Insti¬ 
tutionen. Was ich bei der genossenschaftlichen Industrie Russlands 
besonders hochschätze und den russischenFabricanten zurNachahmung 
empfehlen möchte, ist der richtige Tact, mit welchem die häusliche In 
dustrie sich nur solcher Gewerbe bemächtigt hat, die in der massen¬ 
haften inländischen Erzeugung des Rohproductes ihre Basis fin¬ 
den und deren Berechtigung daher vollkommen unbestritten bleiben 
muss. Es würde mit der russischen Industrie weit besser stehen 
wenn die gleichen Grundsätze allenthalben Anwendung gefunden 
hätten. 

Es ist zu bedauern, dass das Moskauer Ausstellungscomite, das 
doch im Ganzen eine so vielseitige und dankenswerthe Thäjtigkeit 
entwickelt hat, nicht noch mehr Gewicht darauf gelegt, durch die 
Ausstellung ein neues Licht über diese Verhältnisse zu verbreiten. 
Das, was uns von häuslicher Industrie vorgeführt wird, ist niejit das 
Rechte, und, was am meisten zu beklagen ist, es ist angethan, die *Be- 
griffe eher zu verwirren als zu läutern. Man hat den genossenschaft¬ 
lichen Standpunkt dieser Industrie vernachlässigt, man hat uns den 
Keim gezeigt, aber nicht die Frucht. Von Interesse sind die Lein- 
wandfabricate des Jaroslaw’schen Gouvernements, die aber, wie ge¬ 
sagt, den Stempel an sich tragen, dass es einzelne grössere Händ- 


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9 6 


ler und Fabricanten sind, welche dort diesen Industriezweig beherr¬ 
schen; mehr Interesse bieten die Spitzen des Wjätka’schen, Wolog- 
daschen undNishnij-NowgoroderGouvernements, die genetzten, ge¬ 
webten und geklöppelten Umschlagetücher des Orenburg’schen 
Gouvernements, die Fabrication von bunt bemalten und laqkirten 
Holzgeräthschaften, Schüsseln, Vasen, Sessel, Tischen etc. des Now- 
gorod’schen Gouvernements etc. Diese Abtheilung hätte unbedingt 
eine der interessantesten und bedeutungsvollsten der ganzen Aus¬ 
stellung sein können und wir müssen nur hoffen, dass sich recht bald 
eine andere Gelegenheit bieten werde, um das in dieser Beziehung 
Versäumte nachzuholen. 

(Fortsetzung folgt.) 

F. Matthäi. 


Kleine Mittheilungen. 

(Eisenbahnen.) Nach Mittheilungen des Eisenbahn-Departe¬ 
ments stellt sich die Uebersicht der Einnahmen im Monat April, so¬ 
wie das Ergebniss des Verkehrs auf den Russischen Bahnen in den 
letzten vier Monaten des Jahres 1872 folgendermaassen heraus: Die 
dem Betrieb übergebenen Linien hatten eine Länge von 12,903 
Werst, von denen 194 auf Staatsbahnen kommen. Die Zahl der auf 
russischen Bahnen im Monat April beförderten Reisenden betrug 
1,872,388 gegen 1,426,029 desselben Monats im Jahre 1871^— und 
im Güterverkehr 50,217,065 Pud Waaren gegen 57,031,672 dessel¬ 
ben Monats des vergangenen Jahres. 

Die Gesammtsumme der Brutto-Einnahmen betrug 6,530,740 Ru¬ 
bel, wovon 36,276 Rbl. auf Staats- und der Rest auf Privatbahnen 
entfallen; 'im April des Jahres 1871 betrugen diese Brutto-Einnah¬ 
men auf ersteren Bahnen 50,633 Rbl. und 6,293,568 Rbl. auf letzte¬ 
ren Bahnen, im Ganzen 6,344,201 Rbl. 

Der Verkehr im Monat April ergiebt im Vergleich zu demselben 
Monat des vorhergehenden Jahres eine Steigerung, und zwar für 18 
Linien, wie folgt: Zarskoje-Sselo (17Vs pCt.), Warschau-Wien (6 3 /4 
pCt.), Peterhofer ( 8 7 /g pCt.), Moskau-Jarosslawl (27V3 pCt.), War¬ 
schau-Bromberg (2 3 /4 pCt.), Lodsz (6 l /4pCt.), Rjäsan-Koslow (4pCt.), 
Mockau-Kursk (6 9 /io pCt.), Koslow-Woronesh (27 7 * pCt.), Schuja- 
Iwanowo (473 pCt.), Kursk-Kijew (16 pCt.), Riga-Mitau (12 */* pCt.), 
Kursk-Charkow-Asow (30^6 pCt.), Tambow-Koslow (54 pCt.), No- 
wotorshok (6 3 /* pCt), Rybinsk-Bologoje (52 1 /2 pCt.), Kijew-Brest 
(34 5 /« pCt.) und endlich Baltische (56 3 /4 pCt.). Eine Verringerung 
ergaben folgende 13 Bahnen: Jelissawetgrad-Kremcntschug (Staats¬ 
bahn, 37*/5 pCt), Zarskoje-Sselo (sVe pCt.), Nicolaibahn (iof's pCt.), 
St- Petersburg-Warschau-Wirballen (2i 3 /s pCt.), Moskau-Nishnij 


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97 ... 

(4 s A pCt.), Riga-Dünaburg (46 5 /c pCt.), Wolga-Don (2iVspCt.), 
Moskau-Rjäsan (2 4 /s pCt.), Odessa (7V2 pCt.), Dünaburg-Witebsk 
(24V2 pCt.), Warschau-Terespol (2 s /4 pCt.), Orel-Grjäsi (1 5 9 /io pCt.), 
Rjäshk-Morschansk (6 ö /io pCt.'), Orel-Witebsk ( 39 5 / 6 pCt.). 12 Bah¬ 
nen haben einen Vergleich nicht zugelassen, indem die Betriebs-Er¬ 
gebnisse derselben im Monat April nicht veröffentlicht waren. 

Der Verkehr und die Brutto-Einnahmen auf allen Bahnen während 
der vier ersten Monate des Jahres 1872 waren folgende: 



Verkehr. 

Brutto-Einnahmen . 

Staatsbahnen: 

Reisende. 

Waaren. 

Im Ganzen. 

Rbl 

pr. Werst. 

Rbl. | K. 

Jelissawetgrad- 






Krementschug . 

40,189 

1,033,099 

109,887 

814 46 

Liwny. 

13-554 

1,393,472 

46,787 

820 |82 

Gesammtsumme 
f. d.Staatsbahnen. 

53.743 

2,426,571 

156,674 

816 

35 

Privatbahnen: 






Zarskoje-Sselo. . 

168,370 

140,934 

71,677 

2,867 

IO 

Warschau - Wien* 

310,475 

17,882,539 

1,006,72 6 

3,097 62 

Nicolaibahn . . . 

479.429 

•29,976,899 

4,981,438 

8,247 41 

Petersb.- War sch. 

472,482 

22,918,948 

2 , 957,309 

2,450 

13 

Peterhofer .... 

208,546 

1,077,776 

18,572,164 

113,868 

2,189 76 

Mosk.-Nishnij-N. 

325.998 

1,669,393 

4 , 07 « 

69 

Riga - Dünaburg 

92,453 

5,346,259 

423,189 

2,074 46 

Wolga-Don . . . 

3.032 

i ,47!,786 

59,622 

816 

73 

Moskau-Rjäsan . 

299.701 

23, io ' i ,668 

1,809,182 

7.445 

20 

Mosk. - Jarosslawl 

295,386 

11,044,346 

74 J. 2 I 5 

•2,685 56 

Warsch. -Bromb. 

87,614 

4 , 733,949 

238,265 

1,726 56 

Woron.-Rostow . 

187,701 

4 , 713,093 

531,814 

880 49 

Odessa. 

321,212 

37,197 

9,516,781 

2,118,077 

1,668,168 

38,849 

i ,445 

i ,494 

32 

18 

Lodsz. 


Dünab. - Witebsk 

98,413 

6,733,802 

563,401 • 

2,309 

2 

Rjäsan-Koslow . 
W arschau -T eres- 

124,708 

19,796,769 

1,465,469 

7,401 

36 

pol-Brest .... 

88,644 

2,825,429 

301,125 

I, 5 i 3 

•4 

Moskau-Kursk. . 

417,753 

19,040,320 

2,500,603 

4,981 

28 

Rjäshk- Morsch . 

32,751 

3,072,675 

172,032 

1,421 

75 

Koslow - Woron. 

107,990 

6,047,546 

375,752 

2,250 

01 

Orel-Grjäsi. . . . 

84,482 

6,284,725 

450,020 

1,590 118 

Schuja-Iwanowo. 

73,210 

3,762,687 

I 5 i, 3 i 3 

869 

61 

Orel-Witebsk . . 

124,079 

12,080,189 

1,198,622 

2,456 

19 

Kursk-Kijew. . . 

123,151 

5 , 033,520 

1,106,691 

2 , 5*5 

21 


7 


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9 8 



Verkehr . 

Brutto-Einnahmen. 



• 

Im Ganzen. 

or. Werst. 


Reisende. 

Waaren. 


1 



. 


Rbl. 

Rbl. 

K. 

Riga-Mitau. . . . 

81,918 

586,845 

57,576 

M 7 6 

31 

Kursk - Charkow- 






Asow. 

298,251 

7,251,915 

1,521,841 

1,994 

55 

Grjäsi-Zarizyn. . 

62,996 

4,822,490 

410,757 

657 

21 

T ambow -Koslow 

57,966 

5,487,563 

183,999 

2,705 

87 

Nowotorshok . . 

21,435 

760,086 

24,653 

770 

41 

Rybinsk-Bolog. . 

73,367 

5,595,490 

444,089 

1,586 

03 

Charkow-Krem.. 

117,285 

2,465,805 

386,066 

i ,595 

31 

Tambow-Ssarat.. 

74,030 

6,070,791 

481,846 

1,365 

— 

Ki j ew- Brest-Ber- 






ditschew .... 

130,596 

3,975,608 

534,750 

1,923 56 

Moskau-Brest . . 

309,049 

12,353,173 

1,230,108 

1,196 60 

Baltische. 

94,680 

3,441,481 

337,047 

862 

Ol 

Skopin. 

12,159 

1,565,819 

31,264 

563 73 

Nowgorod. 

38,901 

368,902 

43,379 

637 92 

Poti-Tiflis .... 

40,595 

1,330,050 

132,168 

1,120 

07 

Li bau. 

34,921 

822,115 

83,470 

283 

91 

Jarosslawl - Wo- 






logda. 

20,228 

73,742 

i‘ 6,344 

194 

46 

Konstantinow . . 

2,779 

102,563 

5,224 

256 

94 

Gesammtsumme 






der Privatbahnen 

6,035,933 

294,367,319 

30,520,327 

2,413 

47 

Zusammen . . 

6,090,676 

296,793,890 

30,667,001 

W 

U> 

OO 

VO 

60 


Von den 31 Linien, welche einen Vergleich mit den Ziffern der 
vier ersten Monate des vergangenen Jahres zulassen, weisen sieben 
eine Abnahme aus; es sind dies: Nicolaibahn (6 2 3 pCt.), St. Peters- 
burg-Warschau-Wirballen (8 7 * pCt.), Riga-Dünaburg (38710 pCt.), 
Wolga-Don (14 pCt.), Orel-Witebsk (8 Ve pCt.) und die Staatsbahn Je- 
lissawetgrad-Krementschug (14*/4 pCt.), Dünaburg-Witebsk (i8pCt.). 
Die anderen Linien ergeben eine Steigerung, welche ungefähr 114 
pCt, (Tambow-Koslow) beträgt, der dann die Linie Koslow-Woro- 
nesh (63 Vs pCt.) folgt, wohingegen die geringste Steigerung 
( 7 ,8 pCt.) die Linie Warschau-Bromberg ausweist. Die Durch¬ 
schnittszahl der Zunahme der sämmtlichen Betriebseinnahmen ist 
147 » pCt. oder 3^/5 Millionen Rubel. 


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(Thätigkeit der Gesellschaft der Aerzte in Kasan. 
npOTOKOJüji aac*AaHifl o6meeTBa Bpaneft r. Kasaim.) 

1872 Nr. 1—9. Berichte über Sitzungen dieser im Jahre 1868 
gegründeten Gesellschaft am 2. und 14. Januar, 11. und 18. Februar, 
10. und 22. März, 5. und 28. April und 1. Juni 1872, deren wissen¬ 
schaftlicher Inhalt in extenso einer besonderen Abtheilung („Beilagen* *) 
„üpHJiOHceHia“ übergeben ist, geben ein anschauliches Bild des 
innern Lebens dieses strebsamen Vereins, dem Petrow (mit Schtscher- 
bakow Vf. der aaM^Tica Meaim.HH'b bt> Ka3aHCK0ft ryöepmft. Ka3am> 
1872. Bemerkungen an die Medicin im Kasan’schen Gouvernement 
1812) präsidirt, dem Wyssozky, Schtscherbakow und Iwanow als 
Secretäre dienen. Jedes ordentliche Mitglied zahlt 5 Rbl. jährlichen 
Beitrags, die Casse befindet sich aber in steter Bedrängniss, da Un¬ 
ternehmungen angelegt sind, denen sie nicht gewachsen ist. Ne¬ 
ben den wissenschaftlichen Arbeiten wird auf Antrieb des Moskauers 
Tarassenkow mit Eifer die medicinische Statistik verhandelt, es wer¬ 
den Blankette den Mitgliedern zugesandt zur Ausstellung von Po- 
stulaten, es wird die Beschickung eines medicinisch - statistischen 
Congresses während der polytechnischen Ausstellung in Moskau 
durch die Delegirten Wyssozky, Gwosdew und Nawalychin vorbe¬ 
reitet, Mölieson aus Perm plaidirt für eine in ihren Forderungen 
nicht zu eng begrenzte medicinische Statistik, und im April setzt 
Studensky die Herausgabe eines aus den täglichen Berichten der 
Aerzte zusammenzustellenden R hcbhhk-b oömecTBa Bpa*ieft r. Ka- 
3 aHH KaKT> npiuioaceirie kt> npoTOKOJiaMi» (Tagebuch der Gesell¬ 
schaft der Aerzte in Kasan als Beilage zu den „Protokollen**) durch. 
Ferner interessirt sich die Gesellschaft für die Pockenlymphe, es 
wird wiederholt über Anlage eines Kälberstalls zur Unterhaltung der¬ 
selben discutirtj auch unterlässt sie nicht die Anregung zu gymna¬ 
stischen Uebungen. Mit Ernst werden die Vorbereitungen zur Ver¬ 
sammlung russischer Naturforscher und Aerzte in Kasan im Jahre 
1873 besprochen. Endlich lässt sich Volkmann über die Stellung 
der Gerichtsärzte aus und verlangt die Trennung von Hygienistcn 
und Juro-Medicinern. 

Von dem ,,Tagebuch**(ÄHeBHHiCB) sind denn auchNr. 1—6 zurVer- 
sendung gelangt. Sie enthalten ein höchst schätzenswerthes Mate¬ 
rial zur Krankheiten-Statistik für Kasan vom 1. April 1872 ab, 
wenngleich nur die acuten fieberhaften Krankheiten, namentlich das 
Wechselfieber, die chirurgischen Fälle, die ausgeführten Opera¬ 
tionen, die gerichtlich-medicinischen Vorkommnisse aufgeführt 
werden. Besonderer Fleiss wird verwandt auf die Statistik der In- 
termittens, es werden Interm, quotidiana, tertiana, quartana, lar¬ 
vata von einander geschieden, es wird die Ausbreitung nach dem 
Geschlecht, der Lebensstellung und Beschäftigung und dem Wohn¬ 
orte genau differencirt. Eine solche Arbeit ist selbstverständlich eines 
Auszuges nicht fähig, aber des Preises sehr werth. Frese liefert auch 
eine statistische Tabelle aus der Kasaner Bezirksanstalt für Geistes¬ 
kranke (am i.Mai 1872 Bestand 59 m., 32 w., zusammen 91 Kranke), 

7 * 


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IOO 


Petrow berichtet über Einzelfalle im pathologisch-anatomischen In¬ 
stitute, Wyssozky giebt eine Statistik der Ohrenkrankheiten; eine 
solche für Augenleiden wird fürs Erste vermisst. 11 Krankenanstal¬ 
ten in Kasan, namentlich das Stadthospital, das Militärhospital, das 
Alexander-Krankenhaus, das Hospiz für Angereiste, das Gefange- 
nen-Krankenhaus, die Lazarethe beim i. Gymnasium, bei der geist¬ 
lichen Akademie, beim Seminar, ferner bei drei Fabriken und Privat- 
Praxis von 31 Aerzten Kasan’s liefern das Material für die statisti¬ 
sche Zusammenstellung, während 24 Aerzte die Zusendung dessel¬ 
ben bisher unterlassen haben. — Dieser Statistik sind diverse, das 
ärztliche Publikum interessirende Nachrichten aus Kasan und den 
Nachbargegenden angehängt: in Perm ist am 28. December 1871 
eine Hundesteuer von 25 Cop. jährlich pro Kopf eingeführt, an der 
Kette liegende Hofhunde sind ausgenommen; ebenda haben die 
Aerzte beschlossen, eine fortlaufende Statistik der Krankheitsfälle 
zu veröffentlichen; bei dem Militärhospital in Kasan ist eine Abthei¬ 
lung für fünf barmherzige Schwestern eröffnet, die daselbst einen 
Lerncursus von 6 Monaten zu bestehen haben. An der Kasaner 
Universität wurde zum Doctor med. promovirt: am 7. Mai W. D. 
Wladimirow („einige neue osteoplastische Operationen an den un¬ 
tern Extremitäten“), ein ausführliches Referat über die Disputation 
liegt vor. 

Dr. S. 


(Die Salzausbeute) im ganzen Russischen Reiche betrug 
nach dem neuesten „Jahrbuch des Finanz-Ministeriums“ im Laufe 
des Jahres 1870: 29,013,458 Pud gegen 39,876,926 Pud im Jahre 
1869. Nach den verschiedenen Formen der Salzgewinnung vertheilen 
sich die eben angeführten Zahlen wie folgt: 

Es wurden gewonnen an: 

Steinsah Sudsais und Seesalz (krystalli- 

nisches Salz aus 
den Salzseen) 

im Jahre 1869 3,050,226 Pud. 12,909,328 Pud. 23,917,372 Pud. 

» » 1870 2,887,319 * 12,164,892 » 13,961,247 » 

Während demnach die Production des Stein- und Sudsalzes 
während der beiden angeführten Jahre nur wenig dififerirte, zeigte 
sich in der Ausbeute des aus den Seen gewonnenen krystallinischen 
Salzes im Jahre 1870 die sehr bedeutende Abnahme von fast 10 
Mill. Pud gegen das vorhergehende Jahr, d. h. eine Verminderung 
der Production um fast 40Ü und es repräsentirten die gewonnenen 
13,961,247 Pud Seesalz überhaupt die niedrigste Ziffer, welche die 
Production desselben innerhalb der letzten 10 Jahre erreicht hat. 


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IOI 


(Ueber die Runkelrüben-Zuekerfabrieation) des Russi¬ 
schen Reiches entnehmen wir derselben Quelle folgende Daten: 
Sie erreichte in den Jahren 1869 und 1870 folgende Dimen¬ 
sionen: , 

Iip Russischen Reiche mit Ausnahme des Königreiches Polen wurden 

im Jahre 1869 im Jahre 1870 

a) Runkelrüben verarbeitet: 7,910,275 Berk. 9,556,686 Berk. 

b) an Sandzucker erzielt: 4,947,506 Pud. 6,308,330 Pud. 

In den Gouvernements des Königreiches Polen: 

a) Runkelrüben verarbeitet: 2,276,744 Berk. 2,057,125 Berk. 

b) Sandzucker gewonnen: 1,486,529 Pud. 1,182,538 Pud. 

Summa 10,187,019 Berk, gegen 11,613,811 Berk. 

6,434,035 Pud. > 7,490,868 Pud. 

Mit schnellen Schritten hat sich die Fabrication des Runkelrüben- 
Zuckers im Russischen Reiche verbreitet und die Raffinerie des 
mit einem hohen Einfuhrzoll belegten Colonialzuckers fast gänzlich 
verdrängt. Während im Jahre 1848 die Production von Sandzucker 
aus Runkelrüben ca. 1 Mill. Pud betrug und bloss ! /a der Gesammt- 
menge des verarbeiteten Rohstoffes war, hob sie sich in den Jahren 
1859—63 bereits auf die Summe von 4 Mill. Pud und beträgt 
augenblicklich reichlich 8 Mill. Pud, eine Zahl, die eine achtfache 
Steigerung im Verlauf von 22 Jahren repräsentirt. 


(Zur Bevölkerungsstatistik von St. Petersburg). 
Nach den officiellcn Angaben des hiesigen statistischen Central- 
Comites betrug die Gesammtsumme der Bevölkerung der Residenz 
nach der Volkszählung im December 1869—667,207Scclcn. (Davon 
56,5$ pct. männlichen, 43,44 pct. weiblichen Geschlechts.) Zu dieser 
Summe kommen noch 756 im Findelhause befindliche Kinder (bei¬ 
derlei Geschlechts) unter einem Monat alt, so dass also die Total¬ 
summe der Bevölkerung sich auf 667,963 beläuft. 

Dem Religionsbekenntniss nach befanden sich darunter: 


Griechisch-Orthodoxe.S 57» 1 73 

Raskolniki. 3,138 

Armenisch-Gregorianische . . . 355 

Römisch-Katholische.20,882 

Protestanten.76,831 

Juden. 6,654 ' 

Muhammedaner. 2,071 

Heiden und unbestimmt . . 103 

667,207. 

Der Muttersprache nach zählte man: 

Russen.566,102 Polen.11,1 57 

Serben. 13O Böhmen. 93 


Bulgaren. 14 Serben-Croaten ... 3 


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102 


Slowaken. 24 Mordwinen, Tschuwa- 

Lithauer. 540 sehen, Tschere- 

Letten.1,850 missen,Wotjaken . .' 50 

Deutsche.46,498 Ungarn. 19 

Schweden.5,077 Türken. 28 

Norweger ..... 2 Tataren und Bucharen. 1,983 

Dänen. 93 Baschkiren und Kirgisen 8 

Engländer und Amen- Mongolen und Kal- 

kaner.2,099 mücken. 2 

Holländer. 132 Chinesen. 2 

Franzosen.3,104 Japanesen. 2 

Spanier. 12 Zigeuner. 38 

Portugiesen und Brasi- Juden. 6745 

lianer. 8 Araber. 11 

Italiener. 444 Perser und Afghanistanen 52 

Rumänier. 14 Armenier. 386 

Griechen. 185 Grusiner. 146 

Finnen.16,085 Ossäten, Abchasen, 

Esten. 3,735 Tscherkessen und 

Karelen. 106 andere Gebirgsvölker 26 

Sirjanen. 7 Lesgier und Kabardiner ‘ 17 

Suljane u. unbestimmt . 198 

667,207 

Den Ständen nach: 

Erblicher Adel . . 54,398 Soldaten, auf unbestimm- 

Persönlicher Adel . . 40,186 tenUrlaub entlassen . 11,335 

Kloster-Geistlichkeit. . 336 Soldaten, verabschiedete 15,333 

Welt-Geistlichkeit . . 5,777 Familien der Soldaten . 66,495 

Erbliche Ehrenbürger . 4,130 Finnländer.17,205 

Persönl. Ehrenbürger . 2,860 Verschiedenen Ständen 

Kaufleute.22,333 und Gewerben ange- 

Bürger (ivrfcmaHe) . . 123,267 hörend . . . . . 17,771 

Handwerker .... 17,678 Bauern.207,007 

Soldaten im Fronte- Ausländer.21,335 

dienst befindlich . . 32,516 Ohne Standesangabe . 798 

Soldaten nicht in der 

Fronte dienend . . 6,447 

667,207 

Die Zahl der Ausländer betrug 21,335 und zwar: 

Angehörige des Deut- Schweizer. 551 

sehen Reiches . . . 12,718 Italiener 427 

(DavonPreussen und Nord- Schweden und Norweger 1,269 

deutsche 11,019,Süddeut- Dänen. 469 

sehe 1,699) Holländer und Nieder- 

Engländcr . . * . . 1,709 länder. 192 

Franzosen.2,199 Belgier. 133 

Oesterreicher .... 1,079 Spanier und Portugiesen. 22 


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i °3 


Griechen. 73 Bucharen. 6 

Untcrthanen der Donau- Amerikaner (Nord- und 

fürstenthümer .... 26 Siid-Amerikaner) ... 96 

Türken und Montenegriner 119 Unbestimmt.227 

Perser. 20 


Literaturbericht. 


ß. B. rpueopbesa. O ckhgckom'l Hapo;rfe CaKaxi>.' PIcTopHnecKaa 
MOHorpa4>ia HanncaHHan Kt ABa^n.aTH-Ji'kTHOMy K)6njreio IlMn. 
PyccKaro ApxeojformiecKaroOömecTBa. C.-IIeTep6ypn> 1871. 
Ueber das scythische Volk der Saken. Eine historische Monographie, 
der Kaiserlichen Archäologischen Gesellschaft zu ihrem fünf¬ 
undzwanzigjährigen Jubiläum gewidmet von W. W. Grigorjew , 
ihrem wirklichen Mitgliede und Vorsitzenden in der Orienta¬ 
lischen Section der Gesellschaft. St. Petersburg 1871. 202 

SS. 80. 

Diese inhaltreiche Schrift wurde im letzten Monat des vorigen 
Jahres bei der auf dem Titel angedeuteten Gelegenheit ausgegeben 
und ist eine der Abhandlungen aus dem nächstens erschei¬ 
nenden XVT. Bande der „Arbeiten“ (TpyÄw) der Orientalischen 
Section der St. Petersburger Archaeologischen Gesellschaft. Der Ver¬ 
fasser, welcher auf eine langjährige gelehrte Laufbahn zurückblicken 
darf und gegenwärtig Professor der Geschichte des Orients an der 
hiesigen Universität ist, war als specieller Kenner der Geschichte 
Central-Asiens zu dieser Arbeit durch seine, zum Theil schon im 
Druck erschienene Bearbeitung des VII. Theiles von Ritteris Erd¬ 
kunde besonders veranlasst. Seit 1837, wo der berühmte Berliner 
Geograph diesen Theil seines grossen Werkes herausgab, haben 
sich nicht nur die authentischen Berichte über die darin behan¬ 
delten Erdgegenden in ausserordentlicher Menge vermehrt, auch 
für die historische Behandlung der von denselben bedingten Völker¬ 
verhältnisse haben sich viele neue Gesichtspunkte eröffnet. Als 
Aufgabe stellt sich der Verfasser die Zusammenstellung der Nach¬ 
richten der Schriftsteller des classischen Alterthums über die Saken 
mit denen der orientalischen, namentlich der chinesischen, Ge¬ 
schichtsschreiber und Denkmäler über dasselbe Volk. Wir be¬ 
dauern sehr, dass uns hier der Raum* zu einem eingehenden Refe¬ 
rate fehlt und beschränken uns daher ungern auf die Andeutung 
der Hauptpunkte der Unternehmung. 

Die Hauptsitze der Saken findet der Verfasser hinter dem Ja - 
xartes (nach der Vorstellung, welche die alten Europäer von dem 


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104 


Laufe dieses Flusses hatten) und nördlich von Indien, wenn man 
als dessen nördliche Grenze den Khuen-lien betrachtet. Ptolemaeos 
dachte sich, nach unserem Verfasser, die Saken im westlichen Theile 
Ost-Turkestans, auf dem Pamir und längs dem Thian-Schan bis 
zu seinen nördlichen Abhängen. Dieselben Sitze schreiben ihnen 
die chinesischen Nachrichten aus der Zeit der älteren Han-Dynastie 
zu. Nach Ost-Turkestan verweisen sie auch die dunkeln Andeu¬ 
tungen des Mahabharata. Nach allen diesen Nachrichten wohnten 
die Saken, seit Alters her, ungefähr in den Quellländern des Amu- 
und Järkend-Därja, von hier nordwärts über den Thian-Schan zu dem 
Balkhasch-See, nordostwärts — bis zum oberen Ili-Thal, in nord¬ 
westlicher Richtung—bis zu den Niederungen des Tschu, und west¬ 
wärts (nach den Geschichtsschreibern Alexanders des Grossen) bis 
in die Gegend des heutigen Taschkend und (nach Herodot und der 
Inschrift des Darius in Nakschi-Rustem) in einem Theile von 
Ferghäna. Aus diesen Ursitzen jenseits des Jaxartes wäre, nicht 
später als im VII. Jahrhundert vor Ch. G., ein Theil der Saken zum 
Kaspischen Meere gewandert, denn nur von hier hätten sie jenen 
Einfall in Armenien unternehmen können, von welchem Strabo 
spricht Ein anderer Theil der nach Westen ausgewanderten Saken 
wohnte westlich vom untern und südwestlich vom mittleren Laufe 
des Amu-Darja, zu welcher Annahme den Verfasser die Nachrichten 
des Ktesias veranlassen. In Margiana wären nach ihm die Saken 
die Vorgänger der Daher gewesen und am Murgh-ab sucht er die 
Saka-Haumavarga der Darius-Inschrift von Nakschi-Rustem und die 
Amurgioi des Herodot, während er die Saka-Tighrakhuda der er¬ 
wähnten Inschrift in dem oben angeführten Ferghäna sucht. 

Was die Lebensweise der Saken betrifft, so ergiebt sich für den 
Verfasser aus den Nachrichten über sie, dass sie ein halb sess¬ 
haftes, halb nomadisirendes Volk waren. Diejenigen, welche in und 
für den Wanderhirten geeigneten Steppen lebten, wären aus¬ 
schliesslich Viehzüchter geblieben, andere, welche zum Anbau 
geeignetes Land gefunden hätten, wären zum Ackerbau überge¬ 
gangen, und endlich ein dritter Theil hätte in Städten sich ange¬ 
siedelt und dort der Industrie und dem Handel sich ergeben. Zu 
diesem Schluss hielt sich der Verfasser um so mehr berechtigt, als 
dieselbe Ordnung der Dinge in Bezug auf die Vertheilung der Be¬ 
völkerung immer bestanden habe und noch bestehe, nicht nur in 
Centralasien südlich von Sir-därja, sondern auch fast im ganzen süd¬ 
lichen Asien. 

Bei Erörterung dieser Frage wird vom Verfasser jene Ansicht 
von der körperlichen und geistigen Ueberlegenheit der Nomaden 
den ansässigen Ackerbauern gegenüber geltend gemacht, welche 
Referent in seinem oben abgedruckten Aufsatze über Russisch- 
Turkestan zu bestreiten Veranlassung fand. 

Auch in Betreff der Nationalität der Saken neigt sich der geehrte 
Verfasser einer Ansicht zu, die Ref. nicht ganz mit ihm theilt. Dass 
der Gedanke an eine türkische oder mongolische Abstammung der 


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Saken und eigentlichen Scythen aufzugeben sei, darin stimmt Ref. 
mit dem Verfasser vollkommen überein, auch darin; dass ihnen ein 
arischer (indo-europäischer) Ursprung zuzuschreiben sei. Der Verf. 
ist jedoch geneigt, sie für ein speziell slavisches Volk zu halten, 
bemerkt aber an einer Stelle, dass er auf diese seine Ansicht kein 
besonderes Gewicht lege. Ref. weiss sehr wohl, dass zur Wider¬ 
legung dieser'Ansicht, welcher bekanntlich auch J. H. Cuno (For¬ 
schungen im Gebiete der alten Völkerkunde, Erster Theil: Die 
Scythen. Berlin 1871. 8°) huldigt, eine eingehende Untersuchung 
über das Verhältniss der slavischen Sprachen zu den iranischen, 
die noch ein pium desiderium für die historische Linguistik ist, noth- 
wendig wäre, will sich aber hier die Bemerkung erlauben, dass Herr 
Cuno weniger zuversichtlich seine Ansicht ausgesprochen hätte, wenn 
er, wie unser Verfasser, ein eingehendes Studium den chinesischen 
Nachrichten über die Völkerverhältnisse des nordwestlichen Asiens 
gewidmet hätte. 

Indem wir noch ein Mal unser Bedauern darüber aussprechen, 
dass wir hier aut eine kurze Anzeige der Monographie des Herrn 
Grigorjew uns beschränken müssen, sprechen wir zum Schluss ihm 
unsern aufrichtigsten Dank aus für die mannigfaltige Anregung und 
Belehrung, die wir aus seiner Schrift erhalten haben. 

P. L. 


Upemocmu repodomoeoü Cxueiu ,, CöopHHKT» onncaHift apxeojiom- 
HecKHXT> paciconoKi» h HaxoAOKi» bt> *jepHOMopcKHXi> cxe- 
idixt». Ci> aTJiacoMt h xapxoio. Madame UMnepaxopcKoö 
ApxeojiorHHecKOfi KoMMHccin. BbinycKT> II-Ä. Camcxnexep- 
6 ypra> 1872. 

Alterthümer des Herodoteisc/ien ScytJiiens. Repertorium für die Be¬ 
schreibung der archaeologischen Ausgrabungen und Funde in 
den Pontischen Steppen, herausgegeben von der Kaiserlichen 
Archaeologischen Commission. Zweite Lieferung . St. Peters¬ 

burg 1872. SS. 29 —108 und Beilage SS. XVII.—CXXVII. 
(Mit in den Text gedruckten Abbildungen und einer Karte von 
Herodot’s Scythien.) 4 0 . 

Dazu Atlas , Lief. II., Tafel C bis F und XXII bis X in 
Gross-Folio. 

Die erste Lieferung dieses mit Kaiserlicher Munificenz schön 
ausgestatteten, für das Studium des Alterthums des südlichen Russ¬ 
lands höchst wichtigen Werkes erschien bereits 1866 in russi¬ 
scher und französischer Ausgabe und ist im Auslande bekannt. Von 
seiner zweiten Lieferung ist unlängst die vorliegende russische Aus¬ 
gabe erschienen und wird ihr die französische noch in diesem Jahre 
nachfolgen. 

Die Erzeugnisse classischer griechischer Kunst, welche in den 
Gräbern südrussischen Steppengebiets seit den fünfziger Jahren ne¬ 
ben den eigenen Erzeugnissen der Steppenvölker gefunden wurden, 


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sind ausführlich in den Beilagen zu den Compte-Rendus der Kaiserli¬ 
chen Archäologischen Commission von einem bewährten Kenner classi- 
schen Alterthums beschrieben worden. Die vor uns liegende Aus¬ 
gabe giebt uns die Tagebücher der mit Ausdauer und Geschick ge¬ 
leiteten Ausgrabungen bis 1864 incl. Mit Recht werden die hier 
beschriebenen Alterthümer — Alterthümer aus dem Scythien Hero- 
dot’s genannt. Nicht allein, dass ihre Fundorte in dem Herodotei- 
schen Scythien liegen, auch die Construction und der Inhalt der un¬ 
tersuchten Gräber sagt uns, dass wir es hier mit den Ruhestätten 
der vom Vater der Geschichte in lebhaften Zügen und Farben ge¬ 
schilderten Scythen zu thun haben. Man kann die reichhaltigen 
Tafeln des vorliegenden Werkes als Illustrationen zu dieser Schil¬ 
derung aus dem Alterthum betrachten. 

Der Historiker, den seine Studien der Erforschung der ethnischen 
und socialen Verhältnisse des europäischen Nordostens im Alter¬ 
thum und im Mittelalter zuführen, wird aus den hier beschriebenen 
Funden reiche Belehrung schöpfen. 

Als einen willkommenen Beitrag* zur historischen Ethnographie 
begrüssen wir dem in der Beilage von Professor F. K. Brun in 
Odessa gelieferten ,»Versuch einer Vereinbarung der sich wider¬ 
sprechenden Ansichten über das Scythien Herodot’s und der angren¬ 
zenden Länder.“ Wenn der verehrte Verfasser, nach des Referen¬ 
ten Ansicht, die dieser sich ganz bescheiden auszusprechen erlaubt, 
auch nicht zu einem in allen Punkten befriedigenden Resultat ge¬ 
langt ist, sö liefert seine vertraute Bekanntschaft mit der Geographie 
der betreffenden Länder, die sich theilweise auf eigene Anschauung 
gründet, für die künftigen Forscher doch des Beachtenswerthen 
recht Vieles. Auch die genaue Kenntniss der einschlagenden Lite¬ 
ratur, die der Verfasser in dieser wie in andern seiner Arbeiten (z. B. 
über das mittelalterliche Gazarien der Krim) bekundet, sichert der¬ 
selben einen dauernden Werth unter den historisch-geographischen 
Forschungen der Neuzeit. 

Einen wichtigen Dienst würde die hiesige Kaiserliche Archäolo¬ 
gische Commission der Wissenschaft, erweisen, wollte sie das „Ono- 
masticon Ponticum“, mit welchem, wie wir gehört, eine tüchtige ge¬ 
lehrte Kraft auf ihre Anregung hin hierselbst beschäftigt ist, in einer 
der folgenden Lieferungen des besprochenen Sammelwerkes veröf¬ 
fentlichen. Die Veröffentlichung einer solchen, grossen Fleiss und 
bewährte Umsicht erfordernden, Arbeit wäre von unberechenba¬ 
ren Folgen für die glückliche Lösung vieler Fragen aus der histori¬ 
schen Ethnographie. 


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Russische Bibliographie 


B&pm&BCKiR, H. äpcbhäh ncTopi* eBpeftcxaro HapoAa, ott> cotbq- 
penia Mipa ao coopyaceHbi BToparo xpaMa.H3A.2-oe.OAecca.72 cTp. 
(Warschawsky, J. Alte Geschichte des jüdischen Volkes, von Er¬ 
schaffung der Welt bis zur Erbauung des zweiten Tempels. 2. 
Aufl. Odessa. 72 Seiten). 

Pouie$op‘b (Ae), rpa4>i>. CTponTeAbHaa TexHOAorla h apxnTex- 
Typa rpaxcAaHCKHxi» 3AaHiö. H. II. PadoTw. Bbin. I. 3 eMARHbm 
pa6on»i. IIocTpoflKa xceA'hsHbix'b Aopon>. Cn6. in-2 0 , 88 CTp. 
h VII TaÖA. nepTexcett. (de Rochefort, Graf. Die Bautechnologie und 
die Architectur der bürgerlichen Wohngebäude. Theil II. Ausge- 
fiihrte Arbeiten. Liefg. I. Erdarbeiten. Eisenbahnbau. Mit Tafeln. 
St. Petersbg. folio. 88 S.) 

j/lMBaHOBl, 0 . B. PaCKOJIbHHKH H OCTpOXCHHXH. O^epKH h pa3Ka3bi. 1 
T. III. Cn6. in-8°, 626 cTp. (Liwanow, Th. W. Die Schismatiker 
(Raskolniki) und Gefangenen. Skizzen und Erzählungen. Bd. III. 
St. Petersburg. 8°. 626 5 .), 

Ke/ibcieBV B. H. Ilpn rieTpi. Hctophh. hob. Ct> 6-10 xapT. Cn6. 
in-8°, 176 cTp. (Kelsijew. Zu Peter’s Zeiten. Historische Novellen. 
Mit 6 Abbildungen. .St. Petersburg. 8°. 176 S.). 

KJfmeBim, Kapjiv M'hAOBaa <t>opMauiH BT> JIioßAHHCXoft ryÖepHin. 
Baprn. in-8°, 77 crp. h i xapTa. (Jurkewitsch, K. Die Kreideformation 
im Lublin’schen Kreise. Warschau 8°. 77 S. und eine Karte. 

TpeÜAOCeBNHi», HBatn». O nepexoAHbix*b oopMauiiDCb K'fejreuxHX'b 
rop*b b'b DapcTB'h üoAbcxoM-b. in-8°, 64 CTp. h 1 Taöji. (Treidose- 
witsch, J. Ueber die Uebergangsformation der Kjelezki’schen Berge 
im Zarthum Polen. 8. 64 S. und 1 Karte). 

UlMyiieBNHli, fl. M. yHeÖHHKt rncTOJiorin h 4>H3ioAoriH ähbot- 
Hbixi». Bwn. II. Cn6. in-8°. 99—163 CTp. (Schm ulewitsch, J. M. Lehr¬ 
buch der Histologie und Physiologie der Thiere. Liefg. II. St. Pe¬ 
tersburg. 8°. S. 99—163. 

AparoMMpoBV TaxTHxa. H. I. Kypcb, npHHapoBAeHHMft xi> npo- 
rpaMMi BoeHHbix*b yTOAHm*b. H 3 A. 2 -oe, ncnp. ryA0MT>-JIeBXOBH- 
HeM*b, noAi» peA. JleBHuxaro. Cn6. in-8°, IV + 318 CTp. h 9 ji. ^epT. 
(Dragomirow. Taktik. Th. I. Cursus für die Militair-Lehr-Anstalten. 
2. Aufl. verbessert von Gudim-Lewkowitsch unter der Redaction von 
Lewitzky, St. Petersbg. 8°. IV + 318 S. und 9 Tafeln Abbildungen). 


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<t>ftMMflOBl>. BocHHbift o63opi> Tn<i>JiHccKoft ryßepHiH. Cn6. in-8°, 
411 CTp. (Filipow. Militair. Uebersicht d. Tiflis’schen Gouvernements. 
St. Petersburg. 8°. 411 S.). 

TaBpifturb. Oöoap'bHie A6xa3CKHxi> npHXOÄOß-b bt> 1871 r. IlyTeBbiH 
3anHCKH. MocKBa. in 8°. (Gawril. Uebersicht der Abchasischen Ge¬ 
meinden im J. 1871. Reisebriefe. Moskau. 8°). 

CTOJlbiriMHi», A. I. Kjiaccimn3MT> h no;io)KiiTejibHbiÄ HayKH. II. 06 t> 
e^HHCTB'fe bt> HayK'fe h o peajibHOM-b o 6 pa 30 BaHin. MocKBa. in-8°, 
6ocTp.(Stolypin,D.J.DerClassicismus und die positiven Wissenschaften. 
II. Ueber die Einheit in der Wissenschaft und über die reale Bildung. 
Moskau. 8°. 60 S.). 

MHHHHb, H. yneÖHaa Teopia cjiobcchocth. IT34. 8-e, Cn6. in-8°, 

111 CTp. (Minin, N. Lehrgang der Literaturwissenschaft. 8. Ausg. 
St. Petersburg. 8°. 111 S.). 

Ae-BniTb, H. CruxoTBopem*. Cn6. in-8°, 218 CTp. (de Witt, 
N. Gedichte. St. Petersburg. 8°. 218 S.). 

KyjiOJibHHKi>, flaBejn». OrnxoTfcopeHiH. BmibHa. in-8°, 276 CTp. (Ku- 
kolnik, P. Gedichte. II. Bd. Wilna. 8°. 276 S.). 

MßaHOBb, H. HcTopH^ecKoe onncame Mocrbw. MocKBa. in-12 0 , 
304 CTp. (Iwanow. N. Historische Beschreibung Moskaus. Moskau. 

12“. 304 S.). 

IlaMaTHaH KHHECKa MopcKHxt apTHJuiepHCTOBT». Cn6. in-8°, 
XXIV+743 + 80 CTp. h CXXII ji. nepT. (Taschenbuch für Marine-Ar¬ 
tilleristen. St. Petersbg. 8°. XXIV-+ 743+80 S. und CXXII Tafeln). 

Radloff, W. Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Süd- 
Sibiriens. IV. Theil. St. Petersb. 8°. XVI+512 S. 

7leBH,3AyapA'b.Bon> h Mipi> cb cocTaBHbiMH nacTHMii nocjrfeÄHHro. 

JXyuia, ^yx-b h npnpoAa. MocKBa. in-8 n , VII+217 CT P- (Levy, Ed. Gott 
und die Welt mit ihren Bestandtheilen. Die Seele, der Geist und die 
Natur. Moskau. 8°. VII+217 S.). 

UUepHraHA'b, I- O 3Ha i ieHiH opraHOBi> uyBCTB:b bt> ncnxireecKott 
>KH3Hii. BjiaAHMip-b. in-8°, 47 CTp. (Stemhand, J. Ueber die Bedeu¬ 
tung der Gefiihlsorgane im psychischen Leben. Wladimir. 8°. 47 S.). 

yießeCTaub, r. M. McTopimecKitt o^epK-b .zjpeBHecKaHÄHHaBCKoft 
no33in cxajib.aoB’b. Bapniaßa. in-8°, VII 4- 137 CTp. (Löwestaam, 6. M. 
Historischer Umriss der altscandinavischen Poesie der Skalden. 
Warschau. 8°. VII+137 S.). 

BeceiiOBCKiM, A. H3t> ncTopin jiHTepaTypHaro oßmema BocTOKa h 
3 aiia>ia. CjiaBaHcxia cxa3aHia o CojioMOH'fe h KnTOBpac'h h 3 anaA- 
hwh jiereHAbi o Mopo^b^ h MepjiHH'h. Cn6. in-8°, XX + 350 crp. 
(Wesselowsky, A. Aus der Geschichte der liter. Gemeinschaft 
des Ostens und Westens. Slavische Sagen über Salomon und 
Kitowras und die abendländischen Legenden über Morolf und Merlin. 
St. Petersburg. 8°. XX+ 350 S.). 

3a6tüHHb, Mb. OnbiTbi H3yMema pyccKHxi> «apeBHOcreft h HCTopin. 
MacjrfeÄOBaHifl, onncama h KpHTmecxia CTaTbH.H; I. MocKBa. in-8°, 
5^6 CTp. (Sabelin, J. Versuche zum Studium der russischen 


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Alterthümer und Geschichte. Forschungen, Beschreibungen und 
kritische Aufsätze. Th. i. Moskau. 8°. 566 S.). 

riaMüTHHKH pycccKott CTapHHBi bt> aanaAHbix-b ryöepHinx'h Hm- 
nepin, H3A. n. H. EaTK)inKOBbiMT>. Bbin. V. BmibHa. Teiccn» kt> 18 
pucyHKaMi». Cn6. in-4*, 117 cTp. (Denkmäler der russischen Vergan¬ 
genheit in den westlichen Gouvernements, herausg. von P. N. Ba- 
tjuschkow. Liefg. 5. Wilna. Text zu 18 Abbildungen. St Peters¬ 
burg. in 4 0 . 117 S.). 

McTopHHecKoe onncame 3 eMJin Boficxa ßoHCiearo. T. II. H3A. 
06 ji. B. J\. CTaTHCT. KoMHTeTa. HoBonepKacicb. in-8°, 291—598 
CTp. (Historische Beschreibung des Landes der Donischen 
Kosaken. Bd. II. Herausg. von dem örtlichen statistischen Comit£. 
Nowotscherkask. 8°. 291—598 S.). 

MapTbflHOBI», n. BeCeHHblH BCXOAbl. CtHXH, 9CKH3bI, HaÖpOCKH H 
nicHH. Cn6. in-8°, 256 crp. (Martjanow. Frühlingsanfang. Gedichte, 
Skizzen und Lieder. St. Petersburg. 8°. 256 S.). 

FB03AeBl>, H. B. ÄBa M'fecxn.a BH'h ropoaa. Onepio». MocKBa. in- 1 2°, 47 
CTp. (Gwosdew, N- W- Zwei Monate ausser der Stadt. Moskau. 12 0 . 47 S.j. 

Äono;iHeHiH kt> aKTaMT> ncTopimecKHM'b, coöpaHHbin n H 3 AaHHbiH 
Apxeorpa<t>HHecKoio KoMMHcieio. T XII. Cn6. in-4 0 , VIII+14+423 
+ 24 CTp. (Nachträge zu den historischen Acten, die von der archaeo- 
graphischen Commission gesammelt und herausgegeben worden 
sind. Bd. XII. St. Petersburg. 4 0 . VIIJ. 461 S.). 

flerpOBb, fl, H. IleTpi, BejiHKift nocji+zuntt I+apb MockobcküI h 
nepßbift HMnepaTopi> Bcepoccittcxift. Biorpa4>HHecxift o^epKt, ct> 
nopTpeTOM*b. C116. 8°, 161 CTp, (Petrow, P. N. Peter der Grosse, 
letzter Czar von Moskau und erster Kaiser aller Reussen. Biographi¬ 
scher Umriss mit dem Portrait Peters. St. Petersburg. 8°. 161 S.). 

BJiaAHilipCKiü-EyAaHOBb, M. XpncTOMaTix no ncTopin pyccicaro 
npaßa. Bbin. I. üpocjiaßjib. in-8°, 229 CTp. (Wladimirsky-Budanow, M. 
Chrestomathie aus der Geschichte des russischen Rechts. Liefg. I. 
Jaroslaw. 8°. 229 S.). 

TpaxcAaHCKie 3axoHbi (Cb. 3 aic. t. X n. I), c*b paancHeHieMT» hxt» 
no p'hineHixM’b IIpaBHT. CeHaTa. Ü3A. 6-oe, Aon. Cn6. in-8°, IV+774 
CTp. . (Civilgesetzbuch (Swod Bd. X Th. I) erläutert durch 
Entscheidungen des Senats. 6. Ausg. St. Petersb. 8°. IV+774 S.). 

Tarn», Mn. OnepicH coBpeMeHHoft Ahtjuh. Cn6. in-8°, 346 crp. 
(Tarne, i. Das gegenwärtige England. Umrisse. St. Petersburg. 
8°. 346 S.). 

Teni, BwKTopb. MTajiin. B3ivi.HAbi n ö'fcrjibix 3aM+TKH. IlepeB. 
ct> h+m. Cn6. in-12°, II+200. CTp. (Hehn, V. Italien. Ansichten 
und Streiflichter. A. d. Deutschen. St. Petersburg. 12°. II +200 S.). 

flopeHCb, AmoHl» h Mytn», Pofieprb. IlpaKTmiecKoe pyxoBOACTBo kt» 
H3yHeHiio rjia3Hbix*b 6oji+3Heft. Ct> pnc. IlepeB. noxh peA. C. Co- 
xojioBa. Cn6. in-8°, 2+220 CTp. (Lorens. J. und R. Muhn. Practisches 
Handbuch der Augenkrankheiten. Mit Abbildgn. Uebers. von S. 
Sokolow. St. Petersbg. 8°. 2 + 220 S.). 

EayuiMHrepi, I. S^ieMeHTbi rpa«x>HnecKoft cTaTHKH. IlepeB. A. HeA- 


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HO 


3*JiKOBCKaro. Cn6. in-8°, 238 cTp. h 20 ji. MepT. (Bauschinger, J. Ele¬ 
mente der graphischen Statik. Uebers. von Nedsjelkowsky. 
St. Petersbg. 8°. 238 S. und 20 Tafeln Abbildgn.). 

Suaph, PyCTaB-b. Pa3CKa3bi H3t xch3hh bi> 6pa3HJibcKHxi> cTenaxt. 
IlepeB. B. TpoHitKaro. Cn6. in-8°, 270 CTp. (Aimard, 6., Er¬ 
zählungen aus dem Leben in den brasilischen Steppen. Uebers. von 
W. Troitzky. St. Petersburg. 8°. 270 S.). 

7 la 6 yji 9 , 3 A' Hoßbia cKa3KH. 2-oe H3Aame. Cn6. in-8°, 119—199 CTp. 
(Laboulaye, Ed. Neue Märchen. 2. Ausg. St. Petersburg. 8°). 

duapt, FycT. E'fcrytraa BOAa. PoMam*. Cn6. in-8°, 432 CTp. (Aimard, 
Q. Strömendes Wasser. Roman. St. Petersburg. 8° 432 S.). 

floHCOHi» a*o Teppaüab. BejiHKocB'feTaeie Bopbi. PoMaHt. IlepeB. II. 
HcaeBHHa. MocKBa. in-8°. (Ponson du Terrail. Die Diebe der grossen 
Welt. Roman. Uebers. von J. Isaewitsch. Moskau. 8°). 

(JUipuHKepi». PyxoBOACTBo Kt yneHiK) o TKaHaxt neJioB'feKa h m- 
BOTHbixt. IlepeB. et H'hM. noAt peA. 0 - 3 aBapbiKHHa. Bbin. I. C116. 
in-8 0 ,* 184 CTp. (Stricker Handbuch zur Kenntniss der Gewebe des 
Menschen und der Thiere. Uebers. a. d. Deutschen von Sawarikin. 
Liefg. I. St. Petersb. 8°. 181 S.). 


Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttger. 


Ao3Bo,ieHO UeH3ypoio. 4 AyrycTa 1872 roA*. 
Buchdruckerei von Röttger & Schneider, Newsky-Prospect No. 5. 


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Von dem in unseren Verlag übergegangenen grossen Prachtwerke 



PAR 

TIi. die Pauly 


ist nur eine kleine Anzahl von Exemplaren noch vorhanden, für 
welche wir bis zum i. Januar 1873 den Preis auf 200 Rubel für m Callico 
gebundene Exemplare festgesetzt haben. Nach dem 1. Januar 1873 wird 
der Preis wieder erhöht. 

Eine neue Auflage dieses Werkes in der bisherigen Form wird zweifels¬ 
ohne nie wieder erscheinen, und wir laden daher Diejenigen, welche das 
in seiner Art einzig dastehende schöne Werk, welches bekanntlich auf 
62 grossen, wahrhaft künstlerisch ausgeführten, Tafeln in prachtvollem Farben¬ 
druck die Typen und Trachten der verschiedenen Völkerschaften Russlands dar- 
stellt (mit 500 Seiten Text), anzuschaffen wünschen, ein, baldigst von 
der jetzt noch bestehenden Preiscrmässigung Gebrauch zu machen. In 
kurzer Zeit wird das Werk in Wahrheit eine Seltenheit werden. 

Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff. 

' (Carl Röttger.) 


In der Verlagshandlung von Hermann Fries in Leipzig ist erschie¬ 
nen und durch alle grösseren Buchhandlungen des In- und Auslandes zu 
beziehen und vorräthig in der Kaiserlichen Hofbuchhandlung H. 
Schmitzdorff: 


DIE INDUSTRIE RUSSLANDS 


in 

ihrer bisherigen Entwickelung and in ihrem gegenwärtigen Zustande 

mit besonderer Berücksichtigung 


der 


allgemeinen russischen Industrie-Ausstellung im Jahre 1870. 


bidustrielles Handbuch für das Gcsammtgebiet des Russischen Reiches 

von 4 

Friedrich Matthäi. 

Erster Band. Leipzig, 1872. — XVI. 409. gr. 8. 

Die Kritik hat das vorstehende Werk in der günstigsten Weise aufge¬ 
nommen, und ist allenthalben anerkannt worden, dass es in der vollen Be¬ 
deutung des Wortes eine empfindliche Lücke in unserer Literatur aus¬ 
füllt. Die russische Industrie wird in allen ihren Zweigen in dem Werke in 
so ausführlicher Weise behandelt, dass dieses Werk in Wirklichkeit, wie 
es der Titel besagt, zu einem industriellen Handbuche Russlands, 
und dadurch unentbehrlich für alle Diejenigen geworden ist, welche mit 
der russischen Industrie in irgend welcher Beziehung stehen. Der zweite 
Band wird noch im Laufe dieses Herbstes erscheinen und nimmt die Ver- 
agshandlung Insertionen für denselben entgegen. 


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Von dem in meinem Verlage erscheinenden Kunstwerke: 


DIE KUNSTSCHÄTZE 

DER 

KAISERLICHEN EREMITAGE 

in photographischen Nachbildungen direct nach den Originalen. 

Hit Allerhöchster Autorisation Sr. Majestät des Kaisers 

kmoigtgeta 

4 von 

i 

CARL RÖTTGER, 

Kaiserlichen Ilofbuchh&ndier, 

sind bis jetzt an 130 Blätter Photographien nach Gemälden zur Ausgabe fertig 
oder in Vorbereitung zum baldigen Erscheinen (in Folio pro Blatt I Rbl. 
80 Kop.) und zwar von folgenden Meistern: Raphael — Correggio — 
Lionardo da Vinci — Guido Reni — Murillo — Rembrandt — Tizian — 
Domenico Feti — Carlo Dolci — Paul Potter — Carlo Maratta — Moretto 
da Brescia — Neff — Orlowsky — Kiprenski — Jean Mabuse — Rubens 

— W. v. Mieris — F. Sneyders — D. Teniers d. j. — Denner — Wouver- 
mann — van der Werff — Worobjew — Iwanow — Van Dyk — Liberi — 
Domenichino — Sassoferrato — Luini — Van der Heist — Dow — eng¬ 
lische Schule — Luti — P. Veronese — S. Rosa — Francia— Velasquez 

— Bruni — Van Eyck — Reutern — J. von Ostade — Zuccherelli — 
Moralze — Miereveldt — Sirani — Palma Vecchio — Fr. Francia—‘ 
R. Mengs — Ruysdael etc. 

Ausserdem erschienen bis jetzt noch: 

Originalhandzeichnungen der Kaiserlichen Eremitage in Photographien direct 
nach den Originalen; zunächst 12 Lieferungen ä 6 Blatt, per Lieferung 
4 Rubel. Jedes Blatt einzeln 80 Kop. und 

Sculpturen, antike und moderne (u. A. 4 Canovas, Bienaime, Houdon etc.) 
der K. Eremitage, in grossem Format (Folio) 1 Rbl. 50 Kop. pro Blatt 
und in Visitenkartenformat ä 20 Kopeken. 

Interieurs (im grössten Imperial-Folio ä 6 Rbl. und in Folio ä 1 Rbl. 50 Kop.) 

und Stereoskopen. 

Jedes Blatt der Sammlung ist einzeln käuflich; doch werden die Photo¬ 
graphien nach Gemälden in Serien erscheinen ä 10 Lieferungen, jede 
ä 30 Blatt. 

Ich freue mich, sagen zu dürfen, dass dieses Unternehmen nicht bloss 
hier, sondern auch im Auslande sich der allgemeinsten Theilnahme und 
Anerkennung erfreut. 


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Das Russische Turkestan. 

Seine Bevölkerung und seine äusseren Beziehungen. 


(Fortsetzung und Schluss.) 

Wie wir im Vorhergehenden hervorhoben, ist es der sesshafte 
Theilder Bevölkerung von Russisch-Turkestan, welcher besonders 
Grund hat, mit der gegenwärtigen Lage der Dinge daselbst zufrie¬ 
den zu sein und es in der That auch ist. Jeder aus diesem Theil der 
Bevölkerung, mag sein Leben ein oder zwei Menschenalter zählen, 
wird sich des Gegensatzes zwischen seiner jetzigen und früheren 
Lage bewusst sein. Selbst dig Geistlichkeit, die Ulemä, die von 
ihrem früheren Einflüsse eingebüsst hat, — denn die üzbekischen 
Machthaber stützten sich nächst ihren Streitkräften hauptsächlich auf 
dieselbe, und sie ging immer mit ihnen, der Macht, weil diese, ihr 
den Niessbrauch der Vermächtnisse (Waküf) sicherte, —• wird sich 
in die gegebenen Verhältnisse fügen. Anders ist es aber mit den 
Ordenspriestern, den als Heilige betrachteten Ischänen, bestellt. Sie 
sind den Regierungen in den Khanaten oft im Wege gewesen und 
auch unserer Verwaltung werden sie nicht selten unbequem sein, 
namentlich dadurch, dass sie auf die wandernde sowohl, als auch auf 
die sesshafte Bevölkerung, wo diese arm ist, einen unmöglich zu 
controlirenden Einfluss ausüben. Besonders macht sich ihr Einfluss 
beim Nomaden geltend und diese Ordensbrüder sind der eigentliche 
Heerd des Fanatismus unter den Muslim von Central-Asien, der 
seinen Einfluss auch auf diejenigen Nomaden erstreckt, welche sich 
nur äusserlich zum Islam bekennen. Wo von Raubanfällen auf ver¬ 
einzelte Ansiedelungen oder auf Karawanen zu hören, so sind sie 
meist von Ischänen geleitet. 

Doch nicht allein in den von Russland seit 1864 annectirten Land¬ 
schaften, auch in den Khanaten ist die Lage der Dinge eine andere 
als vor vier oder sechs Jahren. Abgesehen davon, dass das Ver- 
hältniss der Regierungen in Khokand und Buchara zu dem Vertreter 

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unserer Regierung in Turkestan ein anderes geworden ist, hat sich 
auch ihr Verhältniss zu ihren eigenen Unterthanen geändert. Sie 
haben es einsehen gelernt, dass sie sich hauptsächlich auf die sess¬ 
hafte Bevölkerung ihrer Länder zu stützen haben. Besonders 
Khudayär-khan hat von den Nomaden seines Reiche^ viel zu viel zu 
leiden gehabt, um, nachdem er zwei Mal vertrieben und jedes Mal 
mit fremder Hülfe, und zwar der Hülfe eines nicht gerade wohl¬ 
wollenden Nachbars, auf den Thron zurückkehrte, es nur zu gut zu 
wissen, bei welcher. Partei im Lande seine Interessen liegen. Daher 
ist er auch darauf bedacht, so gut er es versteht, die Interessen der 
sesshaften Bevölkerung zu pflegen. So fand ihn vor zwei Jahren 
der Abgesandte des General-Gouverneurs von Turkestan persönlich 
mit der Leitung eines Canalbaues beschäftigt. Im Jahre 1867 hörte 
ich in Khodschend, dass Khudayär einen neuen steinernen Bazar in 
Khokand baue. Wie sich die Verhältnisse bei seinem Todesfälle 
gestalten werden, ist nicht vorauszusehen. Dass die Qiptschaq, die 
einst den Mella-khan und später dessen Sohn auf den Thron von 
Khokand brachten, auch bei einem eintretenden Thronwechsel 
wenigstens einen Versuch machen werden, einen Nebenbuhler des 
Sohnes Khudayär s aufzustellen, etwa den in Kaschgar lebenden 
Sohn Mella-khans, Muhammed-Sultan, dürfte nicht unwahrscheinlich 
sein. Auch würde wahrscheinlich Jakub-beg, der Ataliq-Ghäzi von 
Kaschgar — als Usurpator wagt er noch nicht, sich Khan zu nennen 
— nicht abgeneigt sein, solch einen Versuch der Qiptschaq zu 
unterstützen, um auch seinerseits Einfluss auf die Angelegenheiten 
von Khokand zu haben, wie ja auch die Emire Nasr-ullah und 
Mozzafar-eddin dem Khudayär Zuflucht gewährten und ihn unter¬ 
stützten, um bei guter Gelegenheit sich ift Khokand geltend zu 
machen. Unsere Besitzergreifung von Kodschend, Ura-tepe, Zamin, 
Dizakh und endlich des östlichen Zerafschan-Thalcs hat Khokand 
ausserhalb bucharischen Einflusses und bucharischer Intentionen 
gestellt. Jedenfalls ist der Umstand, dass die beiden Khanate auf¬ 
gehört haben Nachbarn zu sein, als ein Glück für sie zu betrachten. 
Das Volk wird sich um so wohler befinden, je weniger seine Be¬ 
herrscher die Möglichkeit haben, die Ausgeburten ihres Grössen¬ 
wahnsinns zu verwirklichen. 

Auch der Emir von Buchara, obgleich wir ihn gezüchtigt, muss 
dennoch sich als uns verpflichtet betrachten, nachdem wir ihm ge¬ 
holfen, mit seinen innern Feinden fertig zu werden. Er macht, dar¬ 
aus "uns gegenüber auch kein Hehl und ebenso ist sein Volk 


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zufrieden, dass es von den Lasten befreit is*, welche ihm die 
früheren alljährlichen Kriegszüge seines Herrschers aufcrlegten. 
Wie lange die alten Rivalen der Manghit — diesem Uezbeken- 
Stamm gehört die gegenwärtig in Buchara herrschende Familie an 
— die Keneges in Schehri-sebz, sich ruhig verhalten werden, ist für 
Den, der die dortigen Verhältnisse von den Ufern der Newa aus 
verfolgt, nicht möglich vorauszusagen. Wenn übrigens der Emir 
bei der ,Wahl seiner Gouverneure (Bege) für die einzelnen Pro¬ 
vinzen vorsichtig und glücklich sein sollte, so könnte er, eben so 
wie der Khan von Khokänd, die sesshafte Bevölkerung ganz für 
sich gewinnen und dieselbe würde bei ihren conservativen Interessen 
ein bedeutendes Gegengewicht gegen das unruhige, wenig produ- 
cirende Element der Uezbeken-Stämme bilden. 

Der Handel Bucharas dürfte, wenn die Verhältnisse so bleiben 
wie sie sind, einen gegen früher*nicht unbedeutenden Aufschwung 
nehmen, da jetzt nicht nur bucharische Kaufleute wieder sich frei auf 
russischem Gebiete bewegen können, sondern da auch, in Folge der 
Rücksichten, welche die bucharische Regierung Russland schuldet,, 
die Agenten russischer Handelsleute auf bucharischem Gebiete nicht 
mehr jenen Einschränkungen und Erpressungen ausgesetzt sind, 
welche die rtissischen Handelsleute früher in Buchara zu erleiden 
hatten. Wir haben uns das lange gefallen lassen. Unsere t 
früheren wiederholten Gesandtschaften nach Buchara veranlassten 
wohl sehr umständliche Verhandlungen in Betreff der gegenseitigen 
Handelsbeziehungen, brachten auch dem bucharischen Handel sehr 
viel Nutzen, nur nicht dem russischen. Der Emir und seine Regie¬ 
rung mussten erst die Wucht der Schläge, welche ihnen die russi¬ 
schen Waffen beibrachten und dann die Wohlthat einer Unter¬ 
stützung durch diese Waffen gefühlt haben, um den Werth freund¬ 
schaftlicher Beziehungen zu ihrem Nachbar schätzen zu lernen. 
Andere Ueberzeugungsgründe finden bei Asiaten kein Gehör, am 
wenigsten in Central-Asien. Die üzbekischen Diplomaten, obgleich sie 
sehr schlau sind, vermögen die Grösse einer fremden Macht nur 
dann abzuschätzen, wenn sie sie zu ihrem eigenen Schaden gefühlt 
haben. Das zeigen auch alle die Beziehungen, in denen .wir bisher 
zu Khiwa gestanden, selbst die neuesten. Seit einem Jahre bringen 
uns die Tagesblätter beständig Berichte darüber, dass der Khan 
von Khiwa durch Boten, Gesandte und andere Vermittler unserer 
Regierung und ihren Repräsentanten seine Bereitwilligkeit zu er¬ 
kennen gebe, die in seinem Lande als Gefangene lebenden Russen 

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in die Heimath zu schicken, aber die thatsächliche Ausführung dieses 
lobenswerthen Vorhabens lässt noch immer auf sich warten, obgleich 
man in Khiwa sehr gut wissen muss, dass, von Krasnowodsk aus 
das Land des „Padischäh von Khowarezm“ nicht unerreichbar ist. 
Uebrigens haben wir ein anderes, weniger kostspieliges Mittel, ihn 
zur Erfüllung seiner Versprechen und unserer gerechten Forderungen 
zu zwingen: wir brauchen nur alle von Khiwa kommenden Kara¬ 
wanen von unsern Grenzen zurück zu weisen. Um uns zu einer 
Occupation veranlasst zu sehen, ist die Oase von Khiwa ein zu 
wenig beneidenswerther Besitz. Am Wenigsten wäre auf Diejenigen 
zu achten, welche meinen behaupten zu müssen, dass der Besitz des 
Amu der Schlüssel zu einem bedeutenden Handel bis an die Grenzen 
Indiens sei. 

Wenn auch im Alterthume auf dem Oxus Waaren transpqrtirt 
würden, welche von Indien über Baktrien kamen, so gelangten sie 
bis zum Ostufer des Kaspischen Meeres nicht direct auf dem Oxus, 
denn im Alterthume ergoss sich dieser Fluss nicht ins Kaspische 
Meer. Die classischen Schriftsteller schreiben ihm diese Mündung 
zu, weil sie den Aralsee nicht kannten. Die arabischen Geographen, 
welche den Ptolemaeos nicht kennen, lassen ihn nur in den Aralsee 
münden, weil diese Mündung ihnen bekannt war . Istakhri (im X. 
Jahrhundert) kannte den Aibugir und den Ust-urt. Wenn ein Arm* 
des Amu zeitweilig sich ins Kaspische Meer ergoss, so kann das nur 
zwischen dem Anfang des XIII. und dem Ende des XVI. Jahrhunderts 
gewesen sein. Dass aber dieser Arm zur Schifffahrt benutzt worden 
sei, glauben wir nicht. Abulghäzi, den* wir die Nachricht über die¬ 
sen Arm verdanken, spricht nur davon, wie er zur Bewässerung von 
Feldern und Gärten gedient habe. Und dann braucht eine Handels¬ 
strasse, die von Bedeutung fürs Alterthum gewesen ist, noch 
keine Bedeutung nach unserem gegenwärtigen Maassstabe zu haben, 
selbst wenn sie auch zu den belebtesten des Alterthums gehört haben 
mag. Dass Peter der Grosse, zu dessen Zeit Russland (seit 1711) 
vom Schwarzen und Asowschen Meere ausgeschlossen war, ernstlich 
daran dachte, das Kaspische Meer für den russischen Handel mit 
Asien fruchtbar zu machen, ist sehr natürlich, denn damals war die 
Weltlage eine andere. Die Engländer hatten noch kein Stück Lan¬ 
des in Indien im Besitz: und wären unseres grossen Reformators Ge¬ 
danken an einen Handel mit Indien zur Ausführung gelangt, dann 
stände es um Central-Asien besser als jetzt. Wäre Bekowitsch’s 
Expedition gelungen, hätte man auch % bald eingesehen, was Viele 


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jetzt noch nicht einsehen wollen, dass das alte Bett des Amu nicht 
zur Schifffahrt, sondern nur zur Bewässerung des zwischen der 
chowarezmischen Oase und dem Kaspischen Meere gelegenen Land¬ 
striches dienen könne. Dann wäre hier eine Landstrasse geschaffen 
worden, welche durch angebautes Land mit sesshafter Bevölkerung 
ginge. 

Obgleich die Qazaq der Kleinen Horde, deren ,Wanderplätze vom 
Jaik (Uralfluss) bis zum Sir sich erstrecken, schon wenige Jahre nach 
Peter’s Tode, 1731, russische Unterthanen wurden, so sind sie*es 
factisch eigentlich erst in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ge¬ 
worden. Hätten wir aber nach einer erfolgreichen JJekowitsch’schen 
Expedition an der Ostküste des Kaspischen Meeres und in den 
Niederungen des Amu uns festsetzen* können, dann wäre die Be¬ 
zähmung der Qazaq viel früher vor sich gegangen. Dass Russland 
zur Sicherstellung seiner weitgestreckten östlichen Grenze vom 
Uralflusse bis zum Ischim und Irtisch die ausserhalb derselben 
lebenden Nomaden sich zu unterwerfen genöthigt war, wird Keiner 
leugnen wollen. Sie zu gehorsamen Unterthanen zu machen, hat 
unserer Regierung viel Zeit, Mühe und Mittel gekostet und hat uns 
zu der Occupation südlicher Landstriche mit sesshafter Bevölkerung 
gezwungen, von der wir seit Peter’s des Grossen Zeit abstanden. 
Lange hat man bei uns mit dieser Maassregehgezögert, weil sie dem 
Staate nur Opfer an Mitteln auferlegt, welche die Einnahmen von 
den neu erworbenen Ländern noch lange nicht zu decken im Stande 
sein werden. Wenn die britische Verwaltung im reichen Ost¬ 
indien schon ein bedeutendes Deficit aufzuweisen hat, um wie viel 
mehr die von Ländern mit einer viel weniger dichten Bevölkerung, 
welche durch üzbekische Wirthschaft heruntergekommen ist. Für 
Britannien wiPd aber dieser Schaden durch den Gewinn, den ihm sein 
Handel mit der asiatischen Besitzung bringt, in bedeutendem 
Maasse aufgewogen. Ueberhaupt kann Russland von asiatischen 
Besitzungen nicht den Vortheil haben, den England von solchen hat, 
da in ihm die disponibeln Capitalien in nicht so reichem Maasse 
fliessen. wie in diesem und daher noch im eigenen Lande leicht An¬ 
wendung finden. 

Wir wollen hier einen flüchtigen Blick werfen auf die Geschichte 
der Qazaq oder „Kirgis-Kaissaken“, wie sie bei uns zuerst genannt 
wurden. Mit ihrer Geschichte ist die Geschichte unseres Vorrückens 
in Central-Asien verknüpft. Zu einer ausführlichen Geschichte dieses 
Volksstammes hat sich, Dank den Bemühungen verschiedener 


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russischer Forscher, ein bedeutendes Material dazu bereits ange¬ 
sammelt. Akademiker W. W. Weljaminow-Zernow ist mit den 
Anfängen der Geschichte der Qazaq, nach orientalischen und russi¬ 
schen Chroniken, im II. Bande seiner umfangreichen Geschichte der 
Khane von Kassimow’) beschäftigt gewesen. Ausserdem hat er aus¬ 
führliche Mittheilungen aus den Orenburgischen Archiven über die 
Beziehungen der Qazaq zu Russland imXVIII. Jahrhundert gemacht.^) 
Sonst haben sich A. J. Lewschin, in seinem durch eine französische 
Uebersetzung auch im Auslande bekannten Werke über die Horden 
und Steppen der Kirgis-Kaissaken"** ***) ) und Obrist Meyer in seinem 
Büche über die transuralischen Steppcnf) verdient gemacht. In 
letzter Zeit sind auch einzelne Episoden aus der neuesten Geschichte 
der Qazaq behandelt worden. 

Wir haben im Anfang unseres Artikels bereits angegeben, wann 
der Name Qazaq aufkam (siehe Heft i. S. 36) Die aus dem Ulus 
des Uezbeken-khans Abu-l-kheir davongegangenen Brüder aus dem 
Geschlechte Dscliudschi’s, Girej und Dschani-bek fanden mit ihrem 
Anhänge Aufnahme im Osten, hinter dem Balkasch-See, beim Dscha- 
gataiden Isa-Bugha-khan. Der von ihnen und ihren Söhnen gestiftete 
Bund gelangte bald zu Ansehen und Macht und als die Uezbeken 
aus den Steppen im Norden in die Oxusgegend gezogen waren, 
hielt sich Baranduk-khan, Girej’s Sohn, nördlich und nordöstlich 
vom Aralsee, Qasim-khan, Dschani-bek’s Sohn, aber im westlichen 
Mogholistan (hinter dem Baikasch) auf. Qasim vertrieb seinen Vetter 
Baranduk, der in Samarkand starb, und schlug seine Zelte im Ulu- 
tau, nordöstlich vom Aralsee auf. Unter seinen Nachfolgern, den 
Söhnen seines Bruders Jadik, nahm die Macht der Qazaq ab, wuchs 

*) IbarfcAOBaHie o KacHMOBCKiixT> napaxi» w uapeBunaxb, Theil l*bis III. Aus den 
TpyAM BocTOHHaro Or/vfc.ieHiH llxnep. Apxeo^ioniHecKaro OömecTüa (Arbeiten der 
orientalischen Section der Kaiserl. Archaeologischen Gesellschaft in St. Petersburg) 
Bd. IX, X und XI, 1563—66. Das Werk wird erst im vierten Bande seinen Abschluss 
finden und soll auch deutsch erscheinen. 

**) Russisch unter dem Titel: H<rropii4ecKiH ll3Bl;CTia o Kuprua-h-KakcaKaxT. h cho- 
uieiiiHX'b Pocciw Cb CpeAHew Asieio (1748—1765)^ d. i. historische Nachrichten über die 
Kirgis-Kaissaken und die Beziehuugen Russlands zu Central-Asien (1748 — 1765), 
Bd. I. (131 SS. i6°.) mit Beilage (48 SS- 16 0 .) und Bd. II. Heft I (64 SS. 16 0 .) Ufa 
1853-1855. 

***) St. Petersburg 1832 in dreiTheilen. Die französische Uebersetzung erschien 1840. 

t) MaTepia-ibi aah Peorpa*bin h CTaTncTHKH Pocciw. KwprH3CKaji CTenb Open6ypr- 
exaro B-feAOMCTBa. CocTa.Bw.i'b A Mettepi». C.-rin6. 1865. 8° TV-|-ni-t-87-(-288 SS. 
Mit Tabellen, Plänen und einer Karte. 


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aber wieder unter Schigai, dem jüngsten Sohne Jadik’s, welcher am 
Ende des XVI. Jahrhunderts sehr mächtig war und von Abdullah¬ 
khan von Buchara für geleistete Dienste Khodschend als Lehen er¬ 
hielt. Seine Söhne herrschten in den Städten Turkestan und 
Taschkend und den umliegenden Gegenden, die der Hauptsitz der 
Mittleren Horde wurden. Unter ihnen zeichneten sich Ischim, 
später sein Sohn Dschehangir und des letzteren Sohn Tjawka durch 
ihre Kämpfe mit den Kalmüken aus. Diese Kämpfe schwächten 
aber sehr das Volk der Qazaq. So geschah es denn, dass Tjawka 
kurz vor seinem Tode, welcher 1718 erfolgte, eine Stütze an Russ¬ 
land suchte .und Peter dem Grossen seinen Wunsch zu erkennen gab, 
sich Russland zu unterwerfen. 1723 waren die Qazaq genöthigt, 
Turkestan und Taschkend aufzugeben und sich nördlich und westlich 
zu ziehen, wodurch sie einerseits einen Theil der Kalmüken und die 
Baschkiren westwärts drängten, andererseits sich selbst noch mehr 
dem russischen Gebiete näherten. Die Grosse Horde kam unter 
die Botmässigkeit der Dzungaren und Abu-l-kh&ir, Khan der Kleinen 
Horde, erkannte im Jahre 1731 die russische Herrschaft an. Wohl 
wurde schon im Jahre 1734 dem von der Regierung in St. Peters¬ 
burg an den Ural beorderten Staatsrath Kirilow der Auftrag 
zu Theil, darauf bedacht zu sein, auf dem Aral armirte Fahr¬ 
zeuge zu bauen und dort einen Hafen auszusuchen, dooh dieser 
Gedanke sollte erst ein Jahrhundert später zur Ausführung kommen. 
Abul-kheir-khan versprach erstens, die russische Grenze, soweit sic 
mit dem Wandergebiete seines Volkes Zusammenfalle, gefahrlos zu 
halten, zweitens Handelskarawanen, wenn sie seine Steppen passirten, 
zu beschützen, und drittens, wenn es sich als nothwendig erweisen 
sollte, ein Hülfscorps zu stellen. Auch von Tribut war die Rede, 
aber zu dem kam es nicht vor dem jetzigen Jahrhundert. Dafür 
sollte von unserer Seite die Khans-Würde seinen Nachkommen ge¬ 
sichert sein und zu seinem Schutze an der Mündung des Or in den 
Ural eine Festung erbaut werden. 

Abul-kheir-khan war aber ,nicht der Mann, der sein Ansehen beim 
Volke zu erhalten gewusst hätte. Ueberhaupt hatte man sich dadurch, 
dass man seiner Familie die Khans-Würde zugesichert hatte, in eine 
schiefe Stellung den Qazaq gegenüber gebracht. Denn hätten Abul- 
kheir-khan und seine Nachkommen es verstanden, ihre Autorität in 
der Horde zu bewahfen, darin hätten die von ihm eingegangenen 
Bedingungen von ihm auch gehalten werden ünd von nachhaltigen 
Folgen sein können. So befand sich aber unsere Administration in 


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Orenburg) in der unangenehmen Lage, eine zur Häuptlingswürde 
wenig geeignete Familie nicht allein wider den Willen des Volkes, 
sondern auch den eigenen Interessen entgegen zu stützen. Daher 
war der Einfluss der Administration auf die Qazaq ein geringer. 
Auf den Linien kamen häufig Räubereien von ihrer Seite vor und 
aus den russischen Grenzansiedelungen wurden oft Leute in die Ge¬ 
fangenschaft abgeführt. Es konnte also auf die Kleine Horde, eben 
so wie auf die Mittlere Horde der Qazaq, nicht eher ein nachhaltiger 
Einfluss ausgeübt werden, als bis im XIX. Jahrhundert in der letzteren 
russische Ansiedelungen und in der ersteren Festungen angelegt 
wurden. Obgleich der Khan der Mittleren Horde, Ablai, welcher 
bis .zum Jahre 1781 lebte, sich oft geneigt zeigte, die russische Ober¬ 
hoheit anzuerkennen, zugleich aber dem Kaiser von China gegen¬ 
über' sich als Unterthan zu erkennen gab, so unterwarf sich dem 
Russischen Scepter doch erst sein Sohn Wali-khan, der Grossvater 
des in unserer Zeit als russischen Reisenden bekannt geworderien 
talentvollen Tschokan-Walikhanow. Während eine Urkunde der 
Kaiserin Catharina II. den Wali-khan als Khan der Mittleren Horde 
anerkannte, wurde zugleich angeordnet, für die „Kirgis-Kaissaken“ 
an der Linie Moscheen zu bauen — ein Missgriff, der nicht gemacht 
worden wäre, wenn unsere damalige Administration mit dem Volks¬ 
leben der Qazaq vertrauter gewesen wäre. Hier rächte sich, wie 
auch oft später, der ausschliessliche Gebrauch der Dolmetscher im 
Verkehr mit den Nationalitäten fremden Stammes, die man zu 
regieren hatte. Die Kenntniss der Sprache der Nationalität, welche 
zu administriren ist, ist eine conditio sine qua non für den Erfolg der 
administrativen Thätigkeit. Denn den Weg zur Erkenntniss des 
geistigen Lebens eines Volkes, mag dasselbe auf einer hohen oder 
niederen Stufe der Civilisation sich befinden, ebnet nur die Kenntniss 
seiner Sprache. Wo schriftliche Aufzeichnungen über die Ver¬ 
gangenheit eines Volkes fehlen, gewährt auch das Studium seiner 
Sprache die einzige Möglichkeit, ijch über seine Vergangenheit 
einige Aufklärung zu verschaffen. Um ein Beispiel in gegebenem 
Falle anzuführen, hätte das Wort „ Kudai u für „Gott“ in der Sprache 
der Qazaq an die allgemeine Verbreitung des Muhammedanismus 
bei ihnen zweifeln lassen müssen. Dies Wort ist auf einen Stamm 


*) Orenburg war anfangs, wie angeführt, am Ausfluss des Or in den. Ural angelegt, 
wo jetzt Orsk ist, 1740 aber 184 Werst unterhalb auf der Krasnaja-Gora, von wo es 
1742 von Neuem in di$ Nähe des Ausflusses der Sakmara verlegt wurde. 


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121 


zurückzuführen, von dem das neupersische Khudä ,,Gott 1 ‘herkommt, 
und ist von Iraniern entlehnt, als diese den Islam noch nicht kannten. 
1785 wurde ein Ukas hcrausgegeben, welcher die Versorgung ver¬ 
schiedener Qazaq-Gcschlechter mit muhammedanischen Geistlichen 
(Mulla) anordnetc. Auch ausserdem machte die Correspondenz der 
Orenburgischen und Sibirischen Behörden mit den Khanen und 
Aeltcsten des Volkes in tatarischer Sprache den Aufenthalt tatarischer 
Schriftkundiger, die wiederum Mulla waren, bei ihnen unum¬ 
gänglich, und auf diese Weise beförderte denn unsere Administration 
die Verbreitung des ihren Zielen durchaus nicht günstigen Muham- 
medanismus bei den Qazaq. 

Erst am Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, wo an der 
Spitze der Verwaltung der Qazaq* der transurälischen Steppe ein 
wissenschaftlich gebildeter Orientalist stand (der gegenwärtige Pro¬ 
fessor der Geschichte des Orients an der St. Petersburger Univer¬ 
sität, W. W. Grigorjevv), wurden die Circulare und die Erlasse an die 
Qazaq in ihrer eigenen, und nicht in der tatarischen Sprache abgefasst. 
Damals war ein anderer Orientalist, der bekannte Herausgeber der 
Memoiren Baber’s, Professor Ilminski, einer der Beamten der Oren¬ 
burgischen Steppenverwaltung. Er hatte sich gleich bei seiner 
Uebersiedelung nach Orenburg angelegen sein lassen, die Kenntniss 
des Idioms der Qazaq, welches bedeutend von dem der Orenburgi¬ 
schen und Käzanischen Tataren abweicht und fast gar keine arabi¬ 
schen Elemente in sich aufgenommen hat, sich anzueignen. Als 
aber Ilminski und sein aufgeklärter Chef Orenburg verliessen, blühte 
wieder das Tatarische in dem officiellen Verkehr mit den Qazaq 
auf. Die von West-Sibirien aus verwalteten Qazaq haben von den 
sie regierenden Beamten immer nur Erlasse erhalten, welche in der 
ihnen fremden tatarischen Schriftsprache abgefasst wurden und die 
bei ihnen sich aufhaltenden tatarischen Mulla ihnen unentbehrlich 
machten. , % • 

Nach dieser kurzen Abschweifung kehren wir wieder zur Ge¬ 
schichte der Qazaq zurück. Im Jahre 1801 bat sich ein Theil der 
KleinenHorde unterBukei-Sultan dieErlaubniss aus, in die Gegenden 
zwischen Ural und Wolga ziehen- zu dürfen, wo er seitdem unter 
dem Namen der Innern Kirgisen-Horde lebt. Der Umstand, dass 
diese Qazaq in den Kreis der festen Grenzen des Reiches zogen, hat 
der Regierung ihre Administration bedeutend erleichtert und sie 
nicht allein friedliebend, sondern auch wohlhabend gemacht. Die 
Herrschaft über die übrigen Qazaq der Kleinen Horde und über die 



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122 

Mittlere Horde konnte nicht eher eine feste Grundlage gewinnen, 
als bis vom Jahre 1824 an in dem Wandergebiete der letzteren von 
West-Sibirien aus russische Colonien angelegt und zugleich äussere 
Districte; organisirt, in dem Gebiete der Kleinen Horde aber 
Festungen angelegt wurden. Die zuerst eröffneten Districte waren 
der Karkaralinsche und der Koktschetausche (im Jahre 1824). Die 
in diesen sowie in den andern, später eröffneten Districten lebenden 
Qazaq hatten eine Steuer zu zahlen, welche nach der Zahl des in 
ihrem Besitz befindlichen Viehes erhoben wurde. Im Jahre 1835 
wurde von der Steppe zwischen Ural und Uj ein neu et Rayon abge¬ 
schnitten und nach aussen durch vier Festurigen befestigt, welche 
die sogenannte „Neue Linie“ bildeten. Als 1837 zehn Districte im 
südlichen Theile von West-Sibfrien eröffnet waren, erstand in der 
Person eines Volkshelden ein Vorkämpfer für die Unabhängigkeit 
der Qazaq. Diese Insurrection fand ihr Ende, nachdem ihr Leiter 
seinen Tod bei den Berg-Qirghizen gefunden hatte. Nach einer 
derartigen Erfahrung schritt man zur Anlage von Festungen. Eine 
wurde am Turghai, eine andere am Irghiz angelegt. Man nannte 
sie „Orenburgskoje“ und „Uralskoje Ukreplenije“.*) Später wurde 
noch das Fort Qara-butagh angelegt. 1847 wurde die Grosse 
Horde der Qazaq in den russischen Unterthanenverband aufge¬ 
nommen. Zu ihrem Schutze legte man die Festung Kopal an und 
1854 Wernoje. Gleichzeitig mit der Anlage der Festung Kopal 
wurde am Ausfluss des Sir-Darja Position genommen, um die unserer 


*) Dieser Name, „Uralskoje Ukreplenije“, hat einen Berichterstatter der Zeit¬ 
schrift „Das Ausland“ sehr irre geführt. Bei den Nachrichten über die Unruhen, 
welche 1869 unter den Qazaq der Kleinen Horde, in Folge der Einführung eines neuen 
Verwaltungs-Reglements, ausbrachen, geschah in russischen Tagesblättern auch dieser 
Befestigung Erwähnung. Herr Friedrich von Hellwald, der sonst in der Geographie 
Central-Asiens ziemlich gut unterrichtet ist, hat dieses „Ural^koje Ukreplenije“ am 
Irghiz mit der Stadt Uralsk am Ural verwechselt und aus den Unruhen der Qazaq eine 
von den „Donischen (!) Kosaken“ ausgegangene Bewegung, die sich den „nördlichen 
Kirgisen“ mittheilte, gemacht. Wenn wir die Verwechslung der Uralischen Befesti¬ 
gung mit der Stadt Uralsk uns noch erklären können, so begreifen wir nicht, -aie die 
Donischen Kosaken an den Ural kommen, und eben so wenig die Anmerkung, wo der 
Verfasser für nothwendig hält zu bemerken, „dass die Donischen Kosaken wie die 
Kälmüken und Kirgisen niemals übermässig treue Unterthanen Russlands gewesen sind 
und schon wiederholt — zumal unter Pugatschew — blutige Aufstände und Kriege 
hervorgerufen haben“. (Siehe „Ausland 4, 1872. S. 244.) Wir begnügen uns mit der 
kurzen Bemerkung, dass Pugatschew, obgleich am Don geboren, im Donischen Kosa¬ 
kenheere keinen Anhang hatte. 


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123 


Regierung Tribut zählenden. Qazaq gegen die Streifzüge, welche 
von khokandischem und khiwaschem Gebiete aus unternommen 
wurden, zu schützen. Die erste Abgabe von den Qazaq der Kleinen 
Horde war 1837, und zwar von 15,506 Zelten eingesammelt worden. 
Im Jahre 1846 ward die Abgabe (1 V2 Rubel vom Zelt) von 67,280 
Zelten gezahlt worden. 1847 wurde die Festung Rahim (später 
Aralsk genannt) am Sir angelegt und zugleich das erste Fahrzeug 
der jetzigen Arals-Flottille in den Sir gebracht. Damals wurde auch 
die topographische Aufnahme der Ufer des Aralsees und seine Ver¬ 
messung unternommen — desselben Sees, von dessen Existenz ,das 
westliche’Europa erst von Russland aus (zu Peter’s des Grossen Zeit) 
Kunde erhalten hatte, wie Karl von Baer in seiner Schrift über die 
Verdienste Peter’s um die Geographie nachweist. 

Die hier erwähnten Maassregeln jenseits des Ural waren um so 
nothwendiger, als Khiwa seit dem Anfänge des Jahrhunderts Be¬ 
festigungen angelegt hatte und sich erlaubte, von unsern am Sir im 
Winter sich auf haltenden Qazaq, welche im Sommer am Turghai 
ihre Heerden weiden lassen, sowie von den aus Buchara nach Oren- 
burg uhd Troitzk ziehenden Karawanen Steuern zu erheben. Im 
Jahre 1847 wagten sich Schaaren aus Khiwa bis in die Nähe der 
Festung am Irghiz. Als nun die Khiwaer ihre Züge zur Niederung 
des Sir einstellten, versuchten daselbst die Khokander ihr Glück. 
Obgleich sie vom Forst Aralsk aus in den Jahren 1850—1852 häufig 
mit Erfolg zurückgeschlagen wurden, musste doch an die Beseitigung 
ihrer Festungen am untern Lauf des Sir gedacht werden. Daher 
wurde die bekannte Expedition des Generals Perowski gegen Aq- 
Mesdschid, wo der jetzige Beherrscher von Kaschgar (Jaqub^Beg) 
als khokandischer Befehlshaber sass, unternommen. Nachdem die¬ 
selbe glücklich vollendet worden, ging man an die Anlage einer 
Reihe von Festungen längs dem untern Lauf des Sir. Das Fort 
Aralsk wurde an die Stelle des jetzigen Kazalinsk übergeführt und 
erhielt die Benennung Fort No. 1. An der Stelle von Aq-Mesdschid 
wurde das Fort Perowski, zwischen ihm und Fort No. I, wo die 
beiden Arme des Sir Dschaman-Darja und Qara-Uezäk, sich ver¬ 
einigen, wurde Fort No. 2, am Kuwan-Darja Fort No. 3 (aber bald 
aufgehoben) angelegt. Diese Reihe schloss im Jahre 1861 mit dem 
Fort Dschulek. Die Hauptvenvaltung der Qazaq am Sir wurde in 
das Fort Perowski verlegt. 

Waren nun die Khokander aus den Niederungen des Sir bis 
Dschulek verscheucht, so traten sie jetzt mit um so grösserem 


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124 


\ 


Nachdruck im Osten gegen die Qazaq der Grossen Horde am Ili auf. 
Auch die Chinesen rückten hier mit ihren Piketen vor. Unterdessen 
waren die Qirghiz-Stämme Boghu und Saribaghisch zwischen den 
Jahren 1855 und 1860 russische Unterthancn geworden. Zu ihrem 
Schutz wurde am südöstlichen Winkel des Isi-kul die Feste Aq- 
su angelegt. Ausserdem war auch die russische Colonisation in die 
Nähe des Isi-kul vorgedrungen. 

Auf diese Weise hatten denn unsere Bemühungen, die sich 
anfänglich darauf beschränkten, unsere Grenze zwischen Ural und . 
Irtisch gegen dieQazaqzu schützen, uns, nachdem wir diese imLaufe 
eines Jahrhunderts factisch unterworfen, auch die Verpflichtung 
auferlegt, sie selbst gegen die Uebergriffe der üzbekischen Khanate 
zu schützen. Um diesen Schutz auf die Dauer auch gewähren zu 
können, erwies sich als strategische Nothwendigkeit, die von Osten 
und Westen vorgeschobenen Vorposten zu vereinigen. Das geschah 
in Jahre 1864 durch die Einnahme im Westen der Städte Turkestan 
und Tschemkend, im Osten der befestigten Punkte Toqmaq, Merke 
und Aulie-Ata. Da nun dieKhokander nach allen ihren Verlusten ihre 
Feindseligkeiten gegen uns nicht unterlassen und später der Emir 
von Buchara, der bei diesen Angelegenheiten gar nicht betheiligt 
war, unbefugter Maassen sich einmischte, sah man sich genöthigt, 
nicht allein bis Taschkend vorzudringen, sondern auch im Süden des 
mittleren Sir sich festzusetzen. Khudayär-khan, der, Dank unserm 
Vordringen, wieder auf den Thron von Khokand, von dem er zwei¬ 
mal vertrieben worden war, zurückkehren konnte, stand nach der 
unsererseits erfolgten Einnahme der Städte Khodschend, Ura-tepe, 
Zamin und Dizakh von weiteren Feindseligkeiten ab. Dagegen hatte 
aber der Emir vonBuchara aus den Ereignissen der letzten Jahre nichts 
gelernt. Während ein Gesandter von ihm in Orenburg sich aufhielt 
und mit dem dortigen General-Gouverneur Friedensbedingungen 
stipulirte, schickte er Räuberbanden an unsere Grenzen aus und 
behielt die ihm zugefiihrten einzelnen Gefangenen. Im Jahre 1868 
glaubte er sich stark genug, um offene Feindseligkeiten eröffnen zu 
können. Bekanntlich hat er seinen unbesonnenen Uebermuth bitter 
büssen müssen. 

. • 

Während die erwähnten Ereignisse am mittlern Sir-Darja sich ab¬ 
wickelten, hatten die Verhältnisse im Süden des Thian-Schan eine 
Veränderung erlitten, welche für das uns benachbarte China die 
, nachhaltigsten Folgen haben müssen und auch auf unsere eigenen 


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125 


Beziehungen zu diesem Nachbarn nicht ohne Einfluss bleiben dürften. 
Es erlitt nämlich damals die Macht der Chinesen, die sich bis zum 
Anfang der sechziger Jahre bis an die Grenzen Khokands erstreckte, 
eine Niederlage, die von Seiten eines Feindes kam, der im Herzen 
Chinas selbst schon seit langer Zeit die Stützen der gegenwärtigen 
Dynastie des Landes untergräbt. Wir meinen die Insurrection der 
muhammedanischen Dunganen*) in Ost-Turkestan und zugleich im 
Ili-Gebiet. 

Wir setzen als unsern Lesern bekahnt voraus, dass im Anfang der 
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (1758) die Chinesen, nachdem 
sie die Familie der Khodscha’s, welche unter der Oberhoheit der von 
ihnen besiegten Dzungaren in Ost-Turkestan geherrscht hatten, aus 
dem Lande .getrieben, von demselben Besitz nahmen und in die 
Festungen ihre Garnisonen brachten. Die Khodscha’s flüchteten nach 
Badakhschan, wo sie vom Fürsten des Landes umgebracht wurden. 
Einer von ihren Söhnen soll aber nach Buchara entkommen und ein 
Enkel desselben am Ende des ersten Viertels dieses Jahrhunderts, 
nachdem Emir Haider, der Vater Nasr-ullah’s, gestorben war, nach 
Khokand gezogen sein. Zur Zeit Muhammed-Ali-khan’s von Kho- 
kand finden wir dort schon einige Glieder aus der erwähnten Familie 
der Khodscha’s. Sie unternehmen von Zeit zu Zeit Einfälle nach 
Kaschgar, die vom Khan von Khokand unterstützt werden. Da sie 
einen bedeutenden Anhang unter den Turkestanern hatten, ent¬ 
schloss sich die chinesische Regierung, dem Khan von Khokand die 
Handelssteuern von den turkestanischen Städten zu überlassen, 
wpfiir er sich verpflichtete, die Familie der Khodscha’s zu interniren. 
Von 1832 bis 1846 erfreuten sich die Städte von Ost-Turkestan der 
Ruhe. Als aber mit der Thrqnbesteigung des 14jährigen Khudayär- 
khan, des Nachfolgers Muhammed-Ali-khans, Unruhen in Khokand 
ausbrachen, wussten einzelne Glieder der Familie der Khodscha’s 
von Neuem ihren Einfluss in Kaschgar geltend zu machen. 1857 
rat der bekannte Mörder Robert Schlagintweit’s auf. Von seinem 


•^R. Schaw, in seinen „Visits to High Tartary“ etc. glaubt den Namen Dungdnen 
oder Tungdnen auf ein chinesisches Compositum „tun-jdn“ (tun-dschdn), welches so 
viel als „Militärcolonisten“ bedeuten soll, zurückführen zu können. Professor Wassil- 
jew, der in chinesischen Dingen als Autorität zu betrachten ist, ist geneigt, in Tungan 
eine Umstellung von Tangun, dem Singular von Tangut, zu suchen. S. dessen Auf¬ 
satz über die muhammedanische Bewegung in China. S. 14. 


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126 


grausamen Blutdurst entwerfen Walikhanow*) und R.Schaw (in seinen 
„Visits to High Tartary“) ein, jeden Menschenfreund mit Grauen er¬ 
füllendes Bild. Bei dem Anmarsche einer chinesischen Armee sah 
Wali-khan-türä sich genöthigt zu fliehen. Er zog sich nach Derwäz 
ini obern Stromgebiete des Amu zurück und wurde von dem dortigen 
Herrscher nach Khokand ausgeliefert. Khudayär-khan hatte An¬ 
fangs die Absicht, Wali-khan für das Vcrgiessen des Blutes so vieler 
Rechtgläubigen zu strafen, musste aber davon abstehen, da er die 
Sejide zu fürchten hatte, welche für den Khodscha eintraten. Den 
Chinesen in Kaschgar spiegelte er vor, dass er den Wali-khodscha 
in Ketten in eklem Gefängnisse halte. 

Wir können hier nicht auf die ausführliche Darstellung der durch 
die Khodscha’s in Kaschgar bis zum Jahre 1858 veranlassten Wirren 
eingehen, die bei Walikhanow umständlich geschildert sind. Ueber 
die Begebenheiten daselbst seit 1863 finden wir Mittheilungen in 
dem Reiseberichte von Robert Schaw. In Aq-su und Kutsche 
revoltirten um diese Zeit die Dunganen gegen die Autorität der 
chinesischen Regierung, eben so in Järkend und Khotan. In Kasch¬ 
gar war der Amban, der Chef der dortigen chinesischen Garnison, 
dem gleichen Vorhaben der dortigen Dunganen dadurch zuvorge¬ 
kommen, dass er sie bei einem von ihm veranstalteten Feste nieder¬ 
metzeln Hess. Die Qirghiz aus den umliegenden Berglandschaften 
benutzten die Unruhen im Lande, um ihrer Raubgier Genüge zu 
leisten und griffen Kaschgar an. Ein Jahr und vier Monate ver¬ 
teidigten sich die Chinesen und die Einwohner von Kaschgar. 
Endlich durch Hunger decimirt, mussten sie die Stadt den Qirghiz 
überlassen, welche auf die grausamste Weise die Einwohner be¬ 
handelten. Nur die chinesische Festung, welche fünf englische 
Meilen südlich von der Stadt liegt, behauptete sich. Alle diese 
Wirren lockten wieder einen Repräsentanten der Familie der 
Khodscha’s aus Khokand. Dieses Mal war es Buzurg-khan, der Sohn 
Dschehangir-khans, welcher in den Jahren 1827—1828 einen Einfall 
in Turke^tan gemacht hatte. Wäre Buzurg-khan nicht von dem 
energischen und tapfern Jaqub-beg, der die Seele dieser Unterneh- 

*) Siehe dessen Aufsatz: „<J coctorhui A.iTuuiapa hau ineertt boctohhuxi» ropOAO^i. 
KHTattcKoft npoBHHuin HaHb-.iy (Majiott Byxapiu) vu 1858—59 roay“, d. i „Ueber den 
Zustand von Altyschar oder der sechs Städte der chinesischen Provinz Nan-lu oder der 
kleinen Bucharei im Jahre 1858— 59 u , im 3. Hefte der Denkschriften der Kaiserl. Kuss 
Geogr. Gesellschaft für 1^861. Abth. II. S. 1 —76. 


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127 


mimg war, begleitet gewesen, so wäre dieselbe wohl schwerlich von 
Erfolg gewesen. Mit einer kleinen Schaar waren sie aus der kho- 
kandischen Provinz Andidschan in Ost-Turkestan eingefallen, wo sie 
bald einen Anhang fanden. Später erhielten sie noch Verstärkung 
aus Khokand. Zunächst wandten sich Buzurg-khan und Jaqub-beg 
gegen die chinesische Festung von Kaschgar. Vor derselben blieb 
der Erstere mit einem Theil der Truppen liegen, während Jaqub-beg 
mit den übrigen gegen Jangi-Hisar und Järkend zog. Jangi-Hisär 
wurde von ihm genommen, Jarkend aber behaupteten die Dungänen 
eine Zeit lang, und erst im Frühjahr 1865 gelang es ihm, diese Stadt 
zu nehmen, nachdem er im vorhergehenden Winter die Festung 
von Kaschgar überwältigt hatte. Jaqub-beg wusste sich bei den 
Truppen, die für den Khodscha Buzurg-khan kämpften, durch 
Grossmuth bei der Vertheilung der Beute beliebt zu machen, wie 
auch seine persönliche Tapferkeit ihnen imponirte, so dass der 
Khodscha, der einem wüsten Leben sich ergab, bald durch seinen 
Feldherm in den Schatten gestellt und zuletzt von ihm gezwungen 
wurde, eine Wallfahrt nach Mekka zu unternehmen, von der er 
nach Andidschan zurückkehrte. Andere Mitglieder der Khodscha- 
Familie hat Jaqub-beg zu Vezieren ernannt, den Mörder Schlagint- 
weit’s, der sich auch auf den Schauplatz der eben erwähnten Be¬ 
gebenheiten gewagt hatte, liess er aber tödten. Nachdem Jaqub- 
beg im Laufe zweier Jahre seine Macht befestigt hatte, war er 
darauf bedacht, sie nach Osten hin auszudehnen. Zuerst bemäch¬ 
tigte er sich durch List Khot^ns. Später nahm er Aqsu, Kutsche, 
Päi, Kharaschar, Usch-Turfan und Urumtsi. Sein Ansehen ist, 
Dank seiner Energie und der Umsicht, mit der er die ihm unter¬ 
worfenen Landschaften zu beherrschen weiss, bedeutend gestiegen. 
Der Emir von Buchara, welcher in Central-Asien als das geistige 
Oberhaupt der Muslim gilt, verlieh ihm den Titel Ataliq-Ghäzi 
(Vater der Bekämpfer der Ungläubigen;. Sich den Titel eines 
Khans beizulegen, dazu ist Jaqub-beg viel zu vorsichtig. Auch nach 
Westen hin hat er seine Macht geltend gemacht, indem er einen 
glücklichen Feldzug gegen Sari-kul unternahm, von wo er zahlreiche 
Gefangene mitbrachte. 

Da die Herrschaft der Chinesen im Ili-Gebiet gleichzeitig mjt 
ihrem Sturz in Ost-Turkestan beseitigt worden ist, wäre es Jaqub- 
beg gewiss auch gelungen, seine Macht auf Kuldsha auszudehnen, 
wenn wir unsererseits gleichgültige Zuschauer der dortigen Bege¬ 
benheiten geblieben wären; das konnten wir aber nicht, da ausser 


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128 


unsern Handelsinteressen auch die Ruhe unseres eigenen, an Kuld- 
sha stossenden, Gebietes gefährdet war. 

Jaqub-beg ist eine derjenigen Persönlichkeiten, welche befähigt 
sind, über den centralasiatischen Muslim grossenEinfluss zu gewinnen. 
Ohne bei der Wahl der Mittel, die zur Macht fuhren, sich von irgend 
welchen Regungen eines zarten Gewissens beschränken zu lassen, 
vermeidet er jedoch jeden Akt der Grausamkeit, der nicht zur un¬ 
mittelbaren Befestigung seiner Macht nothwendig ist. Dabei ist er 
persönlich tapfer, einfach in seiner Lebensweise, streng bei der 
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wie in der Beobachtung 
der Vorschriften seiner Religion und dabei freigebig gegen die, 
welche ihm ergeben sind. So ist es ihm denn gelungen, nicht allein 
einen bedeutenden Ländercomplex zusammen zu bringen, sondern 
auch die Ruhe in demselben herzustellen. Doch schwerlich wird 
diese Ruhe andauern, sobald die Persönlichkeit, deren Wille sie 
aufrecht erhält, durch den Tod von ihrem Schauplatz abgerufen 
werden sollte. Dann werden gewiss die früheren anarchischen Zu¬ 
stände wieder eintreten. Die Herrschaft der Mandschu wird aber 
schwerlich sich in Ost-Turkestan wieder befestigen können, denn 
selbst im Innern des Reiches ist sie durch das beständige Wachsen 
der Zahl der Bekenner des Islams in Frage gestellt. Nicht allein in 
den nordwestlichen Provinzen Chinas, auch im Süden, namentlich in 
der Provinz Jün-nan macht der Islam Fortschritte, die für den Be¬ 
stand der Mandschu-Dynastie sehr bedenklich sind. Der jüngste 
Berichterstatter T. T. Cooper, lässt sic^i in seiner Reisebeschreibung 
(Travels of a Pioneer of Commerce etc.) in folgender Weise über' 
die muhammedanische Bewegung in China aus: 

„In Folge der Toleranz der Chinesen gegen jede Religion* durch 
welche die fundamentalen Grundsätze ihrer Staatskunst nicht gefähr¬ 
det werden,und deren Verbreitung im Reiche keine Fremdherrschaft 
befürchten lässt* blieb der Erfolg des Islam, dessen Bekenner jetzt 
in China nach Millionen zählen, unbeachtet. Es giebt kaum eine Stadt 
von Bedeutung, welche nichtMuhammedaner,Choi-tsü, wie die Chine¬ 
sen sie nennen, aufzuweisen hätte. Die grossen Mittelpunkte der mu- 
hammedanischen Chinesen sind beständig Jün-nan und die nordwest¬ 
lichen Provinzen von Kan-su und Schen-si gewesen: hier findet man 
auch die Schauplätze der gegenwärtigen Insurrectionen. Besonders 
im westlichen Theile der ersten Provinz bildeten die chinesischen 
Muhammedaner um das Jahr 1850 die Hälfte der Bevölkerung und 
zeichneten sich hier durch ihren Wohlstand und ihre Energie aus. 


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Es muss übrigens bemerkt werden, dass, obgleich Einige von ihnen 
auf eine arabische Abstammung Anspruch erheben, die Mehrzahl 
der Muhammedaner chinesischer Abkunft ist, und, die Religion aus¬ 
genommen , sich in Nichts von ihren übrigen Landsleuten unter¬ 
scheidet. Eis scheint zwischen ihnen und den Chinesen anderer Re- 
ligioi) kein Zerwürfniss stattgefunden zu haben, auch haben sie 
nicht aus'religiösen Gründen eine Bedrückung erlitten; eben so 
wenig war zu einer Insurrection der muhammedanischen Bevöl¬ 
kerung mehr Grund vorhanden, als zu einer von Seiten der buddhi¬ 
stischen. Wohl schreibt ein vom General Fytche der asiatischen 
Gesellschaft in Bengalen im Jahre 1867 mitgetheilter Artikel den 
ersten Ausbruch der muhammedanischen Insurrection den Arbeitern 
in den Silberminen vonLu-sun-fu zu, die, durch ungerechte Behandlung 
zur Verzweiflung gebracht, zur Gewalt gegriffen und jeden chine¬ 
sischen Beamten, der ihnen in den Weg kam, ermordet hätten. 
Dieser Bericht stammt aus birmanischen Quellen und ist wahr¬ 
scheinlich nicht ganz unbegründet. General Fytche bedauert aber 
selbst, dass seine Nachrichten unbestimmt und unvollständig sind.“ 
Cooper ist geneigt, den Informationen, die er dem katholischen Bi¬ 
schof Chaveau. verdankt, mehr Vertrauen zu schenken, da er die¬ 
selben von verschiedenen intelligenten Muhammedanern bestätigt 
fand. Nach Chaveaus Bericht standen einige Jahre vor dem Aus¬ 
bruch der Insurrection die Muhammedaner injün-nan, welche den 
wohlhabendsten und einflussreichsten Theil der Bevölkerung aus¬ 
machten, unter zwölf Aeltesten, die in den wichtigsten Städten 
wohnten. Diese-Männer, welche nicht wegen ihrer Gelehrsamkeit, 
sondern wegen ihres Einflusses gewählt waren, wirkten als die Re¬ 
präsentanten und Wächter der religiösen Interessen der Gläubigen. 
Entweder von der Religion angezogen, oder von dem GedanÄen ge¬ 
leitet, den Einfluss der muhammedanischen Gemeinden in seinem ei¬ 
genen Interesse zu verwenden, ward der Gouverneur von Jün-nan, 
welcher in Jün-nan-fu residirt, veranlasst, die Religion Muhammeds 
anzunehmen, und das Beispiel eines so angesehenen Proselyten 
wurde zahlreich befolgt. Er wünschte jedoch einige der bestehenden 
religiösen Gebräuche *) nach seinen Ansichten modificirt zu sehen, 

*) Professor Wassiljew hat als Anhang zu seinem Aufsatze über die muhammedanische 
Bewegung in China dieProclamation eines chinesischen Muhammedaners im chinesischen 
Original mit russischer Uebersetzung veröffentlicht. Die vierzehn Paragraphen dieser 
Proclamation beziehen sich auf die bei der Eheschliessung, bei Beerdigungen und bei 

9 


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130 


wodurch er seine Glaubensgenossen nicht wenig verletzte. Einer der 
Zwölf Aeltesten, welcher in Li-kian-fu wohnte, erklärte das Betragen 
des Gouverneurs als unverträglich mit der Freiheit ihres Glaubens. 
Dieser Protest, dem sich die übrigen Aeltesten anschlossen, ward 
von dem hohen Würdenträger nicht beachtet, und so brach denn 
die Krisis aus. Im Jahre 1855 rief der Aelteste von Li-kian-fu die 
Gläubigen zu den Waffen. Diesen Aufruf unterstützten die übrigen 
Aeltesten und bald hatte sich die Insurrection über das ganze west¬ 
liche Jün-nan, die wohlhabende Stadt Teli-fu nicht ausgenommen, 
verbreitet, und zuletzt wurde die Hauptstadt der Provinz,. Jün-nan-fu, 
von muhammedanischen Truppen eingeschlossen. Der Aelteste von 
,Teli-fu war zum Befehlshaber der muhammedanischen Truppen 
erwählt 

Unterdessen hatte der Gouverneur in Jün-nan-fu beständig Be¬ 
richte über Siege, die er über die Rebellen erfochten haben wollte, 
nach Peking gesandt. Er wurde in die Kaiserliche Hauptstadt be¬ 
rufen und an seine Stelle wurde ein anderer Mandarin ernannt. Er 
weigerte sich aber, dem erhaltenen Befehle Folge zu leisten, indem 
Cr vorgab, dass er eben im Begriff sei, der Insurrection den letzten 
Schlag beizubringen und in solch kritischem Momente seinen Posten 
nicht verlassen könne. Wiederholte Befehle aus Peking blieben von 
ihm unbeachtet und die Mandarine, welche geschickt wurden, ihn 
zu ersetzen, machten — entweder zufrieden, sich der Verantwortung, 
eine im vollen Aufstande begriffene Provinz zu verwalten, entzogen 
zu sehen, oder durch gewichtige Bestechungen erkauft — keine An¬ 
stalten, den Gouverneur abzusetzen. So weit waren die Sachen ge¬ 
diehen, als Dau-win-schian, der erwähnte Aelteste von Teli-fu, vor 
den Thoren von Jün-nan-fu stand. 

Der/Gouverneur liess sich in Unterhandlungen mit den Rebellen 
ein und schloss mit Dau-win-schian einen Vertrag ab, laut welchem 
er ihm das westliche Jün-nän von der birmanischen Grenze bis 30 
(engl.) Meilen vor Jün-nan-fu überliess. Das Haupt der Insurgenten 
zog sich nach Teli-fu zurück und der Gouverneur in Jün-nan-fu be¬ 
richtete nach Peking, dass der Aufstand unterdrückt sei. Es folgten 
ein oder zwei Jahre der Ruhe, welche die Muhammedaner benutzten, 


Gebeten zu beobachtenden Gebräuche, verbieten den Gebrauch von Tabak und 
Wein, den Umgang mit Freudenmädchen, das Spiel, den Wucher, und beziehen sich 
auf das Einsammeln der Armensteuer, die Errichtung von Schulen, die Erhaltung der 
Moscheen und das Schlachten des Viehs. 


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ihr Regiment zu befestigen und die gestörten Verhältnisse zu ordnen. 
Die geschickte Regierung in Teli«fu heilte bald die Schäden,, die 
der Krieg verursacht hatte und der Handel zwischen dem west¬ 
lichen Jün-nan und den benachbarten kaiserlichen Provinzen blühte 
wieder auf. 

Als die Regierung in Peking von dem wirklichen Thatbestande 
unterrichtet war, schickte sie einen Mandarin ab. um den verräte¬ 
rischen Gouverneur abzusetzen. Doch auch diese iCtaassregel blieb 
ohne Erfolg und der Mandarin, welcher mehrere Monate von dem 
Gouverneur in sehr gastfreundlicher Weise unterhalten wurde, rieth 
bei seiner Rückkehr nach Peking, den Gouverneur an seiner Stelle 
zu lassen«. Jetzt schloss dieser mit Dau-win-schian, den er als Kaiser 
des westlichen Jün-nan anerkannte, ein Trutz- und Schutzbündniss 
ab. Der Gouverneur in^Jün-nan-fu erhielt von dem Machthaber in 
Teli-fu Geld, um alle Beamten und Truppen, die der Hof in Peking 
schicken könnte, zu erkaufen. Bis zur Zeit, wo Cooper reiste (1868), 
war nichts weiter geschehen, als dass aus einer benachbarten Provinz 
eine unbedeutende Truppenabtheilung geschickt wurde, um die 
Macht der Muhammedaner zu stürzen. . 

Die hier mitgetheilten Thatsachen sind ein deutlicher Beweis für 
die Schwäche der Regierung der gegenwärtigen Mandschu-Dynästie 
und die Demoralisation ihrer höchsten Beamten. Cooper erwähnt 
auch eines Abd-ul-Dschafar, der das Haupt der muhammedanischen 
Bewegung in der nordwestlichen Provinz Kan-su ist und meint, 
wenn sich die hiesigen Muhammedaner mit denen in Teli-fu ver¬ 
einigen, dürfte die mittlere Provinz Sze-tschuan in ihre Gewalt 
gelangen: 

Ueber die Vorgänge im Ili-Gebiete vor der russischen Occupa- 
tion giebt uns ein sehr anschauliches Bild der Bericht eines chine¬ 
sischen Augenzeugen, den Professor Wassiljew, nebst einem andern 
Berichte aus derselben Feder über die Einnahme von Kuldscha durch 
unsere Truppen, aus dem Chinesischen übersetzt und iÄi „Russischen 
Boten“ veröffentlicht hat. Der verehrte Gelehrte hat der Ueber- 
setzung dieser beiden chinesischen Denkschriften, welche für die 
chinesische Regierung bestimmt waren, jetzt aber in dein Asiati- 
schen Museum der hiesigen Akademie der Wissenschaften deponirt 
sind, eine Einleitung vorausgeschickt, welche unsere Beziehungen 
zu China seit dem Vertrag von Nertschinsk am Ende des XVII. Jahr¬ 
hunderts bespricht. 

9 * 

# * 


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Der chinesische Berichterstatter, Lü-tsun-han, aus Schen-si ge¬ 
bürtig, war 1857 nach Ili (gewöhnlich Kuldscha genannt) gekommen, 
beschäftigte sich dort bis 1858 mit dem Unterrichte mandschurischer 
und chinesischer Knaben, kaufte sich dort einen Rang und, als die 
Unruhen in Ili ausbrachen, ward er in den chinesischen Staatsdienst 
aufgenommen. 

Im Jahre 1863, berichtet Lü-tsun-han, begannen die. Unruhen 
unter den chinesischen Muhammedanern um Khorgos (60 Werst 
n. w. von Ili), doch der chinesische Oberbefehlshaber in Ili, der 
Dzan-dsün Tschan, ergriff Maassregeln zu ihrer Beruhigung, die 
nicht ohne Erfolg blieben. Im Stillen aber dauerte die Gährung 
fort. Im fünften (chinesischen) Monate des Jahres 1864 kam aus 
Kutsche (südlich von Thian-schan) die Nachricht, dass die dortigen 
chinesischen Muslim mit den Turkestanefh sich vereinigt und revol- 
tirt hatten. Tschan schickte Leute dorthin ab, um genauere Erkun¬ 
digungen einzuziehen, rüstete auch Truppen zur Absendung nach 
Kutsche aus, musste aber letzteres Vorhaben aufgeben, da die Nach¬ 
richt einlief, dass die Brücke im Bergpass zerstört* sei. Zur selben 
Zeit rührten sich wieder die muhammedanischen Chinesen in Ili, 
wurden aber vom Generalgouverneur zur Ruhe gebracht. Im sechsten 
Monat desselben Jahres kam aus Urumtsi die Nachricht von dem 
Aufstande der dortigen chinesischen Muhammedaner, welche sich 
der chinesischen Festung daselbst bemächtigt haben sollten. Aus 
Ili wurden einige Tausend Mann Truppen, aus Mandschuren, Chi¬ 
nesen, Sibo Solonen und einigen Freiwilligen von den Ackerbauern 
bestehend, abgesandt. Als sie mit der kleinen Schaar.der Insur¬ 
genten zusammenstiessen, Hessen sie sich mit ihnen in Unterhand¬ 
lungen ein, welche jenen Zeit gaben, neue Verstärkungen aus Urumtsi 
zu erhalten und die Regierungstruppen zu schlagen. 

Da erhob die Insurrection auch in Ili ihr Haupt. Am Abend des 12. 
des zehnten Monats, um 9 Uhr, fingen die Dunganen im Verein ftiit 
den Tarantschi (Turkestancr nennt sie der Bericht; im eigentlichen 
Kuldscha welches 45; Werst südöstlich von Ili oder dem soge¬ 
nannten Kuldscha .liegt) zu morden und zu brennen an. Um zwei 
Uhr in der Nacht hatten die muhammedanisöhen ^Chinesen in Ili 
bereits davon Nachricht und vereinigten sich auch hier, mit den Tur- 
kestanem. Auf dem Kameel-Markt im westlichem Theile der nörd¬ 
lichen Vorstadt bildeten sie ein Lager. Am 13. beorderte der Dzan- 
dsün den Tschocharen-Amban Siratu mit mandschurischen und chi¬ 
nesischen Truppen zur Vernichtung der Insurgenten. Die Truppen 

‘ • 


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I 


1 33 


wollten lange sich nicht schlagen, und als sic sich schlugen, konnten 
sie mit den Insurgenten nicht fertig werden. 

Am 24. wurden Truppen aus allen Orten zusammengezogen, doch 
nur die Solonen traten ins Gefecht Es gelang ihnen, den Insur¬ 
genten eine Niederlage beizubringen. Statt diesen Vortheil auszu- 
beuten und den Kampf fortzusetzen, wurde den Truppen Ruhe ge¬ 
währt Die Insurgenten benutzten es, sich in Kuldscha mit den Tur- 
kestanern aus verschiedenen Ortschaften zu vereinigen* und in einem 
befestigten Lager 30 Li von Ili Position zu nehmen. 

Nach vier Tagen wurde wieder ein Angriff gemacht,' wobei aber 
500 Mann' den Insurgenten in die Hände fielen. Die im Süden und 
Nord-Westen von Ili stationirten Sibo und Solonen wurden gegen 
>den Feind beordert; als sie aber von der letzten unglücklichen Affaire 
hörten, kehrten sie zurück. 

Am 26. des.elften Monats wurde auf Befehl des* Bogdochans 
Tschan abgesetzt und an seine Stelle trat der Amban Min. Dieser 
Hess den folgenden Tag die mandschurischen, chinesischen, Sibo- 
und Solon-Truppen sowie ‘die Bürger-Miliz gegen die Insurgenten 
ausrücken. Beim ersten Zusammentreffen war der Vortheil auf 
Seiten der Regierungstruppen, die Insurgenten machten aber einen 
zweiten Angriff und blichen Sieger. Die Regieningstfuppen hatten 
mehr als tausend Mann, verloren. 

Darauf' wurde ein neuer Befehlshaber der Truppen ernannt, der 
im vierten Monat des folgender! Jahres (1865) krankheitshalber von 
dem Amban Tschan ersetzt wurde. 

Unterdessen war die Stadt Bäjandai (35 Werst nordöstlich von Ili) 
in die Hände der Insurgenten gelangt, auch der Ort, wo der Gencral- 
stab der Regierungstruppen sich befand, ward von ihnen umzingelt. 
Mit einem Verlust von mehr als tausend. Mann mussten sie sich 
aber zurückziehen. Zu Anfang des fünften Monats .wurden 17,000 
Mann, in drei Corps getheilt, gegen die Insurgenten geschickt. Das 
erste Corps, aus 6000 Mann bestehend, wurde von ihnen zurückge¬ 
schlagen und, selbst in Unordnung gerathen, brachte es auch die 
anderen Corps in Verwirrung. 

Im sechsten Monate, kamen von jenseits des Thian-schan aus 
Kharaschar und Dun-schan Kalmüken zur Hülfe. Ehe sie bis Ili 
gelangten, erlitten sie viele Verluste durch die Insurgenten. Plötzlich 
aber kehrten sie wieder um. 

Die Insurgenten erlangten allmählich verschiedene Vortheile in den 
Wohnplätzen der Sibo, wo das zweite, sechste und achte Banner 


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>34 


I 


(Sumul) mit den Insurgenten Frieden schlossen. Am Ende des 
Jahres traten diese auch in Unterhandlungen mit dem Gouverneur 
in Hi, das sie schon zu belagern und zu unterminiren anfingen. 
Nachdem sie am 19. des ersten Monats des Jahres 1866 zwei Bastionen 
in die Luft gesprengt hatten, wurde am 22. das Stadtthor gestürmt 
und die Stadt von ihnen geplündert, wobei von den Mandschuren 
und Chinesen, Männern und Weibern, Erwachsenen und Kindern, 
von zehn Menschen einer am Leben blieb. Im vierten Monat wurde 
Khorgos genommen. Hier fand dasselbe Blutbad und dieselbe 
Plünderung statt. 

Im siebenten Monat zogen Kalmüken aus den östlichen Bergen 
gegen die Insurgenten. Diese zwangen zweihundert Sibo gegen jene 
zu ziehen. Die Kalmüken wurden geschlagen. ; 

Auch die Sumul der Solonen schlossen mit den Insurgenten Frie¬ 
den, aber am Ende des zwölften Monats fielen die Muhammedaner 
über sie her, erschlugen sie und plünderten, ihre Wohnstätten. Von 
je zehn Mann retteten sich drei oder vier. 

* ' t 

Im Anfänge des Jahres 1867 begannen die Uneinigkeiten zwischen 
den chinesischen und turkestanischen Muhammedanern, also zwischen . 
Dunganen und Tarantschi- Diese waren jenen an Zahl überlegen. 
Am 19. und 20. des dritten Monats entspann sich der Kampf, wobei 
die Dunganen unterlagen und sich zerstreuten. Im vierte» Monat 
vereinigten sich die Dunganen von Ili mit denen vor Urumtsi, die 
Tarantschi mit den Sibo, dem chinesischen Lager, den. Mongolen 
und den Einwohnern verschiedener Orte. Jener waren 10,000, dieser 
7—8000. Anfangs waren die Dunganen die Sieger, schliesslich 
wurden es die Tarantschi, welche bis zur russischen Occupation die 
Herren im Lande blieben. - 

Der Bericht Lü-tsun-han’s über die russische Expedition ist sehr 
karg. Er kann sich dabei nicht genug wundem über die Schnellig¬ 
keit, mit der unsere Truppen Herren des Landes wurden. Noch 
grösser ist seine Verwunderung über die russische Disciplin. Keinem 
(von den friedlichen Einwohnern), sagt er, wurde ein Leid gethan; 
nicht einmal einem Grashalm, einem Bäumchen, einem Huhn oder 
einem Hunde! Am Schluss sagt er: „Ein fremder Miniatur-Staat 
(so nennt er Russland!) hat das Volk von Feuer und Wasser erlöst, 
hat alle vier Weltgegenden ohne den geringsten Schaden- befestigt, 
so dass die Kinder sich nicht mehr furchten und das Volk voll 
Freude und Enthusiasmus sich unterworfen* hat.“ 


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Freilich ist der Verfasser so naiv zu glauben, dass die Unterwer¬ 
fung des Ili-Gebietes nur deshalb unternommen sei, um dasselbe 
wieder den Händen der Regierung seines Bogdochans zu überlassen! 
Dann dürfte es nicht allzulange dauern, dass der russische -Miniatur- 
Staat von Neuem Lü-tsun-han’s Bewunderung erregt. 

Nach den letzten Nachrichten ist der Kampf zwischen Dunganen 
und Turkestanem noch nicht ausgefochten imö concentrirte sich im 
Frühjahr um Urumtsi. Die chinesische Regierung scheint ein 
völlig gleichgültiger Zuschauer dieser Vorgänge bleiben zu wollen. 

Die Mission, die Russland in Central-Asien zu erfüllen hat, ist 
eine nicht unbedeutende und ist ihm durch seine geographische 
Lage auferlegt. Doch wird es sich mit der Herstellung geordneter 
Verhältnisse bei seinen Grenznachbarn daselbst nicht übereilen, denn 
die Interessen des eigenen Volkes stehen ihm höher als die fremder. 
Wenn die ungeordneten Staatenverhältnisse Central-Asiens von uns 
bisher grosse Opfer an Mitteln verlangt haben, so ist zu wünschen, 
dass unser nunmehr befestigtes Ansehen in jenen Gegenden dazu 
benutzt werde, die socialen Verhältnisse unserer Nachbarn auf fried¬ 
lichem Wege kennen zu lernen. In diesen Tagen brachten die 
Tagesblätter die Nachricht, Jaqub-beg in Kaschgar habe sich dazu’ 
verstanden, mit dem General-Gouverneur von Turkestan einen Han- 
delstractat abzuschliessen, obgleich er sich noch vor Kurzem allen 
näheren Handelsverbindungen mit uns widersetzt hat. Steht das 
östliche Turkestan ebenso wie seit einiger Zeit Khokand-und Buchara 
wissenschaftlichen Reisenden offen, dann wird unsere turkestanische 
Grenzverwaltung in nicht allzuferner Zeit über mehr Mittel als bisher 
verfugen, um ihren Einfluss in jenenXändern geltend zu machen. 
Je besser sie unterrichtet sein wird, desto mehr wird sie ihrer Auf¬ 
gabe gewachsen sein. IJs ist ein alter Erfahrungssatz, dass Wissen 
Macht verleiht. 

P. LERCH. 



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Zur Statistik dar Flussschifffahrt in Russland 


CraTHCTit'iecitii BpeueHHuxi» Pocciftcuoft Hmii. Haa.-HeHTp. Ctut, Koht. II* sun. 2 . 
1872 : MaTepia-ibi aji * ctutucthku pbnHaro cyAoxoACTua. Co6p. h o6pa6oTano 
pcAaiTopoMT» U,eHTp. Ct. K. B. 3b1>pmhckhmi>. Statistisches Jahrbuch, heraus¬ 
gegeben vom Central-Statistischen Comit£. II. Jahrgang. 2. Band: Materialien 
zur Statistik der Flussschifffahrt im Europäischen Russland/ Gesammelt und 
bearbeitet von W. Swerinsky, Beamter im Statistischen Central-Comitö. 


Bei der grossen Ausdehnung des Russischen Reichs und seiner 
dünnen und zerstreut lebenden Bevölkerung verdienen seine Ver¬ 
kehrsmittel, und unter diesen vor Allem seine Wasserstrassen, eine 
besondere Beachtung. — Die rasche Entwickelung der Eisen¬ 
bahnen im letzten Jahrzehnt hat die Bedeutung der Flüsse nicht 
im Geringsten vermindert Entziehen auch die Eisenbahnen den 
Was^erstrassen die kostbaren, schweren und wenig voluminösen 
Handelsartikel, so werden doch die in grossen Massen zur Versen¬ 
dung gelangenden und weniger theuren Producte, wie Getreide, 
Holz u. dgl. immer die Wasserwege vorziehen, selbst auch dort, wo 
diese viel länger und zeitraubender sind. — Der eine oder andere 
Fluss, oder auch einzelne Hafenplätze können in Betreff ihres 
Handels durch die Eisenbahnen an Bedeutung verlieren, nicht aber 
die Wasserstrassen im Allgemeinen; im Gegenteile wird durch 
die gegenseitige Einwirkung beider Verkehrsmittel — der Eisen¬ 
bahnen und der Flüsse — nur der Verkehr auf beiden gehoben. 

Hieraus ergiebt sich, dass für Russland, dessen Haupt-Handels¬ 
artikel Producte des Ackerbaues und der Landwirtschaft sind, die 
Wasserverbindungen des Innern mit den Handelsplätzen von der 
grössten Bedeutung sein müssen. 

Diesem Gegenstände ist das oben genannte Buch gewidmet. — 
Es bietet in seinem I. Theile (der II. Theil, der die eigentliche 
Statistik des Fluss- und Schifffahrtsverkehrs enthalten soll, ist noch 
im Druck und wird in der nächsten Zeit erscheinen), gleichsam als 


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i37 


. / 

Einleitung, eine interessante Uebersicht der Flüsse, der durch¬ 
schnittlichen Dauer der Schifffahrt auf denselben und des Schiffs¬ 
baus an den einzelnen Flüssen des Reichs, und ist um so schätzens- » « 
weither, als es uns zum ersten Male, möglichst vollständig zu- 
sammengestellt, einen Ueberblick über die Schifffahrt und die 
Eisenbahnen, als Verkehrsmittel im Innern des Reiches gewährt. 

Nach den fünf Meeren, die Russland begrenzen, und den Flüssen, 
die in dieselben münden und durch welche das Reich mit allen 
übrigen Staaten in directem Schiffsverkehr steht, kann das ganze 
Reich (d. h. das europäische Russland, mit Ausnahme von Finnland 
und Polen) in fünf Wassersysteme getheilt werden: das System des 
Weissen Meeres mit der (nördlichen) Dwina, das des Schwarzen 
Meeres mit dem Dnjepr und DnjestV, das des Kaspischen Meeres 
mit der Wolga, das des Asowschen Meeres mit dem Don und das 
des Baltischen Meeres mit dem Bug, Niemen, der (westlichen Dwina), 
Düna und dem Ladoga, Onega und Ilmen-See. 

Nach Ausschluss aller Flüsse, auf denen nur geflösst wird, so 
wie auch der entsprechenden Theile der schiffbaren Flüsse, beträgt 
die Länge sämmtlicher Wasserstrassen im Innern des Reichs 
32,353 Werst; davon kommen nach den Annahmen des Verfassers 
auf die Wassersysteme: 


des Weissen Meeres •. 

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Werst oder 

14,i pCt. 

„ Kaspischen ,, . 

13375 

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„ Asowschen „ . 

3125 

n 

9>7 » 

„ Schwarzen „ . 

5727 

ff 

17.7 

„ Baltischen „ . 

4877 

ff 

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auf die verschiedenen Verbindungs- 
Systeme . 

592 

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Nehmen wir (nach dem Statistischen Jahrbuch 1871. I. Band) die 
Oberfläche des europäischen Russlands zu 4,151,584 Quadrat-Werst 
an und die Einwohnerzahl zu 63,658,934 Personen beiderlei Ge¬ 
schlechts, so kommt eine Werst der schiffbaren Wasserstrassen auf 
128,3 Quadrat-Werst Flächeninhalt und auf 1,967,6 Einwohner. — 
Hierbei ist jedoch noch zu bemerken, dass bei der Berechnung der 
Wasserwege nach den einz^nen Gouvernements eine bedeutend 
grössere Werstzahl sich ergeben muss, indem mehrere Flüsse als 
Grenzscheide zweier oder mehrerer Gouvernements bei einem jeden 
derselben als selbstständige Wasserst^isse in Betracht gezogen 
werden müssen. 


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Das Wassersystem des Kaspischen Meeres ist durch den Kanal 
des Herzogs Alexander von Würtemberg (zwischen den Flüssen 
* * Scheksna und Porosowiza) verbunden mit dem des Weissen Meeres 
und vermittelst des Marien- (Scheksna, Kowscha und Wytegra), des 
Tichwinschen- (Mologa und Tichwinka), und des Wyschne-Woloz- 
kischen (Twerza und Msta) Canalsystems mit dem des Baltischen 
Meeres; das System des Schwarzen Meeres steht mit dem des Balti¬ 
schen in Verbindung durch den Beresinaschen- (Beresina und Düna), 
den Ogynskyschen- (Jasselda und Niemen) und den Dnjep^-Bugsch’en 
Kanal (Pina und Muchawetz); ausserdem ist der Niemen mit der 
Weichsel durch den Augustow-Canal verbunden, der aber schon im 
Königreich Polen liegt. Das System des Baltischen Meeres ist in 
ununterbrochener Verbindung mit dem System des Weissen Meeres 
vermittelst des Canalsystems des Herzogs Alexander von Würtem¬ 
berg. — Mithin stehen das Kaspische und das Weisse Meer in keiner 
directen Verbindung mit dem Schwarzen Meere, während das A9öw- 
sche Meer eine ganz isolirte Stellung einnimmt. — Man kann daher 
das ganze schiffbare Netz des Europäischen Russlands in zwei Haupt* 
gruppen theilen: in die nordöstliche und grössere Gruppe, welche 
die Wassersysteme des Weissen, des Kaspischen und des nördlichen 
Theiles des Baltischen Meeres (Finnischer Meerbusen) umfasst und 
eine Länge von 20,216 Werst hat, und in die südwestliche mit den 
Wassersystemen des Schwarzen Meeres und des südlichen Theiles 
des Baltischen mit einer Länge von 8895 Werst. 

In der ersten dieser beiden Gruppen liegen die beiden Hauptstädte 
des Reichs, 21 Gouvernementsstädte und der in Betreff des Binnen¬ 
handels so wichtige Ort Rybinsk, in der andern bloss 10 Gouver¬ 
nementsstädte ; mit der letzteren stehen ausserdem die Städte 
Warschau, Danzig und, Tilsit in Verbindung. Als Centrum der 
ersten Gruppe kann die Stadt Nishny-Nowgorod angesehen werden, 
indem diese von dem nördlichsten Punkte der ganzen Gruppe — 
der Stadt Archangelsk — 2072 Werst, und von dem südlichsten 
Punkte —der Stadt Astrachan — 2165 Werst entfernt ist. Nach 
Westen erstreckt sich das System dieser Gruppe bis zur Stadt 
Orelauf 1330 Werst, und nach Osten bis nach Perm auf 1242 Werst. 

Das Centrum der zweiten Gruppe bildet die Stadt Kijew; hier sind 
die Ausdehnungen der schiffbaren Flüsse bei Weitem nicht so gross 
als in der ersten Gruppe. 

Zur besseren Uebersicht* der Verkehrswege des Reiches, der 
Wasserstrassen und der Eisenbahnen, und zur Vergleichung der- 


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*39 


selben untereinander und mit dem Flächeninhalte und der Einwohner¬ 
zahl, für jedes Gouvernement geordnet, dient umstehende Tabelle. 

Aus dieser Tabelle ersieht man, dass die Länge der Eisenbahnen 
und der schiffbaren Flüsse im Europäischen Russland (mit Aus¬ 
schluss des Grossfürstenthums Finnland und des Königreichs Polen) 
48,264 Werst beträgt; davon kommen 75,39 pCt. auf die Wasser¬ 
strassen und 24,61 pCt. auf die Eisenbahnen. 

Nur ein einziges Gouvernement, das Kursksche, hat keine Wasser¬ 
strassen (freilich befindet sich dort der Fluss Sejin, der vor Zeiten 
als schiffbar galt; gegenwärtig wird derselbe jedoch nicht mehr 
befahren), während Eisenbahnen noch in 14 Gouvernements fehlen, 
nämlich in den Gouvernements Archangelsk, Astrachan, Wologda, 
Wjatka, Kasan, Kaluga, Olonez, Orenburg, Pensa, Perm, Ssamara, 
Ssimbirsk, Taurien und Ufa.*) 

' Durchschnittlich kommt eine Werst Wasserstrasse auf 114,1 
Quadrat-Werst Oberfläche und auf 1749,5 Einwohner; eine Werst 
Eisenbahn auf 349,5 Quadrat-Werst Oberfläche und 5359,0 Ein¬ 
wohner, und eine Werst Wasserstrasse und Eisenbahn zusammen 
auf 86,0 Quadrat-Werst Oberfläche und 1319 Einwohner. Doch ist 
die Vertheilung dieses Verhältnisses auf die einzelnen Gouver¬ 
nements eine sehr ungleiche. Am Günstigsten sind in Betreff der 
Verkehrswege die Gouvernements Archangelsk, Wologda, das Land 
der Donischen Kosaken, Grocjno, Minsk, Moskau, Nowgorod, Orel, 
Perm, St. Petersburg, Chersson, Tambow und Estland gestellt. Von 
diesen haben die Gouvernements Archangelsk, Wologda und Perm 
nur Wasserstrassen, welche bloss einen Theil des Jahres hindurch — 
5 bis 6 Monate lang — zu gebrauchen sind; in den Gouvernements 
Moskau, Orel, Tambow, Chersson und Estland bilden die Eisen¬ 
bahnen das hauptsächlichste Verkehrsmittel, und nur in den Gou¬ 
vernements St. Petersburg, Nowgorod und dem Lande der Doni¬ 
schen Kosaken sind beide Arten Wege von gleicher Bedeutung. 
In der ungünstigsten Lage befinden sich die Gouvernements Taurien" , 
Pensa und vor Allem Orenburg, in welchem eine Werst Wasserweg 
und Eisenbahn zusammen auf 2104,7 Quadrat-Werst Oberfläche und 
auf 10.5*08,8 Einwohner kommt. 


In einigen von diesen Gouvernements werden gegenwärtig Eisenbahnen gebaut; 
für den Verkehr sind sie aber noch nicht eröffnet. 

**) Offenbar würde sich hier das Verhältniss wesentlich anders gestalten, wenn die 
angrenzenden Meere als Verkehrsmittel mit in Rechnung getragen wären. 


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Zum besseren Verstäfidniss der volkswirtschaftlichen Bedeutung 
der Flüssq und Eisenbahnen.für die^ einzelnen Gegenden - des Reichs 
wäre eins genaue Beschreibung der Landstriche oder wenigstens 
der Ortschaften höthig, durch welche diese Verkehrswege fuhren. 
Leider aber war die genaue Angabe der Einwohnerzahl und der 
Ortschaften im Rayon der Eisenbahnen und Flüsse gegenwärtig 
noch nicht möglich, und ist diese Arbeit für eine spätere Zeit Vor¬ 
behalten.. 

Obgleich die Untersuchung über den Auf- und Zugang der Flüsse 
nicht Sache der Flussschifffahrtsstatistik ist. so dürfte sie doch nicht 

0 • 

übergangen werden, wenn man genauer die commercielle Bedeu¬ 
tung der Flüsse für das Land ermessen will, da von dem Auf- und 
Zugänge der Flüsse die Dauer der Navigation in jedem Jahr ab¬ 
hängt. Die mittlere Dauer der Schifffahrt für Russland ergiebt sich 
aus dieser Untersuchung zu 239 Tagen oder 7 1 /« bis 8 Monaten; 
im nördlichen Theile des Reiches sind es 6 .bis 6 x /% Monate, im 
südlichen 8 bis 10 Monate. Die südwestliche Gruppe — die Wasser- 
systeme $es Schwarzen und des südlichen Theils des Baltischen 
Meeres — hat eine längere Navigationsdauer als die nordöstliche 
Gruppe, denn während in ersterer Gruppe nach dem fünfjährigen 
Mittel die- kleinste Navigationsdauer 238 Tage, und die grösste 299 
Tage beträgt, dauert in der letzteren die Navigationszeit resp. nur 
180 und 263 Tage; ausserdem sind in letzterer Gruppe die Kanäle 
bedeutend längere Zeit mit Eis bedeckt, als die Flüsse, welche sie 
verbinden, so dass der allgemeine Verkehr auf diesen Wasser¬ 
systemen kaum ein halbes Jahr hindurch währt. 

Die Allgaben über den Schiffsbau können nur als annähernd 
richtige angesehen werden; sie leiden augenscheinlich an vielen 
Lücken, sind aber insofern von Interesse, als sie uns eine, wenn 
auch unvollkommene, Vorstellung über die Verbreitung und Ver¬ 
keilung «äes Schiffsbaus in Russland gewähren. — Die folgenden 
Angaben .können als Minimum der den Schiffsbau ^ darstellenden 
Zahlen angesehen werden. ... 

In der fünfjährigen Periode von 1865-^1869 wurden 53,6*8 
Fahrzeuge im Werthe von 23,388,571 Rbl gebaut, mithin durch¬ 
schnittlich jedes Jahr 10,724 Fahrzeuge im Werthe von 4,677,714 
Rbl. — Auf die verschiedenen Wassersysteme vertheilen sich diese 
Fahrzeuge in folgender Weise: 


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141 


Es wurden gebaut im System des 

Weissen Meeres 3455 Fahrzeuge für 492,744 Rbl. oder 6,4 pCt. 

Fahrzeuge für 2,1 pCt Rbl. 

Ka,spischenMeeres36,i9oFahrzeuge für 16,619,276Rbl. oder67,7 pGit. 

Fahrzeuge für 71,0 pCt. Rbl. 

Asowschen Meeres 2337 Fahrzeuge für 3,083,790 Rbl. odelr 4 ,4 pCt. 

Fahrzeuge für 13,2 pCt RbL 

Schwarzen Meeres 1626 Fahrzeuge für 839,160 Rbl. oder 3,<r pCf. 

Fahrzeuge für 3^ pCt. Rbl. 

Baltischen Meeres 10,010Fahrzeuge für 2,353,601 Rbl. oder 18,5 pCt. 

Fahrzeuge für 10,1 pCt. Rbl. 

Mithin ist der Schiffsbau am meisten entwickelt im Wasser¬ 
systeme des Kaspischen Meeres, und zwar hauptsächlich längs der 
Wolga und ihren Nebenflüssen oberhalb der Stadt Nishnij-Nowgorod, 
in den Gouvernements Nishnij-Nowgorod, Kostroma, Jaroslaw, Twer 
und Nowgorod; unterhalb Nishnij-Nowgorod findet nur im Gou¬ 
vernement Kasan und an den Ufern der Kama im Permschen Gou¬ 
vernement ein bedeutender Schiffsbau stätt; in den Gouvernements 
Ssamara, Ssaratow und Astrachan werden fast gar keine Schiffe ge¬ 
baut. In den anderen Wassersystemen verdient nur der Schiffsbau 
an den Zuflüssen des Ilm^n-Sees ini Gouvernement Pskow erwähnt 
zu werden. 

Zuletzt giebt der Verfasser in seiner Einleitung eine Skizze der 
Entwickelung der Dampfschifffahrt in Russland und eine ausführ¬ 
lichere Behandlung der vier hierauf bezüglichen Tabellen. — Das 
erste russische Dampfschiff wurde schon 1813 in St. Petersburg ge¬ 
baut. Aber lange noch waren es nur wenige Dampfschiffe, welche * 
die Newa und Wolga befuhren. Erst gegen Ende der vierziger 
und im Anfang der fünfziger Jahre verbreiteten sich die Dampfschiffe 
auf die meisten andern Flüsse; aber nun vermehrten sie sich auch 
in rascher Progression, die übrigen Fahrzeuge verdrängend. — Wäh¬ 
rend im Jahre 1852 Russland bloss 83 Dampfschiffe mit 7229 Pferde.- 
kraft hatte, waren es 1869 schon 623 mit 45,131 Pferdekraft; 
es hatte sich also die Zahl der Schiffe siebeneinhalbmal vergrössert. 

Die 623 Dampfschiffe des Jahres 1869 vertheilen sich folgender- 
maassen auf die einzelnen Wassersysteme: 

Auf das System des 

Weissen Meeres kommen 10 Dampfschiffe mit 570 Pferdekr. 
Kaspischen „ „ 423 „ „ 33 > 7 2 5 » 

Asowschen „ „ 25 „ „ 1,338 


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144 


Schwarzen Meeres kommen 47 Dampfschiffe mit 2,735 Pferdekr. 
Baltischen „ „ 118 „ „ 6,763 „ 

Es bewährt sich also auch in dieser Beziehung das System des 
Kaspischen Meeres mit seinen grossen Flüssen — der Wolga, Oka 
und Kama als die Haupt-Verkehrsarterie im Reich. 

An die Einleitung, der wir Vorstehendes entnommen haben, 
schliessen sich in zehn Tabellen die näheren Angaben an, welche 
das Material zu den angeführten Zusammenstellungen boten. Der 
Inhalt dieser Tabellen bietet folgende Data: 

Tabelle h Kurze Uebersicht der schiff- und flössbaren Flüsse des 
Europäischen Russlands. (126 Seiten.) 

„ II: Uebersicht der schiffbaren Seen. (6 Seiten.) 

„ -III: Die Systeme der Verbindungskanäle. (19 Seiten.) 

„ IV: Auf- und Zugang der Flüsse in den Jahren 1865 bis 
1869. (23 Seiten.) 

„ V: Verschiedene Schiffsgattungen, welche die Flüsse des 
Europäischen Russlands befahren. (24 Seiten.) 

„ VI: Der Schiffsbau an den Flüssen des Europäischen Russ¬ 
lands in den Jahreh 1865—1869. (35 Seiten.) 

„ VII: Uebersicht der Dampfschiffe, welche in den Jahren 
1852—1869 Binnengewässer des Europäischen Russ¬ 
lands befuhren, nebst ihrer Vertheilung nach Bestim¬ 
mung der Pferdekraft. (18 Seiten.) 

„ VIII: Zusammenstellung dieser Dampfschiffe nach der Zeit, 
wo sie gebaut wurden. (4 Seiten.) 

„ IX. Eingehende Uebersicht der Dampfschiffe, welche die 
Binnengewässer des Europäischen Russlands in den 
Jahren 1852—1869 befuhren. (42 Seiten.) 

„ X: Die verschiedenen Dampfschiffs-Compagnien und Ge¬ 
sellschaften. (7 Seiten.) 

Bei den verschiedenartigen und theils unüberwindlichen Schwie¬ 
rigkeiten, die sich in Russland dem Sammler statistischer Angaben 
entgegenstellen, kann man in unserer Zeit noch nicht erwarten, dass 
ein statistisches Werk, welches das ganze Reich umfassen seil, seinen 
Gegenstand erschöpfte. Mit Rcöht hat daher der Verfasser seinem 
Buche den Titel „Materialien“ gegeben; wie viel Fleiss, Umsicht und 
Ausdauer auch auf das Sammeln derselben verwendet sein mag — ein 
vollkommenes und strenges Bild des Gegenstandes konnte gegen¬ 
wärtig noch nicht erreicht werden. S. 


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Die polytechnische Ausstellung in Moskau 

vom Jahre 1872. 


(Fortsetzung und Schluss.) 

Der technischen Abtheilung, welche ich bereits im ersten Hefte 
der „Russischen Revue“ behandelt habe, folgt die mcdicinischc und 
Veterinär-Abtheilung.> So interessant beide Abtheilungen für den 
Specialisten auch sind, so viel Belehrendes und theilweisc Neues sie 
auch bieten mögen, so würde ich doch meine Aufgabe überschreiten, 
wollte ich in das Detail dieser Abtheilungen eingehen, abgesehen 
davon, dass es nur Sache eines Fachmannes sein kann, über eine 
Ausstellung zu referiren, welche den gegenwärtigen Standpunkt der 
medicinischen Wissenschaft darlegen, und mit den Fortschritten, so 
wie mit den neuesten Hülfsmitteln derselben bekannt machen soll. 
Ich will nur erwähnen, dass die medicinische Abtheilung in sieben 
verschiedenen Pavillons etc. untergebracht ist und in die chirurgische, 
therapeutische und pharmaceutische Unterabtheilung zerfällt. Das 
In- wie das Ausland hatten sich betheiligt, um diesen wichtigen 
Theil der Ausstellung möglichst vollständig auszustatten. Nur auf 
ein neueres Präparat der letztgenannten Unterabtheilung möchte ich, 
weil unter den gegenwärtigen Verhältnissen von ganz besonderer 
Wichtigkeit, hinweisen: auf das von Liider & Leidloff in Dresden 
ausgestellte „Desinfectionspulver“, das während der Cholcraepidemie 
im Jahre 1866 seine Wirksamkeit so vielseitig bewährt hat und seit 
dieser Zeit fast in ganz Deutschland die weiteste Verbreitung und 
Anerkennung gefunden hat. Nicht nur die leichte und bequeme 
Anwendbarkeit dieses Pulvers, sondern auch dessen grosse Wirk¬ 
samkeit sind durch die Praxis anerkannt worden, und der ausser¬ 
ordentlich billige Preis des Präparates, 2V2 Thaler per Ccntncr, 
ist so bemerkenswerth, dass dessen allgemeine Einführung wohl 
nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Die Hygieine hat die 
Desinfection schon längst als eines der geeignetsten Hülfsmittel zur 

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146 

Unterdrückung von Epidemien aller Art anerkannt und auch die 
russischen Sanitätsbehörden arbeiten darauf hin, dass dieselbe eine 
immer allgemeinere Anwendung finde. Bisher stand der verhältniss- 
mässig hohe Preis der wirklich wirksamen Desinfectionspräparate 
derselben entgegen. Dieser hindernde Umstand scheint durch 
das Dresdener Pulver gehoben zu sein. 

Von mehr allgemeinerem Interesse ist die forsftvirtlischaftlichc 
AbtheUung , welcher der grosse Pavillon No. 40 eingeräumt ist und 
zu deren Vervollständigung nicht nur, wenn auch vorzugsweise, die 
Petrowskier Forstakademie, sondern auch verschiedene Staats¬ 
behörden, ausländische Akademien, Vereine, sowie in- und ausländi¬ 
sche Private Anstrengungen in verschiedenen Richtungen gemacht 
haben. 

Für Russland ist die Entwickelung des Forstwesens yon ausser 
ordentlicher Bedeutung, da der seltene Waldreichthum, dessen es 
sich auch heute noch erfreut, nicht nur eine der wichtigsten Grund¬ 
lagen seines ganzen wirtschaftlichen, namentlich industriellen 
Lebens bildet, sondern auch zu einer erheblichen Einnahmequelle 
des ganzen Landes geworden ist. Nach den Erläuterungen zum 
landwirthschaftlich-statistischen Atlas des europäischen Russlands, 
hcrausgegeben vom Kaiserlich Russischen Domänenministerium, 
welchem das Forstwesen Russlands untersteht (St. Petersburg 1869), 
besitzt allein das europäische Russland einen Waldbestand im Aus- 
maasse von 172,418,000 Dessjätinen; mit andern Worten: 43,3 pCt. 
seiner gesammten Bodenfläche besteht aus Waldland. Ein annähernd 
gleiches Verhältniss haben nur Norwegen (39 pCt.) und Schweden 
(35 pCt.) aufzuweisen, während von den übrigen Staaten Europas 
das Waldland 

in Oesterreich . nur 27,1 pCt. v. d. gesammt. Bodenfläche einnimmt. 
„ Preussen . . „ 21,« „ „ „ „ 

„ Frankreich*) , ,, 16,2 ,, „ ' „ „ 

„ Italien'*) . . „ 15,2 „ 

„ Grossbritannien ,, 7,« „ 

Die russischen Waldungen umfassen eine Gesammtfläche von 
1,655,3 r 9 Quadrat-Werst oder von 34,212 Quadrat-Meilen, d. i. um 
2000 Quadrat-Meilen mehr, als die Gesammtgrösse Frankreichs, 
Oesterreichs, Preussens und Grossbritanniens ausmachen würde. 

Jncl. der jetzigen Deutschen Reichslande Eisass u. Lothringen, aber exel Savoyens. 

*’) Incl. Sav.oyens, 


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147 


So reich nun auch Russland nach den angeführten allgemeinen 
Zahlen an Waldboden sein mag, so ist dieser letztere doch keines¬ 
wegs gleichmässig über das ganze Land vcrtheilt, und macht sich 
daher in vielen Gegenden, namentlich in den südlichen Gouver¬ 
nements; ein sehr empfindlicher Holzmangel fühlbar, während 
wiederum in anderen Theilcn, so im Norden, ein solcher Holzüber¬ 
fluss herrscht, dass eine halbwegs entsprechende Verwerthung des¬ 
selben kaum möglich ist, und zwar um so weniger, als man im 
Laufe der Zeit die den Ausfuhrhäfen zunächst liegenden Gebiete, 
die einen lebhaften Exporthandel mit Holz trieben, ihrer Ilolzbcstände 
beraubt hat, ohne in gleichem Verhältnisse für Wiederaufforstungen 
Sorge zu tragen. 

Aus der nachfolgenden Zusammenstellung, nach den Erläuterun¬ 
gen zum oben erwähnten landwirthschaftlich-statistischen Atlas ent¬ 
worfen, ist die Vcrtheilung des russischen Waldlandes im Gesammt- 
gebiete des europäischen Russlands zu ersehen und gleichzeitig 
auch die Zonen oder Gruppen, in welche nach ihrer territorialen 
Lage die russischen Waldungen officicll cingctheilt werden: 

Dcss'ätinen pCt. der Gc- pCt. der Ge- 

Zonen oder Gruppen. ss ^ sainmtfl. der sarmntllaclie 

Waldland. Gou vernein. Russlands. 


I. Nördliche Gouvernements: 




(Archangel, Olonez, Wologda) . 

73,402,000 

85.v 

42 , 6 

II. Ocstlichc Gouvernements: 




(Perm, Orenburg, Wjatka) . . . 

40,636,000 

64,5 


III. Nordwestliche Gouvernements 




(Nowgorod, St.Petersburg, Pskow) 

O 

| 

55 .« 

6,1 

IV. Baltische Gouvernements: 




(Estland, Livland, Kurland) . . . 

3,197,000 

37 .« 

1,7 

V. Westliche Gouvernements: 


r 


(Witebsk, Mohilew, Minsk, Grodno, 




Wilna, Kowno).. 

9,480,000 

34,1 

5 ,* 

VI. Siidivestlichc Gouvernements: 




(Wolhynien, Podolien, Kijew) . 

4,477,000 


2,5 

VII. Gouvernements an der 




mittleren Wolga: 




(Kostroma, Nishnij-Nowgorod, 


48,4 


Ssimbirsk, Pensa). 

12 , 355 . 0 °° 

7 .i 


io* 


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Zonen oder Gruppen. 


148 


Dessjätinen 

Waldland. 


pCt. der Ge- 
saramtfl. der 
Gouvcrnem 


VIII. Central-Goirvernnnents: 

(Wladimir, Moskau, Ssmolcnsk, 

Jaroslaw, Twer, Kaluga, Orel, 

Rjäsan, Tula).10,834,000 30,5 

IX. Kleinrussische und Steppen - 
Gouvernements ; 

(Tschernigow, Poltawa, Charkow, 

Kursk, Tambow, Woroncsh, 

Ssaratow, Ssamara). 6,419,000 12,2 

X. Südliche Gouvernements: 

(Bessarabien, Chersson, Jekatcri- 
nosslaw, Tauricn, Land d. Don- 
schcn Kosaken, Astrachan) . . 1,218,000 2,1 


pCt. der Ge- 
sammt fläche 
Russlands. 


6,9 


3,7 


0,7 


172,418,000 od. 40,3 lOO 

Von den südlichen Gouvernements ist Bessarabien noch ver- 
hältnissmässig am meisten bewaldet (288,000 Dessjätinen), indem 
seine Waldbestände noch 9 pCt. seines Gesammtareals umfassen, 
dann folgt Taurien (291,000 Dessjätinen mit 5,2 pCt.; das Land 
der Donschcn Kosaken (321,000 Dessjätinen) mit 2,2 pCt.; Jekateri- 
nosslaw (291,000 Dessjätinen) mit 1,4 pCt.; Chersson (91,000 Dess¬ 
jätinen) mit 1,3 pCt.; endlich Astrachan (140,000 Dessjätinen) mit 
0,9 pCt. Man hat zwar mannigfache Anstrengungen gemacht, und 
die Regierung hat es in dieser Beziehung nicht an Anregungen fehlen 
lassen, die hier zuletzt genannten Gouvernements auf künstlichem 
Wege zu bewalden, und aufgeklärte Männer haben auch in richtiger* 
Weise den Weg hierzu gezeigt; alle Anstrengungen blieben aber 
zum grössten Theil resultatlos und scheiterten nicht minder an der 
Indolenz der Landwirthe, wie auch zum Theil an der Ungunst der 
klimatischen Verhältnisse. Dass eine künstliche Bewaldung auch 
des Südens möglich ist, beweisen viele deutsche Colonicn in Taurien 
und im Jekaterinosslawschen Gouvernement, darunter namentlich 
die Mennoniten-Colonien, denen es gelungen ist, trotz der Ungunst 
des südlichen Klimas Waldungen anzulegcn und zu erhalten. Die 
w.eisse Akacie (Robinia pseudo acacia) dürfte der geeignetste Cultur- 
baum für den Süden Russlands sein, da er nicht nur unter den 
dortigen klimatischen Verhältnissen trefflich gedeiht, sondern auch 
rasch wächst und sein Holz die vielseitigste Verwendung gestattet. 


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149 


Von den russischen Waldungen sind 55 pCt. oder 94,774,600 
Dessjätinen Kronswaldungen. Die russische Regierung hat dem¬ 
nach vollen Grund, alle Anstrengungen zu machen, um die Wald- 
cultur'und Forstwissenschaft mit allen ihr zu Gebote stehenden 
Mitteln zu fördern. Wenn es auch hieran in keiner Weise geman¬ 
gelt hat, und die Kronswaldungen in Wirklichkeit auch schon ratio¬ 
neller und wirtschaftlicher behandelt werden, wie in früheren 
Zeiten, so bleibt doch immer, selbst bei den Kronswaldungen, noch 
viel zu wünschen übrig, wahrend der bei weitem grösste Theil der 
Privatwaldungcn in der unwirtschaftlichsten Weise behandelt wird. 
Die Devastirung russischer Privatwaldungen, namentlich in den 
C^mtral-Gouvernements Twer, Moskau, Orcl, Tambow etc., steht an 
der Tagesordnung, und der erweiterte Bau von Eisenbahnen und 
deren Betrieb haben das Ihrige dazu beigetragen, das Uebel noch 
zu vergrössern. In Folge dieser Verhältnisse steht Russland in 
vielen Gouvcyiemcnts vor der Calamitat einer kaum zu beherr¬ 
schenden Holztheuerung, die in Moskau und den benachbarten Gou¬ 
vernements bereits ihren Anfang genommen hat. So bezahlt man 
in der Stadt Moskau den Faden (7 Fuss) 12 Werschok langes 
Kiefern- und Tannenholz mit 9 bis 11 Rubel und man fürchtet noch 
ein Steigen der Preise. Die einzige Hoffnung bleibt unter solchen 
Umständen die volle und energische Exploitirung der russischen 
Kohlenlager und die Einführung der Torf-Industrie, der sich leider 
noch sehr wenig Interesse zuwendet und der sich das grössere Capital, 
aus altem Vorurtheile und in Folge einzelner verunglückter Ver¬ 
suche, fast vollständig verschliesst. Unter den hier dargelegtcn 
Verhältnissen ist die forstwirtschaftliche Abtheilung der Moskauer 
Ausstellung von doppeltem Interesse, denn auf ihr begegnet man 
allen Hülfsmitteln, welche Wissenschaft und Praxis der Forstcultur 
zurVerfügung gestellt haben, um“ letztere in rationeller und nutzbrin¬ 
gender Weise betreibenzu können. Die forstwirtschaftliche Ausstel¬ 
lung enthält folgende Abteilungen: 1) die Forst-Geschichte, 2) die 
Forst-Geographie und Statistik , 3) die russische (Forst-) Baum¬ 

kunde, a ) Herbarien, b) Holzmuster aus 27 Gouvernements und dem 
Grossfürstenthum Finnland, aus Krons- und einigen hervorragenden 
Privatforsten; 4) die 'Waldanlage . d) die Samenkunde (Waldsamen, 
deren Reinigung und Aufbewahrung), b) die Aussaat und das 
Pflanzen der Waldbäume (forstwirtschaftliche Culturwerkzcuge und 
Geräte), c) die Arten der Forstwirtschaft und die Mittel zur Auf¬ 
forstung, d) der Waldbau in den Ncurussischen Steppen, e) der 


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Waldbau im Flugsandes 5) die eigentliche Forstcultur\ a) die Schlag- 
wirthschaft, h) der Baumschnitt, e) die Trockenlegung des Wald¬ 
bodens; 6) der Waldschutz (Hilfsmittel gegen die Waldschäden, 
welche durch den Einfluss des Klimas, durch Schmarotzerpflanzen, 
Thierc und Menschen verursacht werden — Holzkrankheiten); 
7) Forsf^eoddsie (Instrumente, Forstpläne und Karten); 8) Forst- 
Uxxation und Forstrechnung (Instrumente und Tabellen dazu); 9) Wald- 
exploitation: d) Haupt-Revenuen des Waldes, hervorgehend aus Ver¬ 
kauf von Holz und Rinde — Brennholz, Constructionsholz — Nutz¬ 
holz, Schiffsbauholz, Gerberrinde etc.; b) Nebennutzung des Waldes; 
10) chemische Bearbeitung der Höher: a) Fabrication von Holz¬ 
kohlen, von Holzessig, von Harz und Terpentin, von Pech, Kolo¬ 
phonium und Theer, b) der Zersetzungsprocess des Holzes bei nicht 
vollständigem Luftabschluss: Russbrennerei, c) Zersetzung des Holzes 
bei vollem Luftzutritt: Pottaschefabrication; n) chemische Bearbei¬ 
tung der Nadeln-. Wald wolle; 12) Iransport der Hölzer; 13) Forst¬ 
botanik, Anatomie und Physiologie; 14) Häuscrmodelle (Förstereien), 
Photographien etc. 

Vorstehende kurze Aufzählung dessen, was die Ausstellung der 
Forstabtheilung bietet, wird genügen, um auf die Reichhaltigkeit der¬ 
selben hinzuweisen. Material in grosser Mannigfaltigkeit und reicher 
Fülle wird hier für das Studium geboten, und es ist nur zu wünschen, 
dass es in der gleichen Fülle, wie es vorhanden, auch benutzt 
werden möchte, namentlich von den zahlreichen Privatbesitzern, 
deren oft bedeutende Waldbestände eine rationelle Bewirtschaft 
tung so sehr bedürfen. Namentlich auf die grossen Vortheile der 
forstwirtschaftlichen Nebennutzungen und auf die industrielle 
Verwertung der Baumstümpfe auf entholzten Strecken, des Bruch- 
und andern Holzes, dessen directer Verkauf unausführbar ist, zu 
Holzkohlen, Theer, Pottasche etc., können die Waldbesitzer nicht 
dringend genug aufmerksam gemacht werden, da der Betrieb der¬ 
artiger Industriezweige nicht nur ein sehr lohnender ist, sondern 
auch weil gerade diese Industriezweige in Russland einen sehr gesun¬ 
den und lebenskräftigen Boden unter sich haben. Bevor ich zu einer 
andern Abtheilung übergehe, muss ich noch, wenigstens flüchtig, 
der wunderbaren Schiffsbauhölzer des Herrn A. Kaufmann in St. 
Petersburg gedenken, die ein in die Augen springendes Beispiel des 
ausserordentlichen und ungewöhnlichen Reichthums Russlands an 
solchen Hölzern bieten. Schon die Schiffsbauhölzer, welche der¬ 
selbe auf der letzten St. Petersburger Manufactur-Ausstellung 


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exponirt hatte, erregten ihrer grossen Dimensionen wegen allge¬ 
meine Verwunderung; seine Moskauer Ausstellung ist aber noch 
mannigfaltiger und zeichnen sich diese Schiffsbauhölzer sämmtlich 
durch Reinheit, Naturwüchsigkeit und Gesundheit, sowie durch 
Dichtigkeit des Kernholzes und Risselosigkeit der Wandoberflächen 
aus. Diese Schiffsbauhölzer stammen aus verschiedenen Gouver¬ 
nements, namentlich aber aus Twer und Bessarabien. Wäre die 
hissische Waldwirtschaft so, wie sie sein sollte, so könnte Russland 
noch heute ganz Europa mit Schiffsbauhölzern versorgen. Der 
Werth der im Jahre 1870 aus Russland exportirten Bau- und Nutz¬ 
hölzer berechnet sich nach den pfficiellen Ausfuhrtafeln auf 
13,132,403 Rubel. 

Der forstwirtschaftlichen Abtheilung schliesst sich in sachge- 
mässer Folge die landwirthschaftlichc Abtheilung an. Die Land¬ 
wirtschaft ist in Russland die Basis der gesammten wirtschaftli¬ 
chen Volksthätigkeit. Russland ist Agriculturstaat, und zwar Agri - 
culturstaat ersten Ranges-, es ist die Kornkammer Europas und sein 
Reichtum an Cerealien aller Art hat schon mehr als einmal die¬ 
ses letztere vor ernsten Kalamitäten und Katastrophen bewahrt. 
Unter solchen Umständen ist es erklärlich, wenn man auf einer 
Ausstellung, welche doch zunächst die Culturentwickelung Russlands 
und den Einfluss der Naturwissenschaften auf die menschliche 
Thätigkeit zur Anschauung bringen soll, der Landwirtschaft ei¬ 
nen hervorragenden Platz eingeräumt hat. Und doch lässt ge¬ 
rade diese Abteilung der Ausstellung den Beschauer ziemlich kalt. 
Wir begegnen •ztirar hier ganzen Remisen von landwirtschaftli¬ 
chen Gerätschaften und Maschinen aller Art; sie stammen aber" 
zum allergeringsten Theil aus russischen Werkstätten, sind viel¬ 
mehr von den Agenten grossentheils englischer Häuser ausge¬ 
stellt, welche die jetzige Gelegenheit nicht unbenutzt vorüberge¬ 
hen lassen wollen, um Reclame für die Fabrikate ihrer Häuser 
zu machen und dabei auf zahlreicheBestellungen hoffen. Ich furchte 
aber, diese Herren geben sich argen Täuschungen hin, denn 
einmal habe ich diese landwirtschaftliche Abteilung bei wie¬ 
derholter Besichtigung fast immer leer von Besuchern getroffen, 
und dann ist es bereits Erfahrungssache geworden, dass die grosse 
Mehrzahl der russischen Landwirthe wenig Neigung zeigt, ihrer 
Ansicht nach complicirte landwirtschaftlich^ Gerätschaften in 
der Praxis zu verwenden. Die Bearbeitung des Gutslandes durch 
die Bauern, welche sich bei dieser Gelegenheit auch ihrer eignen 


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152 


landwirthschaflichen Geräthschaften bedienen, steht noch immer * 
auf der Tagesordnung und bevor es die Gutsbesitzer nicht* in ih¬ 
rem Vortheile erachten, diesen Gebrauch zu beseitigen, wird auch 
die Anwendung verbesserter landwirtschaftlicher Geräthschaften und 
Maschinen iii Russland eine äusserst geringfügige sein und keines¬ 
wegs im Verhältnisse zur Ausdehnung der Landwirtschaft selbst 
stehen. Eine durchschnittliche Mittelemte von 4V2 Korn der Aus- * 
saat genügt noch Russland vollkommen, und bleibt selbst bd 
dieser geringen Ernte ein Ueberschuss an Getreide von über 35 
Millionen Tschetwert, den Russland, nach vollständiger Deckung sei¬ 
nes innern Consums von 184,128,000 Tschetwert, für seinen aus¬ 
wärtigen Handel und zur Deckung seiner Vorräte zur Disposi¬ 
tion behält. In diesem grossen Ueberflusse an Körnerfrüchten 
verschiedener Art liegt zum Theil mit eine Ursache, dass der land¬ 
wirtschaftliche Fortschritt in Russland im Allgemeinen nicht so 
rasch Boden gewinnt, wie anderswo. Trotz dem fehlt es auch 
in dieser Beziehung nicht an aufmunternden Beispielen, mögen die¬ 
selben auch immer noch sehr vereinzelt auftreten. Es giebt in 
Russland Güter — ich nenne beispielsweise die Ihrer Kaiserl. Hoheit 
der Frau Grossfürstin Helene Pawlowna (Gut Karlowka im Pol- 
tawaschen Gouvernement), des Fürsten Victor Wassiltschikow (Gut 
Trubetschina im Tulaschen Gouvernement), der Grafen Bobrinsky 
(Gut Smelja im Kijewschen Gouvernement) etc. — auf welchen 
sich vollständig eingerichtete mechanische Werkstätten für den 
landwirthschaftlichen Maschinenbau befinden. Auch einzelne Pri¬ 
vatfabriken giebt es, wie z. B. die S. J. Malzow’sche im Gou¬ 
vernement Orel, die von N. Westberg in Charkow u. A., welche 
sich vorzugsweise mit dem Baue landwirtschaftlicher Maschinen 
und Geräthschaften befassen. Wäre aber ihre Zahl noch zehnfach 
grösser, so dürften diese Fabriken noch immer nicht für ein Land 
wie Russland genügen, wenn sich hier eben nicht ein beklagens¬ 
werter Stillstand auf dem Gebiete der Landwirtschaft fühlbar 
machte, der auffallend erweise noch immer anhält, trotzdem in 
Folge der Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes in den 
letzteren Jahren die Güterpreise sehr bedeutend, in einzelnen 
Gouvernements und in der Nähe der Eisenbahnen um 100 °/o ge¬ 
stiegen sind. Nur im Süden Russlands macht sich ein regeres 
landwirtschaftliches Leben bemerkbar,, welches zum Theil seinen 
Grund in der Speculation, zum Theil in dem Umstande findet, 
dass hier vermögende russische Kaufleute Güter gekauft haben, 


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*53 


* die sie unter Anwendung genügender pecuniärer Mittel zu ei¬ 
nem höheren Ertrag zu bringen suchen. Im Allgemeinen 
aber, und dies gilt von allen Gouvernements ohne Ausnahme, 
steht die Landwirtschaft Russlands noch nicht entfernt auf der 
Höhe unserer Zeit, und wenn nicht ganz unerwartete Anstrengun¬ 
gen seitens der russischen Landwirthe gemacht werden, Anstren¬ 
gungen, die kaum in Aussicht stehen, wird es Russland nicht 
sobald gelingen, seine Landwirtschaft nur auf annähernd gleichem 
Niveau wie die des Auslandes zu heben. 

Unter so bewandten Umständen durfte man von Hause aus an die 
landwirtschaftliche Abteilung der Moskauer Ausstellung keine 
überspannten Forderungen stellen, um so mehr, als dem belehren¬ 
den Character der ganzen Ausstellung auch hier Rechnung getra¬ 
gen werden musste, daher für den practischen Landwirt die Be¬ 
schickung der Ausstellung unter allen Umständen erschwert wur¬ 
de. Eine landwirtschaftliche Ausstellung in grossen Verhältnis¬ 
sen, wie wir solche von den Specialausstellungen her gewohnt sind, 
machte sich ohnedem ja unmöglich, und wenn auch in mancher 
Beziehung mehr geboten werden konnte, als es in der That 
der Fall war, so entsprach doch das wirklich Gebotene dem Cha¬ 
racter der ganzen Ausstellung. Die landwirtschaftliche Abtei¬ 
lung vertrat in drei Hauptgruppen: r) die Lehre vom Boden (Bo¬ 
denkunde), 2) die Bearbeitung des Bodens und 3) die Cultur 
der Pflanzen. Die Lehre vom Boden war durch Apparate, 
Tabellen und die verschiedenen Hülfsmittcl, welche der modernen 
Landwirtschaft zur Untersuchung und Analyse des Bodens zur 
Verfügung stehen, ferner durch Collectionen verschiedener Bo¬ 
denarten etc. in ziemlich detaillirter Weise dem Beschauer vor ’ 
Augen geführt, und hatte man mit Gewissenhaftigkeit Alles gesammelt 
und in systematischer Ordnung ausgestellt, um diesen wichtigen 
Theil der Landwirthschaftslehre würdig zu repräsentiren. 

In der zweiten Unterabtheilung (Bearbeitung des Bodens) fin¬ 
den sich reiche Modcllsammlungen aller möglichen älteren und 
neueren Werkzeuge und Gerätschaften, welche zur Bearbeitung 
des Bodens benutzt werden, Pläne und Zeichnungen verschiede¬ 
ner Art, die Theorie des Pfhigens etc. darstellend. Die Cultur 
der Pflanzen war in ähnlicher, mehr theoretischer .Weise, und 
zwar wiederum durch Modelle, Zeichnungen ;etc. dem Beschauer 
vor Augen geführt, wobei namentlich die Erntearbeiten und das 
landesübliche Dörren des Getreides die eingehendste Vertre- 


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154 


tung gefunden hatten. Mehr practisches Interesse boten die in * 
Natur ausgestellten Erzeugnisse des russischen Feld-und Garten¬ 
baues, die ein sprechendes Beispiel von der Mannigfaltigkeit der 
landwirtschaftlichen Production Russlands liefern. Russland ist 
eben im Stande, Alles allein zu produciren, was in den übrigen 
Ländern Europas zusammen producirt wird, denn sein Gebiet 
dehnt sich über alle Breitegrade unseres Weltteiles aus und 
liefert in gleicher Fülle und reicher Abwechselung sowohl die 
Producte des hohen Nordens, wie die des heissen Südens. Es 
hält schwer, eine landwirtschaftliche Culturpflanze aufzuzählen, 
welche nicht auch in Russland ihre Productionsstätte und ihre 
Vertretung fände. Die landwirtschaftliche Viehzucht ist, wenn 
auch sehr systematisch, doch weniger vollständig vertreten wie 
der Feldbau, und auch hier sind es vorzugsweise Modelle und 
Zeichnungen, welche die einzelnen Branchen dieser Viehzucht dar¬ 
stellen. 

Die wirklich in der Praxis verwendbaren landwirtschaftli¬ 
chen Geräte und grösseren Maschinen sind in besonderen, teils 
an den landwirtschaftlichen Pavillon angebauten, teils denselben 
umgebenden Abtheilungen und Räumlichkeiten ausgestellt. Na¬ 
mentlich begegnen wir fast sämmtlichen grossen englischen 
Fabriken, ohne jedoch wesentlich Neues zu finden. Von beson¬ 
derem Interesse sind die von Schweden ausgestellten landwirt¬ 
schaftlichen Gerätschaften und Culturinstrumente, welche sich 
durch verhältnissmässig billige Preise und durch solide Arbeit 
auszeichnen. 

Hinter dem landwirtschaftlichen Pavillon, im zweiten Kremlgar- 
* ten, fand die ländliche Baukunst ihren Platz. Hoch oben an der 
Kremlböschung treten wir in eine ländliche griechische Kirche, 
ausgestattet mit Allem, was der orthodoxe Ritus fordert. Wir be¬ 
gegnen ferner einem beinahe luxuriös aus gestatteten ländlichen 
Wohnhause, einem Bauernhause, einer Dorfschule, einem ländli¬ 
chen Krankenhause, einer Apotheke etc. Die Ausführung all die¬ 
ser verschiedenen Bauten ist ganz zweckentsprechend, trägt zur 
Abwechslung bei und ist auch gewiss recht lehrreich. Es bleibt 
nur zu wünschen, dass sie recht zahlreich auch im practischen 
Leben zur Ausführung kommen möchten. 

Im zweiten Kremlgarten sind die Abtheilungen für das Post - 
und Telcgraphenwcscn untergebracht, und sind dieselben um so 
interessanter, als sie nicht nur einen allgemeinen Ueberblick über 


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T 55 

die Entwickelung und die gegenwärtige Gestaltung dieser wich¬ 
tigen Verkchrsinstitutionen in Russland, wie in den übrigen Cul- 
turländern, sondern auch einen specielleren Einblick in den Orga¬ 
nismus derselben gestatten. Zu diesem Zwecke hat das Ausstcl- 
lungs-Comit6 durch Vermittelung der russischen, österreichischen, 
deutschen' und anderer Regierungen ziemlich vollständige Samm¬ 
lungen von allen Hülfsmitteln, welcher sich die verschiedenen 
Postinstitutionen bedienen, zusammengebracht und dem Beschauer 
in systematischer Ordnung vorgeführt. Im historisch-statistischen 
Theile begegnen wir zunächst den Postkarten, den Wegzeigern 
und den auf das Postwesen bezughabenden Verordnungen Russ¬ 
lands aus 72 Nummern bestehend; darunter zwei Postkarten aus 
der Zeit Peter’s des Grossen und Katharina II. Bereits in den 
letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts fing man in Russland an, 
schon mehr Werth auf solche Karten zu legen. Aus dem Jahre 
1786 begegnen wir auf der Ausstellung einer Postkarte Klcin- 
russlands, vom Jahre 1796 einer solchen des Kaukasus und 1799 
erschienen sowohl eine allgemeine Postkarte, als auch eine solche 
des Russischen Reiches. Im Laufe unseres Jahrhunderts hat sich 
die Zahl der Postkarten, auch die einzelner Gouvernements (Wla¬ 
dimir, Wologda, Kursk, Moskau, Minsk, Jaroslaw) sehr gemehrt. 
Die neueste Postkarte Russlands stammt aus dem laufenden Jahre. 
Ausser Russland haben noch Oesterreich und das Deutsche Reich 
diese historisch-statistische Abtheilung durch eine reiche Sammlung 
von Postkarten, Postverordnungen etc. beschickt. Die Hülfsmittel, 
welcher sich das moderne Postwesen zur Sammlung,' Versendung 
und Stempelung etc. der Briefe, Packcte und Postsendungen be¬ 
dient, sind als besondere Unterabtheilung zusammengestellt und 
werden theils in natura, thcils in Modellen und Zeichnungen dem 
Beschauer vorgeführt. Besonders Oesterreich und das Deutsche 
Reich haben eine möglichst vollständige Sammlung dieser postualen 
Hülfsmittel eingesandt. Die verschiedenen Poststempel und Pet¬ 
schafte spielen unter diesen letzteren eine Hauptrolle und hat auch 
Schweden die seinigen vorgeführt. Briefsammelkastcn, Brief-Koffer, 
-Säcke, -Beutel, -Taschen etc., verschiedener Form und Ursprunges, 
finden wir hier ausgestellt. 

Eine besondere Unterabtheilung umfassten wiederum die Post- 
(franco) Marken und gestempelten (frankirten) Bricfcouvcrts der 
verschiedenen Staaten und finden wir hier u. A. eine sehr interes¬ 
sante Sammlung von Briefmarken aller Herren Länder, vom ersten 


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Entstehen der Francomarken an bis auf den heutigen Tag. Die 
Postequipagen, welche in Russland (St. Petersburg, Moskau, War¬ 
schau, im Kaukasus und Jekaterinoslaw), in Oesterreich und im Deut¬ 
schen Reiche; üblich, sind, theils in Zeichnungen, theils durch Mo¬ 
delle dargestellt. Darunter fehlen auch die Postkähne nicht, welche 
zum Uebersetzen der Post über den Fluss Ob im Tobolskschen Gou¬ 
vernement benutzt werden. Nicht minder begegnen wir einer Aus¬ 
stellung der gegenwärtig in Russland, Oesterreich und im Deutschen 
Reiche cingeführten Postuniformen, sowohl die der Postbeamten, 
wie der Briefträger und Postillone, so wie der photographischen 
Abbildungen von 22 kaiserlich russischen und 7 ausländischen Post¬ 
gebäuden etc. 

Ausser der bildlichen Darstellung der Postverbindungen über 
verschiedene Flüsse Russlands und Sibiriens, über die Berge des 
Kaukasus und in den asiatischen Provinzen, sind noch von beson¬ 
derem Interesse zwei lebensgrosse Gruppen aus den Schneeregionen 
des hohen Nordens, die eine die Hunde-, die andere die Rennthier- 
Post darstellend. Menschen wie Thiere sind mit grosser Naturtreue 
nachgebildet, und man glaubt sich während deren Beschauung 
wirklich mitten in jene unwirthlichen Gegenden versetzt, deren 
Hauptproduct das Rennthiermoos bildet und deren sommerliche Ve¬ 
getationszeit sich nur auf Wochen reducirt. Die Postabtheilung ver¬ 
dient mit Recht das Interesse, welches ihr allgemein entgegen ge¬ 
tragen wird, und in der That bietet das Postwesen eines Staates 
nirgend so viele Eigenthümlichkeitcn wie in Russland, weil es nir¬ 
gendwo Völkerschaften zu dienen hat, welche auf so ungleicher Cul- 
turstufe stehen,, weil kein einziger Staat über so ausgedehnte und 
so ganz verschiedenartige Territorien gebietet wie Russland, dessen 
asiatische und europäische Provinzen so gewaltige Gegensätze 
bilden. 

Dem Telegraphenwesen ist ebenfalls ein besonderer Pavillon 
eingeräumt, und schon der Umstand, dass dies gleich dem der 
Postabtheilung ein Pavillon von ziemlich bedeutender Grösse ist, 
deutet darauf hin, dass wir es hier mit einer sehr eingehenden 
Ausstellung zu thun haben. Diese Abtheilung soll nicht nur die 
Fortschritte versinnlichen, welche auf dem Gebiete des Telegra¬ 
phenwesens bis auf den heutigen Tag gemacht worden sind, son¬ 
dern sie soll auch dem Besucher die verschiedenartigen Hülfs- 


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i57 


l 


mittel vor Augen führen, welche dem Telegraphen wesen zur Ver¬ 
fügung stehen. Die längst abgethanenen optischen Telegraphen 
sind durch Modelle vertreten, dagegen können wir die Verbesse¬ 
rungen des electrischen Telegraphen Schritt vor Schritt verfolgen. 
Es entrollt sich vor unseren Augen das ganze, weite Gebiet des 
Telegraphenwesens und nicht nur die Regierungen von Russland, 
Deutschland und Oesterreich haben mit einander gewetteifert, dem 
Besucher der Moskauer Ausstellung einen offnen und weiten 
Blick in das ganze innere Getriebe ihres Staatstelegraphenwesens 
thun zu lassen, sondern auch Private haben sich mit Eifer die¬ 
sem Streben angeschlossen und reiche Sammlungen von Appa¬ 
raten, Modellen und sonstigen Telegraphenutensilien der Ausstel¬ 
lung zur Verfügung gestellt. Namentlich ist eine derartige 
Sammlung der berühmten Telegraphen-Bau-Anstalt von Sie¬ 
mens & Halske in Berlin der höchsten Beachtung werth und äus- 
serst instructiv.. Sie versinnlicht die Fortschritte, welche das Te¬ 
legraphenwesen hinsichtlich der Anwendung der verschiedenartigen 
Apparate bis auf den heutigen Tag gemacht hat. Diese bekannte 
Firma hatte auch die beste Gelegenheit, eine derartige Sammlung 
zu liefern, da wenig Telegraphenlinien in Russland und selbst im 
übrigen Europa im Betriebe stehen werden, welche nicht Ap¬ 
parate oder sonstige Hülfsinstrumente aufzuweisen haben dürften, 
die nicht im Siemens & Halske’schen Etablissement in Berlin 
oder in den Filialen desselben ihren Ursprung gefunden hätten. 
Auch die österreichische und deutsche Telegraphen-Verwaltung ha¬ 
ben sich bemüht, ausserordentlich belehrendes Material für diese 
Abtheilung zu liefern. 

Im Jahre 1852 betrug die Ausdehnung des russischen Telegraphen¬ 
netzes 1446 Werst, und zwar 

1126 Werst optischer Telegraphen ) und 
320 „ electrischer Telegraphen für den Eisenbahndienst. 

Im Jahre 1862 J>etrug die Ausdehnung des russischen Telegra¬ 
phennetzes (electrischer Telegraph) 

22765 Werst (mit 158 Stationen) Regierungs- und Corre- 
spondenzlinien und 

2467 „ (mit 219 Stationen) Eisenbahnlinien. 


*) 1854 wurde der optische Telegraph vollständig durch den etectrischen ersetzt. 


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Im Jahre 1872 betrug die Ausdehnung des Telegraphennetzes 
46709 Werst (mit 576 Stationen) Staatstelegraphen für den 
Correspondenzverkehr. 

?3335 » (mit 844 Stationen) für den Eisenbahndienst. 

Die wirkliche Draht oder Leitungslänge der sämmtlichen rus¬ 
sischen Telcgraphenlinien beträgt dagegen nach officieller Mitthei¬ 
lung 121,580 Werst, von denen 29,850 Werst auf die Eisen¬ 
bahnlinien entfallen. 

. Da über die Telegraphen-Abtheilung jedenfalls noch. Specialbe¬ 
richte auch in deutscher Sprache erscheinen werden, so kann ich 
wohl mein Referat über diese Abtheilung mit der Bemerkung 
schliessen, dass sie in ihrer Ausführung vollständig der zu Grunde 
liegenden Idee entsprach, dass sie keine, wenigstens keine störenden 
Lücken zeigte, und dass sic auch übersichtlich und vollständig 
systematisch geordnet war. 

Gleiches Lob, wie der vorhergehenden, lässt sich der physikalischen 
Abtheilung (Pavillon No. 42) nicht spenden, und schien dieselbe be¬ 
stimmt zu sein, Manches aufzunehmen, was sich eben nicht gut in 
eine andere Abtheilung unterbringen» liess. Des Interessanten, na¬ 
mentlich rein physikalischen Characters, wurde zwar viel geboten, und 
erscheinen besonders beachtenswerth die optischen Instrumente aus 
Paris, Berlin, Wien etc., die meteorologischen Instrumente vonGreiner 
in Berlin und Kappler in Wien, eine Collection electrischcr 
Apparate und Maschinen von Siemens & Halske (s. o.), physikali¬ 
sche Maschinen von Richter in St. Petersburg, electrische Apparate 
von Rumkorf in Paris, die metrischen und russischen Maasse von 
Romanenko und a. m. Daneben finden wir aber Uhren zwei¬ 
felhaften Werthes, Lampen, Waagen verschiedener Systeme, 
dann wieder musikalische Instrumente aller Art, als Fortepianos, 
Blasinstrumente aus Holz und Blech, Harmonikas und dergleichen. 
Ein Londoner hatte sogar seine Verkaufsstättc mit physikalischem 
• Kinderspielzeug hier aufgestcllt und schien anz glcidliche Ge¬ 
schäfte mit seiner Waare zu machen. Obgleich sich gerade in 
dieser Branche Wissenschaft und Industrie die Hand reichen müs¬ 
sen, so scheint doch der gegenseitige Vermischungsprocess hier 
etwas zu weit getrieben zu sein. Uebrigens waren auch neuere 
Erfindungen von Interesse vertreten. So erinnere ich an einen 
Apparat zur Ueberführung ätzender Säuren aus einem Gefässe 
in das andere, # in Batterien etc. aus Odessa, der seiner Einfach¬ 
heit und practischen Einrichtung wegen der Beachtung werth ist. 


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Auch eine Collection von demonstrativen Apparaten aus dem physi¬ 
kalischen Cabinet des Lyceums des Thronfolgers Nicolai (Arbei¬ 
ten des Herrn Ssimonow), ein . Apparat von Galibert, welcher 
bestimmt ist, das freie Athmen in einer erstickenden Atmosphäre 
(z. B. während einer Feuersbrunst) zu gestatten, gehören 
hierher. Dem Leuchtgase und seinem Gebrauche zur Beleuch¬ 
tung und Beheizung ist eine besondere kleine Abtheilung einge¬ 
räumt, in welcher Versuche mit verschiedenen Gassorten an¬ 
gestellt werden und auch die neue Klingerfussische Metho¬ 
de zum gleichzeitigen Anzünden aller Laternen einer Stadt, 
so wie ein Regulator der Gasausströmung von Giron gezeigt 
wird. Erwähnenswerth ist noch ein kleiner Gasapparat zur 
Erzeugung von Gas aus Naphtharückständen nach denf Systeme 
des Prof. Hirzel. Unter Mitwirkung des Akademikers Wild ist 
ein kleiner meteorologischer Pavillon errichtet * worden, in welchem 
sich eine Collection sellbst wirkender meteorologischer Apparate 
befindet. Man ersieht hieraus, dass im Ganzen viel geboten wor¬ 
den ist, und dass, wenn auch neben manchem nicht Dahinge* 
hörigem und Nebensächlichem, des wirklich Lehrreichen ebenfalls 
genug ausgestellt war. 

Die Herstellung physikalischer Apparate und mathematischer 
Instrumente überlässt Russland noch grösstentheils dem Auslande. 
Ich sage: grösstentheils, weil es auch in Russland bereits Eta¬ 
blissements giebt, welche die durch sie verkauften Instrumente etc. 
in ihren Werkstätten auch wirklich fabriciren lassen. Das Schleifen 
optischer Gläser ist jedoch lediglich Sache des Auslandes, und da 
diese Gläser zollfrei, oder, wenn verzollt, mit einem verhältnissmässig 
sehr geringen Zoll belastet, nach Russland eingeführt werden, so 
lohnt auch kaum die Einführung einer Industrie, in welcher man 
voraussichtlich immer dem Auslande nachstehen würde. Der Sitz 
der hervorragendsten Etablissements zur Herstellung physikalischer, 
optischer und mathematischer Instrumente befindet sich in den Uni- 
versitätsstädtenRusslands, vorzugsweise in St. Petersburg, Moskau und 
Warschau; unter diesen Etablissements giebt es viele, welche 20 — 
30 Arbeiter regelmässig beschäftigen. Die Vielseitigkeit der Pro¬ 
duction einzelner Etablissements ist deren Schwäche und trägt die 
Schuld, dass sich die Kräfte zersplittern und wenig wirklich Her¬ 
vorragendes geleistet wird. In neuerer Zeit scheint man dies eiiv 
zusehen und mit Ernst diesen auf die Wissenschaft nicht einflusslosen 
Uebelstand beseitigen zu wollen. Russland hat es in der That schon 


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dahin gebracht, seine Specialisten aufvveisen zu können» So gilt 
Herr Georg Brauer , früher Mechaniker der Pulkowaer Sternwarte, 
als einer der bedeutendsten Specialisten für astronomische Instru¬ 
mente, nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa. Wäre er 
nicht für die wissenschaftlichen Institute Russlands der Art in An¬ 
spruch genommen, wie es wirklich der Fall- ist, so würden seine 
trefflichen Fabricate allenthalben die weiteste Verbreitung finden. 
F. Mielck in St. Petersburg ist wiederum Specialist in Augengläsern, 
namentlich zur Heilung kranker Augen;* Karl Votkey stellt haupt¬ 
sächlich nur optische Instrumente, namentlich grössere und kleinere 
Ferngläser, Operngläser etc. her, die mit Ausnahme der Gläser 
selbst • in allen ihren Theilen vollständig aus dem Etablissement des 
genannten Herrn hervorgehen. W. F. Beilstein (Firma A. Sperling 
et W. Beilstein) in St. Petersburg ist wiederum Spccialist in geodä¬ 
tischen Instrumenten, während J. IV. Woronzow- Weljaminow in 
Warschau sich die Anfertigung aller Gattungen von Waagen (Balan¬ 
cewaagen wie Decimalwaagen) zum speciellen Feld seiner Thätigkeit 
gewählt hat Die St. Petersburger Filiale des bekannten Berliner Hau¬ 
ses Siemens & Halskc arbeitet ganz allein nur für das Telegraphen¬ 
fach. Der Leistungen des Herrn F. Schwabe in Moskau, Geriith- 
schaften flir Operationen und andere medicinische Zwecke, grössere 
physikalische Apparate und Modelle für industrielle Etablisse¬ 
ments, wurde bei früheren Gelegenheiten schon gedacht. In wissen¬ 
schaftlicher wie technischer Beziehung ist der hier erwähnte Indu* 
striezweig von hoher Bedeutung, und dass sich derselbe in Russland 
so entwickeln und ausbilden kann, wie es factisch geschieht, darf 
unbedingt als Zeichen des Fortschrittes nicht nur auf industriellem, 
sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiete angesehen werden. 
Wenn dennoch für mehr als für 600,000 Rbl. physikalische, optische, 
mathematische und denen verwandte Apparate und Instrumente und 
Instrumententheile nach Russland importirt werden, so thut dies dem 
nachgewiesenen Fortschritt keinen Eintrag, sondern beweist nur, 
dass die heimathlichen Kräfte nicht ausreichen, den sich immer stei¬ 
genderen Bedarf, welcher speciell auch als Beweis der Steigerung des 
Fortschritts auf wissenschaftlichem Gebiete angesehen werden kann, 
zu decken. 

Die in Moskau ausgestellten musikalischen Instrumente, namentlich 
Fortepianos , geben uns auch durchaus kein richtiges Bild der Fort¬ 
schritte, welche diese Industriebranche in den letzten Jahren in Russland 
gemacht hat. Es soll damit durchaus nicht angedeutet werden. dass 


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die dort ausgestellt gewesenen Flügel und Fortepianos nicht den 
Erwartungen entsprochen hätten. Ich habe schon früher darauf hin¬ 
gewiesen, dass dieMoskauer Ausstellung nicht den Zweck verfolgte, 
ein Bild der gesammten russischen Industrie zu bieten. In der mu¬ 
sikalischen Abtheilung fehlten die Erzeugnisse der hervorragendsten 
Etablissements Russlands. 

Dass die Fortepiano-Fabrication in Russland bedeutende Fort¬ 
schritte gemacht hat, beweist schon der Umstand, dass trotz des 
sehr, gesteigerten innern Bedarfs der Import ausländischer In¬ 
strumente durchaus nicht im gleichen Verhältnisse wächst, wie der 
allgemeine Verbrauch derselben. So wurden im Jahre 1870 nur 1312 
ausländische Fortepianos nach Russland importirt, was wohl eine 
selbst nicht unbedeutende Steigerung im* Vergleich zu den Vor¬ 
jahren zeigt, nicht aber eine solche, wenn man in frühere Perioden 
zurückgreift Russland besitzt nicht nur sehr leistungsfähige Eta¬ 
blissements, sondern auch solche, aus denen ganz vorzügliche Instru¬ 
mente hervorgehen. Die Becke /sehen Flügel sind z. B. weit und 
breit bekannt. Das Schröder s che Etablissement in St. Petersburg 
baut jährlich 2 50—270Instrumente im Verkaufspreise von ioo,oooRbl. 
und beschäftigt 90 Arbeiter. Seine Fortepianos sind in ganz Russ¬ 
land beliebt und haben auch bereits im Auslande Anerkennung ge¬ 
funden. Ich könnte noch eine ganze Reihe trefflicher Meister in 
St. Petersburg, Moskau und Warschau anführen, doch dürfte das An¬ 
geführte genügen, um den Beweis festzustellen, dass Russland in 
dieser Industriebranche sich mit Erfolg und ziemlich selbstständig 
entwickelt hat. Weit weniger ist dies hinsichtlich der Fabrication 
von Blasinstrumenten der Fall, für welche das Ausland noch immer 
ein sehr weites Absatzgebiet in Russland finden, wird. Die hier er¬ 
zeugten derartigen Instrumente, obgleich sehr solid und von gutem, 
haltbarem Ton, stellen sich in ihren Preisen so hoch, dass das weit 
billigere und kaum schlechtere ausländische Fabricat immerhin einen 
sehr umfassenden Absatz nach Russland finden wird. 

Von' den Pavillons, welche sich im zweiten Kremlgarten be¬ 
finden, verdienen nur noch der photographische und typographische 
spccielle Erwähnung. Ersterer enthält, obgleich mit einer besondern 
obern Galerie umgeben, im Ganzen der Quantität nach weniger, 
als man bei der Unmasse photographischer Anstalten in Russland 
erwarten durfte, dagegen entschädigte die Qualität. Von beson¬ 
derem Interesse sind die lebensgrossen photographischen Por- 
traits von J. R. Metschkowsky in Warschau. Wie bedeutend das pho- 

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tographische Institut des genannten Herrn ist, geht schon daraus 
hervor, dass derselbe jährlich für 40000 Rbl. Photographien liefert 
und 28 Hülfsarbeiter beschäftigt. Auch die Moskauer Photographen 
zeigten in ihren ausgestellten Portraits aller Grössen treffliche Lei¬ 
stungen. — Ein vollständig eingerichtetes photographisches »Atelier, 
ausgestattet mit allen nothwendigeii Hülfsapparaten und Präparaten, 
bildete den instructiven Theil dieser Abtheilung. 

Auch die typographische Abtheilung enthält recht interessante Würz¬ 
burger Schnellpressen mit dem vollständigen Apparat von Setzern, 
Druckern und Hülfsarbeitern, eine Schriftgiesserei, Hannoversche 
Druckfarben mit ihren guten und schlechten Eigenschaften, Berliner 
und Wiener Oelfarbendruck etc. etc. und sehr verschiedenartige Er¬ 
zeugnisse der Buchdruckörkunst. Höchst interessant ist die schon von 
der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung her bekannte Vi¬ 
trine der Expedition zur Anfertigung der StaaUpapiere , deren Inhalt 
mit den hervorragenden Leistungen dieses Etablissements in den ver¬ 
schiedenen Branchen des Kunstdruckes und der galvanoplastischen 
Herstellung von Formen und llautreliefs vollkommen harmonirt. 

Diese Expedition zur Anfertigung von Staatspapieren in St. Peters¬ 
burg ist nicht nur das bedeutendste Etablissement seiner Art in 
Russland, sondern auch in Europa, und hat es unter der umsichtigen 
und thätigen Leitung seines Directors, des wirklichen Staatsraths 
von Winbcrg, bereits im Gebiete des Kunstdruckes zu ganz unge¬ 
wöhnlichen Leistungen gebracht. Keinem andern ähnlichen Institute 
stehen aber auch so bedeutende Mittel zur Disposition, wie dem ge¬ 
nannten. Es ist mit einer Papierfabrik zur Anfertigung von Staats¬ 
und Dokumentenpapieren verbunden, deren innere Einrichtung so 
vollständig ist, dass man hier nicht die unbedeutendste Maschine ver¬ 
missen wird, welche die Technik im Interesse der Papierfabrication 
erfunden hat, obgleich ein grosser Theil des Papieres, namentlich 
das zu den Creditpapieren, noch mit der Hand gearbeitet wird. Bei¬ 
spielsweise will ich nur anflihren, dass, namentlich zur Anferti¬ 
gung von Stempelpapicr und dergleichen, zwei Papiermaschinen 
grösster Dimension in fortwährendem Betriebe stehen. Diese Pa¬ 
piermaschinen, von denen die eine das Maschinenpapier auch 
sofort leimt, geben auch zugleich das Wasserzeichen und stammen 
,wie die meisten andern Maschinen aus Rochedale in England. Die 
Expedition zur Anfertigung von Staatspapieren ist auch selbstver¬ 
ständlich mit einer gleich grossartig eingerichteten lithographischen 
Anstalt verbunden, deren Leistungen, wie gesagt, vollständig auf der 


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Höhe unserer Zeit stehen. Die Einrichtungskosten dieses ganzen 
Etablissements sind allerdings sehr erheblich und sollen sich auf 5 bis 
6 Millionen Rub. belaufen. Wenn diese Anstalt eben nicht einen ganz 
besondern, ohne grosse Opfer nicht zu erreichenden Zweck ver¬ 
folgte, würde die jährliche Production von 80 bis 120 Millionen Bo¬ 
gen div. Papieres kaum mit diesen enormen Einrichtungskosten im 
Verhältnisse stehen. Andererseits ist aber auch hervorzuheben, dass 
dieses Etablissement gewissermaassen zu einer Pflanzschule der rusj 
sischen Papicrfabrication geworden ist, indem sich dessen Directiori 
eifrig bemüht hat, alles Neue im Gebiete der Papicrfabrication zu 
prüfen, und dasselbe, wenn es sich bewährt hat, zum Gemeingute 
zu machen. 

Die Schriftgiesserei gehört zu denjenigen Industriezweigen Russ¬ 
lands, welche noch am wenigsten entwickelt sind, und welche den 
sich von Jahr zu Jahr erweiternden Consum an Lettern noch nicht 
zu decken im Stande sind, so dass noch grosse Quantitäten dieser 
letzteren aus dem Auslande bezogen werden müsspn. Das „Jahr¬ 
buch des Finanzministeriums“ führt für ganz Russland nur 10 Schrift- 
giessereien auf, von denen 7 mit 125 Arbeitern und einer Produc¬ 
tion im Werthe von 69080 Rub. auf St. Petersburg und 3 mit 
33 Arbeitern und für 20400 Rub. Productionswerth auf Warschau 
entfallen. Wenn auch diese .Angaben als veraltet heute keine vol¬ 
le Gültigkeit mehr l\aben mögen, indem neue Etablissements ent¬ 
standen sind,* andere ihren Betrieb erweitert haben, so weisen die¬ 
selben doch immerhin auf die Unzulänglichkeit der russischen 
Schriftgiesserei hin. Eine der bedeutendsten, und was Selbst¬ 
ständigkeit der innern Einrichtung anbelangt, wohl die erste 
Schriftgiesserei Russlands ist die im Jahre 1854 gegründete und 
auch auf der Moskauer Ausstellung vertretene von 0 . Lehmann in 
St. Petersburg. Diese Giesserei, die. heute einen Umsatz von ca. 
50000 Rub. erzielt, hat sich vorzugsweise auf die Herstellung 
russischer und überhaupt slavischer Schriften gelegt und besitzt 
vielleicht eine der vollständigsten Sammlungen davon. Sie 
producirt jährlich 4000 Pud' verschiedener Schriften, und. ste¬ 
hen bei ihr 16 Gussmaschinen in Verwendung. Mit einigen grös¬ 
seren Buchdruckereien z.B.der Akademie der Wissenschaften, des Se¬ 
nats, des Kriegsministeriums, des Ministeriums des Innern und der 
„Gesellschaft zum allgemeinen Nutzen* stehen kleinere Schriftgies- 
sereien in Verbindung. Ein recht bedeutendes Etablissement die¬ 
ser Art ist die Schrift-und Stereotypengiesserei derDruckerei der 

. n* 


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II. Abtheilung der Eignen Kanzlei Sr. Majestät .des Kaisers. Die 
älteste Schriftgiesserei Russlands ist die der Synodal-Druckerei 
in Moskau, welche namentlich für slaviscbe Schriften noch heute 
nicht ohne Bedeutung ist. Die übrigen Moskauer Schriftgies-' 
sereien sind gleich den Warschauern von geringer Leistungsfähig¬ 
keit. 

In keinem Lande giebt es wohl so viele Regierungsdruckereien 
wie in Russland. Nicht nur, dass fast jedes Ministerium und an¬ 
dere höhere Staatsinstitutionen ihre eigenen Druckereien besitzen, 
es befindet sich auch bei jeder Gouvernementsregierung noch eine 
solche. In früheren Zeiten, als sich die Privatindustrie noch 
nicht in so umfassender Weise dieses Industriezweiges bemächtigt 
hatte, fanden diese zahlreichen Regierungsdruckereien ihre Berech¬ 
tigung; heute sind sie aber nicht nur zum grossen. Theil schon 
ganz überflüssig geworden, sondern sie üben auch einen nach¬ 
theiligen Einfluss auf die Privatindustrie aus, ohne dass sie, mit 
wenigen Ausnahmen, der Regierung einen reellen Nutzen schaffen. 
Im Gegentheil würde diese letztere auf weit billigerem Wege 
zum Ziele kommen, wenn sie die erforderlichen Druckarbeiten der 
Privatindustrie überliesse. Neuerdings sind' daher auch schon 
einige Kronsbuchdruckereien, wiez.B. die des Finanzministeriums, an 
Private übergegangen. Als eigentliche und zu ihrer Existenz 
vollkommen berechtigte Staatsdruckerei ist. die oben erwähnte 
Druckerei der 2. Abtheilung der Eignen Kanzlei Sr. Majestät des 
Kaisers anzusehen, in welcher nicht nur alle Reichsgesetze und 
die Reichsgesetzsammlung, sondern auch noch alle sonstigen Ver¬ 
ordnungen, welche von dieser hohen Stelle ausgehen, und der 
allgemeine Codex der Reichsgesetzq in officieller Weise gedruckt 
werden. Wie bedeutend dieses Etablissement ist, geht daraus 
hervor, dass ihm 16000 Pud Lettern zur Verfügung stehen, dass 
es auf 14 Schnell- und 16 Handpressen arbeitet, ausserdem 
eine Lithographie und Chromolithographie besitzt, seine eigene 
Buchbinderei, Schlosserei, Schmiede und Tischlerei unterhält, die 
Pressen durch 3 Dampfmaschinen von 12 Pferdekraft in Bewe¬ 
gung gesetzt werden und an 300 Arbeiter regelmässige Be¬ 
schäftigung finden. Eine andere grosse St. Petersburger Drucke¬ 
rei von hervorragender Leistung ist die schon im Jahre 1711 
gegründete Typographie der Akademie der Wissenschaften, wel¬ 
che ebenfalls mit Dampf betrieben wird, auf 8 Schnell-und 12 
Handpressen arbeitet und 200 Setzer, Drucker und sonstige Ar- 


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beiter beschäftigt. Ünter den kartographischen Instituten Russ¬ 
lands ist neben dem der kriegstopographischen Abtheilung desK. Ge¬ 
neralstabes das auf der Moskauer Ausstellung ebenfalls ver¬ 
tretene Institut von A. A. Iljin in St. Petersburg hervorzuheben. 
Die Arbeiten des ersteren sind von ganz vortrefflicher Leistung; 
die von der kriegstopographischen Abtheilung ausgestellte neue Spe¬ 
cialkarte von Russland gehört zu den besten Producten der ganzen 
neueren (nicht bloss russischen) Kartographie. — Ohne mich in wei¬ 
tere Details einzulassen, will ich nur noch erwähnen, dass die erste 
Druckerpresse Russlands im Jahre 1553 in Moskau aufgestellt wurde 
und dass die* älteste der jetzt in Russland bestehenden Druckereien die 
des heiligen Synod in Moskau ist. Nach dem „Regierungs-An¬ 
zeiger“ gab es im Jahre 1869 im .ganzen russischen Reiche 363 
Buchdruckereien, 327 Lithographien, 413 Buchhandlungen und 221 
Lesecabinette und Leihbibliotheken. Davon entfielen auf St. Pe¬ 
tersburg 77 Druckereien, 93 Lithographien, 85 Buchhandlungen 
und 14 Leihbibliotheken; auf Moskau 57 Drukereien, 82 Litho¬ 
graphien, 90 Buchhandlungen und 16 Leihbibliothecken. Von den 
Provincialstädten hatten Warschau, Wilna, Shitomir, Jaroslaw, 
Kijew, Charkow, Riga etc. etc. die meisten derartigen Etablisse¬ 
ments aufzuweisen. 

Der dritte Kremlgarten enthält die hydraulische Abtheilung, drei 
Pavillons (No. 54—56), welche der Architectur und den ihr dienen¬ 
den Gewerbszweigen eingeräumt sind, und den historischen Pavillon, 
mit verschiedenen Portraits Peter’s des Grossen, seinem Wagen, 
Schlitten, Stuhl, Kleidern, Orden etc.; ferner mit Modellen, an wel¬ 
chen der grosse Reformator theils selbst gearbeitet hat, oder die 
wenigstens aus seiner Zeit stammen und mit andern Seltenheiten, 
welche sich auf seine Person und seine Geschichte beziehen. So 
hohes Interesse dieser Pavillon an und für sich auch bittet, so glaube 
ich doch mich um so mehr mit diesen flüchtigen Andeutungen be¬ 
gnügen zu können, als ich bei Besprechung der Moskauer Aus¬ 
stellung vorwiegend das wirthschaftliche Leben der Gegenwart im 
Auge habe, und daher jene Momente in den Vordergrund stellen 
muss, welche dieses Leben beeinflussen und ihm gewissermaassen 
eine bestimmte Richtung vorschreiben. 

Die obenerwähnte hydraulische Abtheilung bietet nicht nur eine 
reiche Sammlung yon Pumpen verschiedener Art und anderen 
Wasserhebungsmaschinen und Apparaten, sondern namentlich auch 
eine noch weit reichere Sammlung von Feuerlöschgeräthschäften 


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aller Art. Veranlassung hierzu boten die von mehreren russischen 
Feuerassecuranz-Gesellschaften und vom Ministerium des Innern 
ausgeschriebenen Preise für solche Geräthschaften eine Anregung, 
welche ihre Wirkung auch dieses Mal nicht versagte. Von Moskauer 
Fabrikanten sind es vorzugsweise die Herren G. List und Froom 
& Co. (letztere Firma wohl nur als Exponent und nicht als Fabrikant), 
welche in allen Branchen des Feuerlöschwesens in hervorragender 
/ Weise sich betheiligt hatten, während aus St. Petersburg das städti¬ 
sche Feuerlöschdepot die Ausstellung mit einer recht vollständigen 
Collection selbst fabricirter Feuerlöschgeräthschaften, welche von 
solider und gediegener Arbeit zeugen, beschickt hatte. -Die Dampf¬ 
spritze in verschiedenen Constructioncn (Aussteller die Herrei} 
Kraft, Kuksch, List), sowie die grossen leistungsfähigen Centri- 
fugalspritzen englischen und amerikanischen Systems waren nicht 
minder zahlreich vertreten, wie die verschiedensten gewöhnlichen 
Hand- und Hebelspritzen. Auch andere in das Feuerlöschfach ein¬ 
schlagende Fabrikate (namentlich Spritzenschläuche aus Gummi, 
Flachsgespinnst, Kopfbedeckungen fürFeuerlöschmannschaften etc.) 
waren vom In- wie Auslande in grösserer Anzahl ausgestellt worden, 
so dass diese Abtheilung zu einer der umfangreichsten und voll¬ 
ständigsten der Ausstellung zählt. 

Jedenfalls muss es als ein Zeichen des Fortschrittes und der Cul- 
turentwickclung angesehen werden, dass Russland dem Feuerlösch¬ 
wesen mehr Aufmerksamkeit zuwendet, als zeither, und dass cs 
Etablissements von Bedeutung besitzt (wie z. B. das oben genannte 
von G. List, das der Gebrüder Butenop in Moskau u. A.), welche 
den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit in die Erzeugung von Feuer¬ 
löschapparaten legen. Wenn auch in den Hauptstädten des Lan¬ 
des, namentlich in St. Petersburg, neuerer Zeit auch in Moskau, 
Odessa und Riga, die Feuerwehren recht gut und zeitgemäss orga- 
nisirt und mit Hülfsmitteln der verschiedensten Art, selbst mit 
Dampfspritzen versehen sind, so steht es doch in dieser Beziehung 
im Innern des Landes noch sehr schlecht, und es giebt selbst Städte 
(von Dörfern gar nicht zu reden), welche nur Caricaturen eines ge¬ 
ordneten und zeitgemässen Feuerlöschwesens aufzuweisen haben. 
Das Institut der ,freiwilligen Feuerwehren“, welches allenthalben 
schon so grosse practischc Bedeutung erlangt hat und dessen Nutzen, 
bei richtiger Organisation, über jedem Zweifel erhaben ist, hat sich in 
Russland noch nicht eingebürgert und ist kaum dem Namen nach 
bekannt. Eine Ausnahme hiervon machen die Ostseeprovinzen, 


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welche bereits vieler Orten ihre freiwilligen Feuerwehren besitzen, 
die sich auch dort schon trefflich bewährt haben. Ja es sind bereits 
Fälle vorgekommen, dass diese Feuerwehren ausserhalb ihrer Gou¬ 
vernements mit Erfolg thätig waren, so z. B. beim letzten grossen 
Brande in Dünaburg, zu dessen Bekämpfung man die Rigaer frei¬ 
willige Feuerwehr requirirt hatte. Das in dieser Beziehung gegebene 
gute Beispiel der Ostseeprovinzen scheint neuerer Zeit doch auf 
guten Boden gefallen zu sein und Nachahmung zu finden, denn in 
der Stadt Pskow (Pleskau) hat sich jüngst ebenfalls eine freiwillig^ 
Feuerwehr gebildet, was unbedingt dem Einflüsse der benachbarten 
Östseeprovinzen zu danken ist. Im Allgemeinen steht es aber 
namentlich auf dem Lande noch ungemein schlecht mit dem Feuer¬ 
löschwesen, und das Ministerium des Innern folgt nur einem Ge¬ 
bote dringender Nothwendigkeit, wenn es Anstrengungen macht, 
diese Verhältnisse zu bessern. So rasch wird das allerdings nicht 
möglich sein, da einerseits die Indolenz der Gemeindeverwaltungen, 
andererseits die landesübliche Bauart der Plolzhäuser, welche jedem 
ausbrechenden Feuer immer neue Nahrung bieten, die anerkennens- 
werthen Bestrebungen in dieser Richtung wenig unterstützen. Es 
dürfte sehr gerathen sein, dass für die Folge den Ziegelbauten mehr 
Eingang verschafft werde, wie bisher. 

Dass es Russland keineswegs an treulichen Baumaterialien fehlt, 
das zeigt die architektonische Abtheilung der Ausstellung. Vom be¬ 
hauenen und künstlich geschliffenen Marmor und Granit bis hinab 
zum gewöhnlichen Mauerziegel, dem Kalk und Cement finden wir 
mit Ausnahme der Bauhölzer, welche in der Abtheilung für Forst- 
cultur ihren Platz gefunden haben (s. o.), alle Baumaterialien ver¬ 
treten, deren verchiedene Arten in Russland Vorkommen. 
Marmorbrüche finden sich im Gouvernement Moskau selbst und 
zwar unweit des Dorfes Paganka, bei der Stadt Podolsk, und der 
Eigenthümer derselben, M. J. Filatjew, liefert jährlich für 30,000 
Rubel Marmorfabrikate als Tischplatten, Treppenstufen u. s. .w. 
Auch im Kaukasus, in Polen und in andern Theilen Russlands giebt 
es noch Marmorbrüche, während Finnland den schönen Granit lie¬ 
fert, der namentlich zum Baue der herrlichen St. Petersburger 
Quais, der Isaakskirche und anderer hervorragender Gebäude be¬ 
nutzt worden ist und der sich durch den feinen Schliff und die halt¬ 
bare Politur auszeichnet, die er annimmt. Kalk und Ziegel sind in 
den letzten Jahren sehr im Preise gestiegen, so z. B. Kalk von 30 
auf soRbl. perKubik-Faden, Ziegel auf ca. 18—20Rbl. perTausend. 


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Eigenthümlich haben sich in dieser Beziehung die Verhältnisse in 
Moskau gestaltet: Obgleich Russland nach dem „Jahrbuche des 
Finanzministeriums“ 2127 Ziegeleien für Mauersteine und 39 Dach¬ 
ziegel- und Thonröhrenfabriken besitzt, so zeigte doch die Umge¬ 
bung Moskaus einen grossen Mangel an Ziegeleien, so. dass in dieser 
Stadt die Mauerziegelpreise bis auf 40 Rubel pro Tausend stiegen. 
Dies hatte einerseits die Baulust sehr geschwächt, andererseits aber 
die Speculation so rege gemacht, dass plötzlich in der Nähe von 
Moskau eine grosse Anzahl x Ziegelbrennereien errichtet wurden, 
welche ihr Fabrikat nach Moskau sandten. Die Folge davon wy, 
dass die Ziegelpreise wiederum von 40 Rbl. auf 20 Rbl. fielen, 
ohne deshalb Abnehmer zu finden, da Bauuntemehmungen eine 
längere Vorbereitungszeit erfordern und nicht so rasch wieder 
aufgenommen werden konnten, als wie dies die billigeren Ziegel¬ 
preise gestattet hätten. Ueberhaupt liegt die Ziegelbrennerei in 
Russland noch sehr im Argen, und ist mit einem ganz unverhält- 
nissmässigcn Aufwand von Menschenhänden und Brennmaterial ver¬ 
bunden. Ziegelbrennereien mit Dampfbetrieb giebt es nur in der 
Umgebung von Warschau, wo auch bereits, wenigstens vereinzelt, 
die Hofmann’schen Rundöfen eingeführt sind. Diese Warschauer 
Ziegclbrcnnereien erzielen in Folge dieser Neuerungen bei gleichem 
Productionswerth ein Erspamiss an menschlicher Arbeitskraft um 
40 pCt., was bei rien gegenwärtigen auch in Russland hohen Ar¬ 
beitspreisen von grosser Bedeutung ist. Es wäre Zeit, dass sich 
Russland bestrebte, Erneuerungen einzuführen, die sich im Aus¬ 
lande bewährt haben, und daselbst die allerweiteste Verbreitung 
finden. 

Mehr entwickelt hat sich in den letzten Jahren in Russland die 
Cementfabrication, welche immermehr Boden gewinnt. Das „Jahr¬ 
buch des Finanzministeriums“ vom Jahre 1869 führt nur drei Ce- 
mentfabriken an, welche 260 Arbeiter beschäftigen und eine jähr^ 
liehe Production im Wertlie von 121,200 Rbl. liefern sollen. 
Dagegen waren auf der letzten St. Petersburger Manufactur-Aus- 
stellung neun Cementfabriken vertreten, welche jährlich ca. i 1 /« 
Millionen Pud Cement im Werthe von 381,000 Rbl. producirten und 
dabei 7 22 Arbeiter beschäftigten. Die grössten Cementfabriken 
giebt es in der Nähe von St. Petersburg und von Riga, in der Krim 
(Kertsch), in Polen (Gouvernement Piotrkow) und in Finnland 
(Gouvernement Njuland). Auch im Kaukasus steht eine Cement- 
fabrik im Betriebe, die ein recht gutes Fabrikat liefert. Russland, 


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vielmehr Polen, fängt bereits an Cement zu exportiren, obgleich 
dieser Export (rund 187,000* Pud im Werthe von 65,000 Rbl.) gar 
nicht im Verhältniss zum Import (über 1,200,000 Pud im Werthe 
von 600,000 Rbl.) steht. Man ersieht aber hieraus, dass Russland 
in allen Naturreichen Hülfsquellen besitzt, welche nur der Erschlies¬ 
sungharren, um belebend und fördernd auf die industriellen und com- 
merciellen Verhältnisse des Landes zu wirken. 

Die architektonische Abtheilung enthält aber nicht nur Collec- 
tionen von Bau- und andern zum Aufbau von Häusern etc. erforder¬ 
lichen Materialien, sondern 1 auch Gegenstände, welche zur innern 
Ausschmückung derselben gehören, namentlich Holzschnitzereien, 
Möblements, Broncefabrikate u. dgl. mehr. Die von russischen 
Meistern ausgestellten Möbel sind recht gut und solid, und man 
würde sie vielleicht in ihrer Holzarbeit sogar für ausgezeichnet 
eracht.en, begegneten sie nicht auf der Ausstellung der Concurrenz 
des Leipziger Hauses Franz Schneider das als Etablissement für 
Holzschnitzkunst sich eines europäischen Rufes erfreut und dessen 
Chef zu den bedeutendsten Vertretern in Sachen innern Kirchenbaues 
und in Beziehung auf Charactermöblirung von Schlössern und Villen 
gehört. 

Nächst Tischler- und. Bildhauer^rbeiten sind es vorzugsweise 
Broncefabrikate , welche diesen Theil der Ausstellung schmücken.* 
Obgleich von russischen Fabriken, so viel mir erinnerlich, nur die 
F. Chopin sehe (St. Petersburg) vertreten war, so konnten doch selbst 
die ausländischen Fabrikate den Erzeugnissen der genannten Fabrik 
gegenüber nicht aufkommen, so wähl was Kunst wie Technik anbe¬ 
langt. Die von derselben ausgestellten Leuchter, Lüster, Kande¬ 
laber, Büsten etc. in Goldbronce und Antique sind inderThat Meister¬ 
werke von nicht gewöhnlichem Werthe. Es muss hier noch hervor¬ 
gehoben werden, dass die St. Petersburger Broncefabrikation auf 
einen hoch entwickelten Standpunkt gelangt ist und der Pariser und 
Wiener Broncefabrikation ebenbürtig zur Seite gestellt werden kann. 
St. Petersburg besitzt Etablissements für diesen Industriezweig von 
hervorragender Bedeutung. Ausser der oben genannten Chopin- 
schen Fabrik sind es die Broncefabriken von Nicholls & Plincke (jetzt 
Colquhon — englisches Magazin), Moran, N. Stange, Hössrich 
u. a. Etablissements, welche der russischen Industrie zur hohen 
Ehre gereichen. Obgleich die Fabrik von Nicholls & Plincke sich 
auch mit der Fabrikation von Gebrauchsgegenständen befasst und 
eine der ersten war, welche die broncenen Schreibtischgarnituren 


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170 


auf dem Continente fabricirte, so ist sie nicht minder tüchtig im 
Gusse von Monumenten, Statuen etc. Das Nowgoroder Monument 
zur Erinnerung des tausendjährigen Bestehens des russischen Reiches 
stammt aus diesem Etablissement. Ebenso beschäftigen sich Chopin 
und Moran vorzugsweise mit der Erzeugung grösserer Stücke, 
Büsten etc., während N. Stange, Hössrich u. A. sich vorzugsweise 
auf die Fabrikation von Gebrauchsgegenständen, ajs Leuchter; Kande¬ 
laber, Lampen etc. gefegt und es in dieser Branche zu ganz aus¬ 
gezeichneten Leistungen gebracht haben. Die Moskauer Bronce- 
fabrikation steht der St. Petersburger bedeutend nach und auch die 
Warschauer kommt der letzteren nicht gleich. Im Ganzen besitzt 
Russland 17 Broncefabriken, welche zusammen eine jährliche Pro¬ 
duction im Werthe von ca. 1 */* Millionen Rubel liefern. Von diesen 
17 Fabriken fallen 11 auf St. Petersburg. 

Die vierte und letzte Ilauptabtheilung der Ausstellung befindet 
sich in demjenigen Thcil des Kremlgartens, der sich längs des Ufers 
der Moskwa hin zieht und umfasst die Marineabtheilung\ die Eisen - 
bahnabtheilung und die / Insstellung des Kriegsminisleriums , welche 
letztere sowohl in dem genannten Garten, als auf dem Kreml selbst 
untergebracht ist. Gewissermaassen als ein Anschluss an die Kriegs¬ 
abtheilung kann die Ssewastoppler Ausstellung gelten, welche sich 
• durch hübsche Decorirung besonders auszeichnet, und deren Aus¬ 
stellungsobjecte sich mehr oder weniger auf die Zeit der denkwür¬ 
digen Belagerung Ssewastopols beziehen. Namentlich die militäri¬ 
sche Krankenpflege ist reich vertreten, und nimmt ein ganzes 
Seitenschiff ein. Das gegenüberliegende enthält in natürlicher 
Grösse Modelle des Schanzen- und Minenbaues, wie solche während 
der Belagerung seitens der russischen Armee ausgeführt wurden. 
Eine Reihe Oelgemälde zeigt Darstellungen der bedeutendsten 
Schlachten des Krimkrieges und Ansichten von Ssewastopol selbst 
während und nach der Belagerung. Das grosse Mittelschiff endlich 
ist in ein Auditorium umgewandelt und zeiöhnet sich nicht nur durch 
die lebensgrossen Portraits des jetzigen Kaisers und der Kaiserin, 
und des Kaisers Nikolai I. nebst Gemahlin, sondern auch durch die 
Büsten und lebensgrossen Photographien aller Generale und Ober- 
officiere aus, welche in Ssewastopol während der Belagerung kom- 
mandirten oder die sich durch ihre militärischen Leistungen während 
dieser für ganz Europa denkwürdigen Zeit ausgezeichnet hatten. 
Das ganze. Arrangement entspricht dem Zwecke und findet mit 
Recht allgemeine Anerkennung. Das für den Besuch dieser 


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Abtheilung gezahlte Extra-Entree fliesst der „Gesellschaft zur Pflege 
verwundeter Krieger“ zu.* 

Die Abtheilung des Kriegsministeriums bietet ebenfalls des In¬ 
teressanten viel und ist mit grosser Sorgfalt geordnet. Die im 
untern Kremlgarten liegenden Räumlichkeiten werden grossentheils 
von der Militärintendantur und der Artilleriedirection in Anspruch 
genommen und sind bestimmt, die Anfertigung der Militärkleidungs¬ 
stücke practisch zu zeigen. Vom Weben der Leinwand angefangen, 
wird hier Alles gezeigt, was zur Herstellung der Körper- und Fuss- 
bekleidung des russischen Soldaten erforderlich ist. Maschinen, 
nicht nur Näh- und Zuschneidemaschinen, sondern auch solche zur 
Fabrikation des Schuhwerkes, stehen in vielseitiger Verwendung. 
In einem andern Theile dieser Abtheilung wird das Bohren und 
Abdrehen der Kanonenrohre, in einer dritten die Anfertigung von 
Munition etc. gezeigt. Der Hauptpavillon der obern Abtheilung 
(auf dem Kreml selbst; enthält dagegen eine historische Darlegung 
der Entwickelung des ganzen Militärwesens von den ältesten Zeiten 
bis auf den heutigen Tag. Von besonderem Interesse sind die 
Verbesserungen und neuen Erfindungen im Gebiete der Militär¬ 
bewaffnung Und des Artilleriewesens, wie sie sich im Laufe der Zeit 
herausgebildet haben. Nicht nur für den Militär, sondern auch für 
jeden Gebildeten ist diese Abtheilung in hohem Grade belehrend, 
und vielleicht noch nirgends hat man eine derartige Zusammenstel¬ 
lung in so grossem Maassstabe und so vollständig angetroffen, wie 
gerade hier. So sind von der alten Feldschlange an bis zur Mitrail- 
leuse unserer Tage alle Kanonengattungen in natura vorgeführt, 
deren man sich im Laufe der Zeit in der Armee bedient hat. Das¬ 
selbe gilt vom Infanteriegewehr. Ebenso wird die Uniformirung der 
russischen Armee seit Gründung stehender Heere bis auf den heu¬ 
tigen Tag durch lebensgrosse Modelle gezeigt, wie denn die ganze 
Abtheilung reich ist an historischen Erinnerungen der verschieden¬ 
sten Art. In Nebenpavillons und in Zelten sind die Einrichtungen 
von Militär- und Feldlazarethen, Feldkapellen, I^zarethwagen etc. 
ausgestellt. 

Der Marineabtheilung ist ein besonders grosser und schön ange 
legter Glaspavillon eingeräumt worden, der nach Schluss der Aus¬ 
stellung auch an seinem jetzigen Platz stehen bleiben und zur Auf¬ 
nahme eines Kunstmuseums bestimmt werden wird. Vor dem Ein¬ 
gänge in diesen Pavillon befindet sich der Vordertheil eines grossen 
' Handelsschiffes, hinter dem Ausgange der Mitteltheil einer Kriegs- 


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172 


corvette, beide mit vollständiger Einrichtung und Takelage, Kajüten 
und sonstigem Schiffszubehör. Der Centralpavillon selbst zeigt, 
namentlich durch Modelle, die ganze Entwickelung nicht nur der 
russischen, sondern auch der ganzen modernen Seeschifffahrt, ins¬ 
besondere aber die der russischen Kriegsmarine. Hier befindet sich 
auch das berühmte Boot Peters des Grossen ausgestellt, das von 
St. Petersburg zur Ausstellung nach Moskau geschafft wurde. Es 
wird von zwei Marinesoldaten bewacht. Wenn die russische Kriegs¬ 
flotte Peter dem Grossen ihr Entstehen zu danken hat, so hat sie 
dem Kaiser Alexander II. ihre vollständige Umwandlung und Wehr- 
haftmachung zu danken und in der Geschichte Russlands wird diese 
letztere von eben so grosser Bedeutung sein, wie das Werk Peters 
des Grossen. Russland wird wohl nich* den Anspruch erheben, zu 
den ersten Seemächten der Welt zu zählen, aoer das, was in den 
letzten Jahren für die Entwickelung und Reorganisation seiner 
Marine geschehen ist und auch jetzt noch geschieht,, macht es be¬ 
reits factisch zu einer sehr bedeutenden Seemacht. Die zahlreiche 
Panzerflotte, über welche Russland heute gebietet, ist das Resultat 
der Anstrengungen, welche die russische Regierung seit Beendigung 
des Krimkrieges gemacht hat, ein Resultat, das Russland voll¬ 
ständig befriedigen kann. Kein zweites Land hat in dieser Bezie¬ 
hung bessere Erfolge aufzuweisen. 

Weit weniger günstig stellt sich das Verhältniss in Bezug auf die 
russische Handelsflotte. Dieses grosse, von drei Meeren umspülte 
Land, hat es, trotz aller Anläufe, welche man hierzu genommen, 
noch nicht zu einer nationalen Handelsflotte gebracht, mindestens 
nicht zu einer solchen, die im Verhältniss zur Entwickelung seines 
Seehandels steht. Diesem Umstande ist es auch wohl hauptsächlich 
zuzuschreiben, dass sich dieser letztere durchaus nicht in dem Ver¬ 
hältnisse entwickelt, wie der durch den Ausbau des russischen Eisen¬ 
bahnnetzes immer mehr begünstigte Landhandel. Während letzterer 
sich im Jahre 1860 noch zum Seehandel wie 1:472 verhielt, hat sich 
heute das Verhqjtniss ungefähr wie 1 : 1 7 * gestellt. Bei dieser 
Sachlage ist es erklärlich, dass von den verschiedensten Seiten An¬ 
strengungen gemacht werden, um die Gründung einer nationalen, 
den commerciellen Verhältnissen Russlands entsprechenden 
Handelsflotte anzubahnen, Anstrengungen, die aber bis jetzt wenig¬ 
stens ohne jeden weittragenderen Erfolg geblieben sind. Dies 
muss um so mehr auflallen, als Russland das trefflichste Schiffsbau- 
material in jeder Beziehung zur Disposition steht und als sich das 


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Bedürfniss einer nationalen Handelsflotte in allen Kreisen fühlbar ge¬ 
macht l^at. 

Ausser Schiffsmodellen jeglichster Art, sowie zahlreichen Modellen 
von Häfen, Docks und anderen ähnlichen Etablissements und Hülfs- 
quellen der Seeschifffahrt zeigt die Marineabtheilung alle sonstigen 
Einrichtungsstücke von Kriegs- und Handelsschiffen. Sehr vollständig 
ist die Artillerieabtheilung vertreten, welche Schiffsgeschütze jeder 
Gattung und jeden Kalibers aufweist, darunter namentlich die neuen 
Hinterlader-Stahlkanonen, welche zum grossen Theil aus der renom- 
mirten Obuchow’schen Gussstahlfabrik in St. Petersburg, einem 
Etablissement von grosser Bedeutung und Leistungsfähigkeit, her- 
vorgegangen sind. Auch die Ishoraer Eisen- und Metallfabrik des 
Marineministeriums'hat eine reiche Collection ihrer Fabrikate aus¬ 
gestellt, welche sämfntlich die Bestimmung haben, dem Schiffsbau 
in irgend einer Weise zu dienen. Bemerkenswerth sind namentlich 
die dicken Eisenplatten zur Schiffspanzerung, welche den englischen 
Fabrikaten gleichberechtigt zur Seite gestellt werden können. 

. Nicht minder hat die Kronstädter Fabrik für Dampfschiffsbau 
(KpoHiuTa^TCKitt napoxoAHbift 3aBo;u>) mit einer reichen Sammlung 
ihrer Fabrikate die Ausstellung beschickt, namentlich mit Dampf¬ 
maschinen, Schiffskompassen, Dampfventilatoren, Schiffssamovars 
etc., wie denn mit einem Worte alle Maschinen, Apparate und 
sonstigen Einrichtungsstücke von Kriegsschiffen in grosser Vollstän¬ 
digkeit vertreten waren. Schliesslich sei noch erwähnt, dass das 
See-Medicinal- und Lazarethwesen, sowie auch die Einrichtung von 
Rettungsstationen für auf der See Verunglückte in der Marineabthei¬ 
lung' ihre Vertretung gefunden haben und dass diese Abtheilung im 
Allgemeinen zu den interessantesten Theilen der Ausstellung zählt. 

Die Schlussabtheilung bildet die dem Eisenbahnwesen eingeräumte. 
Bei der rapiden Entwickelung, welche das russische Eisenbahnwesen 
in den letzten sechs bis sieben Jahren aufzuweisen hat, darf es nicht 
Wunder nehmen, dass die in Rede stehende Abtheilung sowohl vom 
Auslande wie vom Inlande reich beschickt worden ist. Letzteres 
war namentlich seitens solcher Etablissements der Fall, welche sich 
mit der Beschaffung von Eisenbahnbetriebsmitteln, als Locomotiven 
und Waggons verschiedener Art und Klassen beschäftigen. Da ich 
noch Gelegenheit finden werde, in meinen detaillirteren Berichten 
auf die Eisenbahnabtheilung zurückzukommen, so begnüge ich mich 
heute mit diesen allgemeinen Bemerkungen und füge denselben nur 
noch hinzu, dass sich ein erheblicher Fortschritt im russischen 


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174 


Loqomotiven- und Waggonbau bemerkbar gemacht hat, was nament¬ 
lich auch von einigen Fabriken im Innern Russlands gilt, deren Lei¬ 
stungen auf der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung nicht 
gerade in einem sehr hoffnungsreichen Lichte erschienen. Dieser 
Fortschritt ist um so bemerkenswerther, als kaum zwei Jahre seit der 
letzterwähnten Ausstellung verstrichen sind. 

In Vorstehendem habe ich versucht, den Lesern ein übersicht¬ 
liches Bild, wenn auch nur in flüchtiger Skizzirung, von der Mos¬ 
kauer polytechnischen Ausstellung zu entwerfen. Wo sich mir 
Gelegenheit dazu bot, habe ich zugleich auch die weitern ein¬ 
schlägigen Culturverhältnisse Russlands besprochen, in so fern 
es sich nicht um Zweige des wirthschaftlicheu und industriellen 
Lebens Russlands handelte, deren Wichtigkeit ein noch näheres 
Eingehen in die specicllen Verhältnisse derselben erheischt. Letzteres 
zu thun, behalte ich mir namentlich in Bezug auf die Manufactur- 
branche und die Metallindustrie Russlands vor, nachdem ich in den 
nächsten Heften der „Russischen Revue“ die wirtschaftlichen und 
industriellen, überhaupt die Productionsverhältnisse des Kaukasus 
und des turkestanischcn Gebietes einer eingehenderen Besprechung 
unterzogen haben werde. 

Das bisher über die Ausstellung Mitgetheilte dürfte genügen, um 
auch Diejenigen, welchen es versagt war, Moskau zu besuchen, auf 
die hohe Culturbedeutung der dortigen Ausstellung aufmerksam zu 
machen. Mag diese letztere auch von mancher Seite weniger günstig 
beurtheilt worden sein, mögen sich namentlich in Russland selbst ein¬ 
zelne Stimmen haben vernehmen lassen, welche die ganze Ausstellung 
als verfehlt bezeichneten, so steht es doch auf der andern Seite fest, 
dass die dem ganzen Unternehmen zu Grunde liegende Idee eine 
erhabene und die zukünftige Culturentwickelung Russlands beein¬ 
flussende war, und dass diese Idee.durch die Ausstellung selbst im 
Grossen und Ganzen zur Ausführung gekommen ist. Wer die russi¬ 
schen Verhältnisse sowie die Schwierigkeiten kennt, auf welche diese 
Ausführung nothwendig in der Praxis stossen musste, kann der 
Ausdauer, Umsicht und dem unermüdlichen Eifer des Ausstellungs- 
comites nur die vollste Anerkennung zollen. Mag auch der materielle 
Erfolg den gehegten Erwartungen nicht entsprochen haben, so wird 
die diesjährige polytechnische Ausstellung in Moskau doch immer 
in der Culturgeschichte Russlands sich einen ehrenden Platz bewahren. 

F. Matthäi. 


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Mittheil unwert über den nenen Stadtgarten anf dem 
Admiralität^- nnd Petersplatze 
in St. Peters bürg. 


Gegenwärtig beschäftigt die öffentliche Meinung in St. Petersburg 
die Anlage eines Stadtgartens auf dem Admiralitäts- und Peters¬ 
platze. Während London, Paris, Wien und andere grosse Städte 
Europas in der neueren Zeit, neben der Verschönerung durch 
mannigfache Bauten, auch im Innern der Städte soviel als möglich 
durch Anlagen von Gärten fiir die Annehmlichkeit und Gesundheit 
der Bewohner gesorgt haben, hatte die stolze Kaiserstadt an der 
Newa bis vor nicht langer Zeit ausser dem, im regelmässigen Style 
angelegten Sommergarten, kaum andere nennenswerthe Localitäten 
in ihrem Innern aufzuweisen, welche dem Publikum im Sommer zum 
angenehmen Aufenthalte dienen konnten. Wohl waren schon vor 
langer Zeit die reizenden Newa-Inseln Kamennoi-Ostrow und Jelagin 
und auf der Südseite der Stadt Katharinenhof zu schönen Parks um¬ 
gewandelt worden, aber diese kamen, wie der Park des Forstcorps, 
der Park des Grafen Schuwalow in Pargolowo, die Kaiserlichen und 
Grossfürstlichen Parks in Strelna, Peterhof, Oranienbaum, Zarskoje- 
Sselo und Pawlowsk, nur dem nicht an die Stadt gefesselten Theil 
des Publikums zu Gute, welcher seinen Sommeraufenthalt in deren 
Nähe beziehen konnte. 

Das Gleiche gilt vom Botanischen Garten, dem Park des Ministe¬ 
riums des Innern und dem Gräflich Borch’schen Garten auf der Apo¬ 
theker-Insel, sowie dem Stroganow’schen Park in Tschernaja- 
Retschka und anderen zahlreichen grösseren Gärten in der weitern 
Umgebung St. Petersburgs, welche in der liberalsten Weise von den 
Besitzern dem Publikum geöffnet sind.. Bedeutenderes leistete die 
Stadtverwaltung vor etwas mehr als 20 Jahren durch die Anlage des 
Alexander-Parks auf der Petersburger Seite und des an Wassili-Ostrow 


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176 


anstossenden Parkes von Petrowsky für die iii jenen Stadtgegenden 
wohnende Bevölkerung. In den letzten Jahren endlich wurden theils 
durch Stiftung von Privatleuten, theils durch die Stadtverwaltung 
mehrere öffentliche Plätze von kleineren Dimensionen im Innern der 
Stadt zu Squares umgewandelt, die denn auch im Laufe des 
Sommers von Erwachsenen und Kindern fleissig besucht wurden. — 
Die bedeutendste Leistung der Art von Seite der Stadtverwaltung* 
zum Wohle des den Sommer hindurch in der Stadt bleibenden 
Publikums, ist aber die gerade jetzt m Angriff genommene Anlage 
des Admiralitäts- und Petersplatzes Zu einem grossen im Centrum 
der Stadt liegenden Garten. 

Die Idee dazu lebte wohl schon längere Zeit in manchem, für den 
Gesundheitszustand der Stadt besorgten Manne, — die Anregung 
zu dem jetzt zur Ausführung kommenden Unternehmen geht aber 
von dem Präsidenten des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins zu 
St. Petersburg aus, der an Allem, was den Gartenbau betrifft, den 
lebhaftesten Antheil nimmt und der auch das Interesse für diesen 
neuen Park überall zu wecken wusste. 

Schon im Frühlinge des Jahres 1871 brachte derselbe die wün- 
schenswerthe Umwandlung der beiden betreffenden Plätze in einer 
Sitzung des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins zur Sprache und 
der letztere setzte Preise für detaillitt ausgearbeitete Projecte zu 
diesem Zwecke aus. Das Interesse und der Wunsch zur baldigen 
Ausführung der Anlage dieses Gartens mussten bei der Zweckmässig¬ 
keit dieses Vorschlages schnell wachsen und so gelangte denn schon 
zu Anfang dieses Jahres, ein unter der Begutachtung des Präsidenten 
und des Vorstandes des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins in 
St. Petersburg vom Vicepräsidenten des gedachten Vereins ausge¬ 
arbeiteter Plan, zur Vorstellung und Allerhöchster Genehmigung.' 
Von den später eingehenden Concurrenzplänen ward der von dem 
Hofgärtner Ihrer Kaiserl. Hoheit der Grossfürstin Helene in Oranien- 
baum entworfene gekrönt. — Von Seiten der Stadtverwaltung 
sind gegenwärtig dje für die Anlage des Gartens nothwendigen 
Summen dem Kaiserlich Russischen Gartenbauverein zur Disposition 
gestellt worden, da dieser letztere die Ausführung des Gartens, 
mit Ausschluss aller Baulichkeiten, übernommen hat. Die Aus¬ 
führung der letzteren wird von dem Präsidenten der Bau-Abtheilung 
der Stadt und den daselbst beschäftigten Ingenieuren durchgeführt. 

Alle, die Anlage des Gartens betreffenden Gegenstände werden 
von dem Vorstande des Kaiserl. Russischen Gaitenbauvereina 


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177 


entschieden, der zu seinem Bevollmächtigten für Beaufsichtigung 
und Leitung der Anlage des Gartens den Vicepräsidentert des Ver¬ 
eins ernannt hat ' 

Der Flächenraum der beiden Plätze, die jetzt in einen Garten 
verwandelt werden sollen, beträgt 17,300 Quadrat-Faden (der Faden 
ä 7 Fuss engl.). Der Plan sollte die Aufgabe lösen, den vor der 
Admiralität liegenden, sehr langen aber verhältnissmässig schmalen 
Platz und den mehr quadratisch sich ausdehnenden Petersplatz, in 
Berücksichtigung der umgebenden grossartigen Baulichkeiten, und 
unter Schonung der vor der Admiralität liegenden Boulevards, 
ungefähr im Sinne der Pariser Champs Elysees, der Buttes de Chau- 
mont etc., in einen reizenden Stadtgarten zu verwandeln. Der lange 
und schmale Admiralitätsplatz erforderte wegen der Nähe der Ge¬ 
bäude eine gewisse Regelmässigkeit, die bei seiner geringen Breite 
aber schwierig herzustellen war. Gerade Wege und Alleen würden 
entweder eine grosse Einförmigkeit oder eine Menge Ecken und 
Spitzen im Geleite gehabt haben, die sich zur Bewegung grösserer 
Menschenmassen nicht eignen. Es ist in Folge dessen für den 
Admiralitätsplatz ein gemischter Styl, d. h. die Anlehnung von 
gleichartigen Partien von unregelmässiger Gestalt, an drei regel? 
massige Bassins mit Springbrunnen gewählt worden. Die letzteren 
liegen den drei Portalen des Admiralitätsgebäudes gegenüber und 
sollen durch ihre, 4—6 Faden hohen Wasserstrahlen das Ganze be¬ 
leben und angenehme Kühle in den heissen Sommertagen verbreiten. 
Auf dem Petersplatze wird gegenüber dem grossartigsten Gebäude 
der Stadt, der Isaakskirche, ein mächtiger, nur mit niedrigen Ge¬ 
wächsen undBlumenparterres geschmückterregelmässigerRasenplatz 
liegen, der die volle Ansicht jenes herrlichen Bauwerks gestattet. 
Daran wird sich bis zum Quai des Newastromes ein Garten in gross¬ 
artigem, natürlichem Style anschliessen, der auch das Petersdenkmal 
umfassen und auf der. nordöstlichen Ecke zu einem Hügel an¬ 
schwellen wird. Der ganze Garten auf dem Isaaks- und Petersplatze 
wird durch keinen Fahrweg, wohl aber durch geschlungene Wege 
durchzogen, welche, um dem Publikum genügend Platz zu gewähren, 
eine Breite von drei Faden erhalten sollen. Die Oberfläche des 
Bodens wird zur Hebung des Effektes so viel als möglich wellig be¬ 
wegt Für reizende Durchblicke nach der Alexander-Säule, nach 
dem in seiner einfachen Grösse majestätischen Denkmale Peter’s 
des Grossen, nach der Isaakskirche, sowie vom Garten aus nach 


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17 » 


dem Newastrome, wird die Bepflanzung dem Plane gemäss Sorge 
tragen. 

Die Bepflanzung selbst wird sich, um den Staub der Stadt abzu¬ 
halten, in dichterem Bestände rings um den Platz herumziehen. Die 
Wege werden theils durch die Gebüsche der Umpflanzung als 
kühle schattige Promenaden hindurch führen, theils werden sie als 
sonnige Promenaden fiir die kühlem Tage desFrühlings undHerbstes, 
über grüne Rasenplätze, bepflanzt mit einzelnen Exemplaren von 
Bäumen und Sträuchem, hinlaufen, immer wieder andere Perspectiven 
und Gruppirungen dem Auge bietend. Einzelne grössere schattige 
Sitzplätze werden als Sammelpunkte zum Spielen für Kinder dienen, 
und Bänke sollen in allen Theilen des Gartens den Müden zur Ruhe 
einladen. Der Garten soll aber nicht blöss aesthetisch schön und 
den Anforderungen der Gartenkunst gemäss eingerichtet werden, 
sondern er soll auch dem Gartenfreund zur Belehrung dienen. Es 
werden daher in demselben nicht nur alle im Klima St. Petersburgs 
noch ausdauernden Bäume und Sträucher, sondern auch die schönen 
perennirendcn Stauden zweckmässig dem Auge präsentirt und mit 
ihren Namen versehen werden. Um die speciellen Eigentümlich¬ 
keiten der für alle Gartenanlagc wichtigsten Holzgewächse mehr 
hervorzuheben, sollen dieselben entweder artenweise zu Gruppen 
vereinigt, oder einzeln auf den Rasenplätzen angepflanzt werden. 
Dabei soll es versucht werden, einzelne characteristische Partien zu 
bilden, wie z. B. eine Abtheilung des Gartens durch Anpflanzung der 
bei uns noch ausdauernden Nadelhölzer zu einem immergrünen 
Garten verwandelt werden soll, während in einer andern Partie die 
niedrigen Gebirgssträucher zusammengestellt werden u. s. f. 

Der Ausländer ist geneigt zu glauben, dass bei der hohen nordi¬ 
schen Lage St. Petersburgs unser Baumwuchs ein dürftiger sei und 
ist erstaunt, wenn er die alten hohen Bäume in der Umgebung der 
nordischen Metropole erblickt. Es ist nun eine längst bekannteThat- 
sache, dass die Physiognomie ganzer Florengebiete, sowie der 
Gärten, wesentlich durch die höheren Bäume bedingt wird. Aller¬ 
dings ist gerade die Zahl der Bäume, die in unserem Klima noch 
überdauern, eine viel geringere, als in dem westlichen Europa: die 
Buche, die Wintereiche, die italienische Pappel, die Trauerweide, die 
Edeltanne Europas und'die des Kaukasus, die Scheinakazie und viele 
andere ausgezeichnete Baum’förmen, überdauern in unserem Klima 
gar nicht oder doch nur in krüppelhaftem Zustande. Dennoch ist 
die Zahl der im St. Petersburger Klima noch gut gedeihenden 


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179 • 


Bäume doch weit bedeutender, als dies ein flüchtiger Einblick in die 
meisten unserer Gärten voraussetzen lässt. Deshalb gerade dürfte 
der neue Stadtgarten, wo alle bei uns aushaltenden Holzgewächse 
dem Gartenfreunde vorgeführt werden sollen, auch eine vortheil- 
hafte Einwirkung auf die Physiognomie der Gärten Russlands aus¬ 
üben. Eine kurze Anführung der allerdings nicht zahlreichen Bäume 
von mehr als 20 Fuss Höhe, welche im St. Petersburger Klima noch 
gut aushalten, dürfte daher auch für weitere Kreise Interesse haben 
und lassen wir eine Aufzählung derselben am Schlüsse dieses Artikels 
folgen. 

Als grösste Schwierigkeit traten der Anlage des Gartens die 
Bodenverhältnisse entgegen, indem der ganze, seit einer langen 
Reihe von Jahren gepflasterte Platz mit einer festen 1—2 Fuss hohen 
steinfesten Lage von Sand und Schutt überdeckt ist. Diese zu 
brechen und wieder zweckmässig anzulegcn oder mit dem Unter¬ 
grund zu vermischen, und das Anfahren von ungefähr 3000 Kubik- 
faden guter Erde, ferner deren Ablagerung in verschiedener Höhe 
je nach Baumgruppen und Rasenplätzen, sowie endlich die Anlage 
der Wege — alles Das muss der Anpflanzung vorausgetien. Es 
wird daher im günstigsten Falle die Anlage des Gartens erst im 
nächsten Frühjahre vollendet werden können. In den St. Peters¬ 
burger Tagesblättem berichteten einzelne Stimmen, dass man schon 
im nächsten Sommer im Schatten der zu pflanzenden Bäume werde 
wandeln können. 

Wohl werden alle Maassregeln getroffen werden, damit die Pflan¬ 
zungen so gut als möglich gedeihen, wohl wird man auch eine An¬ 
zahl grösserer alter Bäume zur Pflanzung verwenden, aber es dürfte 
doch wohl einige Jahre dauern, bis man im Schatten der heuen 
Anlage wird wandeln können. Deshalb besonders mussten die 
schon bestehenden, um das Admiralitätsgebäude führenden Boule¬ 
vards geschont werden, deren Mittelallee zu einem Reitweg ver¬ 
wandelt werden soll, an dem es im Centrum der Stadt bis jetzt ganz 
gefehlt hat. Da endlich Bäume und-Sräucher erst anwachsen 
fnüssen, bis der projectirte Garten seinem Zwecke vollständig ent¬ 
sprechen wird, so bildet auch die Anlage des Gartens selbst den 
ersten Theil der zu lösenden Aufgabe, der jetzt in Angriff ge¬ 
nommen wird: — der Bau einer zweckdienlichen, passenden Um¬ 
zäunung, die Construction der Fontainen etc. wird folgen, sobald 
die Administration der Stadt die zu diesem Zwecke erforderlichen * 
Summen der städtischen Bauabtheilung anweist. 

12* 


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i8o 

/ 

Die Baumpflanzungen werden in diesem Herbste beginnen und 
den ganzen Winter hindurch durch Pflanzung grosser Bäume mit 
Frostballen fortgesetzt. Diese letztere Art der Verpflanzung grösserer 
Bäume im Laufe des Winters passt besonders gut für unsere klimati¬ 
schen Verhältnisse und ist z. B. in dem Kaiserlichen Park von 
Zarskoje-Sselo schon seit einer Reihe von Jahren mit dein besten 
Erfolge angewendet worden. 

Aufzählung der im St. Petersburger Klima noch ausdauernden Bäume von 

20 bis 80 Fuss Hübe. 

Fichten . Die gemeine Fichte (Picea excelsa Lk.), die sibirische 
Fichte (Picea obovataLedb.), die nordamerikanische schwarze Fichte 
(Pinus nigra Lk.), die nordamerikanische weisse Fichte (Picea alba 
Lk.), die nordamerikanische Rothfichte (Picea rubraLk.). — Tannen . 
Die nordamerikanische Balsamtanne (Abies balsamea Mill), die sibi¬ 
rische Tanne oder die Pichte (Abies sibirica Ledb.) und Frasers 
Tanrfe aus Nordamerika (Abies Fraseri Lindl.) — Fahren. Die 
gemeine Föhre, welche mit der Fichte zusammen unsere Nadel¬ 
waldungen bildet (Pinus sylvestris L.), die Zirbelnuss oder sibirische 
Ceder (Pinus Cembra L.), die Weymuthskiefer Nordamerikas (Pinus 
Strobius L.). — Lärchen . Die gemeine Lärche (Larix decidna Mill) 
mit ihren zahlreichen Formen mit aufrechten und hängenden Aesten, 
welche als sibirische Lärche, europäische Lärche, Hängelärche be¬ 
kannt sind; die dahurische Lärche (Larix dahurica Turcz). — Birken. 
Die Birken sind die wichtigsten Bäume des Nordens und wirklich 
gedeiht auch die Birke bei uns zu ausserordentlicher Schönheit, wird 
aber in unsern Garten-Anlagen in zu grosser Menge gepflanzt, wes¬ 
halb sie in der Mehrzahl unserer Gärten nicht den schönen Effect her¬ 
vorbringt, den sie bei verständigerer beschränkterer Verwendung her¬ 
vorbringen würde. Die gemeine Birke (Bietula^ alba L.) ist gleich 
der gemeinen Lärche in vielen schönenFormen bekannt; die Formen 
mit den lang überhängenden Zweigen (B. alba pendula) und die 
mit geschlitztem Lapbe (B. alba dalecarlica) sind besonders 
schön. Die Papier-Birke (B. alba papyracea) und die pappelblättrige 
Birke (B. alba populifolia) sind Formen Nordamerikas, von denen 
die letztere unser Klima aber nicht erträgt. Andere bei uns noch 
ausdauernde baumartige Birken sind die dahurische Birke (Betula 
dahurica Pall.) und die hainbuchenblättrige Birke (B. lentaWllld.).— 
Erlen. Die gemeine Erle (A. glutinosa Willd.) und die graue Erle 


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(Ainus incana W.). Beide Arten sind auch in schlitzblättrigen 
Abarten verbreitet, welche schöner als die Stammarten sind. — Eichen. 
Von den zahlreichen Eichen-Arten Europas dauert nur die Sommer¬ 
eiche (Quercus pedunculata Wilid.) aus, welche bei uns noch grosse 
mächtige Bäume bildet. Von den Eichen Nordamerikas sind nur 
die rothe Eiche (Quercus rubra L.) und die Scharlacheiche (Q. coc- 
cinea Wangh.) halbhart, und erfrieren in kalten Wintern. — Wall - 
nussbäume. Der Wallnussbaum Europas hält nicht mehr aus, dagegen 
gedeihen noch zwei Arten Nordamerikas, nämlich der graugrüne 
Wallnussbaüm (Iuglans cinerea L.) und der schwarze Wallnussbaum 
(I. nigra L.). — Weiden . Die Baumweiden gehören zu den schönsten 
Bäumen der St. Petersburger Gärten und sind auch in zahlreichen, 
in Europa heimischen Arten vertreten. Die schönsten derselben 
sind die Lorbeerweide (Salix pentandraL.), die mandelblättrige Weide 
(S. amygdalina L.) nebst Abarten, die Bruchweide (S. fragilis L.), 
•die spitzblättrige Weide (S. acutifolia Wilid.), welche als Hänge- 

• weide sehr zu empfehlen ist, Rüssels Weide (S. Russeliana Sm.), die 
Silberweide (S. albk L.), von der vorzugsweise die Form mit silber- 
weiss glänzenden Blättern zu empfehlen ist. Weniger schön ist die 

, Saalweide (S. Caprea L.), doch besitzt dieselbe eine Abart mit her- 
unterhängendjeo Aesten, welche als harte Trauerweide dient. Von 

* den «Strauchweiden dient die Purpurweide (S. purpurea L.), hoch¬ 
stämmig gezogen, gleichfalls als Trauerweide. — Pappeln. Die 
Silberpappel (Populus alba L.) bildet mächtige Bäume mit unter¬ 
halb silberfarben glänzendem Laub, die Schwarzpappel (P. nigra L.) 
bildet bis 80 Fuss hohe Baumriesen, die sibirische Balsampappel 
(P. suaveoleus Fisch.), die lorbeerblättrige Pappel Sibiriens (P. lauri- 
folia Ledb.), die amerikanische Balsampappel (P. balsamifera L.), 
die dunkelgrüne Pappel (P. tristis Fisch.), die grossblättrige ameri¬ 
kanische Pappel (P. candicans Ait.), die Zitterpappel (P. tremula L.), 
von der eine Abart mit hängenden Zweigen als einer der besten 
unserer Trauerbäume zu empfehlen ist Alle diese Pappeln bilden 
schöne grosse mächtige Bäume. Die canadische Pappel (Populus 
canadensis Desf.) und die kantige Pappel (P. angulata Ait.), beide äus 
Amerika, erfrieren in kalten Wintern. — Rüstern oder Ulmen. Die 
gemeine Ulme (Ulmus campestris L.) und derTraubenrüster (Ulm. effusa 
Wilid.)erwachsen beide mit ihren zahlreichen Abarten zu hohenStäm- 
men in unserm Klima. In ausnahmsweise ungünstigen Jahren leiden 
sie aber durch den Frost. — Eschen. Die gemeine Esche (Fraxinus 
excelslor L.). Dieselbe bildet hohe Bäume, leidet aber, trotzdem 


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182 


sie noch um St. Petersburg wild wächst, in ausnahmsweise harten 
Wintern vom Frost. Die Form mit hängenden Zweigen, welche 
als Traueresche bekannt ist, hält nur auf besonders geschützten 
Orten aus. Die amerikanische Esche (F. americana L.) bildet etwas 
weniger hohe, aber schöne breite Bäume und ist noch unempfind¬ 
licher als die gemeine Esche gegen unsere Winterkälte. — Apfel¬ 
bäume. Der pflaumenblättrige Apfelbaum (Pyrus prunifolia Willd.) 
und der sibirische Beerenapfel (Pyrus baccata L.), beide aus Mittel¬ 
asien stammende Arten, sind, als im Frühjahr reich und vollblühend 
und im Herbst mit kleinen apfelartigen oder kirschenähnlichen rothen 
Früchten geschmückt, die reizendsten Zierden unserer Gärten. — 
Die Eberesche (Pyrus aucuparia Gaertn.), welche noch in den Wal¬ 
dungen um St. Petersburg wild wächst, ist gleichfalls durch Blüthen- 
schmuck und die rothen Beeren im Herbste ausgezeichnet. Beson¬ 
ders schön ist die Form mit hängenden Zweigen (P. aucuparia pen¬ 
dula). Pyrus Aria L. und die verwandten Arten bleiben bei uns. 
strauchartig. — Vom Dornstrauch wachsen einige Arten baumartig, 
so der sibirische Dorn (Crataegus sanguinea Pall.), der Scharlach¬ 
dorn Nordamerikas (Cr. coccinea L.). — Pftaumenbmirtf. Sauer¬ 
kirsche (Prunus Cerasus L.) nebst deren Abart mit gefüllten Blumen, 
die Traubenkirsche oder Faulbaum (Pr. Padus L.),- die virginische 
Traubenkirsche (Pr. virginiana L.), die spätblühende Traubenkirsche 
Amerikas (Pr. serotina Ehrh.) gehören gleichfalls in die Reihe 
unserer schönsten Bliithenbäume. — Akorrie. Der Bergahorn 
(Acer^platanoides L.), in ganz Europa heimisch, ist einer unserer 
schönsten Laubbäume und leidet nur auf freien Standorten in aus¬ 
nahmsweise harten Wintern, während der verwandte A. Pseudo- 
platanus nicht mehr aushält. Der weisse Ahorn Nordamerikas 
(Acer dasycarpum Ehrh.) bildet prächtige grosse Bäume, die auch 
in den härtesten Wintern nicht leiden. Der tatarische Ahorn (Acer 
tatarium L.) bildet harte halbhohe Bäume, der Zuckerahorn (A. 
saccharinum L.) und rothe Ahorn (A. rubrum L.) Nordamerikas 
leiden in harten Wintern. — Linden. Die Linden sind unsere 
geschätztesten Bäume zur Bildung von Alleen. Die verbrei¬ 
tetste Art ist unsere europäische Steinlinde (Tilia parvifolia Ehrh.), 
der sich die holländische Linde (T. platyphyllos Scop.) mit ihren 
zahlreichen Abarten und die amerikanische grossblättrige Linde 
(T. americana L.) anschliessen. — Rosskastanien. Diese gehören 
bei"uns zur Reihe der schönen Blüthenbäume, welche eine Reihe 
von Jahren auf geeignetem Standorte gut aushalten, oft zu grossen 


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schönen Bäumen erwachsen, dann aber einem ausnahmsweise harten 
Winter zum Opfer fallen, so die gemeine, aus Mittelasien stammende 
Rosskastanie (Aesculus Hippocastarium L.), sowie drei aus Nord¬ 
amerika stammende Arten mit gelben und röthlichen Blumen. 
(A. glabra Willd., A. lutea Wangh. und A. Pavia L.) 

Indem wir hiermit die Reihe der in St. Petersburg noch in unsern 
Gärten ausdauernden Bäume schliessen, bemerkeawir, dass wir 
deren Zahl noch bedeutend hätten vermehren können, wenn wir 
die vielen als Arten beschriebenen Formen von Linden, Weiden, 
Lärchen etc. als Arten hätten aufführen wollen. Immerhin giebt 
aber die obige Liste den Nachweis, dass auch ein Garten unterm 
6o° n. Br. noch eine grosse Mannigfaltigkeit von Baumformen bergen 
kann, zu denen eine vielmal grössere Zahl der mannigfachsten 
Blüthensträucher hinzutreten. 

Ausser deir halbharten Rosskastanien und anderen als zuweilen 
ganz abfrierend genannten Bäumen, bleiben in St. Petersburg 5z Arten 
harter Bäume, zu denen eine noch grössere Zahl von Formen der¬ 
selben treten. Dazu kommen noch ungefähr 3 50 Sorten niedriger und 
hoher Strauchgewächse, so dass im Ganzeh im St. Petersburger 
Klima noch 400 gute Arten von Holzgewächsen, nebst zahlreichen 
Formen derselben in den Gärten angepflanzt werden können, welche 
allgemeiner bekannt zu machen, eine schöne und wichtige Aufgabe 
des neuen Stadtgartens ist. 

E. Regel. 



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Der internationale statistische Congress zu 
St. Petersburg. 


Den auf dem internationalen statistischen Congresse im Haag 1869 
geäusserten Wünschen entsprechend, hatte Seine Majestät der Kaiser 
Alexander IL alsbald seine Genehmigung dazu ertheilt, dass die 
achte Session des Congresses in St. Petersburg stattfinde. Und 
wenn die politischen Verhältnisse Europas auch nicht gestatteten, 
dieselbe, dem herrschenden Usus gemäss, bereits zwei Jahre spater 
zu eröffnen, so wurde doch unter Allerhöchster Autorisation mit dem 
grössten Eifer dahin gestrebt, den Termin so kurze Zeit als nur 
eben möglich hinauszuschieben. Eine Vorbereitungs-Commission 
wurde gebildet, um das Programm für die bevorstehende Session 
zu entwerfen, und eine Organisations-Commission, um darauf nach 
dem Beispiele der früheren Sessionen alle sonst . erforderlichen 
Maassregeln zu treffen. 

„Um einen besonderen Beweis seiner Theilnahme für die Arbeiten 
des internationalen statistischen Congresses zu geben“, ernannte 
Se. Maj. der Kaiser Se. K. H. den Grossfürsten Konstantin Nikola- 
jewitsch , Präsidenten des Reichsraths und der Kaiserl. russischen 
geographischen und russischen archaeologischen Gesellschaften zum 
Ehrenpräsidenten der achten Session und den Minister des Innern, 
Generaladjutanten Timaschew zum wirklichen Präsidenten der Orga¬ 
nisations-Commission wie des Congresses, sowie zu Vicepräsidenten 
die Herren Staatssecretär Lobanow-Rostowski , Vorsitzender des 
statistischen Conseils und Gehülfe des Ministers des Innern, Gene¬ 
raladjutant Greigh, Vorsitzender des Manufactur-Conseils und Ge- 
hülfe-des Finanzministers und Wirkl. Staatsrath P. Ssetnenow, Director 
des statistischen Central-Comitös. 

Der Letztere wurde auch zum Präsidenten der Vorbereitungs- 
Commission ernannt, in welche die Wirkl. Staatsräthe Buschen , 
Wemadski , Weschnjakow und v. Thoemer; die Staatsräthe Wreden 


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und Kubmsin , der 'Collegienrath Wilson, der Geheimrath Wesse - 
lowski, ordentliches Mitglied und Secretär derKaiserl. Akademie der 
Wissenschaften und der Wirkl. Staatsrath Artemjew, Mitglied 
des statistischen Conseils im Ministerium des Innern als Mitglieder 
berufen wurden. Diese Commission entwarf das Programm der 
Fragen, welche einerseits dem aus den officiellen Delegirten der 
einzelnen Länder zu bildenden Vorcongress, andererseits den fünf 
Sectionen des allgemeinen Congresses vorgelegt werden sollten. 

Die schliessliche Feststellung desselben vollzog die Organisations- 
Commission. Dieselbe bestand aus 58 Mitgliedern und lud ausser¬ 
dem noch 31 andere Fachmänner zur Theilnahme an ihren Arbeiten 
ein. Das Bureau bildeten, ausser den genannten Präsidenten und 
Vicepräsidenten, folgende Herren: Generalmajor Forsch, Chef des 
topographischen Bureaus des Generalstabs; Generalmajor Maksche- 
jew, Professor der Statistik an der Akademie des Generalstabs, Beide 
Vicepräsidenten der ersten Section — Präsident war Herr Ssetne- 
now — ; Staatssecretäre Hagemeister, Senator, Präsident der zweiten 
Section; v. Buschen, Vorsitzender der statistischen Section der 
Kaiserl. geographischen Gesellschaft und Chef der statistischen 
Arbeiten im Finanzministerium; Dr. Johnson , Professor der Statistik 
an der Kaiserl. Universität zu St. Petersburg, Vicepräsidenten der 
zweiten Section; Weschnjakow, Vicedirector des Ackerbau-Depar¬ 
tements, Präsident der dritten Section; Generalmajor Jossa, Präsi¬ 
dent des Bergwerks-Conseils; Bergwerks-Ingenieur Dr. Chodnew, 
Mitglied der wissenschaftlichen Comit^s bei den Ministerien des 
öffentlichen Unterrichts und der Domänen, Secretär der Kaiserl. 
ökonomischen Gesellschaft, Beide Vicepräsidenten der dritten Sek¬ 
tion; Lamanski , erster Director der Reichsbank, Präsident der vierten 
Section; General-Lieutenant Shurawski, Vicepräsident des Verwal¬ 
tungsraths der grossen Gesellschaft der russischen Eisenbahnen; 
Ingenieur »der Wegecommunication v . Thoemer , Mitglied des statisti¬ 
schen Conseils und des Conseils des Finanzministers, Beide Vice¬ 
präsidenten der vierten Section; Senator Stojanowski, Präsident der 
Gerichtskammer des Cassationshofes, Präsident der fünften Section; 
Dr. Tagantzew , Professor der Rechte an der Kaiserl. Universität 
zu St. Petersburg, Vicepräsident der fünften Section; Maikow, 
Rajewski, Bock, Beamte im statistischen Central-Comitö, Secretäre. 

Die erste Section beschäftigte sich mit den Vorlagen betreffend 
die Organisation des Congresses, die Methodologie der Statistik, 
die Volkszählung und die medicinische Statistik; die zweite in 


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gleicher Weise mit den Bevölkerungsregistem und der Bevölke- 
rungsbewegung; die dritte mit der Statistik der Industrie und der 
Bergwerke; die vierte mit der Statistik des Handels und der Post; 
die fünfte mit den Vorlagen über Criminalstatistik. Genau dem 
entsprechend wurden auch die Aufgaben für die fünf Sectionen des 
Congresses selbst, bestimmt i 

Aus dem emsigen Zusammenwirken aller Commissionsmitglieder 
ging das grossartige Werk des Programms für die achte Session 
des internationalen statistischen Congresses hervor, dem eine lange 
Reihe von bezüglichen Abhandlungen inländischer und auswärtiger 
Congressmitglieder angehängt ist Dieses Werk, in Grossquart¬ 
format, enthält 74 Bogen Druck und 3 Bogen graphische Darstel¬ 
lungen. Ausserdem wurde auf Anordnung des Ministers des Innern 
unter der Dircction Ssemaiozus noch ein „allgemeiner Rechenschafts¬ 
bericht über die Arbeiten des internationalen statistischen Con¬ 
gresses während der Sessionen von Brüssel 1853, Paris 1855, Wien 
1857, London 1860, Berlin 1863, Florenz 1867 und vomHaag 1869“ 
abgefasst Dieses Werk umfasst bei gleichem Format 34 Bogen. 

Nach solchen eingehenden und gewissenhaften Vorarbeiten konnte 
die Organisations-Commission, konnte Russland getrost der achten 
Session des Congresses entgegensehen, welche inzwischen auf die 
Zeit vom 7. (19.) bis zum 18. (30.) August 1872 festgesetzt wor¬ 
den war. 

Aber auch in gesellschaftlicher Beziehung war die stets bewährte 
russische Gastfreundschaft bereit den Gästen den Aufenthalt nach 
Kräften zu einem so angenehmen wie möglich zu machen. Nicht 
nur der Kaiserliche Hof, sondern auch die beiden Hauptstädte des 
Reiches, Behörden und Privatgesellschaften wollten das Ihrige thun, 
urti ihre Sympathien für das grosse wissenschaftliche Unternehmen 
an den Tag .zu legen, das so ganz besonders geeignet ist, das Wohl 
der Menschheit practisch zu fördern. 

Andererseits durfte, als der Eröffnungstermin näher rückte, auf 
eine ziemlich bedeutende Betheiligung wie des In- so auch des Aus¬ 
landes gezählt werden. Am 6. (18.) August war bereits eine grosse 
Anzahl auswärtiger Congressmitgliedjer eingetroffen, die übrigen 
folgten im Laufe der Woche. Die Herren, welchen von der Grenze 
Waggons I. Classe zur freien Herfahrt zur Verfügung gestellt 
waren, wurden auf dem Bahnhofe von Mitgliedern der Organisations- 
Commission empfangen und in bestimmten Equipagen in ihre Quar¬ 
tiere geleitet, welche die Stadtverwaltung ihnen in den ersten Hotels 


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bereitet hatte. Eine Anzahl von Wagen stand hier auch während 
der ganzen Dauer des Congresses durch die Sorge der Organisations- 
Commission den Gästen zur beliebigen Disposition. 

Die Gcsammtzahl der Congressmitglieder belief sich schliesslich 
auf 636, so dass also die achte Session die besuchteste nächst der 
Florentiner ist, an der sich 751 Mitglieder, darunter 14 Russen, 
betheiligten, während in Brüssel nur 153, m Paris 311, in Wien 542 
Mitglieder versammelt waren, darunter, zum ersten Male, 3 Russen, 
in London 586 und in Berlin 477 mit je 13, im Haag endlich 488 
Mitglieder mit 10 Russen. .Die 636 Mitglieder des achten Con¬ 
gresses repräsentirten 32 Staaten und Länder aller Erdtheile mit 
Ausnahme Australiens und 17 Sprachen, und zwar kommen auf 
Russland 51 o Mitglieder. 

Deutschland 23 „ 

Deutsches Reich I Mitglied.— 'Dx.Meitzen, Geheimrath im Kaiserl. 
Statist Amt des Deutschen Reiches. *) 

Prcussen 9 Mitgl. — Dr. Engel , Geheimrath, Director des Königl. 
preuss. statist. Bureaus. 

Hamburg 3 Mitgl. — Dr. Vcrsmann, Senator. 

Mecklenburg-Schwerin 3 Mitgl.— Boccias, Obersteuerrath, Mitglied 
des statist. Bureaus; Faull\ Kanzleirath; Koehler> General 

Königreich Sachsen 3 Mitgl. 

Sachsen-Weimar 1 Mitgl. 

Sachsen-Coburg-Gotha 1 Mitgl. 

Baierni Mitgl.—Dr. Mayr, Prof., Chef des Königl. statist. Bureaus. 

Würtemberg 1 Mitgl. 

Dessau 1 Mitgl. — Dr. Engel. 

Grossbritannien 17 Mitgl. — Farr, Chef des statist. Departements 
für das Generalregister der«Geburten, Ehen und Todesfälle in 
England, Präsident der slatist. Gesellschaft zu London; Ham - 
mick , Secretär des Bureaus für das Generalregister, Mitglied 
der engl. Volkszählungs-Commission und Schatzmeister der 
statist. Gesellschaft zu London; Reader-Lack , Chef des statist. 
Bureaus im Handelsministerium. 

Oesterreich 15 Mitgl. — Dr. A. Ficker , Hofrath, Rath im Ministerium 
des öfifentl. Unterrichts; Weikard, Oberstlieutenant im öster¬ 
reichischen Generalstab. 


*) Die hier namentlich aufgeführten Mitglieder sind die offtcidlcn Ddegirten der 
resp. Staaten. 


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Amerika (Vereinigte Staaten) io Mitgl. — Barnes, ehern. Depar- 
temets-Chef im Staate New-York; Snow, Chef des Registers 
' der Geburten, Ehen und Todesfälle, Oberintendant der Volks¬ 
zählung im Staate ,Rhode-Island; Young, Chef des .Statist. 
Bureaus im Finanzministerium. * 

Italien io Mitgl. — Bodio , Professor; Dr. Castiglioni, Professor; 

Correnii, Parlamentsmitglied. 

Japan 9 Mitgl. 

Ungarn 7 Mitgl. — Hunfalvy, Prof, an der Universität Pest; Keleti, 
Chef des Statist. Bureaus. 

Belgien 6 Mitgl. — Quetelet , Präsident d. Statist. Central-Commission, 
Director des Königl. Observatoriums; Sauveur , Secretär der 
statist. Central-Comm., Director im Ministerium d. Innern, Chef 
des Cabinets des Ministers. 

Frankreich 5 Mitgl. — Block , Mitglied d. staats-ökonom'. Gesell¬ 
schaft; Caignon, Chef d. Handelsarchive im Finanzministerium; 
Levasseur , Mitgl. d. Instituts., Prof, im College de France; 
Worms , Prof, in d. Rechtsfacultät; Yvemes, Chef des statist. 
Bureaus im Ministerium der Justiz und der Culte. 

Niederlande 4 Mitgl. — Dr. v . Baumhauer, Chef der allg. statist. 

Abtheilung im Ministerium d. Innern; Dr. Vissering, Prof. d. 

- Staats-Oeconomie u. d. Statistik an d. Universität Leyden. 
Rumänien 3 Mitgl. — Lahovari, Abgeordneter in der gesetzgeb. 
Versammlung: Pencovitz, Chef d. statist. Centralamts, Mitglied 
und Secretär d. statist. Central-Comites. 

Schweden 3 Mitgl. — Dr. Berg , Chef d. statist. Central-Bureaus; 

Dr. Printzsköld, Revisions-Assistent im statist. Central-Bureau; 
Schweiz 3 Mitgl. — Bodenheimer, Staatsrath d. Canton Bern, Präs, 
d. schweizerischen statist. Gesellschaft; ‘Max Wirth, Director 
d. statist. Bundes-Bureaus der Schweiz; Dr. Muralt, Prof, zu 
Lausanne. 

Spanien 3 Mitgl. — Pascual de Villamar, Präs. d. Forst-Conseils, 
Mitglied d. statist. Conseils d. spanischen Akademie. 
Aegypten 2 Mitgl. — de Regny, Chef d. statist. Cehtral-Bureaus in * 
Aegypten; Ismail Bey, Director d. Observatoriums in Cairo. 
Brasilien I Mitgl. — v. Vamhagen, brasil. Gesandter in Wien, Depu- 
tirter d. brasil. Gouvernements. 

Dänemark 1 Mitgl. — Scharling, Prof. d. Statistik an d. Universität 
Kopenhagen, 


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Griechenland 1 Mitgl. — Mansolas , Director d. Statist. Bureaus in 
Griechenland. 

Norwegen 1 Mitgl. — Kiaer , Chef d. Statist. Bureaus in Norwegen. 
Portugal 1 Mitgl. — Vicomte de Figa?iilre, äusserordentl. Gesandter 
und bevollm. Minister in St. Petersburg. 

Serbien 1 Mitgl; — Jakschitch , Chef d. Statist. Abtheil, im Mini¬ 
sterium d. Finanzen. 

Costa-Rica 1 Mitgl. — Dr. Engel . 

Der aus diesen officiellen Delegirten und den. zum Bureau der 
Organisationscommission gehörigen Herren bestehende Vorcongress 
wurde Montag den 7. (19.) August um I Uhr im Ministerium des 
Innern von Herrn Ssemenow mit einer Anrede eröffnet, in welcher 
derselbe zunächst die Gäste im Namen der Russischen Regierung 
‘ bewillkommnete,ihnen für ihr Erscheinen dankte und die freudigste, 
in der uralten Sitte der Russen begründete Gastfreundschaft ver- 
hiess. Das für die Sitzungen des Vorcongresses von der Organi¬ 
sationscommission Vorgelegte Programm bestand aus folgenden 
Punkten: 1) Feststellung der während der*Session des Congresses 
zu beobachtenden Ordnung; 2) Prüfung des Berichts über den Aus¬ 
führungsmodus der vom Congress unternommenen international¬ 
statistischen Arbeit und überhaupt der wichtigsten auf diese Publi- 
cation bezüglichen Fragen; 3) Vorgängige Prüfung des Berichts über 
die.Organisation des Congresses; 4) Prüfung der verschiedenen Vor¬ 
schläge der Herren Mitglieder des Vorcongresses, welche sich auf 
die Arbeiten der achten Session beziehen. 

Bei der Bildung des Bureaus für den Vorcongress wurden auf den . 
Vorschlag des Herrn Ssemenow Herr Quetelet zum Ehrenpräsi¬ 
denten, die Herrn Engel und Farr zu thatsächlichen Präsidenten 
resp. Vicepräsidenten erwählt; auf Antrag der Gewählten wurde je¬ 
doch Herr Ssemenow in die Zahl der Präsidenten aufgenommen und 
ihm der wirkliche Vorsitz übertragen. Das Secretariat wurde aus 
den Herren Block, Dr. Mayr , Hammick und ' Wilson zusammen¬ 
gesetzt. 

Aus den Berathungen über das vorgeschlägene Reglement für 
die 8. Session ist der auf Antrag des Herrn Engel gefasste Beschluss 
hervörzuheben, dass nicht dife französische und die russische Sprache, 
wie Artikel 5 proponirte, die einzigen seien, deren die Mitglieder des 
. Congresses sich zu bedienen das Recht hätten, sondern dass die 
Redner die deutsche, die englische oder jede andere Sprache ge¬ 
brauchen könnten. Thatsächlich ist nachher in den geschäftlichen 


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Verhandlungen fast immer die französische Sprache aiigewendet, 
bei der Berichterstattung in den Plenarversammlungen für die rus¬ 
sischen Mitglieder jedoch der Bericht mehrfach ausserdem noch in 
russischer Sprache wiederholt worden. Im Uebrigen wurde die für 
die Session seitens der Organisationscommission vorgeschlagene Ge¬ 
schäftsordnung angenommen, nur dass auf Antrag des Herrn Engel 
die Frage vom Namenregister der Gewerbe in den Volkszählungs¬ 
listen aus der i. in die 3. Section verwiesen wurde. 

Ausser an diesem Tage hielt der Vorcongress resp. die Ver¬ 
sammlung der officiellen Delegirten noch am 8. (20.), 9, (21.), 11. 
(23.) und 12. (24.) Sitzung. Unter den Vorlagen, welche der allge¬ 
meinen Versammlung zu machen beschlossen wurde, ragen dieje¬ 
nigen hervor, nach denen einerseits die Collectivarbeiten der statis- 
'tischen Bureaus zum Zwecke einer internationalen Statistik fortzu¬ 
führen seien, und andererseits die Einsetzung einer permanenten Com¬ 
mission als nothwendig bezeichnet wurde. 

Inzwischen fand am 10. (22.) die feierliche Eröffnungssitzung des 
Congresses unter dem Vorsitze Sr. K. H. des Grossfürsten Ko?i - 
stantin Nikolajeivitsch in dem Saale der Adelsversammlung statt. 
Dieser prächtige, monumentale Raum war auf das Angemessenste 
eingerichtet und auf die geschmackvollste Weise ausge'schmückt. 
Am Architrav waren zwischen den korinthischen Säulenkapitälen 
die Namensschilder und Nationalfahnen aller Länder, von den rus¬ 
sischen .Fahnen eingcrahmt, in alphabetischer Reihenfolge ange¬ 
bracht. Die hintere Breitseite des Saales, die Wand hinter dem Prä¬ 
sidententisch, war ebenfalls mit einer internationalen Fahnen-Deco- 
ration geziert, auf deren bannerartigem rothem Mittelgrund die 
Worte standen: „Congres international destatistique. VTIIe session,“ 
während über den Portalen rechts und links davon die acht Sessionen 
einzeln chronologisch auf grossen Schildern verzeichnet waren. 
Die Kaiserliche Loge prangte in reichem Pflanzenschmuck. Der 
Fond des Saales war von den Congrcssmitgliedern, welche in Gala 
erschienen waren, in buntem Gemisch erfüllt. Die Galerien hatte 
ein zahlreiches auserlesenes Herren- * und Damenpublicum ein¬ 
genommen. 

Um 11 Uhr'erschien Se. K. H. der Grossfürst, gefolgt von 
den Mitgliedern des Bureaus der Organisationscommission und 
nahm, unter gegenseitiger Begrüssung, auf dem Präsidentensessel 
Platz, um die Eröffnungsrede zu verlesen, welcher langanhaltender, 
einmüthiger Beifall folgte. 


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Mit einem Hinweis auf die verschiedenartigen Grenzbestimmungen 
und Definitionen der Statistik, die zwar noch neuen Ursprungs, sich 
aber doch bereits das Bürgerrecht unter den selbstständigen Gruppen 
des menschlichen Wissens erworben habe, und auf die auseinan¬ 
dergehenden Ansichten über dieselbe beginnend, fuhr Se. K. H. fort: 

„Es fällt nicht mir zu, meine Herren, diese verschiedenen An¬ 
sichten vor Ihnen zu discutiren und Ihnen die meinige als eine 
Lösung zu geben; es sei mir aber gestattet, Ihre Aufmerksamkeit 
auf unbestreitbare Thatsachen zu lenken. Die Beobachtungen, 
welche sich auf den Zustand und die Bewegung der Bevölkerung 
beziehen; die Gesetze, unter denen Geburten, Todesfälle und das 
durchschnittliche Lebensalter stehen, vom Gesichtspunkte des Ein-' 
flusses, den sie auf die verschiedenen Bedingungen des politischen 
Lebens ausüben, betrachtet; die Ebbe und Fluth im öconomischen 
Wohlergehen, von demselben Gesichtspunkte angesehen; das Stu¬ 
dium der moralischen Phänomene, die sich inmitten der menschlichen 
Gesellschaft kundgeben — alle diese Fragen und noch viele andere, 
bilden sie nicht eine Sphäre der Forschung und des speciellen Stu¬ 
diums, die vollständig unabhängig von der Domäne des Physio¬ 
logen, des Oeconomisten, des Psychologen und des Historikers ist?^ 

Wenn die Statistik noch nicht die Entdeckung eines grossen uni¬ 
versellen Gesetzes gemacht hat, wie z. B. die Astronomie oder die 
Physik, so darf man ihr daraus einen Vorwurf nicht machen; mehr 
als eine Wissenschaft würde ihn mit ihr theilen. Ihre Untersuchungen 
sind noch zu neu, die Mittel der Forschung, über welche sie gebietet, 
sind weit entfernt, die ganze erwünschte Vollkommenheit zu bieten; 
das Feld ihrer Studien endlich hat nur sehr eng gezogene Grenzen 
und dehnt sich nur auf einen wenig beträchtlichen Theil der be¬ 
wohnten Welt aus. Vielleicht wird die Statistik in der Zukunft ihre 
Untersuchungen auf neue Phänomene des politischen und socialen 
Lebens ausdehnen, die bis jetzt noch von der wissenschaftlichen 
Prüfung unberührt geblieben sind; vielleicht — und man darf kaum 
daran zweifeln — wird die Statistik durch die Fülle der in andern 
Sphären des Wissens gesammelten Thatsachen und Gesetze belebt 
werden, und, Dank diesen Beziehungen, wird sie sich in eine Wissen¬ 
schaft verwandeln, deren Grenzen und Tragweite vorherzusehen 
heute noch unmöglich ist; doch darüber wird die Zukunft ent¬ 
scheiden; für jetzt hat die Statistik noch ein weites Gebiet urbar 
zu machen. 


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192 


„Sei die Statistik aber eine Wissenschaft, eine Kunst, oder nur 
eine Methode, unbestreitbar ist es, dass sie zumWohle der Menschheit 
besteht. Welches ist ihr Ziel?* Worauf sind die Anstrengungen Der¬ 
jenigen, die ihr ihre Kräfte gewidmet haben, gfrichtet? Herauszu¬ 
finden, unter welchen Gesetzen und Institutionen, unter welchen phy¬ 
sischen und ökonomischen Bedingungen das Wohl der Menschheit 
das vollständigste ist, die Quelle des Uebels zu ermitteln, welches 
die Menschheit in ihrem Fortschritt aufhält. Die Lehre des Weisen 
aus dem Alterthume: „Erkenne Dich selbst“ wird jetzt an die 
ganze Gesellschaft gerichtet. Aber noch mehr. Da der Mensch seine 
vollständige Entwickelung nur in einer organisirten Gesellschaft ge* 
winnen kann, zeigt sich die Statistik als der unerlässliche Bundes¬ 
genosse jedes Organs des politischen und socialen Lebens. Ich 
spreche nicht aus theoretischer Ueberzeugung, meine Herren, son¬ 
dern aus meiner persönlichen, durchaus practischen Erfahrung, 
welche ich als Präsident des Reichsrathes gemacht habe. Meine 
Eigenschaft als Seemann bietet mir hier einen Vergleich: den zwi¬ 
schen den Unterweisungen, welche uns die Statistik giebt, und den 
Leuchtthürmen. Wie könnte der Steuermann die Untiefen, die Klippen, 
den Schiffbruch vermeiden, ohne diese rettenden Feuer, welche 
Vom Ufer aus ihren schützenden Schein ihm zuwerfen? Freilich haben 
diese Leuchtthürme der Wissenschaft lange Zeit der Menschheit nur 
schwankend und unsicher geleuchtet. Indess hier, wie überall sonst, 
offenbart sich ein bestimmter Fortschritt: in diesem Augenblicke 
haben alle Regierungen den Werth der Statistik erkannt und scheuen 
nicht mehr die Mittel, die statistischen Einrichtungen zu verbessern, 
die Sphäre der Untersuchungen dieser Wissenschaft zu erweitern.“... 
„Die russische Regierung, die Ehre vollwürdigend, welche ihr durch 
den Empfang so vieler berühmter Repräsentanten der statistischen 
Wissenschaft und Praxis aus allen civilisirten Ländern der Welt zu 
Theil wird, betrachtet die gegenwärtige Session als ein Unterpfand 
für den zukünftigen Fortschritt der statistischen Wissenschaft in un- 
serm Lande. Der mündliche Austausch der durch die Erfahrung ge¬ 
sammelten Gedanken und Beobachtungen, das Band, welches 
die statistischen Institutionen des Auslandes mit denen Russlands 
sicher vereinen wird, die moralische Verpflichtung, die Beschlüsse 
des Congresses in Ausführung zu bringen — alles Dies kann in un¬ 
serem Lande nur der Sache der Statistik dienen und zu ihrer Ent¬ 
wickelung beitragen.“... 

„Erlauben Sie mir, meine Herren, die Hoffnung auszusprechen, 


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dass der Fortschritt der Statistik in Russland zugleich der der statis¬ 
tischen’ Wissenschaft im Allgemeinen sein wird. Die geographische 
Lage Russlands, die grosse Ausdehnung seines Gebietes, die Zahl 
seiner Bevölkerung geben den statistischen Untersuchungen in un¬ 
serem Lande ein besonderes Interesse. Die Bedingungen des poli¬ 
tischen und socialen Lebens in Russland bieten im Vergleich mit 
denen, die in anderen Ländern obwalten, mehr als eine Besonderheit 
dar. Diese Verschiedenheiten rühren theils von den geographischen 
Verhältnissen Russlands, theils von der kurzen Dauer seines politi¬ 
schen Lebens, theils endlich von den Eigenthümlichkeiten des Na- 
tionalcharacters her. 

Einerseits gewähren die durch die Statistik erforschten Phäno¬ 
mene in * keinem andern Lande Europas eine weniger complicirte 
Form als in Russland. Ein ausgedehnter Theil des Reiches ist von 
einer und derselben Race bevölkert, die sich zu derselben Religion 
bekennt; ganze Territorien, beinahe ganz der Städte entbehrend, 
werden von einer Landbevölkerung bewohnt, die in ihren Sitten und 
Beschäftigungen ganz gleichförmig ist; Regionen mit einer und der¬ 
selben Industrie, einer und derselben Arbeit, erstrecken sich über 
eine Menge Breiten- und Längengraden.^Dieselben characteristi¬ 
schen Merkmale können von den Wäldern des Nordens bis zu den 
Steppen des Südens getroffen werden. Es ist klar, dass statistische 
Nachweise, die unter diesen Bedingungen und in einem so grossen 
Maassstabe gewonnen werden, leicht zu analysiren sind, und dass es 
nicht schwer fällt, die beständigen und wechselnden Ursachen, 
welche den erforschten Thatsachen zu Grunde liegen, zu entdecken. 

Andererseits entbehren, die Erscheinungen des politischen und so¬ 
cialen Lebens in Russland keineswegs einer gewissen Mannigfal¬ 
tigkeit, die oft sogar sehr bedeutend wird. Da es innerhalb seiner 
Grenzen alle Kliniatc, alle Bodenformen in sich birgt, Ebenen'und 
Gebirge, Wälder und Steppen , eine Menge von Stämmen verschie¬ 
dener Racen, Glaubensbekenntnisse und Bildungsstufen, bietet Russ¬ 
land ein Forschungsfeld voll Interesse für den Demographen sowohl, 
wie für den Statistiker und Nationalökonomen. Der Erstere wird 
ein tiefes Interesse beim Studium des Einflusses finden, welchen die 
physischen Bedingungen der Racen auf die Gesetze der Bewegung* 
und der Zunahme der Bevölkerung, und die verschiedenen Grade 
der geistigen Entwickelung auf die Kundgebungen der moralischen 
Natur der Menschen ausüben. Ein nicht minder grosses Interesse 
wird dem an der Hand der Statistik forschenden Nationalöconomen 

*3 


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durch die Ungleichheit des Verhältnisses der Bevölkerung zum 
Boden, zwischen einer Bevölkerungsdichtigkeit, wie sie nur in ei¬ 
nigen Centraltheilen Europas gefunden wird, und dem äussersten 
Minimum schwankend, und durch die verschiedenen Arten mensch¬ 
licher Thätigkeit, .von der Viehzucht der Nomaden im Südosten 
und der Vogelstellerei und Jagd im höchsten Norden bis zur 
höchsten Kundgebung intellectueller und technischer Thätigkeit ge¬ 
boten werden. 

Die Regelmässigkeit, die systematische Ordnung und die Gleich¬ 
förmigkeit der statistischen Beobachtungen, die im ganzen Umfange 
Russlands und bei einer Volksmasse von 80 Millionen gesammelt 
werden, werden der Wissenschaft ohne Zweifel reiche und kostbare 
Materialien liefern und dazu beitragen, die Schlussfolgerungen der 
Statistik aufzuhellen und mehr als eine bestrittene und zweifelhafte 
Thatsache klar zu stellen. 

Indem ich mich diesen Betrachtungen hingebe, und fest überzeugt 
bin, dass Ihre Arbeiten zum Wohle der Wissenschaft und meines 
Vaterlandes beitragen müssen,* habe ich die Ehre, meine Herren, 
Sie im Namen der Regierung Meines erhabenen Bruders will¬ 
kommen zu heissen und die Session des Congresses für eröffnet 
zu erklären.“ 

Nachdem darauf das russischerseits gebildete provisorische Bu¬ 
reau einstimmig definitiv anerkannt worden, wurden der herrschenden 
Sitte gemäss aus der Zahl der officiellen Delegirten der hauptsäch¬ 
lichsten Länder noch folgende Herren zu Ehren-Vicepräsidenten ge¬ 
wählt: de Regny (Aegypten), Young (Amerika), Mayr (Baiem), 
Quetelet (Belgien), von Vamhagen (Brasilien), Scharling (Däne¬ 
mark), Meitzen (Deutschland), Levasseur (Frankreich), Farr (Gross- 
Britannien), Mansolas (Griechenland), Versmann (Hamburg), Correnti 
+ (Italien) Baumhauer und Vissering (Niederlande), Kiaer (Norwegen), 
A. Ficker (Oesterreich), Vicomte de Fiqanüre (Portugal), Engel 
(Preussen), Lahovari (Rumänien), 'Jakschitch (Serbien), Pascual 
de Villamar (Spanien), Berg (Schweden), Max Wirth (Schweiz), 
Keleti (Ungarn). Jeder einzelne dieser Namen wurde von dem üblich 
gewordenen Beifallklatschen der Versammlung begleitet, insonder¬ 
heit der des würdigen Nestors der Statistik, des Herrn Quetelet, der 
trotz seiner 77 Jahre die weite Reise nach St. Petersburg nicht ge¬ 
scheut hat, und die der Herren Engel, Farr und Max Wirth. 

Nachdem die Herren Farr, Levasseur und Engel, jeder in seiner 
Muttersprache, Sr. K. H. dem Grossfürsten Konstantin im Namen 


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der Versammlung ihren Dank für die Uebemahme des Ehrenpräsi¬ 
diums und ihre dadurch begründeten Erwartungen von der weit¬ 
gehenden Bedeutung dieser Session ausgesprochen hatten, schritt 
man zu der Erfüllung einer andern schönen Sitte des Congresses, 
nämlich der inzwischen verstorbenen Fachgenossen gemeinsam zu 
gedenken. Die Namen, denen diese collegialische Erinnerung ge¬ 
widmet wurde, sind Maestri aus Italien, Troinitzki aus Russland, 
Springer , Friedrich Stein und Valentin Strefleur aus Oesterreich, 
Sudemann aus Dänemark, Babbage aus England, Jules Licval und 
Schnitzler aus Frankreich und Ashenwald aus Deutschland. 

Nachdem Schluss der Sitzung um 12 V* Uhr hatten die auswär¬ 
tigen Congressmitglieder die Ehre, Sr. K. H. dem Grossfürsten per¬ 
sönlich vorgestellt zu werden. Unmittelbar darauf constituirten sich 
die einzelnen Sectionen in ihren Sitzungsräumen im Ministerium des 
Innern und bildeten ihre Bureaus, indem die provisorischen Präsi¬ 
denten und Vicepräsidenten bestätigt und ausseräem noch zu Ehren¬ 
präsidenten resp. Vicepräsidenten gewählt wurden in der i. Section 
die Herren Quetelet, Ficker und Kiaer , in der 2. die Herren Levassenr , 
Berg, Baumhauer, in der 3. die Herren Engel, Max Wirth , Ficker, 
Keleti, in der 4. die Herren Vissering y Block, Meitzen, Versma?in } 
Barnes und Hendricks (England), in der 5. Baumhauer , Yvembs 
und Mayr . 

Nachmittags versammelten sich die Congressmitglieder, zum Theil 
mit ihren Familien, — denn mehrere der auswärtigen- Herren hatten 
auch ihre Damen nach der nordischen Metropole mitgebracht — 
am Newa-Quai vor dem Marmorpalais zur ersten gemeinsamen 
Excursion. Es war die Einladung Ihrer Kaiserlichen Hoheit der 
die Kunst und Wissenschaft in so hervorragender Weise fördernden 
Grossfürstin Helene Pawlowna , welche sie Alle vereinte. Schon am 
Abend vorher hatte eine allgemeine Reunion im Michaelpalais statt¬ 
gefunden, dessen Gärten und Salons I. K. Hoheit allen Mitgliedern 
des Congresses und ihren Damen für vier Abende gastfrei zu 
öffnen die Liebenswürdigkeit hatte, nämlich für den 9. (21.), 
11. (23.), 12. (24.) und 16. (28.) August. Heute führte die Ein¬ 
ladung I. K. Hoheit nach ihrem Sommerpalais auf Kamenny-Ostrow. 
Vorher landeten die drei kaiserlichen Dampfer noch bei der Apo¬ 
theker-Insel, um dem botanischen Garten einen Besuch abzustatten. 
Von dem Oberbotaniker desselben, Herrn Dr. Regel, geleitet, nahm 
man mit allgemeinem Interesse von der Grossartigkeit und Mannig¬ 
faltigkeit dieses* berühmten Institutes Kenntriiss. Darauf folgte 

* * 3 # 


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bis zum Eintreten der Dunkelheit eine längere Fahrt auf dem aus- c 
gedehnten Netz der Mündungsarme des herrlichen Newa-Stromes. 
Als man dann vor dem Palais anlangte, prangte der Garten des¬ 
selben in prächtiger Beleuchtung; Festmusik empfing die Gäste. 
Nachdem an den in deft Sälen aufgestellten Buffets dem Magen sein 
Recht gegönnt war, wogte die Menge in den Gartenanlagen noch 
lange bei prächtiger Möndscheinnächt zwangslos gemüthlich umher, 
um schliesslich unter den angenehmsten Eindrücken die Rückfahrt 
nach der Stadt anzutreten. 

In gleicher Weise wechselten während der weiteren Dauer der 
Session Arbeit und Erholung ab. Am Tage fanden die Sitzungen 
statt, — bis zum 15. (27.) nur in den Sectioncn, dann am 16. (28.), 
17. (29,) und 18. (30.) ausserdem noch im Plenum und in der 
Delegirten-Versammlung —; Nachmittags und Abends war man 
gemüthlich vereinigt. Nur der Sonntag 13. (25.) und der Dienstag 
15. (27.) als russischer Feiertag waren officielle Ruhetage* und ganz 
zur Erholung bestimmt. Und diese Verpflichtung zur Unterbrechung 
der Arbeit war sehr heilsam, denn dieselbe ist im Uebrigen mit dem 
angestrengtesten Eifer betrieben worden, um die Aufgabe der Session 
zu erfüllen. Hielten doch selbst an den Reunions-Abenden am 
Michaelpalais einzelne Commissionen in abgelegenen Salons ihre 
Berathungen, und so manche Stunde der Nacht hat dem Tagewerk 
zu Hülfe kommen müssen. 

Für den Sonntag erwies Se. Majestät der Kaiser den Mitgliedern 
des Congresses die Ehre, sie mit ihren Familien zum Diner im 
Kaiserlichen Schlösse von Zarskoje-Sselo einzuladen. Um I V2 Uhr 
Mittags fand die Abfahrt per Extrazug statt. Auf dem Bahnhofe in- 
Zarskoje-Sselo bestieg man . die bereit stehenden Kaiserlichen 
Equipagen, welche die 300 Personen zählende Gesellschaft in un¬ 
absehbaren Schlangenlinien durch den weit ausgedehnten Ort in 
den Park führte, wo zunächst das Arsenal besichtigt würde. Die 
Reichhaltigkeit dieser historisch-wcrthvollen Sammlung, ihre syste¬ 
matische Ordnung und geschmackvolle architektonische Einrichtung 
fanden die allgemeine Bewunderung, welche ihr in äcr That auch 
der Fachmann nicht versagen kann. Ein zweites Mal wur.de dann 
Half gemacht, um in den Räumen der künstlichen Ruine de/i Dann- 
eckerschen Christus in Augenschein zu nehmen. Nach einer längeren 
Fahrt durch die schönen Anlagen des # riesigen Parks traf man 
gegen 4*2 Uhr bei dem Schlosse ein. . Bald darauf nahm das 
Diner seinen Anfang, dem in Vertretung Sr. Maj. des Kaisers, der 


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sich im Kreise seiner hohen Familie in der Krim befand, Sc. K. H. 
der Grossfiirst Konstantin Nikolajeuitsch präsidirte. Die ausgewähltc 
Versammlung, in d*em glanzvollen Raume des grossen Saales an 
drei langen Tafeln sitzend, gewährte einen prächtigen Anblick. Der 
erste Toast, von Sr. K. Hoheit ausgebracht,. galt Sr. Majestät dem 
Kaiser Alexander II. Nachdem die Kapelle die Nationalhymne 
gespielt hatte, erhob sich Se. K. Hoheit abermals, um ein Hoch den 
Souveränen und Chefs aller auf dem Congrcss vertretenen Länder 
zu widmen. Darauf erhob Herr Farr sein Glas auf das Wohl Sr. K. 
Hoheit des Ehrenpräsidenten des Congresses, und zum Schluss er¬ 
widerte Se. K. Hoheit mit einem Hoch auf diesen selbst. Nach Auf¬ 
hebung der Tafel verweilte der Grossfürst noch längere Zeit im 
liebenswürdigen Gespräch mit einzelnen Mitgliedern, während die 
Andern in der langen Reihe der Säle oder im Schlossgarten auf 
und ab wogten. Für die Damen war in einem besonderen Saale 
servirt worden. Um 6 l /2 Uhr brachten die Wagen die Gesellschaft 
nach-Pawlowsk, wo in den kunstgeschmückten Sälen des Palais der 
Thee eingenommen wurde. Nach einem schliesslichen Besuch des 
festlich illuminirten Vauxhalls, wo sich bei der Musik heute ein 
noch zahlreicheres Publikum als gewöhnlich eingefunden hatte, fuhr 
man um 8 3 /i Uhr wiederum mit einem Separatzuge in heiterer 
zufriedenster Stimmung heim. 

Ein gleich schöner Tag war der Dienstag, den das Programm 
zu einer Excursion nach Kronstadt und Peterhof bestimmt hatte. 

Um IO Uhr Vormittags steuerte man mit den beiden Kaiserlichen * 
Dampfern „Newa“ und „ünega“ stromabwärts. Bei Kronstadt ange¬ 
langt, kam ein anderer Dampfer und eine Bootflotille. unter Salut 
entgegen und brachte die Gäste an das Land. Hier wurden ihnen 
die Werfte und Docks gezeigt. Grosses Interesse erregte nament¬ 
lich die darauf folgende Umschiftung der imposanten Forts, welche 
den Eingang in die Newa schützen. Von hier aus wurde Curs 
nach Peterliof genommen, wo die Kaiserlichen Equipagen bereit 
standen, um die Gesellschaft in die Palais und in den Park zu den 
Wasserkünsten zu geleiten, deren Fähigkeit, mit den Versaillern an 
Mannigfaltigkeit zu rivalisircn, anerkannt ward. Um 8 Uhr Abends 
war man in St. Petersburg zurück. Frühstück und Mittagsmahl 
^ waren auf den Dampfern servirt worden. 

Diejenigen Mitglieder, welche diese Tour nicht mitmachten, 
folgten der Einladung,, der feierlichen Ceremonie beizuwohnen, unter 
der in Gegenwart Sr, K. H. des Grossfürsten Konstantin um i Uhr 


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der neue Monitor „Peter der Grosse“ vom Stapel gelassen wurde, 
ein zweithürmiges Fahrzeug mit Brustwehren, mit vier elfzölligen 
gezogenen Geschützen armirt. 

Montag den 14. (26.) Abends hatte der Yacht-Club dem Con- 
gresse ein anziehendes Fest bereitet. Als sich mit Sonnenunter¬ 
gang der Dampfer „Newa“, auf dem sich die Gäste mit ihren 
Damen befanden, dem im reichsten Flaggenschmuck prangenden 
Etablissement des Clubs näherte, kamen ihnen die Mitglieder des¬ 
selben in ihren mannigfaltigen Fahrzeugen entgegengerudert, um 
sie, nach seemännischer Begrüssung, zur Landungsbrücke zu gelei¬ 
ten, wo sie seitens der zahlreich versammelten Damen und Herren 
mit Tücherschwenken und Hurrahrufen bewillkommt wurden. Nach 
Besichtigung der reich ausgestatteten Docks des Clubs fesselte das 
interessante Schauspiel einer dreifachen Ruderwettfahrt bis zum Ein¬ 
tritt der Dunkelheit. Das Einziehen der Flaggen unter den Klängen 
des Zapfenstreichs und Abendgebetes signalisirte das Ende des 
Tagewerks. Während man in den innern Räumlichkeiten den Thee 
einnahm, entfaltete sich an den Gebäuden, im Garten und auf den 
Schiffen eine glänzende Illumination. Froher Tanz in den Sälen, 
gemüthlicher Verkehr im Freien hielt die heitere Gesellschaft bis 
spät in die Nacht zusammen, bis ein prächtiges Feuerwerk in später 
Stunde den Beschluss des hübschen, gastlichen Festes machte. 

Während die Mitglieder des Bureaus, die Präsidenten und Vice- 
Präsidenten am Mittwoch den 16. (28.) von Sr. K. H. dem Gross- 
fursten Konstantin im Marmorpalais zur Tafel gezogen waren, wurden 
die Anderen von der Gesellschaft der Newsky-Eisengiesserei festlich 
aufgenommen. Die mit drei Kaiserlichen Schraubendampfern ein¬ 
treffenden Gäste wurden vor der Fabrik von dem Directorium 
empfangen und sodann durch die zahlreichen Räume'derselben ge¬ 
führt, in denen die emsige Arbeit in ihren verschiedenartigen, gross¬ 
artigen Erscheinungen nicht verfehlte, die Aufmerksamkeit Aller 
auf sich zu ziehen. Nach dem offerirte die Gesellschaft ein ungemein 
luxuriöses Diner in einer besonderen Festhalle, bei welchem der 
Harmonie zwischen Wissenschaft und Industrie manch guter Toast 
gewidmet und der Dank der Gäste der reichen Gastfreundschaft 
St. Petersburgs gegenüber in aufrichtigen Worten und in allen 
Sprachen, selbst in der eigenthümlichen japanesischen Sangweise, 
ausgesprochen wurde. Am Abend war die letzte Reunion mit musi¬ 
kalischen Vorträgen im Michael-Palais. - 


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Donnerstag den 17. {29.) gaben die russischen Congressmitglieder 
den auswärtigen ein ’solonnes Mittagsmahl im Saale der Adelsver- 
sammlung. In herzlichen Reden wurde bei dieser Gelegenheit der 
Freude über die gegenseitige Annäherung-und den Freündschafts- 
bund Ausdruck gegeben, welche auf dem gemeinsamen Gebiete der 
Wissenschaft durch die Arbeiten der achten Session des Congresses 
und in gesellschaftlicher Beziehung durch die liebenswürdigste 
gastlichste Aufnahme, die Russland dem Auslande geboten, ge¬ 
schaffen seien. v 

In der sonst noch bleibenden freien Zeit verfehlten die Sehens¬ 
würdigkeiten der Residenz nicht, ihre Anziehungskraft auszuüben: 
die Kirchen, Paläste und öffentlichen Institute, wie die Eremitage, 
die Kaiserliche Bibliothek, das Museum der Akademie der Künste, 
das anatomische, zoologische und mineralogische Museum der 
Akademie der Wissenschaften, das der Berg-Akademie, das land- 
wirthscKaftliche Museum des Ministeriums der Reichsdomänen, das 
Irrenhaus u. a. Die betreffenden Behörden hatten den Zutritt, der 
dem allgemeinen Publikum um diese Zeit zum Theil nicht freizu¬ 
stehen pflegt, auf das Entgegenkommendste geöffnet. Der Ober- 
* polizeimeister General Trepow veranstaltete auch lauf dem Mars¬ 
felde ein Manöver der Feuerwehr —einer seiner vielen Schöpfungen, 
durch die er sich um das Wohl der Hauptstadt so sehr verdient ge¬ 
macht hat. 

In den drei allgemeinen Sitzungen am 16: (28.), 17. (29.) und 
18. (30.) statteten die Delegirten-Versammlung, die Sectionen und 
Commissionen ihre Berichte ab. Die einzelnen Anträge wurden 
fast alle, hier und da mit einigen Modificationen, angenommen. 
Neben dem Beschlüsse, die Collectivarbeit der statistischen Bureaus 
behufs,einer internationalen Statistik fortzuführen, ist die Einsetzung 
einer .permanenten Commission von ganz besonderer Wichtigkeit. 
Diese Commission wird aus den Mitgliedern gebildet, welche«mit der 
Vorarbeit für den Plan einer internationalen Statistik betraut sind. 
Die Länder, welche bei der Vertheilung der Arbeit für die inter¬ 
nationale Statistik nicht vertreten sind, haben das Recht, ihre Dele¬ 
girten für die permanente Commission zu ernennen. Präsident der 
Commission ist, von einem Congress bis zum andern, der Organisator 
der letzten Session; der Präsident ernennt seinen Secretär.. Die 
permanente Commission vereinigt sich wenigstens ein Mal zwischen 
zwei allgemeinen Sessionen des Congresses. % Sie hat die Aufgabe: 
a) Nachrichten über die Ausführung der Beschlüsse und derWünsche 


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des Congresses in den verschiedenen Ländern und über die Schwie¬ 
rigkeiten zu erbitten, welche die Verwirklichung dieser Beschlüsse 
und dieser Wünsche bietet — zu prüfen, ob diese Schwierigkeiten 
nicht eine Revision der angenommenen Beschlüsse begründen; 
b) die Gleichartigkeit der statistischen Veröffentlichungen in den 
verschiedenen Ländern zu betreiben, soweit es für die Gestaltung 
der internationalen Statistik nöthig ist; c) die Aufmerksamkeit der 
Organisations-Commission auf die Fragen zu leriken, welche in der 
folgenden Session zu besprechen sind, und an dem Programm dieser 
Session mitzuarbeiten; d) internationale.Untersuchungen auszuführen, 
um der Organisations-Commission der nächsten allgemeinen Session 
Berichte über den allseitigen Stand der Zweige der Statistik vorzu^ 
legen, auf welche sich die vorgeschlagencn Fragen beziehen; jeder 
Berichterstattung an die allgemeine Versammlung des Congresses 
über irgend eine Frage muss künftig eine internationale Unter¬ 
suchung vorhergehen; e) die internationalen Coliectivarbeiten in der 
Art derjenigen auszuführen, welche auf dem Congresse im Haag 
unternommen worden ist, und die Fragen zu entscheiden, welche 
sich auf die Ausführung dieser Arbeiten beziehen, sowie die Pro¬ 
gramme derselben festzustellen; /) die Redaction der Congressbe- # 
Schlüsse zu revidiren. 

„Diese Commission“, sagte Herr Levasseur in der Schluss¬ 
sitzung unter lauter Zustimmung, „wird in Zukunft den Arbeiten 
des Congresses einen Zusammenhang, eine Ordnung, eine Methode 
Verleihen, welche denselben bis jetzt fehlten. Durch die Vorarbeit 
dieser permanenten Commission werden die Fragen, welche Sie zu 
studiren haben werden, vielleicht immer klarer, immer weniger 
zahlreich vorgelegt werden, und wir werden vielleicht auch dahin 
gelangen, sie vollständiger zu erläutern.“ • , 

Mit Bezug auf den Beschluss, die „internationale Statistik“ be¬ 
treffen^ fuhr der Redner fort: „In zehn oder zwölf Jahren wird in 
diesen Ländern eines der grössten Denkmäler bestehen, welche uns 
mit einer noch nicht erreichten Sicherheit den Vergleich zwischen 
den productiven Kräften der Völker vorlegen werden, welche die 
Congresse der Wissenschaft errichtet haben werden. Ich wieder¬ 
hole es, dieses Werk wird ein durch den statistischen Congress der 
Wissenschaft errichtetes Denkmal sein, und der statistische Con¬ 
gress allein konnte es versuchen, dieses Denkmal zu errichten; 
keiner konnte .ihm Biesen Ruhm streitig machen, denn Keiner 
konnte das Werk unternehmen, das er unternommen Jbat“ (* 


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Den Vorschlägen der ersten Section entsprechend, wurde zunächst 
die Frage. der Volkszählung (Berichterstatter Herr Bodenheinter) er¬ 
ledigt und beschlossen, dass die allgemeinen Volkszählungen nament¬ 
liche sein und sich nur auf die „ortsanwesende Bevölkerung“ 
erstrecken sollen, d. h. auf die Gesammtheit der Personen, welche 
am Orte der Zählung im Augenblick derselben anwesend sind, aber 
weder auf die „Wohnbevölkerung“, noch auf die „wohnsitz- oder 
heimathsberechtigte Bevölkerung“. Die Zählungen sollen wenigstens 
ein Mal alle zehn Jahre vorgenommen werden, und zwar in dem 
Jahre, . dessen Zahl mit einer Null endigt. Die individuellen 
Bulletins müssen folgende Rubriken enthalten: Namen und Vor¬ 
namen des Individuums;.Geschlecht; Alter; Beziehung zum Haupte 
der Familie oder des Hauswesens; Civil- oder Ehestand; Geschäft 
oder Condition; Religion; Sprache; Kenntniss des Lesens und 
Schreibens; Abstammung, Geburtsort und Nationalität; gewöhnlicher 
Wohnsitz und Character des Aufenthaltes am Orte der Zählung; 
Blindheit* Taubstummheit, Blödsinn und Cretinismus, Wahnsinn. 

In Bezug auf Methodologie der Statistik wurde erklärt (Bericht¬ 
erstatter Dr. Schwade- Berlin): „Die Chefs der Bureaus und die 
Specialisten sind aüfgefordert, sobald als möglich der permanenten 
Commission des Congresses Diagramme und Kartogramme mit 
Auseinandersetzungen über das Verfahren vorzulegen, nach welchem 
sie entworfen sind. Die permanente Commission wird es auf sich 
nehmen, auf jedem Congresse eine Ausstellung von Diagrammen 
und Kartogrammen zu veranstalten, diese Proben zu prüfen und die 
Methoden zu empfehlen, welche sie als die besten erkennen wird.“ 

Von den Propositionen der Subsection für hygieinische unc( medi - 
cinische Fragen (Präsident Herr Dr. Middendorff) wurden die auf die 
physische Entwickelung des Menschen bezüglichen nach den Er¬ 
läuterungen d$s Herrn Dr. Bredow angenommen, dagegen ging 
man über den Bericht, betreffend eine Statistik der Cholera und 
Syphilis (Berichterstatter Herr Dr. Benezet) zur motivirten Tages¬ 
ordnung über, indem man erklärte: „Angesichts der zu geringen 
Zahl aus dem Auslände erschienener Aerzte spricht der Congress, 
ohne in eine gründliche Erörterung des von der Sanitäts-Commis¬ 
sion ausgearbeiteten Programms einzutreten, den Wunsch aus: i) die 
Aerzte und Statistiker, welche sich mit der Registrirung der Cholera- 
und Syphilisfälle beschäftigen, möchten so viel wie möglich das 
vorgeschlagene Programm zur Richtschnur nehmen und besonders 
möchten die russischen Aerzte 'die Anwendung desselben bei den 


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203 


in Russland so häufigen Choleraepidemien versuchen < und dem 
nächsten C«ngress einen Bericht vorlegen, welcher erklärt, bis zu 
welchem Punkt ihr Programm zur Ausführung gebracht werden 
kann; 2) auf dem nächsten Congress möchte sich eine grössere An¬ 
zahl von Aerzten der verschiedenen Länder vereinigen, um eine 
besondere Section für medicinische Statistik bilden zu können/* 

Auf den Bericht des Herrn Ssemenow gelangte endlich ein Anr 
trag der Herren tyuetelet und Maury zur Annahme, welcher für jedes 
Land die Errichtung einer bestimmten Zahl meteorologischer Stationen 
als wünschenswerth bezeichnet, um dem bereits zu Wasser befolgten 
Verfahren entsprechend, auch zu Lande in ausgedehnter Weise die 
bezüglichen Beobachtungen anstellen zu können. 

Auf den Antrag der zweiten Section wurde (Berichterstatter Herr 
Jahnson ) beschlossen, die Regierungen aufzufordern, überall wo es 
noch nicht existirt, ein Civilregister der auf die Bevölkerungsbewe¬ 
gung bezüglichen Thatsachen, ohne Unterschied der Confessionen, 
einzurichten und die betreffenden Erhebungen in bestimmter Form 
officiell zu veröffentlichen. Im Anschluss daran wurde ein durch 
Herrn Dr. Hüppe- Berlin vorgelegtes Specialregister adoptirt und 
ferner in Cönsequenz eines Berichtes des Herrn Körösi- Pest der 
Wunsch ausgedrückt, für die grossen Städte, wo eine ärztliche Be¬ 
sichtigung der Todten existirt, Daten über die Lage des Quartiers, 
die Dichtheit der Wohnung und den Grad des Wohlstandes zu sam¬ 
meln, unter Anwendung der Fragerubriken, welche von der Stadt 
Pest eingeführt sind. 

Die dritte Section hatte sich mit der Statistik der Industrie und 
der Bergwerke beschäftigt. In ersterer Beziehung (Berichterstatter 
Herr Dr. Engel ) ward für gut befunden, dass die grossen Unter¬ 
suchungen über den technischen, öconomischen (und socialen) Stand 
der Industrie wenigstens alle zehn Jahre und zwar in allen Ländern 
gleichzeitig zu wiederholen seien. Ausserdem müssten noch jähr¬ 
liche Erhebungen stattfinden, indess nur über die Zahl und die Art 
der industriellen Etablissements (Name der Eigenthümer, die Zahl 
der beschäftigten Arbeiter mit Angabe des Geschlechts und des 
Alters, Kinder unter und Erwachsene über 14 Jahren.) Die Erhe¬ 
bungsresultate seien regelmässig zu veröffentlichen, nachdem sie 
einer vorgängigen Prüfung der in den technischen Wissenschaften 
bewanderten Persönlichkeiten unterbreitet worden. Die Schlussreso¬ 
lution des Berichtes lautet: „Die Section, in dem Bewusstsein, dass 
die Statistik der Industrie auf das Programm des gegenwärtigen 


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203 


Congresses gesetzt worden ist, um den Arbeiten dieses Zweiges 
einen neuen und mächtigen Impuls zu geben und die.Arbeit der 
internationalen und vergleichenden Statistik der Industrie zu fördern, 
wünscht keineswegs die Vertagung dieser Arbeit, bis die beob¬ 
achteten Thatsachen gemäss den heutigen Resolutionen veröffent¬ 
licht werden. Im Gegentheil, sie jst der Meinung, dass diese Arbeit 
selbst mit den mehr oder weniger vollkommenen Materialien begonnen 
oder fortgesetzt werden müsste, welche schon vorhanden sind, und 
sie ist überzeugt, dass dieselbe allein durch dasFactum ihrer Existenz 
beständig vervollkommnet werden wird.“ 

Die Classification der Industrien wurde nach dem von Herrn An - 
drejew ausgearbeiteten Modell fixirt, und soll dasselbe der Jury 
der Wiener Ausstellung im Jahre 1873 zur Begutachtung vorgelegt 
werden. 

Hinsichtlich der Bergwerke stimmte man der seitens der betref¬ 
fenden Subcommission ausgesprochenen Ueberzeugung (Berichter¬ 
statter Herr Skalkowski , Kaiserlich russischer Bergwerksingenieur) 
bei, wonach die Bildung einer Statistik der Berg-Hütten und Salz¬ 
werke als eines Zweiges der industriellen Statistik nicht nur nicht dem 
Studium der allgemeinen Statistik der Industrie schade, sondern 
dass Specialuntersuchungen selbst für die Statistiken der andern 
grossen Zweige zu wünschen wären, welche sich besonders in tech¬ 
nischer Beziehung durch ihre Verwaltung und ihre speciellen Auf¬ 
lagen, so wie durch die sociale Lage der Bevölkerung unterscheiden, 
welche sich diesen Industrien widmet; es verstehe sich von selbst, 
dass der allgemeine Plan dieser Untersuchungen auf harmonischen 
Grundsätzen basirt sein müsse. Eine besondere Förderung dieses 
Zweiges der Statistik durch alljährliche genaue Berichte sei von 
Gross-Britannien zu erwarten, während für die Veröffentlichungen 
einiger spanisch-amerikanischen Republiken und Colonien eine 
grössere Regelmässigkeit zu wünschen wäre. 

Die auf das ’ Genaueste specialisirten verbesserten Programme, 
welche die vierte Section nach den Vorschlägen der Organisations¬ 
commission aufgestellt hatte, fanden ebenfalls unveränderte An¬ 
nahme, sowohl das fiir die Statistik des auswärtigen Handels (Be¬ 
richterstatter Herr Thoemer ), wie das fiir eine Classification der 
Waaren (Berichterstatter Herr Caignon),' wie endlich dasjenige einer 
Statistik der Posten (Berichterstatter Herr Poggenpohl , Sectionschef 
im russischen Postdepartement). Die Frage der Eisenbahnstaüstik 


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204 


wurde auf Antrag des Herrn Vissenng der besonderen Aufmerk¬ 
samkeit der Organisationscommission für die neunte Session des 
Congresses empfohlen. 

Den Vorschlägen der fünften Section gemäss wurde die Frage der 
Criminalstatistik erledigt, und zwar zunächst die allseitige Einfüh¬ 
rung einer regelmässigen und übereinstimmenden Registrirung der 
bezüglichen Daten, am besten einer namentlichen, als unerlässlich 
bezeichnet. Dabei seien besondere Berichte über jede Angelegenheit, 
für alle Uebertretungsfälle und mit Bezug auf alle Phasen des Pro- 
cesses, zu liefern, sowie namentliche Berichte über, die characteristi- 
schen .Merkmale der in wichtigen Fällen angeklagten Personen. 
Der Bericht des Herrn Yvernes über das System der französischen 
„casiers judiciaires“ hatte zur Folge, dass die durchgängige Einrich¬ 
tung derselben oder auf Grund der Constatirung des Rückfalls ge¬ 
druckter, periodischer Register als wünschenswerth erachtet wurde, 
dergestalt, dass das Studiurii des Rückfalls in seinen Beziehungen zu 
dem Besscrungsregime möglich werde. Die Frage dieser Beziehungen 
selbst wurde der nächsten Session Vorbehalten. Schliesslich wurde 
das Namenregister der Verbrechen festgestellt (Berichterstatter 
Herr v. Sterlich- Neapel — und Herr Dr. Tagantzi 

In der Schlusssitzung, welcher wieder am 16. (28.) der Fürst Lo* 
banow-Rostowski präsidirte, während in der am 17. (29.) der General 
Greigh den Vorsitz führte, wurde noch der Argentinischen Repu¬ 
blik die Genugthuung des Congresses über ihre Fortschritte in der 
Statistik und allen grossen amerikanischen Republiken gegenüber 
der Wunsch ausgesprochen, sie an den zukünftigen Sessionen theil- 
nehmen zu sehen. Ebenso wurde Japan und den anwesenden Japa¬ 
nesen; welche sich bemühen wollen, die Statistik in ihrem fernen 
Lande einzuführen, eine öffentliche Aufmunterung zu Theil. Ferner 
wurden noch einige um die Statistik hochverdiente Männer gefeiert: 
Sc/nviegam (Christiania), David, Legoyt , Moreau de Jonncs (Frank¬ 
reich) und v. Viebahn (Deutschland). 

Ueber den Versammlungsort des nächsten Congresses wird die 
Organisationscommission entscheiden. Officielle Einladungen er¬ 
folgten nach Ofen-Pest, nach den Vereinigten Staaten und nach 
der Schweiz. 

Die Hcrrrn Levasseur, Dr.- Engel, harr, Dr.- Meitzen und Correnti , 
ein Jeder in seiner Muttersprache, beleuchteten die Arbeiten der 
achten Session in ihrer hervorragenden Bedeutung und sprachen ins¬ 
besondere Sr. K. H. dem Grossfürsten Konstantin Nikolajewitsch 


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_ 205 

und der Örganisationscommission im Namen der Versammlung ihren 
Dank aus für die werthvolle Förderung der gemeinsamen Sache. 

„Niemals“, sagte Herr Farr, „ist eine Session des Congresses mit 
so viel Intelligenz und Tact geleitet worden, als di£ von St. Pe¬ 
tersburg; im Allgemeinen gaben sich die Mitglieder der Commis¬ 
sionen keine Rechenschaft von den Schwierigkeiten, welche sie zu 
überwinden hatten, noch von dem Umfang ihrer Arbeiten, welche 
nicht auf die Vorbereitung des Programmes beschränkt sind, son¬ 
dern auch persönliche Fragen der zartesten Natur umfassen. Die Ver¬ 
sammlung hat die Pflicht, diese ThatSachen anzuerkennen und der 
russischen Commission herzlich zu danken.“... „DerCongress schuldet 
ferner besondern Dank dem Fürsten Lobanow-Rostowski, dem Ge¬ 
neral Greigh und Herrn Ssemenow, welche sich an dem Gedanken 
Sr. K. H. defs Ehrenpräsidenten inspirirt haben.“ (Anhaltender, rau¬ 
schender Beifall.) 

Die bedeutungsvollen Worte des Herrn Dr. Engel lauten*. 

„Es ist mir zugefallen, am Schlüsse unseres Congresses unseren 
aufrichtigen Dank auszusprechen. Ich sage nicht — officiellen Dank. 
Alle Regungen des Herzens sind individuell; ich spreche also meinen 
individuellen und warmen Dank, der direct aus dem Herzen kommt, 
dem Lande aus, welches uns eine so gastfreundschaftliche Aufnahme 
bereitet, uns eine Reihe von Männern, die tief in unsere Wissen¬ 
schaft eingeweiht sind, vorgeführt, ausgezeichnete Arbeiten vorge- 
legt und uns unsere Aufgabe erleichtert hat. Wenn Sie diese Ar¬ 
beiten geprüft haben werden, werden Sie sehen, dass sie Ergebnisse 
umfassender Studien sind. 

Wir glaubten, dass die Statistik in diesem Lande wenig cultivirt 
werde — ich spreche von uns Deutschen — und wir haben eine 
neue Welt entdeckt. Wir glaubten, dass die Cultur in Russland noch 
nicht so weit fortgeschritten sei,- und wir sind erstaunt über die 
grossen intellectuellcn Kräfte, welche wir hier finden. (Beifall.) 

Ich mache mir selbst den Vorwurf, dieses Land so wenig gekannt 
zu haben, und ich mache allen Deutschen den Vorwurf, dass sie 
sich nicht mit dem Studium der russischen Sprache beschäftigen, 
und dass sie sich der Möglichkeit berauben, das, was hier gross und 
vorzüglich ist, kennen zu lernen. (Beifall.) 

Dieser Congress ist der erste, an welchem nach einem grossen 
Kriege Personen der beiden Unlängst im Kampfe begriffenen Natio¬ 
nen Theil nehmen. Ich will den Franzosen meine tiefe Erkenntlichkeit 


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• 206 


für ihre Liebenswürdigkeit und für die Sympathien jeder Art, die sie 
mir erwiesen, aussprechen. (Beifall) 

Sie haben so bewiesen, dass - die Wissenschaft eines und nicht 
durch Nationalitäten gespalten ist. 

Ich drücke meinen wärmsten Dank Russland und den hier anwe¬ 
senden Russen aus und ich werde für immer das Andenken an diesen 
Congress bewahren.“ (Beifall.) 

Zum Schluss nahm Se. K. H. der Grossfürst Constantin das Wort 
und sagte: 

„Meine Herrenl Sie haben ihre Aufgabe beendigt. Sie haben die 
von der Organisationscommission formulirten Vorschläge einer ver¬ 
ständigen und lichtvollen Kritik unterworfen und denselben, nach¬ 
dem sie mehr oder weniger modificirt worden, Ihre endgültige Sanc- 
tion gegeben. 

Ich bin Ihren Arbeiten mit der Aufmerksamkeit und dem Interesse 
gefolgt, welche sie verdienen, und ich hoffe, dass Ihre Beschlüsse, 
die auf der Höhe der Wissenschaft stehen und auf einem practischen 
Boden ruhen, auf kein Hinderniss in ihrer Anwendung stossen wer¬ 
den. Die Aufgaben der internationalen Statistik nähern sich mit 
jedem Tage mehr ihrer Lösung, und ich spreche die aufrichtigsten 
Wünsche für die schleunige Realisirung des Werkes des Con- 
gresses aus. 

Indem ich Ihnen Lebewohl sage, meine Herren, muss ich Ihnen 
für die Sympathien danken, die im Namen des Congresses in so be¬ 
redten Worten von den geehrten Herren Levasseur, Engel, Farr, 
Meitzen und Correnti ausgesprochen worden sind, und ich bitte 
Sie, in meiner Mitwirkung einen Beweis nicht nur für meine persön¬ 
liche Achtung, sondern auch für die meines erhabenen Bruders und 
Souveräns und seines Volkes für die Wissenschaft und deren Ver¬ 
treter zu sehen. 

Congresse wie der, dessen Sitzungen heute geschlossen werden, 
bilden einen der chaijacteristischsten und leuchtendsten Züge Unserer 
Epoche. Männer von Wissen und Erfahrung, Männer von verschie¬ 
denen Ansichten in der Sphäre des practischen Lebens kommen 
aus den entferntesten Enden der civilisirten Welt, um sich auf dem 
neutralen Gebiete der Wissenschaft zu vereinigen und die gegen¬ 
seitige Achtung zu befestigen; sie übertragen diese Achtung von 
den Individuen auf die Nationen, deren Repräsentanten sie sind, 
und wirken so dazu mit, die Bande zwischen den Völkern zu 
befestigen. 


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Indem die Männer der Wissenschaft in diesem Gefühl eine neue 
Kraft schöpfen und gewissermaassen von den Arbeiten ihres täglichen 
Lebens ausruhen, tragen sie durch diese Vereinigungen zur Ver¬ 
breitung positiver Kenntnisse bei und dienen somit noch mehr ihrem 
Zwecke, welcher in der Ermittelung der Wahrheit und in dem Fort¬ 
schritte der Menschheit besteht 

.Indem ich Ihnen, meine Herren, den Ausdruck meiner lebhaftesten 
Dankbarkeit wiederhole, erkläre ich die achte Session des interna¬ 
tionalen statistischen Congresses für geschlossen.“ * 

Die Worte Seiner Hoheit wurden mit anhaltendem einstimmigem 
Beifall aufgenommen. 

Am 17. (29.) hielten nach der allgemeinen Versammlung noch die 
officiellen Delegirten eine Sitzung, welche nach den vorhergegan¬ 
genen Beschlüssen fast den Character einer Sitzung der perma¬ 
nenten Commission hatte. Es handelte sich um die officiellen statis¬ 
tischen Arbeiten, welche von den einzelnen Ländern auszuführen, 
zum Theil schon ausgeführt sind. Die Vertheilung ist nachstehende: 
Sterblichkeitslisten — Belgien, Grundbesitz—Frankreich undBaiern, 
Ackerbau und Viehzucht—Frankreich, Weinbau—Ungarn, Forst- 
cultur und Jagd — Baden, Minen- und Hüttenwerke — Russland, 
Industrie — Deutschland, Export und Importhandel — England, 
Schifffahrt und Transporte auf Flüssen und Kanälen — Russland und 
Amerika, Transporte, Posten und Telegraphen — Dänemark, Lebens¬ 
versicherung — bisher Preussen und Thüringen, jetzt Amerika, Ver¬ 
sicherung gegen Feuersgefahr — Baiern, Feldversicherung — Ru¬ 
mänien, Transportversicherung — Hamburg, Creditanstalten und 
Volksbanken — Schweiz, Spar- und Unterstützungscassen — Italien, 
Cassen zur gegenseitigen Unterstützung — Herren Engel und Bo- 
denheimer, Redaction der Statistik der Grossstädte — Herren Schwabe 
undKörösi. 

Am 19. (31.) Abends um 8 ! /4 Uhr fuhren die Mitglieder des Con¬ 
gresses mit einem Separat zu g nach Moskau, denn auch die Munici- 
palität der zweiten Residenz des Reiches wollte ihnen ihre Gefühle 
der Sympathie und Achtung bezeugen und hatte sie daher zu einem 
Besuche der Stadt und der polytechnischen Ausstellung eingeladen. 
In den besten Hotels waren die Quartiere eingerichtet, in welche die 
Gäste geleitet wurden. Equipagen standen ebenfalls zur Verfügung. 
Während mehrerer Tage hat die Gastfreundschaft Moskaus ihnen 


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20 $ 


den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen gesucht. Am 
21. August (2. September) gab der Generalgouvemeur ein glanz¬ 
volles Fest mit musikalischen Vorträgen und Ball, wozu auch die 
Vertreter der Moskauer Gesellschaft geladen waren. Einzelne Gruppen 
besuchten auch Nishny-Nowgoroä. Für die Rückkehr in die Hei- 
math, welche die Meisten am 23. August (4. September) antreten 
wollten, ist Allen freie Eisenbahnfahrt bis zu den verschiedenen 
Grenzstationen offerirt wordten. Die über Warschau hinausreisenden 
Mitglieder würden auf dem dortigen Bahnhofe von dem Curator des 
Lehrbezirks, Herrn Witte, im Namen des in Berlin weilendefi Statt¬ 
halters von Polen, Grafen Berg, empfangen. Im „Hotel d*Europe“ 
wurden ihnen nicht nur Zimmer angewiesen, sondern auch noch ein 
festliches Abschiedsdiner gegeben. Dieser neue, völlig unerwartete 
Beweis der russischen Gastlichkeit machte abermals den wohlthu- 
endsten Eindruck auf die Gäste. Die russischen Mitglieder und die 
russische Gesellschaft überhaupt, welche die Scheidenden mit dem 
freundschaftlichsten Lebewohl begleitete, darf das freudige Bewusst¬ 
sein hegen, dass Alle auch ihrerseits Russland eine freundliche Er¬ 
innerung bewahren werden. 

Dr. G. W. Emil Schmidt. 

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Kleine Mittheilungen. 


(Zur Bevölkerungsstatistik Russlands.) Die Bevölkerung 
des 'Europäischen Russlands mit Ausnahme von Polen und dem 
Grossfiirstenthum Finnland betrug nach der Zählung vom Jahre 
1867 laut dem vom statistischen Central-Comite herausgegebenen 
Jahrbuche II. Bd. I. Thl. aus 63,658,934 Individuen beiderlei 
Geschlechts. 

Dem Religionsbekenntnisse nach Den Ständen nach: 

zählte man: 

Griechisch-Orthodoxe 53,139,247 Erblicher Adel . . . . 533,691 

Raskolniki. 922,070 Persönl.Adelu.Beamte 303,781 

Armenisch-Gregorian. 37,136 Geistlichkeit ..... 624,383 

Römisch-Katholische 2,882,991 Stadtbewohner .... 5,743,880 

Protestanten. 2,234,121 Landbewohner .... 52,253,697 

Juden. 1,829,100 Militär. 3,669,739 

Muhammedaner . . . 2,358,766 Ausländer. 108,929 

Meiden ......... 255,503. Einwohner, d.zu keiner 

"—"TT- d. genannten* Kate- 

3 > 65 < ‘>934 gorien gehören % . . 420,834 

63 > 65 S ,934 

In Polen betrug die Bevölkerung 5,705,607 Individuen, darunter 
dem Religionsbekenntnisse nach: den Ständen nach: 

Griechisch-Orthodoxe 29,932 Erblicher Adel .... 57,575 

Raskolniki. 4,552 Persönl. Adel u.Beamte 23,983 

Griechisch-Unirte (dar- Geistlichkeit. 8,802 

unter 37,136 Arme- Stadtbewohne# .... 1,163,191 

nisch-Gregorian.) . . 229,260 Landbewohner.4,016,844 

Römisch-Katholische . 4,326,473 Militär. 73,619 

Protestanten. 331,223 Ausländer. 39,196 

Juden. 733,079 Einwohner, d. zu keiner 

Muhammedaner .... * ( 606 d. genannten Katego- 

Heiden. ' 472 rien gehören. 33 2 ,397 

5,705,607 5,7054507 

Das Grossfiirstenthum.Finnland hatte nach officiellen Mittheilungen 
vom Jahre 1865 — 1,843,253 Einwohner! Spcciellc statistische 
Notizen über diese Anzahl fehlen noch einstweilen. * 

*4 


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210 


Im Asiatischen Russland betrug die Bevölkerung im Jahre 1870 
■— 10,537,513 Individuen beiderlei Geschlechts. 


Dem Religio ns bekenn?ii$se nach 

im Kaukasus 

in Sibirien 

in Mittelasien 

Griechisch-Orthodoxe. 

1,929,905 

2,875,533 

131,459 

Raskolniki. 

58,876 

65,505 

42,604 

Armenisch-Gregorianische . . . 

560,675 

9 

— 

Römisch-Katholische. 

28,863 

24,754 

489 

Protestanten. 

10.575 

5,722 

40 

Juden . 

23,247 

11,400 

210 

Muhammedaner. 

1,960,580 

61,083 

1,245,983 

Heiden. 

10,915 

283,621 

i,i 9 8 

Zusammen . . . 

4,583,640 

3,327,627 

1,421,983 

Bevölkerung des Syr-Darja und Turgay-Gebietes, über 


welche Special-Angaben des Religionsbekenntnisses. 


fehlen. 


. 

1,204,263 

2,626,246 

Den Ständen nach, soweit die 




Angaben reichen: 

im Kaukasus 

in Sibirien 

in Mittelasien 

Erblicher Adel. 

26,839 

3,977 

726 

Persönlicher Adel und Beamte 

16,960 

11,115 

2,019 

Geistlichkeit. 

21,474 

17,980 

1,204 

Stadtbewohner. 

139,953 

114,432 

9> I 54 

Landbewohner. 

1,382,504 

2,730,256 

1 , 237,875 

Militär. 

498,605 

337,188 

167,512 

Ausländer .. 

Einwohner, die zu keiner der 

1,859 

• 517 

1,722 

angeführten Kategorien ge¬ 
hören . 

4,717 

112,162 

2,771 


(Ueber die bevorstehende Publieation der Ergebnisse 
von A. P. Fedtsehenko’s Reisen in Turkestan) 
liegt ein vom Conseil der Kaiserlichen Gesellschaft der Freunde 
der Naturkunde, # Anthropologie und Ethnographie in Moskau 
herausgegebener Prospect vor. Das Reisewerk, dessen Druck 
in diesem Herbst beginnt, wird unter folgendem Titel erscheinen: 

llymciuecmeie os Typicecmam , coBepmeHHoe no nopyuemio Hm- 
nepaTopcKaro OöiuecTBa JlioÖHTejieö EcTecT03HaHiü, AHTpo- 
nojiorin h 3THorpa<i>iH n TypicecTaHCKaro reHepajn>-ry6epHaTopa, 
'ijieHOMi» OömecTßa A . //. 0edHenKo . M3AaHie npe^npHUHToe 06- 
mecTBOMi» ct> Bbiconafliuaro con3Bo.ieHLH, d. i. Reise nach Turkestan , 
unternommen im Aufträge der Kaiserlichen Gesellschaft der Freunde 
der Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie und des General- 
Gouverneurs von Turkestan, vom Mitgliede der Gesellschaft 
A . P. Fedtschenko . Herausgegeben mit Allerhöchster Genehmigung. 


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211 




Das Reisewerk wird in vier Bänden veröffentlicht werden: 

Bernd / wird enthalten: die Beschreibung des Verlaufs der Expe¬ 
dition, ihrer Mittel und der von ihr besuchten Gegenden. Hier werden 
auch Nachrichten über Denkmäler des Alterthums, Beobachtungen 
über die Lebensweise und die Beschäftigungen der’ Einwohner 
mitgetheilt, so wie ein anschauliches Bild der Fauna und Flora nach 
ihren characteristischen Repräsentanten »versucht werden. 

Band II wird der speciellen Beschreibung; der einzelnen Thiere der 
Fauna Turkestans gewidmet sein. Mehrere Specialisten haben die 
Bearbeitung der einzelnen Theile dieser Fauna übernommen. Es 
sollen nicht nur nackte Verzeichnisse der gefundenen Thiere und Be¬ 
schreibungen der neuen Formen, sondern vielmehr eine Reihe von 
Monographien über die einzelnen Abtheilungen der Fauna Turke¬ 
stans geliefert werden. Bei solcher Behandlungswcise werden die 
Eigentümlichkeiten der turkestanischen Fauna besonders relief 
hervortreten. Die Diagnosen neuer oder wenig bekannter Formen 
werden in lateinischer Sprache gegeben-werden, wodurch dieser 
Theil des Reisewerks auch Gelehrten des Auslands zugänglich sein 
wird. Abbildungen und Detailzeichnungen werden zur Erläuterung 
des Textes dienen. 

Band III, der Flora gewidmet, wird durch Beschreibung und Zeich¬ 
nungen die Pflanzenwelt Turkestans dem Leser vorführen. 

Band IV wird meteorologische, hypsometrische, kraniologische 
und geologische Beobachtungen enthalten, so wie auch einen erläu¬ 
ternden Text zur Karte von Turkestan, welche dem Werke bei¬ 
gelegt werden wird. 

Die Bearbeitung der einzelnen Theile der Fauna ist bereits von 
Specialisten übernommen: 

Die Reptilien und Amphibien bearbeitet Akademiker^. A. 
Strauch in St. Petersburg. 

Die Fische — Professor K. F. Kessler in St. Petersburg. 

Die Orthopteren — H. de Saussure in Genf. 

Die Neuropteren — MLachlan in Lfbndon. 

Die Caleopteren — S. M. Sohkij in St. Petersburg. 

Die Hymenopteren — H. de Saussurc in Genf, 0 . P. Radosch • 
kowski , E. K. Freimuth und A. P. Fedtschenko. 

Die Dipteren — Dr. L&w in Guben und A. P. Fedtschenko. 

Die Lepidopteren — N. G. Jerschoiv in St Petersburg. 

, Die Hemipteren — W. F. Oschanin. 

Die Arochnoiden — A. J. Kroneberg . 

Die Crustaceeri — W. N. Uljanin und A. P. Fedtschenko. 

Die Würme, die freilebenden und die Parasiten — A. P. 
Fedtschenko . 

Die Mollusken — Dr. Martens in Berlin. 

Die Bearbeitung des Herbariums, welches während der Reisen 
von Frau Olga Alexandrowna Fedtschenko zusammengestellt ist 
und gegen 1700 Arten enthält, haben Dr. Regel und Dr. Herder 

14* 


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212 




in St. Petersburg und Dr. A. Bunge in Dorpat übernommen. Die 
Redaction dieses Bandes wird Herr E. L . Regel leiten. Die Bear¬ 
beitung des botanischen Theiles wird sich nicht auf das Verzeichnen 
der gefundenen Formen und das Beschreiben der neuen unter ihnen 
beschränken: in ihm werden alle bisher zugänglich gewordenen 
Daten über die Flora Turkestans zusammengestellt werden und die 
Herren Bearbeiter werden.auf die Pflanzen, welche Herr % J. 
Krause im Khanat Khokand und den Umgegenden Taschkents ge¬ 
sammelt und der Gesellschaft als Geschenk dargebracht hat, Rück¬ 
sicht nehmen. Der Umfang der Flora, welche eine Synopsis aller 
bisher bekannten Pflanzenarten aus Turkestan enthalten wird, ist auf 
80 Bogen berechnet. 

Die Bearbeitung des anthropologischen Materials hat Herr Pro¬ 
fessor A. P. Bogdanoiv , die des palaeontologischen A. 0 . Mila¬ 
schewitsch übernommen. 

Die ganze Ausgabe wird gegen 300 Bogen Text und gegen 200 
Tafeln enthalten. Uebcr die Subscriptionsbedingungen wird bald 
eine weitere Ankündigung erscheinen. 


(Ein© Gesellschaft zur Förderung der Handelsinter¬ 
essen Russlands auf den Meeren) ist in Moskau aus Anlass 
der Feier des Jubiläums Peters des Grossen in der Bildung begriffen. 
Diese Gesellschaft soll ungefähr in der Weise wirken, wie der jetzige 
neutrale nautische Verein in Deutschland, der alle früheren localen 
(etwa 20) nautischen Vereine zu einem Ganzen verbunden hat und in 
speciell nautischen Fragen auch der deutschen Reichsregierung 
gegenüber sein Gutachten abgiebt, das gewöhnlich sowohl im Reichs¬ 
tage als auch im Bundeskanzler-Amte Beachtung und mög¬ 
lichste Berücksichtigung findet. Aufgabe des russischen Vereins 
soll in erster Linie die Schaffung von Sceschulen an allen Seeküsten 
Russlands auf Grundlage des Gesetzes vom 27. Juni 1867 sein. Dies 
Gesetz giebt nämlich jeder 4 beliebigen vaterländischen Gesellschaft 
das Recht zur Errichtung und Verwaltung der vom Staate gutge¬ 
heissenen Seeschulen und stellt eine genügende jährliche Unter¬ 
stützung des Staats für jede dieser Schulen in Aussicht; trotzdem ist 
die Errichtung dieser für Russland äusserst wichtigen und für utiser 
Seewesen den grössten Erfolg verheissenden Schulen nur langsam 
vor sich gegangen. Die älteste derselben, 1864 in Livland im Dorfe 
Hainasch bei Salis gegründet, hat bereits glänzende Resultate aufzu¬ 
weisen; trotzdem bestehen jetzt, ausser im Dorfe Hainasch, nur in 
Kurland vier, im St. Petersburger Gouvernement (an ungeeigneter 
Stelle) eine und amWeissen Meere ebenfalls eine dieser Schulen; am 
Schwarzen,. Asowschen und Kaspischen Meere giebt es gar keine 
derartige Schulen, obwohl Russland in diesen Gewässern die ausser¬ 
ordentliche Summe von 40 bis 50 Millionen Rubeln jährlich für 
Frachten zu zahlen hat. — Die zu bildende Gesellschaft soll nun 


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213 


namentlich im Süden die Begründung der Seeschulcn ermöglichen; 
sic soll im Geiste Peter’s des Grossen die Binnenbevölkerung auf die 
öconomischen Vortheile des Besitzes einer vaterländischen Flotte 
aufmerksam machen, die Mängel unserer nautischen Einrichtungen 
beseitigen helfen, genaue statistische und öconomische Daten über 
unser Seewesen sammeln, den wenig gebildeten Küstenfahrern in 
jeder Art Beistand und Stütze leisten und zu diesem Behufe an allen 
unsern Küsten Zweigvercine gründen. In Moskau haben sich bereits 
das Stadthaupt, der Adelsmarschall und viele andere angesehene 
Personen, bei der Gründung der Gesellschaft betheiligt und aus St. 
Petersburg und andern Küstenstädten steht der Beitritt vieler bedeu¬ 
tender Namen in baldiger Aussicht. Lebendige Anregung erhält die 
Sache wesentlich dadurch, dass die beim Beginn der polytechnischen 
Ausstellung in Moskau tagende zweite Versammlung russischer In¬ 
dustrieller durch einstimmigen Beschluss die Gründung dieser Gesell¬ 
schaft als sehr wichtig und die Schaffung populärer Seeschulcn als 
unerlässlich für Hebung unseres Seewesens bezeichnete. 


Literaturbericht, 


H. CmopoofceuKo . npeAcaBHTejin IHeKciinpT>. 3 mi 30 /U> H3i> hcto- 
pin aHrjiiflcKoft ÄpaMbi bt> enoxy EjiH3aBCTbi. Tomt» I. Jlu.i.tn 
u Mapjio, C.-IIeTepöypnj. 1872. 

Storoshenko , N ’ Die Vorgänger Shakespeare’s. Ein Abschnitt aus 
der Geschichte des englischen Drama zur Zeit Elisabeth’s. 
Band I: Lilly und “Marlow. St. Petersburg 1872. II -f 293 4- 
72 SS. 8°. 

Das vorliegende Buch ist, wie der Verfasser in dgr Vorrede an- 
giebt, dem Wunsche entsprungen, den Gang der Entwickelung des 
englischen Drama bis zum Auftreten Shakespeare’s sich selbst klar 
zu machen. Die werthvollen Arbeiten von Collier , Ulrici , Gewinns 
u. A., obgleich sie über die Geschichte des altenglischen Theaters , 
viel Licht verbreiten, hätten bei Weitem nicht alle auf diesen Ge¬ 
genstand bezüglichen Fragen gelöst. Das Werk Colliers, welches 
durch seinen Reichthum an Material Erstaunen errege, dürfte, nach 
des Verfassers Ansicht, für den Nicht-Specialisten kaum von erhebli¬ 
chem Nutzen sein, weil in ihm eine Masse von Facta, ohne allgemei¬ 
nen leitenden Gedanken, in äusserer chronologischer Weise lose an ein¬ 
andergereiht seien. Die Werke von Ulriciund Gervinus litten an dem 
entgegengesetzten Fehler — an der Sucht zu systematisiren, indem 
nicht streng kritisch untersuchteThatsachen einer im Voraus gebilde¬ 
ten Ansicht angepasst würden. Wie ebenmiissig und logisch er¬ 
scheint nach Ulrici’s Darstellung die Entwickelung der Ilauptmo- 
mente des englischen Drama, als ob sie der Ausfluss eines ihr inne- 


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214 


wohnenden Gesetzes wäre, und wie verworren und unorganisch er¬ 
weist sie sich in der That! Das Gefährliche solch künstlicher Con- 
structionen läge darin, dass sie durch ihre logische Gliederung die 
Energie des Forschers einschläfern, ihn daran gewöhnen, sich bei 
den einmal gewonnenen Ergebnissen zu beruhigen und schliesslich 
einen selbstgefälligen gelehrten Quietismus erzeugen. Bei so be- 
wandten Umständen, wo selbst die reiche westeuropäische Litera¬ 
tur, die im Besitze so vieler einschlagender spccieller Arbeiten ist, 
kein einziges völlig zuverlässiges Handbuch für das Studium des en¬ 
glischen Drama vor Shakespeare aufweisen könne, schien es dem 
Verfasser, müsste jede neue Arbeit, die ohne vorgefasste Meinung 
die 'tatsächliche Seite des Gegenstandes behandele und dabei 
theils die früheren Thesen kritisch beleuchte, thcils die vorhandenen 
Lücken mit neuen Thatsachen ausfülle, nicht ganz fruchtlos bleiben 
für die junge russische Wissenschaft, welche eben erst beginne, sich 
zu den Erzeugnissen der westeuropäischen Gelehrtenwelt auf kriti¬ 
schen Fuss zu stellen. 

Das Buch des Herrn Storoshenko ist auf zwei Bände angelegt. 
In dem jetzt vorliegenden ersten Bande ist die Darstellung der Ent¬ 
wickelung des englischen Drama bis zu dem Zeitpunkte fortgeführt, 
wo es unter der Hand Marlow’s eine kunstvolle Gestaltung erhält. 
Der zweite Band, den der Verfasser in nächster Zeit erscheinen las¬ 
sen zu können hofft, wird der Uebcrsicht der Erzeugnisse der unter¬ 
geordneten Dramaturgen gewidmet sein, welche unter Marlow’s Ein¬ 
fluss sich entwickelten und gewissermaassen als die Verbindungs¬ 
glieder zwischen ihm und Shakespeare dastehen. Hier beabsich¬ 
tigt der Verfasser, der Technik des Drama vor Shakespeare und ih¬ 
rem Verhältniss zur Technik der Erzeugnisse des Letzteren eine be¬ 
sondere Aufmerksamkeit zu widmen, wie auch auf Grundlage von 
auf dem Wege comparativer Methode gewonnenen Thatsachen in 
Shakespcare’s dramatischem Stile. Das, was ihm persönlich eigen, 
von dem, was gerechter Weise als unbestreitbares Eigenthum seiner 
Vorgänger anzuerkennen ist, zu scheiden. 

Der erste Band umfasst vier Capitel. Das I. behandelt die Anfän¬ 
ge des englischen Theaters und schlicsst mit den „Intcrludes” von 
Hayiuood* Ipi II. wird die Ucbcrgangs-Epoche geschildert, nach¬ 
gewiesen, wie die durch die Reformation hervorgerufene religiöse 
Controversc im Drama nachklingt, dasselbe einen historischen 
Character annimmt, wie ferner seine Form von den literarischen 
Traditionen aus dem classischen Alterthum beeinflusst wird, eine 
classische und eine volkstümliche Schule sich hcranbilden, der •ita¬ 
lienische Einfluss sich geltend macht und dann mit Lilly die 
Reihe der unmittelbaren Vorgänger Shakespeare’s anhebt. Capi¬ 
tel III ist der Betrachtung des Verhältnisses der Gesellschaft zum 
Theater beim Beginn der Regierung Elisabeth’s gewidmet, wobei 
das Verhalten der Regierung zu den religiösen Parteien und der 
Volksfreiheit, der innere Zustand der englischen Gesellschaft, ihre 


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215 


öconomische Lage, die Erfolge in der Wissenschaft und Literatur be¬ 
rücksichtigt, wie die Errichtung fester Bühnen und deren erste 
Schicksale besprochen werden, welche sich in dem Kampfe der 
Schauspiele mit dem Londoner Stadtrathe und den Puritanern und 
endlich in der Ernennung Seitens der Regierung eines Master of 
Revcls (Magister Revelorum) abwickeln. 

Das IV. und letzte Capitel hat zu seinem Gegenstände den 
dramatischen Dichter Marloiv und seine Schriften und schliesst mit 
einer Schätzung seiner Verdienste um das englische Drama. 


Russische Bibliographie. 


MNHHH1», B. CMepUH HJIH TpOMÖLI. <l>H3HHeCKaa MOHOrpa<l>UI H Teo- 
pia RBjieHia. MocKBa. in-8°, 44 exp. h 1 xaöji. (Minin, W. Die Wasser¬ 
hose. Physische Monographie und Theorie dieser Erscheinung. 
Moskau. 8°. 44 S. u. 1 Tafel). 

P03eH6jiaTi>, 0eOA O H'kKoxopbix'b coeAHHemaxi» 30 Aoxa. Cn6. 
in-8°, 21 cTp. (Rosenblatt, Th. Ueber einige Verbindungen des Goldes. 
St. Petersburg. 8°. 21 S.). 

P03eH(Sepn>, B. O nepepoacAemH h npeHMymecxBeHHo o B03poac- 
AeHin nonepeHHo-nojiocaTbixi» MumeuHbixt boaokoh7> npu öpioiu- 
homt> TH<r>'jb. MocKBa. in-8°, 2 + 75 CTp. h 2 ji. pnc. (Rosenberg, B,., 
über d. Wiedergeburt u. vorzüglich über das Wiederaufleben der 
quer-gestreiften Muskelfaser beim Typhus des Unterleibes. Moskau. 
8°, 2 -f 75 S. u. 2 Tafeln Abbildungen). 

ypaHOCCOBl», Tpar. MaxepiaAbi kt> yueHiio o pa3BHxiH kocxh Hai* 
xpama. MocKBa. m-8“, 66 CTp. h 3 a. (Uranossow, G- Materialien zur 
Lehre von der Entwickelung des Knochens aus dem Knorpel. 
Moskau. 8°. 66 S. u. 3 Tafeln Abbildungen). 

HHMefiep'b, O. 'IacTHaa naxajioria n xepania. IlepeB. cxyAeuxbi 
^ HHBepcuxera Cb. BjiaAHMipa iioat» peA. E. A<i>aHacbeBa. Bbin. I. 
Kieß-b. in-8°, 287 exp. (Niemeyer, F. Specielle Pathologie und Therapie. 
Uebers. von Ben Studirendcn der KijewerUniversität unter Redaction 
von E. Afanasjew. Lief. I. Kijew. 8°, 287 S.) 

npeoäpameHCltiti, n. M. IIcxopmiecKiit oucpK-b pa3Bnria nieAKO- 
BOACXBa bt> MocKB'h h K>ro-3anaAHbix-b ox'b nea ryöepHiax-b h A'fcfl- 
cxßitt KowHxexa UlejiKoBOAcxBa. MocKBa. in-8°, 416 exp. n 1 nopx. 
(Preobraschensky, P. M. Historischer Umriss der» Entwickelung der 
Seidfenzucht in Moskau und in den davon südwestlich gelegenen 
Gouvernements, so wie auch der Thätigkeit des Comites für Seiden¬ 
zucht. Moskau. 8°. 416 S. mit 1 Portrait). 

1 Bacwiberb, fl. H Agha» h ücKOBCKaa ryöepHia. ückobi». in-8°, 
224 exp. h 1 Kapxa. (Wassiljew, P. J. Der Flachs und das Pskowsche 
Gouvernement. Pskow. 8°. 224 S. und 1 Karte). 


% 


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216 


npoTOKOJibi h cTeHorpa^HHecicie oT^eTbi sacfeAaHift nepßaro ßce- 
pocciöcKaro c'b'fcsAa <t>a6pnKaHTOBT>, 3aB04HHK0Bi> h jihh,t>, HHTepe- 
cyiomHxcH OTeMecTBeHHOK) npoMbTimieHHOCTbio. 1870 r. Cn6. in-8°, 
475 exp. (Protokolle und stenographische Berichte der Sitzungen der 
ersten Versammlung russischerFabrikanten und der sich für die vater¬ 
ländische Industrie Interessirenden. 1870. St. Petersburg. 8°. 475 S.) 

Aiviacb npoMbiniJieHHocTH Mockobckoü ryöepHiH. MocKBa. iooji. 
(Industrieller Atlas des Moskauschen Gouvernements. 8°. 100 Blatt.) 

EtJiflBCKtif, H. AoHCKia rnpjia. rHaporpa<i>HHecKoe H3CJrfeA. OAecca. 
in-8°, 192 cip. h 5 ji. nepT. (Beljawsky, N. Die Don-Mündungen. Eine 
Hydrographische Untersuchung. Odessa. 8°, 192 S. u. 5 Tafeln 
Abbildungen.) 

Maurb, Kau. 3 anaAHbiö Cy^am*. IlyTeinecTBie. Ci> put. Cn6. in-8°, 
352 CTp. u 1 KapTa. (Mage, Cap. Das westliche Sudan. Reisebeschrei¬ 
bung. Mit Abbild. St. Petersburg 8°. 352 S. u. 1 Karte). 

HaB'hcTia M. PyccKaro ApxeoJiorHuecicaro OömecTBa. T. VII., 
Bbin. 3-fl C116. in-4 0 , 233 — 382 cTOJi6u.au 1 Taöji. (Nachrichten der 
Kaiserlich-Russischen Archaeologischen Gesellschaft. BandVII, Lief. 3. 
St. Petersburg. 4 0 . S. 233—382 und 1 Tabelle). 

TeHHepi, K. <D. BoeHHO-xnpypriiHecKia HaöJiioAeHbi bo BpeM« 
4>paHKo-repMaHCKoö BoflHbi 1870 r. Ob 27 iiojihthti. Cn6. in-8°, 
255 CTp. (Genner, K. F., Kriegs-chirurgische Beobachtungen während 
des französischen Feldzuges im Jahre 1870. Mit 27 Holzschnitten. 
St. Petersburg. 8°. 255 S.). 

<t>pHAOüWTb, fleipb. O JiHM^aTimecKHXT, cocyAaxii öepeMCHHofl 
jvjarKii. Cn6. in-8 n , 31 crp. u i ji. pwc. (Fridolin, P. Ueber Lymph- 
Gefässe der schwangeren Gebärmutter. St. Petersburg. 8°. 31 S. 
und 1 Tafel). 

TyHHepi ((JjOHb), fl. ropH 03 auoACKaa iipoMbiuuieHHocTb Pocciii u 
BT> OCOÖeHHOCTH C 5 i >Kejrb3HOe IipOM3BOACTBO. C116. in-8°, XVI + 246 
CTp. n 4 ji. ncpT. (von Tunner, P. Die Montan-Industrie Russlands und 
insbesondere seine .Eisen-Industrie. St. Petersburg. 8°. XVI 4 ~ 246 S. 
und 4 Tafeln Abbildungen). 

3 e/ieHbiH, A. M. IIcTopHuecKitt oHepia> UlTypMaHCKaro ynmiHiua 
1798—1871. KpoHiUTaATi>. in-8°, 179 CTp. (Seleny, A. J. Historischer 
Umriss der Steuermannsschule von 1798 — 1871. Cronstadt. 8". 
179 S.) . , 


Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttoer. 


Ao3iio.ieiio ueH3ypoio. 6-ro ceiiTflrtpx 1S72 ro^a. 
liuchdruckerci von Rottc.kr & Schneider, Newsky-Prospcct No. 5. 


# 


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Ueber eine 

tan Raphael ntgesehriebane Mamorgruppe: 

»Ein todter Knabe, getragen von einem Delphin.“ 

Von 

S. v. Quedeonow, 

Director der Kaiserlichen Eremitage. 

(Mit Genehmigung des Verfassers nach dem in der Sitzung der Akademie der 
Wissenschaften vom 22. August 1872 gelesenen und im Hu.letin der Akademie T. XVIII 
veröffentlichten Original übersetzt.) 


Was man bisher von der genannten, dem Raphael zugeschrie¬ 
benen Statue wüsste, welche einen tödtlich verwundeten, von einem 
Delphin getragenen, Knaben darstellt, sagt uns Passavant in seinem 
Werke: „Raphael d’Urbin etc.“ ed. frang. 1860. T 1 " 6 Il mo p. 375: 

„Nach der Stelle in dem Briefe des Grafen Castiglione, welchen 
wir in der Geschichte Raphaels 1 ) publicirt haben, ist cs nicht erlaubt 
daran zu zweifeln, dass Raphael sich in der Kunst der Bildnerei in 
Marmor versucht, -und dass er selbst eine Kindergestalt in statuari¬ 
scher Form ausgeführt habe. 

Cavapeppi (Raccolta dantiefoe statue, Roma, 1768, Bd. I, Taf. 44) 
bietet uns cten Kupferstich eines tödtlich verwundeten Knaben, wel¬ 
cher auf dem Rücken eines Delphins liegt und Von demselben durch 
die Wellen getragen wird. Die folgende Notiz ist dem Stich beige¬ 
fugt: „Delphin, welcher einen Knaben an das Ufer zurückbringt, 


*) Ebendaselbst Bd. I, pp. 205, 206. „Ausserdem wünsche ich zu wissen, ob 
er (Giulio Romano) noch jenpn Knaben von Marmor von der Hand des Raphael hat und 
welches der letzte Freiest, fiir welchen er ihn verkaufen wird.“ — Dieser Brief ist da- 
tirt aus Mantua vom 8. Mai 1523 und gerichtet von ,Baldassar Castiglione a messer An¬ 
drea Piperario 4 , seinen Intendanten zu Rom. (LetL Pitt. Bd. V, pag. 245.) Die Heraus¬ 
geber des Vasari (Firenze, Fel. le Monnier 1852,Bd. VIII. pag 47, Note 1,) fugen hin- 
„In Bezug äuf diese Sculptur haben wir auch das Zeugniäs des Anonymus, welchen 
molli gedruckt hat: Er arbeitete qpch als Bildhauer, indem er einige Statuen verfer- 
ie, und eine davon, welche einen. Knaben darstellt, habe ich in den Händen des 
/mlio Pißi gesehen/ 4 Aber man rousinicht vergessen, dass die Authenticitat des Ano-, 

njrmus durch Passavant (l. c. Bd. L pag. 2, 3^) sehr stark in Frage gestellt worden isU 

f 

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218 


nachdem erdenseiben, während er ihn zurBelustigung durch das Meer 
trug, unfreiwillig durch eine seiner Flossfedern tödtlich verwundet 
hat 2 ). Werk des Raphael, ausgeführt vonLorenzettö und gegenwärtig 
im Besitz S. Exc. das Herrn Comthur von Breteuil, Gesandter des 
Malteser-Ordens beim Heiligen Stuhl 8 )“. 

Ein Abguss dieser Gruppe findet sich unter den MengsschenGyps- 
abgüssen zu Dresden (Nr. 82) und mit Hülfe desselben können wir 
feststellen, dass dieses wirklich die in dem Briefe des Grafen Castigli- 
one erwähnte Statue eines Knaben ist. In dem beschreibenden Ver¬ 
zeichnisse der Gypsabgüsse, welche von den Erben desR.Mengs 4 ) für 
das Dresdener Museum erworben wurden, ist diese Gruppe aufge¬ 
führt als: Putto morto di S. A. R. di Parma (ein todter Knabe 
S. K. H. von Parma 5 ). Nach diesem Verzeichnisse sollte sich da« 
Original der Gruppe in Neapel 6 ) befinden, wo wir es aber nicht an¬ 
getroffen haben. Man hat auch ohne jeglichen Grund gesagt, dass 
es sich in Turin befinde 1 ). Es ist anzunehmen, dass diese Statue der 
erste Versuch Raphael’s in der Bildhauerkunst war, denn in der Ge¬ 
stalt des Knaben sind durchaus nicht alle Partien von gleicher Aus¬ 
führung, unter andern die Extremitäten; an einigen Stellen hat auch 
der schlecht geführte Meissei zu viel Marmor fortgenommen, z. B. 
an der Brust des Knaben, die zwar sehr gut modellirt, deren rechte 
Seite aber kleiner geworden ist, als die linke. Es ist zweifelhaft, ob der 
Delphin, der in der Bewegung etwas übertrieben ist, genau nach der 
Zeichnung Raphael’s ausgeführt worden sei; vielleicht überliess der 


*) Passavant (Bd. I. pag. 206) nimmt an, dass der Graf Castiglione selbst dem Ra¬ 
phael diesen, dem Aelian entnommenen Vorwurf empfohlen habe. Bei Aelian nämlich 
liest man, da'ss die Delphine dem Menschen sehr ergeben sind, und dass eines dieser 
dem Meere angehörenden Wesen einen todten Knaben an’s Ufer getragen habe. — Ste¬ 
phani (Compte-Rendu pour l’annee 1864, pag. 207) fuhrt nach einigen Classikern des 
Alterthums noch andere Erzählung^p dieser Art an. 

3 ) Clarac, Bd. IV, Taf. 647, reproducirt .nach dem Stich von Cavacftppi diese 

Gruppe, welche er für eine Antike gehalten zu haben scheint. Clarac’» Text erwähnt 
nichts darüber. ^ 

4 ) Starb 1779. 

5 ) Das älteste Verzeichniss der Mengs’schen Sammlung zu Dresden ist vom J. 1783. 

Bei No. 82 desselben heisst es: „Ein todter Knabe auf einem Delphin von S. K. H. 
von Parma. u * . 

•) Das Herzogthum Parma wurde von 1545—1802 durch Fürsten , aus dem Ifaus< 
Farnese regiert. Darauf gründet sich wahrscheinlich die Vermuthung Passavant’s. 

. T ) S. den alten Catalog der Gypsabgüsse von R. Mengs zu Dresden, redtgirt von 
J..G. Matthaei, 1831. . 


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219 


Letztere diese nebensächliche Partie dem Lorenzetto, welcher in 
ihrer Behandlung seiner Phantasie, aber nicht dem so reinen und so 
erhabenen Geschmadc des grossen Meisters folgte. J£in anderer 
Umstand scheint diese Vermuthung noch zu bestätigen: nämlich, 
dass die Ausführung des Delphins in allen ihren Theilen gl^ichmässig 
ist, während bei dem Kinde, wie wir schon sagten, die Extremitäten 
sehr vernachlässigt sind. Es ist möglich, dass Lorenzetto nicht 
wagte, die Hand an diejenigen Theile des Werkes zu legen, die von 
Raphael gearbeitet worden waren. 

Eine Wiederholung dieser Gruppe in Marmor wurde von dem ver¬ 
storbenen Gjafen von Bristol, Bischof von Derry, erworben, der sie in 
seiner Sammlung zuDown-Hill, in Irland, aufstellen liessj das „Penny- 
Magazine 1 ‘ hat eine Abbildung davon mit dem Namen Raphaefs ver¬ 
öffentlicht. Aber w'ährend sich diese Gruppe im Jahre 1857 auf der 
Ausstellung in Manchester befand, wohin sie ihr gegenwärtiger Be¬ 
sitzer, Sir Henry Bruce gesandt hatte, bewies Herr Professor'Hettner, 
Conservator der Mengs’schen Gypsabgüsse in Dresden, dass dies 
nur eine Copie sei 8 ). Nicht nur gewahren wir am Marmor nicht die 
am Original existirenden beschädigten Stellen, welche man am Dres¬ 
dener Gypsabguss erkennt, sondern der letztere ist auch von einem 
grösseren Maassstab als die Marmorgruppe, welche wir in Man¬ 
chester gesehen haben 8a ).< < ' 

Soweit Passavant. 

Sehr wichtige Gründe veranlassen uns nun zu glauben, dass sich 
Raphaefs verschollenes Werk seit dem Ende des verflossenen Jahr¬ 
hundert in St/ Petersburg befindet. 

Ich hatte bei Dallaway (Anecdots of the arts in England. London 
1800, Bd. I, pag. 389) gelesen, dass ein gewisser Herr Lyde Browne, 
der zu Wimbledon eine Sammlung antiker Sculpturen besass, die¬ 
selbe gegen das Jahr 1787 einem Agenten der Kaiserin von Russ¬ 
land (Catharina II.) für die Summe von 23,000 Pf. Sterl. verkauft habe 
und überdies, dass ein im Jahre 1787 gedrucktes Verzeichniss dieser 
Sammlung existire.,. * 


.•) S. Catalog des K. Museums der Gypsabgüsse zu Dresden. II. Aufl. 1861. pag. 13. 
— Ueber die Gruppe zu Manchester sagt W. lÜirger, Tresors d’art, Paris 1865. pag. 
^46, 447 : „Und was den durch das Meer getragenen Knaben zu Manchester betrifft, so 
,*t es nicht einmal ein sehr schönes Werk; die Zeichnung ist zu kurz und die Ausführung 
rund und weich.“ 

*») Der grösseren Genauigkeit wegen geben wir am Schlüsse der Abhandlung diese 
Stelle aus Passavant mit den Noten im Originaltext. f 1 

*5* 


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220 


Gestützt auf diese Angaben (denn es war mir damals hoch nicht 
gelungen, das Lyde Browne’sche Verzeichniss aufzufindqn),.sagte ich 
in der Vorrede zu meinem Cataloge der antikeir Sculpturen der Ere¬ 
mitage 1865, 2. AiftL pag. IV, V: „Diese Nachrichten sind sehr 
werthvoll j # es geht daraus hervor, dass, mit nur wenigen Ausnah¬ 
men, sämmtliche antiken Sculpturen, welche früher im Palais von 
Zarskoje-Sselo, im Taurischen Palais etc. zerstreut und dann im 
Jahr 1850 in dä$ Museum der Eremitage übergeführt waren, aus der, 
gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts dufch Herrn'Lyde 
Browne in Rom gebildeten Sammlung herstammen. Demnach dürfen 
wir auch alle diejenigen antiken Sculpturen des Kaiserlichen Museums, 
über deren Herkunft unser Catalog keine Auskunft giebt, auf diese 
Sammlung zurückführen. “ 

Später, im Jahre 1867, war ich so glücklich, in der Bibliothek des 
Britischen Museums in London nicht nur einen, sondern sogär zwei 
Cataloge der Sammlung Lyde Browne zu finden, welche folgende Titel 
tragen: 

I. Catalogus veteris aevi varii generis monumentorum quae Cimelli- 

archio Lyde Browne Arm. Ant, soc. soc. apud Wimbledon asser- 
vantur. 1768. # 

II. Catalogo dei piü scelti e preziosi marmi, che si conservano nella 
Galleria del Sig r Lyde Browne Cavaliere Inglese a Wimbledon nella 
Contea di Surryj raccolti con gran spesa ncl corso di trent* anni, 
molti dei quali si ammiravano prima nellc piü celebri gallerie di Roma. 
In Londra. 1779. Presso Carlo Rivington. 

Von den 260 Nummern, welche der vollständigere italienische 
Catalog vom Jahre 1779 enthält, sind bis heute im Museum der Ere¬ 
mitage, in den Kaiserlichen Palais in Pawlowsk und Gatschina und in 
der Akademie der Künste 165 wieder aufgefunden worden 9 ). 

Bei Nummer 40, Seite 31 dieses Catalogs, findet sich folgende Be¬ 
merkung: „Gruppe eines todten Knaben auf dem Rücken eines Del¬ 
phins, der dessen Haare mit dem Munde erfasst hat. Werk des 
Lorenzettö von Bologna, nach einer Zeichnung von Raphael von Ur- 
bino, welches zu den besten modernen Sculptur-Werken gehört, da 
es von einer staunenswerthen Schönheit ist; früher im Besitz des 
Barons von Breteuil, Gesandter des Malteser-Ordens in Rom. Diese 


1 •) S. Stephani: Die Antiken*Sammlung von Pawlowsk, 187a, und Parerga archaeol 
Bulletin He l’Acacl, des sc. tome XVII. No. 4. pag. 500—512. 


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221 


Gruppe stellt ein Ereigniss dar, dessen der jüngere Plinius in seinen 
Werken gedenkt l0 .“ 

^Dieselbe Gruppe ist es, welche in dem für dieSculpturen-Abtheilung 
der Eremitage bestimmten Reserve-Raum unter folgenden Umstän¬ 
den wieder aufgefunden wurde: 

Als im Jahre 1861 nahe an 80 antike Sculpturwerke aus der Samm¬ 
lung Campana zu Rom für die Eremitage erworben worden waren, 
wurde es nothwendig, der Abtheilung für classische Alterthümer im 
Kaiserlichen Museum eine grössere Ausdehnung zu geben. Ich er¬ 
hielt in Folge dessen die Autorisation, eine bestimmte Anzahl von 
antiken und anderen Sculpturen, welche sich seit einer Reihe von 
Jahren in dem unbewohnten Taurischen Palais befanden und, aus 
mir unbekannten Gründen, der im Iahre 1850 in der neuen Eremitage 
gebildeten Sculpturen-Abtheilung nicht einverleibt worden waren, in 
die Eremitage überzuführen. Die schönsten dieser, fast alle der 
Sammlung Lyde Browne angehörenden Stücke wurden in die neun 
Säle der antiken Sculptüren vertheift, die übrigen, — darunter auch die 
Gruppe ,,der Knabe auf dem Delphin“, — wurden provisorisch und 
bis zu näherer Untersuchung in dem Reserve-Raum der Sculpturen- 
• Abtheilung der Eremitage aufbewahrt. Dort hat nun Herr v. Ste¬ 
phani, Conservator der antiken Abtheilung am Kaiserlichen Museum, 
mit Hülfe der in dem italienischen Cataloge von Lyde Browne ent¬ 
haltenen Angabe die, unter No. 40 dieses Catalogs verzeichnete, 
Gruppe wieder aufgefunden. 

Aus den von uns angeführten Thatsachen und Beweisstücken er- 
giebt fleh: 

1) dass die von Cavaceppi in seinem Werke „Raccolta“ etc. er¬ 
wähnte, und die von Lyde Browne in deih Cataloge von 1779 ver¬ 
zeichnete Marmorgruppe: „Ein todter Knabe, getragen von einem 
Delphin“ eine und dieselbe ist, und dass sowohl Cavaceppi als Lyde 
Browne angeben, dass sie von Lorenzetto nach einer Zeichnung von 
Raphael gearbeitet worden sei; n ) 

2) dass diese Gruppe im Iahre 1768 oder vorher von Cavaceppi 
restaurirt worden ist. Diese Behauptung stützt sich auf folgende 


,0 ) Der in lateinischer Sprache abgefasste und 1768 gedruckte Catalog d6r Sammlung 
Lyde Browne erwähnt dieses Werk nicht, ein Beweis dafür, dass es von Lyde Browne 
zwischen 1768 und 1^79 erworben wurde. 

n ) Es ist wahrscheinlich, dass weder der Eine noch der Andere den Brief des Grafen 
Castiglione gekannt hat, welcher den sehr wesentlichen für Raphael in Anspruch 
zu nehmenden Antheil an der Ausführung dieses Werkes feststellt. 


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222 


Beweise: a) das Werk Cavaceppi’s, dessen erster Band die Jahres¬ 
zahl 1768 trägt, ist betitelt: „Raccolta dantiche statue, busti, bassi 
rilievi ed altre sculture rcstaurate da Bartolomeo Cavaceppi, scultore 
romano; (Sammlung von- antiken Statuen, Büsten, Basreliefs und an¬ 
dern Sculpturen, rcstaurirt von Bartolomeo Cavaceppi, Bildhauer zu 
Rom.)“ Es folgt hieraus, dass, da dieses Werk nur die.von Cava¬ 
ceppi restaurirten Sculpturen durch den Stich wieder giebt, von un¬ 
serer Gruppe dasselbe gilt, wie vo.n den übrigen; b) an der Lyde 
Browne’schen, gegenwärtig in der Eremitage befindlichen Gruppe, 
hat in der That eine alte Restauration der Extremitäten stattgefun¬ 
den. (Siehe weiter unten.) 

3) dass in demselben Iahre 1768 diese Gruppe aus dem Atelier 
Cavaceppi’s in den Besitz des Baron von Breteuil, Comthur des 
Malteserordens und dessen Repräsentant beim Heiligen Stuhl über¬ 
gegangen, oder an ihn zurückgelangt war, da Cavaceppi wörtlich 
sagt: , J>rcscntemente posseduta da Sua Ecc. il Sig. Bali de Breteuil 
etc. (gegenwärtig im Besitz von Sr. Exc. dem Herrn Comthur von 
Breteuil“ 12 ); 

4) dass in der Zeit zwischen 1768 (in welchem Jahre der erste 
Band des Werkes von Cavaceppi gedruckt wurde) und 1779 (welche * 
Jahreszahl der italienische Catalog von Lyde Browne trägt), Lyde 
Browne von dem Baron Breteuil die Gruppe von Raphael-Lorenzetto 
erworben hatte, was aus den Worten des Catalogs hervorgeht: it gia 
nel possesso del Barone di Breteuil etc (früher im Besitz des Baron v. 
Breteuil etc.)“; 

5) dass sich diese Gruppe im Jahre 1779, wie cs der Catc^og be¬ 
stätigt, in der Sammlung Lyde Browne zu Wimbledon befahd; 

6) . dass dieselbe gegen das Iahr 1787 mit der Sammlung Lyde 
Browne von der Kaiserin Catharina II angekauft und nach St. Pe¬ 
tersburg gebracht wurde (S. Dallaway Bd. I., pag. 389). 

Alles Dieses in Verbindung mit dem bedeutungsvollen Umstande, 
dass die, hinsichtlich der Wiederauffindung des Originals der Raphac- 
lischen Marmorgruppc angestellten, sorgfältigsten Nachforschungen 
bis Jetzt resultatlos geblieben sind, scheint mehr als genugsam zu be¬ 
weisen, dass dieses Original wirklich im Kaiserlichen Museum zu St. 
Petersburg wieder aufgefunden worden ist. Aber ausser den von unsan- 


,? ) Passavant (Bd I, pag. 206) sagt ohne irgend welchen Grund,,^dass Cavaceppi 
diese Statue besass (posseda) und an Ilm v Breteuil verkaufte (vendit). Er hat sie nur 
restaurirt. 


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223 

geführten Thatsachen bleibt noch die genaue Uebereinstimmung unse¬ 
rer Gruppe mit dem Gypsabguss von R. Mengs nachzuweisen, welche 
ein Beweismittel von grösstem Werthe für uns ist. Denn wenn 
wir einestheils durchaus keinen Grund haben, die Aufrichtigkeit und 
die künstlerischen Kenntnisse Cavaceppi’s und Lyde Browne’s in 
Zweifel zu ziehen, so steht es anderenteils fest, dass Mengs in seine 
Sammlung von Gypsabgüssen nur einen Abguss aufnehmen konnte, 
welcher n^ch der von ihm, unzweifelhaft atis guten Gründen, für das 
Originalwerk des grossen Meisters gehaltenen Gruppe hergestellt 
worden war. » 

Diese Uebereinstimmung, beeilen wir uns es zu sagen, ist so 
vollständig, wie nur möglich. 

Es ist mir vergönnt, in dieser Beziehung den Ausspruch des Herrn 
Hofrath Dr. v. Zahn in Dresden anzuführen, welchem Herr v. Ste¬ 
phani vor Kurzem, als Herr v. Zahn St. Petersburg und die Eremi¬ 
tage besuchte, unsere Gruppe mit der Bitte zeigte: er möchte der 
Eremitage über das Verhältniss, welches nothwendig zwischen der 
Gruppe von Lyde Browne und dem Gypsabguss von R. Mengs statt¬ 
finden müsse, genaue Mittheilung machen. 

„Bei meiner Rückkehr — (schreibt Herr Dr. v. Zahn in seinem 
Briefe an Herrn v. Stephani d. d. Dresden, den 12. Juni 1872) — fand 
ch, dass ich den Abguss des Knaben auf dem Delphin nach Raphael 
doch nicht so sicher im Gedächtniss hatte, als ich bei der Be¬ 
trachtung des Marmors in St. Petersburg geglaubt hatte! Die mir 
dort erinnerlichen Abweichungen konnte ich hier doch nicht constati- 
ren, ufd ich glaubein derThat, dass unser hiesiger Abguss von Ihrem 
Marmor genommen sein wird. Die Differenz in der Behandlung der 
Oberfläche erklärt sich daraus, dass wir hier nicht den ersten Abguss 
aus einer, über den Marmor gemachten Keilform, sondern den Ab¬ 
guss eines älteren Gypsabgusses besitzen, dessen Näthe neben denen 
der Mengs’schen Form noch deutlich erkennbar sind. Ich füge die 
kürzlich aufgenommene Photographie bei, und bemerke, dass die 
Maasse unseres Abgusses die nachstehenden sind: von der Zehen¬ 
spitze auf die Höhe des Knies 0,33 ; von da zur Nasenspitze 0,525; 
jedesmqj in gerader Linie gemessen. “ 13 ) 

Es stimmen nicht nur die von Herrn Dr. v. Zahn angegebenen Maasse 


la ) In der neuesten Auflage des Catalogs der Gypsabgüsse im Königl- Museum zu 
Dresden (HI. Aufl. 1872), welchen Dr. Hettncr kürzlich veröffentlichte, heisst es schon 
(pag. 125, No. 13) : „Delphin, ein verwundetes Kind an das Ufer tragend. Statue von 


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224 


mit denen unserer Gruppeauf das Genaueste überein, sondern, wenn 
man die Dres“dener Photographie mit derjenigen unserer Marmor¬ 
gruppe vergleicht, so sieht man, bis zu welchem Grade die Linien 
beider Gruppen identisch sind; und überdies sind Zahl und Lage 
der Schuppen des Delphins auf der Photographie des Dresdener 
Gypsabgusses genau dieselben, wie auf der Marmorgruppe der Ere¬ 
mitage. u ) 

Der in so ausserordentlicher Weise hervortretende R^phaeiische 
Styl derComposition, die fast antike Schönheit der Linien, die Weich¬ 
heit des Fleisches, die Feinheit der Modellirung in den Details lassen 
dieses Werk als das würdige Gegenstück des „Jonas“ erscheinen, der 
von Raphael für die Capelle Agostino Chigi in Santa Maria del 
Popolo in Marmor gearbeitet wurde, und lassen Passavants Aus- 
sprych (Band I, pag. 206) über den Gypsabdruck zu Dresden durch¬ 
aus berechtigt erscheinen, wenn er sagt: „Die so natürliche Stellung 
des Knaben, der Styl des Kopfes und der Haare, die Form des 
Kopfes vom Delphin, welche in jeder Beziehung an die Delphine des 
Gemäldes der Galathea erinnern — Alles veranlasst uns zu glauben, 
dass dieser Knabe derselbe ist, von dem Castiglione spricht. 

Ebenso erkennen wir vollständig die vollkommene Richtigkeit der 
Bemerkung Passavants an in Betreff des verfehlten Meisselschlags, 
welcher an der rechten Seite der Brust des Knaben zu viel Marmor 
fortgenommen habe; das ist ein bei unserer Gruppe sehr sichtbarer 

Raphael. Vgl. Vasari VIII, pag. 47, Anm. 1. Lern. Das Original, das lange verschollen 
war, befindet sich in der Eremitage zu St. Petersburg; dorthin kam es aus England 
durch den Ankauf der Lyde Browne’schen Sammlung. u £ 

'*) Ein anderer Abguss derselben Gruppe befindet sich zu Rom. Herr v. Nefl; Con- 
servator der Gemälde-Abtheilung der Eremitage, theilte mir, gestützt auf das, was er 
selbst vor ungefähr fünfzehn Jahren zu Rom erfahren hatte, darüber mit: dass dieser 
Gypsabguss A.ngelika Kaufmann zugehört habe, die aber nicht wusste, woher derselbe 
stammte, und ihn bei ihrem Tode testamentarisch an Kestner vermachte, welcher später 
hannoverscher Gesandter beim Heil. Stuhle war. Nach dem Tode Kestners sei auch 
dieser Abguss eine Zeitlang verloren gewesen, dann von Hm. Lotsch, einem deutschen 
Bildhauer, wieder gefunden und Vür 6 Scudi käuflich erworben worden. Bei diesem sah 
Herr v. Neff den Abguss zum ersten Male i. J. 1857. Erstaunt über die ausserordent¬ 
liche Schönheit dieses Werkes (obgleich der Gypsabguss an mehreren Stellen beschädigt 
und zerbrochen war), liessHr. v. Neff im J. 1860 durch Lotsch darnach eineCopie in Mar¬ 
mor ausführen. Diese letztere* befindet sich gegenwärtig (im Palais zu Oranienbaum) 
im Besitz I. K. H. der Grossfürstin Cathärina Michailowna lind stimmt vollständig mit 
unserer Marmorgruppe überein, mit Ausnahme einiger sehr geringfügiger Abweichungen 
in den Maassen und in der Zahl der Schuppen des Delphins, was sich leicht durch die 
Ausbesserungen erklärt, die bei uem Gypsabguss.zu Rom bewerkstelligt werden mussten, 
ehe derselbe dem Bildhauer als Modell dielten konnte. 


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225 


Lapsus scalpri . Dagegen gestatten wir uns, unser Bedenken über das 
auszusprechen, was derselbe über die nach seiner Meinung sehr ver¬ 
nachlässigte Ausführung der Extremitäten sagt. Passavant hat sich* 
über den sehr wichtigen Umstand nicht Rechenschaft gegeben, dass 
die Original-Gruppe des Knaben und des Delphins durch Cavaccppi 
gegen das Jahr 1768 restaurirt wurde. Es lässt dies natürlich voraus¬ 
setzen, dass zu der Zeit, aus welcher der Gypsabguss von R. Mengs 
stammt und welche vor das Jahr 1768 zu setzen ist, weil damals das 
Original noch einem Herzog oder einer Herzogin von Parma an¬ 
gehörte, dass zu dieser Zeit die Gruppe an einigen Stellen schon so 
beschädigt war, dass eine Restauration (und aller Wahrscheinlichkeit 
nach eine zweite Restauration) nothwendig würde. Cavaccppi giebt • 
die restaurirten Stellen nicht an; aber ein Blick auf die Gruppe reicht 
hin, um die Ueberzeugung zu gewähren, dass es gerade die Extremi¬ 
täten sind, welche durch ihre isolirte Lage der Verletzung am meisten 
ausgesetzt waren: eine Folgerung, welche durch die bei unserer Gruppe 
an den Händen und Füssen des Knaben ausgefiihrtc Restauration be¬ 
stätigt wird. (S. weiter unten.) Heute aber kann es im Hinblick darauf, 
dass der Gypsabguss zu Dresden eine schlechte, derjenigen des 
Cavaccppi vorhergehende Restauration wiedergiebt, oder dass der 
Verfertiger des Gypsabgusscs in Stuck dasjenige ergänzte, was dem 
Raphael’schen Original in Marmor etwa fehlte, nicht auffällig er¬ 
scheinen, dass die so ergänzten Partien des Werkes schwächer ge¬ 
arbeitet erscheinen, als die übrigen. 

Die gegenwärtig im Kaiserlichen Museum der Eremitage befind¬ 
liche Gruppe: „ein todter Knabe, getragen von einem Delphin,“ 
ist in Carrarischem Marmor ausgeführt und nach demjenigen Ver¬ 
fahren polirt, welches in Italien von der Zeit der Renaissance bis zum 
Anfang des 19. Jahrhunderts angewandt wurde. 

Die Gestalt des Knaben zeigt etwas mehr als natürliche Grösse 15 ). 
Die Länge der Gruppe, gemessen von der Spitze der grossen Zehe 
am linken Fusse des Knaben bis zum äussersten Ende des Kopfes 
vom Delphin beträgt 1,045 M. Von den Restaurationen Cavaceppi’s 
sind erhalten: eine Partie des Handgelenkes und der Daumen der 
linken Hand, sowie die Mittel-Zehe des rechten Fusses. Die relatif 
neuere Verstümmelung der Extremitäten hat eine neue Restauration 
der unteren Hälfte des linken Fusses, der grossen Zehe des rechten 


,5 ) Passavant Il 3 d. II, pag. 375) schreibt mit Unrecht: „Marmorgruppe in natürlicher 
Grösse.“ 


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226 


Fusses, der vier Finger der linken Hand und des Daumens der rech* 
ten Hand nothwendig gemacht. Diese Restaurationen sind durch 
Herrn Kusnezow, Bildhauer der Kaiserlichen Eremitage, ausgeführt 
worden. 

Die Gruppe der Eremitage ist mittelst eines drehbaren Stifts aus 
Kupfer aufeinem runden Piedestal aus grauem Marmor aufgestellt. Die 
in vergoldeter Bronce ausgeführten Ornamente des Piedestäls, welche 
sich schon sehr beschädigt zeigten, sind durch neue, nach demselben 
Muster ausgeführte, ersetzt worden. Es ist nicht unwahrscheinlich 
dass dieses Piedestal von Anfang an zu der Gruppe gehörte. 


Die oben am Eingänge dieses Artikels in Uebersetzung angeführte 
Stelle Passavant’s (S. Seite 217, Not. 8.) lautet im Original mit den 
Noten wie folgt: 

„D’apres le passage de la lettre du Comte Castiglione, que nous 
avons publik dans fhistoire de Raphael '), il n’est pas permis de 
doutef que Raphael se soit essay£ dans Tart de tailler le marbre et 
quil ait execute lui-meme une figure cfenfant en ronde-bosse. Ca- 
vaceppi (Raccolta dantiche statue, Roma, 1768, t. ier f pl. 44) 
nous donne la gravure d’un enfant blesse ä mort, couche sur le dos 
d’un dauphin, qui le porte ä travers les flots. La notice suivante est 
ajoutee ä la gravure: „Delfino che riconduce al lido il fanciullo da 
lui involontariamente ucciso con una delle sue spine nel condurlo a 
solazzo per mare 2 ). Opera di Raflf^ello, eseguita di Lorenzetto, e 
presentemente posseduta di Sua Ecc. il sig. Ball de Breteuil, Ambasc. 
della sacra religiöne Gerosolimitana presso la Santa Sede“ *). Le 
moulage de ce groupe se trouve parmi les platres de Mengs, ä 


') Ibid. I pp. 205, 206 — „Desideroancora saperc, s’egli(GiulioRomano) ha piu quel 
puttino di marmo di mano di RafTaello, e par quanto si dnria all* ultimo. u Cettc lettre 
est dät£e de Mantoue du 8 mai I 523 et adressec par Baldassar Castiglione a messer An¬ 
drea Piperario. son intendant a Rome (I^ett. Pittor. V, 245). Les 6diteurs de Vasari 
(Firenze, Fel. Le Monnier, I852, VIII, 47 No 1) ajoutent: ,,Intorno alla quäle scultura 
abbiamo la testimonianza anchc dell’ autore anonimo stampato dal Comolli: L&vordan- 
cora in scultura, havendo fatto qualche statua: et una ne ho io veduta in mano di Giulio 
Pipi, che rappresenta un putto (ediz del 1790, pag. 76, 77 ). n Mais il lie faut pas 
oublier que l’authenticit£ de Tanonyme a 6 t 6 mise tres fortement en question par Passa- 
vant , I, 2—3 

*) Passavant (I. 206) pense que c’est le Comte Castiglione lui meme qui aurait con- 
seill6 a Raphael ce sujet tir6 du livre d’Aelian, oü on lit que les dauphins sont tri*s d6- 
vou6s a Phomme, et qu’un de ces 6tres marins porta vers la rive un enfant mort — Ste¬ 
phani C. R. pour 1864 p. 207 eite encore d’autres hisloires de ce genre, d’apres quel¬ 
ques auteurs de l’antiquit^. 

*) Clarac, Planches IV, pl. 647, donne, d’apr^s la gravure de Cavaceppi, une repro- 
duction de ce groupe, qu’il paratt avoir pris pour une sculpture antique- Le texte de Clarac 
n’en fait pas mention. 


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227 

Dresde (No. 82) et, dapres cctte cprcuve, nous pouvons constater 
que c’est bien la statuc d’cnfant citee dans la lettre du Comte Castig- 
•lione. Dans Tinventairc descriptif des platrcs qui furent acquis des 
heritiers de R. Mengs 4 ) pour lc Musee de Dresde, cc groupe cst 
decrit de la Sorte: Putto morto de S. A. R. di Parma 5 ). Dapres cet 
inventaire, le groupe original devrait se trouver ä Naples 6 ), oü nous 
ne l’avons pas rencontrc. On a dit aussi, sans aucun fondement, qu’il 
etait VTurin 7 ). On doit supposer gue cette statuc fut le premier 
essai de Raphael dans la sculpturc, car toutes les parties de la figure 
ne sont point d’une cxccution egale, entre autres les extremites; 
dans quelques endroits aüssi, le ciseau, mal dirige, a cnleve trop de 
marbre, comme ä la poitrine de Tenfant, trüs bien modelee d’ailleurs, 
mais dont le cote droit est devenu plus petit que le gauche. II est 
douteux que le dauphin, qui cst d’un mouvement exagere, ait ete 
execute exactement d’apres le dessin de Raphael; cclui-ci aurait 
abandonne cette partie accessoire ä Lorenzetto, qui la traita suivarit 
sa fantaisie, mais non pas selon le goüt si pur et si eleve du grand 
maitrc. Une autre circonstancc semble encore confirmer cctte sup-, 
Position, c’est que Texecution du dauphin cst egale dans toutes ses 
parties, tandis que chez l’enfant, comme nous l’avons dit, les extre¬ 
mites sont tres negligees. II est possible que Lorenzetto n ait pas. 
ose mettre la main aux portions # de l’oeuvre qui avaient ete taillees 
par Raphael. 

Une röpdtition en marbre de ce groupe fut acquise par feu le 
Comte de Bristol, eveque de Derry, qui Tavait fait placer dans sa 
collection de Down Hill, cn Irlande. Le Penny Magazine en a publiö 
la gravure avec le nom de Raphael. Mais ce groupe ayant figure ä 
Texhibition de Manchester en 1857, oü l’avait cnvoyc son proprie- 
taire actuel, Sir Henry Bruce, M. le professcur Hettner, conser- 
vatcur des plätres de Mengs, k Dresde, a prouve que cc n’etait 
qu’une copie 8 ). Non seulemcnt le marbre n’offrc pas les parties en* 
dommagees qui existent dans Toriginal, comme on. lc voit dans le 
platrc qui est a Dresde, mais encore cc dernier cst d’une dimension 
plus grande que le marbre que nous avons vu ä Manchester.“ 


4 ) Mort en 1779. 

6 ) Le plus ancien inventaire de la collection Mengs a Dresde est de l’annec 1783. 
L’Indication du No 82 porte: Putto morto sul tfelfino di S. A. R. di I’hrma. 

6 ) De 1545 a 1802 le duclie de Parme fut gouverne par des princcs de la maison Far¬ 
nese. De la, pr.obablement. la su]>position de Passavant. 

7 ) V. Pancien cataloguc des plätres deR. Mengs a Dresde. redige par J. G. Matthaei 
cn 1831. 

•) V. Catalog des K. Museum’s der Gypsabgiisse zu Dresden. II. Aufl. 1861. S. 13. 
— A propOs du groupe de Manchester, on lit dansW. Bürger, Tresors d’art, Paris, 1865. 
p. 446, 447: „Et quant a l’Enfant marin de Manchester, ce n’est .memc pas une 
tres-belle oeuvre; le dessin en est court et l’exöcution ronde et nudle.^ 


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Die polytechnische Ausstellung in Moshaü 

im Jahre 1872. 

{Die Kaukasische und die Türkestanische Abtheilung.) 


A. I. Die Productionsverhaltnigse des Kaukasus. 

Erst seit der vollständigen Besiegung der einheimischen Berg¬ 
völker durch die russischen Waffen erlangte der Kaukasus seine 
gegenwärtige hohe Culturbedeutung nicht nur • für Russland, 
sondern auch für Europa. Diese hohe Culturbedeutung aber war 
es, welche man in den aufgeklärten und fernsehenden Regierungs¬ 
kreisen Russlands schon seit Menschenaltem richtig erfasst hatte, 
sie war es, welche die russischen Herrscher zu jener bewunderns- 
werthen Ausdauer in der Führung jener jahrelangen und beschwer¬ 
lichen Kriege stählte, welche nothwendig der vollständigen Einver¬ 
leibung dieser altasiatischen Ländergebiete vorausgehen mussten. Dass 
Russland selbst schon während dieser Kriege, ja zum Theil schon 
vor der letzten Periode derselben seiner Culturaufgabc gedachte und 
letztere zur Geltung zu bringen bestrebt war, beweisen viele Institu¬ 
tionen, welche noch heute bestehen, und deren Anfänge in die ersten 
Decennien unseres Jahrhunderts zurück zu.datiren sind. 

Zu diesen Institutionen sind, als einflussübend auf die heutigen 
Culturverhältnisse, besonders die 16 deutschen Colonien zu ver¬ 
zeichnen, deren Gründung theilweise noch in die Regierungs^eit des 
* Kaisers Alexander I. zurückreicht, obgleich solche Colonien auch 
noch während der Regierung des Kaisers Nikolai I. gegründet 
wurden, und sich selbst in den letzten Jahren durch Ansiedelung ein¬ 
wanderungslustiger Czechen das Bestreben der russischen Regie¬ 
rung kundgiebt, für das kaukasische Ländergebiet immer neue Cul- 
turkräfte zu gewinnen. Und in der Herbeiziehung solcher Cultur- 
kräfte liegt in der That die nächste und die dringendste Aufgabe der 
russischen Regierung, eine Aufgabe, deren Lösung ihr durch die 


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229 


reiche^ Naturschätze der kaukasischen Lande erleichtert wird. 
Die russische Regierung fördert diese Herbeiziehung durch Ver¬ 
leihung von culturfähigem Land und durch anderweitige Unter¬ 
stützung, welche sie den Ansiedlern angedeihen lässt; und wenn auch 
heute das „Verschenken“ des Landes weniger an der Tagesordnung 
steht, wie in früheren Zeiten, so fehlt es keineswegs an Grund und 
Boden, dessen Beschaffenheit und Lage einen lucrativen landwirt¬ 
schaftlichen Betrieb in Aussicht stellt, und dessen Preis auch heute 
noch im Allgemeinen so niedrig steht, dass es möglich wird, sich 
mit einem sehr geringen Capitale durch den Betrieb des Landbaues 
eine sorgenfreie Zukunft zu sichern. In der Nähe von Tiflis und 
anderen grösseren Städten sin.dallerdings die Bodenpreise vetkältniss - 
ntässig hoch gestiegen, erscheinen abdr im Vergleiche zu den Prei¬ 
sen des Bodens in andern Gegenden Russlands noch immer niedrig 
genug. Obgleich die von mir erwähnten deutschen Colonien in den 
Ersten Decenmen ihres Bestehens mit Widerwärtigkeiten aller Art 
zu kämpfen und die ersten Ansiedlergenerationen ein schweres und 
opferreiches Leben zu führen hatten, *) so erfreuen sich doch jetzt 
diese Colonien eines gesicherten Wohlstandes, und sind in keinem 
Falle ohne Einfluss auf die Entwickelung der landwirtschaft¬ 
lichen und industriellen Verhältnisse des Kaukasus geblieben. In 
letzterer Beziehung erinnere ich an die Colonie Tiflis selbst, deren 
Bewohner schon zur Zeit ihrer Gründung grösstentheils aus Hand¬ 
werkern und Gärtnern bestanden, und deren Nachkommen heute 
vorzugsweise als die Träger des industriellen Lebens der kaukasischen 
Hauptstadt anzusehen sind. Bei Besprechung der Culturverhältnisse 
dieses Landes werde ich hoch mehrfach Gelegenheit haben, auf die 
Leistungen einzelner dieser ^ Colonien zurück zu kommen und kann 
mich daher an diesfer Stelle mit diesen allgemeinen Andeutungen 
begnügen. * 

Wie im zweiten Hefte der „Russischen Revue“ mitgetheilt 
wurde, betrug im Jahre 1870 die Bevölkerung des Kaukasus4,583,640 
Individuen beiderlei Geschlechtes, und ist daher die Bevölkerungs¬ 
zahl im letzten Decennium um ca. V2 Mill. Einwohner oder um beinahe 
13 pCt. gestiegen, welche ansehnliche Steigerung eben dem Um¬ 
stande zuzüschreiben ist, dass im Laufe der letzten Jahre sowohl 
aus Russland, als t auch aus dem Auslande eine lebhafte Einwande- 


*) Siehe F. Matthäi: Die deutschen Ansiedelungen in Russland. Leipzig 1866 
Verlag von Hermann Fries. 


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2 30 


rung nach dem Kaukasus stattgeftmden hat. Trotz dem gehört 
dieses Ländergebiet, wenn von Sibirien abgesehen wird, zu den am 
schwächsten bevölkerten Theilen des Russischen Reiches und er¬ 
reicht die Bevölkerungszähl noch keineswegs die durchschnittliche 
des europäischen Russlands, indem letztere 706 Individuen auf die. 
□Meile aufweist, während im Kaukasus die durchschnittliche Bevöl¬ 
kerung nur 577 Individuen per ÜMeile beträgt. Wenn auch dem 
Umstande Rechnung getragen werden muss, dass der gebirgige 
Character des Kaukasus an und'für sich schon eine geringere Bevöl¬ 
kerungszahl bedingt, so ist doch, andererseits dieses Land so reich 
an noch ungehobenen Naturschätzen aller Art, dass selbst eine dop¬ 
pelte und dreifache Bevölkerungszahl noch eine vollständig gesicherte 
Existenz finden würde und inA Stande sein könnte, selbst mit äusserat 
geringen Mitteln in verhältnissmässig kurzer Zeit zu einem nicht ge¬ 
wöhnlichen Wohlstand sich empor zu arbeiten. Gerade in diesem Um¬ 
stande liegt ein Theil der von mir oben hervorgehobenen Culturbe- 
deutung des Kaukasus, und steht daher auch wohl zu erwarten, dass 
die russische Regierung nicht ermüden werde, durch erneuerte Her¬ 
beiziehung von Culturkräften den Kaukäsus in nicht zu ferner Zeit 
in ein blühendes Culturland zu verwandeln. 

Schon die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung im Jahre I87o 
wies in ihrer kaukasischen Abtheilung eine reiche Sammlung kauka¬ 
sischer Naturproducte und Industrie-Erzeugnisse auf, Diese Samm¬ 
lung wurde durch die Moskauer polytechnische Ausstellung noch ver¬ 
vollständigt. Die nachstehenden Mittheilungen sind das Resultat des 
Studiums beider Ausstellungen, deren eine gewissermaassen zur Er¬ 
gänzung der andern diente. * • 

Der ganze Character des Kaukasus deutet darauf hin, dass wir es* 
hier mit einem Lande zu thun haben, dessen Bewohner im Grossen 
und Ganzen ihre Lebensaufgabe darin zu suchen haben,, die sich 
ihnen in reicher Fülle bietenden natürlichen Hülfsquellcn desselben 
auszubeuten. Der Kaukasus ist in jeder Beziehung das Land einer 
zwar reichen und vielseitigen, doch einer seinem ganzen Culturstande 
entsprechenden primitiven Urprodfuction. Auch das industrielle Leben, 
soweit sich letzteres überhaupt entwickeln konnte, muss sich diesen Ver¬ 
hältnissen anschmiegen, sich dieser Urproduction dienstbar machen 
und sich nothwendig von dieser letzteren beeinflussen lassen. Nur 
wenige und keineswegs ausgedehnte Industriezweige machen hier¬ 
von eine Ausnahme. Die Grossindustrie, wie wir einer solchen in 
so ausgedehnter Weise in Russland begegnen; findet im Kaukasus 


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noch keinen Boden, und wenn sich nicht etwa künstliche Einflüsse 
geltend machen sollten, was kaum zu erwarten steht und auch nicht 
zu wünschen wäre, wird die kaukasische Industrie auch für spätere 
Zeiten der Urproduction nachstehen und lediglich in dieser letzteren 
ihre Basis finden. Es liegt mir sehr fern, der Industrie des Kaukasus 
die Zukunft abzusprechen, im Gegentheil steht zu erwarten, dass ein¬ 
zelne Zweige derselben zu einer ungewöhnlichen Blüthe gelangen 
dürften, immer aber werden sie* und das bleibt in ihrem Interesse 
auch zu wünschen, dem Character des Landes treU bleiben, dem. sie 
•entsprossen. 

Ueber das äusserliche Arrangement der kaukasischen Abtheilung 
auf der Moskauer polytechnischen Ausstellung darf ich wohl mit 
Stillschweigen hinweggehen und will nur erwähnen, dass sich der 
Director des Tifliser Museums, Herr Dr . Radde , der mühevollen Ar¬ 
beit des Arrangements unterzogen und sein Möglichstes gethan hat, 
die ihm gestellte, bei der Ungunst der localen Verhältnisse äusserst 
schwierige Aufgabe mit Erfolg zu lösen. Ebensö liegt es mir fern, 
in meinem heutigen Berichte die Leser mit allen kleinen Details, 
Curiositäten und Specialitäten einzelner Ausstellungsgegenstände 
bekannt zu machen. Ich beabsichtige Vielmehr, auf Grundlage des 
auf den Ausstellungen von St. Petersburg und Moskau Gebotenen 
die allgemeinen Productionsverhältnisse des Kaukasus zü erörtern, 
den Reichthum seiner Naturproducte und wirthschaftlichen Hülfs- 
quellen darzulegen und schliesslich ein flüchtiges Bild der sich auf 
diese letzteren basirenden Industrieverhältnisse zu entwerfen. Ich 
werde daher gewissermaassen nur die Elemente des wirthschaft¬ 
lichen Lebens dieses, seiner geographischenLage nach zwar asiatischen, 
in seinem übrigen Character aber schon mehr und mehr europäisir- 
ten Gebietes des grossen russischen Reiches in objectiver Weise zu, 
schildern suchen, in so weit dies auf Grundlage des von mir oben 
erwähnten Materials möglich erscheint. 

Man ist gewiss in vollenf Rechte, wenn man den Kaukasus, wie 
dies auch schon so vielseitig geschieht, das Land der Zukunft nennt; 
denn dass derselbe in mehr denfT einer Beziehung eine grosse 
Zukunft hat, ist nicht in Abrede zu stellen und darf um so we¬ 
niger bezweifelt werden, als auch: schon sein gegenwärtiger Zustand 
auf eine ungewöhnlich rasche »Entwickelung hinweist. Die geord¬ 
nete Administration des Landes, welche von Jahr zu Jahr immer mehr 
an Boden gewinnt, und welche das Bestreben kennzeichnet, ihren Ein¬ 
fluss auch zu Gunsten, der ..productiven Gewerbe zur Geltung zu 


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2p 


bringen, ist bereits zu einem mächtigen Hebel dieser letzteren ge¬ 
worden, indem sie ihnen hinsichtlich' ihrer gesicherten Existenz Ga¬ 
rantien bietet, die über jedem Zweifel erhaben sind. Was dem Kau¬ 
kasus noch eine besondere Bedeutung giebt, ist der Umstand, dass 
er nicht nur in mehr denn einer Beziehung als ein altes Culturland 
angesehen werden muss, sondern dass er gegenwärtig, wenn wir von 
der Türkei absehen, den fast einzigen neutralen Boden bildet, auf 
welchem sich Asien und Europa die Hand reichen und mit einander 
wetteifern in der Ausbeutung eines Landes, das, überreich an Na- 
turproducten, eine fast unerschöpfliche Quelle werdenden Reich¬ 
thums in sich verschliesst. Neben dem eingeborenen Bergbewoh¬ 
ner und den zahlreichen russischen Beamten, Militairs, Kaufleuten, 
industriellen und Gutsbesitzern finden wir den deutschen Colonisten, 
den französischen Industriellen, den englischen Ingenieur und über- 
dem Kaufleute und Unternehmer aller Länder und Zungen und Alle 
arbeiten gemeinsam an der Zukunft dieses durch Lage, Klima und 
Bodenreichthum so bevorzugten Landes. v 

Wenden wir uns zunächst dem Landbaue zu, so finden, wir, dass 
derselbe im Kaukasus über grosse Hülfsmittel gebietet, über weit 
grössere als andere Theile des ausgedehnten russischen Reiches 
und dass unter diesen Hülfsmitteln die grosse Mannigfaltigkeit der 
Producte des Land- und Gartenbaues besonders gewichtig in die 
Waagschaale fällt. Wir begegnen hier nicht nur allen unseren ge¬ 
wöhnlichen europäischen Getreidearten, Hülsenfrüchten und Erdge¬ 
wächsen, wie verschiedenen Gattungen von Weizen, Roggen, Gerste, 
Hafer, Bohnen, Erbsen, Linsen, Hirse, Kartoffeln etc., sondern auch 
jenen Culturpfianzen, die vorzugsweise nur in südlichen oder ganz 
besonders durch Klima- und Bodenreichthum begünstigten Län¬ 
dern in grösseren Verhältnissen gebaut werden können, wie Kuku¬ 
ruz (Mais), Reis, Tabak, Krapp (Marena), Sesam etc. Nach den 
auf der Moskauer Ausstellung exponirt gewesenen Mustern scheint 
der Mais ganz vortrefflich im Kaukasus %u gedeihen, und zeigen die 
einzelnen Fruchtkolben eine ganz ausserordentliche Körnerfülle. 
Unter diesen Umständen wäre es wünschenswerth, seinen Anbau 
noch weiter ausgedehnt zu sehen, als es gegenwärtig der Fall 
ist oder vielleicht in Folge der schwachen Landbevölkerung 
nur der Fall sein kann. Von gleich grosser, und für die Zukunft 
vielleicht von noch grösserer Bedeutung ist der kaukasische Reisbau , 
dessen sich auch bereits, wenn auch nur in beschränktem Verhält¬ 
nisse, die deutschen Colonisten bemächtigt haben. —Eine sorgfältig 


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233 


angelegte und durch nachträgliche Einzeichnungen immer mit der 
Zeit fortschreitende Karte der verschiedenartigen Bodenculturen des 
Kaukasus nach den Angaben des Directors des Tifliser Acclimatisa- 
tionsgartens, Herrn Sitowski, belehrt uns, dass der Reisbau in der 
Nähe von Kutaiss und Eriwan sich wohl Bahn gebrochen, seinen 
Hauptmittelpunkt aber doch in der Nähe von Schemacha im Lenko- 
ranschen Kreise findet. Rothen Reis, wie wir ihn als Spielart eben¬ 
falls auf der Ausstellung sahen, bauen hauptsächlich deutsche Colo- 
nisten in jener Gegend; auch jene Reisart, welche den Namen 
Dalai-Lama trägt und deren Anbau ein Minimum von Wasser ver¬ 
langt, war auf der Ausstellung vertreten. 

Von Oelpflanzen werden ausser Flachs, Hanf und Mohn noch be¬ 
sonders Sesam und Ricinus cultivirt 4 und finden sich letztere auch 
wildwachsend im Kaukasus vor, sodass Gelegenheit geboten wird, 
sowohl mit Ricinus- als mit Sesamöl einen nicht ganz unbedeutenden • 
Exporthandel zu. treiben. 

Als Fabrikpflanzen nehmen besonders der Tabak, der für die Fär¬ 
berei so geschätzte Krapp (Marena) und die Baumwolle unsere volle 
Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Kaukasische Tabak verdient die 
vollste Beachtung und kommt an Qualität dem türkischen sehr nahe, 
der auch vorzugsweise hier cultivirt wird. Unter den einheimischen 
'Tabakssorten ist es besonders der mingrelische Tabak, der ziemlich 
verbreitet und beliebt ist; von türkischen Tabaken wird beson- 
ders der trapezuntsche cultivirt. Am Eifrigsten wird der Tabaksbau 
im Gouvernement Tiflis, in Kutaiss und in der Umgegend von Dage¬ 
stan betrieben. In Tiflis, Kutaiss u. a. O. giebt es Tabaksfabriken 
welche vorzugsweise einheimischen Tabak zu Rauchtabak, Papiros 
(Cigaretten) und Cigarren verarbeiten. 

Der Kaukasische Krapp ist seiner intensiven Färbung und seines 
reichen Gehaltes an Farbestoff wegen berühmt; die vorzüglichste 
Sorte desselben ist unter dem Namen „Marena“ bekannt und bildet 
einen sehr bedeutenden Handelsartikel, indem diese Marena nach 
Russland (grösstentheils Moskau) und von hier aus selbst, in’s Aus¬ 
land verkauft wird. Ein Theil dieses kaukasischen Krapps wird 
allerdings auch in den russischen Fabriken verarbeitet, und ist es 
namentlich die grosse Farbewaarenfabrik von P. Maljutin Söhne 
(Moskauer Gouvernement), welche grosse Quantitäten dieser kau¬ 
kasischen Marena verarbeitet. Die berühmteste Marena wird in der 
Nähe von Derbent (Dagestan’sches Gebiet), dann auch im Gouverne¬ 
ment Tiflis und in der Umgegend von Kuba (Bakuer Gouverne- 

16 ' 


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234 


ment) gewonnen. Besonders die letztere wird ihrer intensiven Fär¬ 
bung wegen berühmt und geschätzt. 

Es unterliegt keinem Zweifel, dass sowohl die kaukasische Tabak¬ 
ais Krappcultur einer grossen Zukunft entgegengehen, da Klima wie 
Bodenverhältnisse beiden landwirtschaftlichen Culturzweigen ausser¬ 
ordentlich Zusagen. Freilich bedingen auch beide einen grossen 
Aufwand an menschlichen Arbeitskräften, welche sich jedoch reich¬ 
lich durch die hohen Verkaufspreise sowohl des Krapps als des 
Tabaks bezahlt machen. So hatte u. A. auf der letzten St. Peters¬ 
burger Manufactur-Ausstellung ein Fürst llja Abaschidse (Tifliser 
Gouvernement) Blättertabak aus trapezuntschen Samen ausgestellt, 
den er mit 6—8 Rubel per Pud verkauft, demnach zu einem Preise, 
wie solche selbst für die besten bessarabischen Tabake nur in sel¬ 
tenen Fällen erzielt wird. Es wäre wohl zu wünschen, dass sich den 
genannten beiden Culturzweigen recht tüchtige und zahlreiche Ar¬ 
beitskräfte zuwenden möchten; denn letztere dürften einerseits ihre 
gute Rechnung dabei finden, und andererseits würde sich dadurch die 
Zahl der exportfähigen Producte Russlands ansehnlich steigern. 

Auch an die Einführung der Baun\ivollencultur knüpft man im Kau¬ 
kasus vielseitige Hoffnungen und sind in der That auf den zwischen den 
Flüssen Kur und Arax liegenden Ländereien und im Gouvernement 
Kutaiss schon recht gelungene Versuche mit cfer Anlage von Baum¬ 
wollenplantagen gemacht worden. Es erscheint demnach die Hofl- 
nung gerechtfertigt, auch diesem Culturzweige eine weitere Ausdeh- 
/ nung zu geben, wenn auch das bisher Geleistete trotz aller Aner¬ 
kennung, die es verdient, kaum aus dem Bereiche eines grösseren 
- Versuches herausgetreten sein dürfte. Unter den kaukasischen 
Baumwollenproducenten nimmt Herr J\ N. Morosow eine hervor¬ 
ragende Stellung ein. Die Pflanzung dieses Herrn*) wurde im Jahre 
1867 gegründet und’nahiQ bereits zwei Jahre später einen Flächen¬ 
raum von 30 Dessjätinen (1277« preuss. Morgen) ein. Sie liegt 
im Gouvernement Baku zwischen den Flüssen Kur und Arax. Die 
hier gewonnene Baumwolle liefert einen unzweideutigen Beweis 
von dem Gedeihen der Baumwollenstaude im Kaukasus,und berech¬ 
tigt zu der Erwartung, dass es hier gelingen werde, mindestens eine 
Baumwolle zu erzielen, welche der indischen an Qualität gleich kommt. 
Freilich wird man erst noch gründlichere Erfahrungen sammeln 
müssen, als es bis jetzt noch der Fall war, um zu eineip positiven 


*) S. Matthäi: Die Industrie Russlands, I, Bd. Leipzig 1872 H. Fries. 


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235 


Urtheil in dieser Beziehung zu gelangen. Die Morosow’sche Plan¬ 
tage beweist mindestens, dass das kaukasische KTima so wie die dor¬ 
tigen Bodenverhältnisse kein Hinderniss bilden, um ein vollkommen 
brauchbares Product zu erzielen. Die 30 Dessjätinen lieferten einen 
Ertrag von 300 Pud gereinigter Baumwolle im Werthe von 4500 
Rubel. Im Jahre 1870 wurde diese Baumwollenplantage auf 100 Dessjä¬ 
tinen (425 preuss. Morgen) erweitert. Neben Herrn Morosow sind 
als Baumwollenproducenten noch.die Herren J. & A. Ana?ioiu im 
Gouvernement Kutai'ss zu nennen, welche ihre Plantage bereits im 
Jahre 1860 anlegten und es heute schon zu einem jährlichen Ertrag 
von über 1000 Pud Baumwolle gebracht haben. Wenn die Plantagen 
der genannten Herrn auch immer noch als Versuch angesehen wer¬ 
den müssen, so sind diese Versuche doch in grossem ^Rlaassstabe 
ausgeführt und lassen erwarten, dass sie bald ein bestimmtes Resul¬ 
tat hinsichtlich der Möglichkeit, die Baumwollencultur in noch 
grösseren Verhältnissen im Kaukasus einzuführen, liefern werden. Im 
Interesse der so gross entwickelten russischen Baumwollenindustrie 
wäre letzteres jedenfalls zu wünschen, um so mehr, als der Trans¬ 
port des gewonnenen Productes nach den Centralpunkten dieser 
Industrie auf weit geringere Schwierigkeiten stösst und mit weit we¬ 
niger Unkosten verbunden ist, als z. B. der der bucharischen Baum¬ 
wolle, welche trotzdem in der russischen Industrie eine vielseitige 
Verwendung findet. 

Den gleichen Reichthum, den der Kaukasus an Feldproducten 
zeigt, zeigt er auch an Gartenproducten und Obst. Alle Gemüse, 
welche in den europäischen Gärten cultivirt werden, gedeihen auch 
im Kaukasus und treten hierzu noch Melonen und Arbusen, welche 
in grossen Massen nicht blos in den Gärten, sondern auch auf den 
Feldern gebaut werden. Von Früchten sind es besonders die Pfir¬ 
siche, Mandeln, Feigen und feineren Birnensorten, welche neben den 
gewöhnlichen Fruchtsorten im Kaukasus cultivirt werden. Der Wein- 
reicktkum dieses Landes ist besonders beachtenswerth und war der¬ 
selbe vorzugsweise die Veranlassung, dass die ersten deutschen Co- 
lonisten hier ängesiedeit wurden. Nach den Erläuterungen zum land- 
wirthschaftlich-statistischen Atlas des europäischen Russland, her¬ 
ausgegeben vom Kaiserlich russischen Domänenministerium, be¬ 
ziffert sich die Gesammtprodüetion Russlands an Traubenwein auf 
circa 17 Millionen Wedro 1 *), wovon acht Millionen auf das euro- 

*) 1 Wedro= 10 Krushki =: 10 Stoof ist gleich: 0,08484 bremer Ohm = '0,08486 
frankf. Ohm — 0,04215 engl. Hogshead 1 - 0,12298 franz, Hectoliter =10,08468 hamb. 

16* 


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päische Russland, neun Millionen Wedro aber auf den Kaukasus ent¬ 
fallen. Im nördlichen Theile des Kaukasus wächst der beste Wein an 
den Ufern de£ Terek und des Kuban, und hat der zwischen den 
Städten Kissljar und Mosdok producirte- (circa 3,300,000 Wedro) 
einen besonderen Ruf. An und für sich ist der kaukasische Wein von 
ganz guter Qualität und könnte auch als Handelsartikel von Bedeu¬ 
tung sein, würde er einer besseren Kellerwirthschaft unterzogen, 
und benutzten die dortigen Weinproducenten anstatt der Weinfässer 
nicht Ochsenhäute (Burdjuks) zur Aufbewahrung ihrer Weine, wo¬ 
durch diese letzteren einen faden und widerlichen Geschmack er¬ 
halten. Hin und wieder werden diese Burdjuks durch grosse Thonge- 
fässe oder Vasen ersetzt; nach den Exemplaren dieser Gefässe, 
welche sicfPauf der Moskauer Ausstellung befanden, zu schliessen, 
können aber auch sie unmöglich im Stande sein, das anderswo all¬ 
gemein übliche Weinfass zu ersetzen. Gerade in den Weinbau treiben¬ 
den Gegenden fehlt es an geeignetem Fassholze; dies ist wohl auch 
die Hauptursache, dass man zu den erwähnten Auskunftsmitteln seine 
Zuflucht genommen hat. Ehe dieser UebelstancUaber nicht beseitigt 
wird, kann kaum daran gedacht werden, für die kaukasischen Weine 
ein erweitertes Absatzgebiet zu gewinnen. In Folge desMangels dieses 
letzteren sind diese Weine auch sehr billig und werden per Wedro 
mit 1 — 3 Rub. bezahlt. Man cultivirt im Kaukasus sehr verschie¬ 
dene Weinsorten und giebt ihnen auch verschiedene Namen. 
Auf der Moskauer Ausstellung war die kaukasische Wein- 
cultur durch 40 Exponenten vertreten, und wurden Besonders 
die Sulchanow’schen Weine ihres angenehmen Geschmackes 
wegen gerühmt. Auf der letzten St. Petersburger Ausstellung 
hatten mehrere Colonisten aus der Colonie Helenendorf weisse und 
rothe, und aus der Tifliser Colonie ebensolche, ausserdem aber noch 
isabellenfarbige, Muscat- und ♦Madeira-Weine etc. ausgestellt. Im 
Allgemeinen herrscht der weisse Wein vor. Es unterliegt gar keinem 
Zweifel, dass die kaukasische Weinproduction nicht nur hinsichtlich 
der Quantität von Bedeutung ist, sondern auch in Bezug auf die Qua¬ 
lität der Weine Beachtung verdient; bei der gegenwärtigen Keller¬ 
wirthschaft aber wird sie immer nur eine locale Bedeutung behalten 
und an einen weitergehenden Export wird trotz der Billigkeit der 
kaukasischem Weine nicht zu denken sein, solange die Weinpro- 
duccnten nicht den landesüblichen Burdjuk durch das Weinfass er- 

Ohm, =: 0,05635 lübecker Oxhoft — 0,17901 preuss. Eimer = 0,21515 wiener 
Eimer. 


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setzen. Es sollten daher in dieser Beziehung alle Anstrengungen ge¬ 
macht werden, denn die Weincultur kann für die Bewohner des Kau¬ 
kasus eine reich fliessende Quelle des Wohlstandes werden. Bis jetzt 
werden kaukasische .Weiae nur höchstens bis Moskau%versendet, 
und auch dies nur in kaum nennenswerthem Verhältnisse. . 

Obgleich, wie ich eben nachgewiesen habe, der Kaukasus an ei¬ 
nigen Nutzhölzern, namentlich an solchen, welche sich zur Anfer¬ 
tigung von Fassdauben verwenden lassen, entschiedenen Mangel lei¬ 
det, so rangirt dieses Land doch keineswegs unter die holzarmen, 
ja es kann sogar, wenigsten^ in Bezug auf einige Districte, als sehr 
waldreich bezeichnet werden. Insbesondere sind es die Gebirgs¬ 
gegenden, welche auch heute noch ausgedehnte Waldungen aufzu- ^ 
weisen haben, trotz dem, dass im Allgemeinen auch im Kaukasus die 
Wälder in einerWeise devastirt werden, dass cs dringend nöthig 
erscheint, durch die Gesetzgebung dieser Waldverwüstung Ein¬ 
halt zu thun. Die Wälder werden meistcntheils noch als herrenloses 
Gemeingut angesehen, in welchen Jeder nach Belieben das schlagen 
kann, wonach er Verlangen trägt. Der freie Bergbewohner kennt und 
liebt in dieser Beziehung keine Einschränkung. Trotz dem ist diese 
letztere dringend geboten und dem Vernehmen nach wird auch in 
neuester Zeit der Forstschutz mit mehr Strenge und Energie gehand- 
habt werden als früher, da man noch den Waldreichthum für uner¬ 
schöpflich hielt. 

Mögen nun auch hinsichtlich der genügenden Quantität von Bau- 
undNutzholzZweifel herrschen, so steht es andererseits dochfest, dass 
die Qualität der vorhandenen Hölzer, namentlich der sogenannten 
Nutzhölzer, eine vortreffliche ist, und dass der Kaukasus auch in 
dieser Beziehung noch grosse Reichthümer birgt. Die Mannigfal¬ 
tigkeit der verschiedenen Waldbäume ist eine ausserordentliche und 
namentlich die Moskauer polytechnische Ausstellung war reich an 
Mustern der verschiedensten Holzarten. Mögen auch im Allgemeinen 
in einzelnen Gegenden verschiedene Buchcnartep dominiren, so be¬ 
gegnen wir doch im Kaukasus ausser ihnen noch einer grossen Fülle 
andererHolzgattungen: von den leichtesten bis zu den schwersten, von 
den porösesten bis zu den dichtesten. Die trefflichen kaukasischen 
Nussbaumhölzer bilden schon jetzt einen umfassenden Exportar- x 
tikel nach den Hafenstädten des Adriatischen und Mittelländischen 
Meeres, und die climatischen- und Boden-Verhältnisse des Kau¬ 
kasus scheinen es zu gestatten, den Nussbaum selbst als Waldbaum 
zu benutzen. Bei dem massenhaften Verbrauch, welchen gegenwärtig 


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das Nussbaumholz, namentlich in der Tischlerei so wie in der Ge- 
wchrfabrication, findet, dürfte die Anlegung von Nussbaumwaldungen- 
auch heute noch zu den lucrativsten Unternehmungen gehören. Die 
kaukasischen Nussbäume zeichnen sich nicht immer durch gerade 
Schäftung aus, im Gegenthcil zeigen einzelne Bäume colossale Aus¬ 
wüchse oder Knorren, welche jedoch ihrer reichen Äderung und vor¬ 
züglichen Härte wegen von den Drechslern gesucht und geschätzt 
sind. Welche Dimensionen diese Auswüchse annehmen können, das 
zeigten einige Exemplare auf der Moskauer Ausstellung. Es fanden 
sich dort solche Prachtexemplare im Gewichte von über 3000 Pfund 
(38 Pud und 42 Pud), zu welchen man in Europa wohl schwerlich 
Seitenstücke finden wird. Uebcrhaupt muss die Vegetationskraft des 
kaukasischen Bodens eine ausserordentliche sein, denn auch der 
Buchsbaum nimmt hier ganz ungewöhnliche Dimensionen an, und 
die Ausstellung zeigte u. A. auch eine man:v; dicke Weinrebe. Unter 
den harten Hölzern ist besonders das der Parrotia persica, als eines 
der härtesten, zu bezeichnen. Bei einer solchen Mannigfaltigkeit und 
einem solchen Reichthum an trefflichen und seltenen Nutzhölzern 
erscheint eine rationelle Forstcultur doppelt am Platze zu sein. Der 
Kaukasus könnte Europa mit Nutzhölzern versorgen, wie sich solche 
vielleicht nur noch in den amerikanischen und australischen Urwäl¬ 
dern vorfinden. In dieser Beziehung liegt noch eine grosse und 
weite Aufgabe vor: Schonung des Vorhandenen, des von dem Forst¬ 
meister „Natur“ Grossgezogenen und neue, rationelle Cultur, um 
die Lücken wieder auszufüllen, welche der sich immer erweiternde 
Consuin gerissen hat. Die Lösung dieser Aufgabe im Kaukasus steht 
Russland für die nächste Zeit bevor, will es seine Culturmissiön nach 
allen Richtungen hin erfüllen. 

In einem Gebirgs- und Waldlande, wie der Kaukasus ein solches 
ist, findet natürlich auch das Thierreich seine zahlreiche und man¬ 
nigfache Vertretung. In Ländern, welche nach allen Richtungen 
hin der Cultur erschlossen sind, zeigt sich, wenn nicht ganz unge¬ 
wöhnliche Verhältnisse vorherrschen, eine rasche Abnahme der 
Wildbestände, namentlich von Raub wild. Der Kaukasus gehört aber 
noch keineswegs zu denCulturländern. Schon aus diesem Grunde ist 
es daher erklärlich, dass er noch einen grossen Reichthum an wilden 
Thieren aufzuweisen hat Sowohl die St. Petersburger, als die Mos¬ 
kauer Ausstellung waren daher auch reich an ausgestopften einhei¬ 
mischen Thieren der verschiedensten Art und an Fellen derselben 
vertreten. Die ausgestellt gewesenen Hirsch- und Rehgeweihe be- 
• 


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weisen, dass die kaukasischen Jäger an diesem edlen Wild noch 
eine reiche Ausbeute finden und selbst der Steinbock ist .im kauka¬ 
sischen Tur mit seinen colossalen Hörnern, wenn auch nicht ge¬ 
rade zahlreich, doch immerhin noch in den kaukasischen Bergen 
vertreten. Auch an wirklichen Raubthieren, Wölfen, Bären, Füchsen 
ist der Kaukasus reich, und selbst Tiger und Panther gehören da¬ 
selbst nicht zu den Seltenheiten. Auf der St. Petersburger Ausstellung 
waren nachstehende Felle von PelztTiieren ausgestellt, die aus Eriwan 
und Tiflis stammten, daher voraussichtlich Thieren angehörten, v 
welche in dem kaukasischen Gebiete erlegt worden waren. Der Eri- 
wansche Kriegsgouvemeur hatte ausgestellt: Felle von Mardern, 
Füchsen, Wölfen, Fischottern und Panthern; die kaukasische land¬ 
wirtschaftliche Gesellschaft: solche von Panthern, Tigern, des Tur, 
von Hirschen, Fischottern und Füchsen verschiedener Farbe, ausser¬ 
dem noch Bälge von Schwänen, Pelicanen und Tauchenten. Auch 
auf der Moskauer Ausstellung fanden sich dieselben Pelzthiere, 
theils in ausgestopften Exemplaren, theils in blossen Fellen vertreten. 
Wichtiger als diese wilden Thiere, die nur im negativen Sinne als 
Gradmesser der Cultur angesehen werden können, sind die land¬ 
wirtschaftlichen Haustiere, deren Entwickelung und Veredlung 
Hand in Handmiit der Entwickelung der Cultur selbst geht. 

Die kaukasische Pferdezucht hat gewissermaassen nur eine locale 
Bedeutung. Das kaukasische Pferd ist trotz seiner Gewandtheit und 
Ausdauer zu klein, als dass es ausserhalb dieses Landes seine Ver¬ 
wendung finden könnte. Es ist der Typus des Gebirgspferdes und 
als solches unübertrefflich. Seine stählernen Muskeln tragen es eben 
so leicht über Bergklüfte und steile Abhänge, wie durch reissende 
Gebirgswässer. Jedes andere Pferd Wäre für den Kaukasus nutzlos, 
aber ebensowenig entspricht das kaukasische Pferd einer Verwendung 
ausserhalb dieses Landes, wenn es sich eben nicht um ein dem Kau¬ 
kasus ähnliches Gebirgsland handelt. Durch eine ausgewähltc und 
rationelle Zucht Hesse sich wohl die Körpergrösso des kaukasischen 
Pferdes steigern, es stellt aber zu befürchten, dass dies auf Kosten 
seiner sonstigen guten Eigenschaften geschehen würde. 

Die Rindviehzucht fängt an, im Kaukasus eine schon mehr hervor¬ 
ragende Rolle zu spielen und eine gewisse Culturbedeutung zu er¬ 
langen. Das kaukasische Bergland bietet treffliche, den Alpenweiden 
ähnliche Weideplätze und diesen Umstand haben thätige und fern¬ 
sehende Landwirthe benutzt, um eine Art Schweizer-Alpenwirth- 
schaft im Kaukasus einzuführen. Die dortigen Bergweiden sind 


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reich an aromatischen Kräutern und bieten ein treffliches Futter für 
Milchkühe, welche bei längerem Verweilen auf diesen Weiden nicht 
nur eine grosse Menge Milch, sondern auch solche von ganz vor¬ 
züglicher Qualität geben. Auf diese Verhältnisse haben nun nicht 
nur einzelne Landwirthe, sondern auch ganze Gemeinden den Betrieb 
ihrer Rindviehzucht basirt und sind in Folge davon zu recht gün¬ 
stigen und hoffnungsreichen Resultaten gelangt. Die Butter- und 
Käsefabrication wird daher im' Kaukasus bereits in einigen Ge¬ 
genden in grösserem Umfange betrieben. Unter den dortigen Land- 
wirthen scheint cs besonders der Baron Kutschenbach gewesen zu 
sein, der zuerst den von mir bezeichnetcn Weg betreten, denn er 
errichtete schon im Jahre 1865 zu Mamutly im Tifliser Gouvernement 
eine Ferme oderMustcrmilchwirthschaft, in welcher er die bedeutende 
Zahl von 300 Kühen unterhält, deren Milch er zu Käse verarbeiten 
lässt Nach den Angaben des Cataloges der letzten St Petersburger 
Manufactur-Ausstellung wurden auf der Baron Kutsche nbach’schen 
Ferme im Jahre 1869 bereits 900 Pud Schweizer- und 70 Pud Lim* 
burger Käse producirt und ersterer per Pud im Preise von 14 Rbl., 
letzterer im Preise von 16 Rbl. verkauft.—In der deutschen Colonie 
Alexanderhilf hat sich eine Käsereigcsellschaft gebildet, welche vor¬ 
zugsweise Schweizerkäse zu erzeugen .scheint und solchen zu 12 — 
13 Rbl. per Pud in St. Petersburg ausgestellt hatte. Auch auf der 
Moskauer Ausstellung waren sowohl Baron Kutschenbach als auch 
die Gescllschaftskäscrci Alexanderhilf vertreten, und zeichnet sich 
der von letzterer ausgestellte Käse, nach dem. Urtheile von 
Fachleuten, durch besondern Wohlgeschmack aus. Diese 
Käserei hat es bereits ebenfalls zu einer jährlichen Production 
von 1000 Pud Käse gebracht. In Moskau war auch Ossetinscher 
und Daghestanischer Käse vertreten; letzterer ist eine Nachahmung 
des Parmesankäses. — Alles deutet darauf hin, dass die Rindvieh¬ 
zucht und, auf Grundlage dieser letzteren, die Milchwirtschaft, durch 
die climatischen und landwirtschaftlichen Verhältnisse des Kau¬ 
kasus ausserordentlich begünstigt wird, ui&l cs bleibt daher nur zu 
wünschen, dass die hier angeführten Beispiele bald eine recht allge¬ 
meine Nachahmung finden möchten. 

Die Schafzucht wird ebenfalls durch climatische wie Bodenver¬ 
hältnisse begünstigt. Die trockenen, weit ausgedehnten Bergweiden 
eignen sich vorzüglich als Schaftriften und gestatten selbst die Hal¬ 
tung von Merinoschafen. Leider scheinen diese letzteren noch kei¬ 
neswegs so verbreitet zu sein, wie sie es verdienen, denn dort, wo 


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Schafe gehalten werden, dominirt das Landschaf. Es giebt daselbst 
eine Gattung schwarzwolliger Schafe, deren Felle theils als Pelzfutter, 
vorzugsweise aber zur Herstellung der landesüblichen Pelzmützen 
benutzt werden. Besonders die Lammfelle sind hierzu geschätzt. 
Von dieser einen Nutzung abgesehen* welche vom Culturstandpunkte 
aus durchaus nicht als ein grosser Vortheil angesehen werden kann, 
indem der Benutzung des Felles die Tödtung des Schafes vofaus- 
gehen muss, bringt die Haltung der Landschafe wenig Nutzen, indem 
Wolle und Fleisch dieser Thiere so billig sind, dass sie die Winter¬ 
fütterung kaum bezahlt machen. Da trotz* dem die Schafzücht in ver- 
hältnissmässig ausgedehnter Weise betrieben wird, namentlich sei¬ 
tens der deutschen Colonisten und der grösseren Gutsbesitzer, so 
würde es sich jedenfalls lohnen, nur solche Schafe zu halten, deren 
Wolle zu besseren Preisen verkauft werden kann, wie die der Land¬ 
schafe. Einen solchen Vortheil.bietet die Merinoschafzucht, welche, 
wie gesagt, auch durch die climatischen und Bodenverhältnisse des 
. Kaukasus begünstigt wird. Die dortigen Landwirthe könnten sich 
daher durch den Betrieb derselben eine sichere und lohnende Rente 
schaffen. 

Von ausserordentlich grosser Bedeutung ist die kaukasische Sei¬ 
denraupenzucht. Der Kaukasus zählt zu den reichsten Seidenproduc- 
tionsländern der Wel^, und nicht blos seine Rohseiden, sondern auch 
. die Grains der Seidenraupen (die Eier des Seidenfalters) finden be¬ 
reits Absatz nach Deutschland, Italien und Frankreich. Von der für 
die Seidenproduction so gefährlichen Seidenraupenkrankheit sind die 
kaukasischen Seidenraupen bis jetzt noch glücklicherweise verschont 
geblieben, und dies mag wohl die Hauptursache sein, dass die Grains 
der dortigen Seidenzuchten im südlichen und westlichen Europa so 
geschätzt sind. Die kaukasische Rohseide zeichnet sich durch Glanz, 
Elasticität und Festigkeit des Fadens sehr vortheilhaft aus, ohne 
durch diese letzte Eigenschaft an Weichheit zu verlieren und bietet 
in Folge dessen der Scidcrrindustrie einen ganz vorzüglichen und ge¬ 
schätzten Rohstoff. Leider harmoniren mit diesen trefflichen na¬ 
türlichen Eigenschaften der Rohseide keineswegs die kaukasischen 
Abhaspelanstalten und Spinnereien, und bedürfen dieselben daher, 
um die kaukasische Seidencultur zur vollen Tragweite gelangen zu 
lassen, einer eingehenden und umfassenden Verbesserung. In den 
letzten Jahren sind einige derartige Etablissements entstanden, die 
- derHoffnungRaum geben, dass sich auch hinsichtlich derSeidenabhas- 
pelung ein wesentlicher Fortschritt anbahnen werde. So unterhalten die 


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Gebrüder Nusnussow im Dorfe Nishnija-Akulisy des Ordubadschen 
Kreises (Gouvernement Eriwan) eine schon recht bedeutende Abhas- 
pelanstallt, in welcher sie auf 80 Stühlen arbeiten, 120 Arbeiter be¬ 
schäftigen und 1500 Pud Cocons zu 100—180 Pud Seide im Werthe 
von 90,000 Rbl. verarbeiten. Eine in grossem Maassstabe von den 
Herren W. Alexejew& Gebrüder Woronin angelegte ähnliche Fabrik, 
in welcher auf 440 Stühlen gearbeitet wurde und die 886 Menschen 
beschäftigte, brannte ab, und ist seitdem nicht wieder aufgebaut 
worden. Im Allgemeinen fehlt es im Kaukasus keineswegs an 
solchen Abhaspelanstalterf und Seidenspinnereien, wenn sie auch 
sämmtlich mehr oder Weniger nur von sehr geringer Leistungsfä¬ 
higkeit sind. Das „Jahrbuch des Finanzministeriums“ (Jahrgang 1869) 
führt für ganz Russland 137 solcher Abhaspelanstalten auf, von de- 
denen 133 auf den Kaukasus und vier auf Podolien entfallen. Das 
Gouvernement Tiflis allein zählt 59 solcher Anstalten. Den Werth 
der von diesen Etablissements erzielten Fabricate berechnet das 
Jahrbuch auf 694,250 Rbl., eine Annahme, die wegen der inzwischen 
ansehnlich gesteigerten Rohseidenpreise heute nicht mehr zu¬ 
treffend ist. 

Transkaukasien schliesst alle Bedingungen einer gedeihlichen 
Cultur der Seidenraupe in sich. Man findet den Maulbeerbaum hier 
fast überall, ja sogar auf bedeutenden Flächen wild wachsend in 
den Wäldern Talüschs, Guriens und Imeritiens, so wie an den Ufern 
des Kur, im Kreise Schekin. Die Bewohner* Kaukasiens beschäftigen 
sich daher sehr vielseitig und mit Vorliebe mit der Zucht der Sei¬ 
denraupen, da diese Beschäftigung ihren sonstigen Gewohnheiten 
zusagt. Man kann die Seidenproduction im Kaukasus auf 30 — 
34,000 Pud jährlich schätzen, von welcher Production ungefähr 2/3 
ins Ausland, namentlich nach Italien und Frankreich Absatz finden, 
während ‘/s in den russischen Fabriken verarbeitet wird. Die Preise 
für die Rohseide sind sehr verschieden, selbst in ein und demselben 
Jahre. Auf der St. Petersburger Ausstellung vom Jahre 1870 waren 
z. B. die Preise von Rohseide mit 180 — 200 Rbl. per Pud notirt, 
stiegen jedoch bei einigen Ausstellern bis auf 400 Rbl. Man kann 
hieraus die Bedeutung der Seidenraupenzucht für den Kaukasus 
ermessen. 

Die „Moskauer deutsche Zeitung“ macht in ihren Ausstellungs¬ 
berichten einige interessante Mittheilungen in Betreff der kauka¬ 
sischen Seidenzucht. Sie schreibt: „Von grossem Interesse ist, dass 
man seit ciroa 10 Jahren im Kaukasus eine neue Art von Seidenraupe, 


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nicht bombyx mori, sonderndie Ailanthusraupe, bombyx cynthia, ein¬ 
geführt hat, welche ausser dem gar nicht hoch genug zu veran¬ 
schlagenden Vortheile, dass auch sie bis jetzt von der (oben er¬ 
wähnten) SeidenraupenkraQkheit nicht betroffen wurde, noch den 
wesentlichen Vorzug genicsst, dass sie im Freien gezogen werden 
kann, sich im Freien verpuppt und dass die Larvenhülle von dem 
ausbrechenden Schmetterlinge nicht zerstört wird, sondern dass sich 
derselbe durch eine kleine Oeffnung am untern Ende des Cocons 
einen Ausweg in der Weise bahnt, dass der zurückbleibende Cocon 
zur Gewinnung von Seide noch benutzt werden kann. Zum Futter 
dient dieser Raupe auch nicht der gewöhnliche Maulbeerbaum, 
dessen Cultur jederzeit mit grösseren oder geringeren Schwierig¬ 
keiten verknüpft ist, sondern vorzüglich die chinesische Esche, 
Ailanthus glandulosa, in beschränkter Anzahl auch Ricinus com¬ 
munis, Syringa etc. Man hat dabei als einzige Vorsichtsmaassregel 
nur die Krone dieser Bäume mit einem Netze zu bedecken, damit 
die Seidenraupen nicht von den Vögeln, Bienen, Wespen etc. ange- 
fallcn und vernichtet werdetf. Da grosse Anpflanzungen des Ailan- 
thusbaumes sich daher im Kaukasus sehr empfehlen würden, knüpft 
die „Moskauer Deutsche Zeitung“ an ihre Mittheilungen denWunsch, 
die Regierung möge ohne Weiteres Jedem, welchem eine grössere 
oder kleinere Strecke Landes zum Anbaue überlassen werde, die • 
Bedingung stellen, dass ein bestimmter Theil davon der Cultur des 
• Ailanthus und damit der Hebung der Seidencultur gewidmet werde. 
Dieser Vorschlag ist jedenfalls im Interesse der kaukasischen Cultur- 
verhältnisse sehr gerechtfertigt, und die strenge Ausführung des 
selben dürfte wesentlich zur Kräftigung eines der hoffnungsreichsten 
Industriezweige jenes Landes beitragen. 

Ueberhaupt muss man bedauern, dass in neuerer Zeit seitens der 
russischen Regierung im Allgemeinen so wenig für die Hebung der 
Seidenraupenzucht geschieht. Doch steht wohl z,u erwarten, dass bei 
den organischen Veränderungen, welche im Domänenministerium 
bevorstehen, diesem wichtigen und für die Wohlfahrt des Landes 
so bedeutungsvollen Culturzweige wieder die volle Aufmerksamkeit 
der Regierungskreise sich zuwenden werde. — Ein specielles Ver¬ 
dienst um die Hebung der Seidenraupenzucht im Kaukasus hat sich 
seit einer Reihe von Jahren der oben erwähnte Director des Acclima- 
.tisationsgartens in Tiflis, Herr Sitowski, erworben und es an Opfern 

und Anstrengungen in dieser Beziehung nicht fehlen lassen. 

0 

. * 


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244 


Was nun die Producte des Mineralreiches anbelangt, so ist auch 
an solchen der Kaukasus keineswegs arm. Verschiedenartige Erze und 
Mineralien finden sich hier in solchen Quantitäten vor, dass sie einer 
theilweise recht schwunghaften Industrie, als Grundlage dienen kön¬ 
nen. Am wenigsten reich kommen bis jetzt die Eisenerze vor, ob¬ 
gleich nicht daran zu zweifeln ist, dass sich durch emsige Forschung 
neue Eisenerzlager entdecken lassen werden. Auf der Moskauer 
Ausstellung begegneten wir Eisenerzen und Schmelzproductert aus 
diesen letzteren von dem Eisenhüttenwerke „Tschatak“, welches übri¬ 
gens das einzige jetzt in Betrieb stehende zu sein scheint, und das 
in den letzten Jahren wohl erst wiederum, einer Bearbeitung unter¬ 
zögen worden ist, da es Skalkowsky in seinen „Tableaux statistiques 
de findustrie des mines enRussie en 1868“ als ausser Betrieb stehend 
anführt. Heute macht sich das Bedürfniss nach Eisen im Kau¬ 
kasus noch wenig fühlbar, einmal, weil die Eisenindustrie daselbst, 
namentlich der Maschinenbau, noch nicht entwickelt ist, dann aber 
auch, weil man mit Leichtigkeit seinen geringen Bedarf an Eisen aus 
den südrussischen Hüttenwerken deckön kann. Sollte sich das Be¬ 
dürfniss steigern, so steht wohl zu erwarten, dass man auch neue, ex¬ 
ploitationsfähige Eisenlager auffinden wird. 

Sehr bedeutend dagegen ist der Reichthum dieses Landes an 
, Kupfererzen , die von zum Theil ganz vorzüglicher Qualität sind. 
Nach Skalkowsky giebt es im Kaukasus bereits 14 Kupferwerke, 
von denen allerdings .drei ausser Betrieb .standen, welche im Jahre 
1868 das nicht unbedeutende Quantum von 450,550 Pud Roherz 
lieferten, aus welchen 22,314 Pud reines Kupfer (en lingots) und 
2i38PudFabricate (en utensiles) gewonnen wurden, so dass demnach 
das Roherz.durchschnittlich 5,4°/o reines Kupfer lieferte. Die reich¬ 
sten Kupferwerke daselbst sind die zu Kedabeksky (10%), zu Ka- 
wartsky (8 1 2%), zu Kalarsky (8 l /*°/o) und zu Ssitsimadansky (7 1 2% 
reine Kupferausbeutc). Wie sehr sich diese letztere, so wie überhaupt 
die Production des Kupferbergbaucs in den letzten Jahren gesteigert 
hat, geht daraus hervor, dass im Jahre 1871 aus den Kupferhütten 
der Gebrüder Siemens allein (s. u.) 50,000 Pud reines Kupfer in 
Broden zum Verkauf nach Nishnij-Nowgorod zur Messe gebracht 
worden waren. Auf der polytechnischen Ausstellung zu Moskau 
waren Kupferproben der Kupferhütten von Kedobeg und Karebagh 
ausgestellt, von denen sich namentlich die der Gebrüder Siemens 
durch einen hohen Grad von Reinheit auszeichneten. Nach einer in 
Berlin angestellten chemischen Analyse enthalten die Siemens’schen 

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• • 



_ 145 __ 

Kupfefbrode über gg°/o reines Kupfer. Dieses Kupfer hat sich nicht 
nur zum Guss und zu Legirungen ausserordentlich brauchbar er¬ 
wiesen, sondern auch zur Blechfabrication. Hiervon lieferte ein gleich¬ 
zeitig ausgestellter Kessel aus Kupferblech einen unzweideutigen 
Beweis. Das Siemens’sche Kupfer geht neuerdings grossentheils von 
Tiflis aus direct nach England zum Verkauf und nur ein kleiner 
Theil wird nach Nishnij-Nowgorod und nach St. Petersburg geliefert. 

Das berühmte alte Silberwerk Alagir hatte Proben von Silber und 
Blei ausgestellt. Dieses Werk ist das einzige im Kaukasus in Be¬ 
triebe stehende Silberwerk, und wenn auch seine jährliche Ausbeute 
an Silber keine sehr erhebliche ist — im Jahre 1868 bestand die Aus¬ 
beute aus 262,425 Pud Mineral, aus welchem 12 Pud 15 Pfd. 18 Solot. 
reines Silber geschmolzen wurden — so gewinnt sie doch der gleich¬ 
zeitigen Bleiausbeute wegen an Bedeutung. Im Jahre 1868 betrug 
diese letztere 3140 Pud. — Auch Gold wird im Kaukasus gefunden, 
doch sind die dortigen Goldseifen sehr wenig reichhaltig, zum Theil 
aber auch noch gar nicht genügend erforscht und erprobt. Die kau¬ 
kasische Goldausbeute bleibt daher vor -der Hand nur eine Anwei¬ 
sung auf die Zukunft. — Sehr beachtenswerth dagegen ist das kau¬ 
kasische Kobaltwerk Daschkessansky mit einer jährlichen Ausbeute 
von gegen 2 500 Pud reinem Kobalt. 

Von grosser Wichtigkeit Ist das kaukasische Steinsalz , welches in 
den SteinsalzwerkqnKulpinsky undNachitschewansky gewonnen wird 
und nach den.auf der Ausstellung vertreten gewesenen Proben dem 
besten Steinsalze an Qualität gleichkommt. Skalkowsky giebt den 
Ertrag des erstgenannten Werkes (für 1868) mit 805,697 Pud, den 
des letztgenannten mit 468,597 Pud an, so dass demnach über l /s der 
Gcsammtausbeute Russlands an Steinsalz (3,727,839 Pud) auf die ge¬ 
nannten beiden Salzwerke fällt. 

An sonstigen nutzbaren Mineralien findet sich im Kaukasus weisser, 
grauer, röthlicher und schwarzer Marmor, Alabaster, Jaspis, Achat 
und Obsidian, welche Mineralien sämmtlich einen beachtenswerthen 
technischen Werth haben, indem sie einen feinen und faltbaren 
Schliff annehmen und in Folge dessen auch zur Herstellung von 
Vasen, kleinen Schmuckgegenständen und anderen Steinschleifar¬ 
beiten benutzt werden. In der Nähe vonKutaiss, im Dorfe Okriby, be¬ 
schäftigen sich z. B. die dortigen Bauern mit der Herstellung solcher 
Schleifwaaren, namentlich von Achatgegenständen, und verkaufen die¬ 
selben zu auffallend billigen Preisen. In Tiflis hat sich ein Herr Perem- 
kin dieses Industriezweiges mit Erfolg bemächtigt. Von grosser 


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volkswirtschaftlicher Bedeutung sind die kaukasischen Steinkohlen - 
lager , von welchen Skalkowsky zwei anfuhrt: die Kubanschen Stein¬ 
kohlenwerke und die von Karadakhsky. Wenn sich auch dir den 
Moment noch kein so grosser Mangel an Holz im Kaukasus fühlbar 
macht, dass die Benutzung von Steinkohlen eine unerlässliche Exi¬ 
stenzbedingung wäre, so dürfte doch auch dort^ die Zeit nicht fern 
sein, in welcher^man den Werth der Steinkohlen schätzen wird. 

Der Reichthum des Kaukasus an Naphthaquellen ist bekannt. Im 
Jahre 1870 standen nach den von dem wissenschaftlichen Comit6 
des Bergressorts zusammengestellten Nachweisen in Russland 772 
Naphthaquellen im Betriebe und lieferten einen Ertrag von 1,704,455 
Pud Naphtha. Wenn auch in neuerer Zeit in einzelnen Wolgagouver¬ 
nements Na^hthaquellen entdeckt worden sein sollen, so darf 
man gleichwohl annehmen, dass die oben angeführte Anzahl 
der Quellen dem Kaukasus zugehört. In fünf kaukasischen Ter¬ 
ritorien und Gouvernements hat man Naphthaquellen entdeckt, 
darunter solche von grosser Mächtigkeit. Alle Jahre kommen 
noch neu entdeckte hinzu, so dass die Naphthaindustrie ein 
sehr bedeutungsvoller Zweig der kaukasischen Production werden 
dürfte, wenn sich ihr erst die erforderlichen intellectuellen 
Kräfte in genügendem Maasse zuwenden. Am Reichsten zeigen sich 
die Quellen im Kubanischen Territorium, wo in Kubako allein im 
Jahre 1868 — 975,000 PudNaphtha gewonnen wurden. Diesem Terri¬ 
torium zunächst steht das Gouvernement Baku, mit einer Production 
(1868) von 715,764 Pud, dann folgt das Gebiet Terek mit 26,853 
Pud, das Gouvernement Tiflis mit 20000 Pud und endlich das Dag- 
hestanscheGebiet mit 15,717 Pud, welche sich auf 6Fundorte verthei¬ 
len. Das Nephgil, eine Art festes, wachsähnliches Naphtha (Naphtha¬ 
pech) wird hauptsächlich in der Nähe von Baku auf der Insel Tsche- 
golin gegraben, war früher fast werthlos, wird aber in neuerer Zeit 
für das Ausland, zur Fabrication von Ceresiri (künstlichem Wachs) 
gesucht und ist, wahrscheinlich in Folge hiervon und auch mög¬ 
licherweise in Folge eingetretenen Arbeitermangels, so theuer ge¬ 
worden, dass sich sein Export kaum mehr verlohnt. Aehnliches 
Nephgil findet sich in Galizien, das bekanntlich ebenfalls reich an 
Naphthäquellen ist. Im Ganzen betrug die kaukasische Naphthapro- 
duction im Jahre 1868 nach Skalkowsky 1,753,984 Pud, hatte daher 
nach den neuesten Erhebungen keine Fortschritte gemacht, indem 
1870 gegen 50000 Pud weniger producirt worden sind, was aller¬ 
dings sehr auffallend erscheinen muss und schwer (wenn nicht mit 




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dem eingetretenen Arbeitermangel) zu erklären ist. Auf der Moskauer 
polytechnischen Ausstellung war dieser Industrie- oder vielmehr Pro- 
ductionszweig vorzugsweise durch Naphthaproben der Herrn Ko - 
korewMirssojew und der Gebrüder Siemens vertreten, welche letz¬ 
teren aus ihren dortigen von der Regierung gepachteten Naphtha¬ 
quellen auch Paraffin erzeugen, und auf diese Weise auch in Russ¬ 
land eine neue Verwendungsart dieses wichtigen -Naturstoffes ,an¬ 
bahnen. Die bedeutendsten Industrieetablissements zum Behufe der 
Naphthagewinnung sind wohl die von W. A . Kokorew , welche im Jahre 
1 857 gegründet, heute eine jährliche Production von 150,000 Pud 
Photonephgil im Werthe von 660,000 Rbl. liefern. Auch die A . J. 
'Nowossilzoiv sehen Naphthaquellen im kubanschen Gebiete (Taman) 
• werden in grossen Maassstabe ausgebeutet und sind von grosser 
Wichtigkeit. 

Es ist vielfach darüber gestritten worden, ob »der kaukasischen 
Naphthaindustrie eine Bedeutung beizulegen sei, an welche sich 
grosse Erwartungen für die Zukunft knüpfen. JDass die Naphthain¬ 
dustrie des Kaukasus eine sehr grosse Zukunft hat, daran ist wohl 
nicht zu zweifeln, ebenso wenig daran, dass siph die gegenwärtige 
Naphthaausbeute noch bedeutend steigern lässt, da vermuthlich nur 
erst ein geringer Theil der kaukasischen Naphthaquellen erschlossen 
worden ist. Um diese Zukunft aber anzubahnen, sind grosse Capi¬ 
talien erforderlich, die sich jedoch bis jetzt diesem Industriezweige 
noch nicht in dem Maasse, wie dies wünschenswerth, ja nothwendig 
wäre, zugewandt haben. Es ist abzuwarten, wie sich die Zukunft in 
dieser Beziehung gestaltet, und ob sie nachholt, was die Gegenwart 
versäumt hat. Jedenfalls sind bis auf diase eine , alle Grundbedin¬ 
gungen vorhanden, um aus der kaukasischen Naphthagewinnung 
einen der bedeutungsvollsten Productions- und Industriezweige 
Russlands zu machen. 

Bevor ich die Aufzählung der Naturerzeugnisse, welche der Kau¬ 
kasus in so verschwenderischer Fülle bietet, schliesse, muss ich nQch 
der dortigen Mineralquellen flüchtig gedenke^, welche ihrer heil¬ 
kräftigen Wirkung wegen alle Jahre mehr an Bedeutung gewinnen. 
Ihre Wasser sind denen von Ems und Kreuznach ähnlich, nur dass 
sie noch reicher an Jodverbindungen sind. 

Wenden wir uns jetzt dem industriellen Leben des Kaukasus zu, 
so ist dieses letztere schon theilweise berührt worden, indem der 
Bergbau, die Exploitirung der Naphthaquellen etc. schon zum Be¬ 
reiche des ersteren gehört. Ein Länd, welches im Allgemeinen noch 


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auf einer so niedern (Kulturstufe steht, wie der Kaukasus, wird man 
selbstverständlich, auch in Bezug auf die Industrie nicht mit dem 
gleichen Maassstabe messen können, mit welchem man Länder von 
vorgerückterer wirtschaftlicher Entwickelung misst. Der Kaukasus 
ist aber noch ein Land der Urproduction, und je mehr und eifriger 
man sich dieser letzteren hingiebt, je weniger wird sich das Be¬ 
dürfnis geltend machen, seine Kräfte dadurch zu zersplittern, dass 
man sie zur Exploitirung von Industriezweigen verwendet, in welchen 
letzteren mah unter den obwaltenden Verhältnissen doch nie das 
leisten wird, was unter anderen, günstigeren Verhältnissen geleistet 
werden kann. Von einer Grossindustrie kann im Allgemeinen nicht 
die Rede sein und wenn einige Industriezweige, wie z. B/ 
die Seidenindustrie, die Gerberei etc. in etwas grösseren Di- # 
mensionen betrieben werden, so wird dies durch locale Um¬ 
stände' bedingt. Dagegen macht die gewerbmässig betriebene 
Kleinindustrie, im Gegensätze zur fabrikmässig betriebenen Gross¬ 
industrie, immerhin, bemerkenswerthe Fortschritte, was wohl 
seine Ursache in der verhältnissmässig raschen Bevölkerungs- 
zunähme des Kaukasus, so wie darin findet, dass dieses Land zu ei¬ 
nem Anziehungspunkt auch für Gewerbtreibende verschiedener Art 
geworden ist. Die im Kaukasus einheimische und demselben eigen- 
thümliche Industrie, welche in mancher Beziehung schon mehr das 
allgemeine Interesse fesselt, trägt einen ausgesprochen orientalischen 
Character, der sich in Form und Muster der Fabrikate kennzeichnet, 
und eben dieser Character dürfte es vorzugsweise sein, welcher den 
kaukasischen Industrieerzeugnissen eine gewisse Originalität verleiht 
und dieselben in manchen Kreisen gesucht macht. 

In Bezug auf die Besprechung der Industrieverhältnisse darf ich 
mich daher wohl im Allgemeinen kurz fassen. Ich folge hierbei der 
übersichtlichen Einthcilung des Cataloges der St. Petersburger Ma- 
nufactur-Ausstellung vom Jahre 187O, und werde mich fragmenta¬ 
rischer Kürze befleissigen. 

Flachs - und Hanfindustrie: Herstellung einfacherGewebe und Hand- 
gespinnste. Leinwand in gröberen Gattungen. Industrielle grossen- 
theils Russen. Der Hauptsitz die Gouvernements Tiflis, Eriwan und 
Jelissawetpol. Hanf: Kutaiss. 

Baumwollenindustrie: Ebenfalls ohne Bedeutung. Spinnereien von 
geringer Leistungsfähigkeit. Im Jahre 1869 hat G. M. Mirsojew in 
Tiflis eine, wie es scheint, grössere Fabrik zur Erzeugung von Baum- 
wollenfabricaten verschiedener Art errichtet, deren Fabricate sich 


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aber noch keineswegs mit denen russischer Fabriken messen 
können. In anderen kleineren Etablissements derselben Stadt werden 
baumwollene Tisch- und Handtücher erzeugt. Industrielle: Russen 
und Einheimische. 

• Die SchafzvoUemndustrie: Dieselbe ist weit mehr entwickelt, *ds 
die vorgenannten Industriezweige. Es werden hier wollene Kleider¬ 
stoffe verschiedener Art, so wie Tuche, letztere selbst theilweise 
von ziemlicher Feinheit, fabricirt. Der Sitz dieser Industrie, an 
welcher sich Einheimische und Russen betheiligen, ist in Tiflis, Eri¬ 
wan und Nowobajaset (Eriwan.). Besonders ausgebildet, als einhei¬ 
mischer, dem Kaukasus speciell angehüriger Industriezweig von Be¬ 
deutung ist die Teppich fahrication , die in der That, was Muster- und 
Farbenzusammenstellung anbelangt, sich als schon weit-mehr ent¬ 
wickelt zeigt wie andere Zweige des Maiuifacturwcsens. Den 
orientalische Character dieser kaukasischen Teppiche hat ihnen einen 
gewissen Ruf* verschafft. Das Gebiet von Baku ist der Hauptsitz 
dieser Industrie, nicht nur diese Stadt selbst, sondern auch Kuban 
und Schuschtscha. Auch in Eriwan giebt es Teppichwebereien von 
Bedeutung. Ihre Inhaber sind grossentheils, wenn nicht ausschliesslich, 
Träger einheimischer Namen. 

Von gleicher Bedeutung ist die Seidciiindiistrit und um so 
bedeutungsvoller, als sich in ihr schon ein Uebergang zur 
Grossindustrie documentirt. Der grosse Reichthum des Kau¬ 
kasus an Rohseide bildet Tür die Seidenweberei eine so gesicherte 
Grundlage und eine so naturgemässe Basis, dass es in der That 
eine kaum zu rechtfertigende Vernachlässigung des eigenen Inte¬ 
resses sein würde, wenn wir hier nicht wenigstens dem Bestreben 
begegneten , einen Industriezweig einzubürgern, der in so ausge¬ 
sprochener Weise dem Character des Landes entspricht. Der Haupt¬ 
sitz der Seidenweberei ist die Stadt Schemacha, im Gouvernement 
Baku, und hier treffen wir bereits Fabriken, welche sich doch schon 
eines Umsatzes bis zu 20,000 Rbl. jährlich erfreuen. Gcgenüberden 
russischen Fabriken in Moskau und St. Petersburg ist dies allerdings 
ein sehr geringer, unter Zugrundelegung der kaukasischen Ver : 
hältnisse aber, ein recht bedeutender Umsatz. Die Hauptfabriken 
sind die der. Gebrüder Tarojew, des Herrn Scharajew, und die Fabrik 
des einheimischen Industriellen Aga-Mahomet-Ali-hadshi. Sämmt- 
liche Fabriken arbeiten nur auf Handstühlen und ihre Eabricatc, 
besonders die des letzteren, tragen einen ausgesprochen asiatischen 
Character. Der gestreifte persische Canaus ist vorherrschend, besonders 

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schön sind aber die seidenen Möbelstoffe im Preise von 1 Rbl. 20^- 
I Rbl. 40 Kop. per Arschine, welche sich durch Schwere und Far¬ 
benfrische auszeichnen. Der letztgenannte Industrielle hatte auf der 
St. Petersburger Ausstellung einen Seidenstoff unter dem Namen 
Mgw (mobt>) ausgestellt,' und den Preis zu 84V13 Kop. per Arschine* 
angegeben. Ueberhaupt stellen sich die Preise für kaukasische Seiden¬ 
stoffe (auch heute noch) sehr niedrig, und auf der Moskauer Aus¬ 
stellung fanden sich recht hübsche, waschbare, kleingestreifte Seiden¬ 
stoffe (Kanaus) zu 1 Rbl. per Arschine. Solche niedrige Preise machen 
selbst den Export möglich. Es wäre daher im Interesse des Kau¬ 
kasus zu wünschen, dass die dortige Seidenindustrie mehr Ausdeh¬ 
nung gewinnen und bald zur wirklichen Grossindustrie sich heraus¬ 
bilden möchte. 

Posamentierarbeiten werden in den meisten grösseren Städten des 
Kaukasus erzeugt, ebenso verschiedene Seiden- und Goldstickereien 
auf Tuch und Seidenstoff. Mit der Stickerei, einer Lieblingsbe¬ 
schäftigung des Orientalen, beschäftigen sich ausschliesslich nur 
Einheimische. 

Der Producic aus dem Innern des Bodens wurde schon in der ersten 
Hälfte dieses Berichtes gedacht, ebenso der Industriezweige, welche 
durch erstere hervorgerufen sind. Ich will nur noch der Vollstän¬ 
digkeit wegen envähnen, dass Ziegelbrennereien in nahezu entspre¬ 
chendem Verhältnisse in Betrieb stehen,# dass Sandsteinbrüche an¬ 
deres brauchbares Baumaterial den Baulustigen zur Verfügung 
stellen, und dass die Bachmetjew’schc Ccmentfabrik bei Poti einen 
söhr brauchbaren Ccment liefert, der, wie die Moskauer Ausstellung 
zeigte, zu sehr vielen und verschiedenartigen Cementarbeitcn benutzt 
wird. Auch Torf wird im Kaukasus gegraben und als Feuerungs¬ 
material benutzt. 

Die Thomvaarenfabricalion hat einen ziemlich bedeutenden Umfang 
gewonnen. Es zeigt das Fabricat nebst originellen, orientalischen 
Formen eine gut ausgebrannte Masse . und eine feine, s]?rungfreie 
Glasur. Obgleich man sich kaum eines besseren Materials als des 
gewöhnlichen Töpferthones zur Herstellung dieser Erzeugnisse be¬ 
dient, so versteht man es doch, letztere in grosser Mannigfaltigkeit 
und von ungewöhnlichem Umfange zu fabriciren. So zeigte die Mos¬ 
kauer Ausstellung eine Thonvase zur Aufbewahrung von Wein, die 
80 Wedro fasste. Der Hauptsitz dieses Industriezweiges scheint Tiflis 
und Cutaiss zu sein. 


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Holzgeräthschaften werden in vielen Gegenden von den Bauern er¬ 
zeugt. Die Drechslerei wird stark in Tiflis, Achalzyk und Kutaiss be¬ 
trieben, und benutzt man die schönen, harten kaukasischen Hölzer 
zurHerstellung vonallerhand kleinen Gebrauchsgegenständen, nament¬ 
lich von Patronenhülsen, Cigarrenspitzen, Pfeifen, der landes¬ 
üblichen Weinflaschen (Kula) und anderen ähnlichen Erzeugnissen. 

Die Fabrication chemischer Präparate und Farbezvaaren liegt noch 
darnieder. Man beschränkt sich vielmehr darauf, der russischen In¬ 
dustrie die Grundstoffe zu liefern. Erwähnung verdient die Alaun¬ 
fabrik von Sanglinxk, welche ihre Fabricate in Moskau ausgestellt 
hatte. Mit der Fabrication von kaukasischem oder persischem Insec- 
tenpulver befassen sich die Herren Crist. Reysch, Bichold und Larg£ 
inTiflis, also nur Ausländer, die voraussichtlich das Renomm£, welches 
dieses Pulver im Auslande geniesst, veranlasst hat, die Herstellung des¬ 
selben zu einem nutzbringenden Gewerbe zu machen. — Apotheker- 
waaren, welche speciell der Kaukasus in ziemlicher Mannigfaltigkeit lie¬ 
fert, hatte in St.Petersburg Herr Kiser aus Tiflis ausgestellt. Auf der Mos¬ 
kauer Ausstellung begegneten wir einer Collection von 35 verschie¬ 
denen kaukasischen Arzneipflanzen, deren Aussteller die TifliserKaiserl. 
kaukasische medicinische Gesellschaft war. Für die Industrie ist die 
Wurzel der kaukasischen Kermek (Stacia latifolia) von Bedeutung, 
welche vielseitig in der Gerberei angewandt wird und die 60—70 
Gerbstoff enthält. 

Die Scifcnfabrication erhebt sich noch nicht zu einem so hervorra¬ 
genden Industriezweig wie in Russland. Die grössten Seifensiedereien 
giebt es in Tiflis. Ebendaselbst befindet sich eine Stcarinkerzenfabri\ 
des Herrn TamamscheW, die ein recht gutes Fabricat liefert. Die 
Fabrication von Wachskerzen scheint, wie in Russland, so auch im 
Kaukasus zu den Einnahmen der Eparchieen zu gehören. Die kauka¬ 
sische Bienenzucht, und in Folge dessen die Wachsproduction ist nicht 
ganz ohne Bedeutung. 

Ein Industriezweig, der sich rasch entwickelt und schon grössere 
Dimensionen angenommen hat, ist di z Leder fabrication. Einheimische 
Industrielle befassen sich vorzugsweise mit Fabrication buntfarbiger 
Saffians, russische mit der von Juchten und Sohlenleder. Erstere 
wird vorzugsweise in Schemacha (Baku), letztere in Alexandropol 
(Eriwan) in grösseren Verhältnissen betrieben. Alif der Moskauer 
Ausstellung hatten die Herren Gambarow & Comp, in Gori (Gouv. 
Tiflis), Karganow & Comp. aus. Wladikawkas und S. Tadastanow 
aus Achalzyk treffliches Leder ausgestellt. Das des ersten Expo- 


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nenten zeichnete sich durch Weichheit und hohe Qualität aus; das 
des letztgenannten wird in grösseren Quantitäten nach derTürkei cx- 
portirt. Lamm- und Ziegenleder wird ebenfalls stark verarbeitet, 
ebenso solche Felle zum Bchufe der Kürschnerei, zur Anfertigung 
von Kleidungsstückeü und grusinischen hohen Mützen. Das Kürsch¬ 
nerhandwerk wird durch das reichliche Vorhandensein werthvoller 
Pelzthiere günstig beeinflusst. Andere Lederarbgitcn, wie: Sättel, 
Geschirre u. s. w. werden besonders gut in Tiflis hergestellt, theil- 
weise zu sehr billigen Freisen. 

Stahl - und liiscnwaaren , namentlich die hierher gehörende Fabri- 
cation von blanken Waffen, Säbeln und Dolchklingen iind von Ge¬ 
wehren verschiedener, Art, insbesondere von langen kaukasischen 
Flinten, wie sich solcher die Bergbewohner bedienen, wird im Kau¬ 
kasus von Alters her stark betrieben, da der Kaukasier stets bewaff¬ 
net ausgeht. Beide Ausstellungen, sowohl die von St. Petersburg als 
die von Moskau, besonders aber die letztere, zeigten daher auch reiche 
Sammlungen von Schiesswaffen und blanken Waffen, unter welchen 
der kaukasische Knischall, jener lange, halb säbelartige Dolch, oft 
mit reicher Silbcreinlage und im Preise zwischen 3 und 60 Rbl. vari- 
irend, eine Hauptrolle spielt. Der Hauptsitz dieser Industrie scheint 
sich in Tiflis, Achalzyk und Daghestan zu conccntrircn, wo sic nicht 
in grossen Fabriken, sondern von einzelnen Meistern ausgeübt wird. 
Die kaukasischenDolch- und Säbelklingen zeichnen sich durch Härte, 
Klasticität und grosse Widerstandsfähigkeit aus und haben eine ge¬ 
wisse Berühmtheit erlangt. Die Erzeugung anderer Eisenfabricate, 
namentlich zu wirtschaftlichem Gebrauche, scheint vcrhältnissmäs- 
sig weit weniger entwickelt zu sein. Dagegen ist die Fabrication 
von Mttallge fassen verschiedener Art, insbesondere solcher aus Kupfer , 
ziemlich entwickelt, und namentlich ist das Dorf Laidslii bei Schemacha 
der von dort herstammenden Kupfergefässc wegen berühmt. Diese 
Gefässe: Kannen, Vasen, Krüge, Platten u. s. w. sind sowohl in-wie 
auswendig verzinnt und auf der Verzinnung gravirt, so dass sie auf 
dem beinahe silberglänzenden Fond hübsche Darstellungen von Or¬ 
namenten in einem röthlichen (Kupfer-) Ton zeigen. Die Gefässe 
sind sämmtlich im streng orientalischen Character gehalten, und viele 
sigd den eleganten altpersischen Formen nachgebildet. 

Auf solche Gefässe haben die Museen von Berlin und Stockholm, 
sowie auch englische Museen ansehnliche Bestellungen gemaclft. Ich 
verweise daher nochmals auf den Ilauptort der Production, auf das 
Dorf Laidslii bei Schemacha, Gouvernement Baku. — \C. üIaiiA>KH, 


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IlIeMaxHHctaro ydba/ja.) — Ausserdem werden auch noch in Achal- 
zyk und in Tiflis ähnliche Kupfergefässe hergestellt. 

Die Goldschmiedekunst und Silberwaarenfahricaüon ist, wie in 
den meisten orientalischen,Ländern, auch im Kaukasus durch eine. 
Menge kleiner Meister und selbst durch schon hervorragendere 
Etablissements vertreten. Besonders sind es die Silberfiligranarbeiten 
aus Achalzyk von Mctrtiros Nagapetow , Jakob Tuschukow , Chadshi 
Kework Basucku. A ., welche sowohl auf der St. Petersburger, als neuer- 
, dings auch auf der Moskauer Ausstellung die Aufmerksamkeit der 
Besucher durch die Feinheit und Gediegenheit ihrer Ausführung 
auf sich lenkten. Emaillirter Goldschmuck, ebenfalls in orientalischer 
Form, wird vorzugsweise in Tiflis erzeugt und kann für diese Art 
von Schmuck das Etablissement von Grigor Belibekow namhaft ge¬ 
macht werden. Aber auch die moderne Juwelierkunst, die mit 
orientalischem Geschmack nichts zu thun hat, sondern sich mit be¬ 
sonderer Vorliebe an Pariser Modelle hält, ist im Kaukasus, nament¬ 
lich in Tiflis, vertreten. 

Von musikalischen Instrumenten besitzt der Kaukasus in ein¬ 
fachen und doppelten Trommeln, Pfeifen und dergl. einige 
Eigenarten und hatte die kaukasische öconomische Gesellschaft eine 
ganze Sammlung derartiger Specialitäten ausgestellt. 

Auf die Fabrication von Genussmitieln übergehend, muss ich zu¬ 
nächst der Müllerei gedenken, welche sich nicht nur mit der Fabri¬ 
cation von Mehl, sondern auch mit der von Graupen verschie¬ 
dener Art und mit der Reisentkörnung befasst. Ein Etablissement 
der letztem Art befindet sich u< a. in Lenkoran, in dessen Umgebung 
sich, wie Eingangs nachgewiesen, das Centrum des kaukasischen 
Reisbaues befindet Makaroni und Wermischel werden in Tiflis 
fabricirt. i 

Die Fabrication verschiedener Zuckerwaaren, in Zucker eingesottener 
Früchte , von Fruchtpastillen und getrockneten Früchten gehört zu den 
Specialitäten Kaukasiens. Was diese letzteren anbelangt,so liefertenSul- 
chonow inGori, dessen Traubenweine ebenfalls Erwähnung verdienen, 
und die deutsche Colonie Hellendorf wohl das Beste in diesem Genre. 
Nusskerne, an einem Faden angereiht und durch einen Teig aus Mehl 
und Wein gezogen, Tschurtschelli genannt, ist ein kaukasischer 
Leckerbissen. Eingekochte Säfte verschiedener Beeren und Früchte, 
welche in einer dicken, zähen Masse von trübrother Farbe zum 
Verkaufe kommen, aber eben, weil vielerlei Früchte und Beeren da- 


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bei zur Verwendung kommen, keinen ausgeprägten Geschmack und 
Character haben, kommen unter dem Namen „Tldapi“ zu massen¬ 
haftem Verbrauche. 

Der Weinproduction habe ich unter den Naturproducten bereits 
Erwähnung gethan, ebenso der Producte der Milchwirtschaft und der 
Tabakfabricate. Ich will schliesslich nur noch hervorheben, dass 
auch die Branntweinbrennerei bereits im Kaukasus Boden gewonnen 
hat und dass dieser Industriezweig ganz lucrative Resultate in Aus¬ 
sicht stellen soll. 


Werfen wir einen kurzen Rückblick auf die Productionsverhältnisse 
des Kaukasus, so muss zunächst die überwiegende Bedeutung der 
Rohproduction wiederholt constatirt werden. Mit sehr wenig Aus¬ 
nahmen (diese werden durch einen kleinen Theil der Metallindustrie 
— Waffen- und Goldschmiedekunst — repräsentirt) existirt im Kau¬ 
kasus kein nur halbwegs entwickelter Industriezweig, der nicht seine 
Basis in dieser Urproduction des Landes fände. Dies ist unbedingt 
als ein wirtschaftlich sehr gesunder Zustand zu bezeichnen und es 
bleibt nur zu wünschen, dass sich nicht auch im Kaukasus dieselben 
Einflüsse geltend machen möchten, welche die Basis der russischen In¬ 
dustrie verdreht und ihr in Folge davon in vielen Zweigen eine falsche 
und ihre Existenz schliesslich gefährdende Richtung gegeben haben. 
Man überlasse den Kaukasus in wirtschaftlicher Beziehung seiner 
natürlichen Entwickelung; es wird sich dann von selbst herausbilden, 
was sich zur Geltendmachung der wirtschaftlichen Bedeutung dieses 
Latides herausbildert muss. Man hüte sich vor Allem, auf künstlichem 
Wege eine Industrie einbürgern zu wollen und sorge dafür, dass der 
Kaukasus seinen« Character als Land einer reichen Urproduction be¬ 
hält. Die Hebung derselben ist das nächste Ziel, welches man im 
Auge behalten muss; alles Andere kann man sich selbst und den wirt¬ 
schaftlichen Kräften überlassen, welche das Land selbst erzeugt oder 
welche ihm von Aussen Zuströmen. Dass einZuströmen neuer Cultur- 
kräfte erfolgen wird, selbst ohne directeEinflussnahme der russischen 
Regierung, steht wohl ausser Zweifel, <ilenn der Kaukasus ist ein 
Land der Zukunft, wie es wenige giebt. Jede Unterstützung, welche 
man der Landwirtschaft und dem Bergbaue angedeihen lässt, wird 
auf einen gesunden Boden fallen und reiche Früchte tragen. Man 
hüte sich aber, in die Entwickelung der Industrie einzugreifen oder 


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gar derselben eine bestimmte Richtung vorschreiben zu wollen. Sind 
erst die natürlichen Hülfsquellen dieses reichen Landes erschlossen, 
dann wird sich schon von selbst eine Industrie herausbilden, welche 
dem Character des Landes entspricht. In diese greife man nicht 
ein; die ganze staatliche Hülfe muss sich auf die Hebung der Ur- 
production beschränken und concentriren. 

Speciell ist es die Landwirtschaft, welcher die unausgesetzte Auf¬ 
merksamkeit der Regierung zugewandt werden muss. Vor einigen 
Jahren schienen sich in dieser Beziehung Pläne von grosser Tragweite 
realisiren zu wollen. Heute ist es weit stiller hiervon geworden und * 
beinahe scheint es, als ob das allgemeine Interesse, welches sich eine 
Zeit lang dem Kaukasus zugewandt hatte, geringer geworden wäre. 
Eine Gesellschaft — so hiess es — sollte sich im Einvernehmen mit 
dem Domänenministerium, und gewissermaassen unter dessen Schutz, 
bilden, deren Thätigkeit sich vorzugsweise darauf erstrecken sollte, den 
Kaukasus in landwirtschaftlicher Beziehung 'äuszubeuten. Man 
wollte Ländereien von grösserem Umfange kaufen, auf denselben 
Gütercomplexe von geringerer Ausdehnung einrichten und diese 
letzteren an Private unter günstigen Zahlungsbedingungen verkaufen. 

Wäre diese Idee wirklich zur Ausführung gelangt, so hätte viel 
Gutes geschafft und die Landwirtschaft im Kaukasus in der That 
gefördert werden können. Diese Gesellschaft würde bei tüchtiger 
Leitung im Stande gewesen sein, die Regierung in ihren, auf Beför¬ 
derung der Landescultur gerichteten Bestrebungen zu unterstützen 
und ihr einen Theil jener Arbeit abzunehmen, deren Ausführung ihr 
jetzt wohl allein obliegt. Leider kam diese Gesellschaft, wie es 
scheint, in Folge der Nichtbetheilgung der finanziellen Kreise nicht 
zur Ausführung. Vielleicht wird noch eine Zeit eintreten, welche 
derartigen Unternehmungen günstiger ist; bis dahin wird es Sache 
der Regierung bleiben, alle Mittel, über welche sie verfugen kann, 
zur Ausführung zu bringen, um die Culturentwickelung des Kaukasus 
in energischer und nachhaltiger Weise anzubahnen. 

In letzterer Beziehung ist schon Vieles geschehen, das für diesen 
Zweck von dauerndem Einfluss bleiben wird. So wurden im Jahre 1865 
aufKosten der russischen Regierung vonenglischenlngenieuren grosse 
Bewässerungsarbeiten begonnen und im Jahre 1868 beendet. Die¬ 
selben bestehen in einem am Flusse Kur, 25 Werst südlich von Tiflis^ 
ausgehenden, 18* Werst langen Bewässerungscanal, der in einen von 
ihm gebildeten, am Fusse der die Steppe im Norden begrenzenden 
Berge liegenden See von 5 Werst Länge und 2 Werst Breite, mündet. 


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Von hier aus soll nun die zweite Abtheilung dieses Canals anfangen, s 
welche sich zum Fusse der den niedrigsten Theil der Steppe ein- 
schliessenden Berge wenden wird. Der ganze Canal wird über 40 
Werst lang sein und bewässert 27,000 Dessjätinen Land. Die tech¬ 
nischen Schwierigkeiten bei der Erbauung der ersten Hälfte waren 
nach dem „Kawkas“ nicht unbedeutend; besonders mussten die Ufer 
des Kur, wo der Canal abging, befestigt und die Oeffnung selbst 
mit 24 eisernen, ebenso leicht zu öffnenden, wie zu schliessenden 
Schleusen versehen werden. Die Breite des Canals wechselt von 
4! bis 5 Faden, die Tiefe von 2—3 Arschinen; die in jeder Secunde 
gelieferte Wassermenge beträgt i ' 2 Cubikfaden = 1183 Wedro. Da 
für die Secunde ein Wedro 22 Dessjätinen Ackerland und Wiesen 
bewässern kann, so reichen 1185 Wedro hin, dies mit 26,070 Dess¬ 
jätinen zu thun. Das mittlere Gefälle des Canals beträgt auf die 
ersten 15 Werst ungefähr 4 Zoll per Werst; auf der 16. Werst ist 
ein zwei Faden hoher Wasserfall eingerichtet. Zur Vertheilung des 
Wassers wurden 16 Vertheilungscanäle angelegt, und ihnen parallel, 
zur Aufnahme des überflüssigen und des von den berieselten 
Feldern abströmenden Wassers, Abzugscanäle. Die Ablassung des 
Wassers in diese Vertheilungscanäle besorgen 6 Schleusen. Die 
Ges^mmtanlage des Canals kostet 374,000 Rubel, jede Werst des 
Hauptcanals 7000, der Nebencanäle 600, ungerechnet der techni¬ 
schen Aufsichtskosten, die sich auf 30 S der Gesammtarbeitsunkosten 
belaufen. Dieses Factum beweist, dass es die Regierung keineswegs 
an Anstrengungen und Opfern fehlen lässt, um dem Kaukasus die 
Grundbedingungen einer gedeihlichen landwirtschaftlichen Cultur 
zu schaffen. * 

Hierzu treten noch umfangreiche Chaussee- und selbst Eisenbahn¬ 
bauten. Wenn erstere auch hauptsächlich den Zweck haben, als 
Militärstrassen zu dienen und letztere die Communication überhaupt 
und insbesondere den Handel zu fördern, so kommen doch beide 
gleichzeitig auch der Landwirtschaft zu Gute, indem sie wesentlich 
dazu beitragen, den Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu 
erleichtern. 

Jedenfalls stehen der Regierung zur Förderung der Bodencultur 
noch andere Mittel zur Verfügung urtd es ist nicht daran zu zweifeln; 
dass der beste Wille vorherrscht, sie in Anwendung zu bringen. 
Allein in der Anwendung dieser Mittel ist ebenfalls Vprsicht not¬ 
wendig, denn nuch die Landwirtschaft .soll dem Character 
Landes treu bleiben, und sich, diesem entsprechend, nach und nach 


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257 


entwickeln. Zwei Dinge sind es besonders, welche Noth thun: 
die Beschaffung besserer Culturgeräthschaften und die Veredlung 
der kaukasischen Viehzucht, welche in den natürlichen Verhältnissen 
des Landes schon jetzt eine recht gesicherte Basis findet. Die 
Werkzeuge, welcher sich die einheimischen Landwirthe zur Bear¬ 
beitung ihrer Felder bedienen, sind noch von der primitivsten Art 
und daher auch von ässerst geringer Leistungsfähigkeit. Durch 
Anwendung besserer Ackergeräthschaften könnte der Boden zu 
einem ungleich höheren Ertrag gebracht werden. Ebenso bringt 
die Haltung des einheimischen Viehes in landwirthschaftlicher Be¬ 
ziehung noch nicht den Vortheil, den solches Vieh zu bieten im 
Stande wäre. Man muss daher bessere und nutzbringendere Vieh- 
racen dort einzubürgern suchen. In neuerer Zeit fängt man an, der 
Viehzucht eine grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und es kann 
als ein erfreulicher Beweis des Fortschrittes angesehen werden, dass 
sich z. B. in allerneuester Zeit wiederum eine grössere Käsereige¬ 
sellschaft gebildet hat, welche sich eine umfassende Käsefabri- 
cation zur Aufgabe ihrer Thätigkeit stellt. Ueberhaupt wäre zu 
wünschen, dass sich die Association in stärkerer Weise, als es 
bisher geschehen ist, der Ausbeutung der landwirtschaftlichen 
Hülfsquellen zu bemächtigen bemüht wäre. Die russische Regie¬ 
rung würde jedenfalls im Culturinteresse des Kaukasus handeln, 
wenn sie derartige Unternehmungen nach Kräften förderte und das 
Inslebentreten derselben begünstigte. Nicht im Handel, nicht in 
der Industrie liegt die Zukunft des Kaukasus, sondern vorzugsweise 
in dessen Landwirtschaft und Bergbau. Alles, was zur Förderung 
dipser beiden letzteren beiträgt, wird dem ganzen Kaukasus zu Gute 
kommen. Concentrirt sich die Thätigkeit der Regierung und der 
Privaten auf diese Punkte, dann wird in der That der Kaukasus zu 
einem wirtschaftlichen Gehiete von der allergrössten Bedeutung 

und zu einem wahren Schatz für Russland werden. *) 

7 % 

F. Matthäi. 


*) Erfreulich ist die soeben hier uin St. Petersburg eintreffende Nachricht des 
yKawkas“, dass die baldige Vollendung der Kaukasusbahnen den Unternehmungsgeist 
von Neuem angefacht hat. Es sei bereits in Tiflis eine Actiengesellschaft in der Bil¬ 
dung begriffen, welche den Mineralreichthum des lindes auszubeuten beabsichtige 
und hatten auch ausländische Capitalisten den Wunsch ausgesprochen, dahin bezüg¬ 
liche Nachforschungen anzustöHen, damit man sodann zur sofortigen Verwirklichung 
-As ; Unternehmens schreiten kobrtt: 


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Das Gouvernement Olonez und seine 
Volks-Rhapsoden. 

Von 

A. Hilferding. ) 

(Aus dem „ Europäischen Boten“. Jahrgang VH, Buch 3. März 1872.) 


Schon längst hegte ich den Wunsch, unseren Norden zu besuchen, 
um mir einen Begriff zu verschaffen von seiner Bevölkerung, welche 
noch in einem Stadium primitiven Kampfes mit einer rauhen un- 
wirthlichen Natur lebt. Besonders lockte mich in das Gouvernement 
Olonez das Verlangen, wenigstens einen jener bemerkenswerthen 
Rhapsoden zu hören, welche P. N. Rybnikow **) hier gefunden hatte. 
Letzterer selbst hatte mich aufgemuntert, diese Reise zu unterneh¬ 
men und mir Hoffnung gemacht, dass auch nach seinen Arbeiten 
eine solche Reise nicht erfolglos bleiben dürfte. In der verbindlich¬ 
sten Weise hatte er mir practische Rathschläge ertheilt, die auf eine 
während eines zehnjährigen Aufenthaltes im Gouvernement Olonez 
gesammelte Erfahrung sich stützten. Da ich diesen Sommer über 
zwei freie Monate zu verfügen hatte, richtete ich meine Reise so ein, 
dass ich diejenigen Oertlichkeiten besuchen konnte, welche mir von 
Herrn Rybnikow als die Aufenthaltsorte der besten „Skasitdi“ (Er¬ 
zähler, Sänger) bezeichnet waren, namentlich die „Setmaja-Guba“ 


*) Der Verfasser ist io diesem Sommer, als er zum zweiten Male das Gouvernement 
Olonez besuchte, in der Stadt fi^argopol am Nervenfieber gestorben. Er gehört zu den 
bekanntesten russischen Slawisten. Im J. 1853 erschienen von ihm zwei Bücher: „Ueber 
die Beziehungen der slawischen Sprachen zu den verwandten“ und „Die Verwandt¬ 
schaft der slawischen Sprache mit dem Sanskrit 16 . 1855 erschien die „Geschichte der 

baltischen Slawen“, 1856—59 — „Briefe über die Geschichte der Serben und Bul¬ 
garen'* 1 ’, in zwei Heften, 1859 — die Ergebnisse einer Reise unter dem Titel: ,,Bosnien, 
die Herzegowina und das alte Serbien“, 1862 —r , Die Ueberreste der Slawen am süd¬ 
lichen Ufer des baltischen Meeres“, 1868 — eine Ausgabe seiner Gesammelten Schrif-, 
ten, 1870 — „Din allgemeines slawisches Alphabet“ und 1870 „Huss. Sein Verhältnis» 
zur rechtgläubigen Kirche.“ v 

P. N. Rybnikow hat seinen mehrjährigen Aufenthalt daselbst bis zum Jahre 1567 
als Mitglied der Gouvernements-Verwaltung in Petrosawodsk benutzt, * um episene, 
und andere Volkslieder zu sammeln, die er 1864 — 67 in vier Bändeil unter dem Tite!“: 


„n-fecHH * herausgab. 


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% 


■ ^59 

(Heubucht) und Kishi am unteren Ende der Onega-Halbinscl, Tolwui 
auf ihrer nördlichen Seite, das Pudosh'sehe Uferland am Nordost- - 
Ufer des Onega-Sees, Ken-Osero im nordöstlichen Winkel des Kreises. 
Piidosh und das sogenannte Moschen sehe Gebiet im nordöstlichen 
Winkel des Kreises KargopoL Ausserdem, ehe ich in die Sennaja- 
Guba hinüberfuhr, machte ich von Petrosawodsk aus einen Abstecher 
nach dem Gorskij-Pogost und der Melkaja- Guba; darauf fuhr ich aus 
Tolwui nach Powenez und unternahm von dort eine Excursion über 
Masselga zum Wyg-Osero und nach Danilaw; zum Ken-Osero fuhr ich 
nicht auf dem geraden Wege von Pudosh, sondern über Ssum-Osero 
und Wodl-Osero . Diesen langen im Zickzack beschriebenen Weg, 
welchen ich in Petrosawodsk am 30. Juni antrat, beendigte ich in 
Welsk (im Gouvernement Wologda) am 27. August. 

Ich werde mit einiger Ausführlichkeit die Resultate meiner Reise 
mittheilen, insofern sie einen Gegenstand berühren, welcher mich 
speciell beschäftigt hat — ich meine die epische Volkspoesie. Da 
aber das Gouvernement Olonez und insbesondere sein nordöstlicher 
Theil überhaupt wenig bekannt sind, so will ich diesen speciellen Be¬ 
merkungen einige Worte vorausschicken, welche den allgemeinen 
Eindruck, den dieses Land auf mich machte, wiedergeben sollen. 
Der allgemeine Eindruck — ist ein niederdrückender und zugleich 
ein erfreulicher. Erfreulich ist es, den nordrussischen Bauer dieser 
Gegend — andere kenne ich nicht und rede von ihnen auch nicht — 
zu sehen, ihn selbst für sich; niederdrückend ist aber der Anblick 
seiner Lage, in welche ihn die Natur versetzt hat; noch betrübender 
ist die Situation, in welcher er sich in Folge einer Reihe von Miss¬ 
verständnissen befindet. Ich habe kein Volk gesehen, welches gut- 
müthiger, ehrlicher und mit mehr natürlichem Verstände und mehr 
Lebensweisheit ausgestattet wäre. Der Reisende ist eben so sehr 
von seinem freundlichen Entgegenkommen und vonseiner Gastfreund¬ 
schaft, als von der Abwesenheit jedes Eigennutzes bei ihm in Er¬ 
staunen gesetzt Selbst der ärmste Bauer, bei dem das Brod zum 
Lebensunterhalt nicht ausreicht, selbst der empfängt den Lohn für 
einen geleisteten Dienst, welcher oft mit schwerer Mühe und Zeit¬ 
verlust verbunden ist, als Etwas,« was er nicht erwartet hat und nicht 
beansprucht Er setzt sich als Ruderer ins Boot, arbeitet mit dem 
Kuder fünfzehn Stunden lang, ohne bis zum Ende seinen guten Hu- 
jncfrr oder seine angeborene Neigung zum Scherz zu verlieren. Von 
der Mehrzahl des örtlichen Beamtenthums an eine äusserst uncere- 
irtonielle (ich wähle einen milden Ausdruck) Behandlung gewöhnt, 


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2Ö0 


verhält er sich zu derselben mit staunenswerter Herzensgüte und es “ 

ist an ihm nicht der leiseste Schatten des Misstrauens oder der Miss- ^ 

gunst gegen unser eins, den Menschen der privilegirten Classe zu k 

bemerken, obgleich er es nur mit den am wenigsten anziehenden. a 

Exemplaren derselben zu thun hat. Beim ersten Anzeichen einer & 

humanen Behandlung, die man ihm angedeihen lässt, blüht er, so zu 
sagen, auf, wird freundschaftlich und ist bereit, jeden Dienst zu er- 
weisen, ohne dabei jemals in jenen unerträglichen Ton einer ungc- ^ 

schliffenen, tactlosen Familiarität zu verfallen, von welcher im Westen 
der Mann aus dem Volke sich nicht freihalten kann, wenn ein Mensch • 1 

aus der gebildeten Schicht der Gesellschaft sich ihm nähern will. ^ 

Was die materielle öconomische Lage des nordrussischen Bauern be- x. 

trifft, so würden zu ihrer Beurtheilung Studien ganz anderer Art er- x 

forderlich sein, als diejenigen es waren, denen ich die Zeit während ,t 

meiner Reise widmete. Ich beschränke mich daher auf die allge- x, 

meinsten Bemerkungen. • 

Die materielle Lage des nord-russischen Bauern ist am Onega-See ^ 

einigermaassen erträglich, weil er hier über ein grosses Wasserbassin 
verfügt, das sich in unmittelbarer Verbindung mit dem St. Petersburger 
Hafen befindet; mehr dem Norden und Osten zu aber sieht man nur 
Wald, Wald und Sumpf und wieder Wald. Die Seen, die in dieser 
Gegend ausgestreut sind, dienen nur zum Verkehr der umliegenden 
Dörfer. Das Klima ist der Art, dass die Natur hier diejenigen Dinge 
versagt, ohne welche wir uns das Leben des russischen Bauern schwer 
denken können: er hat weder Kohl noch Buchweizen, weder Gur¬ 
ken noch Zwiebeln. Hafer, auf die mannigfaltigste Art zubereitet, 
macht den hauptsächlichsten Bestandteil seiner Nahrung aus. Hier 
fehlt auch das bekannte Vehikel des russischen Volkes — die Telcga • \ I 

Auf den sumpfigen Wegen kann dieses Fahrzeug hier nicht fort- 
kommen. Die Telega erscheint nur 35 Werst südlich von Ken- 
Osero, in der Oschewenschen Wolost, wo der trocknere und frucht¬ 
barere Theil des Kargopolschen Kreises beginnt. Nördlicher, um 
Ken-Osero,Wodl-Osero,Wyg-Osero und im Transonega-Gebiet ( Sa - 
oneshje ) wird, was zu transportiren ist, auch im Sommer auf Schlitten 
oder auf Schleifen gefahren. Letztere bestehen aus zwei Stangen, deren 
vordere Enden am Kummet befestigt werden, während die hinteren 
auf der Erde schleifen. Auf diesen beiden Stangen wird hinter dem 
Pferde ein Brett befestigt, auf welches man das Gepäck bindet. Die. 

Menschen reiten dort, wo sie zu Boote sich nicht bewegen können. 

Zum Einfuhren des Getreides von den, den Dörfern nähergelegenen 


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2Ö1 


Feldern werden zweirädrige Karren gebraucht, welche ungeschickt 
zusammengefügte, eher vieleckige als runde hölzerne Räder ohne 
Kisenbeschlag haben. Im Vergleich mit diesen Karren erscheint der 
in unserem (Petersburger) Gouvernement gebräuchliche finnische 
Buuernkarren (Tarätaika) als ein vervollkommnetes Fahrzeug/) 

Man kann sich leicht vorstellen, aber schwer in Worten Wieder¬ 
sehen, welche mühevolle Arbeit die nordische Natur von dem Men¬ 
schen verlangt. Die Haupt- und einzig lohnenden Arbeiten: Das 
Pflügen der Rodeäcker ( der „AVaj“, d. i. Felder, welche auf ausge¬ 
rodeten Waldstellen angelegt und nach dreijähriger Bestellung un¬ 
genutzt bleiben) und der Fischfang zur Iierbstzeit sind mit unglaub¬ 
licher physischer Anstrengung verknüpft. Um aber sein Leben 
fristen zu können, muss der Bauer auch nach allen möglichen ander¬ 
weitigen Erwerbsquellen sich umsehcii: daher beschränkt sich Nie¬ 
mand allein auf Ackerbau und Fischfang. Der Eine treibt in der 
freien Zeit irgend ein Bauernhandwerk, der Andere geht im Winter 
als Fuhrmann an das Weisse Meer, im Sommer als Burlak'*) zum Ka¬ 
nal, der Dritte geht in den Wald Wild schiessen oder fangen u s. w. 
Die Frauen und Mädchen sind genöthigt, eben so viel zu arbeiten 
wie die Männer. Der Bauer dieser Gegend ist froh und zufrieden, 
wenn er bei gemeinschaftlicher Anstrengung aller Mitglieder der Fa¬ 
milie irgend wie die Abgaben erschwingen kann, ohne dabei Hungers' 
zu sterben. So lebt das Volk hier in beständiger Mühsal. 

O . 

Besonders betrübend ist es, überall einstimmig zu hören und zu¬ 
gleich die sicheren Anzeichen dafür zu haben, dass das dortige Volk 
verarmt, dass seine Lage gegen früher sich verschlimmert. Im Inter¬ 
esse des Staates begann man unserer nordichen Wälder gegen die 
Bauern, welche in ihnen ihre ,,Niwy“ pflügen, zu schützen. Die 

*) Es sind niclu allein die Sümpfe, welche den Gebrauch von Rädern an Fahrzeugen in 
vielen Gegenden des nördlichen Theiles des Gouvernements Oloncz unmöglich machen, 
sondern auch der mit Rollsteinen häufig dicht bedeckte Diluvialhodcn. Wagen mit 
regelrechten Rädern sieht man hier nur auf der I.andürasse. Abseits yoii ihr sind die 
Räder hier in der Th»t von sehr primitiver Construction. Wir hatten Gelegenheit, an 
ihnen zwei Constructionsweisen zu beobachten: die eine bestand in einer, aus einem 
Stücke gefertigten Scheibe und repräsentirte also die erste Stufe des Rades. Die zweite 
Stufe in der Entwickelung desselben, das ist eine aus zwei oder mehreren Stücken zu- 
sammengefügic Scheibe — das Zusammenfugen giebt der Scheibe mehr Dauerhaftigkeit 
— haben wir in den erw ähnten Gegenden nicht beobachtet. Wohl aber die dritte Stufe, 
wo das Rad aus drei Stücken bestand, die aber nicht eine geschlossene Scheibe bildeten 
bei -1er die Speichen jedoch noch fehlten. Anmerkung Jjs Urbcrseizcrs. 

’ s *) ..Iturlak“ heisst derjenige, welcher am Ufer gehend vermittelst eines Strickes die 
auf dem Kanal befindliche Barke vorwärtszieht. j 


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262 


Rodewirthschaft ward als eine unregelmässige, räuberische, barba¬ 
rische betrachtet Leider hatte man nur vergessen, dass man ohne 
dieselbe dort nicht existiren könne, dass nur der frische 
Waldboden in jenem Klima eine Ernte giebt, welche die Arbeit belohnt; 
dass ferner nur solche Stellen beackert werden, auf denen ein niedriger 
Birken- oder Erlenwald wächst, der sonst zu nichts tauglich ist und 
dass der werthvolle Wald unberührt bleibt, und zwar aus dem ein¬ 
fachen Grunde, weil der Boden, auf welchem Föhren und Lärchen 
wachsen, zur Aussaat nicht geeignet ist, dass die Waldstellen, welche 
die Bauern im Stande sind zu pflügen, eine mikroskopische Grösse 
der dortigen unendlichen Waldeseinöden, welche die Dorfschaften in 
unserem Norden von einander trennen, ausmachen. Das Staats¬ 
interessegehe über Alles und das Staatsinteresse verlange den Schutz 
der Wälder, hiess es. So wurde denn die Rodewirthschaft der 
Bauern in der Weise beschränkt, dass bei der an Ort und Stelle er¬ 
folgten gewissenhaften und ,,nicht ermüdenden“ Ausführung der ge¬ 
gebenen Vorschriften die Bevölkerung ganzer Woloste plötzlich ihr 
hauptsächliches Existenzmittel sich entzogen sah, und die Bauern 
segneten ihr Schicksal, wenn der Vollstrecker der Vorschriften sich 
„ermüden“ lies. 

Bekanntlich zählen alle Bauern der nördlichen Kreise des Gouver¬ 
nements Olonez zu den Reichs-Bauern Welche Ordnung bei ihnen 
früher war, weiss ich nicht; mit der Einrichtung des Mini¬ 
steriums der Reichs-Domänen aber kamen sie unter die unmittel¬ 
bare Vormundschaft der Beamten. Obgleich ihnen alle Formen der 
auf Wahl gegründeten Gemeinde-Selbstverwaltung gewährt waren, 
so war doch thatsächlich alle Gewalt in die Hände des Bezirks-Chefs 
gelegt und die wählbaren Aeltesten und Communalverwaltungen waren 
nichts mehr, als die Vollstrecker seiner Befehle. Dadurch sind die 
dortigen Bauern in dem Maasse entwöhnt worden, sich um ihre Ge¬ 
meindeverwaltung zu kümmern, dass sie selbst jetzt, wo die Bevor¬ 
mundung aüfgehört hat, sich mit zu grossem Misstrauen zu den ihnen 
verliehenen Rechten verhalten, den Friedensvermittler wie den 
früheren Bezirks-Chef betrachten und ungern Gemeindeämter über¬ 
nehmen, da sie von denselben nur Plackereien und Verantwortlich¬ 
keit erwarten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird eine gan?e Ge¬ 
neration nothwendig sein, um diese tödtenden Spuren der früheren 
Bevormundung zu verwischen. 

Kaum giebt es ein Land, wo das Leben dem Menschen mehr ver¬ 
bittert wäre, wie am Wyg-See: hier versagt ihm dieErde jeden Lohn 


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263 

für ihre Bearbeitung; die Saaten erfrieren, der Fische giebt es wenig, 
auch eignen sie sich nicht zum Export, das Holz des Waldes kann 
nicht geflösst werden, der Ertrag der Jagd kann die Bevölkerung 
nicht ernähren, weil dieselbe im Verhältnisse zu ihm zu dicht ist. 
Mit einem Worte: hier gilt es, sich unablässig, aber erfolglos, mühen, 
um nur die karge Nahrung zu erschwingen. Welcher Trost bleibt 
nun dem Menschen bei solchem Leben? Der einzige Trost ist — 
die Religion, und in der That zeichnet sich das hiesige Volk durch 
besondere Religiosität aus. Was bietet sich aber unserem Blicke? 
Kommr man in ein Dorf, so wird inmitten der säubern, hübschen 
Häuser der Blick von einer traurigen Ruine betroffen. Im Vorüber¬ 
gehen entblösseA die Bauern, welche den Reisenden begleiten, ihr 
Haupt und kreuzigen sich. — Was ist das für eine Ruine? „Ja, das 
war unsere Kapelle, aber es sind zwanzig Jahre zurück, da kam ein 
Befehl aus St. Petersburg; es kam auch ein Beamter aus der Gouver¬ 
nementsstadt, der nahm die Heiligenbilder, versiegelte die Kapelle, 
nahm von ihr das Kreuz ab und verbot uns, sie zu berühren.“ — Wo 
haltet ihr denn jetzt den Gottesdienst? — „Ja nirgend, Väterchen, 
weil jede „Aeusserung“ verboten ist.“ — Ein anderer Bauer, ein 
Rechtgläubiger, erläutert, dass in dem Dorfe nur Sektirer leben und 
die Obrigkeit strenge darüber wache, dass bei ihnen kein Gottesdienst 
gehalten werde. 

Ich beschränke mich auf die Wiedergabe dieser allgemeinen Ein¬ 
drücke und gehe zu dem über, was mich hauptsächlich im Gouver¬ 
nement Olonez beschäftigte, das ist: zu den Ueberresten der epi¬ 
schen V olkspoesie. • 

Nach einem Besuch jener Provinz, namentlich ihres nördlichen 
und östlichen Theiles, ist es nicht schwer, die Ursachen sich zu er¬ 
klären, welche die Erhaltung der epischen Poesie im Gedächtniss 
des Volkes ermöglichten. Dieser Ursachen giebt es zwei und es be¬ 
durfte ihrer Zusammenwirkung, um die uns vorliegende Thatsache 
hervorzurufen: es sind — die Freiheit und die Einöde . 

Hier ist das Volk immer frei von der Leibeigenschaft geblieben*. 
Sich als freien Menschen fühlend, hat der Bauer des Transonega- 
Gebietes sein Gefühl für die in den alten Rhapsodien besungenen 
Ideale der freien Kraft nicht eingebüsst. Denn in der That, was hätte 
auch von dem Typus des epischen Helden dem Menschen bleiben 
können, der sich als Sclaven fühlte? 

Ausserdem lebte der freie Bauer des Transonega-Gebietes in einer 
Einöde, die ihn vor jenen Einflüssen bewahrte, welche geeignet sind, 

• 


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264 


diu ursprüngliche epische Poesie zu zersetzen und zu tödten: zu ihm 
drang weder die Einquartierung, noch die Fabrikindustrie, auch nicht 
die neue Mode; ihn berührte auch kaum die Konntniss der 
Schrift *), so« dass sogar jetzt ein Mensch, der lesen und schreiben 
kann, unter den Bauern dieses Landes eine sehr seltene Ausnahme 
bildet. Auf diese Weise konnten sich hier in voller Kraft jene Ele¬ 
mente erhalten, welche eine nothwendige Bedingung für die Er¬ 
haltung der#epischen Poesie sind: die Anhänglichkeit am Alten und 
der Glaube an das Wunderbare. Die erstcre ist der Art, dass sic 
sogar solche Neuerungen verhindert, deren Nutzen augenscheinlich 
ist und die in ganz Russland Eingang gefunden haben. So wird das 
Gras nicht mit Sensen, sondern mit „Gorbusclu“ '*) gemäht, nicht 
nur dort, wo es bequemer ist, mit ihnen zu mähen, wie zwischen 
Bäumen und auf Mooren, sondern auch auf ganz ebenen und guten 
Wiesen, obgleich das Mähen mit dieser Art Sense mehr Kraftan¬ 
strengung und Zeit verlangt. Die mehr entwickelten Bauern ge¬ 
stehen wohl die Unzweckmässigkeit dieses Verfahrens ein, meinen 
aber, es wäre einmal nicht anders möglich, denn,„unsere Grossvätcr 
und Väter haben mit der Gorbusclia gemäht,“ — ein Satz-, gegen 
welchen der Bauer im Transonega-Gcbiete keinen Einwand gelten, 
lässt. Dieselbe Pietät für das Althergebrachte erhält noch die An¬ 
wendung von Holzschlitten im Sommer, selbst an solchen Orten, 
wo de'r IväcTerwagen benutzt werden könnte. Wie es die Vorfahren 
thaten, so muss es auch jetzt gethan werden. Die Aufrechtcrhaltung 
der alten Sitte ist, wie leicht zu begreifen, eine für die Erhaltung der 
alten Ueberlieferungen und Gesänge sehr günstige Bedingung. 
Ausserdem halten die Verhältnisse, welche das Leben diese s Volkes 
gestalten, in ihrer Gesammtheit jeden solchen Einfluss fern, durch 
welchen bei ihm die Naivctät der überlieferten Anschauungen ge¬ 
schwächt werden könnte. Ohne Glauben an das Wunderbare ist für 
die epische Poesie ein natürliches, unmittelbares Leben nicht möglich. 
Sobald ein Mensch einen Zweifel darüber hegen kann, dass ein Boga- 

Si ) Die Kcnntniss des Lesens und Schreibens fanden wir im nöidlichcn Theile mein 
als wir erwarteten, namentlich in den von Seclirem bewohnten Dorhchaften Die Be¬ 
merkung des Verfassers ist gewiss zutreffend fUr die ru ssificirten Karclen. Anmerkung 
des Vebcrsctzers.' 

**) Sie haben die Form eines £ ; ihr Stock ist auch kürzer als bei der gewöhnlichen 
Sense. Der Mäher bückt sich bei jedem Schlage, indem er rasch hintereinander nach 
rechts und nach links ausliult. Die ..Gorbu>chi k * sind auch im \\ olugdascheu uudArchaii- 
gelschcn Gouvernement gebräuchlich und eignen sich für den unebnen Boden. Ucb. 


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265 


tyr*) (Held)reine Keule von vierzigPud Gewicht zu tragen, oder allein 
dn ganzes Heer zu vernichten im Stande sd, — dann ist die epische 
Poesie in ihm ertödtet. Eine Menge von Anzeichen hat mich über¬ 
zeugt, dass der Bauer des russischen Nordens, welcher „Byliny“ 
singt, sowie die Mehrzahl seiner Zuhörer unbedingt an die Wahrheit 
der Wunder glauben, welche in den „Byliny“ geschildert werden. Ich 
kann mich auch lebhaft meiner Ueberfahrt vom Sum-Osero zum 
Wodf-Osero erinnern: mich begleitete der'schon Herrn Rybnikow 
bekannte Rhapsode (Skasitel) Andrej Ssqrokiri, welcher vor langer 
Weile die umfassende Bylina von den einundvierzig „Kaliki“(Pilgrime, 
Vaganten) zu singen begann. Zwischen ihm und mir ritt der Eigen¬ 
tümer des von mir bestiegenen Pferdes, welcher niemals jenen Ge- 
sang gehört hatte. Er begleitete denselben beständig mit seinen Beirier- 
kungen. „Ach, dieses schändliche Weib“ wiederholte er mehrmals, 
als er hörte, wie die Fürstin Opraksija den Anführer der Kaliki zur 
Sünde lockt. „Welch ein Missgeschick!“ rief er aus, als beim An¬ 
führer in der Sacktasche die von der rachsüchtigen Fürstin dahin ge¬ 
legte fürstliche Silberschale sich vorfand und der Anführer sich selbst 
zum grausamen Tode verurtheilen musste. „Das ist ja prächtig, 
in der That!“ schloss er, als der Sänger davon sang, wie der heilige 
Nikola von Moshaisk dem Anführer „die raschen Beine und die 
weissen Hände anlegt, die klaren Augen und die Zunge einlegt, 
und in die weisse Brust den Athem einhaucht.“ 

Mit einem Worte, mein Begleiter hörte die ganze Bylina mit 
vollem Glauben an di t Wirklichkeit des in ihr Erzählten an, als han¬ 
dele es sich um ein Ereigniss des gestrigen Tages, welches wohl 
ausserordentlich und Erstaunen erregend, dennoch aber vollständig 
glaubwürdig sei. Zu derselben Beobachtung bot sich mir wiederholt 
Gelegenheit. Zuweilen lässt selbst der Sänger der Bylina, wenn man 
ihn dieselbe, des Nachschreibens wegen, mit Pausen singen 
heisst, seinen Commentar einfliessen, und diese Erläuterungen 
zeigen davon, dass er mit seinen Gedanken ganz in der von ihm 
besungenen Welt lebt. So, zum Beispiel, begleitete Nikifor Pro- 


*} Das Wort ,,bogatyr u — tioraTbipb tritt, wie der Präsident der hiesigen Philologi¬ 
schen Gesellschaft in einer ihrer Sitzungen einmal nachwies, in russischen Schriftdenk¬ 
mälern nicht vor der Mongolenzeit auf. Es ist unzweifelhaft asiatischen Ursprungs. 
Obgleich es bei den Mongolen und Türken vorkommt, scheint es doch eher arischen 
Ursprungs zu sein. Vor Kurzem hat ein hiesiger Gelehrter gesprächsweise geäussert 
es könnte auf ein ,,Bagha-puthra u , Göttersohn, zurückzuführen sein, Anmerkung 
des Uebersetzers. 

18 


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266 


chorow die Ereignisse, welche von ihm in der Bylina von Michailo 
Pötyk beschrieben wurden, piit Bemerkungen, als: „wie dünkt es 
Euch, Brüder, drei Monate unter der Erde zu leben!“ oder „seb 
mal Einer die unreine Schlange, sie denkt noch an List,“ oder: „kann 
man sich vorstellen, dass ein Weib so verschmitzt ist“ u. s. w. Wenn 
Von Seiten eines Anwesenden, der ein Schriftkundiger ist, ein Zweifel 
an der Wahrhaftigkeit des in der Bylina Besungenen geäussert wird, 
dann hilft sich der Rhapsode mit der sehr einfachen Erklärung: „vor 
Alters waren ja die'Leute ganz anders als jetzt“ Nur von zwei 
Rhapsoden hörte ich Aeusserungen eines gewissen Unglaubens. 
Beide sind nicht bloss schriftkundig, sondern auch Vorleser in der 
Kirche? der Eine von ihnen hat das Sectenwesen verlassen» der An¬ 
dere ist unlängst „Altgläubiger“ geworden. Beide sagten mir, es falle 
ihnen schwer zu glauben, dass die „Bogatyri“ in Wirklichkeit die 
Kraft besessen hätten, welche ihnen in den Byliny zugeschrieben 
wird, als ob z. B. Ilja von Murom mit einem Male vierzig Tausend 
Räuber hätte erschlagen können, dass sie das nur deshalb sängen 
weil sie es vön ihren Vätern gehört. Doch diese Skeptiker sind nur 
seltene Ausnahmen. 

Die grosseMehrzahl lebt noch vollständig unter derHerrschaft der epi¬ 
schen Weltanschauung.^ Daher ist es nicht auffallend, dass an vielen 
Orten dieses Landes die epische Poesie noch als reiche Quelle fliesst. 

Ich hatte durchaus nicht erwartet, in dieser Beziehung eine so 
reiche Ernte zu halten. In Anbetracht dessen, dass die Sammlung 
des Herrn Rybnikow die Frücht eines vieljährigen Aufenthaltes im 
Lande war, rechnete ich, da ich nur über zwei Monate zu verfugen 
hatte, Anfangs gar nicht darauf, diese Sammlung wesentlich ver¬ 
vollständigen zu können, und beabsichtigte bloss, mein Interesse an 
unserer epischen Volkspoesie durch persönliche Bekanntschaft mit 
einigen Rhapsoden zu befriedigen. Indessen sah ich mich, jn Folge 
günstiger Umstände, bald genöthigt, aus einem Touristen einSammler 
zu werden. In Petrosawodsk hatte man mir einen blinden greisen, 
Bauern, der, um Einkäufe zu machen, dorthin gekommen war, vor¬ 
geführt. Anfangs gestand er ungern* dass er irgend welche alte Ge-. 
sänge (Stariny) kenne, weil aber sein Weg nach Hause in dieselbe 
Gegend fiihfrte, wohin ich mich begab, so willigte er ein, sich zu 
mir ins Boot su setzen. Unterwegs Hess er sich von mir erbitten, 
seine Stariny zu singen, und der alte Ijew Jeremejew begann die 
schöne Bylina von der Verwandlung des Dobrynja unter dem Zauber 
unserer russischen Circe, Marjanka*. 


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267 


Otaa CTajia — to ÄoöpMHKuiiKy oöBepTMBaTn: 

06aepHyjia — to ÄoöpuHio aa copoKoio, 

OÖBepHyjia — to ÄoöpwHio Aa BopoHoio, 

OöaepHyjia — to ÄoöpbiHio CBHHbeio, 

OöBepHyjia — to ^oöpbimouacy rH^AUMT» TypoMi»: 

Poäjüi y Typa Aa bi> soaoth, 

Hoäjcel y Typa 4a wh cepeöpn, 

IIIepcTb na Typ^ Aa pbiÄa öapxaTy *). 

Eine andere Redaction dieser Bylina, die eben so vollständig und 
deren Ausdrucksweise ebenso archaistisch wäre, habe ich nicht Gele¬ 
genheit gehabt zu hören, und.der Eindruck, unter.dem ich mich 
beim Anhören derselben befand, wurde noch erhöht, als ich gleich 
darauf aus dem Gespräche Jeremejew’s mit anderen Bauern erfuhr, 
dass er ein hart gesottener Raskolnik sei. 

Indessen war ich, auf Grundlage der Sammlung Rybnikows und 
seiner Erläuterungen”), überzeugt gewesen, dass bei denRaskolniken 
gar keine Ueberreste des Volksepos zu finden wären, und auch der 
Meinung, dass es für mich nur ein Zeitverlust wäre, die Oertlich- 
keiten zu besuchen, wo die Anhänger des alten Ritus # in der Mehr¬ 
zahl vertreten sind. So musste denn die entschieden heidnisch ge¬ 
färbte Bylina, welche von* einem Menschen gesungen worden, der 
wegen seiner ketzerischen Ueberzeugung bekannt war, .meine Vor- 

*) Das heisst: „Sie begann nun den Dobrynjuschka zu verwandeln: 

Verwandelte den Dobrynja in eine Elster, 

Verwandelte den Dobrynja in einen Raben, 

Verwandelte den Dobrynja in ein Schwein, 

Verwandelte den Dobrynjuschka in einen rothen Wisent: 

Die Hörnchen beim Wisent sind in Gold, 

Die Fiisschen beim Wisent sind in Silber, 

Das Fell auf dem Wisent ist rother Sammet. u 
. **) Siehe seine ,,Bemerkuhg u im III. Bande, Seite IX, wo es heisst: „Die Einge¬ 
borenen von Schunga (im Centrum der grossen Halbinsel im Westen des Onega) 
blickten auf das Alterthum nicht ganz wohlwollend. Sie hatten nur fiir die religiöse 
Seite desselben Interesse, und hier bestätigte sich bei ihnen die von mir noch im Gou¬ 
vernement Tschemigow gemachte Beobachtung: wo sich die Anhänglichkeit an den 
alten Ritus stark entwickelt, da interessirt aich das Volk fUr die Denkmäler der Poesie 
und der Kunst überhaupt nur insofern, als sie ins Gebiet der Religion hinübergreifen 
und soweit sie yon der Sitte, welche seit 4em XVIL Jahrhundert erstarkte, gestützt wer¬ 
den. Zu den weltlichen Gesängen verhalten sich die eifrigen Altgläubigen grössten- 
theils noch mit der Stimmung, welche bei den Asketen des alten Russlands das Verbot 
veranlasste, „vom Teufel herrührende Lieder nicht zu singen und die Kinder der Welt 
nicht zu verfuhren. 4; Daher hßrt man im Kreise Powenez r kaum von zwei, drei 
Rhapsoden. u 

i8 # 


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258 


aussetzungen gänzlich umstossen und sogar meinen Reiseplan ver¬ 
ändern. Ich fing an zu vermuthen, und später überzeugte ich mich 
vollkommen davon, dass Herr Rybnikow bei seiner persönlichen 
Stellung, als Mitglied der Administration des Gouvernements, bei 
den Altritualisten nichts hatte finden können, dass aber die Byliny 
auch von den Raskolniken gesungen werden. Anstatt die von den 
Altgläubigen bewohnten Oertlichkeiten zu meiden, entschloss ich mich 
nun, das Centrum dieser Bevölkerung, die Umgebung des Wyg- 
Osero, zu besuchen. Ich hatte mir für die Begegnung mit den Alt¬ 
ritualisten ein Programm zurecht gelegt: höfliche Behandlungs¬ 
weise, Vermeidung jedes Ausdrucks«, welcher ihr religiöses Gefühl 
verletzen könnte, Fernhalten jedes Streites über Religiort; w^nn aber 
das Gespräch auf dieselbe führen sollte, Einhalten jenes Tones der 
Achtung, in welchem es in gebildeter Gesellschaft angenommen ist, 
mit den Andersgläubigen von ihren religiösen Überzeugungen zu 
reden. Dieses Programm, an und für sich einfach, war dort, so viel 
ich bemerken konnte, etwas Neues. Ich weiss nicht, ob ich es ihm 
zuschreiben darf, dass Das, was man mir prophezeit hatte, dass ich 
nämlich von Se.iten der Raskolniken auf einen groben Empfang mich 
gefasst zu machen habe und dass sie mir Nichts mittheilen würden, 
nirgend in Erfüllung ging. Freilich erlaubte ich mir keine, in 
irgend einer Weise kitzliche Fragen; doch Byliny recitirten sie 
überall gern und erlaubten mir, sie nachzuschreiben. Bei einer Ge¬ 
legenheit war ein solches Zutrauen sogar nicht zu erwarten. Mir 
war der Name eines Bauern aus dem Kreise Kargopol bekannt, 
welcher ein ausgezeichneter Rhapsode sein sollte. Als ich in die Ge¬ 
gend gekommen war, wo er wohnte, wollte ich einen Expressen 
abschicken, um ihn zu mir einzuladen. „Das ist vollkommen unnütz“, 
antwortete mir der Hauswirth, bei dem ich eingekehrt war: „das 
Geld, welches Sie dem Boten zahlen — man musste vierzig Werst ' 
weit auf sehr schlechtem Wege reiten — wird weggeworfen sein. 
Dieser Mensch ist erst vor drei Jahren altgläubig geworden (d. h. ist 
vom orthodoxen Glauben zum Raskol übergegangen) und fürchtet 
dafür zur Verantwortung gezogen zu werden; jedenfalls wird er.nicht 
zu Ihnen kommen.“ Dessen ungeachtet bestand ich auf der Ab¬ 
sendung des Boten, welcher andern Tages zurückkehrte und die 
höchst unbestimmte Antwort brachte, dass Jener „sich noch 
besinnen wolle, dass er sich unwohl fühle“, u. s. w. — „Nun, 
das habe ich ja gewusst“, sagte mir der Hausherr; nein, er 
kommt sicher nicht.“ — „Wenn ich aber zu ihm hinfahre, wird er 


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269 




mir dann seine Byliny herrecitiren?“ «— „Freilich wird er es, dem 
Gast kann er es nicht abschlagen.“ Ich hatte schön angefangen, mich 
zur Fahrt zu rüsten, als der zum alten Glauben übergegangene Ska- 
sitel angeritten kam, und in derThat durch seine Byliny den Wunsch, 
ihn zu hören, vollkommen rechtfertigte. Später erfuhr ich, dass er 
unterwegs bei einer „'Lehrerin“ die den dortigen Raskolniken,,als Pope 
dient“, eingekehrt wäre, und dass sie ihm erlaubt hätte, zu mir zu 
kommen und die alten Gesänge bei mir zu recitiren. 

Nicht weniger günstig war für mein Einsammeln von Byliny auch 
eine andere, gleichfalls ganz zufällige Begegnung, und zwar gleich im 
Anfänge meiner Reise. • 

Noch auf dem Dampfer, auf welchem ich von St. Petersburg *) 
fortfuhr, hatte ich auf dem Vorderdeck mit einigen Bauern aus dem 
Transonega-Gebiet ein Gespräch angeknüpft, frug sie über die Ska- 
siteli aus, welche mir aus dem Buche von Rybnikow her bekannt 
waren, und erfuhr unter Anderem, dass man über einen von ihnen, der 
Abrarn Jewtiqhijew, (Abraham, des Eutychius Sohn) hiess, in 
Petrosawodsk Erkundigungen einziehen könnte, weil dort sein Sohn 
wohne. Es erwies sich, dass der Alte beim Sohne zum Besuch war, 
und gleich am Tage meiner Ankunft hatte ich das Vergnügen, seine 
schönen Byliny zu hören. Wir wurden so gute Freunde, dass er 
gerne einwilligte, mich durch das ganze Transonega-Gebiet zu be¬ 
gleiten, selbst bis nach Kargopol hin, wodurch er mir sehr nützlich 
wurde. Da er seinem Handwerke nach ein Dorfschneider ist, so war*- 
dert er den ganzen Herbst und Winter in den Dorfschafteu des Trans- 
onega-Gebietes umher, und verweilt dort, wo man seiner Arbeit 
bedarf. Auf diese Weise fehlt es ihm* nicht an Bekannten in allep 
Winkeln der erwähnten Gegend, und ihm hatte ich es zu verdanken, 
dass ich auf meiner Fahrt nicht mit -jenem Misstrauen empfangen 
wurde, welches die Bauern gegen jeden Ankömmling aus St Pe¬ 
tersburg, hegen. Ich bemühte mich, in solchen Dörfern zu verweilen, 
wo man sicher darauf rechnen konnte, Byliny zu hören. Während ich 
sie dort nachschrieb, wanderte Abram Jewtichijew in der Umgegend 
umher, manchmal recht weit, in einer Entfernung von 40 oder 50 
Wörst, „um Skasiteli zu holen“, wie er sich ausdrückte. Von ihm da- 

*) Zwischen St Petersburg und Petrosawodsk finden im Sommer zweimal in der 
Woche Fahrten von Dampfböten statt Sie gehen die Newa hinauf bis Schlüsselburg, 
dann über den Ladoga-See in den Swir und aus demselben in den Onega-See, an dessen 
westlichem Ufer Petrosawodsk liegt. Die Reise: dauert zwei Tage, Anmerkung des 
Uebcrsetzers . . / 


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rüber versichert, dass sie belohnt würden, kamen die Bauern sehr 
gerne, um ihre Byfiny herzusagen. Später führte das Gerücht, dass 
das Recitiren der Gesänge belohnt werde, uns auch Solche zu, von 
denen wir nichts gewusst hatten. Es kam sogar vor; dass Einige Tage 
lang zu.warten hatten, bis die Reihe an sie kam, wobei ich Byliny 
bis zur völligen physischen Erschöpfung nachschrieb. Auf diese 
Weise gelang es mir, in der kurzen Zeit von zwei Monaten 70 Perso¬ 
nen, Männer und Weiber, welche Byliny kannten, aufzufinden/Ich muss 
bemerken, dass aus dieser Zahl 16 Personen Herrn Rybnikow theils 
persönlich, theils durch Vermittelung Anderer bekannt waren, dass 
ferner fünf Personen, denen er Byliny nachgeschrieben, seit der Zeit 
gestorben sind, und . dass endlich sieben Personen, die in seiner 
Sammlung erwähnt werden, entweder abseits von meiner Reiseroute 
geblieben sind oder zufällig von mir nicht aufgesucht werden konnten. 
Bei der Bekanntschaft mit den Sängern und Sängerinnen bemühte 
ich mich, über ihre persönlichen Verhältnisse mich zu unterrichten, 
um mir den Einfluss der Persönlichkeit des Skasitels auf denCharacter 
der Rhapsodien selbst klar zu machen. In der von mir veranstalteten 
Sammlung werden die Leser biographische Nachrichten über jeden 
Sänger und jede Sängerin finden. Hier erlaube ich mir, einige all¬ 
gemeine Bemerkungen mitzutheilen, die sich auf die Bekanntschaft 
mit diesen siebenzig Persönlichkeiten stützen. 

Vor Allem ist zu berücksichtigen, dass sich die Byliny nur im 
Kreise der Bauern erhalten haben; ich werde später der einzigen Aus¬ 
nahme, die-ich gefunden, erwähnen; sie ist übrigens von ganz zu¬ 
fälliger Art. Man verwies mich auf einen Kirchendiener (Ponamar), 
ein anderes Mal auf einen Altardiener (Djatschok), welche „alte Ge¬ 
sänge“ kennen sollten; man machte mir sogar Hoffnung, ich würde 
,,alte Gesänge“ von einem der*sogenannten „Obelnyje Wotschinniki“ 
{Freihöfler) in Tscholmushi hören. Es erwies sich aber, dass der 
Kirchendiener nur Märchen zu erzählen wusste , dass der Djatschok 
Anecdotenerzähler war, der Freihöfler aber die Urkunde, laut welcher 
sein Vorfahr vom Zaaren Michail Feodorowitsch von den Abgaben 
befreit worden war, auswendig kannte. 

Zweitens sind fast alle unsere Rhapsoden des Lesens und Schrei¬ 
bens nicht kundig. Ich fand nur fünf Schriftkundige unter den 70 
Sängern und Sängerinnen von Byliny. 

Drittens werden die Byliny von Orthodoxen und Altgläubigen 
ganz gleichmässig, ohne das geringste Anzeichen einer Veränderung 
unter dem Einflüsse ihrer religiösen Ideen gesungen. 


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271 




Viertens hat sich das Singen der Byliny in unserem Norden nicht 
zur Profession ausgebildet, wie es im alten Griechenland der Fall 
war, im Mittelalter im Westen und wie wir es noch jetzt in Kleinruss¬ 
land sehen, ist dagegen ein Gegenstand häuslicher Müsse bei Leuten, 
deneil Gedächtniss und Stimme erlauben, die ,,alten Gesänge“ sich 
anzueignen. Einen professionellen Character hat das Singen von 
geistlichen Liedern, welches eine Einnahmequelle für die bettelnden 
„Kaliki“auf den Jahrmärkten und an den Kirchweihfesten ausmacht; 
doch die Kaliki kennen fast nicht Volks-Byliny. Ich traf einen sol¬ 
chen Sänger von Profession — es war Iwan Fenopow, der aus der' 
Sammlung von Rybnikow her unter dem Namen des blinden Iwan 
bekannt ist — welcher ausser geistlichen Liedern auch Byliny kennt. 
Letztere betrachtet er aber als etwas Untergeordnetes und Unwesent¬ 
liches für seine Profession. Dafür kennen aber fast alle Bauern und 
Bäuerinnen, welche Byliny singen, ausserdem auch geistliche Lieder, 
namentlich von Alexis, dem Manne Gottes, dem tapfern Georg, dem 
Krieger Anika, dem Könige Salomon und die ,,Golubinaja Kniga“ 
(„Tauben-Buch“). Ich vermuthe, dass diese Verse von ihnen 
höher gestellt und häufiger gesungen werden, als die Volksepen. 

Unter den Rhapsoden, denen ich begegnet bin, konnte ich nur bei 
Einem zum Theil bemerken, dass er gewissermaassen der Kenntniss 
von Byliny einen practischen^erth beilege und sich für einen pro¬ 
fessionellen Sänger von Byliny halte; es war der aus der Sammlung 
von Rybnikow her bekannte Kusma Romanow. Als ich in seiner 
Nachbarschaft angekommen war und ihn auflfordern liess, zu mir zu 
. kommen, weigerte er sich anfangs, meiner Einladung Folge zu 
leisten, weil kurz zuvor ein vornehmer Herr ihn einige Byliny 
hatte Gingen lassen und ihm dafür nui* zehn Kopeken gegeben hatte 
Eine solche niercantile Anschauung habe ich fast bei keinem einzigen 
der Sänger von Byliny bemerkt; im Gegenteil, sie wunderten sich 
meist, dass ich ihnen für ihr Recitiren zahlte, uhd einer von den be- 
# merkenswertesten Skasiteli, ein junger Bursche am Wyg-Osero, nach¬ 
dem er für das Singen einiger Byliny mehrerhaften hatte, alser in dersel¬ 
ben Zeit durch Feldarbeit hätte verdienen können, erklärte darauf aller 
Welt, dass von nun an er keine Byliny an seinemOhre vorübergehen las¬ 
sen werde, ohne sie zumemoriren, weil er jetzt einsehe, dass auch dieses 
WissenseinenWerthhabe. WasaberdenKusmaRomanowanbetriflft,so 
hat s^inBlick äuf das Singen vonByliny als auf seine Profession, wie es 
scheint, sich erst vor Kurzem ausgebildet und zwarinFolgedesNutzens, 
welchen ihm sein Wissen gebracht hat. Als blinder und, hülfloser 


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272 


Greis erhielt er, Dank Herrn Rybnikow, eine lebenslängliche Unter¬ 
stützung (von 6 Rubeln im Jahr) und hat auch die Ehre gehabt, vor 
dem verstorbenen Cesarewitsch> als Seine Hoheit das Gouvernement 
Olonez besuchte, Byliny zu recitiren, eine Thatsache, welche den 
Romanow, als Sänger von Byliny, in den Augen der Ortseinwohner 
und in seinen eigenen unermesslich hoch erhoben hat 

Der Leser sieht, dass die Verhältnisse für Romanow sich ganz 
ausnahmsweise gestaltet haben, um seinemSingen eine practische 
Bedeutung zü verleihen; ich wiederhole aber, das ist der einzige Fall 
der Art. 

Ausserdem ist.es höchst bemerkenswert!!, dass das Singen der 
Byliny gewissermaassen ein Privilegium des am Meisten ordentlichen 
Theiles der Landbevölkerung ausmacht. Ausnahmen bilden (ausser 
einigen wenigen Personen, die ich in Folge von Brandschäden oder 
anhaltendem Nervenfieber ruinirt fand) nur die Blinden (Kusma Ro¬ 
manow, Iwan Fenopow, Semen Komilow und Peter Prochorow), 
welche durch ihre physischen Gebrechen in eine hülflose Lage ger 
bracht sind; übrigens habe ich auch unter den blinden Skasiteli einen 
Menschen gefunden; namentlich den vorher erwähnten Ijew Jereme- 
jew, welcher, nachdem er in seiner Kindheit als blinde arme Waise 
zurückgeblieben war, Dank seiner staunenswerthen Energie und 
seinen Fähigkeiten, durch seine Arbeit sich selbst einen ordentlichen 
Hausstand gegründet hat. Die besten Sänger sind zugleich als gute 
und verhältnissmässig wohlhabende Hauswirthe bekannt: ich nenne 
Rjabinin undKassjanow in Kishi, Andrej Timofejewin Tolwuj, Abrain 
Jewtichijew und Peter Kalikin auf dem Pudosh-Berge, Nikifor Pro- 
chorow in Kusnetsk, Potap Antonow in Schala, Ssorokin am Ssum- 
Osero, Nikitin, Feodor Sacharow und Alexej Wissarionow am Wyg- 
Osero, Iwan Sacharow, den besten Skasitel und den Reichsten Man* 
am Wodl-Osero, Iwan Ssiwzow Pöromskij, den ersten Skasitel und 
einen der wohlhabendsten Bauern am Ken-Osero, ausserdem die 
Skasiteli aus derselben Gegend, Peter Woinow und Michail Iwanow, 
endlich Nicolai Schwezow an der Moscha und Andere. Augen-' 
sch einlich finden die Byliny nur in solchen Köpfen Platz, welche aa- 
gebornen Verstand und Gedächtniss mit Ordnungssinn, der auch für' 
den practischen Erfolg im J^eben nothwendig ist, vereinen. Wie 
oft wurde mir gesagt, dass ich in dem und dem Dorfe den nnd den 
Bettler oder den und den Schenkenbesucher finden würde, welche 
im Stande wären, verschiedene „Historien“ zu singen; aber die Bett¬ 
ler von Profession, wie ich früher bemerkte, kannten nur geistfiche 


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I 


_273_ 

Verse, und die dem Fusel huldigenden Weisen erschienen mit einem 
Vorrath an Liedern, die mehr oder weniger lüderlich, oder an Anec- 
doten, die mehr oder weniger geistreich waren, aber Keiner von 
ihnen erwies sich als epischer Rhapsode. Unter den Bauern, von 
# welchen man Byliny hören kann, trinken Viele gar keinen Brannt¬ 
wein; einen berüchtigten Säufer habe ich unter ihnen gar nicht an- 
getroffen. 

Nachdem ich diese Bauern über ihre Lebensverhältnisse befragt 
habe, kann ich den Schluss ziehen, dass der Erhaltung der Byliny 
besonders einige Handwerke günstig waren. So wird beim Durch¬ 
sehen der biographischen Nachrichten über die Rhapsoden, denen 
ich Byliny nachgeschrieben, der Leser bemerken, dass viele vor* 
ihnen und namentlich die, welche mehr als die übrigen in ihrem Ge*? 
dächtnisse aufßewahren, entweder selbst mit dem Schneider- oder 
Schusterhandwerk oder dem Anfertigen von Fischernetzen sich be¬ 
schäftigen, oder ihre Byliny von Personen haben, welche diese Hand¬ 
werke betreiben. Die Bauern selbst haben, mir zir wiederholten 
Malen gesagt, dass, wenn sie Stunden lang auf einem Flecke bei der 
einförmigen Arbeit des Nähens oder Strickens sitzen, ihnen die Lust 
ankomme, „alte Gesänge“'(Stariny) zu singen, und dass diese dann 
leicht sich aneignen Hessen; dagegen Hesse die Beschäftigung mit 
Feldarbeit und anderen schweren Arbeiten nicht nur keine Zeit dazu, 
sondern erstickte im Gedächtniss sogar das früher Gekannte und 
Gesungene, . Uehrigens möge der Leser im Auge behalten, dass die 
Handwerke, deren ich erwähnte, durchaus nicht die ausschliessliche 
Beschäftigung eines ,der Sänger von Byliny ausmachen; Jeder von 
ihnen ist zu gleicher Zeit Feldbauer und arbeitet im Sommer in seiner 
Bauemwirthschaft. Der Unterschied besteht allein darin, dass Ejnige 
sich in der freien \Vinterzeit out einem Handwerk beschäftigen, das 
dem Erhalten der epischen Gesänge förderlich ist, während die Be¬ 
schäftigungen der. Anderen, zum Beispiel die Jagd, Waldarbeiten, 
Fuhrmannsdienst u. d. m., für Rhapsodien keine Müsse gewähren. 

Ehe ich diese allgemeinen Bemerkungen über unsere Voiks-Rhapr 
soden schliesse und zu mehr Speciellem übergehe, will ich noch bei 
zwei Thatsachen verweilen, auf welche Herr Rybnikow hinweist. 
Erstens sagt er, dass „die Weiber ihre eigenen Weibcr-Stariny hätten, 
die von ihnen mit besonderer Liebe, von den Männern aber nicht sq 
gern gesungen.würden;“ zweitens schildert er die epische Poesie 
als Etwas, das im Aussterben begriffen wäre: „die Mehrzahl der 
SkasiteH^ sagt er, wird schwerlich ihre Nachfolger finden und, in 


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zwanzig, dreissig Jahren,, nach dem Tode der besten Reprisentante 
der gegenwärtigen Generation der Sänger, werden %ie Byliny auch 
im Gouvernement Olönez kn Gedächtnis nur sehr Weniger *a»s, 
der Landbevölkerung sich erhalten habend* Das ist voUkonunect 
zutreffend für die Gegend, mit welcher Herr Rybnikow persönlich 
bekannt geworden ist, nämlich die Uferlandschaften des Onsga-Sees, 
hier ist in der That die epische Poesie dem Aussterben nahe, die By¬ 
liny werden hier hauptsächlich von Greisen gesungen und für diese 
greisen Rhapsoden sind in der That keine Nachfolger unter dem 
, jungen Geschlecht zu haben; hier kennen auch die Weiber selten 
andere Byliny als die von Stawr, Iwan Godinowitsch und Tschurilo 
Plenkowitsch, welche, wie es scheint, sie deshalb interessiren, weil im 
diesen die handelnden Hauptpersonen — Frauen sind. Anders ver* 
hält es sich aber mit den Gegenden weiter im Norden und Osten 
am Wyg-Osero, am Wodt-Osero,am Ken-Osero: hier hat che epische 
Poesie ein gleich kräftiges Leben- unter dem alten wie unter dem 
jungen Geschlechte; hier ist auch gar kein Unterschied wahrzuaeh» 
men zwischen den Liedern, welche die Männer, und zwischen.deden, 
welche die Weiber singen. In dieser Beziehung ist hauptsächlich der 
Ken-Osero bemerkenswerth. Die Ufer dieses See’s, in welchen von 
allen Seiten Landzungen hineinragen, * so dass der See, ungeachtet 
seiner bedeutenden Ausdehnung, von aHeji Functen aus die Aussicht 
auf Fjorde und Belte bietet, —- die Ufer des Ken-Osero bilden ge- 
wissermaassen eine abgesonderte, ziemlich fruchtbare, mit Dörfern 
bestreute Oase inmitten einer grossen Einöde von Mooren und Wäl¬ 
dern, und in dieser Oase blüht gegenwärtig die epische Poesie. Die 
Bauern und Bäuerinnen, welche hier Byliny singen, können hier nach 
Zedern aufgezählt werden, Byliny singt hier Alt und Jung. Man 
kann hier eine und dieselbe VariaiÄe von fünf, sechs Personen hören, 
Männern und Weibern, die in verschiedenen Dörfern leben; zugleich 
kann man hier drei Brüder antrefferi, die in efem Hause leben und 
von denen jeder seine besonderen Byliny kennt; man findet hier 
eine Familie, wo Mann und Frau gerne Byliny singen und dennoch 
verschiedene recitireru Die Weiber besingen hier dieselben Helden, 
welche von den Männern besungen werden; doch der specielle „Held 
der Weiber“ des Onega^Gebietes, Stawr, dem die listige Frau aus 
der Gewalt des Fürsten Wladimir befreit, ist den Anwofinerimten des 
Ken-Osero vollkommen unbekannt. Dort wurde mir auch mitge* 
theilt, dass die Frau de^ Ortsgeistlichen, des Ierej Jeorgijewski, By- 
Kny kenne. Das setzte mich in nicht geringes Erstaunen weil ich 


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275 


# bisher nicht das geringste Anzeichen vorgefunden hatte, dass Byliny 
ausserhalb der bäuerlichen Sphäre gesungen würden, und mein erster 
Gedanke dabei war, ob die Sängerin nicht aus dieser Sphäre stamme. 
Es erwies sich aber das Gegentheil. Frau Georgijewski — die Tochter 
des früheren Geistlichen am Ken-Osero ist im Vaterhause geboren 
und erzogen und lebt auch als Gattin in demselben Hause. Während 
sie mir gestattete, die Byliny, die ihr Gedäehtniss noch bewahrt 
hatte (früher kannte sie deren mehr, ehe die Wirthschafta- und Er¬ 
ziehungssorgen ihre ganze Müsse in Anspruch genommen hatten), 
ihr nachzuschreiben, erzählte mir die verehrte Frau, dass ily Vater, 
der sich durch ausserste Strenge auszeichnete, seinen Töchtern ver¬ 
boten hätte, Weihnachtslieder, Chor* und dergleichen Gesänge zu 
singen, welche den gewöhnlichen Zeitvertreib junger Mädchen aus¬ 
machen, da er sie für sündhaft hielt; so blieb denn den Töchtern des 
strengen Ierej, um die lange Weile zu vertreiben, nichts weiter übrig 
als die Byliny zu lernen und zu singen, welche sie von einem alten 
Bauern, der jeden Winter bei ihnen im Hause als Schneider arbeitete, 
hörten. 

Eine andere Thatsache ist nicht weniger bemerkenswerth. Ich 
schrieb der Bäuerin Matrena Mehschikowa Byliny nach, unter an¬ 
dern auch die von Ilja von Murom, wie er nach Kijew als Kalika 
kam und die „Lumpen in den Schenkhäusern“ (rojieft xabauainxi») 
mit Branntwein zu bewirthen anfing, schrieb auch die Variante einer 
seltenen und nur am Ken-Osero von mir gehörten Bylina vom 
Schtschelkan Dudentjewitsch nach, als plötzlich die Menschikowa 
sagte, sie kenne noch fein gutes altes Lied und folgende Versa-an¬ 
stimmte: 

„Ebuih lOHBie Obo h jrhByinica Mapa, 

ÄBoe erb rpex-b BMpocräJin, 

Oähok) B04*meft yMMBajmcb“ u. s. w. *). 
d. h. sie sang von Anfang bis zu Ende das ganze lange serbische 
Lied von Iowo und Mara, nach der Uebersetzung von Schtscherbina. 

, Von wem hast du“, fragte ich, „dieses alte Lied erlernt?“—„Von 
unsem alten Leuten habe ich es gehört, der Vater und andere Greise 
sangen es“. Diese Antwort zeigte, dass die Sängerin das-Lied von 
bwo und Mara nicht von andern alten Liedern, die sie von den, 


*) Es waren zwei Kinder, Owo und das Mädchen Mara, 
Beide wuchsen seit ihrem dritten Jahre zusammen auf, 
"Wuschen sich mit demselben Wasser, u, s w. 


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• 2 7 6 _ 

Eltern? gelernt hatte, unterschied. Darauf erfuhr ich au$ dem Ge* • 
spräche mit ihr, dass ihr Mann schriftkundig sei und ihr Sohn, der 
ebenfalls schriftkundig, mehrmals St. Petersburg besucht habe. 
Auf diese Weise war es nicht schwer zu errathen, dass zu ihnen ins 


Haus ein Exemplar von Schtscherbina’s „Biene“ gekommen war und J 

dass der Mann oder der Sohn in Matrena’s Beisein die Uebersetzung ü 

von Iowo und Mara vorgelesen hatte. Merkwürdig bleibt aber die 11 

Thatsache, dass eine der Schrift unkundige Bäuerin vom Ken- E 

Osero sich dieSfes Poem, ungeachtet des dem russischen Ohr fremden '• 

Versmajsses, ferner ungeachtet der unverständlichen Worte, mit b 


denen es angefiillt ist, angeeignet hatte. Ungeachtet alles dessen 

war sie im Stande, das ganze serbische Gedicht eben so fliessend und 

ohne zu stocken, wie jede heimathliche Bylina, zu singen *). Sie 

passte den serbischen Vers unserm epischen SHbenmaasse an, indem * 

sie das choreische Ende desselben dehnte, so dass er das Tempus ^ 

eines Dactylen erhielt, sprach Worte wie „TaMÖypa“, „ropHas BHJia“, 

„poaHMan MaftKa“ u. a. vollkommen richtig aus. Zeigen nicht diese 
Thatsachen, dass dort, am Ken-Osero, die Luft so zu sagen" noch vom 
Geiste der epischen Poesie geschwängert ist, dass diese Poesie dort 
nicht allein, nicht ausstirbt, sondern sogar nach neuen Stoffen sich ‘ 

umsieht? Dasselbe kann auch vom Wodl-Osero gesagt werden, wo 1 

die Byliny erst anfangen, Boden zu gewinnen. Von sieben Personen, ^ 

die man mir dort als Kenner von Byliny nachgewiesen, hatte nur 
Einer sie vom Vater sich angeeignet; alle Uebrigen hatten sie ; 

auswärts erlernt und wenn nicht bei sich zu Hause* so von durch- , 

reisenden Bauern. Besonders chäracteristisch ist folgender Fall. Ein , 

Bauer aus dem Dorfe Tschujala am Wodl-Osero, Namens Matwej j 

Nigoserkin sang in vollem Zusammenhänge die Byliny von Djuk ( 

Stepanotyitsch und von der verunglückten Freie des Alescha Popo- j 

witsch um die Frau des Dobrynja, sang auch den Anfang der By- [ 

lina von den drei Fahrten des Ilja von Murom. Als ich, meiner Ge¬ 
wohnheit nach, anfing, ihn darüber auszufragen, wo er sich die j 

Kenntniss dieser Gesänge ' erworben, erzählte Nigoserkin, dass •. 

er sie sich erst im vorigen Jahr angeeignet (es muss bemerkt I 

werden, da$s er bereitsein Vierziger), «lass er bis dahin nie Byliny j 

gesungen habe und dass im vorigen Herbst bei ihm einmal ein Greis t 


*) Der Verfasser führt in einer Note den Anfang des Liedes nach der Redaction der 
Menscbikowa und nach dem gedruckten Text von Schtscberbina an- ä. Ucb % 


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277 


aus der Gegend von Ken-Osero zür Nacht emgekehrt sei. Dieser 
habe ihm und den damals bei ihm in der Hütte anwesenden Gästen 
die Bylina von Djuk Stepanowitsoh vorgesungen imd sie habe ih* 
dermaassen gefallen, dass er den Alten gebeten, sie ihm ein zweites 
und drittes Mal zu singen. So habe er sie denn „begriffen“. So 
drückte sich Nigoserkin aus. Am andern Tage sei der Alte abge¬ 
zogen, auf dem Rückwege aber wieder zur Nacht bei ihm eingekehrt. 
Da habe er von ihm die Bylina von Dobrynja und Alescha erlernt; 
von der von Ilja von * Murom hätte er aber nur den Anfang 
behalten. 

So eignet man sich am Wodl-Osero die epische Poesie an. Ich. 
weiss nicht, ob die Lust an den Byliny hier nicht vielleicht im Zu¬ 
sammenhänge mit f der Veränderung der hiesigen öconomisdien Ver¬ 
hältnisse steht: früher waren die Bewohner des Sees Ackerbauer, in 
Folge des Eifers der Administration aber, die ihnen verbot, den Wald, 
der sie auf weiten Strecken umgiebt, auszuroden, waren sie dem 
Hungertode preisgegeben, und um dem zu entgehen, fingen sie an, 
Netze von einer gewisseh vervollkommneten Art zu stricken und 
Fische aus dem Wodl-Osero zu fangen. Das Netzstricken aber, wie 
wir oben sahen, ist eine Beschäftigung, welche der Poesie der Byliny 
besonders günstig ist. 4 

Wie dem auch sei, es unterliegt keinem Zweifel, dass am Ken* 
Qsero und Wodl-Osero das Leben unseres nationalen Epos noch in 
vollen Schlägen pulsirt und auch noch lange sich dort erhalten wird, 
wenn in diese Einöde nicht die Industrie und die Schule dringen, 
kn Vergleich mit den beiden genannten Seen sind die Ufer des 
Onega-Sees, der durch eine Wasserstrasse mit St. Petersburg ver¬ 
bunden ist, viel mehr den Einflüssen, die im Volke auf die epische 
Poesie zerstörend einwirken, ausgesetzt. Daher ist es kein Wunder, 
dass sich hier schon Anzeichen ihres Aussterbens bemerken lassen. 
Zu diesen Anzeichen rechne ich auch die schon von Rybnikow 
bemerkte Thats^che von dem Vorhandensein gewisser beliebter 
Byliny bei den Frauen« Die Bewohner des Ken-Osero haben uns den 
Beweis geliefert, dass diese Thatsache keine allgemein verbreitete 
ist. Am Onega werden die bei den Frauen beliebten Byliny von Stawr, 
Iwan Godinowitsch, Tschurila auch von den Männern gesungen, 
dafür aber ist selten eine Frau anzutreffen, die, so zu' sagen, ernstere 
Gesänge kennen würde, wie z. B. von Ilja von Murom, Sadka 
Wolga u. s. w. Mir scheint, dass auch hier derselbe Kreis von Byliny 


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Göogle 



bei Männern und Frauen hn Umlauf war, dass aber m dem Maasse, 
als sich der Geschmack an der epischen Poesie verminderte, die 
Weiber aufhörten. Alles das zu singen, was fiir sie kein besonderes 
Interesse bot, und ihr Gedächtniss daher nur die piquanten Ge¬ 
sänge von Stawr, Tschariluschka, Chotenka Bludow. und ähnliche 
bewahrte. 

(Schluss folgt.) 


Die rassische Staatsbank im Jahre 1871. 


Als im Jahre 1859 der Finanzminister Knjäshewitsch seinen jähr : 
liehen Bericht im Conseil der Staats-Creditinstitutionen erstattete, 
erklärte ör folgender Maassen die mit jenem Jahre angefangenen 
Reformen der russischen Staatsbank-Institutionen: „Die Ursachen 
dieser Reformen bestanden darin, dass von den Bank-Institutionen 
Vorschüsse auf längere Termine gemacht worden waren durch 
Gelder, die als kurzfällige Depositen in die Banken eingelegt waren, 
und die also plötzlich gekündigt werden konnten. In einem solchen 
Falle waren dann die Gassen mit völliger Geldlosigkeit bedroht, 
wenn die Vortheile, welche die Banken den Einlegern gewährten 
geringer sein würden als diejenigen, die ihnen eine anderweitige 
Verwendung der Gelder darbieten könnte. Und in der That trat ein 
solcher Fall kurz darauf ein, als im Juli 1857 die Zinsen für Depo¬ 
siten von 4 pCt. auf 3 pCt. herabgesetzt wurden. Diese Maassregel 
begünstigte ausserordentlich die Ausbildung von Actiengesellschaf- 
ten und wurde die Veranlassung, dass das flüssige Capital sich mehr 
defi Werthpapieren zuwandte. Die Kündigung der Bankdepositen 
nahm nun fortwährend zu. Von % August 1857 an überstieg die 
Summe der ausgezahlten Gelder diejenige der eingezahlten in 22 
Monaten um 143 Millionen Rubel. Der Baarbestand der Banken, 
dqr noch im Juni 1857 über 150 Millionen betrug, sank im Juni 1859 
bis auf 20 Millionen Rubel herab, wobei noch eine fernere Kündi¬ 
gung von 50 Millionen Rubel mehr als wahrscheinlich galt. Der 
ganze Betrag der zurückzuforderndenGelder blieb jedoch dabei noch 
etliche 700 Millionen gross.“ • 


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m 


Die Batik-Reform bestand also dann, sich von den Pjrindpiem iosr 
zusagen, die dem Staate mir Risiko und Unbequemlichkeiten zuzo¬ 
gen, ohne einen entsprechenden Nutzen für die Volks wirthschaft zu 
gewähren. Die .positive Seite der Reform bestand darin, für das 
rassische Bankwesen ehre solche Grundlage zu gewinnen, welche 
sowohl Erfahrung als,Wissenschaft als die einzig mögliche Basis für 
eine normale Entwickelung des Privat-Credits anerkannten. Die 
grosse Bedeutung der neuen Statuten der im Juli i$(x> eröffneten 
russischen Staatsbank lag und liegt also darin, dass dieselben zum 
ersten Male die fundamentalen Principien eines gesunden Bank¬ 
wesens klar anzustreben suchten. Die seit jener Zeit stattgefundene 
Entwickelung des Bankwesens bildet eine höchst folgenreiche Epi¬ 
sode in der voDcswirthschaftlichen Geschichte Russlands während 
der letzten 12 Jahre. Der Staatsbank gebührt dabei das grosse Ver¬ 
dienst, die ersten Bausteine zu demjenigen Netz der Banken gelegt 
zu haben, das seit jener Zeit sich allmählich über das ganze Russin 
sehe Reich verbreitete. Wie enorm die Thätigkeit der Staatsbank 
seit ihrer Gründung bis zum Schluss des vorigen Jahres gewesen, ist 
aus folgenden Daten leicht zu ersehen: 


Jahre 

Total-Umsatz 

Für Rechnung des 
Staats 

Für Privat-Rechnung. 

1860 

1 1816,567,678 

801,536,144 

1.015,031,534 

1861 

3.872,059,972 

1.423,184,148 

2.448,875,824 

1862 

3.131,661,468 

500,599,474 

2.631,061,994 

1863 

3.568,040,980 

490,549.368 

3.077,491,612 

1864 

4.320,264,208 

504,101,916 

3.816,162,292 

1865 

5.407,489,716 

455,225,562 

4.952,264,154 

1866 

7.636,794,772 

317,448,166 

7 - 3 19,346,666 

1867 

8.350.463.052 

359,191,31° 

7.991,27 1 ,742 

1868 

9.100,004,608 

385,208,086 

8.714,796,522 

1869 

10.625,914,298 

268,220,968 

10.357,693,330 

1870 

12.160,632,767’ 

289,954,128 

11.870,678,639' 

1871 

12.970,560,677 

311,208,251 j 

1^-659,352,426 





82.960,454,196 

6.106,427,461 

76.854,026,735 ' 


Die Liquidation der älteren Staatsbank-Institute war für die Staats¬ 
bank eine der wichtigsten Aufgaben, besonders in den ersten Jahren. 
'Daher finden wir in unserer Tabelle, dass im. Jahre 1861 die Umsatz¬ 
ziffer der Operationen, welche die Bank für Rechnung des Staates 


\ 


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ausführte, bis auf 1423 Millionen anwuchs. Von dem Totalumsatze 
entfielen somit 38 pCt. auf che Operationen für Rechnung des Staates, 
und nur 62 pCt. auf die Privatoperationen; dagegen kamen im Jahre 
1871 auf die erstgenannten Operationen nicht einmal a’/gpCt., 
während den letzteren über 97V2 pCt. zufieien. Von 2448 Millionen 
Rubel im Jahre 1861 erhoben sich diese bis auf 12,659 Millionen im 
Jahre 1871. 

Wenden wir uns zur Frage, aus welcher Quelle die Bank die Mittel 
zu ihren Operationen schöpft, so ergiebt sich, dass es die Depositen 
sind, Welche dieselben ausschliesslich bilden, und somit die russische 
Staatsbank als eine der grössten, wenn nicht die älfergrösste, unter 
den Depositenbanken erscheinen lassen. Das Notenemissions-Ge¬ 
schäft wird vorder Bank nur in so fern in den Bereich ihrer Thätig- 
keit hineingezogen, als sie diese für Rechnung des Staates ausübt. 
Am Schlüsse unserer Darstellung werden wir noch Gelegenheit 
haben, Daten über diejenigen Operationen der Staatsbank anzufiihren, 
welche in einer besondern Verbindung mit der Circulation des russi¬ 
schen Papiergeldes stehen. 

Folgende Tabelle stellt den Umfang derjenigen Mittel dar, die der 
Bank aus verschiedenen Arten der Depositen zufliessen: 


Depositen auf be¬ 
stimmte Zeit .... 

Rest am 

I.Januar 1871 

Eingang 

während 

in Millionen 

Ausgang 
des Jahres 
Rubel Silber . 

Rest am 

I. Januar 1872 

38,17 

45 .» 

88,6 

33,*1 

Stets kündbare Depo¬ 
siten . 

77.“ 

41»#* 

. 46,17 

73,** 

Verzinste Girocapi- 

talien. 

56,1s 

696,51t 

698,49 

54,20 

Unverzinste Girocapi- 

talien. 

3 6 »«i 

*5 

OO 

703.5« 

51,1® 

Total .... 

208,87 

1461,04 

1457,0« 

212,84 

Transfertdepositen . 


465,85 

4 6 5 ,ai 

30,62 


X. 


239,52 1926,39 1922,27 242,96 

Ziehen wir von dem Eingang ad 1926 Millionen Rubel diejenigen 
Capitalien ab, die der Bank im Jahre 1871 für Transferte an ver¬ 
schiedene Orte zugingen, so ergiebt sich hiernach als Betrag der aus 
den Depositen und Girocapitalien der Bank zugeflossenen Gelder die 
Summe von 1461 Millionen Rubel. 


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2$t 


In der vorstehenden Tabelle erscheinen alle ultimo 1871 verblie¬ 
benen Reste der Einlagen kleiner, als die ultimo 1870 vorhandenen. 
Diese Erscheinung ist indessen nichts weniger als zufällig, sie er¬ 
klärt sich aus der Concurrenz, die die Staatsbank von den Privat¬ 
banken bei der Heranziehung von verschiedenen Depositengeldern 
sich gefallen lassen muss. 

Den Beweis hierfür liefert uns die folgende Tabelle: 


Depositen 


B e w e £11 n g. I Stand am 31. December* 


<L> , 

. v- 

rC 

ct 

*—> 

Eingang | 

Bank i Filialen | 

_ 

Ausgang j 

Bank | Filialen | 
Millionen A 

Auf bestimmte Zeit. | 
Bank | Filialen 
u b c l Silber. 

Stets fällig 
Bank | Filialen 

1860 

29,98 

4,*8 

2,17 

0,04 

8,77 

— 

19,0* 

4,17 

1861 

66,52 

39,75 

l8,72 

6,61 

25,94 

12,67 

49,66 

24,64 

1862 

43,n 

28,90 

20,74 

1 2,6 3 

32,99 

20,40 

65,57 

32,27 

1863 

27.75 

20,77 

26,23 

I 5,60 

34,90 

23,83 

65,18 

34,07 

1864 

43,i« 

35,«1 

"46,30 

27,76 

34,44 

25,54 ' 

62,51 

38,15 

1865 

19,71 

25,0* 

27,50 

21,64 

33,ö4 

27,50 

56,12 

39,77 

1866 

22,16 

30,10 

34,62 

26,80 

28,57 

28,94 

48,12 

41,39 

1867 

IS,B6 

28,98 

33,14 

28,48 

20, r, 2 

27,94 

38,80 

42,84 

1868 

I 1,69 

32,28 

*20,12 

29,34 

18,U 

26,53 

32,85 

47,19 

1869 

12,23 

i 35,8i 

15,73 

36,9« 

l6,25 

2 5,08 

I 31,25. 

48,13 

1870 

14,78 

34,2« j 

19,04 

35,1? 

13,65 

24,51 

29,59 

47,84 

1871 

12,16 

34,3i 

I7,n 

j 37,92 

11,70 

22,11 

1 20,60 

1 

46,63 

1 


Wie aus vorstehenden Zahlen .zu ersehen ist, verminderten sich 
die, besonders der St. Petersburger Bank zufliessenden, Gelder 
schon im Jahre 1864, da seit diesem Jahre die Summe der ausgehen¬ 
den Gelder stets die der cingegangenen übersteigt, während die Bank 
in den ersten 1 1 /2 Jahren (1860/61) ihrer Thätigkcit beinahe 140V2 
Millionen Rubel an sich zog, ohne mehr als 27 ! / a Millionen veraus¬ 
gaben zu müssen, und also in dieser Zeit somit baar an 113 Millionen 
Rubel disponibel behielt. Wenn die Bank am Schlüsse des vorigen 
Jahres (1871) noch einen aus den verschiedenen Depositen stammen¬ 
den Rest disponiblen Capitals von 107 Millionen Rubel besass, so 
war es nur dem Umstande zu verdanken, dass die Privatconcurrenz 
in der Provinz die Thätigkeit der Bank-Filialen weit weniger hemmte, 
als in St. Petersburg selbst. Erst seit dem Jahre 186g gewann auch 
bei den Filialen der Ausgang der Depositen-Gelder üb£r deren Ein¬ 
gang die Oberhand. 

f 9 


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Go • * 







28a 


Was die Bewegung der verzinslichen Girocapitalien anbetrifft, so 
drückt sie sich in fortwährend steigenden Zahlen aus bis zum Jahre 
1869. Belief sich im Jahre ,1865 die Zahl derselben noch auf 256 
Millionen, so erhob sich die Zahl der eingegangenen Girocapitalien 
im Jahre 1866 bis auf 354 Millionen, im Jahre 1867 bis auf 400 
Millionen, im Jahre 1868 bis auf 600 Millionen, um endlich im 
Jahre 1869 ihren Culminationspunkt in der Zahl von 825 2 /» Millionen 
zu gewinnen. In den Jahren 1870 und 71 fing die Zahl der ein¬ 
gegangenen verzinslichen Girocapitalien allmählich an abzunehmeli; im 
Jahre 1870 sank sie bis auf 756 Millionen, um im Jahre 1871 den 
niedrigem Stand von 696 Millionen zu erreichen. Begreiflicher „ 
Weise wird die sich hier manifestirende Wirkung d$x ConcujTenz 
auch in dem Ausgange der Girocapitalien zum Vorschein kommen. 
Und wirklich zeigen die Daten, dass schon im Jahre 1870 dem Ein¬ 
gänge dieser Gelder im Betrage von 756 Millionen ein Äusgang,von 
778 Millionen Rubel entgegenstand. — Ebenso steht im Jahre 1871 
dem Eingänge von 696 Millionen ein Ausgang von 698 Millionen 
Rubel gegenüber. 

Das Portefeuille der von der Bank discontirten Wechsel zeigt am 
Anfänge des Jahres 1871 in St. Petersburg den Betrag von 4,369,000 
Rubel und bei den Filialen die Summe von 50,119,000 Rubel, zu¬ 
sammen also 54,488,000 Rubel. Im Laufe des Jahres discontirte die 
Bank in St Petersburg Wechsel für den Betrag von 17,636,000 
Rubel und durch die Filialen für den Betrag von 106,182,000 Rubel. 
Am Schluss des Jahres betrug der Bestand der discontirten Wechsel 
bei der St. Petersburger Bank 3,560,000 und bei den Filialen 
26,256,000 Rubel. Der mittlere Betrageines von der Bank und ihren 
Filialen discontirten* Wechsels belief sich im Jahre 1871 auf-1761 
Rubel, im Jahre 1870 auf 2333 Rubel. Diese Zahlen deuten darauf 
hin, dass die russische Staatsbank vorzugsweise mit der Gross¬ 
industrie und dem Grosshandel zu thun hat. 

Die Vorschüsse auf Waaren haben bei der # Staatsbank einen bei 
Weitem kleineren Umfang; sie beliefen sich im Jahre 1871 auf 
3,000,000 Rubel. Wichtiger erscheinen die Vorschüsse auf Werth¬ 
papiere . Beim Beginn des Jahres 1871 betrugen die Vorschüsse der . 
Bank auf Staatspapiere 24,825,000 Rubel. Im Laufe des Jahres wur¬ 
den neue 51,697,000 Rubel vorgesqhpssen. Zum Ultimo des Jahres 
blieb der Betrag der auf Staatspapierc vorgeschossenen Gelder 
17,932,000 Rubel gleich. Der Vorschuss auf Werthpapiere von 
Actien-Gesellschaften belief sich im Anfänge des Jahres 1871 bis auf 

# 

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283 


8,084,000 Rubel. Nachdem im Laufe des Jahres nicht über 
18,774^000 neu vorgeschossen waren, endigte das Jahr mit 
10,549,000 Rbl. 

Ausser den artgeführten Summen müssen wir noch den Betrag 
von 98,227,000 Rubel erwähnen, für welchen Conti*Current-Credite 
verschiedenen Personen und Actien-Gesellschaften von der Bank 
eröffnet wurden. Somit belief sich der Betrag aller von der Bank 
und ihren Filialen in Credit verausgabten Gelder auf 295,433,000 
Rubel. 

Eine der wichtigsten Operationen der russischen Staatsbank 
machen die Transfert-Operationen aus. Die Summe der in die Bank 
und ihre Filialen im Jahre 1871 für diesen Zweck eingezahlten Gelder 
belief sich auf 465,347,000 Rubel. Von dieser Summe kommen 
auf telegraphische Bank-Anweisungen 204,997,000 Rubel, d. h. bei¬ 
nahe 45 pCt. Im Jahre 1865 belief sich der Betrag der für Trans- 
ferte der Bank zugeflossenen Gelder nur auf 80 2 /s Millionen, während 
er im Jahre 1862 nicht einmal 20 Millionen erreichte. Diese Zahlen 
zeigen deutlich, welchen bedeutenden Aufschwung diese Operation 
bei der russischen Staatsbank in den letzten Jahren gewonnen hat. 

Schliesslich theilen wir noch die von der Bank in ihrem letzten 
Berichte zum ersten Male veröffentlichten Daten über diejenigen 
Operationen mit, vermittelst welcher die Bank eine Herstellung 
der Valuta herbeizuführen beabsichtigt: 


Von der Bank ange¬ 
kauftes Gold 


t n 

tausenden Rubel . 


1867 

vom 

1. Aug. 

\ 

1868 

j -1869 

| 1870 

1871 

Total. 

In Barrren. 

• 37 

4,214 

1 


1 

4,25» 

in russischer Münze 

5,451 

23,882 

9,290 

3,256 

16,908 

58,787 

in französis. „ 

13,2981 

26,718 

3,567 

2,443 

11,864 

57,891 

in anderer „ 

239 

86 

4 

1 

— 

330 

Zusammen . . . 
Silber 

19,026 

54 , 90 » 

12,861 

i 

5,670 

28,772 

121,269 

in Barren. 

3,361 

3,705 

— . 1 

1 — 

— 

7,066 

in russischer Münze 

89 

592 

UI ! 

9 

8 

809 

in anderer „ 

3 

■ 23 

2 

— 

! — 

28 

Zusammen . . . 

3,4531 

4,320 

M 3 

9 


7,903 


H. K. 


\ 

r * 9 * 


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Die dritte Ausstellung russischer Pferde in Moskau. 

September 1872. 


Die diesjährige Ausstellung wurde am iö. September eröffnet Die 
Bedingungen für die Zulassung zu derselben waren folgende: i) Es 
konnten nur russische Pferde ausgestellt werden. 2) Die Ausstellung 
umfasste drei Abtheilungen: a. Reitpferde, darunter besonders 
Vollblutpferde, schwere und leichte Reitpferde, b. Wagenpferde, 
darunter besonders: Traber, schwere Wagenpferde und Pferde für 
leichten Anspann und c. Arbeitspferde, darunter besonders: Last¬ 
pferde. Die trächtigen Zucht-Stuten, sowie die mit Saugfiillen, waren 
in allen Abtheilungen zur Preisbewegung zugelassen. 3) Diejenigen ' 
local-typischen Racen russischer Pferde, als: Karabachsche, Karba- 
dinskysche, Donsche, Klepper, Finnische, Schmudische, Baschkirische 
oder Kirgisische, Obwinsche, Kasansche, Sibirische und Mesensche 
Pferde, welche in den obengenannten drei Abtheilungen nicht unter¬ 
gebracht wurden, bildeten eine besondere Gruppe. 4) Da in Bezug 
auf Schnelligkeit, Feuer und Kraft für Pferde, Traber und Last¬ 
pferde besondere Preise ausgesetzt waren, so wurden auf der allge¬ 
meinen Ausstellung nur Reit-, Wagen- und Arbeits-Pferde in Hinsicht 
auf den besten Wuchs prämiirt. Die zugelassenen Hengste und 
Stuten durften nicht jünger als vier und nicht älter als acht Jahre sein. 
5) Das niedrigste Maass für Reitpferde betrug 2 Arschin 2 Werschok, 
für Wagenpferde 2 Arschin 3 Werschok und für Arbeitspferde 1 Ar¬ 
schin 14 Werschok. 6) Alle Pferde mussten Attestate über ihre Ab¬ 
stammung beibringen. 7) Diejenigen Pferde, welche auf der Aus¬ 
stellung von 1869 Geldprämien erhalten hatten, wurden zum Concurs 
auf neue Prämien nicht zugelassen; diejenigen, welche 2te oder 3te 
Prämien, Medaillen oder Belobigungen davon getragen hatten, wur¬ 
den zur Preisbewerbung aufs Neue zugelassen. Pferde, welche keine 
Geldprämien erhielten, konnten mit Medaillen und Belobigungen prä¬ 
miirt werden. 

Im Ganzen waren ausgestellt 224 Pferde und zwar: 1) Abthlg.: 
Reitpferde: a) Vollbluthengste 14, Voflblutstuten 3; b) schwere Reit¬ 
pferde: Hengste 13, Stuten 4; c) leichte Reitpferde: Hengste 23, 
Stuten 7. 2) Abthlg.: Wagenpferde^ a) Traber: Hengste 80, Stuten 


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285 


22 ;.b) schwere Wagenpferde: Hengste 11; c) Pferde für den leichten 
Anspann: Hengste 3, Stuten 2. 3) Abthlg.: Arbeitspferde: a) Last¬ 
pferde: Hengste 8, Stuten 12; b) locale (typische) Racenpferde 5. 

Der Zahl nach hatten ausgestellt: S. K. H. der Grossfürst Nikolai 
Nikolajewitsch der Aeltere (Gestüte im Gouvernement Woronesh) 17, 
Fürst Sanguschko' (Gouvernem. Wolhynien) 8, Offrossimow (Gouv. 
Orel) 8, Petrowski 7, Kusnezow (Gouvernem. Charkow) 6, Masaraki 
(Gouvernem. Poltawa) 5, Stankewitsch (Gouvernem. Woronesh) 5, 
Molostwow (Gouvernem. Kasan) 5, Fürst Chilkow (Gouvernem. Tula) 
4, Neronow (Gouvernem. Twer) 4, Kolessow (Gouvernem. Moskau) 4, 
Lehmann 4; 16 Exponenten hatten je 3, 32 Exponenten je 2 und 35 
Exponenten je 1 Pferd ausgestellt. Im Ganzen waren 95 Aussteller 
vertreten. 

Es wurden 45 Geldprämien von 700 bis 100 Rubel vertheilt, ferner 
8 goldene Medaillen für die Züchter solcher Pferde, welche erste 
Prämien erhalten hatten, dann 69 Broncemedaillen und 31 Belobi¬ 
gungen. 

Im Ganzen wurden 154 Pferde^ prämiirt; es ist diese Zahl ein 
Beweis für die Güte der ausgestellten Pferde. 

Der Reihenfolge der Abtheilungen nach gehörten die besten der 
ausgestellten Pferde folgenden Züchtern an: A. A. Mossolow, Fürst 
Sanguschko, S. K. H. Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch, Stanke- 
witsch, Masaraki, Kolubakin, Ochotnikow, Neronow, Pa\ylow, Koro- 
bynin, Masurin und Tulinow; dann die Pferde der moskowischen 
Kaufleute und endlich, der Bauern aus den Gouvernements Tambow, 
Woronesh, Kasan, Tula und besonders derjenigen aus Shukawka. 

Wir entnehmen diese Nachrichten einem Circular Sr. Exc. des 
Oberdirigirenden der Hauptverwaltung der Reichsgestüte, General- 
Adjutant von Grünwaldt, und lassen denselben noch einen Auszug aus 
der Einleitung zu jenem Circular folgen, in welcher sich General-Adju¬ 
tant von Grünwaldt über die Ausstellung im Allgemeinen ausspricht: 

„Die dritte allgemeine Ausstellung russischer Pferde hat gezeigt, 
dass die Pferdezucht in Russland bedeutende Fortschritte gemacht 
hat; der beste Beweis dafür liegt in der Thatsache, dass diejenigen 
Pferde, welche im Jahre 1869 ausgestellt und jetzt im Jahre 1872 
zum zweiten Male vorgeflihrt waren, im Vergleich mit den neuer¬ 
schienenen Pferden nicht mehr so günstig wie früher beurtheilt 
wurden. 

Den bedeutendsten Fortschritt zeigte die Abtheilung der Arbeits¬ 
pferde, welche besonders stark von moskowischen Züchtern beschickt 


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286 


war, obgleich auch sehr entfernte Gegenden Arbeitspferde aus¬ 
gestellt hatten, die vollständig allen Anforderungen entsprachen. 
Es muss aber hierbei hervorgehoben werden, dass sich als die besten 
Pferde diejenigen erwiesen, welche von Hengsten aus den Reichsge¬ 
stüten abstamrfiten und die sich besonders durch ihr Blut auszeich- 9 
neten; und wenn man auch den Bauern desDorfesShukawka (Gouver¬ 
nement Tambow), die bei ihrer Pferdezucht nicht die Hengste aus den 
Reichsgestüten verwenden, alles verdiente Lob gern zugesteht, so muss 
man doch sagen, dass ihre Pferde, so vortheilhaft sie auch auf den gou- 
vcrnementalen Ausstellungen hervortraten, doch in Moskau die Con- 
currenz mit den Pferden edlerer Race nicht aushalten konnten. Die 
Zuchtstuten in der Section der Arbeitspferde waren sehr bemerkens- 
werth und nach den Ankäufen zu urtheilen, die von unseren intel¬ 
ligenten Züchtern gemacht wurden, scheinen diese Letzteren ihre be¬ 
sondere Aufmerksamkeit gerade dieser Gattung Pferde zuzuwenden, 
und sie haben vollkommen Recht, in der Veredlung der Race den 
bessern Erfolg zu suchen. Ueberdies bewahren die groben Bauern¬ 
pferde ihre Breite, ihre Festigkeit, ifire starken Knochen in ihren kur¬ 
zen Beinen—Eigenschaften,[die sie zu aller Art Zucht geeignet machen. 
Es ist augenscheinlich, dass die Gouvernements-Ausstellungen über¬ 
haupt vortreffliche Resultate geliefert haben und von unbestreitbarem 
Nutzen gewesen sind. 

In den zwanziger Jahren machte sich bei uns das Bedürfniss 
nach besseren Reit- und Luxuspferden geltend; die Garde- 
Officicre zahlten die höchsten Preise, wenn sie nur gute Pferde 
erhalten konnten. Im Vergleich mit den Ausstellungen von 
1866 und 1869 hat die diesjährige Ausstellüng auch hier einen 
bedeutenden Fortschritt gezeigt, sowohl in der Quantität als 
in der Qualität der ausgestellten Reitpferde. Die Ansprüche ha¬ 
ben sich in den letzten Jahren geändert, man verlangt Pferde von 
breiter Gangart, mit einem starken Rücken, starken Beinen, muthige 
und kräftige Pferde, die im Stande sind, alle möglichen Hindernisse 
zu überspringen; ein kleiner Kopf, ein schön getragener Schweif 
haben, wenn auch angenehm für’s Auge, doch ihren Werth ver¬ 
loren. Wenn unsere Pferdezüchter nach dem Beispiele des Fürsten 
Sangusckko ihre Pferde als Reitpferde ausstellen könnten, so würde 
das für sie nicht bloss direct, sondern indirect auch beim Verkauf von 
grossem Nutzen sein. Es ist nicht zu verkennen, dass die Lösung 
dieser Aufgabe viele Schwierigkeiten darbietet, sie ist aber zur Zeit *• 
eine Nothwendigkeit geworden. In allen Ländern Europas'geht man 


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287 


von der Ansicht aus, dass die ausgestellten Pferde als Reitpferde zu 
beurtheilen sind. 

Die grossen Reitpferde, die zugleich auch Luxuspferde sind, wer¬ 
den ausserordentlich stark gesucht, um so mehr, als sie sich mehr 
zum allgemeinen Gebrauch eignen, wie die kleinen Pferde. 

Leider waren in der Abtheilung der Reitpferde, sowie in der der 
grossen und kleinen Wagenpferde die Stuten nur wenig vertreten; 
auch die Zahl der Vollblutpferde war nicht gross. Die Herren Mosso- 
low und Fürst Sanguschko haben auch diesmal als Aussteller ihren 
alteh Ruf aufs Neue bewährt. Das Uebergewicht der Race hat be¬ 
sonders die Aufmerksamkeit unserer Züchter auf sich gezogen. 
Unsere Vollblutpferde haben sehr in ihrem Aeusseren gewonnen und 
entsprechen damit mehr den Forderungen, welche der Reiter an sie 
stellt. Die hübschen Araber, die leider nicht gross von Wuchs 
waren, und die Halbblutaraber erster Kreuzung bieten für die An¬ 
forderungen unserer Zeit hinsichtlich der Züchtung nicht genügende 
Garantie. Auch die in diesem Jahre veranstalteten Rennen um die 
von der Kaiserlichen Familie gestellten Preise haben zur Genüge die 
Eigenschaften und den Werth der Halbblutpferde dargelegt. Alle 
von Sr. Majestät dem Kaiser für die Rennen mit Hindernissen zu 
Krassnoje und Zarskoje ausgesetzten Preise wurden durch 6 Pferde 
gewannen, die von dem Vollbluthengst Valeria abstammen, (der sei¬ 
nerseits von Van-Tromp und Philippa abstammt), welcher drei Jahre 
lang im Gestüte zuTambow verwandt wurde und sich nun augenblick¬ 
lich in dem von Janow befindet. 

Unter den Trabern übertrafen auf der Ausstellung die Zuchtstuten 
sogar noch die Hengste dieser Race. Unter den Stuten herrschte die 
graue Farbe vor und die kleine Zahl grauer Hengste war ausgezeichnet. 

Die Traber sind im Allgemeinen sehniger geworden und ausser 
anderen anerkennenswerthen Eigenschaften ist das Hintertheil bei 
ihnen vortrefflich entwickelt. Aber unsere Traber werden erst dann 
ihren wahren Werth erreichen, wenn man sie nicht durch vorzeitiges 
Einfahren ermüdet und sie sich mehr allmählich entwickeln lässt. 
Man würde dann bei ihnen jm vorgerückten Altereine grössere Schnel¬ 
ligkeit erzielen, was ja in Amerika positiv nachgewiesen ist und zu 
erreichen für uns sehr wichtig wäre. 

Die Reichsgestüte haben keine Pferde zur Ausstellung gesandt, 
denn ein grosser Theil der Züchter hat die Reichsgestüte besucht und 
. kennt sie Hinreichend. Die Billigkeit verlangt es aber zu erwäh¬ 
nen, dass diese Reichsgestüte den in den Privatgestüten gezüchteten 


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288 


Pferden niemals Concurrcnz machen weder auf den Ausstellungen,, 
noch bei den.Renncn, noch beim Verkauf, und dass sie den Interessen 
der Züchter nirgendwo zu nahe getreten sind. Ebenso muss noch be¬ 
merkt werden, dass eine grosse Anzahl der ausgestellten Pferde in 
directer oder indirecter Linie von Zuchthengsten depReichsgestütc 
abstammt. Die Hauptaufgabe der letzteren besteht in der Auf¬ 
besserung des Gestütswesens im Allgemeinen. Die Verwaltung för¬ 
dert diese Aufbesserung und die Vermehrung der verschiedenen 
Species durch Racenpferde, indem sie den Privat-Züchtern ihre ge¬ 
züchteten Pferde überlässt. Wenn man diejenigen Preise, zu wel¬ 
chen den Züchtern Pferde aus den Reichsgestüten überlassen wer¬ 
den, mit denjenigen vergleicht, welche gewöhnlich von Privatpersonen 
bezahlt werden, so wird man finden, wie sehr die russische Regierung 
die Pferdezucht unterstützt. Wenn man hoffen könnte, dass die 
regelrecht organisirten und mit Erfolg geführten Privatgestüte immer 
in denselben Händen bleiben, dass die eingefuhrten Systeme keine Ver¬ 
änderung erleiden und die Zuchthengste nicht verkauft würden; wenn der 
Erbe eines Gestüts nicht mehr dem Beispiel seines Vorgängers zu folgen 
gewillt ist: dann könnte natürlich die Pferdezucht auch ohne Hülfe 
der Reichsgestüte auf dem Wege des Fortschritts gut gedeihen. 
Vorläufig aber wird diese Unterstützung noch nicht zu entbehren 
sein und wenn die Hauptverwaltung der Reichsgestüte auch weit d& von 
entfernt ist, für unfehlbar gelten zu wollen, so berechtigen doch 
einerseits die Nachfragen nach zeitweiser Ueberlassung von Zucht¬ 
hengsten und andererseits die grosse Anzahl der den Reichsgestüten 
zum Belegen zugeführten Stuten zu dem Schlüsse, dass die von der 
Hauptverwaltung der Reichsgestüte ergriffenen Maassregeln nicht 
ohne Erfolg gewesen sind. 

Se. Majestät der Kaiser verwendet ausschliesslich nur russische 
Pferde zu seinem Gebrauche, sowohl zum Reiten als zum Fahren, 
und während zehn Jahren sind, einige wenige Ausnahmen abge¬ 
rechnet, für den Kaiserlichen Hof keine Pferde aus dem Auslande 
bezogen worden. Das ist-wohl der beste Beweis für den befriedi¬ 
genden Zustand der Pferdezucht in Russland. 

Es ist wohl wünschenswerth, dass die Gestütbcsitzer anständige 
Preise für die von ihnen gezüchteten guten Pferde erhalten, aber es 
scheint die Vermuthung begründet, dass die Abwesenheit auslän¬ 
discher Käufer wesentlich dem Umstande zuzuschreiben ist, dass 
man so unverhältnissmäsig hohe Preise verlangt, und umsomehr, als 
die Ausländer ja nicht gegen die graue Farbe eingenommen sind, die 


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289 


4r 

bei uns noch so vielfach gezüchtet wird, obgleich auch dieses- 
mal wieder die Meinung gerechtfertigt ist, dass in der grauen 
Farbe noch am meisten die Eigenschaften der alt-arabischen Vor¬ 
fahren vereinigt sind, welchen nicht bloss Russland, sondern auch die 
anderen Länder Europa’s die Besserung ihrer Pferde-Racen ver* 
danken. “ 


Kleine Mittheilungen. 


(Russland in Centralasien. ‘Widerlegung der Pall- 
Mall-Gazette.) Der „Regierungs-Anzeiger*“ bringt in No. 237 
folgende Mittheilung: „Die englische „Pall-Mall-Gazcttc“ vom 18. 
September theilt ihren Lesern die in unseren Zeitungen -veröffent¬ 
lichte Nachricht über den zwischen Russland und dem Herrscher von 
Kaschgar abgeschlossenen Handelsvertrag mit und fügt ihrerseits 
einige gänzlich unrichtige Mittheilungen hinzu. 

■ Nach den Worten der genannten Zeitung wäre ein Artikel dieses 
Vertrages, der sich auf den freien Durchzug nicht bloss russischer 
Kaufleute und Karawanen, sondern auch russischer Truppen bezieht, 
anfangs von Jakub-Bek zurückgewiesen worden, welcher Letztere den 
Vertrag nur unter dem Einfluss von Drohungen unterzeichnet habe, 
nachdem russische Truppen ah die Grenze vorgerückt seien. 

Diese Nachricht ist falsch. 

Die Verhandlungen des Turkestanschen General-Gouverneurs mit 
Jakub-Bek hatten einen ganz freundschaftlichen und friedlichen Cha- 
racter. Ihr einziges Ziel war die Herstellung guter nachbarlicher 
Beziehungen und eines regelmässigen Handelsverkehrs. Das bestä¬ 
tigt die „Pall-Mall-Gazette“ selbst, indem sie sagt, der Turkestanschc 
General-Gouverneur habe dem Abgesandten Jakub-Bek’s formell er¬ 
klärt, „dass Russland keine Eroberungen suche, dass es aber be¬ 
müht sei, in Centralasien bürgerliche Ordnung und Freiheit einzu¬ 
führen/' 

Ist aber eine solche, mit den Ansichten der Kaiserlichen Regierung 
vollkommen übereinstimmende Erklärung wohl vereinbar mit der' 
P'orderung des Durchzugs von Truppen oder mit der Drohung der 
Gewalt der Wafien? 

Was nun die Versicherung betrifft, die Jakub-Bek an den Baron 
Kaulbars gegeben hat: „dass er die Freundschaft des Grossen Zaren 
der Freundschaft Englands vorziehe und dass er alle Vorschläge der 
indischen Regierung zurückgewiesen habe,“ so ist das einer jener 
asiatischen Kniffe, denen Niemand eine ernste Bedeutung beilegt. 


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290 

Jakub-Bck wird keine Bedenken tragen, sich mit gleichen Versiche¬ 
rungen auch an die englischen Agenten zu wenden, mit denen er 
Verhandlungen zu führen hat. 

Eine Achtung gegenseitiger internationaler Verpflichtungen hat in 
den Sitten der Asiaten noch keine Wurzel gefasst. Eine Aenderung 
kann man in dieser Hinsicht nur von der Zeit erwarten, mehr aber 
noch von dem wohlthätigen Beispiel zweier grossen Mächte, die den 
gemeinsamen Beruf haben, die Civilisation in Central-Asien zu ver¬ 
breiten. 

So lange England und Russland, jedes in seiner Sphäre, im Ein¬ 
verständnis mit einander handeln und die frühere, jetzt jeder Bedeu¬ 
tung entbehrende Nebenbuhlerschaft bei Seite setzen, werden keine 
Ränke asiatischer Politik im Stande sein, dieses Einverständnis zu 
stören. Eine Verbindung Englands mit Russland, welche dahin ge¬ 
richtet ist, in jenen Ländern eine bessere Ordnung der Dinge her¬ 
beizuführen, wird unzweifelhaft der Menschheit, wie den beiden 
Staaten, zwischen welchen nur ein Wetteifer in der Ausbreitung 
der Civilisation und des Handels bestehen kann, Nutzen bringen.“ 


(Zur Statistik der periodischen Presse in Russland.) 
Nach dem von derOber-Pressverwaltung herausgegebenen,,Anzeiger 
für Pressangelegenheiten“ erscheinen zur Zeit in Russland und Polen 
mit Ausschluss von Finnland 377 periodische Schriften (Zeitungen, 
Wochen-, Monats- und Vierteljahrsschriften etc.); davon kommen 
auf St. Petersburg 109, auf Moskau 30, die übrigen vertheilen sich 
auf verschiedene Städte des Reichs. In russischer Sprache erscheinen 
286; in polnischer Sprache 41; in französischer Sprache 6; in deut¬ 
scher Sprache 30; in lettischer Sprache 4; in estnischer Sprache 5; 
in finnischer Sprache 2; in hebräischer Sprache 3. Von französischen 
Zeitschriften erscheinen 4 in St. Petersburg, 1 in Moskau und 1 m 
Odessa; zwei derselben: „Horae societatis entomologicae Rossiae“ 
und die ,,Memoires de facademie de St. Petersbourg“ geben ihre 
Mittheilungen theils in französischer, theilsin deutscherSprache. Von 
den in deutscher Sprache publicirten Zeitschriften kommen auf: 
St. Petersburg 7, Moskau 1, Riga 11, Odessa 2, Dorpat 6, Reval 1, 
Libau 1, Narva 1, Pernau 1. 


(Eisenbahnen). Ueber die Entwickelung des russischen Eisen¬ 
bahnnetzes finden wir in der von L. Perl herausgegebenen Schrift: 
,,Die russischen Eisenbahnen im Jahre 1870/71“ *) folgende Daten: 
Die erste Eisenbahn, welche in Russland gebaut wurde, war die von 
St. Petersburg nach Zarskoje-Sselo, welche im Jahre 1838 eröffnet 

*) „Die russischen Eisenbahnen im Jahre 1870 71.. Von L. Perl. Oberbeamter der 
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft. Mit einer Uebersichtskarte der russischen 
Eisenbahnen St, Petersburg 1872.“ 


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291 


wurde und eine Länge von 25 Werst hat (7 Werst— 1 deutsche Meile). 
Ende 1870 betrug die Länge des ganzen russischen Eisenbahn¬ 
netzes 10,531,4 Werst, (von denen 1093 Werst auf Staatsbahnen, 
und 9438,4 auf Privatbahnen kommen). Davon entfallen auf die erste 
zehnjährige Periode (1838 — 1847) 343 Werst, auf die zweite 
(1848 — 1857) 749 Werst, auf die dritte (1858—1867) 3698 Werst 
und auf die Jahre 1868/70—5736,3 Werst. Die drei letzten Jahre über¬ 
steigen hiernach mit beinahe 1000 Werst den Bestand sämmtlicher 
Vorjahre; in den zehn Jahren von 1861/70 wurden gebaut 9040,7 
Werst, während die Jahre (1838 — 1860) 1490,7 Werst aufweisen. 


' (Di© Ein- und Ausfuhr des Russischen Reiches) vom 
1. Januar bis 31. Juli der Jahre 1871 und 1872 ist nach der vom 
„Anzeiger des Finanzministeriums“ gegebenen vergleichenden Darstel¬ 
lung folgende: 


Eimfahr: 

Rohzucker, Pud .. 

Raffinade, Candiszucker in Broden und in 

Stücken etc. ... . 

Thee (von Canton). 

Caffee .•. 

Oel. . . .. 

Wein.. 

Wein in Flaschen .. 

Champagner in Flaschen.* . 

Salz, Pud. 

Tabak in Blättern. 

Rolltabak und Cigarren. 

Baumwolle, rohe... 

Baumwollengarn. 

Farbholz. 

Indigo. 

Oele, flüchtige, zur Beleuchtung .. 

Gusseisen, unbearbeitet.. . 

Eisen: in Barren, geformtes und altes Eisen 
Eisenblech für Kessel u. Blendwerke, Eisefl- 

blechtafeln. 

Eisen zu Eisenbahnschienen . .. 

Blei ... 

Wolle, rohe.. . ... 

do. ungesponnene ............. 

do. künstliche .. 

do. und Haargespinnste . .. 

Seide.. 

Soda. 

Steinkohlen.. 

Locomotiven, Locomobilen, Maschinenteile 
u. Maschinen-Zubehör... 


1871 

1872 

792 

399,203 

8 

3,089 

•369,467 

444 , 3 H 

294,828 

, 242,843 

768,484 

852,321 

589,021 

636,176 

154,287 

208,093 

603,096 

694,421 

7,334,282 

7 , 353 , 7°6 

97,280 

118,305 

2,019 

2,296 

3,030,380 

2,249,166 

162,241 

178,058 

282,878 

358,758 

46,729 

45,957 

559,213 

638,557 

1,458,428 

904,653 

2,661,946 

1,897,086 

668,368 

751,704 

4 , 071,356 

2,043,767 

334,540 

429,145 

81,354 

96,041 

2,104 

4,494 

24,236 

16,286 

141,602 

99,032 

8,730 

• 10,240 

560,939 

520,456 

37,586,404 

36,030,706 

938,216 

1,220, 103 


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292 


Baumwollgewebe 57,945 

Wollgewebc. 75,527 

Seidengewebe . . . .. 5,312 

Leinengewebe. 1,629,189 

Ausfuhr: 1871 

Weizen, Tschetwert . .. 5,784,842 

Roggen. 2,477,743 

Gerste. 982,647 

Mais.' 343,225 

Erbsen. 100,211 

Hafer. 3>923>743 

Mehl .. t . 196,632 

Andere Feldfrüchte . .. 152,182 


Gesammtsumme der Fcldfrüchte .... 13,961,225 


Leinen- und Hanfsamen .. LQ95 $77 

Leinen- und Hanföl. 1,465 

Butter. 74,904 

Sp iritus und Branntwein. 404,799 

Honig und Zuckersyrup. 6,624 

Tabak . T. 44,651 

Hornvieh. 25,7s 1 

Hammeln und Schafe. 246,565 

Pferde. 7,233 

Talg. 149*631 

Flachs.;. 5*570,726 

Flachswerg. •...■• . 485,6153 

Hanf. 1,734,425 

Hanfwerg... 47,603 

Flachs-und Hanfleinwand.- 128,193 

Leder, ungegerbtes. 104,162 

60. gegerbtes und Juchtenleder. 12,321 

Knochen. 356,116 

Wolle, rohe. 399,499 

Schweineborsten . . . . t. 57,414 

Pferdehaare. 11,814 

Pottasche .. 98,541 

Ei§en. 166,414 

Kupfer. 70 

Lumpen. 421,308 

Seile, Taue. 110,052 

Brabant und Scgclleinwand. 6,654 

do. in Stücken. 4,388,390 

Grobe Leinwand. 4,484 

Gewebe.. 5 5,915 

Holz, Rubel. 6,974,429 

Pclzwaareri, Pud .. 24,638 


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70,37° 

80,076 

7>5°9 

1,496,052 

1872 

5,170,876 

1,685,127 

502,456 

269,406 

38,035 

54o,i39 

563-113 

106,356 


8,875,508 

887,243 

8,338 

27,986 

249,382 

14 

106,278 

29-453 

343,56o 

8,564 

184,017 

3-875-386 

5°4,394 

2,363,928 

56,384 

326,945 

158,004 
20,983 
• 500,850 

633,857 

55,5i5 

20,202 

53,352 

80,306 

39,870 

413,630 

161,936 

6,013 

1,851,096 

9,854 

206,395 

12,998,421 

58,159 














































*93 


(Die Thätigkeit der St. Petersburger Naturforscher- 
Gesellschaft.) Als Quelle für die nachfolgenden Mittheilungen be¬ 
nutzen wir die in den Jahren 1870 — 71 erschienenen zwei Bände der 
Arbeiten genannter Gesellschaft (Tpyjzbi C.-IIeTepöyprcKaro 06 - 
mecTBa EcTecTBOHcnnTaTe;iett, hecausgegeben vom Professor A. 
Beketoiv , Conseilsmitgliede der Gesellschaft), welche ihre erste all¬ 
gemeine Sitzung am 28. December 1868 — dem Tage der Eröffnung 
des ersten Congresses russischer Naturforscher —» hatte. Am 2. Fe¬ 
bruar 1870 wurde der erste Jahresbericht verlesen. \ Die Gesellschaft 
zerfällt in drei Scctionen: für Zoologie, für Botanik und für Mine¬ 
ralogie und Geologie. Im ersten Jahre ihres Bestehens (1869) rüstete* 
sie eine Expedition zum Weisscn Meere aus, welche aus vier Mitglie¬ 
dern bestand: den Herren Jarshinski und Iversen für zoologische , 
Untersuchungen, Herrn Inostrantzcw für georgische und Herrn Sokoloiv 
für botanische. Herrn Jarshinski s Ausbeute aus dem Eismeere, dem 
Weissen Meere und den grossen Seen, die er auf seiner Rückreise 
berührte, umfasst 292 Arten aus den Classen der Araneiden, Stachel¬ 
häutigen, Mollusken, Ringwürmer, Eingeweidewürmer und Protozoen. 
Unter ihnen ist eine bedeutende Anzahl ganz neuer oder wenigstens 
in unserer Fauna bisher unbekannter Arten. Besonders bemerkens- 
werth ist ein ungewöhnlich grosser Pyknogonid (Seespinne),' der die 
ungewöhnliche Grösse von 9(2 Zoll erreicht. Er ist von Herrn Jar- 
shinskf einer neuen, von ihm-bestimmten Gattung zugezählt. Auf 
Grund thermometrischer Beobachtungen war es clemselben Forscher 
möglich, deutliche Beweise zu Gunsten der Ansicht, dass an der 
Murmanischen Küste ein verhältnissmässig warmer Strahl des Golf- 
stromes vorüber gehe, zu liefern; diese Ansicht wird auch durch den 
Umstand bestätigt, dass in dieser Gegend Thiere Vorkommen, die 
dem Atlantischen Ocean eigen sind. Auch über das Thierleben in 
den verschiedenen Meercstiefen hat Heh* Jarshinski Beobachtungen 
angestellt. Sein Mitarbeiter, Herr Iversen, beschäftigte sich haupt¬ 
sächlich mit ornitholqgischen Studien und die von ihm veranstaltete 
Sammlung enthält hauptsächlich Vögel, ihre Eier und Nester. 

Herr Sokolow , der die Küste des Weissen Meeres von Archangelsk 
bis zur Kern und die,Ufer des Onega-Flusscs in der Nähe der Mün¬ 
dung für seine botanischen Zwecke untersuchte, hat 325 Arten 
Phanerogamcn und viele Flechten und Seealgen mitgebracht. Seine 
dendrologische Sammlung umfasst 23 Muster, bei deren Zusam¬ 
menstellung er auf die Bedingungen des Wachsthums der Bäume, die 
ihm Muster lieferten, achtete. 

'Dem Geologen der Expedition, Herrn Inostrantzew , gelang es, 
die in geologischer Beziehung fast unbekannten Küsten des Weissen 
Meeres, von der Mündung des Onega-Flusses bis zu der der Ssuma, 
und die Ufer des ersteren zu besuchen. Er hat eine vollständige geo¬ 
logische Sammlung aus den von ihm untersuchten Gegenden mit¬ 
gebracht, und ein höchst lehrreiches und wichtigesMoment aus den 
Resultaten seinerRciseist die Thatsache, dass der Onega-Fluss nirgend 


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294 


von devonischen Schichten durchschnitten wird, wie bisher auf den 
geologischen Karten Russlands angemerkt war. Ein nicht geringes 
wissenschaftliches Interesse bieten auch seine Beobachtungen über 
die erratischen Anhäufungen, die sich von den Küsten des Weissen 
Meeres nach Süden und Süd-Westen ziehen und die er vom Flecken 
Ssuma bis zur Stadt Powenez verfolgen konnte. 

In den 9 Sitzungen der zoologischen Section im Jahre 1869 sind 
20 wissenschaftliche Mittheilungen gemacht worden, die sich alle auf 
specielle Untersuchungen stützten und von denen einige ein all- 
gemein-wissenschaftliches Interesse boten, andere auf die russische 
'Fauna oder die Anwendung wissenschaftlicher Resultate für die 
Praxis sich bezogen. Von ersteren wird im Jahresberichte Pro¬ 
fessor Zions Mittheilung über das negative Schwanken des 
Nerven-Stromes erwähnt, ferner: ein Bericht desselben Gelehrten 
über die unter seiner Mitwirkung ausgeführte Arbeit des Herrn Usti- 
nowiisch , welche die Innervatio der Kehlmuskeln betrifft; die Unter¬ 
suchungen Herrn Oscar Grimnis über den Bau d$r halbkreisförmigen 
häutigen Kanäle des Katzenohrs und über die Entwickelung der Eier¬ 
stocke und des Eis der Chironomen; die Untersuchungen Herrn Jar- 
shinskius über den anatomischen Bau der Echinorhynchen; Herrn 
Dedjulms Untersuchungen über den hemmenden Einfluss von N. ac - 
cessorii Willisii auf N. laryngaeus superior; die Untersuchungen 
Professor Metschnikow s über die Entwickelung von GyrodactÜus eie - 
gans 9 die Entwickelung der Axoloten und das Nervensystem der See¬ 
igel; Herrn E> Brandt's Untersuchungen überdas Blutsystem der Vi- 
pera berus und über den Bau des Nerven-Systems von Lepas ana - 
tifera . 

Von den anderen Referaten erwähnen wir Professor Kesslefs Mit> 
theilungen über die häringsartigen Fische in der Wolga ,• Herrn Mik- 
lucho-Mßklay s Untersuchungen über die Spougien des nördlichen 
und nordwestlichen Asien, welche von E. v. Baer, Al. Middendorff und 
Wosnessenski mitgebracht sind. Diese Untersuchungen bieten 
daher ein allgemeines Interesse, weil sie die Veränderlichkeit der 
Schwämme unter dem Einflüsse verschiedener Bedingungen * 
nachweisen. . 

Die botanische Section hatte acht Versammlungen. Von den in 
ihnen gemachten Mittheilungen erwähnen wir von Herrn Borodin: 
über Erscheinungen der Motion des Chlorophyls unter dem abwech¬ 
selnden Einflüsse von Licht und Finsterniss bei Lemna trisulca, 
Callitriche vema und Stellaria media , von Professor Faminzin über 
Erscheinungen der Bildung von stärkeartigen Kalkkörpem, von 
Herrn Batalin Untersuchungen über den Einfluss des Lichts auf die 
Theilung der Zellen der höheren Pflanzen und auf die Bildung ihrer 
Gefässbündel, von Herrn Wororan Mycologische Untersuchungen\ 
welche in russischer und deutscher Sprache (1869 — 1870) veröffent*. 
licht sind, so wie Baranetzkis Untersuchungen über Diffusion . 

In der Section für Mineralogie und Geologie fanden fünf Sitzungen 
statt. Die in denselben von den Herren' Wenetski v Inostrantzew , 


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295 


Pusyrewski , Eickwald u. A. gemachten Mittheilungen bezogen sich 
sämmtlichauf mineralogische und geologische Verhältnisse Russlands. 

Während des zweiten Jahres ihres Bestehens erlitt die junge 
St. Petersburger Naturforscher-Gesellschaft schmerzliche Verluste. 
Sie verlor durch den Tod zwei Ehrenmitglieder, den Akademiker 
F. Ruprecht , den Moskauer Professor N. Kaufmann und das 
Wirkliche Mitglied 6*. M. Rosanow , Botaniker am Kaiserlichen Bo¬ 
tanischen Garten. 

Im Jahre 1870 waren mehrere Mitglieder der botanischen Sec- 
lion für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse thätig, 
indem sie öffentliche Excursionen in den Umgegenden von St Pe¬ 
tersburg leiteten. Solcher Excursionen 1 fanden im Jahre 1870 
30 statt und sie werden jeden Sommer fortgesetzt. Wir haben fol¬ 
gender von der Gesellschaft in diesem Jahre ausgerüsteten Expe¬ 
ditionen zu erwähnen: Herr Jarshlnski setzte seine Untersuchungen 
der Fauna des Eismeers und des Weissen Meeres fort. Am 20. Mai 
verliess er auf der Corvette Warjag Kronstadt, umschiffte die Skan¬ 
dinavische Halbinsel und kehrte zu Lande am Ende des November, 
mit sehr reicher Beute nach St. Petersburg zurück. Von der bota¬ 
nischen Section wurde der Studiosus (jetzt Candidat) J. Schmal¬ 
hausen mit der Ausbeutung der Flora des Karelischen Isthmus des 
St. Petersburger Gouvernements betraut. Er entledigte sich seines 
Auftrages mit grösster Genauigkeit und hat mehr als 600 Arten 
heimgebracht, unter ihnen auch einige in der St. Petersburger Flora 
bisher unbekannte. Herr Inostrantzexv untersuchte in mineralogisch- 
geologischer Hinsicht die Gegenden zwischen dem Onega-See und 
dem Weissen Meere. Von den vielen interessanten Resultaten seiner 
Reise sei hier eins erwähnt. Es gelang ihm thatsächlich, die Er¬ 
hebung der Ssolowetschen Inseln nachzuweisen und sogar eine appro¬ 
ximative Berechnung darüber anzustellen, nach welcher diese Inseln 
sich um ungefähr 3V2 Fuss während eines Jahrhunderts erheben. 

Es ist noch anzufiihren, dass im Jahre 1870 von der zoologischen 
• Section ein Preis von 150 Rubeln für eine Beschreibung der Vögel 
des St. Petersburger Guberniums, oder eines Theils desselben, aus¬ 
geschrieben worden ist. 

Die von der Gesellschaft bisher herausgegebenen zwei Bände ihrer 
Arbeiten sind jeder in zwei Lieferungen erschienen. Der I. Bd. um¬ 
fasst 321 S. 80. mit 4 (Kupfer-) Tafejn Abbildungen, der zweite 
CXV 1 I — 220 S. 80. mit zwei colorirten Kupfertafeln. Ausser den 
Protocollen mit den Referaten über die Vorträge finden wir hier die 
Jahresberichte, Reiseberichte und Abhandlungen abgedruckt. Von 
letzteren erwähnen wir aus dem 4 . Bd. Professor K ’ F. Kesslers Ab¬ 
handlung über die Neunauge der Wolga Petramyzon Wagneri n. sp. 
(Bd. I, S. 207—214. Desselben Abh. über die ideologische Wolga- 
Faune (S. 236 — 310) und seine Beschreibung einer neuen Art 
aus der Familie der Cyprinoidei ( Schirotku rax Pelzatm, nova species 
S. 320— 323), Ch Grimnis Beschreibung zweier neuen Arten von 


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296 


Echinorhynchm { ibid. S. 214— 223), des verstorbenen O. Rosancnv 
Bemerkung über den Bau des Schwimmorgans von Dcsmanthus na - 
. tans Willd (S. 226 — 236), Professor A. Beketoiv s Bemerkung über 
das Wachsen der Saamen von Triglockin polustre L und Schench- 
zeria plalustris L (S. 311 — 315)- Desselben Blick auf den Stand 
der Forschungen über die St. Petersburger Vegetation (S. 183—207) 
und des Candidaten J. Schmalhansen Abhandlung über die Reihen¬ 
folge in der Bildung der Blüthen an den Zeilen der Gramineen 
(S. 161 —187). 

Der II. Band enthält die Abhandlungen von Ä . Inostrantzezv. Geo¬ 
logische Skizze der Gegend zwischen dem Weissen Meere und dem 
Onega-See (S. 1 —.83), A . Batalin : Einfluss des Lichts auf die 
Blattentwickelung (S. 112 — 131), N. Shelesnow: Bildung der 
Knospen am Stengel von Schizostylis coccinea, M. Woronin : Unter¬ 
suchungen über den Pilz Puccinia Hc/ianthi, den Schmarotzer von 
Helianthus annuus (Sonnenblume) (S. 157 — 189), Osc. Grimm : 
Materialien zur Faune der Würmer des St. Petersburger Gubemiums, 
A . Brandt: Ueber die Zahl der Nervenfasern bei grossen und 
kleinen Thieren (S. 291 — 206), N. Zdckauer: Ueber das Fischgift 
(S. 206 — 220). 


Die Thätigkeit der Naturforscher-Gesellschaft in 
(Charkow). Uns liegt das letzte Heft der Protocolle dieser am 24. 
Mai 1869 vom Minister der Volksaufklärung bestätigten Gesellschaft 
vor. — IIpoTOKOJibi 3ac r kAaHifi OömecTBa HcnMTaxeJieö npnpoAw 
npn Hm nepaxopcKOMt XapbKOBCKOMi* yHHBepcirreT r b bo BTopoe 
nojiyroÄie 1871 roita. Ausser den Protocollen für das zweite Se¬ 
mester des vorigen Jahres enthält es auch den Bericht über die Thä¬ 
tigkeit der Gesellschaft im erwähnten Jahre. Wir entnehmen demselben 
Folgendes: Die Gesellschaft zählte am 1. Januar 1872 —28 wirkliche, 
drei Ehren-Mitglieder und 40 Mitarbeiter. Es ist von ihr ein Preis 
im Werthe von 250 Rubeln für die beste, bis zum I. December 
1872 einzureichende Monographie über die in einer der Gegenden 
des Cliarkowschen Lehrbezirkes vorkommenden Arten der Arancina 
ausgeschrieben. Von ihren Schriften erschienen im Jahrei 871: die 
Protocolle für das zweite Semester von 1870 und für das erste von 
1871, ferner Band III und IV der Abhandlungen, die unter dem Titel 
,,Tpy;ti>i“ erscheinen. (Im Laufe dieses •Herbstes ist der V. Band, 
162 SS. in 4 0 mit einer Tafel, verschickt worden). 

Im Sommer 1871 sind auf Kosten der Gesellschaft mehrere geo¬ 
logische Untersuchungen ausgeführt worden, und zwar von A. W. 
(tiirow im Gouvernement Woronesh, im Lande der Donischen 
Kosaken, und im Starobel’schen Kreise des Gouvernements Charkow; 
von L . A. Ckitrozvo in. den östlichen Kreisen des Gouvernements 
Kursk, und von J. 7 h. Lewakmvski in den westlichen Kreisen des¬ 
selben Gouvernements und des Charkowschen. ln Folge einer an die 


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*97 


Gesellschaft von der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesell¬ 
schaft eingegangenen Aufforderung hat das wirkliche Mitglied J. y. 
Morosow sich bereit erklärt, Beobachtungen an Gewittern, den atmo¬ 
sphärischen Niederschlägen und über das Zufrieren der Flüsse und 
Aehnliches anzustellen und Mittheilungen darüber einzusenden. Im 
Laufe des Jahres wurden in den Sitzungen folgende Mittheilungen 
gemacht: P. Iwanow legte ein von ihm (im Verein mit A . Tsckemai) 
angefertigtes Verzeichniss der in der Stadt Knpjansk und ihren Um¬ 
gegenden vorkommenden Wanzenarten Hemiptera-Heteroptera Latr. 
(gedruckt im IV Bande der Abhandlungen S. 69 —76; er gab auch 
einige Bemerkungen über dieselben Insecten, so wie einen Beitrag 
zur Frage von den schädlichen Insecten. P. Stepanow las über den 
Parasitismus der Najaden-Embryonen (gedr. im IV Bd. S. 1 — 14). 
J. Lewakowski lieferte Materalien zum Studium des Tschernozem 
(gedr. im IV. Bd. S. 15 — 68 ), welche auf des verstorbenen Akade¬ 
mikers F. Ruprecht geo-botanische Untersuchungen über diesen Ge¬ 
genstand Rücksicht nehmen, und las auch über Kreide-Sedimente 
zwischen Nagolnaja und Aidar. Gomitski theilte einen Conspectus 
der von ihm bei der Stadt Walki (Gouvernement Charkow) gesam¬ 
melten Pflanzen mit (gedr. imV. Bd.S. 71—97, enthält 673 Nummern). 

• G. Radkewitsch gab eine Notiz über Macrobiotus Macronyx Duj. 
(gedr. mit einer Tafel im IV. Bd. S. 163 — 170), so wie einen Be¬ 
richt über eine von ihm ausgeführtc Excursion. J. Delame legte die 
anatomischenEigenthümlichkeiten desStempels der Aristolochiaceae dar 
(gedr. im IV. Bd. S. 103 — 162, mit 3 Tafeln). H. Morosow theilte 
seine Beobachtungen über die Bewegung des Wassers im Don mit. 
Der Gymnasiallehrer N. F. Kranisakozu lieferte ein Verzeichniss von 
Pflanzen, die er im Lande der Donischen Kosaken, hauptsächlich in 
den Umgebungen von Nowotscherkask und Taganrog gesammelt 
hat (gedr. im IV. Bd. S. 77 —94), L . Reinhardt eine Monographie 
über die Charac\eae des mittlern und südlichen Russlands (gedr. im 
V.Bde. S. 11 3— 145 mit einer Tafel). Frau Perejaslowcwa machte Mit¬ 
theilungen über die Schuppenflügler des Gouvernements Woronesh 
(gedr. im IV. Bd. S. 95 — 102 und Bd. V. S. 65 — 69), so wie über 
einzelne Arten von Infusorien, die in den Gegenden von Charkow 
Vorkommen. 

Es dürfte für ausländische Naturforscher gewiss von Interesse 
sein zu erfahren, welches die übrigen oben nicht erwähnten Abhand¬ 
lungen und Aufsätze sind. Wir stellen sie in Folgendem nach den 
Materien zusammen. 

Ueber ihre Reisen berichteten: L. Reinhardt und G . Sperck über 
botanische Excursionen, die sie im Smijew’schen und Isjumschen 
Kreise machten (Bd. I, 18 SS., Bd. II, 13 SS.) und A. Gurow über die 
Resultate einer geologischen Excursion im Pawlograder Kreise des 
Gouvernemets Jekaterinoslaw (Bd. I, 4 SS.). 


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298 


Zur Zoologie lieferten Beiträge: G. Radkewitsch über Parasiten 
auf dem Euchytracus vemnicidaris (Bd. I, 5 SS. mit I Tafel); 2) über 
die parasitische Amoeba (im Darm von Blatta germanica ) (Bd. H, 

5 SS. mit 1 Tafel); 3) zur Entwickelungsgeschichte der Nematoden 
(Bd. III, 14 SS. mit 1 Tafel); A. Isckernai — überSüsswasser-Thiere 
in ihrer Beziehung zu See- und Landthieren (Bd. II, 16 SS.) und — 
über Stacheln an Spongien, die sich im Schlamm zweier Seen 
des SmijewschenKreises finden (Bd. I, 4 SS. mit 1 Tafel); P. Stepa- 
now —Beschreibung der in den Umgebungen Charkow’s gefundenen 
Weichthiere von den Gattungen Anodonia und JJnio (Bd. II, 7 SS.); 
K. Pencho — über die Gattungs- und Arts-Kennzeichen von Pelias 
(Vipera Daud.) berus , Merrem\ nach zwei Varietäten (Bd. II, 26 SS. 
mit 1 Tafel); W. Reinhardt — Bemerkung über Distoma cirrigherum 
Baer (8 SS. mit 1 Tafel); W. Jaroschewski — Bemerkung über Pyr- 
rhocoris apterus Liifn(Bd. I, 5 SS. mit Zeichnungen). 

Zur Botanik: J. Ssorokin — Geschichte der Entwickelung von He- 
lycostylum muscae, sp. nova (Bd. I, 7 SS. mit 1 Tafel), ferner — 
über die Fortpflanzungsorgane von Erysiplie (ibid. 24 SS. mit 4 Ta¬ 
feln) und Mycologische Studien (Bd. III, III 4- 48 SS. mit 4 Tafeln), 
A. Pitra — Zur Kenntniss von Sphaerobolus stellatus (Bd. I, 17 SS V 
mit 1- Tafel); G. Sperk *) — Ueber verschiedene Vorgänge bei der 
Befruchtung der Blüthen im Allgemeinen und über die Dichogamie 
im Besondern, im Zusammenhänge mit der Organisation der Blüthen 
(Bd. II, 24 SS.); Delarue — Zur Entwickelungsgeschichte von Sora - 
strum Kg (Bd. II, 5 SS.) und J. Rusnesow — Ueber die Elemente 
des Saamens von Oniscus murarius ibfd. mit Zeichnungen); und — 
Histologische Untersuchungen über die Markhülle einiger Nadel¬ 
hölzer (Bd. III, 14 SS.) und L . Reinhardt —Bemerkungen über Farn¬ 
kräuter in Abchasien (Bd. I, 5 SS.). 

Zur Mineralogie, Geologie und physikalischen Geographie’gaben 
Beiträge: A. Briot — Untersuchungen über die Eisenerze aus dem 
Dorfe Markowka, im Starobjelskischen Kreise (Bd. I, 2 SS.), Che¬ 
misch-mineralogische Untersuchungen einiger Repräsentanten kry- 
staflinischer Gesteine am Dnjepr (Bd. V, S. i — 55) und—Chemische 
Untersuchungen des Granits vonKaidak, am Dnjepr (ibid. S. 57—63); 
der Berg-Ingenieur Nossow I. — eine Beschreibung des von ihm er¬ 
fundenen russischen Bergcompasses und Neigifngsmessers (Bd. II, 
16 SS. mit 1 Tafel); dessen Bruder, Nossow II. — Eine Beschrei¬ 
bung der Steinkohlenlager von Lissischansk, Uspensk und Gorodi- 
schtsche im Gouvernement Jekaterinoslaw (Bd. II, 46SS. mit I Tafel); 
Ueber Anfertigqng von Schichten-Karten für die Berg-Industrie 
(Bd. V, S. 99 — 112); Bemerkungen zu diesem Aufsatze gab J. 
Lezvako'ivski (ibid. S. 147 —r 162); derselbe, machte auch Mitthei¬ 
lungen — Ueber die Salzseen von Slawjansk. (Bd. I, 10 SS.), Ueber 


*) Einen Nachruf widmet diesem talentvollen, leider jung verstorbenen Botaniker 
Pitra im III. Bande der Schriften der Gesellschaft. 


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das Anstehen krystallinischen Gesteins am Dnjepr (Bd. III, 12 SS.) 
und — Ueber die Ursachen der ungleichen Form bei den Abhängen 
der Flussthäler (Bd. III, 38 SS.) und W. Kuprijanow — Ueber die 
Horizont-Veränderungen des Dnjepr-Flusses während des Zeitraums 
von 1859 ““ 1869 (Bd. II, 2 SS. mit 1 Tafel). 


Literaturbericht. 


K. Eeemyxceet-PioMuHS. Pyccieaa HcTopia. I. Cn6. 1871. 8° - • 

Konstantin) Bestushew-Rjuinin. Russische Geschichte. Band I. St. Petersburg 1872. 
m+IV+246+480 SS. 8°. 

Die Handbücher der Russischen Geschichte, welche bisher 
Vorlagen, sind zum Theil antiquirt, zum Theil entsprechen sie 
nicht den Anforderungen, die ein Studirender an ein Handbuch 
stellt. Ssolowjew’s Russisches Geschichtswerk, das seit 1851 erscheint 
und mit dem 22. Bande noch nicht beendet ist, dürfte für ein Hand¬ 
buch, ohne Zweifel, zu umfassend sein. Auch hat, Dank den in dem 
letzten Jahrzehnt reichlich veröffentlichten Quellen und vielen neuen 
Einzeluntersuchungen, denen auf dem Gebiete der vaterländischen 
Geschichts- und Alterthumskunde bei uns immer mehr neue Kräfte 
sich zuwenden) der gegenwärtige Bearbeiter der russischen Geschichte 
viel Neues zu verzeichnen, wovon seine Vorgänger noch schweigen 
durften. Da ein Quellenanzeiger für die russische Geschichte, ein rus¬ 
sischer Potthast, noch ‘fehlt, ebenso ein bibliographisches Handbuch 
für die russische historische Forschung 4 , so wird das oben genannte 
Buch, weil es die erwähnten Lücken, soweit es in einem Geschichts¬ 
handbuche möglich, auszufüllen den Zweck hat, nicht allein der aka¬ 
demischen Jugend, sondern auch Jedem, der sich einem eingehenden 
Studium der russischen Geschichte widmen will, gewiss sehr will¬ 
kommen sein. Der Verfasser selbst spricht sich in seiner Vorrede 


*) Wir dürfen hier nicht unerwähnt lassen, dass die hiesige Akademie der Wissen¬ 
schaften seit 1855 eine russische historische Bibliographie (PyccKaa Hc-ropuHecKa« 
Bu&niorpactU) in Jahrgängen herausgiebt. Bis jetzt sind acht Bände, für die Jahre J855 
bis 1862, erschienen und sind in denselben in • möglichster Vollständigkeit die auf 
Geschichte (nicht allein russische) und ihre Hiilfswissenschaften bezüglichen Erschei¬ 
nungen der russischen Literatur in den erwähnten Jahren, mit Einschluss der Auf¬ 
sätze in periodischen Schriften, genau verzeichnet. Diese verdienstvolle Arbeit wurde 
unter derLeituilg, zuerst des Akademikers E.Kunik, später des leider zu früh verstorbenen 
Akademikers P, Pekarski, von den Bibliothekaren der russisch-slawischen Bibliothek der 
hiesigen Akademie der Wissenschaften, den Brüdern P. und B. Lambin, ausgeführt. 
Die Anregung zu dem höchst nützlichen Unternehmen ist vom Akademiker Kunik aus¬ 
gegangen. ' 

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_3<x>_ 

über den Zweck seines Unternehmens folgendermaasseh aus: „Mit 
vorliegendem Buche wird beabsichtigt, die von der russischen histo¬ 
rischen Wissenschaft während der anderthalb Jahrhunderte ihrer Ent¬ 
wickelung gewonnenen Ergebnisse darzulegen, auf die Pfade hinzu¬ 
weisen, auf denen sie gesucht worden, oder jetzt noch gesucht wer¬ 
den, und endlich den Leser in den Kreis der, der Forschung zugäng¬ 
lichen Quellen einzuführen. Der Verfasser ist der Ansicht, dass ein 
Versuch, wie der von ihm in Angriff genommene, ungeachtet seiner 
nicht zu vermeidenden Unvollkommenheit, die nicht immer nur von 
der Unzulänglichkeit der der Ausführung gewidmeten Kräfte bedingt 
ist, nicht ohne Nutzen für Diejenigen sein dürfte, welche sich einem 
selbstständigen Studium der vaterländischen Geschichte zuwenden 
und nicht geneigt sind: jurare in verba magistri. Von diesem Gedan¬ 
ken ausgehend, hat der Verfasser in seinen Universitätsvorlesungen 
— aus ihnen ist allmählich dieses Buch entstanden — beständig viel 
Zeit der Würdigung der Quellen und Hilfsmittel, sowie der kritischen 
Auseinandersetzung der in der Wissenschaft vertretenen Ansichten 
gewidmet. Er erinnert sich noch, welchen Nutzen ihm selbst die Vor¬ 
lesungen seinesLehrers S. M.Ssolowojew brachten, in denen derselbe 
die Entwickelung des historischen Wissens in Russland behandelte. 
Der Verfasser ist der Ueberzeugung, dass der Universitätslehrer sich 
zu dieser oder jener Ansicht über eine gegebene Frage bekennen 
müsse; doch bei dem gegenwärtigen Stande unserer Wissenschaft 
dürfte er selten vollkommen überzeugt sein, dass seine Ansicht — die 
richtigste sei. In solchen Fällen ist der beste Ausweg nichteine dog¬ 
matische, sondern eine critische Darstellungsweise. Wird diese ein¬ 
gehalten — dann wird dem Zuhörer oder Leser nicht die einseitige 
Ansicht dieses oder jenes Forschers, vielmehr die ganze Mannigfal¬ 
tigkeit der in der Literatur repräsentirten Ansichten geboten.“ 

„In der Darstellung bemühte ich mich, die staatlichen und socialen 
Verhältnisse, die Anschauungen und die geistige Entwickelung jeder 
einzelnen Epoche in den Vordergrund zu stellen, während ich die 
Begebenheiten in gedrängter Uebersicht behandelte. Diese Darstel¬ 
lungsweise ist durch meine in der Einleitung dargelegte Ansicht von 
der Geschichte, sowie durch den Umfang des Buches, den ich einzu¬ 
halten hatte, bedingt.“ 

Ursprünglich war es des Verfassers Absicht, sein Buch 'auf zwei 
Bände zu beschränken, doch bei aller Bemühung, sich kurz zu fassen, 
sah er sich endlich genöthigt, es in drei Bänden anzulegen. So ist 
denn, obgleich der vorliegende Band bis zur zweiten Hälfte des XV. 
Jahrhunderts reicht, das Capitel über Lithauen im XIV. und XV. 
Jahrhundert für den nächsten Band Vorbehalten worden. Diese Er¬ 
weiterung des ursprünglichen Planes war um so jmehr nöthig, als der 
Verfasser, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes 
Urtheil zu bilden, ihm hinreichendes Material dazu bieten musste, 
auch mit den Hinweisungen auf die Quellen * nicht kargen durfte. 
Er bedauert, dass der Druck des Bandes langsam fortschritt, 


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weil er dadurch verhindert wurde, bei der Uebersicht der Quellen 
und Hilfsmittel alles Das zu berücksichtigen, was während des 
Druckes noch erschienen ist. Zum Theil hat er die neuesten Er¬ 
scheinungen bei seiner Darstellung schon benutzt, die nothwendigen 
Nachträge werden aber im letzten Bande gegeben werden. 

In der ziemlich umfassenden Einleitung (246 SS.) giebt der Ver¬ 
fasser seine Ansicht von Geschichte und historischer Kritik, handelt 
dann von den Quellen und Hilfsmitteln zum Studium der russischen 
Geschichte, und schliesst mit einer historischen Uebersicht der 
russischen Geschichtsforschung (S. 208—246), -die erst seit 
Peter’s des Grossen Zeit beginnt. Unsere wissenschaftliche Literatur 
ist zum Theil, und das.mehr als irgend eine andere, in verschiedenen 
periodischen Schriften zerstreut; selbst Zeitschriften, welche für 
den grösseren Theil des gebildeten Publicums berechnet sind, brin¬ 
gen fast injedem Monatsheft wissenschaftliche Abhandlungen, unter 
denen die auf die russische Geschichte bezüglichen seit Karamsin’s 
Zeiten die häufigsten sind. Daher sind die bibliographischen Nach¬ 
weise in der Einleitung zu Herrn Bestushew-Rjumin’s Handbuch 
von besonderem Werthe für die Einführung ins Studium der russi¬ 
schen Geschichte. Seine ausserordentliche Belesenheit hat ihn dabei 
aufs Beste unterstützt, wenn auch die Anlage seines Buches ihm 
einige Beschränkungen auferlegen musste. ’ 

Der vorliegende Band umfasst, wie erwähnt, den Zeitraum von der 
Gründung des russischen Staates bis zur zweiten Hälfte des XV. 
Jahrhunderts (mit Ausnahme der Geschichte Lithauens im XIV. und 
XV. Jahrhundert), welcher in sieben Capiteln behandelt ist. Das erste 
Capitel(S. 1—87) ist ethnographischenlnhalts und schildert dasLeben 
der alten Slawen, namentlich der östlichen, in ihren religiösen An¬ 
schauungen, Sitten, Gebräuchen, socialen und öconomischen Ver¬ 
hältnissen, und handelt von den fremden Stämmen des alten kuss¬ 
land (Finnen, Türken und Lithauern). Das zweite Capitel beschäf¬ 
tigt sich zuerst mit der Frage von der Abstammung der Waräger, 
schildert dann die Thätigkeit der alten Fürsten und den Zustand 
Russlands unter ihnen und endlich den 'Einfluss des Christenthums 
und der Byzantiner. Im dritten Capitel characterisirt der Verfasser, 
nachdem er eine geographische Skizze hat vorhergehen lassen, die 
Periode der Theilfürstenthümer und giebt die Geschichte des Kijew- 
schen Grossfürstenthums, sowie der Fürstenthümer von Perejaslaw, 
Tschernigow, Ssmolensk, Polotsk, Turow, Wolhynien, Galitsch, 
Susdal und Rjäsan. Das folgende Capitel ist den polit sehen, socialen, 
kirchlichen, geistigen und öconomischen Verhältnissen dieser Periode 
gewidmet.. Das fünfte Capitel beginnt mit der tatarischen Invasion, 
schildert die tatarische Herrschaft, die Begebenheiten in Susdal und 
Galitsch und schliesst mit den Begebenheiten in den Ostseeländern 
und Lithauen bis zum Anfang des XIV. Jahrhunderts. Capitel VI 
ist*den Republiken Nowgorod, Pskow und Wjätka gewidmet; Capi¬ 
tel VII behandelt das Wachsen der Macht der Fürsten von Moskau 


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302 


bis zum Tode Wassilij Wassiljewitsch’s, die Geschichte der Fürsten- 
thümer Twcr, Ssusdal, Rjäsan und Ssmolensk und wirft einen Rück¬ 
blick auf die politischen, socialen und kirchlichen Zustände des öst¬ 
lichen Russlands während dieser Periode. 

Wenn auch Ref. nicht die Absicht haben konnte, hier eine ein¬ 
gehende kritische Würdigung des angezeigten Buches zu geben, so 
glaubt er doch diesem zeitgemässen Unternehmen den glücklichsten 
Erfolg Vorhersagen zu dürfen, weit über die Kreise der akademi¬ 
schen Jugend hinaus, für die es zunächst bestimmt ist. 


0. fl. &opmnHcKaio . THTMap-b Mep3e6yprcKik h ero XpOHHKa. C.-rieTep6yprb 

1872. 8°. 

Th. J. Fortinski. Ditmar von Merseburg und seine Chronik. St. Petersburg 1872. 

IV-|-20i SS. in 8 °. 

Zweck des Verfassers war, einerseits den gegenwärtigen Zustand 
des Textes von Ditmar’s Chronik darzulegen, andererseits nach 
Möglichkeit die Bedeutung ihres Inhalts für den Geschichtsforscher 
nachzuweisen. In seiner Einleitung (S. 1—26) bespricht er die vor¬ 
handenen Handschriften, Ausgaben und Uebersetzungen der in Rede 
stehenden historischen Quelle, die für den Slawisten wie Germanisten 
gleich hohes Interesse bietet. Zu seinem eigenen Bedauern hat er 
die Brüsseler Handschrift, welche Leibnitz bei seiner Ausgabe be¬ 
nutzt hat, nicht einsehen können, dagegen mit der in Dresden aufbe¬ 
wahrten sich in eingehender Weise bekannt gemacht. Auf den der letz¬ 
tengewidmeten Seiten werden besonders die Umstände hervorgehöben, 
welche für ihre Originalität sprechen. Wo er von den älteren Aus- 
gabei} der Chronik handelt, hebt der Verfasserim Einzelnen hervor, in 
wi'efern ihre Benutzung durch die neuste Ausgabe Lappenberg’s (in den 
„Monumenta Germaniae Historica“, Bd. III. 1839) noch nicht über¬ 
flüssig gemacht sei. Die zwei ersten Capitel'der vorliegenden Schrift 
sind den Lebensverhältnissen Ditmar s (S. 27—47) und der Ermitte¬ 
lung des Umfanges seiner Bildung (47—56^ gewidmet. Darauf wird 
fcur Betrachtung der Sprache der Chronik (Cap. III, S. 56—62), zur 
Bestimmung ihrer Abfassungszeit (Cap. IV, S. 62—69) übergegan¬ 
gen, dann ihre Anlage (Cap. V, S. 69—72) und fhre Bestandteile 
(Cap. VI, S. 73—142) besprochen und (Cap. VII, S. 142—158) die 
politische und ethische Anschauungsweise des Merseburger Bischofs 
ermittelt. Im letzten Capitel, nächst dem sechsten dem umfang¬ 
reichsten seiner Schrift (S. 158—201), versucht Hr. Fortinski eine 
Würdigung der Nachrichten Ditmar’s über die Slawen, welche seiner 
Chronik eine so grosse Bedeutung für die Geschichte dieses Volkes 
verleihen. Bekanntlich sind es besonders die vier letzten, die Jahre 
1002—1018 umfassenden Bücher (das fünfte bis achte), welche, in¬ 
dem sie sich auf einen Zeitraum der Regierung Heinrich’s II. be¬ 
ziehen, der mehrentheils dem Kampfe der Sachsen mit Boleslaw dem 


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3°3 


Tapfern gewidmet war, dem Zeitgenossen dieses Kampfes hinrei¬ 
chende Veranlassung bieten mussten, in seine Erzählung zahlreiche 
Bemerkungen über die beim Kampfe betheiligten slawischen Stämme 
sowie über den Schauplatz der Begebenheiten cinfliesscn zu lassen. 
Um sich den Werth dieser Bemerkungen deutlich zu machen, hätte 
man, nach des Verfassers Meinung, nicht zu vergessen, dass i) Dit- 
mar, als Bischof von Merseburg, dessen Eparchie in slawischen? 
Lande lag, hinreichend Gelegenheit hatte, persönlich die Slawen 
kennen zu lernen, und das um so mehr, als er ihre Sprache kannte; 
2) dass er, welcher für die Wiederherstellung der ursprünglichen 
Grenzen seines Sprengels stritt, nothwendiger Weise an eine genaue 
Bezeichnung der Oertlichkeiten gewohnt war, und dass 3) er /selbst 
sich bei einigen Feldzügen gegen Boleslaw betheiligte.“ Dabei hält 
der Verfasser es für nothwendig, den Leser darüber aufzuklären, 
welche von Ditmar’s Nachrichten über die Slawen dem Kreise seiner 
persönlichen Beobachtungen angehören und welche sich auf Hören¬ 
sagen stützen. Ausser den Elbslawen kennt Dittmar die Polen, 
Tschechen und Russen. Von den ersteren — den Elbslawen, kennt 
er besonders die sorbischen Lausitzer, obgleich der Name „Sorabi“ 
ihm unbekannt geblieben ist. Unzureichend sind seine topographi¬ 
schen Kenntnisse von Böhmen, Mähren und Polen. Von den Nach¬ 
barn der Russen kennt er die Petschenegen, welche er Pcdinei nennt. 

Den Schluss seiner mit vielem Fleiss gearbeiteten Abhandlung 
widmet der Verfasser der Characteristik Ditmar’s als Patrioten. Vor 
Allem erweist dieser sich ihm als Sachse, der auf seine ITcimath und 
seine Heimathsgenossen stolz ist. Als Sachse fühle er sich den Baiern 
und Lothringern gegenüber, als Deutscher aber gegenüber Italienern, 
Griechen und Slawen. 

Die besprochene Abhandlung hat Herr Fortiuski im Mai dieses 
Jahres bei seinerPromotionzum Magister der Allgemeinen Geschichte 
in der hiesigen Universität öffentlich vertheidigt. 


O nepBOHaMa.ibHOMT» OoHTajiMiu^ Ccmutobt., HHflo-EBponcHaeBT» h XaMMTuß-b. Hac.vfe- 
.lOBaHi* An H. rapKaeu . 

A. J. Harkawy. , Ueber die Urheimath der Semiten, Indoeuropäei*und Chamiten. St. Pe¬ 
tersburg *872 II -f- 133 SS. in 8° (Separatabdruck aus dem XVI. Bande der Ar¬ 
beiten (Tpyau) der St. Petersburger Archäologischen Gesellschaft.) 

Unter diesem, nicht ganz glücklich gewählten Titel behandelt der 
Verfasser*) die Völkertafel (Gen. X) und zwar vorwiegend die drei 
Namen Sem, Cham , Japhet. Nachdem er § 1 constatirt hat, dass 
unter den Völkern des Alterthums nur die Hebräer es zu einer geogra- 

t -,ii __ 

•) Herr Harkawy hat die russische Literatur unter Anderm auch mit dem ersteh 
Bande einer den arabischen Nachrichten über die Slawen und Russen gewidmeten Mo¬ 
nographie bereichert. 


♦ 


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304 


phisch^ethnographischen Eintheilung der ihnen bekannten Völker 
gebracht haben, w.endet er (§ 2 und 3) sich zunächst gegen Herrn 
Ewald , dessen mythologische Deutung der drei Namen er zu wider¬ 
legen sucht. § 4 richtet sich gegen die ethnologischen Deutun¬ 
gen Knobels und Hitzig s. § 5—7 werden anderweitige Erklärungs¬ 
versuche, welche die drei Namen einzeln behandeln, widerlegt. $ 8 
Constatirt, dass die meisten Gelehrten der Völkertafel einen geogra¬ 
phischen Character beilegen, wie denn sogar Ewald und Knobel zu¬ 
geben, die Völkertafel theile die bekannte Erde in drei Theile, einer 
nördlichen, mittleren und südlichen. Es habe sich aber Niemand 
die Mühe gegeben, diese Ansicht zu begründen, was sehr schwierig 
sein dürfte, denn in der Völkertafel sei nur die geographische Be¬ 
deutung der meisten Nachkommen von Noah’s Söhnen ersichtlich, 
keineswegs aber sei in ihr die Eintheilung der Erde in die drei Climate 
ausgesprochen. Im Allgemeinen zwar werde diese Eintheilung durch 
die Untersuchung der geographischen Benennungen, welche als 
Nachkommen der Noahiden figuriren, bestätigt; dass aber im Sinne 
der Genesis eine solche Eintheilung nicht gelegen ha^be, beweise der 
Umstand, dass die chamitischen Kanaanäer und Phönicier nördlich 
von vielen semitischen Stämmen sässen, die semitischen Sabaeer da¬ 
gegen südlich von dem samitischen Egypten. Wenn ferner die drei 
NamendfcrEpoche angehörten, in welcher die zuNachkommen der drei 
Stammväter gemachten Völker schon dort gesessen, wo die Völker¬ 
tafel sie hinversetzt, so müssten die Namen die entsprechende (ety¬ 
mologische) Bedeutung haben, Sem das mittlere, Cham das südliche, 
Japhet das nördliche Clima bezeichnen, und wären jedenfalls nicht 
so vollständig vergessen worden, dass sie nirgends als in der Völker¬ 
tafel erwähnt werden (denn Chron. I, 4 sei von Gen. X abhängig).— 
Gehörten hingegen die Namen der drei Noahiden der grauen Vorzeit 
an, in welcher, nach dem Sinn der Völkertafel, die Stammväter der 
drei Menschenracen noch zusammen oder wenigstens nahe bei ein¬ 
ander hausten, so hätten wir durchaus kein Recht, über die Wohn¬ 
sitze der Stammväter Schlüsse zu ziehen airf Grund der geographi¬ 
schen Lage, in welcher die Geschichte ihre Nachkommen findet. 

Diese ‘und viele andere Combinationen (die wohl hätten erwähnt 
werden können) brachten den Verfasser auf den Gedanken, dass auch 
die drei fraglichen Namen rein geographisch zu fasseji seien, wie 
die meisten anderen der Völkertafel. Nur so schwänden alle Schwie¬ 
rigkeiten und die Völkertafel bekäme den einheitlichen Character, 
den andere Deutungen ihr nicht zu geben im Stande waren. § 9 
bestimmt das Land, wo* denn nun die drei personificirteji geographi¬ 
schen Namen zu suchen seien, und nennt Armenien , das Urartu der 
assyrischen Denkmäler, welches die Genesis meint, wenn sie djß 
Arche Noah’s „auf den Bergen Ararat’s“ landen lässt. Den Namen, 
Sem findet der Verfasser § 10 in dem Gebirge Sim , einem Zweig der 
taurischen Öergkette zwischen dem Van-See und dem Tigris. 
Einen Zusammenhang der Namen häbe schon Ewald vermuthet. 


♦ 


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305 


Den Namen Cham identificirt er § 11 mit dem Theile des Taurus¬ 
gebirges, welches heute Almadagh, bei den Classikem 'Äpavog 
Amanus heisst, und in den assyrischen Denkmälern in der Form 
Chamanu-ni-na sich findet, also südwestlich von dem Gebirge Sim. 
Japhet endlich wird § 12 in dem nordöstlich vom Van-See be- 
legenen Gebirge Nr^azrjg, Niphates, armenisch Nepat, Nebad, gesucht 
und — gefunden. In § 13 resümirt der Verfasser die Ergebnisse der 
Untersuchung. Der Sinn der Erzählung der Völkertafel, sagt er, ist 
folgender: „Nach der Sintfluth verweilte „die Noahische Mensch¬ 
heit“ eine Zeit lang in den Gebirgen des Landes Ararat-Nordarme¬ 
nien. Sodann wanderte diese Menschheit in die Länder der tauri¬ 
schen Bergkette, und theilte sich in drei Gruppen. Die mittlere 
Hess sich in dem Bergland Sim zwischen dem Tigris und dem Van - 
See nieder. Südwestlich von ihr lagerte die zweite Gruppe in einem 
anderen Zweige des Taurus — Cham, dem Chamanu der Assyrer, 
Amanus der Alten. Nordöstlich vom Van-See endlich, nahm die 
dritte Gruppe einen dritten Zweig des Taurusgebiets mit Namen 
Jefet-Nepat, Niphates ein. Diese geographische Lage jeder der 
drei Gruppen . konnte ganz vorzüglich den Ausgangspunkt für die 
weitere geographisphe Vorbereitung desselben abgeben, denn die 
genannten Zweige des Taurus liegen an der Grenze der Besitzungen 
der drei Völkergruppen, deren Wanderungen die VölkertafePdarstellL 
— Zugleich aber liegen die drei Bergländer so nahe bei einander, 
dass sie vollkommen der geographischen Lage entsprechen, welche 
die Vorfahren der Semiten, Chamit'en und Indoeuropäer in jener 
grauen Vorzeit einnehmen mussten, welche unmittelbar auf die Ein¬ 
heit der drei Racen folgte.“ 

SowenigReferent im Allgemeinen mit den Beweisführungendes Ver¬ 
fassers und den Resultaten seiner Untersuchung einverstanden ist, 
und so wenig er sich in den Ton hineinfinden kann, .den die Pole¬ 
mik gelegentlich (so namentlich p. 46) anschlägt, um so mehr Hält 
er es für seine Pflicht einen Punkt aus der vorliegenden Schrift her¬ 
vorzuheben. Auf S. 25 erklärt der Verfasser die Form Japetosthe 
bei Moses von Chorene als auf falscher Auffassung eines Verses 
der Sibyllinischen Bücher (III, 110) beruhend \ da heisst es nämlich 
xcu ßccöikvOi KQOvog, xai Tirdv, 'Ianetog re. 

Ein besserer Beweis für Abhängigkeit des Moses von Chorene von 
nichtbabylonischen, sondern von jüdisch-hellenischen Quellen, dürfte 
schwerlich beizubrigen sein. Und wenn auch die Autorität Moses' 
von Chorene für die Urgeschichte des Orients von Renan u. A. im 
Allgemeinen schon lange nicht mehr anerkannt wird, so werden die # 
speciellen Ausführungen unseres Verfassers p. 22—25 (dazu pp. 120 
bis 24) hoffentlich dazu beitragen auch' Diejenigen, welche die be¬ 
treffenden Nachrichten des armenischen Historikers bisher als 
glaubwürdige verwerthen zu können geglaubt haben, vom Gegen- 
theil zu überzeugen.. 

V. v. R. 


4 


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306 


A. BeceAoecKaio. Mai» HCTopiw jiHTepaTypHaro o6njeHifl BocroKa h 3anaaa. Cjisbah* 
cicla tKa3aHi« o CoVioMOH-fc h KirrOBpacfc h 3anaAnhia aereHAu o MopoAbefc h 
M ep-iHHl». Cn6. 1872. 8°. 

yf(lexander) IVessdoivski . Zur Geschichte der literärischen Wechselbeziehungen zwi¬ 
schen dem Orient und Occident. Die slawischen Legenden von Salomo und Kitowras 
und die westeuropäischen Legenden von Morolf und Merlin. St. Petersburg. 1872. 
XX+350 SS. 8°. . 

Die um Salomo sich gruppirenden Legenden und Erzählungen 
aus der altrussischen Literatur gehören dem Kreise der apokryphen, 
„zurückgelegten“ Schriften an, welche von der Autorität, namentlich 
der geistlichen; nicht geduldet, vom Volke aber gern gelesen wurden. 
Sie haben meist einen byzantinischen Ursprung und kamen nach 
Russland durch Vermittelung der Südslawen (Bulgaren und Serben.) 
Die erwähnten Legenden und Erzählungen sind von Nikolai Ticho - 
nrcvwow (in den von ihm herausgegebenen JIliToimcn Pyccicott Jlnxe- 
paTypw h /IpeBHOCTH, d. i. Annalen der russischen Literatur und 
Alterthumskunde. Bd. IV, Moskau, 1862, Abth. II S. 112 — 153, so 
wie in dem ebenfalls von ihm edirten IlaMHTHHKH oTpeneHHOÄ pyc- 
ckoö JiHxepaTyphi d. i. Denkmäler der apokryphen russischen Li¬ 
teratur (Band I, Moskau 1863, S. 254—272) und von A . Pypin (in 
ifder III. Lieferung der vom Grafen Kuschelew-Besborodko herausge¬ 
gebenen Denkmäler der altrussischen Literatur — IlaMHTHHKH Cia- 
pHHHoft PyccKoö JInTepaTypM — St. Petersburg, 1862, S. 51 — 71) 
veröffentlicht worden. Die einen beziehen sich auf die Jugend Sa- 
lomo’s und vafiiren das Thema von seiner Weisheit in der mannig¬ 
faltigsten Weise, die andern bringen ihn mit dem auf dem Titel des 
hier angezeigten Buches erwähnten Kitowras zusammen. 

Salomo’s Jugend wird in diesen Volksbüchern etwa in folgender 
Weise erzählt; (bei unserm kurzen Referate können wir auf die Ab¬ 
weichungen der Varianten keine Rücksicht nehmen): 

Erst neun Wochen alt, giebt Salomo, der Sohn des Königs David 
und der von diesem am Meisten unter seinen dreissig Frauen gelieb¬ 
ten Wirsawija (BupcaBLH — Verwechslung des Namens Bathseba 
mit dem Städtenamen Bersaba), seinem Vater ein Räthsel auf, welches 
eine Anspielung auf die Untreue der Mutter gegen David enthält. 
Diese beschliesst den Sohn zu verderben, lässt sich daher einen Kna¬ 
ben bringen, der dem Salomo sehr ähnlich ist und trägt dem Er¬ 
zieher des Letzteren, Atschkilo (A*ikhjio), auf, ihn zu tödten. Letz¬ 
terer bringt wohl Salomo an ein «warmes Meer* und überlässt ihn 
. dort seinem Schicksale, der Mutter aber bringt er das Herz eines 
Hundes, das er für das des Salomo ausgiebt. Dieser kommt zu 
einem Bauern, dem er sogfeich eine Probe yon seiner Weisheit ab¬ 
legt. Der Bauer empfiehlt vor seinem Tode seinen drei Söhnen, Sa¬ 
lomo als ihren Lehrer bei sich zu behalten, der nun auf seinen 
Wunsch des Tages das Vieh und die Pferde der drei Brüder weidet, 
des Abends aber der König seiner Altersgenossen ist und Recht 
spricht. 1 ^ 


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307 


Unterdessen hat David eine Ahnung davon erhalten, dass der bei 
ihm erzogene Knabe nicht sein Sohn Salomo sei und schickt daher 
den Erzieher Atschkilo aus, seinen Sohn zu suchen. Atschkilo, als 
er Salomo findet, erkennt ihn nicht und kehrt ohne ihn zu David 
zurück. Als er ihm . aber von dem weisen Schiedssprüche • eines 
Knaben,* den er gesehen, erzählt, sendet David ihn mit anderen 
Boten zum zweiten Male aus. Sie finden Salomo wieder beim Ur- 
theilsprechen und erhalten von ihm die Zusage, in drei Jahren zum 
Vater zurück kehren zu wollen. In der That kehrt er aber später 
heim, nachdem er manche Abenteuer bestanden. Er begiebt sich 
zuerst in das „reiche Indien“ (das Indien des vermeintlichen Briefes 
des sagenhaften Presbyters Johannes an den Kaiser von Constantino- 
pel Jimanuel Comnenus), zum König Porus. Hief tritt er in ein Lie- 
besverhältniss zur Königin, die ihm einen goldenen Ring ihres Ge-' 
mahls* schenkt. Hiermit ist die Veranlassung zur Rache, die später 
König Porus an Salomo nimmt, gegeben. Sie wird dadurch ausge¬ 
übt, dass er Salomo’s Gemahlin entführt. Vom König Porus begab 
sichSalomo nach Hause. Er kommt nach Jerusalem zu Schiff und giebt 
sich David gegenüber für einKind des „reichenIndiens“ aus: er trage 
den Namen *,der Verständige“ (Pä3yMHHin>) und wäre gekommen, 
seine Waare zu verkaufen und andere in Jerusalem einzukaufen. 
Die Königin Wirsawia schickt drei ihrer Kammerfrauen, um seine 
Waaren zu besehen und erfährt von ihnen, dass der fremde Kaufmann 
im Besitze von drei Edelsteinen sei. Sie lässt ihn zu sich kommen 
und verlangt, er solle ihr einen der Edelsteine verkaufen. Als Be- 
dingiyig des Verkaufs stellt er die Ruhe einer Nacht bei ihr. Als 
sie darin willigt, giebt er sich ihr und später dem Vater zu erkennen. 

So schliesst die russische Legende von der Kindheit und Jugend 
Salomo’s, die aus dem Volksbuch auch in’s russische Volksmärchen 
übergegangen ist. ln dem von uns Mitgetheilten ist nur der Rah¬ 
men für die Urtheilssprüche und'Räthsel, um die es sich eigentlich 
handelt, gegeben. 

Mit Kitowras wird Salomo in den russischen Legenden zusammen¬ 
gebracht, weil er beim Bau des Tempels eines Geheimmittels bedarf, 
um die Steine Arne den Gebrauch von Werkzeugen herrichten zu 
lassen. Vom Verfasser wird Kitowras mit dem Asmodi der Legen¬ 
den des Talmud glücklich zusammen gestellt. ,,Kitowras“ ist das¬ 
selbe dämonische Wesen wie der talmüdische Asipodi, er wird mit 
derselben Absicht gesucht wie dieser, fällt in dieselbe Falle, hält 
dieselben Reden voll räthselhafter Weisheit auf dem Wege zu Salo- 
mon und vor ihm. Endlich rächt er sich an Salomo in derselben 
Weise wie Asmodi, nachdem er sich seines Ringes bemächtigt Sa- 
-rJomo wird an das Ende des gelobten Landes versteckt, wo ihn seine 
n Weisen und Schriftgelehrten finden. Von den romantischen Aben¬ 
teuern des vertriebenen Salomo ist nach des Verfassers Meinung 
desshalb nicht die Rede, weil im alten Russland und im slawischen 
Süden, von wo die apokryphe Literaturbei uns ihreü Eingang fand, 


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308 


eine andere Erzählung mehr Popularität genoss, und zwar die, nach 
welcher Kitowras die Frau des Salomo raubt. In späteren Erzäh¬ 
lungen, vom XVII. Jahrhundert an—die früheren stammen aus Hand¬ 
schriften des XV. und XVI. Jahrhunderts — in der Literatur wie im 
Munde des Volkes, übernimmt die Rolle des Kitowras der König 
Porus oder ein namenloser König, oder endlich Wassily Okuljewitsch. 

Kitowras erscheint auch in Darstellungen auf Kunstdenkmälern, 
so auf der Wassiljewschen Thür der Sophien-Kathedrale in Nowgo¬ 
rod, als geflügelter Centaure mit einer Krone auf dem Haupte. 
Ebenso erscheint er in der Legende nicht nur als dämonisches Wesen, 
sondern zugleich als Bruder des Königs Salomo. Auch auf einem 
andern kirchlichen Kunstdenkmal kommen geflügelte Centauren mit 
einer Krone auf dem Haupte und einem Scepter in der Hand vor. 

Der Verfasser stellt Kitowras ebenfalls mit Morolf im deutschen 
Gedicht von Salomo und Morolf zusammen, und gewiss mit Recht. 

Einen gemeinschaftlichen Ursprung der deutschen Sagen von Sa¬ 
lomo und Morolf und dem slawischen Legeridencyclus von Salomo 
und Kitowras hatte schon A. Pypin in seinem „Umriss der Literatur¬ 
geschichte der altrussischen Erzählungen und Märchen“, im IV. Bande 
der Gelehrten Abhandlungen der II. Abtheilung der Kaiserl. Aka¬ 
demie der Wiss. St. Petersb. 1858, angenommen. Seiner Genesis 
nach erweist sich Kitowras dem Verfasser als der indische Gandarve, 
wie Pypin seinen Namen bereits aus d. gr. Kentauros gedeutet hatte. 
Ein Gandarve ist der Vater des Vikramadithya, die Gandarven rauben 
fremde Frauen oder helfen Andern Frauen rauben. Die Episode von 
der Entführung der Frau Salomo’s ist eine der populärsten im Cyclus 
der russischen Erzählungen von Salomo. % 

Seinen höchst anziehenden und von einer genauen Literaturkenntniss 
unterstützten Untersuchungen hat der Verfassen die breiteste Unter¬ 
lage gegeben, wie es der Gegenstand verlangt. Nachdem wir nun das 
Gebiet seiner reichhaltigen Untersuchungen in Kurzem angedeutet — 
auf sie näher einzugehen, erlaubt uns nicht der Zweck dieser Zeit¬ 
schrift, welche ein weites Feld zu übersehen hat und daher mit ihrem 
Raum sparsam umgehen muss — geben wir jetzt unseren Lesern die 
Ueberschriften der einzelnen Capitel des Buches: 19 Die Erzählungen 
von Vikramadithya (S. I—50). II. Die Jugend Salomo’s in den russi¬ 
schen Erzählungen. Seine Richtersprüche in den Legenden des 
Orients und Occjdents (51—104). III. Die Legenden von Salomo im 
Talmud und ihr Ursprung. Der Kampf mit dem Dämon und der 
Sieg. JDie Bezüge zur Vikramatscharitra: Asmodi-Mara, Die Ver¬ 
mittelung des Parsismus: Asmodi-Aeshma (105—127). Die Verbrei¬ 
tung der Legenden vcfti Salomo und Asmodi. Die muselmännischen 
Legenden und ihre Quelle. Die Quellen der europäischen Er rT 
Zählungen. Die Bedeutung der mittelalterlichen Secten für die Gerri 
schichte der Volksliteratur (128—208). V. Die slawischen Sagen von 
Salomo und Kitowras (209—244). VI. Salomo und Morolf (245—303), 
VIL Merlin (304—340). Dakini und die» Königin von Saba. 


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309 


Die Sage von Merlin und Arthur, die im Westen Europa’s in natio¬ 
nalem Gewände als heimathliche uns entgegentritt, betrachtet der 
Verf. als den letzten Nachklang’ des salomonischen Apokryphs. 
„Fürdiese Ansicht“, sagtHr. Wesselowski in derVorrede, ,,kann man 
mich der wissenschaftlichen Ketzerei zeihen, und es werden wohl 
nur Wenige sein, die eine solche Last mit mir theilen möchten. 
*) Denn die Romane der Tafelrunde, und unter ihnen auch der von 
Merlin, sind ja so lange und so nachhaltig für reine Aeusserungen 
des keltischen Nationalbewusstseins ausgegeben worden!“ Der Ver¬ 
fasser rüttelt nun sehr ernstlich an der keltischen Originalität der 
Sage von Merlin. Nach ihm beruht auch die Legende vom heiligen 
Graal auf einem Apokryph: dem Nekodemischen Evangelium. „So 
weit sind wir genöthigt, den Antheil der nationalen Phantasie der 
Kelten an dem Schaffen der sogenannten bretonischen Romane zu 
beschränken/ 4 heisst es in der Vorrede S. XVIII. Die Quellen einiger 
von ihnen erweisen sich dem Verfasser als dem Schriftenthum zuge¬ 
hörige ; er hält sie nicht einmal für volksthümlich in dem Sinne, als 
könnten sie irgend einer der europäischen Nationalitäten angehören. 
Sie kamen, seiner Ansicht nach, ebenso aus dem fernen Osten, wie 
die Salomo-Legenden, che. bei uns einer Umgestaltung unterworfen 
wurden. Es wird vom Verfasser zugleich auf die Umwandlung auf¬ 
merksam gemacht, welche der Geschmack und die Formen der Lite¬ 
ratur bei den romanischen und germanischen Völkern im XII. und 
XIII. Jahrhundert erfuhren. „Das alte Volksmärchen, die kirchliche 
Legende, an welche man so frommen Gemüthes geglaubt hatte — 
äussert Wesselowsky — genügten 'nicht mehr den Zwecken der ge¬ 
sellschaftlichen Satire und jenem realistischen Geiste, durch welchen 
das Leben der mittelalterlichen Städte sich auszeichnet. Anderer¬ 
seits könnte man nicht gut Roland, diesen ungeschlachten Liebhaber 
derOde, sanft wie Lancelot seufzen, auch nicht Olivier die nebelhaften 
Geheimnisse des Graal suchen lassen. Doch das Alles auszudrücken, 
war der Wunsch vorhanden, und so stellte sich denn das Bedürfniss 
nach einem neuen Inhalte für die Novelle ein. Je weniger nationale 
Eigenthümlichkeit die Stoffe derselben boten, je weniger sie an das 
nationale Alterthum sich anlegten, desto willkommener waren sie 
und desto freier fohlte man sich ihnen gegenüber. So entstand denn 
die Literatur der Fabliaux und Romane von Arthur und Merlin, von 
Lancelot und Ginevra. Mit ihnen treten wir in die zweite Hälfte des 
Mittelalters ein.“ 

Es ist selbstverständlich, dass in Untersuchungen, wie die hier be- 


*) Schon im Anfang der sechziger Jahre hat Felix Liebrecht in Th. Benfey’s Orient 
und Occident (Band I. 1862.) auf die ,, enge Verwandtschaft“ zwischen einer Erzählung 
ifi ‘dem altfranzösischen Romane vom Zauberer Merlin und einer anderen in Samadeva’s 
Indischem Märchenschatz hingewiesen. Auch von.Benfey ist die indische Abstammung 
derselben im J. 1858 angemerkt worden. Der Verfasser, dem die Aufsätze in dem 
I. Bande der,Zeitschrift ,,Orient und Occident“ entgangen zu sein scheinen, führt 
übrigens den Ausspruch Holtzmlnn’s an: „ Merlin , den man in einem orientalischen 

Buche gefunden und tum NationalhriUn adoptirt hatte . • 


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3io 


sprochenen, die Frage nach den Wegen, auf welchen die erwähnten 
Erzählungsstoffe aus Asien in den Osten und Westen Europa’s 
drangen, einen nicht geringen Räum beanspruchen darf. Der Verf. 
behandelt diese Frage eingehend an zwei Stellen seines Buches und 
berührt sie auch in der Vorrede. 

In den Salomo-Legenden des Talmud bekundet sich ihm ein Zu¬ 
sammenhang mit der indischen Vikramatscharitra. Dabei wird die 
Vermuthung ausgesprochen, dass, wenn nicht der ganze Inhalt der 
Vikramatscharitra in den biblischen Legenden des Talmud aufgegangen 
ist, ebenso in letzteren Züge sich erhalten haben können, welche in 
den auf uns gekommenen Redactionen der ersteren sich nicht vor¬ 
finden. Zu den Juden mussten die* Legenden von Vikramaditcha 
durch dhe Vermittelung Irans und des Parsismus gelangt sein. Indem 
der Verf. die Hypothese von den sehr frühen Berührungen (vom X. bis 
VIII. Jahrh. v. Chr. G.) der Iranier mit Semiten, welche von F. Spie¬ 
gel (in seiner Eranischen Alterthumskunde und auch früher) vertreten 
wird, bei Seite lässt, bleibt er bei den späteren Berührungen derselben, 
die thatsächlich nachweisbar sind, stehen. Aus dem Talmud haben 
die Muselmänner ihre Legenden von biblischen Personen, also auch 
die von Salomo: bei ihnen bieten sie sich nur in lebhafteren Farben. 
Der Thron Salomo’s erinnert an den Thron Vikramadithyas. 

Es fragt sich nun, ob für die russisch-slawischen Erzählungen von 
Salomo und Kitowras — bezüglich Porus — und die romanisch-ger¬ 
manischen von Salomo und Morolf (auch Marcolf) die Qyelle im Tal¬ 
mud zu suchen sei ? 

Als nächste Quelle dieser und jener erweisen sich dem Verf. die 
alttestamentlichen Apokryphe. Zu diesen gehört unter andern' das 
griechische Testamentum Salomonis. Im J. 496 wird auf dem römi¬ 
schen Concil in Rom eine Conlradictio (oder Interdictio) Salomönis vom 
Papste Gelasius zu den verbotenen Büchern gerechnet. Im X. bis 
XI. Jahrhundert wird wieder eines ähnlichen apokryphen Textes von 
Notker erwähnt. In Russland scheinen die bezüglichen Apokryphen 
schon früh bekannt gewesen zu sein. So verbietet ein Index des XV. 
Jahrh.: „Fabeln vom Könige Salomo und vom Kitowras/* Während 
der Verf. geneigt ist, den talmudischen Legenden einen gewissen An- 
theil an der Verbreitung der Erzählungen von Salomo in Europa zu¬ 
zuweisen, bemerkt er in letzteren zugleich eine Strömung von Mo¬ 
tiven, die dem Talmud fremd sind und die er als von den dualistischen 
Secten herrührend betrachtet, welche in das mittelalterliche Christen¬ 
thum religiöse Anschauungen und Legenden des arischen Orients 
brachten. Diese neu-manichäischen Secten berührten Byzanz früher, als 
das westliche Europa. Ihre dualistischen Lehren gelangten zum Aus¬ 
drucke in einer Reihe von Apokryphen, die dem Geiste des Dualis¬ 
mus entsprachen; in denselben fanden sich gleichfalls die Legem; 
den, die ausserdem auch einzeln, auf demselben Wege und unter 
demselben Einflüsse, nach Europa kamen und in Kurzem Boden ge¬ 
wannen, sobald sie, wie in Barlaam und Josaphat, in Bezug auf Namen 
und Begriffe christliches Gewand anlegtdn. 


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3 11 


Leider sind wir genöthigt, mit dieser kurzen Andeutung vom 
Gange der ausführlichen Untersuchung bei unserm Verfasser uns zu 
begnügen. Wir bemerken nur noch, dass er die Verbreitung der 
von ihm behandelten Erzählungen und Legenden, sowie ähnlicher 
Stoffe auf dem Wege des Schriftenthums vorgegangen sich denkt, 
und dass bei uns einige Stimmen sich haben vernehmen lassen, 
welche seine Ansicht von dem bedeutenden Antheil der er¬ 
wähnten religiösen Secten (die unter dem Namen der Bogumilen, 
Katharer. Bulgari u. s. w. bekannt sind) an der Verbreitung der orien¬ 
talischen Erzählungsstoffe im Occident bezweifeln. 

Am Ende seiner Vorrede (S. XX) stellt der Verfasser dem gelehr¬ 
ten Auslande eine Uebersetzung seines inhaltreichen Werkes oder 
einen Auszug aus demselben in Aussicht. Wir sind überzeugt, dass 
diese neue Arbeit des bewährten Forschers von -/Ölen; die auf seinem 
Gebiet tflätig sind, mit nicht geringerem, wenn nicht noch grösserem 
Interesse aufgenommen werden wird, wie seine Novelle della figlia 
del re di Dacia (Pisa 1866) und sein Werk yy ll Paradiso degli Alberti “ 
(4 Bde., Bologne 1867—1868). In letzterem hat er die gelehrte Welt 
mit einem von ihm in der Riccardiana zu Florenz aufgefundenen Ro¬ 
man, dessen Iphalt'zum Theil schon in einer im Jahre 1796 erschiene¬ 
nen Ausgabe von Novellen in mysteriöser Weise ausgebeutet wor¬ 
den war, bekannt gemacht. Später (1870) veröffentlichte er in Mos¬ 
kau eine russische Schrift über diesen Roman (unter dem Titel: 
Bujuia AjöepTH. — Villa Alberti. Neue Materialien zur Charakteristik 
der literarischen und socialen Revolution im Leben Italiens im XIV. 
und XV. Jahrh. XVIII und 380 S. 8°). 

Prof. Wesselowski, welcher, nach'beendigten Universitätsstudien 
1860 in Italien, Frankreich und Spanien, 1862—1868 in Berlin, Prag, 
Mailand, Pisa, Bologna, Florenz lebte und jetzt, nachdem er den Som¬ 
mer in Deutschland zugebracht, wieder in der letzterwähnten Stadt 
sich aufhält, kann bereits auf eine fruchtbare literarische Thätigkeit 
zurückblicken. Ausser den obenerwähnten grösseren Werken und ein¬ 
zelnen Correspondenzen in HaupPsZeitschrift für deutsch. Alterthum, 
Tichonrawow’s Annalen der russ. Lit. und Alterthtimsk., im St. Peters¬ 
burgerjournal des Ministeriums der Volksaufklärung, hat er Beiträge 
geliefert für die Bibliografia Italiana (1865: Ezzelini, Dante egli 
schiavi), die Civilta Ital. (1865: über die Griseldis des Boccaccio), das 
Ateneo Italiano (1866: De tradizioni pop. nei poemi d’Antonio Pucci) 
und die Rivista Bolognese (i86f: über Mussafia’s Studie über eine 
metr. Darst. der Crescentia-Sage). In russischen Zeitschriften hat er 
folgende, zum Theil grössere Aufsätze veröffentlicht: im „Boten 
Europa’s“ 1866: Dante und seine symbolische Poesie des Katholicis- 
mu^ f 1871: Giorgiano Bruni, 1872: über die russischen Vaganten, 
„Kfiliki,“ im Journ. d. Min. d. Volksaufkl. 1870: seine Antrittsvor¬ 
lesung in der hiesigen Universität „über die Methode und die Auf¬ 
gaben der Geschichte der Literatur als Wissenschaft,“ 1871: Neue 
Beiträge zur Legende von Peter und der Fewronia und die Sage von 


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$12 


Ragnar Lodbrok; in der „Unterhaltung“ („Beci^a“, einer seit zwei 
Jahren in Moskau erscheinenden Monats-Revue), 1872: Ein Beitrag 
zur Gesch. der Entwickelung der Persönlichkeit. Das Weib und die 
alten Liebestheorien. P. L. 


Russische Bibliographie. 


T paxorb, fl. H^Meitko-pyccKifl HayaHO-TexHHaeacifc cjioßapb. Cn6. 
in-8°, XIV + 10^7 CTp. (Grachow, J. Deutsch-russisches wissen¬ 
schaftlich-technisches Wörterbuch. St. Petersburg. 8°. XVI + 1067 S. 

EaÖHMHCKiö, T. BßeaeHie bi» Bbicmyio ÄHHaMHKy. Bapniaßa. in-8°, 

VI + 55 CTp. (BabtiChinsky, T. Einleitung in die höhere Dynamik. 
Warschau. 8°). VI + §5 S.). 

MaxapOBl, H. nojmuft <x>paHuy3CKo-pyccicift cjioßapb. Cn6. in-8°, 
385 — 552 CTp. (Makarow, N. Vollständiges französisch-russisches 
Wörterbuch, gr. 8°. 552 S.). 

P036H*b, BNKTOpi, öapoHi». /IpeBHe-apaßcKaa nossia h ea KpHTHKa. 
Cn6. in 8°j IV+ 81 CTp. (Rosen, Baron V. Die alt-arabische Poesie 
und ihre Kritik. St. Petersburg. 8 °. IV u. 81 S.). 

Medaillen auf die Thaten Peters des Grossen. Bearb. vonj. Iversen. 

St. Petersburg in-4 0 , XXVII 66 S. u. 12 Tafeln. 

Eomepsuioab, H. Ouepici» paaBHTia ncicyccTBi» bi» Poccin bi» uap- 
CTBOBaHie IleTpa Bejimcaro. Cn6. in-8°, 31 CTp. (Bosherjanow J. 
Abriss der Entwickelung der Kunst in Russland zur Zeit Peter des 
Grossen. St. Petersburg, 8°. 31 S.) • 

EotiopbiKMtTb, II. gft. TeaTpajibHoe ncayccTBo. Cn6. in-8°, 366+XXV 
CTp. (Boborykin, P. D, Die dramatische Kunst. St. Petersburg. 8°. 
366 + XXV S.). 

TleBeciarb, I”. M. McTopimecKifi oaepai» ^peBuecKaiUHHaBCKofl 
no93in cKajiÄOBi». Kießi». in-8°, 86cTp. (Lewestamm, H. M., historischer 
Umriss der altscandinavischen Poesie der Skalden. Kijew 8°. 86 S.) 

Ocokmui», H. riepßaa HHKBHanuia h söBoeBame JlaHroAoaa <t>paHuy- * 
saMH. Ka3aHi». in-8°, IV + 526 CTp. (Ossokin, fl. Die erste Inquisition 
und die Eroberung von Languedoc.durch die Franzosen. Kasan, 8°. 
IV+ 526 S.) 


"r Ir 


Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttge^U 


^oaBOJieHo neH3ypoio. il-ro oKTaßpa 1872 roAa. 
Buchdruckerei von Röttger & ScHNKiDER.'Newsky-Pros^ 




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r " • 1 ,' ' > , ’■ 

1 : • t 

• Bas Gouvernement Olonez und seine * 
Volks-Rhapsoden. 

Von • 

A. Hilferding. : 

(Schluss.) 

Beim Azoren unserer Volks-Rhapsody ißt man bcso^ ( ;i*rs dar 
rüber erstaunt ; in Wie hohem Grade von ^Anen Allen ausnahmslos; 
die Charactere 4er in den Byliny handelnden Personen treu gehalten 
werden. Diese Rhapsoden sind bei Weitem nicht Alle von gleichem, 
Werthe; eie bilden eine ganze Stufenleiter, von den grausamen Pfu¬ 
schern bis, zu den wahren, mit unzweifelhaftem Kunstgefühl be¬ 
gabten Meistern. . Eine Sammlung ihnen nachgeschriebener By- 
Iray kann man. mit einer Bildergalerie^ vergleichen, in welcher die¬ 
selbe Reihe von Gegenständen in einigen Zehnern von Copien sich 
wiederholt, angefangen mit den schönsten Zeichnungen und ge¬ 
schlossen mit den abscheulichsten Schmierereien. Wie die Zeich¬ 
nung aber auch sein mag, kunstvoll oder carikut, jede Physio^ 
gnornie bewahrt in dieser Galerie stets die Züge, welche ihren Typus, 
ausmachen. Kein einziges Mal tritt Fürst Wladimir aus der Rolle 
eines gutmüthigen, doch nicht immer gerechten Herrschers» welcher, 
selbst persönlich vollkommen machtlos ist; nie wird Uja von Murom.dem 
Typus einer ruhigen, sich selbst vertrauenden, bescheidenen, aller Affec- 
tation und Prahlerei baren» dessen ungeachtet aber Achtung für sich 
fordernden Kraft untreu werden; überall wird D % obrypja als die V,er- ; 
körperung der Höflichkeit und des Edelrauthes auftreten, Alqschai 
Popo witsch als die der Unverschämtheit und niedriger Gesinnung t 
und Tschurila als verliebter Geck; stets wird Michailo Pötyk ein 
flotter, von jeder Leidenschaft verführter Waghals sein, Stawr der 
einfältige Mann einer sehr klugen und treu ergebenen Frau, Wassilij 
IgUatjewitsch ein Säufer, der nur iy Augenblick der Gefahr sein 
Selbstbewusstsein gewinnt und dann zum Helden wird, Djuk Stepa-, 
nowitsqh ein prahlender Ritter, der die Vorzüge einer höhgren Civi^ 
lisation den Russen gegenüber zur Geltung bringt, u. s, w. Mit; einem 
Worte:, das Typische in den Personen unseres Epos ist in,solchen») 


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314 


Grade ausgebildet, dass jeder dieser Typen ein unveränderliches Ge¬ 
meingut des Volkes geworden ist. Dem Bauern des russischen 
Nordens, dessen Gedächtniss die epischen Dichtungen bewahrt, sind 
also nicht nur gewisse allgemeine unbestimmte Vorstellungen von 
den Helden dieser Dichtungen gegenwärtig, sondern auch die leben, 
digen Züge ihrer Charactere, Sonst würden unsere Byliny, in denen 
wir so häufig Entstellungen und äusserste Verwirrung der einzelnen 
Umstände de* erzählten Thaten antreffen, auch die Charactere der 
handelnden Personen entstellt und verwirrt geben. Dergleichen findet 
aber nie statt. Daher scheint es, dass bei der Erhaltung und Ueber- 
lieferung der epischen Stoffe, ausser der mechanischen Gedächt- 
nissthätiq^eit, im Volke au jh noch ein collectiver — wenn es erlaubt 
ist sich so auszudrücken*^ poetischer Tact mitwirkt. Einen weiteren 
Antheil hat erst das Gedächtniss. Und in der That, es bedarf einer 
bedeutenden Gedächtnisskraft, um Poeme, deren Hersageti zuweilen 
zwei bis drei Stunden Zeit erfordert, zu memoriren und ohne Stocken 
zu singen. In diesem Umstande birgt sich eine der Ursachen, woher 
die epische Poesie nyt der Verallgemeinerung der Kenntniss der 
Schrift und der industriellen Bildung im Volke schwinden muss: die 
epischen Dichtungen bedürfen eines unbelasteten Gedächtnisses, 
sie finden nur in einem Kof>fe Platz, der mit keiner Bücherweisheit 
angefiillt und mit keinen, vom Kampfe ums Dasein veranlassten Be¬ 
rechnungen beschäftigt ist. Das Gedächtniss ist die einzige Kraft, 
welche mit Bewusstsein von Seiten der Sänger fiir die Aneignung 
und Reproduction ihrer Rhapsodieen thätig ist. Einen Antheil der 
individuellen Schöpfungskraft, obgleich er ohne Zweifel vorhanden, 
vermuthet keiner der Rhapsoden. Aus dem Gespräch mit dem ersten 
besten Skasitel merkt man sogleich, dass ihm jede Autorschaft fremd 
ist: er bemüht sich gerade so zu singen, wie sein Vater, seih Gross¬ 
vater oder Lehrer sang. Ist seinem Gedächtniss etwas entfallen, so 
lässt er es entweder aus oder erzählt es in Prosa. Wie ausführlich 
ihm auch der Inhalt einer Episode .oder einer ganzen Bylina bekannt 
sein mag, er wird, sobald er ein Mal vergessen hat, wie sie gesungen 
wird, sich nie entschliessen können, sie rhythmisch wieder herzu¬ 
stellen, obgleich das bei der Einförmigkeit des epischen Styls ziemlich 
leicht scheint. Ich war Zeuge fies lächerlichen Fiasco, weichesein 
Bettler vom Wodl-Osero erlitt. Es war der blinde Anissim, der von 
Professioi*Sänger geistlicher Lieder ist: er hätte gern von mir Geld 
verdient, und als ich ihm sagte, dass ich nicht nach geistlichen Lie¬ 
dern suche, sondern nach Byliny, fing er ganz kaltblütig vom Uja y 


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3*5 


von Murom an zu singen; er sang aber lauter ungereimtes Zeug. *) 
Darauf gestand er denn, dass er nie Byliny gesungen habe und vom 
Hja von Murom nur in Prosa erzählen könne. Ein anderer Bauer, 
AmJrei Ssorokin, theilte mir mit, dass er, da er von Kindheit an ein 
Freund von Byliny gewesen, zuweilen versucht habe, ein oder’das 
andere Märchen in Form einer Bylfha zu singen, dass ihm das aber 
nie gelungen sei. Uebrigens weist dieser Versuch bei Ssorokin auf 
einen Trieb zu selbstständiger Autorschaft hin, der n^ht ohne Ein¬ 
fluss auf die von ihm gesungenen Byliny bleiben konnte. Und in der 
That habe ich bei Keinem ein so ungezwungenes Verhalten zum 
Text der Byliny, wie bei ihm, bemerkt. Als ich einst eine Bylina 
nachschrieb, die ich schon früher von Ssorokin gehört fci.tte, be¬ 
merkte ich ihm bei einer Stelle, *dass er fr&ler diese Episode anders 
gesungen habe: „Ach, das ist ja gleichgültig“, antwortete Ssorokin, 
„ich kann singen so oder anders, wie es Ihnen gefällig ist.“ Etwas 
Aehnliches habe ich nie von andern Skasiteli gehört. Dieser Nei¬ 
gung zum freien Dichten bei Ssorokin schreibe ich den eigentüm¬ 
lichen Character zu, durch den sich seine Byliny auszeichnen, so wie 
die unendlichen Anhäufungen, durch welche sie so überaus lang¬ 
weilig sind. **) 

Ssorokin ist eine Erscheinung, die einzig in ihrer Art ist Alle 
übrigen „Skasiteli“ behaupteten stets, dass das, was in ungebun¬ 
dener Rede erzählt wird, durchaus nicht im VersmaasS gesungen 
werden könne; wenn ich ihnen bemerkte, dass sie Etwas ausgelassen 
oder nicht richtig gesungen, so bemühten sich Einige, sich auf diese 
Stellen besser zu besinnen, Keinem aber kam es in den Sinn, die 
Lücke oder die Ungereimtheit durch eigene Dichtung auszufüllen 
oder zu verbessern. Gewöhnlich, wenn auch ein offenbarer Unsinn 


*) Der Verfasser führt hier einige Zeilen dieses Unsinns an. 

♦*) Herr Rybnikaw hat auf diese Eigentümlichkeit in den Byliny Ssorokin’s aufmerk¬ 
sam gemacht und dazu folgende Bemerkung gegeben: „Die Detailfülle, eine gewisse 
Brette, der Reichthum an Episoden, das Zusammenfassen mehrerer Byliny in eine — weist 
beim Sänger vom Ssum-Osero (es ist die Rede von Ssorokin) deutlich auf die Profession eines 
Skasitels hin, welcher einen Absteigehof hält; je länger die Byliny dauert, desto mehr 
Vortlieil für ihn, denn die gefälligen Zuhörer sind gerne bereit, ihn liegend bis zum 
späten Abend anzuhören.“ (Siehe Bd. IV, S. XXXVI der von Rybnikow herausgege- 
benen „Pjesni.*‘)Ich sehe mich veranlasst, den Fehler, den der geehrte Sammler, in Folge 
eines unwillkürlichen Missverständnisses, hier gemacht hat, zu berichtigen. Andrej Ssoro¬ 
kin war nieWirth eines Absteigehofea und war sogar sehr erstaunt, als ich ihn darum fragte. 
An dem Orte, wo er wohnt, giebt es gar keinen solchen Hof. Das Dorf Ssum-Osero ist aber 

21* , 


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nachgewiesen worden war, geschah es, dass der „Skasitel“antwortete: 
„so wird es gesungen.“ Ward ein Mal von einer Stelle gesagt, „so 
wird gesungen,“ sq galt das für heilig; an einer solchen Stelle durfte 
nicht gekrittelt werden. Fand sich in einer Byüna irgend ein unver¬ 
ständliches Wort, dessen Deutung ich verlangte, so wurde mir dieselbe 
auch dann gegeben, wenn das Wort zu den gebräuchlichen Provin¬ 
zialismen der Gegend gehörte; war aber das Wort dort nicht im Ge*- 
brauch, dann erhielt ich immer dieselbe Antwort: „so wird ge¬ 
sungen,“ oder: ,,so sangen die Alten, was es bedeutet, wissen wir 
nicht.“ Mehr als ein Mal geschah es, dass der ,,Skasitel,“ nachdem 
er yom Fürsten Wladimir irgend einen Vers, der mit sehr wenig 
Achtung seiner gedachte, * gesungen hatte, deshalb um Entschul¬ 
digung dannhiess es, ,,wir wissen selbst, dass es sich nicht schickt 
indieser Weise von einem Heiligen zu reden, was ist aber zu machen? 
so sangen die Väter, und so haben wir es von ihnen gelernt.“ Nur. 
dem Umstande, dass jeder Rhapsode sich für verpflichtet hält, die 
Byüna so zu singen, wie er sie gehört und seinö Zuhörer damit voll¬ 
ständig zufrieden sind, dass ,,so gesüngen wird“ und weiter keine 
Erklärungen verlangen, nur diesem Umstande ist es zuzuschreiben, 
dass in den Byliny eine solche Masse von alten, dem Volke unver¬ 
ständlich gewordenen Wörtern und Wendungen bewahrt werden 
konnte; aus derselben Ursache konnten auch die Sittenzüge einer; 
anderen Zeit, die nichts mit dem gemein haben, was den Bauern um- 
giebt, als wie Einzelheiten einer Bewaffnungs weise, die er nie ge¬ 
sehen, Naturbilder, die ihm völlig fremd sind, sich erhalten. Man 
muss in ünserm Norden gewesen sein, um ganz zu begreifen, wie 
ausserordentlich gross die in den Byüny sich äussernde Stetigkeit 
der Tradition ist. Wir, die wir unter nicht so hoch zum Norden rei- 


das einzige auf der ganzen Strecke von 60 Werst zwischen dem Dorfe Wodl-Osero und der 
Stadt Pudosh; daher sind Alle, die diesen Weg fahren, genöthigt, in Ssum-Osero zu 
übernachten und geniessen die Gastfreundschaft der Bauern dieses Ortes, unter Andern 
auch bei Ssorokin. Daher konnte Herr Rybnikow glauben, dass er einen Absteigehof 
halte. Uebrigt.ns ist nicht allein die Aufnahme von Durchreisenden keine Einnahme¬ 
quelle für Ssorokin, welcher nur vom Ackerbau lebt und mir nicht ohne Stolz die grossen 
Strecken von „Niwy“ ( Auen, Felder) zeigte, die er mit seiuen Händen gerodet, sondern 
auch der Umstand, dass er in einem an der grossen Landstrasse liegenden Orte lebt, 
konnte auf den Styl seiner Byliny keinen Einfluss haben, da er in.das Dorf Ssum- 
Osero bereits als volljähriger Knecht (er trat in’s Haus seines spätem Schwiegervaters 
ein) kam: geboren und aufgewachsen ist er in dem kleinen Dorfe Zenesliki bei 
Pudosh. 


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chenden Breitengraden leben, finden nichts Auffallendes an der im 
Helden-Epos geschilderten Natur, an diesen „feuchten Eicheri“ am 
„Pfriemengras“, an dieser „weiten freien Ebene,“ die die Decoration 
zu jeder Scene in einer Bylina liefern. Wir bemerken es nicht, dass die 
Erhaltung dieser Scenerie aus der Natur von den Ufern des Dnjepr in 
den Byliny der Transonega-Gegend ein eben solches Wunder des 
Volksgedächtnisses ist, wie z. B. die Erhaltung der Gestalt des „ro- 
then Wisents,“ der längst geschwunden, oder der Züge des Boga- 
tyrs mit einem Helm auf dem Haupte, mit einem Köcher aut dem 
Rücken, im Panzerhemd und mit der „Schlachtkeule.“ Hat jemals 
ein Bauer aus dem Transonega-Gebiet eine Eiche gesehen? Dieser 
Baum ist ihm eben so wenig bekannt wie mir und manchem Leser 
eine Banane. Weiss er, was Pfriemengras ist? Er hat von ihm 
nicht die leiseste Vorstellung. Hat er jemals in seinem Leben eine 
freie weite Ebene gesehen? Nein, denn eine freie, für das Auge un¬ 
übersehbare Ebene, auf welcher ein Reiter sein Pferd tummeln 
könnte, ist seiner Vorstellung völlig fremd: die Felder, die er sieht^ 
sind klein, meist mit Geröll oder Baumstumpfen bedeckt, kleine 
Flecken, die für den Ackerbau oder den Heuschlag bestimmt sind; 
sieht man irgend wo einen freien ebenen Platz, so ist es kein weites 
Feld für den dahinbrausenden Renner, es ist ein Moor, auf das kein 
Pferd und kein Mensch sich hinwagt. Der Bauer des Nordens fährt 
aber fort, von der freien weiten Ebene zu singen, als lebte er in 
der Ukraine. 

Jedoch es versteht sich von selbst, dass, ausser dem Vermächtniss 
der Tradition, die Byiina des russischen Nordens auch viel örtlich 
und persönlich Eigenthümliches in sich trägt. Wenn der „Skasitel“ 
singt, wie das edle Ross des Bogatyrs „über Moossümpfe sprang, 
kleine Seen zwischen den Füssen lies,“ dann schildert er ein Bild, 
wie es ihm seine Umgebung geliefert. Solcher Züge finden sich 
nicht wenige. Auch darf die besondere Umständlichkeit nicht unbe¬ 
merkt bleiben, mit welcher in unsern Byliny das Satteln des Rosses 
und die Ausrüstung des Schiffes geschildert werden; freilich können 
diese Bilder nicht zu den aus der Fremde in die Byliny des Nordens 
herübergetragenen gerechnet werden; wenn aber namentlich das 
Satteln des Pferdes und die Ausrüstung der Schiffe in ihnen ausführ¬ 
licher und so zu sagen mit grösserer Vorliebe als andere Vorgänge 
in ihnen beschrieben werden, so könnte das seinen Grund 
darin £aben, dass von allen den Bogatyri zugeschriebenen Hand¬ 
lungen der Bauer des russischen Nordens mit dem Satteln des Pfer- 


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318 


des und der Ausrüstung des Schiffes besonders vertraut ist. Hat er 
eine Reise anzutreten, so muss er entweder das Pferd satteln, oder 
das Segelboot rüsten. Eben so glaube ich, dass es dem Einfluss der 
localen Lebensbedingungen zugeschrieben werden muss, dass im 
Olonezer Lande * zugleich mit dem Bogatyr-Manne die Gestalt der 
Helden-Frau, der Poljaniza (nojuraima) sich erhalten hat. Diese Vor¬ 
stellung ist uns so sehr fremd, dass, als in Moskati der erste Band 
der von Rybnikow gesammelten Lieder herausgegeben wurde, selbst 
dortige Gelehrte nicht begriffen hatten, was Poljaniza bedeutet, wie 
die Anmerkung der Herausgeber zu diesem Worte zeigt (S. 27): 
„naJieHHU.a, nojieHHi^a, nojunraua: yAajiaa rojioßa, htö pucKaenb no 
nojuo paAH noABHroBi> << *) (d. i. „poleniza, poleniza , poljaniza: ein küh¬ 
ner Mann, der über Ebenen (nojie Ebene) streife, um Abenteuer zu 
suchen“). Indessen im nördlichen Theile des Olonezer Gouverne¬ 
ments, am Wyg-See, am Wodl-See, in den Uferlandschaften von 
Powenez und Pudosh wird jeder Bauer Euch bestimmt sagen-, dass 
in alter Zeit Heldenthaten eben so vonFrauen wie von Männern ausge¬ 
führt wurden, und dass, ebenso wie die Männer Bogatyri hiessen, die 
Heldenfrauen Poljanizi genannt wurden. Das hörte ich mehr als 
zehn Mal. „Was ist das eine Poljaniza?“ fragte ich unter Andern den 
Sänger vom Wodl-Osero, Nigoserkin^ voraussetzend, dass ich ihn 
durch diese Frage in Verlegenheit bringen würde, da er seit Kurzem 
und zufällig einige Byliny seinem Gedächtniss eingeprägt hätte: 
„Sehen Sie,“ sagte er, „in früherer Zeit haben auch Frauen gekämpft, 
sie zogen in den Krieg eben so wie die Männer, das nennt man bei 
uns auf dem Dorfe Poljaniza“ **) 

Ich will mich weiter in keine Hypothesen über die Heldenfrauen 
in unserm Epos einlassen, und die Frage nicht weiter erörtern, ob 
sie mit den Amazonen, von welchen die Schriftsteller unter den 
Völkern der Pontus-Gegenden reden, oder mit den kriegerischen 
Jungfrauen der czechiscfyen Legenden in irgend einem Zusammen¬ 
hänge stehen j auf welchem Wege die Gestalt der Heldenfrau sich 

*) Eine eben so unrichtige Erklärung findet sich auch in Dahl’s Wörterbuch (B. flajtn 
TojikobHÄ Gnosapb »CHBaro BejiHKopyCcKarO gSbixa, d. iVW. DahCs erklärendes Wör¬ 
terbuch der lebenden grossrussischen Sprache, in 4 Bänden. Moskau 1863 — 1866): 
noARnnifa — yaaJibUbi, BaTara wa^yHOBT,, Hai>3AHHKn, paaöotHHKH, nojteuuifa yda - 
Ad* — uiaüKa, BOJibHmxa, d. i. poljaniza — verwegene Leute, Horde von Freibeutern, 
Raubritter, Räuber, poleniza — Rotte, Freibeuter. Anmerk . d. Verf. 

**) Wir unsererseits halten uns durch die Angaben der Olonezer Bauern n^h nicht 
für berechtigt, die von Dahl und Andern gegebene Erklärung dieses Wortes, die ihm 


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319 


auch ausgebildet haben mag, — zu ihrer Erhaltung im lebendigen 
Bewusstsein des Volkes haben zweifellos die gesellschaftlichen Ver¬ 
hältnisse im nördlichen Theile des Olonezer Gouvernements mitge¬ 
wirkt. In diesen Gegenden wird von dem Weibe nicht allein dieselbe 
Betheiligung an der physischen Arbeit wie vom Manne, sondern auch 
dieselbe Unerschrockenheit und Kühnheit verlangt. Hier muss das 
Weib im Stande sein beim Sturme zu rudern oder das Boot zu 
steuern, hier muss es im herbstlichen Unwetter die Netze ziehen, im ^ 
winterlichem Schneegestöber als Fuhrmann sich zum Weissen Meere 
begeben können. Indem der Bauer dieser Gegenden im Bogatyr 
männliche Kraft und Kühnheit verkörperte, konnte er ihn nicht von 
dem gleichen weiblichen Heldentypus trennen. Deshalb erhielt sich 
hier in so deutlichen Formen der Begriff von der Poljaniza , der in 
andern Gegenden Russlands erblasste. Deshalb hört man in Kishi 
und am Ken-Osero als Antwort auf die Frage nach der Bedeutung 
des Wortes noj 9 Jtuu$fa y entweder: dass es dasselbe was Bogatyr be¬ 
deute, oder dass damit Kämpfer einer niedrigen Gattung bezeichnet 
werden, oder, man erhält endlich zur Antwort: „so wird gesungen — 
Poljaniza, was es aber heisst, wissen wir nicht/' 

Ausser örtlichen Einflüssen macht sich in der Bylina auch die Per¬ 
sönlichkeit ihres Sängers geltend. Der Antheil des letzteren an der 
Bylina ist sehr bedeutend, viel bedeutender als man vermüthert sollte, 
nachdem man von den Rhapsoden gehört, dass sie die Byliny ganz 
so sängen, wie sie sie von den Alten überkommen haben. Am Ken- 
Ösero traf ich mit zwei sehrbemerkenswerthen,,Skasiteli“ zusammen, 
welche ihre Gesänge von einem und demselben Lehrer erhalten hatten*, 
das waren Iwan Ssiwzew, genannt der Pörom’sche, der das Singen 
von Byliny bei seinem Vater erlernt hatte, und Peter Woinow, der 
Schüler desselben Alten aus Pörom, bei dem er als Knecht gedient 
hat Vergleicht man die beiden nachgeschriebenen Byliny, sö merkt 
man bald, dass die des Einen und des Andern im Inhalte sehr viel 
Uebereinstimmendes haben, in der Einzelausfuhrung und in der Aus- 

meist einen Collectiv-Begriff xuschreibt, zurück zu weism. Namentlich spricht fiir diesen 
die für das fragliche Wort am Nächsten liegende Ableitung von noAftna Feld,\ Ebene: 

Die Erklärung, welche dem Verfasser von nordrussischen Bauern gegeben wurde, kann, 
obgleich ihm von Mehreren, (übrigens nicht einstimmig, wie später zu sehen) gegeben, 
dennoch Unbegründet sein. Sie erkläten das Wor^ so gut sie es konnten, wie sie sich 
eben den Sinn des ihnen nur aus den Byliny bekannten, im Leben sonst unbekannten 
Wortes deuteten. Äüdem sagt ja der Verfasser selbst, dass der Bauer jener Gegend nie 
eine freie, weite Ebene gesehen hat. Anmerk . d. Webers. 


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3*o 


drucksweise aber sehr von einander abweichen. Dieselbe Verschie¬ 
denheit ist in den Byliny, die Andrei Gussew singt, welcher eben* 
falls am Ken-Osero lebt, von denen seines Sohnes Charlata Gussew, 
die desselben Inhalts sind, zu bemerken. 

Mankänn sagen, dass in jeder Bylina zweierlei Arten Bestandteile 
sind: erstens typische Stellen, die grösstentheils beschreibenden Cha- 
racters sind,' oder Reden enthalten, welche den Helden in den Mund 
gelegt werden, und zweitens, veränderliche Stellen, welche die typi¬ 
schen mit einander in Verbindung bringen und die Erzählung des 
Ganges .der Begebenheiten bringen. Die ersten von ihnen kennt der 
„Skasitel“ wörtlich und singt sie unverändert, so oft er die Bylina 
auch singen möge; die veränderlichen werden also nicht meiporirt, 
nur ihr allgemeines Gerüst ist dem Gedächtniss des Sängers gegen¬ 
wärtig, so dass jedes Mal, wo er die Bylina singt, er dieselbe auch 
dichtet, indem er bald Zusätze macht, bald Kurzungen vomimmt, 
oder die Ordnung der einzelnen Verse, so wie die Ausdrücke sölbslt 
ändert. Int Munde der besten „Skasiteli,“ welche oft singen, und so 
Zusagen, einen beständigen Text‘sich zurecht gelegt haben, be¬ 
stehen diese Abweichungen freilich in sehr imwesentlichen Varir 
anten;- hat man aber einen „Skasitel“ vor sich, dessen Gedächtniss 
weniger treu ist, oder welcher Byliny lange nicht gesungen hat, so 
.muss man, ' wenn man ihn zwei Mal hinter einander dieselbe Bylina 
hat vortragen lassen, über die grosse Verschiedenheit sich wundem, 
welche beide Redactionen, ausser den typischen Stellen, bieten. 

Diese letzteren haben bei jedem Sänger ihre Besonderheiten* und 
jeder „Skasitel“ gebraucht eine und dieselbe typische Stelle, sobald 
nur die Gelegenheit sich dazu bietet, manches Mal sogar nicht am 
Platze, indem er sich an dieses oder jenes Wort anhaftet. Daher 
bieten alle von einem und demselben „Skasitel“ gesungenen Byliny 
eine Menge gleicher und völlig übereinstimmender Stellen, Selbst 
wenn die Byliny in Bezug auf den Inhalt mit einander nichts gemein 
haben. Auf diese Weise spiegelt sich vorzugsweise in diesen, hief 
in Rede stehenden ‘typischen Stellen die Persönlichkeit des „Ska- 
sitels“ wieder. Jeder von ihnen greift aus der Masse der fertigen 
epischen Bilder einen mehr oder weniger bedeutenden Vorrath 
heraus, je nach der Stärke seines Gedächtnisses, und nachdem er ihn 
demselben eingeprägt, benutzt erihngleichmässigfuralle seine Byliny. 
JBei zwei Rhapsoden, Iwan Fenopow und Potäp Antonow, zeichnen 
sich die Bogatyri durch besondere Gottesfurcht aus: sie thun be¬ 
ständig nichts als: beten; von ihnen ist nun, wie erwähnt worden* 


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Fenopöw eift „Kalika^* also ein Sänger geistlicher Lieder von Pro¬ 
fession, — Antonow aber, obgleich er ein Landbauef, hatte seine 
Byliny von einem „Kalika“ von Profession, der jetzt verstorben, ge¬ 
lernt. Auf diese Weise haben auch ihre Byliny eine gottesfürchtige 
Färbung erhalten. . 

Die hier mitgetheilten Beobachtungen drängten sich mir von selbst 
atif, während ich unsere „Skasiteli“ anhörte und ihre Rhapsodieen 
nachschrieb. Dabei gewann ich die Ueberzeugung, dass die gesam¬ 
melten Byliny, bei der Herausgabe, nicht nach dem Inhalte, sondern 
nach den „Skasiteli“ geordnet werden müssen. Freilich hat eine 
solche Anordnung manches Missliche, und ich selbst bin bereit an- 
zuerkennen, dass bei einer abschliessenden, vollständigen Ausgabe 
unserer epischen Lieder, eben so wie bei einer gereinigten Ausgabe 
ausgewählter Byliny, die ern Bedürfoiss ist, die Anordnung nach den 
Gegenständen gemacht'werden muss, w^ei eine Auswahl von Vari¬ 
anten zu geben wäre. Doch zu einer vollständigen Ausgabe ist die 
Zeit noch nicht gekommen; eine Chrestomathie herauszugeben ist 
aber nicht meine Absicht. Ich halte die epischen Lieder, welche sich 
bei unserem Volke erhalten haben, in dem Maasse für werthvoll für 
die Wissenschaft, dass sie Ausgaben aller Arten verdienen; bei der 
Mittheilung des rohen Materials—als solches erweist sich die Samm¬ 
lung der von mir nachgeschriebenen Byliny — bietet die Anordnung 
nach den Rhapsoden dm Vortheil, dass bei ihr die Frage nach den 
Beziehungen des persönlichen Schaffens zur Tradition in. den 
Byliny leicht aufgehellt werden kann. Von diesem Gesichtspunkte 
aus erhält Vieles einen Werth, was sonst einer Beachtung unwerth 
erscheinen möchte. So finden sich in meiner Sammlung zwei sehr 
schlechte Varianten von der bekannten Bylina von der Abfahrt des 
Dobrynja*'Nikititsch und von der erfolglosen Werbung des Alescha 
Popowitsch um dessen Frau. In einer dieser Recensionen wird am 
Ausführlichsten beschrieben und besonders herausgekehrt die Sorge 
Wladimir’s, dass die Dienerschaft keinen Fremden zur Hochzeitsfeier 
des Alescha zulasse, so wie die Unterhandlungen Dobrynja’s mit den 
Dienern Wegen seines Einlasses, — mit einem Worte: zum Centrum 
der Handlung ist die Vorhalle gemacht. In der andern Variante er¬ 
lässt Wladimir, um Dobrynja’s Frau zur Ehe mit Alescha zu zwingen, 
das Gesetz, dass aus Kijew alle Wittwen und Frauen bhne Pass ent¬ 
fernt werden, und droht der Nastassja mit diesem Gesetz. Kann es 
etwas Ungereimteres als diese Varianten geben? Indessen ist die 
e^te ! \ron ibheh öhataeterisfisch für die Persönlichkeit des Sänger^; 


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322 

es wanetn junger Mann, der als Burlak am Kanal verweilt, dann das 
von ihm dort erworbene Geld in St. Petersburg auf dem Heumarkt 
durchgebracht hatte, darauf bei einem Kaufmann in den Dienst ge¬ 
treten und erst unlängst in sein heimathliches Dorf zurückgekehrt 
war, wo er nun Landbauer wurde. Aus der Zahl aller mir vorge¬ 
kommenen Sänger von Byliny hatte dieser sich am Meisten in der 
Lakaien-Sphäre bewegt. Daher sind die Helden seiner Bylina auch 
Lakaien. Diejenige dagegen, in welcher von den passlosen Wittwendie 
Rede ist, giebt ein Zeugniss davon, wie Ereignisse, von denen das 
Volk betroffen wurde, ihre Spuren in den Byliny hinterlassen haben. 
Diese Variante, die ich nur am Wodl-Osero gehört habe, enthält die 
Erinnerung an die in den fünfziger Jahren vorgenommene Austrei¬ 
bung aller Wittwen und Mädchen aus den Zufluchtsstätten (Sfo’ty) 
der Raskolniki in Danilow und an der Leksa (d. i. einige hundert 
Werst vom Wodl-Osero), welche dort ohne Pass lebten. 

Jede Bylina enthält in sich wie das Erbe der Väter so auch die per¬ 
sönliche Beisteuer des Sängers; ausserdem trägt sie noch ein locales 
Gepräge. So viel ich urtheihsn kann, müssen die Sänger im Olonezer 
Gouvernement, nach den Oertlichkeiten, in zwei grosse Gruppen 
getheilt werden, von denen jede wieder ihre Unterabtheilungen hat. 
Diese beiden Gruppen könnte man in St. Petersburg die Onega - und 
die Transonega-Gruppe nennen, weil die erste die Gegenden, welche 
am Onega-See liegen, die andere die jenseits desselben, nördlich und 
östlich von ihm liegenden umfasst. 

Die zweite Bezeichnung würde aber Missverständnisse veranlassen, 
weil vom Volke unter Transonega-Gebiet ( 3 aoneo/cae) etwas ver* 
standen wird, was dem Sinne, den wir dieser Bezeichnung eben un¬ 
terlegtön, diametral entgegengesetzt ist. Saoneshje — 3aoueo9Cbe 
ward von den Russen, als die Colonisation in diesem Lande in der 
Richtung von Osten nach Westen statt fand, die grosse Halbinsel 
genannt, welche in den Onega-See von dem diesseitigen (westlichen) 
Ufer sich hineinzieht. Wir müssen uns also nach einer andern Be¬ 
zeichnung umsehen: ich will diese Gruppe in Beziehung zur Onega- 
Gruppe die nordöstliche nennen, da sie die Umgegenden von Wyg - 
Oseroy Wodl-Osero, Ken-Osero und Moscha umfasst. 

Die Onega- Gruppe ist durch den grösseren- Umfang ihrer Byliny 
characterisirt, die . nord-östliche hingegen durch deren Gedrängtheit 
Beide .Kennzeichen treten wie in der Anlage der Rhapsodieen selbst, 
so auch im Bau ihrer Verse uns entgegen. Am Onega zeichnen sich 
die Byliny durch eine Eigenschaft aus, welche auch Horaz den epi- 

% 


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323 


sehen Gesängen zuschrieb, nämlich durch die Länge: die age tfngum y 
Calliope, rnelos. Dort hört man Byliny von tausend und mehr Versen 
und ist eine Neigung der Sänger zu einem langen (sieben-, acht- und 
neunfüssigen) Verse wahrzunehmen, ausserdem häufiger Einschub 
von Partikeln. Im Nord-Osten dagegen herrscht der kurze, fünf- oder 
sechs-fiissige Vers vor, die eingeschobenen [Partikeln wuchern hier 
nicht; Wiederholungen, die im Munde der Onega-Sänger so viel zur 
Verlängerung ihrer Byliny beitragen, sind hier viel seltener, der 
Gang der Erzählung ist lebendiger und weniger durch Einzelheiten 
• getrennt, so dass wenige Byliny zu drei- bis vierhundert Versen an-- 
wachsen. Es versteht sich von selbst, dass es auch am Onega kurze 
Byliny giebt und bei den „Skasiteli“ vom Wyg- und Ken-Osero 
solche Vorkommen, die sich durch ihre Länge auszeichnen: ich rede 
jedoch vom allgemeinen, vorherrschenden Typus, und in dieser 
Beziehung, ist die Verschiedenheit beider Gruppen eine sehr 
bedeutende. 

Ich wende mich jetzt den Unterabtheilungen der Hauptgruppen 
zu. Während meines Verweilens auf der, Saoneshje genannten Halb¬ 
insel hörte ich, dass das Volk dieselbe auf Grund einer alten Tra¬ 
dition in drei Theile theile: Kishi, Tolwid und Schunga . Kishi ist 
der südwestliche Theil der Halbinsel,das heisst unterdieser Benennung 
fasst man die Pogoste (Kirchspiele) Ssennogubskij, Kishskij, Weliko- 
gubskij, Jandomoserskij Und Kossmoserskij zusammen - r Tohwri ist die 
allgemeine Benennung für den östlichen Streifendes Saoneshje, d. i. 
die Pogoste Tipenitzkij,Kusarandskij, Wyro*erskij,Tolwuiskij, Foimo- 
gubskij; Schunga endlich heisst der nordwestliche Winkel des Sao¬ 
neshje. Von der letztem Gegend kann ich nichts sagen, da ich dort 
nicht gewesen bin und gehört habe, dass daselbst schwerlich Byliny 
anzutreffen wären; ich bin aber, sehr erstaunt gewesen, wahrzu¬ 
nehmen, dass, während Kishi und Tolwui weder durch eine natür¬ 
liche noch eine administrative Grenze von einander geschieden sind, 
sondern nur auf Grund der Tradition von einander getrennt gedacht 
werden, die Sänger des einen und des andern Gebietes durch die 
Art und Weise, wie sie ihre Byliny geben, sich völlig unterscheiden. 
Zugleich ist die Tolwuische Gesangsweise vollkommen übereinstim¬ 
mend mit der, welche man am gegenüberliegenden, nordöstlichen 
Ufer des Onega-Sees, im Kreise Powenez, bis zur Wasserscheide 0 


d. i zwischen Onega- und Wyg-See. Anmerk, d, Uebers, 


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324 


beimlforfe Masselga bemerkt. Deshalb glaube ich, könnte man die 
Onega-Rhapsoden, so zu sagen, nach zwei Schulen unterscheiden — 
die Schule von Kishi und die von Tolwui-Powenez. Dass diese Un¬ 
terscheidung keine ganz willkürliche sei, kann ich mit dem Zeugniss 
der Bauern bekräftigen. Im Pogost Pudosh, im Dorfe Gorka, stehen 
neben einander die Häuser zweier merkwürdiger Skasiteli: des Abram 
Jewtichijew (genannt Butylka), dessen ich früher erwähnte, und des 
Peter Lukin Kalinin. Ersterer begleitete mich aus Petrosawodsk, bei 
Letzterem kehrten wir als Gäste ein. Als Kalinin eine lange Bylina 
*von Dobrynjuschka vortrug, bemerkten der Eigenthümer und die* 
Ruderer meines Bootes, welche gewohnt waren, den Abram zu hören: 
„wie sonderbar, beide sind zwei so nahe Nachbarn und bringen die 
Byliny so verschieden!“ Abram Jewtichijew erklärte uns das gleich 
darauf: „Peter Lukin, sagteer, hat die Byliny von seinem Vater, 
und ich von dem meinigen; mein Vater ist aber kein Hiesiger, er 
stammt aus Kishi, von Kossmosero, und wandert e mit mir auf den 
Pudosh’schen Berg, als ich bereits 20 Jahre alt war; daher singe ich 
auch die Lieder wie die Einwohner von Kishi, und nicht wie die 
hiesigen.“ Worin besteht nun der Unterschied dieser beiden 
Schulen? Freilich in sehr feinen Zügen, die aber, so zu sagen, das 
Colorit der ganzen Rhapsodie ausmachen, und zwar in den beständig 
eingeschobenen Partikeln, die gewissermaassen unserm epischen 
Verse als kleine Stützen dienen, ähnlich, den homerischen Partikeln 
äga y av , 8$, drj * u. a. 

In Kishi dienen als sol<ihe Partikeln — ausser den allgemeinen ge¬ 
bräuchlichen da (ja), a (und, aber), u (und), xu (ob) — gewöhnlich: 
Kam (wie), efbdb (denn), de (halt); bei den Sängern in Tolwui findet 
man weder Kam, noch efbdb , noch de als einfaches Einschiebsel ge¬ 
braucht; sie stützen den Vers mit ,den Partikeln HbtHb oder uyub 
(nun), otce (aber), 6uxo (es geschah) und ec mb ode e (ist). Diese letzte 
(ecnth , oder das verkürzte e) wird grösstentheils bei dem Präteritum 
gebraucht* so dass sie gewissermaassen als Ueberrest einer alten 
Form der Präteritum-Bildung erscheint; da aber nun der Sinn dieses 
hinzugfefügten „ ecntb “ oder*,,*“ sich verloren hat, so benutzten die 
Skasiteli es einfach des Versmaasses wegen. 

Von der Powenez-Tolwui’schen Schule, eben so von der von Kishi, 
jedoch von der ersten weniger als von der letzten, unterscheiden sich 
die Byliny, welche ich auf dem östlichen Ufer des Onega, näher zu 
Pudosh hin, gehört habe. Allein in dieser Gegend fanden sich der 
,,Skasiteli“ nur vier, von denen ein Jeder seine sehr auffallenden Ei- 


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3?5 


genthümlichkeiten hatte. Dieser Umstand findet seine Erklärungen der 
Verschiedenheit der Quellen ihrer Byliny. Nur bei Einem von ihnen, 
bei Ssorokin, sind sie localen Ursprungs; der Andere, Iwan Fe- 
ponow, hat die Byliny, die er kennt, am Fluss Onega erlernt; zu dem 
Dritten, Potap Antonow, sind sie aus dem Kreise Wytegra gelangt; 
endlich werden von Nikifor Prochorow Byliny gesungen, welche 
ebenfalls aus einem sehr entfernten Orte eingeführt sind (sein Vater 
hat sie erlernt, als er als Hirte bei einem Gutsbesitzer lebte, folglich 
stammen sie jedenfalls nicht aus der Nähe von Prochorow’s Geburts-t 
ort, weil es dort keine Edelhöfe giebt.) So kann man, diese vier 
Sänger, der Oertlichkeit nach, unter einer Gruppe zusammenfassen, 
sie aber nicht zu einer Schule rechnen. 

Was die nqfdostlicke Haupt-Gruppe betrifft, so habe ich in ihr ei¬ 
gentlich keine Verschiedenheit im Bau der Byliny je nach den ein¬ 
zelnen Oertlichkeiten bemerkt. In allen zu dieser Gruppe gehörenden 
Gegenden, am Wyg, am Wodl und atg Ken, ist die Manier der 
„Skasiteli“ eine und dieselbe, — man findet dieselben kurzen Verse, 
dieselbe Gedrängtheit in der Erzählung, dieselbe verhältnissmässige 
Genügsamkeit im Gebrauch der Einschiebsel-Partikeln. Nichts dest# 
weniger halte ich es für nothwendig die nordöstliche Gruppe in geor, 
graphischer Beziehung nach dem Wyg-, dem Wodl- und dem Ken- 
Osero zu unterscheiden, denn diese Gegenden bieten Abweichungen, 
nicht im Bau der Byliny, sondern ihren Gegenständen nach. Am 
Wyg-See werden dieselben Helden besungen wie artf Onega, die all¬ 
bekannten Ilja von Murom, Dobrynja, Tschurilo u. s. w.; ausserdem 
noch Dunai Iwanowitsch, Stawer Godinowitsch, Djuk Stepano- 
witsch, der reiche Kaufmann Ssadko. Am Ken-Osero singt man von, 
den vier letzten gar nicht; von Stawer und Dunai hat man dort auch 
nicht gehört; dafür sind die Sagen von Ilja von Murom und Tschurilo 
hier zahlreicher, besonders haben die Lieder vom Ilja bei den „Ska¬ 
siteli“ vom Ken-Osero eine so überwiegende Bedeutung, wie sie am; 
Onega nicht zu bemerken ist; ausserdem werden am Ken einige 
Byliny gesungen, die in andern Gegenden gänzlich unbekannt sind. 
Die Wodl-Osero-sche Gruppe hat durchaus keine bestimmte ausge¬ 
prägte Physiognomie, weil, wie oben bemerkt wurde, die epische 
Poesie dort erst anfängt heimisch zu werden, indem sie von verschie¬ 
denen Seiten eingeführt wird. Endlich, in der letzten der Gegenden, 
die ich zu der nördlichen Hauptgruppe zähle, — an der Moscha, 
giebt es gar zu wenig*Ueberreste der epischen Poesie, als dass man 
über ihren Character urtheilen könnte. Grösstentheils sind die Byliny, 


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326 


dort A prosaischen Erzählungen in der Form von Märchen, gewor¬ 
den; an der Moscha ist nur ein bemerkenswerther Sänget geblieben, 
das ist Schwezow. Seine Byliny unterscheiden sich ziemlich auffallend 
von denen am Ken-Osero, und da die Moscha-Gegend, den Natur¬ 
verhältnissen nach, zunächst mit dem Kreise Schenkursk des Gou¬ 
vernements Archangel zusammen hängt, so könnte man voraussetzen, 
dass auch in Bezug auf die Poesie der Byliny sie einen Theil der 
Gruppe von Schenkursk ausmacht; doch fehlt mir in Betreff der 
Kenntniss des letzteren jede Autopsie. 

Indessen ist zu bemerken, dass die Ken-Oser’schen und Moscha*- 
schen Byliny von allen übrigen sich durch ihren Dialect unter¬ 
scheiden. Am ganzen Onega, eben so am Wyg und Wodl, herrscht 
der nordrussische Dialect vor, in welchem da s,o stetg rein ausge¬ 
sprochen wird, ohne Uebergang in a und der Genetiv auf a&>, oeo * 
wird ausgesprochen, wie wir ihn schreiben; dabei ist die bei denNow- 
gorodem gewöhnliche Neigung des n zum /-Laute und des y zum v- 
Laute zu bemerken, doch sind die Fälle dieser Abweichungen selten 
und nicht durchgehend: gewöhnlich tritt ein Mittel-Laut auf, dessen 
Wiedergabe schwierig ist. So wird man sehr selten hören: Suauü 
cmme (weisses Licht, Tageslicht), MOJiodeHb (junger Bursche), meist 
hört man nicht ganz ötuiuü ceunts f Mojiodenb und auch nicht ganz 
G*Abtü centns, MOAodetfs, sondern etwas zwischen beiden Aussprachen 
Liegendes *). ^ 

Von WodhOsero bis Ken-Osero fährt män 90 oder 100 Werst auf 
sumpfartigen Flüssen, durch eine vollständig menschenleere Gegend; 
in der Mitte dieser Wasserstrasse ist ein „Wolok“ **) von fünfWerst 
Länge mit einem Dorfe. Derselbe bildet die Wasserscheide zwischen 
dem Baltischen und Weissen Meere. Hat man den„Wolok“ passirt, 
bemerkt man gleich eine; gewisse Veränderung der Mundart: y wird 
rein ausgesprochen, n nimmt sehr selten die Färbung, des *- 
Lautes an, e wird im Genetiv zu <?, namentlich in kurzen Wörtern, 
wie moeOy ceeo i neeo u. s. w. 

Dieselbe Aussprache ist auch an der Moscha bemerkbar; weiter 
auf dem, Wege von dieser zur Stadt Welsk (im Gouvernement Wo- 

•) Ueber die dialectischen Verhältnisse inOlonez, sieheLeskien’s Aufsatz im VI. Bande 
der Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung auf dem Gebiete der Arischen, Cel- 
tischen und Slawischen Sprachen, ausgegeben von A. Kuhn. (Berlin 1870), S. 1.52 bis 
187. Derselbe ist nach Rybnikow’s Material gearbeitet Anmerk . d Uebers. 

## ) ^Wolok' 4 heisst eine Landstrecke die zwischen 2wei Flüssen liegt, also die Un¬ 
terbrechung einer Wasserstrasse bildet. Anmerk. d. Uebers . 


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m 

logda) fährt man durch eine ändere sumpfreiche Einöde, welAie die 
Gewässer, die dem Onega-Fluss zufliessen, von den Zuflüssen der 
nördlichen Dwina scheidet. An diese Wasserscheide knüpft sich 
wieder eine Veränderung der Mundart: der Gebrauch des 0-Vo- 
cals wird seltener, die Endung aeo wird häufiger zu aeo 9 die Färbung 
des n als *-Laut schwindet ganz, und es ist interessant, dass mit 
der Veränderung in der Mundart auch eine andere, in den öcono- 
mischen Verhältnissen, zusammenfällt. Bis zu dieser Wasserscheide 
liegt der Schwerpunct des öconomischen Lebens entweder in St. Pe¬ 
tersburg oder Archangelsk; zu Moskau ist nicht die geringste Be¬ 
ziehung, wenn man einige reiche Handelsleute ansnimmt, welche den 
Jahrmarkt in Nishnij-Nowgorod zu besuchen pflegen; hinter dem 
sumpfreichen „Wolok“, welcher die Moscha-Gegend von der Put¬ 
schen trennt, erscheint schon Moskau als das dem Volke am Mei¬ 
sten bekannte öconomische Centrum, während St Petersburg 
zurücktritt • 

Ich will nun nach dieser Abschweifung wieder zu meinem^eigent- 
lichen Gegenstände zurück kehren. Es bleibt mir noch übrig, einige 
Beobachtungen über das Versmaass unserer Byliny mitzutheilen. 
Diese Beobachtungen boten sich mir gleich beim ersten Zusammen¬ 
treffen mit Abram Jewtichijew, mit dem ich, wie erwähnt, bei meiner 
Ankunft in Petrosawodsk bekannt wurde. Er sang mir seine Byliny, 
die mir schon aus der von Rybnikow herausgegebenen Sammlung 
* bekannt waren. Während ich ihnen mit dem gedruckten Texte in der 
Hand folgte, war ich über die Verschiedenheit beider erstaunt—nicht 
in Betreff des Inhalts, sondern des Versmaasses. Im gedruckten 
Texte ist der Versbau nur durch den dactylischen Schluss des 
Verses ausgedrückt; in der Mitte des Verses giebt es gar kein Vers¬ 
maass. Während Abram Jewtichijew sang, hörte ich bei ihm deutlich 
nicht nur eine musicalische Cadenz, sondern auch ein auf Betonung 
gegründetes Versmaass heraus. Ich entschloss mich also die Bylina 
von Neuem nachzuschreiben; der „Skasitel“ erbot sich, die Bylina 
Wort für Wort vorzusagfen, d. h. ohne Gesang, und bemerkte, er sei 
schon gewohnt, seine Byliny „wortweise“ für Diejenigen vorzuträgen, 
welche sie „abschreiben.“ Ich fing an mit der Bylina von Michailo 
Potyk. Indem ich sie, wie er es nannte, „abschrieb,“ schwand aber 
das Versmaass und ich erhielt eine gehackte Prosa, ähnlich derje¬ 
nigen, in welcher diese Bylina in der „Olonez’schen Zeitung“ (nach der 
von P. F. Butjenew besorgten Abschrift) ^gedruckt gewesen ist und 
später in die Sammlung von Rybnikow aufgenommen Würde (Bd; I, 


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No 3^ IchyeErsujchte^rohr diese gehackte Prosa in ein Versmaass zn 
bringen, indem ich den „Skasitel“ veranlässt«*, sie nochmals aü 
singen, doch das erwies sich als unausführbar, weil, wie ich oben 
auseinandergesetzt habe, die „Skasiteli“ jedes Mal etwas die Rtcen • 
sion der Bylina ändern, Wörter und Partikelh umstellen, bald einen 
Vers hiftzufügen, bald einen auslassen, oder endlich auch die^Aus- 
drücke verändern. Nachdem ich einige Tage die zuerst angetroffenen 
„Skasiteli“ angehört und mich vergeblich abgemüht hatte, eine 
Bylina völlig treu, mit Beobachtung des Versmaasses, mit dem sie 
gesungen wird, nachzuschreiben, versuchte ich, den Rhapsoden* 
meinen Reisegefährten, zu gewöhnen* eine Bylina in der Weise zu 
singen (aber nicht wiederzusagen), dass es möglich wäre sie nach¬ 
zuschreiben, indem ich ihn lehrte zwischen jedem Verse eine Pause 
zu machen. Es fiel mir nicht schwer, dem Abräm Jewtichijew das 
auseinander zu setzen, und ich entschloss mich, seihe Byliny von 
Neuem nachzuschreiben. Der Gesang Hess Ihn das Versmaass ein- 
halten, ^welcher bei der Wiedergabe der Bylina von Seiten des „Ska¬ 
sitel“ in Worten sogleich durch das Aufelässen der eingeschobenen 
Partikeln wie das Zusammenflüssen zweier Verse in einen schwindet 
Auf diese Weise erhielt ich auf dem Papier die Bylina ganz so, wie 
sie gesungen worden war. Denselben Handgriff wandte ich später 
mit allen andern „Skasiteli“ an und es gelang mir fast jedes MaL 
Nur in wenigen Fällen (die ich immer anführen werde) wären meine 
Bemühungen vergeblich. So konnten der zu altersschwache und fest 
taube Kusma Romanow und die übrigens bemerkenswerthe „Skasi- 
telniza“ (Fern, von „Skasitel“) Domna Ssurikowa durchaus nicht sich 
auf gesangsweise Wiedergabe einer Bylina einrichten. Wenn sie sie 
singend vortrugen, konnten sie nicht einhalten, um nicht auf ein 
Mal eine ganze Tirade zu singen, die höchstens ein Stenograph hätte 
nachschreiben können; wenn, ich sie nun schweigen liess und sie bat, 
dasselbe langsamer zu singen, dann verfielen sie in ein prosaisches 
Referat, aus dem der Versbau schwand. , 

Nachdem ich siebenzig Rhapsoden, männlichen wie weiblichen,' 
mit der grössten Aufmerksamkeit für das,Versmaass Byliny nach¬ 
geschrieben, erlaube ich mir einige allgemeine Schlussfolgerungen. 
In Bezug auf den Versbau der Byliny kann man die „Skasiteli“ in 
drei Gruppen theilen: , 

I* „Skasiteli,“ welfche io jeder Bylina ein richtigds Verspiaass streng 
' beobachten; » . f . , 


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329 

♦ 

2 , „£$kasiteli,“ die wohl ein Versmaass einhalten, doch nicht immer 

ein richtiges; und 

8 . „Skasiteli,“ die gar kein Versmaass beobachten. 

Dass ein richtiger, auf die Betonung gegründeter Versbau eine 
ursprüngliche, normale Eigenthümlichkeit der russischen Bylina aüs- 
mache, dass die Unregelmässigkeit im Versmaasse ein Zeichen der 
Verderbniss und die Abwesenheit jedes Versmaasses — eine weitere 
Stufe des Verfalls sei, das braucht dem nicht bewiesen zu werden, 
der unsere „Skasitjeli“ gehört hat oder sich die Mühe nehmen will, 
Byliny, die nach ihrem Gesänge aufgezeichnet sind, zu lesen* Er wird 
einen regelmässigen, auf den Wortton gebauten Vers, namentlich bei 
denj enigen,,Skasiteli* * finden, deren Byliny auch in Bezug auf die Anord¬ 
nung des Inhalts besonders wohlgebaut, am vollständigsten und am 
meisten alterthümlich sind; er wird bemerken, dass die Rhapsoden, 
die Unregelmässigkeiten im Versbau zulassen, — dennoch gewöhn¬ 
lich in regelmässigem Rhythmus die sich wiederholenden typischen 
Stellen singen, also diejenigen, in denen sich vorzugsweise die alte 
Redeweise erhalten hat; endlich wird er wahrhehmen, dass der völlig 
zerstörte Vers mit der Zerstörung des Inhalts und des innern Baus 
der Byliny Hand in Hand geht 

Welches ist nun das Versmaass unseres Volksepos? Es sind ihrer 
mehrere, nicht nur eines. 

Herr Rybnikow hat bemerkt, dass bei Rjabinin „eine und dieselbe 
rasche Weise sehr heiter im Stawer, im Pötyk gedämpfter, im Wölga 
und Mikuluschka aber feierlicher sei.“ Herr Rybnikow versteht dar¬ 
unter eigentlich die Gesangsweise, hinter derselben birgt sich aber— 
das Versmaass. Im Stawer ist bei Rjabinin ein Trobhäus mit einem 
Dactylus, im Pötyk — ein reiner Trochäus, im Wölga und Mikula— 
ein Anapäst. Diese drei Versmaasse umfassen unser ganzes Volksepos, 
einige wenige späte Erzeugnisse allein ausgenommen. 

Das vorherrschende Versmaass, welches ich das gewöhnliche 
epische Metrum nennen will, ist ein reiner Trochäus mit dactylischem 
Schluss. 

Die Zahl der Füsse ist unbestimmt, so dass der Vers dehnbar er¬ 
scheint Diese Dehnbarkeit beim regelmässigen Wortton-Metrum 
macht eine besondere Eigenthümlichkeit des russischen epischen 
Verses aus. Doch darf dabei nicht aus dem Auge gelassen werden, 
dass bei guten Sängern das Dehnen des Verses sehr massig auftritt. 
Vorherrschend ist der fünf- und sechsfüssige Vers, welcher zu einem 
siebenfüssigen anschwellen und zu einem vierfüssigen zusammen- 


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22 



330 


schrumpfen kann; Verse, die länger oder kürzer wären, sind nur als 
ausnahmsweise Anomalie zulässig. Einen übermässig langen (mehr 
als achtfiissigen) Vers wird man selten von einem „Skasitel“ hören; 
er müsste denn zur Zahl Derjenigen gehören, bei denen der Versbau' 
völlig zerstört ist Wenn wir in gedruckten Ausgaben auf so lange 
Verse stossen, so sind sie damit zu erklären, dass die „Skasiteli“ 
wenn sie eine Bylina in Worten, ohne Gesang, wiedergeben, oft zwei 
und drei Verse in einen zusammenziehen. Mann kann auch be¬ 
merken, dass in einigen Byliny der kürzere Vers vorherrscht, so dass 
die meisten Verse vier- und fiinffüssig sind, in andern Byliny da¬ 
gegen herrschen lange, sechsfüssige Verse vor, mit Beimischung 
von siebe'hfiissigen. So sang Kalinin Byliny vom Ilja von Murom 
meist in vier- und funffussigen, von Dobrynja Nikititsch in sechs- und 
siebpnfussigera Verse. Es wäre voi^ Interesse, den russischen epi¬ 
schen Vers mit dem epischen Verse bei andern Völkern zu ver¬ 
gleichen: welche Resultate würde wohl diese Vergleichung ergeben? 
Mit dem südslawischen Verse, der auf den Silbenton basirt ist und 
nicht ausgedehnt werden kann, haben wir nichts Gemeinschaftliches, 
ausgenommen, dass jeder Vers, sowohl der russische wie südsla¬ 
wische, eine» gewissen, mehr oder weniger ganzen Sinn enthalten 
muss, eine ganze Phrase, oder einen bestimmten TheH einer Phrase, 
wobei in keinem Falle ein sogenanntes enjambement zugelassen 
wird, welches dagegen so beliebt ist im griechischen, deutscherrund 
skandinavischen Epos. Um mich von meinem Gegenstände nicht zu 
weit zu entferneii, wende ich mich wieder den Metren der Olonezer 
„Skasiteli“ zu. Ich beginne damit, das£ ich ein Beispiel von dem 
Metrum gebe, welches ich das gewöhnliche epische genannt 

habe*): 

-- * 

•) Wenn der Leser sich die Mühe geben will, diese Zeilen mit den bei Rybnikow, 
Bd. I. S! 54 gedruckten yu vergleichen, so wird er bemerken, dass das Versmaass unter 
seiner Feder deshalb schwand, weil ey die Bylina, wie sie ihm vorgesprochem wurde, 
nachschrieb und diese nach dem Gesänge nur verificirt wurde (siehe die Anmerkung 
im m. Bande auf Seite XIX). — Hier ist die entsprechende Stelle bei Rybnikow: 
GrapuB KasaEi» lAjihx Mypovum» 
rkrbxaJTb na ftodpoirb nOirfe 
Mumo Hepuurom» rpajp>: 

Ha^t HepHurosbiarb cutymca ^epnum» uepHo, 

1 HepHbiMi» uepHo, KaKi> uepHa Bopona. 
npHirycnurb oht> kohs öoraTbipcicaro 
Ha stj cnjiynncy Bearnryio, 

Cnuib Koueirb Tonran» h jseqtti» kojiotb. v 


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331 


H3* TOTO JIH TO H3* rOpOAa H3* MypOMJlÄ, 

Hai. Toro.ceJia A3 c*&aparopas;i, 

Bu-feaacaai» y4«ui«Hbsoft, AopoAHia Aoöpuft moaoacu*, 

Öh* ctohji* sayTpeHy bo Mypostna ,. ■ 

Aln oföAqttK’fcqootrfeTb Jtorfcjr* oh* b* CToJibHefi KieB* rpaA*, 
Rz a noAb’txwi» oh* so cjraBBOMy so opoAy m> l IepiraroBy. 
y Toro jm,roposa Hepäsrosa ■ 

HaraaHÖ to ciuyuam Hepmiv* nepHo, * 

A a nepHUM*'HQpno xas* «epaia BöpoBä; 

Tas* rrbxoToio hhkto Tyrb hc npozaacnaT*, 

ÜTifna ^«pHwfl BopoH* ne npojieTHBaT*, 4 • • 1 " ' ' 

Ha Apfjppu* sohh hhrto Tyn, He npo'feaÄHBari), 

Ilnma nepHua Bopoti* ne npojieruBar*, * • ' 

Gfepua 3B^pb Aa ne npiopucKHaar*, J 

Ä noAvfcxajrb icasc* so CHjjynjK’fe seAHKoeü, . 

Oh* Kaue* ct«ui* to 3Ty cHAymky BeAHKyio, 

CTaAb sonbeM* TOüTaTb Aa CTaAi sonbeM* soAOTb, 

A a ho€ha* otn> 3Ty cAaBy Bcio BeAHKyio. a / 

Eh* troA*itxaA*-To hoa* cjiaBHMB hoa* HepnaroB* rpaA*. ’ 

d.L • 

Aus jener Stadt so da Murom (heisst) ist. 

Aus jenem Dorfe so da Karatscbirow ist, 

Ritt ein kühner, wohlgestalteter edler Jüngling. 

Er stand die Frühmesse in Murom . ‘ 

Und zum Mittags-Gottesdienst wollte er in der Residenzstadt 

Kijew sein. 


IIoTOHTaji'fc x noKoxojn» *axf v% cxopoiK* epexaux* 

H noAb'fcx&jn» oht» ko ropoAy ko HepmiroBy. 

Wii> geben, Vie hier itf der Aumerkung, so auch oben nur die ersten der vom Ver¬ 
fasser axgeführttn Vefrpe, und fügen Urnen eint wörtliche Übersetzung, so weit sie 
möglich, bek Anneri . ä f Udert .. 

Der alte Kasak Hja Muromez 

Ritt auf edlem Ross ' / r 

Vorüber an der Stadt Tschemigow: * 

Um Teehrmigow, die Stadt (stand) (Streit-) Kraft, dass es ganz schwarz war, 
Ganz schwarz* wie ehr schwarzer Rabe. 

Er kam mit dem Heldejproas 
An diese grosse (Streife) Kraft, 

Ring an mit dem Rosse zu’treten und mit dei* Lanze zu stechen, 

Trat (sie) nieder und stach (sie) nieder in kurzer Zelt, 

Und rittheran an die Stadt Tschemigow. 

♦ 21 » 


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332 


!< n .1 u ( ) 
’.u :S A 


Und er ritt an die berühmte Stadt Tschernigow heran. 

Bei jener Stadt Tschernigow v i r < ’ ' J •»« Mr r J ,n ** 

War eine (Streit-) Kraft zusammettgetriebeii, dass gärtfc’^fchWirie 

_ ä j. :(j r. , ,.|i r.'v^, Hvi'r, 1 l:a 

So ganz schwarz wie ein schwarzer Rabe, * 

Dass Niemand mit Fussvolkhier vorüberg^heri konnte, ‘ ‘ 

Auf ec^eiW Ro 5S| Niemand;hier vorüber rerten* konhte, a ,i; ° 11 a J ^ * 
Und ein schwarzer Vogel Rabe nichtvorübqr'diegertldohfttfc, 101 
Ein graues Thier (ein Wolf) nichtvoilifoersfrdfert^&^ * il u ^ * * 

Und als er zur grossen (Streit*) Kraft herattgerÄtEti Wätt^A 5 f: ^ 
Fing er an diese grosse ,(Streit«)fIfiraft/ ‘ (<l 111 ,l 1 ^ 

Fing an (sie)'mit dem Rosse tarn treten amd <mgttt¥ste'ttyfc der Lallte 

. o<;’i •>**. i /* a u ^ gtethen;' J ' * 
UncLschlug diese ganze grosse (Streit-) Kraft i 1111 ’ tc i A> ;:;lu ^ 
Und er kam an die berühmte Stadt herangeritt&ti •‘* I M ^ 

^ J ,/*" mi Ki’y /L.r -* ' a .♦ ■>' a «i».'* ' i *i > 'A 

In diesem Versmaass singen auch die besten ^ßl^asiteJi^^ wjej^jji- 

binin/Jeremejew* Kalinin, eine Bylina von mehrmals tau,s^djVjer^ep, 
ohne im Versmaass zu irren. Wenn bei ihnen untrer, ^lypd^fr 1 ^ v A n 
Versen ein unregelmässiger ein mal unterläuft, ( s<} , yjjü da§ fbqn 
nicht vi 61 ‘sägen"' Doch 1 die ^efirzaiil äcr „Skasiteli“ erjaubt sich 
beim trochaeischen Metrum zwei Freiheiten,^ie^bri^ens^beim Singen 
von Byliny wenig bemerkbar* feind, jund zwar folgende* im Anfänge 
des Verses gestatten sie sich deh Vdrsatz oder .^ie \Veglassung ehi^r 
Silbe, wodurch der Trdchaeus zum Jambus WirdJ, und in |der Mittje 
des VerSes gebrauchen sie statt des 1 Trö<&aeus zuwei lei einen i)a<j- 
tyluä ; da aber lm > litzteten Falle die zwei'kurzen Silben des Dac- 
tylus in der Aussprache zusammenfallen, so wird der choraeische 
Tonfall dadurch nicht aufgehoben. (Der Verfasser bringt hier ein Bei¬ 
spiel aus einer dem Abram Jewiichijfiü mackgeschriebenen Bylina.) 

, ■ ” t ' ... II 1 i _ / 

Aus deip angeführten Beispiel ersieht man* /dass von - 5 2 Versen42 bin 
vollkommen regelmässiges choraeiscfaes Metrum haben; in Vier Versen 
der Choraeus in einen Jambus verwandelt ist und in sechs Vprseip 
statt des Choraeus ein Dactylus auftritt. Man kann behaupten, das? 
bei den Olonezer „Skasiteli, “ mit Ausnahme f einiger der .besten, 
welche es wissen, ihr*Metrum durchgängig »einzuhaiten^ gegenwärtig 
ein solcher vom Verderbniss .etwas angenagtei*>ohoraeieehef Vets 
vorwaltet. Ebenfalls sind auszunehmen diejenige'd£fdh Vtts£, wip 
bei Schtschegolenok, Ssorokin, Ssarafanöw,' das Metrum jollig 
eingebüsst haben. ! ,J 11 ' 


' I V. . 
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X ins fr n* 
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'ff (vr, -f'-'V M f) -nl 

Das «zweite: Metrum Irt; Unsöteh Byltoy feänü man das spielende 1 
(nrpai^ft) herinen, - sowohl dem Töhe hach als auch deshalb* dass 
in diesem Metrum« die dem Inhalte liäcH 7 weniger erlisten Byiijiyi wie ; 
die vom Ssolowej Budimirow, Tschurlla PfenköWitsbli; Staw^r', zu- 
weHenVonl Dimaj'fwandwrtsch ■ abgefaist sihd; eben sc/die I^yliny‘ 
vom Ueberfatt«Kli/ews * dtiteh 1 Bafyeiherh EreigriisS, welchem Idas 1 
VoHcsepos^eln scherzendes Colorft Verliehen "hat. Dieses Metrum* / 
zeichnet r sich dadurch*'aüs,' 1 däSs bhoi^aeiöiWe Sttöphdft nijt dactytj- 
scheu *abwechsefii. ^Letztere werddfi’Hiebt, hri’refh-epischen Me-- J 

trum,Kisainmengefzogen,sondern deiitliSdh^uSgespi^ödheh, Esist dabei. ^ . 
zu bemericeny daSs eine Byliha hie gähzfieh atu^ 1 s8löh6n Versen b'e- ^ 
steht-*-*fwaS' für das Gehör sehr ehnüdehef Wäre'sondern sie 
wechseln mit reih choi^eisöhen Versen 'hb. \Hikrjbtgi ein ßeispiet). ' ' 

Es ist bemerkensWerth, n dass am Sdilüss der ftyliny vom Dupäj ' 
und^Tschnrila/^wehn lhl* ichehzdndei 4 Tön vo^ Ücr tragischen’ Kata- f { 
Strophe zürüek-tritt, die Dadtyfen' $ch\Wndeh : hrid 1 das Metrufn?un| ^ 

, reinen Choraeus wird. . , - t - f i 

Bei ekligeil ,jSkasiteli #l Ähdfcfa Wir eihe hbsbnde r re Art des ^icty- - 
lischen Metrutns, die- dariH besteht, dass der letzte iniss verlängert 
wird dnd der,Vers nichthllt einem Däctyliis schllesst, sondern mit 
einemvier^ oderfiinfsilbigen Pusse, mit getikdet der Stjmme [ 

auf dej: letzte» Silbe.- r 0ädhrdH geWindt dä^MetrbiH no.e^h piöjir kn 
Leichtigheiti Deel^Smfd Stilöhb Vei^ Hur dariri^zulässi^,Veim si^ mit 
gewöhnlichdn abwbchädhil 1 [Pdlgtetn &eii£ti?t.) 1 [ u )JlJ 

Da» dritte Versfnkkss 1 , der Xnkpaest, zerchiiet sich ^dadurch äus^ 
dass die ganze Schwere des Verses auf dem letzten verSfusse ruht, N 
in weldhim’Wih fwdl Bettfhüftgeh hört, ‘'bind f ^anZ ''schürfe' auf der/' 
letzten Silbe;* ^die ändert’ auf der f dHtt- ‘oddr 'VieVtletileh ^llÜe; ( 

einem Skaditel^(WisBariohöW) Waren ziiwbilbir auf deft beiden letftenj ^ 
Silbe» sogar iWei Betömftlge^hihte^etnandefhörhkr, von denen* die 
letztCilänger^hrte, Wödubdh dfer* Vei^ geWf^drtnaaSsen tespnders 
schleppend und fefchwerfalli^ Wird! liaS anapabidsihe Vdrsmaass ent- 
spricht demi, r Was -fieft* ItybrtikdWefte’ ^fbWlifchfe* 1 ' Gesängsweise 
nennt, hndiwwd in'sehrWen^ert^lihya hgelroÄeh, hnä Zwai 4 ihäehen'/ 1 
von W 61 ga^ f iMikulk lind KofyWkii. ^Ifi ^ dömsel^bert , Vbrsmaass wird , / 
wahrscheinlich ecrieh die Byliha Von dbh jiigbhd des iljä Von Murom * *. 

gesungen, doch Aereinfti^eSkäötöl,Sicher sre noöh kenht, Schtsche-' 
golenok," gehört zu denen,' Welche an die Beöbafchfutig‘ des Vers- 
maasses nicht ihehir gewöhnt Sind; wuS hür öinZelhe Versb erinnerten 
bei ihm an den Anapaest. Die Byliny von Wolga und von Mikula 


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334 


Sseljanin gehören zur Zahl derjenigen, welche für das Volk am we¬ 
nigsten. Interesse bieten uBd sogar von denjenigen selten gesungen 1 
werden, die sie noch kennen- Deshalb erscheint auch dies Vcss* 
maass überall als mehr oder weniger zerstört im innem Bau des 
Verses (Hier folgen zwei Beispiele ). / 

Diese drei Versmaasse: das gewöhnliche trochaeische, da» trochae- 
ische und das anapaestische schüessen, wie ich schon bemerkt habe, 
unser ganzes Volksepos in sich; ich verstehe darunter den Cyclua 
der Byliny, welche den, Hauptinhalt der epischen Sagen unseres 
Nordens enthalten, die sogenannten „Kijewer und Nowgoroder“ 
Byliny, so wie die Rhapsodieen, die im Volke auch unter dem Naciea 
' Byliny gehen und in denen, so zu sagen, namenlose Begebenheiten, 
besungen werden, z. B. die von den Räuber-Brüdern, vom Kummer, 
vom eifersüchtigen Manne u. s. w. Doch damit ist die Entwickelung 
des gross-russischen Epos nicht abgeschlossen, und in den andern 
seiner Erzeugnisse treten andere Metra auf. Ich will auf. diejenigen 
Hinweisen, welche ich im Gouvernement Olonez verbreitet • ge¬ 
fundenhabe. 

Ersten» besteht ein Typus, welcher mit dem zweiten der ange¬ 
führten Metra (dem Troch&eus mit dactylischem Schluss) überein¬ 
stimmt, von demselben sich jedoch dadurch unterscheidet, dass die 
Verse aus einer kleinen Zahl von Füssen bestehen, dreien oder vieren 
statt fünf, sechs oder sieben. In diesem Versmaasse werden ge¬ 
sungen die Bylina vom Scbtschelkan Dudentjewitsch und eine ge¬ 
wisse scherzhafte Bylina. vom Fürsten Romodanowskij und seinem 
grossen Stiere. (Rolgtein Beispiel , welches der Matrenai MenSehi* 
kowa nachgeschrieben ist.) 

Zweitens giebt es Byliny, die augenscheinlich dem XVIL Jahr¬ 
hundert angehören, die in demselben Versmaass auftreten wie die 
für Richard James zur Zeit der Pseudo-Deraetiien aufgezeichneten 
Lieder, Es sind fünf- und sechsfüssige Trochaeen (die zuweilen^ unre¬ 
gelmässiger Weise, in einen Jambus oder Dactylus übergehen) mit 
einem trochaeischeo, aber nicht dactylischen Schlüsse. Die in diesen» 
Versmaasse abgefassten Gedichte sind schon nicht „Byliny" zu 
nennen, eher kann man sie als historische Lieder bezeichnen. Sie 
sind des heroischen C^haracters baar. Umkleidete aber der Singer des 
XVII Jahrhunderts Begebenheiten mit dem Glanze des Wunder¬ 
baren, selbst wenn sie der Zeit nach ihm nahe standen, darin besang 
er sie im epischen Versmaass der Byliny des Kijewer oder Nowgo- 
' roder Cyclus, Vergleicht man die Byliny, in deinen als Held Nikita 




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335 


Romanowitsch mit allen Attributen eines epischen Bogatyrs auftritt, 
mit ebn historischen Liedern, die für Richard James im Jahre 1619 
aufge:eichnet wurden otfer mit der hier mitgetheilten Bylina vom 
Zaren Alexej Michailowitsch, so überzeugt man sich, dass die ; Ver** 
schiecenheit im Metrum mit der Verschiedenheit im Tone und so zu r 
sager der Beleuchtung der poetischen Erzählung zusammen fällt: 

riocpe^Ä Jib 6mjio MOCKOBCKaro uapcTBa 
Cpe^H ßbiJio poccificKa rocy^apcTBa, 

Kaio> y cß'hTa y ApxaHrejia MiixafLia, 
y HßaHa y Bejmicaro bt> coöopi», 

3a3BOHHJIH BO ÖOJIblHOÖ BO KÖJIOKOJIT», 

BcHX 1> KHH3efl — ÖOHp-b Kh o6'fc£H , fe C03bIBaJIH, 

TaMT> cjiyÄHJiH cBüTbiH MO^e6eHT>. 

BbixoAHJi-b Haina Ha^exca rocy^apb — napb 
AjieKcfcfi cy^apb MHxaft;ioBiiHT> mqckobckoä, 

Ha Bcyfc CTopoHw oht> hoiuiohh^cä h t. ' ; 

d. f.: 

Es wir in der Mitte des Moskowischen Zarthums, 

Mitten war es im Russischen Reiche, 

Als ii der Frühe in (der Kathedrale) des Erzengels Michael, 

In der Kathedrale des Iwan Welikij, 

Man iie grosse Glocke anschlug. 

Alle Fürsten uhd Bojaren rief man zur Messe, 

Dort wurde ein heiliges Gebet gehalten. 

Tritt heraus unsere Hoffnung, (unser) Herr der Zar, 

Der Herr Michailowitsch von Moskau, ‘ 

Nach allin Seiten verbeugte er sich, u. s. w. 

' (nach Iwan Kassjanow). 

In demselben Metrum ist auch die sehr verbreitete Bylina von 
den Vögeln und Thieren abgefasst. (Folgt der Anfang derselben nach 
Iwan Feponow). 

Endlich habe ich noch die dritte Gattung von Byliny zu erwähnen, 
die nran ebefffalls in unserm Norden hört, obgleich sie dorthin zu¬ 
fällig verschleppt sind, — der Wolga- oder Kasaken-Byliny. Man 
muss sie an Ort und Stelle hören, um über ihre Anlage und ihr 
Metrum zu urtheilen. So viel ich bemerken konnte, bilden sie den 
Uebergang von den epischen zu den lyrischen Liedern. Es sind die 
einzigen Lieder, die mit einer Cäsur in der Mitte des Verses so wie 
mit Wiederholung der Silben und^Wurter gesungen werden, z. B.: 


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f 


336 


Kaia» cönpa^HCb Ka3aien II — Ha Kpyrb 6epe»coia», 

‘ Axt> äohbckh rpeöeHbCKH II — aanopoMccKin, 

3anop»ccKH Ka3aKn || — h Bce 6biJin hhu,kui. 

Ax*b aTaMam> öbun» y äoh II — cKnx*b y KaSaicoBi» 

Oft H3i> raxaro JXouy EpMaxi» || — 6bijn> TiiMoeeeBHHi», 

A ecay;rb 6bun> y äoh II — ckhxt» y Ka3aK0B*b 
Ax*b CO ÄBHHM OcTa || - - <freft JlaBpeHTbeiiHHT,. 

Kaicb ca^HJincb Ka3aKH || — Ha ^erna erpyxcKH, 

Aft Ha JierKH cTpyxcKH || —- cfcjiH Ha mcjikh näß03KH 
Eaxi» rpÄHyjiH pa3MaxHy || — jm bhh 3T> no Bojirn p'feKH h. t. j. 
d. i. 

Als sich versammelten die Kasaken auf dem steilen Ufer, 

Die donischen, grebneschen, saporosh’schen, 

Die saporosh’schen Kasaken, und waren auch vom Jaik. 

Ataman war bei den donischen Kasaken 
Vom stillen Don Jermak Timofejewitsch, 

Und Jessaül war bei den donischen Kasaken 
Von der Dwina Ostofei Lawrentijewitsch. 

Als sich setzten die Kasaken auf die leichten Strusen, 

Auf die leichten Strusen, setzten sich auf die kleinen Fahrzeuge, 
Schossen sie den Fluss Wolga hinab u. s. w. 

(Der Verfasser führt noch zwei Beispiele an). 

In der grossen Masse der Byliny des Gouvernements Olone:, 
welche theils in trochaeischem Vermaass mit dactylischem Schluss, 
theils in trochaeischem, mit Dactylen gemischten Vermaass 
abgefasst sind, bilden übrigens alle diese letzt angeführten Gat¬ 
tungen von Liedern eine seltene Ausnahme. Indem ich die By¬ 
liny anhörte und den „Skasiteli“ nachschrieb, gewann ich # dij 
volle Ueberzeugung, dass die auf Betonung gegründete Vers- 
bildung in unsem Gedichten nicht eine Erfindung Lomonossow’*, 
sondern des russischen Volkes selbst, sein angestammtes Gut ist. 
Wenn auch Lomonossow unter dem Einflüsse deutscher Vorbilder 
diese Versbildung auf unsere Kunstpoesie angewandt hat, so ist 
damit noch nicht gesagt/ dass er es allein aus Nachahmung that 
Wie er selbst schreibt, liess er sich von dem Grundsätze leiten, „dass 
man russische Verse nach der angestammten Eigenthümlichkeit un¬ 
serer Sprache abfassen müsse/ 4 und wenn Lomonossow von Hause 
aus im Verse die angestammte Eigenthümlichkeit unserer Sprache 
erkannte, so ist es nicht unmöglich,. dass in seinem Ohre noch die 
Volks-Byliny, die er wohl gehört haben wird, nachklangcn. Noch 


1 


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337 


jetzt weiss man am Wyg-Osero sich z$l erinnern,i dass die Byliny 
dorthin vom Ufer des Wcisscn Meeres gekommen sind. Auch darf 
nicht ausser Acht gelassen werden, dass Lomonossow in seiner 
„Versificatio* 4 den so von ihm genannten „dreilautigen“ Rhythmen, 
d. h. dem Dactylus einen Ehrenplatz anweist' und den Dactylus am 
Ende des Verses konnte er freilich nicht in seinen deutschen Vor¬ 
bildern finden. 


Möge es der Leser entschuldigen, dass ich meiner Absicht: nur 
im Kreise factischer Beobachtungen, ohne AbschweifeA ins Gebiet 
der persönlichen Vermuthungen und Deutungen, mich zu bewegen, 
nicht treu geblieben bin. Bei uns hat man leider mehr mit dem 
Studium des Volks-Epos, als mit dem Sammeln seiner Ueberreste 
sich beschäftigt. Ich hofle, man wird mir nicht denselben Vorwurf 
machen, wenn ich am Schlüsse meines langen Aufsatzes auch mei¬ 
nerseits eine kleine Hypothese über den Ursprung eines der Boga- 
tyri unserer Byliny, nämlich Swjatogors vorbringe. JEin Jeder wird 
freilich herausfühlen, dass dieser Name ein künstlicher ist, der auf 
Grund der Sage von dem Leben des Swjatogor in gewissen heiligen 
Bergen — davon wird in allen Byliny, die von ihm handeln, ge j 
sungen—gebildet ist, und dass hinter diesem Namen etwas Anderes 
sich birgt. Einer der besten Skasiteli, der blonde Iwan Fenopow 
sang in der Bylina von dem Ueberfalle des Baty auf Kijew: 

A no rp'fexy jih to Tor^a aa yuHHbijioce, 

A ft ööraTbipefl bo Kieß'fe He cjiymuioce : 
v CenmonojiKs GoraTbipb Ha CBHTbiXT> to ropaxi>,, 

A ft MOJIOÄOft ÄaßpbtHJI BO HHCTOM1» IIOJIH, 

A Ajiemtca IIonoBmrb Bb öoroMOJibHoft cropoHbi, 

A CaMCOHT» A 2 L Ma bH y chhh y Mopa. 

Zum Unglück geschah es damals, 

Dass in Kijew keine Bogatyri anwesend: 

Swjtapolk der Bogatyr (war) auf den Heiligen Bergen, 

Und der junge Dobrynja im freien Felde, 

. Und Aleschka Popowitsch im Lande der Wallfahrer, 

Und Ssamson und IIja am blauen Meere. 

An dieser Stelle singen andere Skasiteli „CBATorop-b öoraTbipb 
Ha CßÄTbiXT> Ha ropax*b, u d. i. „Swjatogor der Bogatyr auf den Hei¬ 
ligen Bergen Anfangs glaubte ich mich verhört zu haben oder, dass 


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' 338 ' 

Fenopow sich geirrt, und Hess ihn daher wohl fünf Mal dieselben 
Verse wiederholen; er blieb aber bei seinem ,,Swjatopolk der Bo- 
* gatyr auf den Heiligen Bergen,“ und versicherte mich dabei, dass 
so gesungen werde. Zuerst schie’n mir dieser Name Swjatopolk 
sonderbar, jetzt glaube ich aj^er, dass er eine Bedeutung hat. Man 
vergesse nicht, dass Swjatogor der einzige den russischen befreun¬ 
dete Bogatyr ist, jedoch nicht russischer Abstammung, ein Boga- 
tyr, welcher „nicht in’s Heilige Russland kam,“ zu dem hingegen 
die russischen Bogatyri fahren, um iKm, als dem ältesten und stärk¬ 
sten, ihre Ehrfurcht zu bezeugen; ferner ist nicht zu vergessen, dass 
er in den Bergen wohnt, dass er geheimnissvoll verschwindet. Alle 
diese Züge erhalten nur dann einen Sinn, wenn man sie anwendet 
auf Swjatopolk von Gross-Mähren, diesen ältesten Repräsentanten 
slawischer Macht, diesen legendenhaften Hetos, der bereits bei 
Kosma von Prag in den Bergen verschwindet und dort ein geheim¬ 
nisvolles Ende findet 

Möge der Leser über die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese 
selbst ürtheilen. Sollte sie sich bestätigen, dann erhält die Per¬ 
sönlichkeit des Swjatogor eine Bedeutung, als Mittelglied zwi¬ 
schen unserem Volks-Epos und dem Alterthum anderer slawischer 
Völker. 


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Die polytechnische Ausstellung in Moskau 

im Jahre 1872. 

ni. 

Die Productiv* und Industrie-Verh&ltniase Turkestans/ 


Die Bedeutung Russlands als asiatische Macht datirt nicht aus 
neuer Zeit, obgleich seine neuesten Besitzergreifungen in Mittel¬ 
asien die Cufturmtssion Russlands in der Richtung nach Osten fh 
ein neues Licht gestellt, und selbst wohl auch Diejenigen in unzwei¬ 
deutiger Weise von dieser Mission überzeugt haben, welche an der 
Erfüllung des Berufes Russlands, in Asien ajs der Träger der euro¬ 
päischen Civilisation aufzutreten, zweifelten. Die jahrelangen 
Kämpfe'Russlands im Kaukasus boten in dieser Beziehung weit 
weniger Sichere Anhaltspunkte, als der kurte Krieg, welcher das 
unter dem Gesamhttbegriff TurkeStan zusammengefasste Länder¬ 
gebiet der russischen Botmässigkeit unterwarf. Diese bereits zu 
Centralasieh gehörenden, oder in gewisser Beziehung als Schlüssel 
zu demselben anzusehenden Länder, boten für Russland wenig Ver¬ 
lockendes, und letzteres musste sich sagen, dass es mit dem ersten 
Schritte, den es in diese Gebiete that, sich eine Culturaufgabe auf¬ 
bürde, deren Lösung durch Menschenalter hindurch seine Kräfte in 
Anspruch nehmen und ihm eine ganze Reihe noch unabsehbarer 
Opfer der militärischen Thätigkelt auferlcgen werde. 

TurkeStan hat für Russland eine ganz andere Bedeutung als 
Sibirien oder der Kaukasus. Diese beiden letztgenannten Gebiete 
bilden ein jedes ein für sich abgeschlossenes Ganzes, über dessen 
Grenzen hinaus Russland keine weitere Aufgabe zu lösen hat; sie 
sind bereits Zu integrirenden Theilen des Gesammtreiches geworden, 
mit einer mehr individuellen, gleich ihren Grenzen abgeschlossenen 
Bedeutung. Russland war sowohl durch den Besitz Sibiriens als 
durch den Kaukasiens zu einer asiatischen Macht geworden und doch 
stempelte dieser Besitz Russland keineswegs zum Vollstrecker einer 
asiatischen Mission, welche ihm heute doch selbst seine; politischen 
Gegner zuerketmen. Der Schwerpunkt Russlands in Bezug auf 
diese Mission liegt daher weder im Norden noch im Süden des be¬ 
nachbarten Welttheiles, sondern lediglich im Centrum, und deshalb 


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34 ° 


war cs auch eine politische Nothwendigkeit für Russland, wollte es 
die ihm von der Vorsehung ^jjjpwip,s^ne ^ssjpjnie^^lW\»,jn.^iefem 
Centrum 'A ! Sienk* Fu. 4 V ztf fässenj von dem heutigen Turkestan Be¬ 
sitz zu ergreifen. Turkestan.» WlfdaäüfflAnge* Zeit für Russland eine 
Etappe bilden, von welcher aus es njft Erfolg seine Mission im Osten 


ausführen und die europäische Civjlisation in,die übrigemLänder 
Centräfe^rerii'tragen kihfi; • ' ^ lij 


Russland konnte aus der Einverleibung Turkestans auf keine 


u. 


materiellen Erfolge rephq^n. r Es ist sfch vpp ^Japsp aus diese$iUm-i 
stahdes freWlisst gewesen' und hat sich f jn cJieserjiBe^ielfifng^inei;; )M 
Täuschütig r hihgegetieir. Was gönnte, auch eip J^eiclt von der Aus¬ 
dehnung Rüsslaiids, das Qlinedem schon .in^erhajb feiner. Qrpnzen - 
Ländergebiete zahlt, deren schwaphe Bevölkerung, kpin ^eqi^v^leni, t , 
für die ftfiirierhiii bedeutenden V^rwaltupg^ost^n J^ii^t^, ßfa iputßr, A 
riellö’Erfölge Vori’ der Erwerbung eines Landes er^fU^R, j 

grossen *fheil nocl} Von ^omaden-Sjtämqien bpwp^nJ:, ^ichts^i^t»; ; A 

was im Vefhältriiss zu. denÖpfern steht, dje.^ei^ Bphuuptung und ^ 
Cultifiruhg Rü’ssländ\i6thwendigauferiegpn- müsspR^, ps,der 

mateHdleSe^ihngeweseh/äerRussiand ^u^piny^rLeiJpfungT.ijirk^tans 
getriebeh llätte. er wäre niqht werth, ein^fJVIa^. pu !t o,pferfl, j: ^neni 
Rubel fcü verschwenden. Als ErpberungsojDjej:^,^ u< 

Russland •fast werthlos/‘als Mittel zym Zy/cc^, und y lifchtj,. u ,j 
politischen Sondern" auch zum Civilisatioi|szvvgcls| es, 

Russiküd V'bn det äl^ergfosstenJBedeutqng^ ^eipe; jp^^qrg^eit. md 
fung"ist didVö^edingung afjer künftigen f £rfo}g£ f ,y flrbgdMVp. r i /. 

gung ; äer‘L6sdiig aer Mission Russlands • ps^^., /;j ^j^i*a i chtqt' lj < > 
man die Eroberun g Tü^ kes täns aus .diesem ^QsicJiJ^spqn^t^ so , ev r " L 
scheint sfö'hiCkt nur 1 als^eine, J politisch NQ^Ja^^ig^ci^, fph;i hri 
bereit^' 1 öbdrf^hdcutete^ /sondern, sie ,hat pvifh {i gl<pijcjizeitig M pji)p>! t ;,j 
grosse*''^vIHkätdriScne ‘tiedpu^ung ? ^sie i^t? yonj^glpichejm^^i^F^ 8 ^ "i> 
für Eürdjiä Wie für ^ussländ selbst, ^deijn ( ^hd.^i^de^ 7 ^ 1 % \, . 

Turk£stäti zürii Vd'rbmdungsgliede .der..beiden, bona<^^ ♦ 

theile* Wiächeii,‘ und J zwar in einer. kichtung, in Wjejplicr sjch ' 

die GiVilKätiön* keinen \$eg Bahnen ; konnte^;ir^ .dpf,Rictjtqi^g fl Y9n$ 
Centi'ütti'Eürbpas'iu’!^ Zentrum^Xsiens^^.j ^ 

RüSslähd arbeitet'nicht für Tmorgen^ ,-auclv njcjijl; Ju^ieüi- j, 
Decihniehj es 5 hat: J eine Arbeij: jür Menschenal^pr, ja i( vjeUekht für . 
Jahrhrihdertc'begonnen, 4 Asien, von f den| die^yltjq^ ^psgjng^fist^ 
im Läufe^diV f )ährtäusende der Uncultur verfallen, allein lg99 J£r<pis-M u ,>* 
lauf derDihgk'übt 11 seine Gewalt, die Cultur wird nach Asien zu- 


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rückgetragen werden, und^ Russland; ist das, Werkzeug* w^lches^ 4fe se 
Züfiildktragujig^der‘iÜjaltür ^us^ufuhrpn h^t.j , , 7 , ,, ,, , ,, n .,;, 

Ö^leich grp^s an Aps^^nyn&fupd; rqichirait Hülfsquelienl aller 
Äj^t ausgpstattet,; ^llei^ ttptz» sebiqj*) ßp t AIiUionen Bewohnte «huri so 
/ schwach bevöjkert,.ps^e^en n^h 1 4er AusbeutungeindsTheiles 

seines Gfund^u^ B 0 ^? 18 if e W e rW^ r ^ s Ph^ftUbbe Aufgabe erblicken 

Jppnnte, h .\\jar n .Russlapd a}s I .;CpJtw'staat%Jnnteriden^andern Cültür- 
s^aaten Euro^as^rd^qn^. Hjpj^efland,; ,-es (bildete^^zurückgeblieben. 
t Allein ^ seine ,^ns^rpugijngei> , ^uJf k yolks^rtbsohaftlidieitr Gebiete, 

. \yel^h^ se^ j^etpr 4$n_ deP/hwtigöivTagivoii alten 

„ Regierungen fartgesefc*-/ wwdtel, littugfemiHre 

Ijrüphte, ^enn ^^en f fti*pjvj fipäforeiften, t zu:spät; um <den 
ändern Cultur^taaten ^ur^erpa^ p^ph^nkon)iBen #t hiatdr deneh r Russ¬ 
land zurückgeb^etjp^ jst, pbnp, t d^S? ^ich,Ihm die Aussicht Eröffnet, 
aijcli* iiir jilie näph^p \ ;avtf,gan?j gleiches > wirtbscWaftliches 
Niveau mitrihnen zu^trp^. jßenn^ena ^ehfRiissländ ihdute noch 
so epergi^che ^n^t^engi^gen .i^adät, auch dtetuhrigetf Staaten 
stehen f nipljitVjjtilliflif) gleichen* Eifer; woxto&rts* ^\ brm 

v iEfie> naturgejba8selF61gd;jdieser; Vethältfri^^e ist, 1 iiäs^ nüf Rü^s- 
(lahda NaturproduCte/idie' ihienin tetehereri^ülte und iii grösseren 
iQuaritifcäten gewonnfert ^wurden, wie ähdet^wi/ 1 tihd Wfelblie Russland 
zurKornkaüiradtEurfopisiniachtenj'ihr^tiWb^’hber «fte europäischen 
(Grenzen idesmoiidisehen Reichet fanden;' Alle¥n r auch di&ehi Äbsätz- 
(Wege,droht dmxth die knrriermehnwaähfeehd’e 'Goncurrenz Amerikas 
Gefahr»! Handelt r man i idcfeh ichon'jetzt äüf den' ^est-dktföpaischcn 
Getreidemärkten amerikanischen Weizen neb£n' russischen, 
sendet doch'böireitB Atrierika seine .Wollen und Seine Rbhleder nach 


England . undbQeutscHlaitd/^ welche 1 J fräheV * vdto^sv^ndSe ^UsSische 
Wolle» jconsußiirten^ Sendet -^ 1 doch ; seineh Tilg nibht hur f bis 
nahe an',dien Greifen Russlands, äöildetn -tfeuirdln ^ 1 sfelb^t bis 
Warschau^v^älitenSd ndes erst er eti^älgfexfpöft sich mehr’ate ühi die 
Hälfte spinös .ehemaligen^Talgexportes ^€^110^1^.'' ^t)ie Production 
Amerikas,;.denk alle Jahre grosser Mässeri neuer Ctilturicräfte 2 ü- 
strötfica, jimsai sich r daherrinijgieidheth'Grade von Jähr W Jahr ver^ 
rnehrch, i i und; iri ; j gleichem .Verhältnisse rAusS 'sich 1 auch ' Üte : Geföhi* 
steigern*?' welche* die Sdhierifeanisöhe^ohcürrtiiz Russland* id WlrtK- 
schaftlifcher Beriebung bringt, u <*'•!. v '* : ‘ f ‘ 1 ^ } ' ' 

t ’ f ' * • • ‘ j « ,I k { |f | i, n i ; J : ? ( 1 1 i; f t .1 ‘'' ''' f < 0. l < y * * ' ‘ • ' • J 

Irizulftchert ist Rieses letztere auch nicht, s^ülgestandpn.; \Venu 

ilidh rtür tnit'Htltfe und\untfer dem Einflüsse des Schuta?o)|qs, h,£(t 

. Litu . /ui». -1-tu J i . "T- . , . W ' - ^ 


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ogle 




342 


sich seine Industrie entwickelt und ist zu einer bedeutenden Pro- 
ductionsquelle geworden. Namentlich im letzten Decennium hat 
sich die industrielle Production Russlands m ganz ausserordentlichem 
Verhältnisse gesteigert, und dieses Land entwickelt sich rasch zu 
einetn Industriestaate, wenn man auch seiner Industrie den Vorwurf 
nicht ersparen kann, dass sie in mehr als einer Beziehung vom 
richtigen Wege abgelenkt ist ünd in Folge dessen den gesunden 
und urwüchsigen Boden verlassen hat, auf welchem sie gedeihen 
und wuchern konnte. Ja, gelänge es ihr noch heiite, ehe es zu spät 
wird, diesen Boden wieder zu gewinnen — die russische Industrie 
könnte für Europa von grosser Bedeutung werden und theilnehmen 
an jener internationalen Arbeitstheilung, welche sich durch die 
Macht der Verhältnisse und durch die mehr allgemein gewor¬ 
dene Befolgung einer klugen und auf einer vorurtheilsfreien-Würdi¬ 
gung der wirtschaftlichen Kräfte basirten Handelspolitik zwischen 
den Culturvölkem der Welt änbahnt. Die russische Industrie, so 
grosse Verhältnisse sie auch angenommen haben mag, fühlt heute, 
und zwar zu ihrem eigenen Schaden, noch nicht das Bedürfnis, sich 
an einer solchen Arbeitstheilung als gleich * berechtigter Fador zu 
betheiligen; sie denkt noch nicht daran, für den Export zu arbeiten, 

. obgleich ihr in vielen Branchen die Fähigkeit hierzu nicht gebricht. 
Ihr genügt es noch vollkommen, das inländische Absatzgebiet aus¬ 
zubeuten, und der ihr gewährte Schutzzoll bestärkt sie in diesem 
Bestreben, indem er die inländischen Consumenten zwingt, ihren 
Bedarf an Fabricaten vorzugsweise durch die inländische Industrie 
decken zu lassen. « : 

Allein die russische Regierung ist fentsichtiger, als diese letztere. 
Sie ist es sich bewusst, dass die Aufrechterhaltung des gegenwärti- 
• gen Schutzzolles nur noch eine Frage der Zeit, vielleicht einer nur 
kurzen Zeit sein kann. Die russische Regierung weiss aber auch, 
dass ihre Industrie Schaden leiden würde, webn das Schutzzollsystem 
einer liberalen Handelspolitik weichen muss, bevor es gelingt, an die 
' Stelle des innern Marktes einen auswärtigen zu setzen, dem die 
russischen Fabricate willkommen sind, und zu welchem sich Rus&» 
land in einer günstigeren Lage befindet, als die übrigen Industrie¬ 
staaten Europas. Einen solchen Markt bildet Centralasien. Der 
•' russische Handel hat schon seit Jahren einen Absatzweg dahin ge¬ 
sucht, derselbe wurde ihm aber versperrt, nicht bjos durch den Um. 
stand, dass er durch Unwirthbare Gegenden fuhrt, sondern auch 
dadurch, dass die russischen Caravanen auf Schritt und Tritt räube- 


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343 


rischen Anfällen muhammedanißcherHordenundräubcrischprKirgisen- 
stämme ausgesetzt waren, dass die Handelsverträge, welche mit einzel¬ 
nen der kleineren asiatischen Sultane und Chans abgeschlossen wor¬ 
den waren, von diesen letzteren nicht respecjtirt wurden, und jnFolge 
dessen die russischen Kaufleute fortwährenden Verlusten ausgesetzt 
waren, so dass der russische Handel nach Centralasien zu pinpm 
Dinge der Unmöglichkeit wurde. Erschwert wurden diese Ver¬ 
hältnisse noch durch die fortwährenden Fehden, in welchem die 
asiatischen Sultane und Völker zu einander standen, und es blieb 
Russland kaum eine andere Wahl übrig, als sich entweder selbst 
zum Herrn dieser gefahrbringenden und treulosen Völker zu machen 
oder seine asiatischen Handelsbestrebungen ganz fallen au lassen. 
Da Russland dieses letztere, ohne seine ganze wirtschaftliche Zu¬ 
kunft und seine Culturmission nach Osten zu beeinträchtige^, preis¬ 
zugeben auch nicht konnte, ja da es auch nicht Willens, war, seiner 
Mission in Centralasien untreu zu werden, so that es das* ersjtere, und 
machte sich notgedrungen zum Herrn von Turkestan. 

Ich sage notgedrungen* weil es Russland Ueberwindung genug 
gekostet, haben mag, sein Ländergebiet nach einPr Richtung hin 
auszudehnen, nach welcher zu e9 ohnedem schon Ländergebiete ge¬ 
nug besitzt, welche einer befruchtenden Cultur harren, ohne dass 
sich Russland in der Lage befindet, sie einer solchen zuzufuhren. 
Hätte es in der Macht Russlands gelegen, diese seine eignen Gebiete 
zu bevölkern und zu cultiviren, so würde es in der Richtung nach 
Asien zu einen festen Halt gewonnen haben, und vielleicht noch 
von der Einverleibung Turkestans abgestanden sein. Dies war aber 
schon deshalb nicht möglich, weil die den Culturbestrebungen Russ¬ 
lands feindlichen Kirgisenstämme stets Schutz in den benachbarten 
asiatischen Chanaten fanden. Erst durch eine vollständige Unter¬ 
jochung dieser letzteren war es Russland möglich, seinem Handel den 
ihm unerlässlichen Schutz angedeihen zu lassen und seine Cultur¬ 
mission im Osten wieder aufzunehmen. Turkestan bleibt eben für 
Russland, wie wir oben sagten, die erste grosse Etappe 'nach dem 
Herzen Asiens, und diese muss es in fester Hand halten, soll es ihm 
gelingen, durch den russisch-asiatischen Handel die europäische 
Cultur und Civilisation nach Asien zif tragen. 

Die civilisatorische Mission Russlands hat in Turkestan bereits 
schon ihren ersten Erfolg aufzuweisen. Vor wenig Jahren noch 
durch innere Fehden zerrissen und durch fortwährende feindliche 


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Einfälle ihres Eigenthums beraubt, konnten sich die dortigen Völker 
nidht den Arbeiten des Friedens hingeben,- so lange nicht die 
Macht Russlands sie vor fremden Angriffen schützte, so lange nicht 
durch eine geregelte und unsern europäischen Begriffen nahe¬ 
stehende Administration ein Zustand von Gesetzlichkeit und innerer 
Rühe geschaffen wurde. Erst als letzteres gelungen war, gewinnt 
auch Turkestan nicht nur in politischer, sondern auch in wirt¬ 
schaftlicher Beziehung eine grössere Bedeutung, und nimmt dieses ^ 
Land ein tim so grösseres Interesse in Anspruch, als die Arbeit, 
welche Russland dort geleistet hat und noch leisten muss, nicht 
blos eitle Arbeit eignen Interesses, sondern auch gleichzeitig eine 
solche der Civilisation und des europäischen Einflusses auf Asien ist. 

Eä wird 1 die nächste Aufgabe Russlands in Centralasien sein, ge¬ 
setzliche und namentlich stabile Zustände dort einzubürgern und 
durch Seinen Einfluss aufrecht zu erhalten. Dieser letztere muss 
sich auch nothwendig darauf wenden, die jetzigen Nomadenvölker 
zu bewegen, nach und nach feste Wohnsitze anzunehmen. Dies ' 
dürfte das sicherste, Mittel sein, um jene Stämme für eine mehr 
europäische Civilisatiojv empfänglich 2u machen und ihre Bedürf¬ 
nisse zu steigern. Ein fester Wohnsitz wird ihre Wohlstandsver¬ 
hältnisse bessern, und im gleichen Grade wie dies geschieht, werden 
sich auch ihre Bedürfnisse vermehren, und deren Befriedigung von 
Russland erwarten. Dadurch bildet sich eine gesunde Basis für die 
russischen Handelsbestrebungen, von welchen aus man dann mit der 
Ausdehnung des Handels weiter ostwärts schreiten kann. Hand in 
Hand hiermit muss freilich noch die 'Eröffnung neuer Handels¬ 
strassen nach Turkestan gehen, da die jetzigen dem russischen Handel 
in keiner Weise genügen können. Ihnen wird, in nicht zu ferner 
Zeit, selbst der Bau einer Eisenbahn nachfolgen müssen, welche 
wesentlich dazu beitragen wird, die* Stellung Russlands in Central¬ 
asien schnell zu befestigen. * Es erhebet! sich in der russischen 
Presse bereits schon heute Stimmen, welche für den Ausbau dieser 
Eisenbahn plaidiren. Man wirft ihnen ein, dass Russland in Bezug 
auf den Eisenbahnbau noch näher liegende Aufgaben zu lösen 
habe. Dies ist, nicht zu bestreiten, so viel aber steht fest, dass die 
Eröffnung einer Eisenbahn ^ath Taschkent die Culturarbeit Russ¬ 
lands um Decennien abkürzen würde, und dass die Opfer, welche 
der Bau einer solchen Eisenbahn auf Jahre, un<J noch auf Jahre nach 
deren Inbetriebsetzung hinaus, verursacht, in anderer Weise und 
zwar von Osten her reichlich aufgewogen werden dürften. 


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345 


Durch den im i. und 2.Hefte der „Russischen Revue“ abgedruckten 
Artikel überTurkestan haben dieLeserMittheilungen über diegeogra- 
phischen, ethnographischen, statistischen und selbst theilweise histo¬ 
rischen Verhältnisse dieses Ländergebietes aus sachkundigerFederund 
von einem Manne erhalten, der Turkestan aus eigener Anschauung 
kennt. Wenn der Herr Verfasser jener Artikel die Productions- und 
Industrieverhältnisse Turkestans auch flüchtig berührt hat, so lag es 
doch nicht innerhalb der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, detail- 
lirterauf diese Verhältnisse einzugehen. Auch ich würde mich schwer¬ 
lich an diese Aufgabe wagen, böten nicht die letzte St. Petersburger 
Manufacturausstellung vom Jahre 1870 und die diesjährige Moskauer 
polytechnische Ausstellung * einige Anhaltspunkte, welche es ge¬ 
statteten, sich ein Urtheil über die Natur- und Industrieproducte des 
in Rede stehenden asiatischen Ländergebietes zu bilden. Auch der 
Catalog der letztgenannten Ausstellung giebt, wenn auch in frag¬ 
mentarischer Kürze, einige schätzenswerthe Andeutungen über dor¬ 
tige Culturverhältnisse, die um so willkommener sind, je“ sparsamer 
die Quellen fliessen, welche uns Nachrichten über die wirtschaft¬ 
lichen, namentlich productiven Verhältnisse Turkestans bringen. 
Man kann nicht sagen, dass letzteres in productiver Beziehung ge¬ 
radezu arm sei, allein es ist auch nichts weniger als reich, und es 
werden noch viele Jahre vergehen müssen, bevor es gelingen wird, 
die Productionsverhältnisse jenes Landes zu heben und zu bessern. 

Auf der andern Seite ist aber auch nicht zu verkennen, dass die 
Bewohner Turkestans, wahrscheinlich durch die harten Lehren bit¬ 
terer Noth dazu veranlasst, auf den Betrieb namentlich der Land¬ 
wirtschaft weit mehr Fleiss verwenden, als man dies bei diesen, 
theilweise noch nomadisirenden, asiatischen Völkerschaften erwarteji 
kann. Missernten sind in jenen Gegenden keine Seltenheiten; bald 
wird der eine, bald der andere Gebietsteil davon betroffen, und die 
Tolge davon ist eine beinahe unglaubliche Theuerung der Lebens^ 
bedürfnisse. Characteristisch in dieser Beziehung sind die Mittei¬ 
lungen, welche in allerneuesterZeit die „Turkestansche Zeitung“ über 
den Erfolg der Caravane des Kaufmanns -Kusnezow, die von Tasch¬ 
kent aus die Dungancn-Stadt Manas besucht hatte, brachte. Zur 
Zeit der Anwesenheit der Caravane herrschte in jener Stadt eine 
solche Theuerung, dass ein Manas’sches Cho Weizen (circa 40 Pfund 
Zollgewicht, 1 Pud 12 Pfd. russisch) mit 4 Rbl., ein Schaf mit 25 Rbl. 
bezahlt wurden. Die Stadt Manas liegt nur 350 Werst*vom russischen 
Turkestan entfernt. Unter solchen Verhältnissen, von welchen zeit- 

23 


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weise auch das russische Gebiet heimgesucht wird, haben die noma- 
disirenden wie die ansässigen Bewohner jener Gregenden die vollste 
Veranlassung, alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu ergreifen, 
um Missernten, die grösstentheils in Folge zu grosser Trockenheit 
entstehen, vorzubeugen. Wir sehen daher auch, dass man in vielen 
Gebieten zu Canalisirungs- und Bewässerungsbauten seine Zuflucht 
genommen hat, und dass die Bewässerung der Felder in der turke- 
stanschen Landwirtschaft eine hervorragende Rolle spielt; durch 
dieses Mittel wird es den dortigen Landwirten möglich, nicht nur 
die Ungunst des Klimas zu besiegen, sondern auch die landwirt¬ 
schaftlichen Productionsverhältnisse zu erweitern und eine gewisse 
Vielseitigkeit in dieselben hineinzubringen. In der That begegneten 
wir auch auf den beiden genannten Ausstellungen einer ziemlich 
reichen Auswahllandwirtschaftlicher Producte. Unter den Getreide¬ 
arten werden vorzugsweise Weizen und Wintergerste cultivirt, dann 
Hirse, Reis, Kukuruz (Mais), Bohnen und Sorgo. Die zur Ausstellung 
gebrachten Exemplare stammten aus dem Gebiete der Sieben Flüsse, 
(Ssemiretschenskisches Gebiet) und des Syr-Darja. Unter den Futter¬ 
pflanzen dominirt die Luzerne (Medicago Sativa), unter den Oelge- 
wächsen: Sesam, Saflor, Lein, Hanf, Mohn und die Sonnenblumen; 
als Handels- und Fabrikspflanzen sind von Bedeutung: Baumwolle, 
Tabak und Krapp. Ausserdem werden sowohl auf denFeldem, wie in 
den Gärten Zuckermelonen, Arbusen (Wassermelonen), verschiedene 
Arten Kürbisse, Zwiebeln, Möhren, rothe und andere Rüben, Rettige, 
Gurken, rother Pfeffer etc. mit grossem Erfolge cultivirt. — Von 
Gerste baut man die in Europa ziemlich seltene und den Einflüssen 
unseres Klimas schwer widerstehende Wintergerste, und da das 
^Vinterklima in Turkestan schwerlich günstiger sein dürfte, als das 
europäische und die dort cultivirte Gerste dennoch den Einflüssen 
dieses Klimas widersteht, so dürfte es jedenfalls angezeigt sein, 
Anbau versuche mit turkestanscher Wintergerste in Europa zu machen. 
Ob neben Gerste auch Hafer cultivirt wird, darauf lässt sich von der 
Ausstellung aus nicht schliessen, da weder der Ausstellungscataolg 
dieser Culturpflanze erwähnt, noch solche Exemplare ausgestellt 
waren. Sehr beachtenswerth als Culturpflanzen sind,der Reis, der 
Tabak und die Baumwolle. Reis wird in der Umgebung von Tasch¬ 
kent, Chodschent, Wernoje, Dizak und Kurama cultivirt, und gehören 
die genannten Gegenden überhaupt zu denjenigen, in welchen die 
Landwirtschaft systematischer und mit grösserem Fleisse betrieben 
wird. Der Tabaksbau dagegen concentrirt sich namentlich in der 


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Umgegend von Ssamarkand, in welcher ein eigentümlicher Tabak, 
der auch den Namen ssamarkandscher Tabak führt, cultivirt ufird. 
Ausserdem baut man Tabak in den Kreisen Wemöje, Chodschent 
und Taschkent. Hier cultivirt man türkischen und albanesischen Ta¬ 
bak, so wie die unter dem Namen Djubek bekannte Sorte. Auch mit 
amerikanischem Tabak, namentlich mit Mariland, hat man gelungene 
Ailbauversuche gemacht, und es war solcher Tabak bereits schon 
auf die St. Petersburger Ausstellung geschickt worden. Vielleicht 
dürfte, was den Tabaksbau anbelangt, das Turkestansche Gebiet 
mit der Zeit, namentlich dann, wenn sich stabile Culturverhältnisse 
daselbst äusbilden, von Bedeutung werden. 

Weit bedeutungsvoller aber noch als die Tabaks-, ist die Baum- 
wollencultur, welche nicht nur schon weit grössere Dimensionen 
angenommen hat, als die erstere, sondern deren Product auch be¬ 
reits von der Industrie Russlands verwendet wird. Die Kreise, in 
welchen vorzugsweise die Baumwollencultur von den dort einhei¬ 
mischen Landwirthen betrieben wird, sind die von Dizak, Buchara, 
Ssamarkand, Chodschent, Taschkent, Kopal, Kurama und Tokmak. 
Ueber das Productionsverhältniss von Baumwolle selbst und die 
Ausdehnung ihrer Cultur entnehme ich einem Artikel des „Russi¬ 
schen Invaliden“ nachstehende Daten, welche nur bestätigen, dass 
die dortige Baumwollencultur keineswegs zu unterschätzen ist. Als 
nördliche Grenze der Baumwollenzone in Turkestan wird gewöhnlich 
das Thal des Flusses Arys angenommen, doch auch in der Gegend um 
Tschemkent herum wird ziemlich viel Baumwolle gebaut, die imOcto- 
ber zurReife kommt. In der Umgegend Taschkents sind schon grosse 
Strecken der Baumwollencultur gewidmet und die Baumwolle von 
hier ist ihrer Qualität nach bedeutend besser als die von Tschemkent. 
In diesen Gegenden reift auch die amerikanische Baumwolle, doch 
ist die Cultur dieser Sorte noch sehr neu und hat bis jetzt noch keine 
sehr glänzenden Resultate geliefert. (In allerneuester Zeit scheint 
man allerdings in dieser Beziehung bessere Erfahrungen gemacht 
zu haben, und man will aus amerikanischem Samen Bamwolle erzielt 
haben, welche der echt amerikanischen an Qualität ziemlich nah£ 
kommt.) Noch besser als die von Taschkent und Chodschent ist 
die bucharische Baumwolle, die bei sorgfältiger Pflege der Plan¬ 
tagen einigen amerikanischen Sörten qualitativ ebenfalls nahe 
kommt. In Khokand ist die Baumwollenproduction sehr entwickelt 
und die Ernte reich und von hoher Qualität. Nach Nachrichten, die 
von der Commission der turkestanschen Section der Manufactur- 

4 2 3 * 


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Ausstellung gesammelt sind, werden die grössten Ernten in Chiwa, 
die kleinsten in den nördlichen Kreisen des turkestanschen Gebietes 
erzielt, wo sie sich übrigens auch über das Arysthal hinaus, z. B. bis 
Perowsk und sogar bis Kasalinsk ausdehnen können. Freilich würde 
sich die hier gewonnene Baumwolle von der bucharischen durch 
ihre bedeutend niedrigere Qualität unterscheiden. — Die Unvoll¬ 
kommenheit der Reinigungsmethode nimmt übrigens auch der 
bucharischen viel von ihrem Werth und erniedrigt ihren Preis. Ein 
Pud dieser Baumwolle kostet in Taschkent 3—7 Rubel (im Jahre 1870 
5 Rubel 50 Kopeken), in Khokand aber ist sie um 50 Kopeken bis 
I Rubel und in Buchara.noch weit billiger. , 

Russland bezieht aus Turkestan, Khokand, Buchara und Chiwa 
beinahe ausschliesslich nur Rohbaumwolle, die auf Fabriken bear¬ 
beitet wird und dann theilweise als Baumwollengewebe wieder nach 
Centralasien zurückgeht. Der Import von Rohbaumwolle in Russ¬ 
land hat sich bis 1870 in den vorangehenden eilf Jahren verneun- 
facht, was beweist, wie nothwendig bucharische Baumwolle für die 
russischen Fabriken ist; besonders schnell ist die Einfuhrziffer in 
den letzten acht Jahren gewachsen. — Ueberhaupt kann ganz Cen¬ 
tralasien, auch bei dem jetzigen Stande derCultur, mehr als drei Mil¬ 
lionen Pud Baumwolle produciren und vertheilt sich diese Production 
folgendertüaassen auf die einzelnen Chanate: Buchara 2 Millionen, 
Chiwa 500,000, Khokand 300,000 und die unabhängigen Gebiete 
am Amu 500,000 Pud. Hierzu kommt noch die Baumwolleneinfuhr 
aus dem Bezirk des Sarafschan, über deren Quantität man bis jetzt 
noch nichts Genaueres erfahren hat; doch lässt sich aus der Abga¬ 
beziffer (14,255 Rubel) annähernd berechnen, dass im Thale des 
Sarafschan jährlich gegen 160,000 Pud producirt werden. 

In den letzten Jahren, wenn auch nicht gerade in der letzten Zeit, 
hat die bücharische Baumwolle auch in Russland in der indischen 
einen starken und nicht ungefährlichen Concurrenten gefunden. 
Diese letztere ist nicht nur besser, sondern stellt sich auch seit der 
Erleichterung des Transportes durch Eröffnung des Suezkanales 
sogar verhältnissmässig noch billiger als die bucharische, welche der 
vielen Knoten wegen, die sie enthält, und in Folge ihres kurzen 
Stapels nur zu den niedrigsten Nummern von Baumwollengespinnst, 
und auch dann nur mit einem verhältnissmässigen Quantum von 
amerikanischer Baumwolle gemischt, verwendet werden kann. Bei 
einem Preise von 8 Rubel per Pud für die indische Baumwolle 

müsste die bucharische in Moskau für 5 V2 bis 6 Rubel verkauft 

• 


* 


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werden können, wenn sie die Concurrenz bestehen soll, und dies ist 
bei dem weiten Landtransport, den die bucharische Baumwolle zu 
ertragen hat, nicht möglich. Die Eröffnung einer Eisenbahn nach 
Taschkent würde diese Verhältnisse wesentlich und zwar zu Gunsten 
der .bucharischen Baumwolle ändern. 

Ausser den genannten Culturgewächsen liefert Turkestan ver¬ 
schiedene Obstsorten; Kirschen, Birnen, Aepfel, Pfirsiche, Pflaumen, 
namentlich aber Wein-Trauben, von welchen letzteren schon Herr 
P. Lerch in seiner vorerwähnten Arbeit erwähnt, dass sie in Tur¬ 
kestan billiger wie die Kartoffeln zu kaufen seien. Sie werden vor¬ 
zugsweise in der Umgegend von Taschkent in Chodschent und in 
Ssamarkand cultivirt, und zur Bereitung von Traubenwein benutzt; 
es beläuft sich die Production vön diesem letzteren auf 10,000 Wedro 
jährlich. Jedenfalls ist dieses Factum von Interesse und berechtigt 
zu der Hoffnung, dass sich bei fortschreitender Entwickelung auch 
die Weincultur immer weiter ausbreiten werde, obgleich die turke- 
stanschen Weine immerhin wohl eine nur locale Bedeutung behalten 
werden. Die Möglichkeit, dass der Weinstock in mehreren Gebieten 
Turkestans gedeiht und dass aus den Weintrauben selbst ein guter 
und trinkbarer Wein gewonnen werden kann, liefert den Beweis, dass 
das Klima Turkestans keineswegs ein ungünstiges ist, wie dies denn 
auch durch das Gedeihen des Mais, der Melonen und anderer Cul- 
turgewächse bestätigt wird, welche an Boden und Klima nicht unge¬ 
wöhnliche Anforderungen stellen. 

Was speciell die Güte des Bodens anbelangt, so scheint dieselbe 
allerdings nach den verschiedenen Gegenden, wie dies auch bei der 
Grösse und Ausdehnung des Landes nicht anders sein kann, sehr zu 
wechseln. Auf der Moskauer polytechnischen Ausstellung fanden 
sich verschiedene Proben von Ackererde, welche einen grossen Sand¬ 
gehalt zeigten und eine nur geringe Fruchtbarkeit vermuthen Hessen 
und in der That gilt der turkestansche Boden im Allgemeinen für 
sehr porös und leicht, weshalb auch die Bewässerung rfiittelst ein¬ 
zelner Gräben und Wasserfurchen genügt, ganzen Feldern die ihnen 
nothwendige Sommerfeuchtigkeit zuzuführen. 

Diese Bodenverhältnisse, so wie das ausserordentlich heisse Klima 
während der Sommerzeit, währencj welcher ein befruchtender Regen 
Zu den Seltenheiten gehört, sind denn wohl auch die Veranlassung 
gewesen, dass man in vielen Gebieten Turkestans zu dem Hülfs- 
mittel eines ziemlich ausgedehnten Bewässerungssystems gegriffen 
hat. Dies darf um so mehr unsere Aufmerksamkeit erregen, als wir 


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derartige Bewässerungsarbeiten in grösserem Maassstabe nur in land¬ 
wirtschaftlich hoch entwickelten Gegenden,* wie z. B. in Oberitalien, 
Belgien etc. antreffen. Dieser Bewässerung einerseits, andererseits ei¬ 
nem verhältnissmässig lange anhaltenden Sommer ist es wohl zuzu¬ 
schreiben, dass die dortige Landwirtschaft Resultate aufzuweisen 
hat, deren sich selbst unsere europäischen, in landwirtschaftlicher 
Beziehung hoch entwickelten Länder nicht immer zu rühmen haben. 
Es werden in Turkestan sehr häufig zwei Ernten in einem Jahre von 
ein und demselben Felde gewonnen. 

Ueber den Betrieb der Landwirtschaft in Turkestan finden sich 
in dem Ausstellungscataloge zur Moskauer polytechnischen Aus¬ 
stellung nachstehende Andeutungen: 

Als Wintersaaten werden nur Weizen und Gerste benutzt, fiir Som¬ 
mersaat hauptsächlich nur Reis und Sorgo, eine Art Zuckermoor¬ 
hirse. Ausser diesen beiden Hauptpflanzen cultivirt man in den Som¬ 
merfeldern noch die Baumwollenstaude, Flachs, Melonen und Ar- 
busen, Zwiebeln und Möhren. Man ersieht hieraus, dass der Feld¬ 
gemüsebau, der in Europa nur in dichtbevölkerten Gegenden mög¬ 
lich ist, in dem wenig bevölkerten Turkestan dennoch eine practische 
Anwendung findet. Ein übereinstimmendes Verfahren hinsichtlich 
der Wahl derCulturgewächse existirt nicht, wohl aber ist die Aussaat 
von Reis, Sorgo und Baumwolle allgemein. —Zum Gedeihen der 
turkestanschen Culturpflanzen ist die obenerwähnte Bewässerung 
ein unentbehrliches Hülfsmittel. Die Reisfelder werden auch dort 
während der ganzen Vegetationszeit dieser Pflanze unter Wasser ge¬ 
setzt. Einer drei- bis viermaligen mehrstündigen Bewässerung wer¬ 
den die Luzemefelder ausgesetzt und zur Förderung der Cultur an¬ 
deren heimischer Pflanzen, z. B. der Melonen, genügt bei dem po¬ 
rösen und das Wasser leicht fortleitenden Boden ein Durchziehender 
Felder mit Wassergraben. Die Wintersaaten bedürfen keiner beson¬ 
deren Bewässerung. Als Wirtschaftssystem herrscht die Dreifelder¬ 
wirtschaft vor, und zeigt dieselbe keine principiellen Abweichungen, 
indem auch in Turkestan die Winterfrüchte in das Brachfeld gesäet 
werden. Nur die mehrere Jahre ausdauernde Luzerne wird in beson¬ 
dere Fehler gesäet. * 

In grossem Widerspruche mit (Jer hier beschriebenen, sicherlich * 
schon mehr sorgfältigen Feldcultur stehen die Ackergerätschaften, 
welcher man sich zu dieser letzteren bedient. Der dort üblig^ Pflug 
verdient kaum diesen Namen, die dort gebräuchlichen Eggen, ein¬ 
fache Dornengeflechte, sind eben so primitiver Natur, und nur der 


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35 * 


Umstand, dass sie eben nur auf einem sehr leichten Boden Verwen¬ 
dung finden, erklärt die Möglichkeit ihrer Wirksamkeit. Im Gebiete 
der Siebenflüsse bedient man sich einer Art Ssocha, welche 
einige Aehnlichkeit mit der in vielen Gegenden Russlands gebräuch¬ 
lichen aufweist. Die übrigen Handgeräthe, Schaufeln, Spaten, 
Karren etc. entsprechen den hier beschriebenen an Einfachheit und 
primitiver Gestalt, aber auch an geringer Leistungsfähigkeit Die 
Holzgeräthschaften herrschen vor, Eisentheile sind mit grosser Spar¬ 
samkeit und nur dort, wo es ganz unerlässlich ist, angewendet. 
Würde es gelingen die turkestanschen Landwirthe an den Gebrauch 
unserer modernen Ackerwerkzeuge, namentlich wirksamerer Pflüge, 
zu gewöhnen, so müssten bei den übrigen vorhandenen Grundbe¬ 
dingungen und bei der Sorgfalt, welche man im Allgemeinen dem 
Feldbau angedeihen zu lassen scheint, die landwirtschaftlichen 
Leistungen dieses Gebietstheils sehr beachtenswerte sein. Die rus¬ 
sische Regierung wird daher wohl auch gerade zunächst in dieser 
Beziehung ihren Einfluss zur Geltung zu bringen haben. Ein erfolg¬ 
reicher Betrieb der Landwirtschaft muss nothwendig nicht nur den 
Wohlstand der dortigen Bewohner im Allgemeinen heben, sondern 
auch in Folge davon stabile Culturverhältnisse begründen, die dem. 
turkestanschen Gebiete so Noth thun, und welche die Grundbedin¬ 
gung der Cultivirung des Landes bilden. 

Der teilweise noch jetzt mehr uncultivirte und wilde Character 
Turkestans spiegelt sich namentlich in den Producten seines Thier¬ 
reiches ab. Wir treffen dort neben andern Raubthieren noch Tiger, 
Leoparden und Panther. Auch das wilde Schwein findet in Turkestan 
seine Heimat, wie auch Wölfe, rothe und dunkelbraune Füchse in 
jenen Gegenden sehr verbreitet sind. Dachse, wilde Katzen und Marder 
verschiedener Art bevölkern die turkestanschen Wälder, und Fisch¬ 
ottern dieFlussufer. DieFelle dieser Raub- und Pelztiere, so wie die 
der turkestanschen, teilweise noch wildenSchafe und Lämmer werden 
in den Städten zu Pelzwerk verarbeitet und dürften mit der Zeit einen 
gesuchten Handelsartikel abgeben. Auch die Raubvögel, namentlich 
Falken und Geier sind reich vertreten, darunter eine in Europa nicht 
vorkommende Art von Condor, der „neue Greif“ (Gyps nivicola 
Sev.). Wilde Gänse beleben die Bergseen. An Amphibien verschie¬ 
dener Art ist in Turkestan kein Mangel; so zeigte die Moskauer 
Ausstellung 21 Gattungen von Eidechsen, darunter solche von ganz 
ungewöhnlicher Grösse, 6 Gattungen Schlangen, verschiedene 
Gattungen Schildkröten, u. s. w. Auch begegnete inan daselbst 


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reichen und interessanten Sammlungen von Käfern, Schmet¬ 
terlingen und andern Insecten, unter denen namentlich die turke- 
stansche Heaschrecke, Termiten und Ameisenlöwen Interesse er¬ 
regten. Von Hausthieren werden Pferde, Rindvieh, Kameele, Schafe, 
Ziegen, Schweine, Hunde, Katzen und Hühner gehalten. Die ausge¬ 
stellten Schafe waren grössentheils braunfarbig, von grober Wolle, 
und erinnern an das kirgisische Steppenschaf, mit herabhängenden, 
langen Ohren, zu dessen Race sie auch unzweifelhaft gehören. Die 
Wolle hat wenig Werth und liefert ein nur ganz grobes Gespinnst. 
Auch die Kameelhaare werden zu Gespinnsten benutzt. Die Felle 
der Schafe und Lämmer werden vielfach zu Pelzen verarbeitet. Die 
Viehzucht steht im Allgemeinen noch auf einer ziemlich niedem 
Entwickelungsstufe, obgleich alle Grundlagen zu einer nachhaltigen 
Veredlung derselben, namentlich bei den reichen und guten Futter¬ 
mitteln, welche das Land bietet, vorhanden zu sein scheinen. Ob 
man bei Verwendung der einheimischen Viehracen rasch zum Ziele 
kommen wird, ist freilich eine andere Frage, welche kaum bejahend 
beantwortet werden dürfte. Die turkestanschen Pferde, obgleich kei¬ 
neswegs von elegantem Aussehen, sind schnellfüssig und Aus¬ 
dauernd. Jedenfalls wird die russische Regierung auch in Bezug auf 
die Hebung der Viehzucht^ nach und nach ihren Einfluss zur Geltung 
bringen, und dafür Sorge tragen, dass bessere und nutzbringendere, 
d. h. in ihren Producten werthvollere Viehracen in das Land ge¬ 
bracht werden. Im Verein mit der Einführung besserer Ackergeräth- 
schaften dürfte dies das Mittel sein, eine naturgemässe Basis für die 
Entwickelung der dortigen Wohlstands Verhältnisse zu bilden. 

Von grosser volkswirthschaftlicher Bedeutung ist. in Turkestan 
die Zucht der Seidenraupen. Dieses nützliche Insect, welches unter 
den dortigen Verhältnissen ganz ausserordentlich zu gedeihen scheint, 
liefert eine glänzende, feine, haltbare Seide, welche der kaukasischen 
Seide nahesteht. So hatten die Herren A. I. .Chludow aus'Chodschent 
und I. A. Perwuschin aus Taschkent auf der St. Petersburger Manu- 
facturausstellung (1870) turkestansche Rohseide ausgestellt, welche, 
ihrer hervorragenden guten Eigenschaften wegen die Aufmerksam¬ 
keit aller Sachkenner auf sich lenkte. Die Preise für diese Rohseide 
^bei Chludow) varürten zwischen 125 bis 550 Rbl. per Pud, die für 
Cocons beliefen sich auf 32 Rbl. per Pud. In . der turkestanschen 
Abtheilung derselben Ausstellung begegneten wir Cocons, Rohseide 
und abgchaspelter Seide aus Taschkent (Aussteller: Paramonow, Per- 
wuschfti '(s.’jc^l^ Denet, PTngas, Schach-Abderassul, Bachim Alimow) 


'V 


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353 


aus Chodschent (Aussteller Chludow (s.’ o.), Perwuschin, Küschake- 
witsch, Pir-Mairafe Ssalpyew, Ustalin), ausDizak(Radhim-Muhamed- 
Alim) aus Ssamarkand und Buchara. Man ersieht hierauf, dass sich 
der Seidenproduction schon viele Kräfte dienstbar gemacht haben, so¬ 
wohl russische wie einheimische, und ist so zu hoffen, dass dieser wich¬ 
tige Productionszweig, begünstigt von klimatischen und Bodenver¬ 
hältnissen, unter den jetzt mehr geordneten und den stabileren po¬ 
litischen und socialen Verhältnissen immer mehr an Bedeutung und 
Ausdehnung gewinnen werde. Die Seidenraupenzucht scheint auch 
von den Eingeborenen mit Lust betrieben zu werden, und dies er¬ 
höhet noch ihren Werth und ihre BedeutiÄig. Für die russische In¬ 
dustrie kann sie aber mindestens von gleicher Wichtigkeit werden, 
wie die Cultur der bucharischen und turkestanschen Baumwolle, 
und schon dies sollte ein Sporn sein, diesen überaus nützlichen und 
einflussreichen Industriezweig mit allen zu Gebote stehenden Mitteln, 
selbst unter Anwendung von Staatsunterstützung, zu fördern. In 
Turkestan ist in dieser Beziehung dem Kaukasus ein Rival entstanden, 
der mit ihm wohl weteifern kann. 

An Erzen und Mineralien scheint Turkestan nach den bis jetzt 
reichenden Nachrichten weniger reich zu sein als die anderen asiati¬ 
schen Länder Russlands, Sibirien und der Kaukasus. Während die 
Ausbeute an Waschgold in Sibirien von Jahr zu Jahr steigt und die 
Silber-, Blei- und Kupfer-Ausbeute Kaukasiens von Bedeutung ist, 
treten zwar Eisen-, Kupfer- und Bleierze ebenfalls im turkestanschen 
Gebiete auf, ohne dass sie aber bisher Veranlassung zum Betriebe 
einer lebhaften Metallproduction geworden wären. Es müssen wohl 
noch Jahre ruhiger Entwickelung vorübergehen, bevor man in Tur¬ 
kestan dem hier berührten Betriebszweige seine volle Aufmerksam¬ 
keit zuwenden wird. Es steht dann aber zu erwarten, dass eine ein¬ 
gehende Forschung noch neue Fundorte von Erzlagern zu Tage 
fördern wird, um so mehr, als die bereits bekannten zu der Ansicht 
berechtigen, dass die Erzgänge, mit welchen sie in Verbindung 
stehen, sich auf weit bedeutendere Strecken ausdehnen. Wie langsam 
es in diesen entfernten und menschenarmen Gegenden mit der Ent¬ 
wickelung des Hüttenwesens geht, beweisen Sibirien und die Kir¬ 
gisensteppen, deren Reichthum an edlen Metallen (Gold und Kupfer) 
arst in neuerer Zeit derart gewürdigt wurde, dass er die Veranlas¬ 
sung zu einer energischen Ausbeutung dieser Metalle bot. 

Auf der polytechnischen Ausstellung zu Moskau waren Erzproben 
von Eisen, Kupfer und Blei ausgestellt, die, wenn auch nicht be- 


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354 


sonders reich an Reinmetall, doch immerhin von brauchbarer Qualität 
zu sein schienest. 

Neben den genannten Erzen werden noch Graphit, Steinsalz und 
Steinkohlen gewonnen, welche letzteren man an verschiedenen 
Orten der Kreise Taschkent und Chodschent in brauchbarer Qualität 
findet. — Einen grossen Holzreichthum scheint Turkestan ohnedem 
nicht zu besitzen, denn man klagt allgemein über die Theuerung 
von Brennholz, und der Eifer, mit dem man nach Kohlen forscht, 
und die Genugthuung, mit welchen dortige Correspondenten über 
Auffindung neuer Kohlenlager berichten, deuten darauf hin, dass 
auch in Turkestan die Benutzung von Steinkohlen zu einem allge¬ 
meinen Bedürfnis geworden ist Neuerdings hat man in der Nähe 
des Syr-Darja Steinkohlenlager entdeckt, und man hofft, dass sie 
von Bedeutung für die dort stationirte russische Flottille werden 
sollen. Wir begrüssen daher in den dortigen Kohlenschächten und 
deren Bearbeitung die ersten Anfänge eines geordneten Hüttenwe¬ 
sens. Der in Turkestan auftretende Graphit dürfte, trotz ent¬ 
sprechender Qualität, kaum von grosser industrieller Bedeutung 
sein, da der weite Transport denselben so vertheuert, dass er, vpr 
der Hand wenigstens, zur Bleistiftfabrication nicht verwendbar ist. 
Dieselbe Erfahrung haben wir mit dem trefflichen sibirischen 
Graphit machen müssen, an dessen Ausbeute man seiner Zeit so 
grosse Hoffnung knüpfte. Der Name „russischer Graphit“ paradirt 
zwar auf vielen, namentlich in Deutschland fabricirten Bleistiften; • 
seitdem man aber dort die Erfahrung gemacht hat, wie hoch sich 
die Transportkosten dieses russischen oder besser sibirischen Gra¬ 
phits stellen, wird heute in Deutschland kein Pfund davon mehr ver¬ 
wendet. Von in Turkestan gewonnenen Mineralien sind die Tür¬ 
kise, die dort noch in ziemlichen Quantitäten gefunden werden, und 
welche sich theilweise durch Grösse und Reinheit auszeichnen, von 
Bedeutung. 

Von Naturproducten ist schliesslich noch des Torfes zu erwähnen, 
von welchem Proben auf der letzten Moskauer Ausstellung zu sehen 
waren. Es ist wohl hauptsächlich der Umstand von Interesse, dass 
mail in Turkestan anfängt, diesem Brennmaterial die Aufmerksam¬ 
keit zuzuwenden, die ihm in Gegenden, welche keinen Ueberfluss an 
Holz oder Steinkohlen aufweisen, gebührt. Es wäre zu wünschen, 
dass man in andern Theilen Russlands, namentlich in St. Petersburg, 
diesem Beispiele folgte, da hier die schönsten Torflager, trotz der 


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355 


steigenden Holz- und Kohlenpreise, ihrer Ausbeute vergebens 
harren. Ueber Naphtha wird weiter unten die Rede sein. 

Es . liegt wohl ausser Zweifel, dass das grosse Gebiet von Turkestan 
noch andere, und vielleicht noch reichere Naturerzeugnisse hat, als 
die hier namhaft gemachten. Die Zeit, seit der vollständigen Besitz¬ 
ergreifung Turkestans, ist aber verhältnissmässig noch zu kurz, als 
dass man schon Müsse gefunden hätte, durch Forschung und gründ¬ 
liches Studium, an dem es übrigens keineswegs fehlt, zu weiter ge¬ 
henden Resultaten zu gelangen. Ein thätiger und opferwilliger Mit¬ 
arbeiter und Forscher in dieser Beziehung ist die Kaiserliche Geo¬ 
graphische Gesellschaft in St. Petersburg, welche nicht nur in Tasch¬ 
kent eine besondere Section für Turkestan errichtet hat, sondern 
auch durch speciell dorthin entsendete Gelehrte und Expeditionen 
ihre Bemühungen hinsichtlich der Erforschung Turkestans unter¬ 
stützen lässt. 

Ein Land wie Turkestan, dessen Bewohner zum grossen TheH 
Nomaden sind und dessen Bevölkerung, ihrer Hauptmasse nach, nur 
Bedürfnisse kennt, welche über das Niveau des Allergewöhnlichsten 
kaum hinausgehen, ein solches Land kann selbstverständlich keine 
entwickelten Industrieverhältnisse, aufzuweisen haben. Obgleich 
einzelne Industriezweige in umfangreicherer Weise betrieben werden 
wie andere, so stehen doch auch sie noch auf einer niederen Stufe, 
und erheben sich nicht über den handwerksmässigen Betrieb. Die 
Hülfsmaschinen, deren sich diese Gewerbe bedienen, sind von der 
allerprimitivsten Art, schwerfällig in ihrem Aeusseren und in ihren 
Leistungen, selbst aus Handarbeit entstanden und nur für diese 
letztere geeignet. Selbst unsere einfachsten un^ ältesten Hand- 
maschinen werden von den dort in Verwendung stehenden nicht 
erreicht. Bei derartigen Hülfsmitteln darf es daher auch nicht 
Wunder nehmen, wenn die industriellen Leistungen der turkestan- 
schen Gewerbtreibenden sehr schwache sind, und dass sich deren 
Erzeugnisse selbst mit den einfachsten russischen Fabricaten nicht 
messen können. Nichts desto weniger sind die industriellen Lei¬ 
stungen Turkestans ziemlich vielseitig und von den 43 Industrie- 
classen, welche uns die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung 
vom Jahre 1870 vorführte, waren 23 in der turkestanschen Abthei¬ 
lung vertreten. Auch beginnt sich der russische Einfluss in Bezug 
auf die industriellen Verhältnisse Turkestans fühlbar zu machen. Es 
haben sich daselbst schon Gewerbetreibende russischer und anderer 
Nationalitäten m nicht allzugeringer Anzahl etablirt und betreiben 


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356 


hier industrielle Beschäftigungen, wenn sie es auch nur erst aus¬ 
nahmsweise zu einem fabrikmässigen Betriebe gebracht haben. 

- Ich folge bei den nachstehenden eingehenderen Bemerkungen 
über die industriellen Industrieverhältnisse der mehr übersichtlich 
geordneten Angaben des Cataloges der St. Petersburger Manufactur- 
Ausstellung vom Jahre 1870, dieselben durch einzelne Bemerkungen 
aus dem Ausstellungs-Catalog der letzten polytechnischen Ausstel¬ 
lung zu Moskau ergänzend. Hinsichtlich der Beurtheilung der 
Qualität derFabricate selbst habe ich mich durch eigene Anschauung 
leiten lassen. 

Flachs - und Hanf-Industrie, Die beiden genannten Gespinst¬ 
pflanzen werden vorzugsweise in den der europäischen Grenze zu 
nächst liegenden Districten Turkestans, wenn auch in beschränkten 
Verhältnissen, cultivirt. Es existirt aber noch eine andere,‘in 
mehreren Theilen Turkestans, namentlich im Gebiete der Sieben¬ 
flüsse wildwachsende Gespinstpflanze, Kendyr (Apocynum sibiri- 
cum) genannt, welche vielseitig, und wie es scheint, weit mehr ver¬ 
sponnen wird, wie Flachs und Hanf. Gespinnste wie Webwaaren 
sind von sehr niederer Qualität, und können letztere nicht entfernt 
unseren europäischen Leinwänden zur Seite gestellt werden. Man 
bedient sich zum Weben dieser Stoffe, wie auch der Baumwollen-, 
Wollen- und Ziegenhaarstoffe äusserst primitiver Handwebstühle, 
die trotz ihres grossen Umfanges von sehr geringer Leistungsfähig¬ 
keit sind und eine nur sehr ungleiche Weberei gestatten. Auf 
der polytechnischen Ausstellung in Moskau waren derartige Webe¬ 
stühle in der turkestanschen Abtheilung aufgestellt- und erregten 
ihrer monströsen^Formen wegen die Aufmerksamkeit der Ausstel¬ 
lungsbesucher. Flachsene Taue von der Stanitza Sophia waren auf 
der St. Petersburger Manufactur-Ausstellung vertreten. 

Baumwollen-Industrie. Ueber die Bedeutung der turkestanschen, 
namentlich der bucharischen Baumwolle, als industrieller Rohstoff, 
ist schon weiter oben gesprochen worden; an dieser Stelle inter* 
essirt uns diese Baumwolle nur in soweit, wie sie der einheimischen 
Industrie zur Basis geworden ist. In den russischen Fabriken, die 
doch bekanntlich mit- allen möglichen Hülfsmaschinen ausgestattet 
sind und denen es auch an materiellen Mitteln nicht gebricht, kann 
die bucharische Baumwolle nur dann versponnen werden, wenn ihr 
ein, ihrer Qantität entsprechender, Zusatz von amerikanischer Baupi- 
wolle gegeben wird. Selbst diejenigen Fabriken,. welche sich vor¬ 
zugsweise der Verarbeitung centralasiatischer Baumwolle befleissigen 


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357 


und ihre Einrichtungen hiernach getroffen haben, müssen mindestens 
25 pCt. amerikanische Baumwolle gleichzeitig mit der bucharischen 
verarbeiten. In Taschkent und den andern Städten Turkestans, in 
welchen sich Wollfabriken und Baumwollspinnereien befinden, ist 
dies nicht der Fall, indem* die einheimische Baumwolle ohne Zusatz 
von amerikanischer versponnen wird. Unter diesen Umständen 
kann auch das Fabrikat nur von sehr untergeordneter Qualität sein. 
Dagegen werden Baumwollgewebe, trotz der schlechten Beschaffen¬ 
heit der Garne, in grosser Mannigfaltigkeit erzeugt, ja in jeder Stadt 
fast wird ein anderer, eigens bekannter Stoff fabricirt. So waren auf 
der St. Petersburger Manufactur-Ausstellung nachbenannte Baum¬ 
wollenstoffe vertreten*. Kaljama und Alatscha aus Ssamarkand, 
Buchara und Urgut; Paripascha aus Chodschent; Sibak ebendaher; 
necTpnAb (buntgestreift) aus Dizak; Alatscha ebendaher und aus 
Taschkent; Sym-Suma und Astartschit (eine Art Zitz) ebendaher 
etc. etc. Als Sitze der Baumwollenweberei sind ausser den genann¬ 
ten noch folgende Städte zu bezeichnen: Ura-Tjube, Ura-Tepe und 
Kaschgar. Die Industriellen, welche sich mit der Baumwollenweberei 
befassen, sind ausschliesslich Einheimische. Man ersieht aber aus 
dem Mitgetheilten, dass trotz der ungenügenden Qualität der Stoffe 
die Baumwollenweberei einen weitausgedehnten Industriezweig bil¬ 
det, der jedenfalls entwickelungsfähig ist und für jene Gegenden 
von Bedeutung werden kann. Zunächst würde man freilich dahin 
arbeiten müssen, bessere Reinigungsapparate für die Rohbaumwolle 
einzuführen. 

Wollen-Industrie. Schafwolle, Ziegen- und Kameelhaar werden in 
Turkestan versponnen und zum Wollstoffe verarbeitet. Die Haupt¬ 
sitze dieser Industrie sind Taschkent, Wemoje, Dizak, Ssamar¬ 
kand und Kurama. Im Gebiete der Siebenflüsse scheint die Schaf¬ 
zucht am regsten betrieben zu werden. Aus der Wolle der oben 
genannten Thiere werden in den angeführten Städten Game, Zwirn 
(aus Kam^el- und Ziegenhaar) — in Dizak, Bänder — in Ssamar¬ 
kand, Kopal, Wernoje und Taschkent — Zeuge und Teppiche ge¬ 
webt» Kameel- und Ziegenhaargam wird zu diesem Zweck noch 
häufiger verwendet, wie Wollengame, unter denen wiederum die aus 
Lammwolle erzeugten den Vorzug zu verdienen scheinen. Auch 
Tuche macht man aus Ziegenhaar und Lammwolle, neben solchen 
auch aus gewöhnlicher Schafwolle. Der Sitz dieses Industriezweiges 
ist vorzugsweise Taschkent und Urä-Tepe. — Wie in allen orientali¬ 
schen und asiatischen Staaten wird auch in Turkestan die Teppich- 


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Weberei, namentlich in den Städten Taschkent, Chodschent, Kopal, 
Dizak und Ssamarkand eifrig betrieben, und kann mindestens als 
entwickelter bezeichnet werden, als die übrigen Zweige der Wollen¬ 
industrie. Obgleich diese Teppiche den kaukasischen in jeder Be¬ 
ziehung weit nachstehen, namentlich was Musterung und Farben¬ 
reinheit anbelangt, so sind sie doch von gutem Gewebe^ fest und 
stark, wie es die dortigen Verhältnisse bedingen und meistentheils 
auch von besserer Färbung als die übrigen Wollenstoffe. Sie finden 
die umfassendste Verwendung, indem sie in den Frauengemächern 
des sartischen Hauses, wie in den öffntlichen Localen und in den 
Zelten der Nomaden unentbehrlich sind. Neben der Teppich- 
fabrication ist auch die Filzfabrication nicht ohne Bedeutung, nament¬ 
lich für die Nomadenstämme, welche sich eines dünnen Filzes als 
Aussenwände für ihre Zelte bedienen. Im Innern sind dieselben 
mit stärkeren Filzen belegt und mit Teppichen bedeckt, wo sich 
nur Gelegenheit dazu bietet. Auch mit der Wollenindustrie be¬ 
schäftigen sich nur einheimische Industrielle, und liegt auch wohl 
um so weniger Veranlassung für die Europäer vor, sich dieses In¬ 
dustriezweiges zu bemächtigen, als das Rohmaterial, welches diesem 
letzteren zur Verfügung gestellt ist, nur in ungenügender Qualität 
beschafft werden kann. 

Was die technischen Leistungen der Seiden-Industrie anbelangt, 
so ist dieselbe unbedingt am meisten entwickelt, was wohl haupt¬ 
sächlich dem trefflichen Rohmaterial zu danken ist, das der¬ 
selben zur Verfügung steht. Dass sich der Herstellung dieses letz¬ 
teren bereits europäische Kräfte dienstbar gemacht haben, habe ich 
schon bei Besprechung der Naturerzeugnisse Turkestans hervorge¬ 
hoben. A. I Chludow unterhält in der Stadt Chodschent eine seit 
dem Jahre 1867 bestehende Seidenabhaspel-Anstalt, in welcher 
jährlich 1500 Pud Cocons zu*2$o Pud Rohseide verarbeitet werden, 
welche einem Werthe von 100,000 Rubeln entspricht. In der An¬ 
stalt stehen 200 Abhaspelstühle in Verwendung und finden 10 er¬ 
wachsene Arbeiter und 70 Knaben daselbst regelmässige Beschäfti¬ 
gung. A. I. Chludow hat in y. A . Perwttschin einen unternehmen¬ 
den Nachahmer gefunden, der in Taschkent im Jahre 1868 ein ähn¬ 
liches Etablissement gründete, das gegenwärtig schon 150 Arbeiter 
beschäftigt, demnach bereits grössere Dimensionen angenommen 
zu haben scheint, als das Chludow’sche. Uebrigens besitzt Perewu- 
schin äuch in Chodschent eine ähnliche Anstalt, wenigstens führt 
ihn der Ausstellungskatalog unter den Ausstellern von Rohseide 


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359 


aus jener Stadt an. In diesen beiden Etablissements begrüssen wir 
datier die ersten Anfänge europäischer Cultur und Fabrik-Industrie 
in Qentralasien, und schon in dieser Hinsicht sind dieselben von Inter¬ 
esse. Letzteres wird noch dadurch gesteigert, dass Herr Chludow 
seine Rohseide nach dem Auslande verkauft, wodurch derBeweis ge¬ 
liefert wird, wie sehr letzteres bereits weiss aus den Erfolgen 
der Culturmission Russlands im Osten practischen Nutzen zu ziehen. 
Was die Fabrication von Seidenstoffen anbelangt, so steht dieselbe 
zwar nicht im Einklänge mit den natürlichen Hülfsquellen dieses 
Landes, doch zeigt das Fabricat immerhin eine bessere Arbeit 
und eine grössere Gleichmässigkeit des Gewebes, wenn auch 
die düsteren unbestimmten Farben der meisten Seidenstoffe 
unserem europäischen Geschmacke nicht entsprechen. Es wer¬ 
den verschiedene Seidenstoffe fabricirt, ja die St. Petersburger 
Manufactur - Ausstellung zeigte uns sogar weissen Atlas aus 
Buchara, der schon immerhin der Beachtung werth war. 
Kanaus, gestreiftes Seidenzeug, wird in Chodschent, Ssamarkand 
und Buchara fabricirt — Mannigfaltigere Stoffe noch wie aus reiner 
Seide werden aus mit Seide gemischten anderen Stoffen gefertigt. 
Derartige Halbseiden führen die Namen Altschimbar, Bikasap, 
Adräs, Paripascha etc. (s. Baumwollen-Industrie) und werden vor¬ 
zugsweise in den Städten Buchara und Chodschent fabricirt. Seiden¬ 
kleider nach dem landesüblichen Schnitt werden in Taschkent, 
Ssamarkand und Buchara gefertigt. 

Mit der Anfertigung von Posamentirarbeiten , als Bänder, Schnuren, 
Quasten u. s. w. beschäftigen sich viele einheimische Industrielle in 
den Städten Taschkent, Chodschent, Ssamarkand und Buchara. 
Bettdecken, Tischdecken und gestickte Pferdedecken werden in # 
Taschkent und Ssamarkand angefertigt, wie denn überhaupt die 
Stickerei in Gold- und Silberfäden und Seide ein in Turkestan sehr 
bevorzugter Industriezweig ist, mit welchem sich auch die Männer 
beschäftigen. Der zu stickende Stoff wird in einen Rahmen einge¬ 
spannt und die Stickarbeit mit einer Art Häkelnadel ausgefiihrt. Die 
Stickerei besteht grossentheils in kleinen Rosetten und Arabesken, 
welche dann ausgeschnitten und auf den eigentlichen Stoff, welcher 
verziert werden soll, genäht werden. Diese Arbeit ist sehr mühe¬ 
voll und erfordert eine wahrhaft orientalische Geduld. Die Stickereien 
selbst sind den bekannten persischen Stickereien ähnlich. Auf der 
polytechnischen Ausstellung in Moskau war ein sartischer Sticker 
beschäftigt und zeigte seine Kunst unermüdet den ihn umlagem- 


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36 o 


den Ausstellungsbesuchern. Eine Eigentümlichkeit sind die mit 
Seide gestickten Handtücher, welche vorzugsweise in Ssergiopol ge¬ 
fertigt werden. 

Das landesübliche Kleidungsstück ist der Chalat, eine Art Schlaf¬ 
rock aus Baumwollenstoff, Seide und Halbseide, meist in bunten 
aber dabei düstern und unreinen, ins Violette spielenden Farben. 
Solche Chalats waren auf der St. Petersburger Manufacturausstellung* 
in grosser Mannigfaltigkeit von Gewerbtreibenden aus Taschkent, 
Chodschent, Wernoje und Ssamarkand ausgestellt; europäische 
Kleidungsstücke jedoch nur aus der letztgenannten Stadt, obgleich 
sie jetzt auch in Taschkent und in andern grossem Orten angefertigt 
werden. Auch die Strumpfwirkerei ist in der letztgenannten Stadt 
so wie in Kopal und Ssamarkand nicht unbekannt, wenn auch die 
Fabricate noch sehr rohe Arbeit zeigen.—Alle grösseren Ortschaften 
haben demnach ihren Gewerbestand aufzuweisen, der reichliches Ver¬ 
dienst und Beschäftigung in seiner Arbeit für die einheimische Be¬ 
völkerung findet. Aber auch europäische Gewerbtreibende siedeln 
sich nach und nach dort an, und namentlich scheint Taschkent, wie 
es auch in der Natur der Verhältnisse liegt, und wie es diese Stadt 
als der Sitz der höchsten Behörde auch verdient, der von ihnen aus¬ 
erwählte Ort zu sein. 

Die Tischlerei und Bildhauerei , oder vielmehr Holzschnitzerei schei¬ 
nen Gewerbe zu sein, welche von den Einheimischen gern und mit . 
grosser Kunstfertigkeit betrieben werden. Beide Ausstellungen 
brachten in dieser Beziehung treft liehe Muster. Namentlich fanden 
sich auf der St. Petersburger Manufacturausstellung aus Taschkent 
und Ura-Tepe geschnitzte Fensterrahmen und Thüren, die nicht nur 
ihres schönen Materials, sondern auch ihrer kunstvollen Arbeit wegen 
mit Recht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unsere 
modernen Schnitzanstalten und Tischlereien konnten sich an diesen 
Kunstwerken, was Reinheit der Arbeit und Reichthum der Zeichnung 
anbelangt, ein Vorbild nehmen. Holzarbeiten verschiedener Art: 
Chatouillen, Kasten, Löffel, Schüsseln u. s. w. werden nicht nur in 
Taschkent, sondern auch in Chodschent gefertigt. Die schönen.ein¬ 
heimischen Hölzer, als Rüstern, Wachholder, Aepfel-, Nuss-, Oel-, 
Aprikosen-, Pfirsich- und Birnbäume, ferner: Platanen, Tappeln und 
Birken, bieten der Tischlerei und der Drechslerei ein treffliches Ma¬ 
terial, und haben dazu beigetragen, dass sich diese Industriezweige 
verhältrüssmässig stark entwickelt haben. Auch die Bauart der 


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3<5i 


Häuser rtiit ihren Säulengängen haben viel dazu beigetragen. Ziegel- 
brenriereicn giebt es in den meisten Kreisen, vorzugsweise in Tasch¬ 
kent und Chodschent. Auch Marmor dient als Baumaterial und findet 
sich in der Umgegend von Kurama und Altynodijal. ' 

Gleich der Zigelbrennerei ist auch die Töpferei ein ziemlich ver¬ 
breiteter Industriezweig, der sich mit der Anfertigung thönerner Ge¬ 
schirre, als Tassen, Teller, Schüssel, Wasserkrügen etc. beschäftigt. 
Die orientalischen Formen herrschen bei diesen Erzeugnissen vor, 
die grösstentheils nur dem practischen Bedürfniss zu entsprechen 
haben. Die Geschirre sind gleich unseren gewöhnlichen Töpfer- 
waarCn grossentheils von brauner Farbe, zuweilen aber auch mit en 
ner weissen oder buntfarbigen Glasur überzogen, selbst in 1 einzelnen 
Fällen mit erhabenen und gefärbten Verzierungen versehen. Das 
Material, aus welchem sie recht gut gebrannt sind, scheint ein festöl* 
und fetter Töpferthon zu sein. Chodschent, Taschkent und Ssamar- 
kand liefern viel der hier beschriebenen ähnliche iTöpferwäaren. 
Pörcellan- oder, Fayencegeschirr scheint dort nicht gebrannt zu 
werden, wenigstens brachten beide Ausstellungen keine Mustek 
davon. 

Von chemischen Fabriken und dergleichen kann inTurkestan selbst¬ 
verständlich nicht die Rede sein. Wohl aber giebt es daselbst Pflan¬ 
zen verschiedener Art,, welche zu medicinischen Zwecken benutzt 
werden; ebenso Farbstoffe und Gerbemittel. Zur letzten St. Peters¬ 
burger Ausstellung war aus Ssamarkand eine Sammlung' pharma- 
ceutischer und cosmetisdier Mittel* wie solche in jenen Gegenden! 
angewendet werden, so wie auch dortige Farben eingesandt worden, 
ein Hdrr Paramanow dagegen hatte verschiedene Ledergerbemittel 
eingesandt/ J 

Leder. Die; Felle von Wölfen, Pferden, Rindern, Kälbern* Kamee- 
len undZiegen werden gegerbt und zu Leder verarbeitet Män fa^ 
bricirt Sohlen-Leder; Juchten, Sämisch-Leder, Saffian und Leder 
zu Schuhwerk. Im Ganzen steht die einheimische Gerberei auf einer 
niedem Entwickelungsstufe; einzelne Sorten Saffian scheinen jedoch 
von besserer Qualität *zti seih, ebenso das Juchten* und Sbhlen^Leder, 
welches' aus russischen* Fabriken stammt. Der obenerwähntd Para* 
manow hatte solches aus Taschkent ausgestellt, und scheint -fes: dem¬ 
nach, daäs russische Industrielle dort bereits Gerbereien > angelegt 
haben und betreiben/ Ebenso finden sich unter den Äussfcellerii von 
Wernoje» jirtd- fChodschent neben emhdmischen . 1 auch hTussisehe 
Namen. * * ' ' • •< ‘t.; ^.f! .. * 

*4 


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3 ß 2 

Was die Verarbeitung des Leders zu Gegenständen der Industrie 
anbelangt, so ist selbige aus einem rein handwerksmässigen Betriebe 
nicht herausgetreten, ja, es dürften sogar manche Ledfererzeugnisse, 
namentlich Schuhwerk, 4 das Product häuslicher Industrien sein. Beide 
Ausstellungen brachten aus Taschkent, Chodschent, Wernbje, Kopal 
Arasan und Ssamarkand reiche Sammlungen landesüblichen Schuh- 
werkes, das an Originalität und theilweise äusserst primitiver Arbeit 
wenig zu wünschen übrig lässt. Die Stiefel und Schuhe von unge- 
schwärzten gelbem Leder, dessen Aussehen keineswegs einen hohen 
Begriff von der turkestanschen Gerberei-giebt, tragen lange Schnäbel, 
welche an die chinesische Nachbarschaft erinnern und ganz kleine, 
oft winzig kleine Absätze. Die Sohlen sind dicht mit grossen dickköpfig 
gen Nägeln beschlagen; das Oberleder einzelner Stiefel war gestickt. 
Die "Stickerei selbst kommt aber jener keineswegs gleich, welche 
in einzelnen Theilen Russlands zum gleichen Zwecke ausgeführt 
wird. In Taschkent und a. O. leben übrigens schon Schuhmacher rus- : 
sisefier Nationalität, welche die Ausstellungen mit ihren Fabricaten 
beschickt hatten, und steht daher wohl zu erwarten, dass auch die 
Einheimischen sich nach dieser Richtung hin mehr und mehr europäi* 
siren werden. Die Sattlerei wird ebenfalls allgemein, doch am um¬ 
fangreichsten in Taschkent und Chodschent. betrieben r aus welch 
letztgenannter Stadt ein Herr Kuschakewitsch auch Sättel von guter 
Arbeit und europäischer Form nebst sehr vielen andern Industrie*' 
erzeugnissen ausgestellt hatte. Mit der Anfertigung von Geschirren' 
Riemen etc.'beschäftigen sich auch inländische Industrielle, ohne dass» 
sie ts jedoch eben so wenig ,wic ihre Fachgcnosaen in. andern- Ge¬ 
werben,, zu besonders hervorragenden Leistungen gebracht haben. 

Ueber die Pelzthiere und Pelzproducte Turkestans habe ich schon 
früher Andeutungen gegeben, und kann nuf ^wiederholen,/ dass die 
2urißbihng vortTeUea in besserer Wüise erfolgt, als dies bfei.dem; 
90Äst fcö niedern EntwiCkcliufigstand der-asiatische^ Industrie woraus»' 
zusetzen ist. ; Viele Pelze «dortiger; Thiere, ^ ver^chiedeniMib^er 
Püchse," Marder/. Wilder Katzen, Fischptfcem,nj sindianch für* 
die eurbpäläche Industrie von Werth, * und dürften lüit der Zeit gärige 
barse Handelsartikel werden. « Auch die in : Eurbpa immer, selteher 
werdenden^ Dachte gehören hierzu. Die Stacheln der imTnrkestanT 
einheimischen Stachelschweine .dürften ebönfaUs; auch industrieflem 
Zweckenidieiietfcar gemacht Werden könmnudlasPelkwerk der wildbnrl 
Ziegen und riwiklen Schafe^ welche dort aiiftretenfj diibftq einmeh# 
naturgeschichtliches als industrielles Interesse bieten. * m, / 


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Schreibpapier , von allerdings sehr untergeordneter Qualität, dick, 
gelb, pergamentartig, aber einheimischen Ursprungs, war auf der 
St. Petersburger Ausstellung aus Taschkent von Chal-Muhamed 
und aus Chodschent von dem oben genannten Kuschakewitsch aus¬ 
gestellt. Nach dem Moskauer Ausstellungscataloge wird dieses Pa¬ 
pier aus baumwollenen Lumpen und aus Watte fabricirt. Ausser in 
der Stadt Khokahd soll es nach der genannten Quelle noch eine Pa¬ 
pierfabrik in der Ansiedelung Tscharka geben. Buntfarbiges Papier 
wird in Buchara gemacht. * 

Mit der Production von eisernen Werkzeugen: als Beilen, Sägen, 
Sicheln, Pflugschaaren, Spaten, Zangen verschiedener Art, Messern, 
Scheeren, Rasirmessern, Striegeln, Hufeisen, Thürangeln, Riegeln, 
Ketten und Nägeln beschäftigen sich zahlreiche eingeborene Hand¬ 
werker in allen Städten und Ansiedelungen; doch lipfern sämmtliche 
einheimische Erzeugnisse den Beweis eines ausserordentlich niedrigen 
Entwickelungszustandes auch jener Gewerbe, welche sich mit der 
Verarbeitung des Eisens befassen. Nicht nur plumpe ungefällige 
Formen, sondern auch grobe undunvollkommene Arbeit der ein¬ 
zelnen Werkzeuge, machen diese letzteren eben nur geeignet flir 
ein Volk, bei welchem noch primitive Culturzustände herrschen. 
Gerade die geringe Ausbildung dieses Gewerbszweiges characteri- 
sirt die wirtschaftlichen Zustände Turkestans besser, als manches 
Andere und kann als Gradmesser seiner Culturentwickelung dienen. 
Hauptsächlich sind es einheimische Kräfte, welche sich mit der Er¬ 
zeugung derartiger Eisengeräthschaften befassen und unter den 
zahlreichen Namen aus Taschkent, Khodschent, Dsizak, Ura-Tepe, 
Kurama, Wernoje und Ssamarkand, welche die letzte ät. Peters¬ 
burger Manufacturausstellung mit Eisengeräthschaften beschickt 
hatten, begegnete man nur einem nichteinheimischem Namen, den' 
des schon mehrgenannten Kuschakewitsch in Chodschent. Grössere 
Schmieden und Schlossereien nach europäischen Begriffen scheinen 
aber in Taschkent ausser bei den Militärverwaltungen nicht zu be¬ 
stehen'. Die russische Aralsec-Flotille unterhält z. B. eine solche zif ; 
KasäHrisk; und fabricirt dieselbe auch bessere Handgeratnschafteri 
für Schlosser und Zrmmerleute. Für die Anfertigung blanker Waffeii , 
(Säbel) giefbt es Werkstädten in Chodschent (Kuschakewitsch und 
Asamat-Khodscha). 

Gerätschaften aus Kupferblech als Kessel, Theebretter, Ssaino- ! 
wars, Theekannen, Leuchtet-, Waschschüsseln, Teller, Glocken. 
Wasserpfeifen und Trommeln werden sowohl von Russeil als auch 

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364 


von Einheimischen namentlich in Taschkent, Chodschent, Ssamar- 
kand u. a. Orten gefertigt. Die Erzeugnisse dieser letzteren sind 
ziemlich originell ünd tragen meist orientalische Formen, doch stehen 
sie den kaukasischen Arbeiten dieser Art bedeutend nach. Auch an 
Arbeitern für Gold- und Silberschmuck fehlt es in Taschkent, Chod¬ 
schent, Dizak, Ssamarkand und Buchara nicht. Wir begegneten 
auf den beiden Ausstellungen zu St. Petersburg und Moskau ver¬ 
schiedenen Arten Kopf- und Halsschmuck für Frauen, Armbänder, 
Ringe, Ohren- und Nasens<Jimuck, Gürtel, goldenen Berloks und 
dergl., die eine sorgfältigere Arbeit bekundeten und im Geschmaeke 
jener Gegenden gearbeitet waren. Auch die turkestanschen Frauen, 
gleichviel welcher Nationalität sie angehören, ob Nomaden oder 
Ansässige lieben den Goldschmuck und tragen ihn, wo sich ihnen nur 
Gelegenheit dazu bietet. Diesem Umstande ist es wohl zuzu¬ 
schreiben, dass sich dieser Industriezweig mehr entwickelt hat, 
wie mancher andere. 

Musikalischen Instrumenten begegnen wir in verschiedenen Formen 
und in ziemlich reicher Auswahl: Trommeln, Becken, Schalmeien, 
Geigen, Flöten, Trompeten, Zittern etc. etc. Viele tragen unüber¬ 
setzbare Namen. Sie sind sämmtlich höchst einfach und dem Cha- 
racter des Landes, dem sie entstammen, entsprechend. 

Gehen wir zu jenen Industriezweigen über, welche sich mit der 
Herstellung yon Lebensmitteln befassen, so ist zunächst der Mühlen¬ 
industrie zu gedenken. Auf der Moskauer Ausstellung fanden sich 
einige Modelle von Mühlen und zwar von solchen, bei welchen das 
Wasser, von oben herabfallend, das Rad treibt, und solchen, wo es 
von unten durch die Macht der Strömung in Bewegung gesetzt 

wird. Diese einheimischen Mühlen leisten nicht viel und liefern selbst- 
* * 

verständlich nur wenige Sorten Mehl. Neuerdings sind aber russische 
Mühlen in einzelnen Gegenden, namentlich in den Gebieten der 
Sieben-Flüsse und des Syr-Darja eingeführt worden, und wird sich 
wohl deren Zahl rasch vergrössern. Oehlmii/ilen dagegen giebt es eine 
grosse Anzahl, namentlich in der Umgegend von Taschkent, wo 
mar> deren über 100 zählt; sie leisten aber ausserordentlich wenig, 
indem sie täglich nur einige Pfund Oel pressen. In Taschkent selbst 
besitzt ein Herr J/J- Krause eine Oehlmühle von grösserer Leistungs¬ 
fähigkeit, welche täglich 20 Pud Oel liefert, und bei dieser Leistung 
nur 3 Arbeiter beschäftigt. Auf dieser Mühle wird Oel aus Nüssen, 
Moos, Sesam, Sonnenblumen, Lein, Kapern {?) und Rübsen ge¬ 
schlagen ; im Gebiete der Sieben-Flüsse schlägt man aber auch 


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365 


solches noch aus Hanf- und Ärbusensaamen. Das Oel selbst wird 
sowohl zum Brennen als zu Speisen benutzt. 

Zum Schälen des Reises bedient man sich der Wasserstam^fen, 
wie solche auch in den gewöhnlichen landesüblichen Mühlen zum 
Schälen des Getreides angewendet werden. 

Der Weinprodiiction wurde schon bei früherer Gelegenheit Erwäh- 
nung gethan. Hier wollen wir nur noch anführen, dass es Taschkent 
und Wernoja auch bereits zu Branntweinbrennereien gebracht haberi, 
Wie denn auch die „Turkestansche Zeitung“ kürzlich meldete, dass der 
Genuss des Branntweins in jenen Gebieten schon so grosse Dimen¬ 
sionen angenommen habe, dass die Branntweinaccise der Krone be¬ 
reits sehr bedeutende Erträgnisse abwerfe. Von Interesse ist, dass 
der Kaufmann Perwuschin, der in Taschkent eine grössere Brennerei 
besitzt, sich als Brenngut des inländischen Reises und der Wein¬ 
treber bedient. 

Noch sind die Seifenfabrication und die Naphthagewinnung zu er¬ 
wähnen. Die Sarten bereiten ihre Seife aus Schaftalg und einem Al¬ 
kali, das sie aus einer Mischung von ungereinigter Soda und Kalk 
herstellen. Diese ungereinigte Soda wird von dem in den unbe¬ 
wohnten Steppen wildwachsenden Grase Kyrk-Bugun gewonnen, 
das iin Herbste gesammelt und in grossen Haufen verbrannt wird. 
Die Asche wird dann später mit Wasser benetzt und getrocknet und 
liefert diese Soda, welche nicht nur zum Seifenkochen, sondern auch 
zur Gerberei, in der Töpferei und in den Färbereien benutzt wird. 
In Wernoje unterhält HeVr Kortenew eine grössere, fabrikmässig 
betriebene Seifensiederei. 

Naphthaquellen finden sich zu MaYbulak und Maili (so heissen auch 
die Quellen) unweit der Stadt Namangan im Khokandschen Chanat. 
Obgleich bis jetzt die Naphthagewinnung eine noch sehr beschränkte 
ist, so wird doch in dem Naphthaetablissement zu MaYbulak schon 
Kerosin raffinirt, der zur Beleuchtung der Strassen in dem von den 
Russen bewohnten Theile von Taschkent benutzt wird. In Maili, auf 
der Fabrik des Kaufmanns Sacho, wird ebenfalls Kerosin gewonnen, 
ausserdem aber noch das rohe Naphtha zur Fabricatiori von Asphalt 
benutzt. Von Interesse ist, dass die Eingebornen die Bereitung von 
Asphalt längst kannten, das Product aber nur als sogenanntes Schu¬ 
sterpech bei der Anfertigung von Stiefeln benutzten. 

Hiermit glaube ich die Industrie- und überhaupt Productionsver- 
hältnisse Turkestans so ausführlich, wie dies das mir zu Gebote ste¬ 
hende Material gestattet, besprochen zu haben. Es werden sich 


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3 66 


immer noch genug Lücken finden, und mancher Industriezweig mag 
an Ort und Stelle einer anderen Beurtheilung unterzogen werden, 
als cHes aus der Ferne und auf Grundlage blosser Muster geschehen 
konnte. Meine Aufgabe ging auch nur dahin, das Material zusammen¬ 
zustellen, welches die letzten Ausstellungen von St. Petersburg und 
Moskau in dieser Beziehung boten. 

Die Industrie Turkestans beruht auf Handarbeit, und zwar nach 
Allem, was wir gesehen haben, auf einer sehr mangelhaftem Von 
Fabrikindustrie kann, mit sehr wenig von mir auch berührten Ausnah¬ 
men, in jenen Gebieten nicht die Rede sein; auch kann es schwerlich 
in der Absicht der russischen Regierung liegen, eine europäische 
Fabrikindustrie dort cinzuführcn. Dagegen wird dieselbe alle Veran¬ 
lassung haben, die dort vorhandenen Keime des Geweihewesens zu 
entwickeln und nach und nach einen Handwerkerstand ins Leben zu 
rufen, der in den Städten der neuen Provinz stabilen Aufenthalt 
nimmt, und dessen Erzeugnisse nicht nur den localenBedürfnissen ge¬ 
nügen, sondern auch nach und nach den Wunsch nach Neuerem und 
Besserem Sei der dort einheimischen Bevölkerung wecken. Der rus¬ 
sische Handel wird dann das Seinige dazu beitragen, diese Bedürf¬ 
nisse zu steigern und sie auch weiter nach Osten verpflanzen. Wie 
schon mehrfach erwähnt, wird die Hauptaufgabe Russlands darin zu 
bestehen haben, stabile Verhältnisse zu schaffen und die dortigen 
Einwohner damit zu befreunden. Das Nomadisiren muss, wenn nicht 
beseitigt, doch mindestens eingeschränkt werden, da Nomaden¬ 
völker der Cultur nicht zugänglich sind. Jedenfalls wird eine solche 
Beschränkung grosse Schwierigkeiten bieten, welche nur mit Geduld 
und Wohlwollen von Seiten der russischen Behörden überwunden 
werden können, allein sie ist eine Vorbedingung künftiger Erfolge 
und. muss durchgeführt werden, wenn Russland seine Aufgabe, die 
europäische Civilisation und Cultur nach Osten zu tragen, erfüllen 
und dann dem russischen Handel der Weg nach Centralasien geöffnet 
und auf die Dauer erhalten werden soll. 

F. MathäI. 

(Schluss folgt.) ' 


m 


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Das russische Telegraphenwesen im Jahre 1870. 


Dem vor Kurzem erschienenen Bericht über das Telegraphen¬ 
wesen im Jahre 1870 entnehmen wir nachstehende Daten über 
diesen wichtigen Zweig des öffentlichen Verkehrswesens. .Einige 
summarisch^ Notizen über diesen Gegenstand für den Zeitraum von 
1856 bis 1870 schicken wir einleitungsweise unseret Darstellung 
voraus. 

I. 

Die Errichtung electro-magnetischer Telegraphen in Russland be¬ 
gann im Jahre 1853, Die ersten Linien waren die von St. Peters¬ 
burg nach Moskau, Kronstadt, Warschau und Königsberg. Mk 
Errichtung der letzteren Linie begannen die internationalen tele¬ 
graphischen Beziehungen Russlands zu den übrigen europäischen 
Staaten.. 

Es muss hervorgehoben werden, dass die Herstellung eines Tele : 
graphennetzes in Russland unvergleichlich mehr Schwierigkeiten 
darbietet, als im Auslande, wegen der grossen Entfernungen, der 
minder günstigen klimatischen und localen Verhältnisse, der geringen 
Dichtigkeit der Bevölkerung mancher Gouvernements und der Kost¬ 
spieligkeit des Transports der erforderlichen Materialien. 

Seit 1856 sind in Russland alljährlich im Durchschnitt 2939,5» 
Werst Telegraphcnlinien und 5638,33 Werst 7 elegraphendrähte ge¬ 
legt worden. Den stärksten Fortschritt hat in dieser Hinsicht das 
Jahr 1864 aufzuweisen, währenddessen das russische Telegraphen¬ 
netz sich um 5550 Werst Linie und 11,523 Werst Draht vergrösserte. 
Das Jahr 1865 hingegen ergiebt die Minimalziffer in Betreff des Zu¬ 
wachses der Linien (1612 Werst) und das Jahr 1867 — die der Aus¬ 
dehnung des Drahtnetzes (1061 Werst). 

In umstehender Tabelle bieten w r ir dem Leser eine Zusammen¬ 
stellung der auf den behandelten Gegenstand bezüglichen Ziffern, 
wobei wir gleichfalls die Anzahl der im Laufe eines jeden Jahres ab¬ 
gefertigten Depeschen und die Summe der alljährlich erzielten Brutto- 
Einnahmen hinzufugen. 


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3 68 



1 

Telegraphen- ! 
Linien. 

Werst. 

Telegraphep- 

Drahte. 

Werst. 

Anzahl der 
Depeschen. 

' 

Einnahme. 

Rubel. 

1856 

— 

— 

150,417 

312,116 

1857 

7.325 

10,144 

170,210 

427,637 

1858 

■9.329 

12,148 

205,515 

473,757 

1859 

14.316 

17,135 

301,711. 

676,603 

1860 

16,474 

25,356 

465,027 

972,287 

1861 

19,532 

32,330 

627,061 

1,240,664 

1862 

22,765 

36,384 

714,919 

1,441,614 

1863 

26,352 

45,867 

816,983 

1,624,594 

1864 

31,902 

56,390 

927,358 

1,944,502 

1865 

33,514 

61,750 

1,044,37s 

1,991,634 

1866 i 

34,748 

67,019 

1,416,351 

2,223,699 

1867 

35,291 

68,080 

1,589,417 

2,592,229 

1868 

37,436 

71,368 

2,028,949 

2,853,904 

1869 

40,193 

75,981 

i 2;399,4IO 

2,379,086 


Die beförderten Depeschen zerfallen in folgende Categorien: 



Inländische Depeschen: 

Ausländische Depeschen : 


bezahlte. 

frfi beförderte. 

ausgehend. 

eingehend, j 

| Transito- 
1 Depeschen. 

1860 

303,008 j 

60,109 

' 50,330 

51,580, 

— 

■ 1861 

433,110 

63,509 

65,549 

64,893 

— 

1862 

512,685 

j 62,642 

70,903 

68,689 

— 

1863 

589,554 

74,490 

77,857 

75,082 

— 

1864 

677,911 

81,895 

84,514 

73,038 

— 

1865 

773,541 

88,340 

92,314 1 

90,180 

— 

1866 

1,034,593 

122,711 

128,978 

129,069 

— 

1867 

1,197,280 

89,272 

151,743 

151,142 

— 

1868 

1,567,807 

106,1 IO 

174,035 

174,129 

6,868 

1869 

1,875,391 

1 123,051 

1 

195,930 

197,049 

| 7,989 


Betrachtet man die Gesammtziffer der expedirten Telegramme, so 
bemerkt man einen besonders starken Zuwachs der beförderten 
Telegramme im Laufe des Jahres 1860, ein Umstand, auf welchen 
die in dem Jahre erfolgte Tarif-Ermässigung nicht ohne Wirkung 
geblieben sein wird. Eine fernere, besonders in die Augen sprin¬ 
gende Steigerung bemerken wir während der Jahre 1866 und 1868, 
wo ebenfalls eine Herabsetzung' des Depeschenportos stattgefunden 
hatte. — Die starke Zunahme in der Benutzung des Telegr^phemim 


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369 


Jahre 1869 mag ihre Erklärung in dem Aufschwünge des Handels, 
in der Gründung der vielen Banken, sowie überhaupt in der 
wachsenden Gewöhnung des Publicums, sich des Telegraphen zu 
bedienen, ihre Erklärung finden. 

In ziemlich gleichmässiger Weise mit der Zunahme der Anzahl 
der expedirten Telegramme ist auch die Brutto-Einnahme der 
Telegraphen-Verwaltung gewachsen. Namentlich ist aus den von 
uns angeführten Zahlen ersichtlich, dass die Tarifermässi- 
gungen eine für den Staat durchaus vorteilhafte Maassregel ge¬ 
wesen sind, da die Herabsetzung des Portos nicht nur einen ge¬ 
steigerten Depeschenverkehr, sondern auch eine erhebliche Mehr¬ 
einnahme des Staates zur Folge gehabt hat. 

Der Einnahme gegenüber stellen sich die Ausgaben 'der Tele¬ 
graphen-Verwaltung in folgender Weise dar: 




Au sg 

ab eit. 


Einnahme * 


Herstellung 

1 Besoldung 


l 

1 

1 


•r , 1 1 des 

Telegraphen Per5on . 

Diverse *) 

Summa. 

i 

Brutto. | Reine. 


kamen. 

1 


! 

1 

18S 7 

175,762 

322,955 

498,717 

427,637!— 71080 

1858 

339. 1 76 

359-980 

599,156 

473,757,—125399 

1859 

616,311 

556,688 

1-172,999 

676,6031—496396 

1860 

494-974 

339.023 

489-838 

1,323,835 

972,287—351548 

1861 

414,271 

429.329 

591,287 

1,434,887 

1,240,664,—194223 

1862 

322,434 

532,562 

735-509 

1,590,505 

1,441,614, — 148891 

1863 

706,717 

666,250 

830,875 

2,203,842 

1,624,594—579248 

1864 

685,950 

768,053 

906,183 

2,360,186 

1,944,502 -415648 

1865 

1,111,876 

804,623 

975-679 

2,892,178 

1,991,634—900544 

1866 

768,286 

925-520 

1,123,512 

2,817,318 

2,223,699—583619 

1867 

427,050 

928,000 

1,136,1092,491,159 

2,592,2294-101070 

1868 

240,000 

935,186 

00 

00 

vo 

5 

KJ1 

Ni 

1 

00 

2,853,904+789623 

1869 

304,622 

1,133,616 

j 1, 02 7-737j 2 -465,97 5 

3,379,086+913111 


Von einem Reingewinn lässt sich im Grunde während des ganzen 
inRede stehenden Zeitraums sprechen, da derselbe doch schon eigent¬ 
lich in dem Falle als erzielt zu betrachten ist, wenn nach Abzug der 
Betriebskosten (Besoldung des Personals, Unterhalt- und Remonte- 


Miethe, Heitzung und Beleuchtung der Stationen, Erhaltung der Batterien und 
Apparate und Remontekosten. f 


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kosten) aus der Summe der Brutto-Einnahme sich ein Ueberschuss 
ergiebt. Jedenfalls ist das Resultat der drei letzten in unserer Tabelle 
angeführten Jahre als ein durchaus erfreuliches anzusehen; es ist das 
um so mehr, als bei jeder weitern Ausbreitung unseres Telegraphen¬ 
netzes Linien geschaffen werden, die höchst wahrscheinlich unrenta¬ 
bel sind und die gesammte Reineinnahme der Telegraphen-Admini¬ 
stration schmälern. 

Schliesslich sei uns noch gestattet, einige Angaben über die 
Zahl der existirenden Telegraphen-Stationen, der in denselben 
arbeitenden Apparate, sowie über die Zahl der bei dem Telegraphen- 
wesen beschäftigten Beamten zu bieten. 



Stationen 

System Morse. 

Apparate , 

SystemHughes 

Andere 

Systeme. 

Beamte 

1856 

33 

— 

— 

_ 

786- 

'1857 

79 

— 

— 

— 

872 

1858 

90 

— 


— 

i,i 55 

1859 

118 

— 

— 

— 

1,429 

1860 

160 

326 

— 

— 

1,690 

1861 

175 

531 

— 

— 

' 1,985 

1862 

217 

567 

— 

— 

2,461 

1863 

362 

589 

— 

— - 

1 2,651 

1864 

399 

735 

— • 

— 

2,933 

1865 

449 

786 

4 

2 

i 3.240 

1866 

463 

831 

6 

2 

3 . 3*7 

1867 

524 . 

890 

14 

2 

3,240 

1868 

566 

942 

14 

2 

3.453 

1869 

649 

952 

27 

! — 

, 3,728 


II. 

Am i. Januar 1870 besass das Russische Reich 

40, 193 V 4 Werst Telegraphenhnten 
75,981 Werst Telegraphendrahte, 
649 Telegraphenstationen, 

von denen 445 Stationen des Staatstelegraphen und 204 Eisenbahn¬ 
stationen, welche Privattelegramme beförderten. 

Im Laufe des Jahres 1870 ist eine weitere Ausbreitung des Tele¬ 
graphennetzes erfolgt, sowohl durch Anlegung neuer Linien als 
durch Einrichtung neuer Drähte auf denjenigen bereits existirenden 
Linien, bei welchen eine steigende Nachfrage nach Beförderung sei- 


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37i 


tens des fublicums die Vermehrung der Leitungsdrähte nothwen- 
dig gemacht hatte. 

So sind 14 eindrähtige Linien mit einer Gesammtlänge von 1 17 ö 3 /4 
Werst * **) ) hergestellt worden und eine zweidrälitige Linie — 3141 1 /a 
Werst lang. Bei vier bestehenden Linien ist ein Draht hin2ugefiigt 
worden (1268 Werst). Endlich sind von der Regierung längs sieben 
Eisenbahnlinien Telegraphen gelegt worden, deren Länge 1833 m 
Werst erreicht; die Drähte haben eine Ausdehnung vbn 4138 Werst. 
Aufgehoben wurden im Laufe von 1870—4 Linien, 1075V4 Werst 
lang mit einem Drahte von 199 77 * Werst. 

Somit besass Russland am I. Januar 1871—50,705^4 Werst Tele¬ 
graphenlinien und 99,322 l /t Werst Telegraphendrähte, welche sich 
folgendermaassen vertheilen *. 


Telegraphen der Eisenbahngesellschaften 
Telegraph der Indo-Europäischen Gesell- 


Linie. 

Draht. 

44,094 V* 

84,597 V* 

3> 2 °4 

7,641 7 * 

3,407 

7,083. 


Zu den, Anfang 1870 bestehenden 445 Staatstelegraphenstationen 
wurden im Laufe des Jahres 62 neue hinzugefügt und zwar 


im Europäischen Russland . r 

auf dem Kaukasus. 

im Asiatischen Russland ... 


;ü (Stadttelegraphenstationen) 


22 

4 

17 

3 

16 


in Moskau 

Ferner wurden sechs Eisenbahntelegraphenstationen eröffnet. Auf¬ 
gehoben wurden sieben Stationen. 


Am 1. Januar 1871 gab es somit 210 Eisenbahntelegraphen¬ 
stationen und 504 Staatstelegraphenstationen. Von letzteren nehmen 
318 inländische und ausländische Depeschen an, 181 nur inländische, 
fünf endlich nehmen überhaupt keine Telegramme an, sondern sind 
blos Controlstationen. 


*) Die Länge des Drahtes beträgt 1284 Werst. Der Unterschied zwischen der oben 
angegebenen Ziffer ergiebt sich aus den Verbindungsdrähten, durch welche die neu 
errichteten Linien mit den bestehenden vereint worden sind. 

**) Diese Linie, welche ausschliesslich zur Beförderung der Auglo-Indischen Depe¬ 
schen dient, geht von der Station Alexandrowo über Warschau, Shitomir, Odessa. Ssim- 
feropol, Kertsch. Ssuchum-Kale, Kutaiss und Tiflis, bis nach Dshulfa an der Persisch- 4 

Russischen Grenze. Die Stationen dieser Linie nehmen russische Depeschen nicht direct f 
vom Publicum, sondern von den Stationen des russischen Staatstelegraphen entgegen. 


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Google 










37? 


Auf den Stationen werdeh 1,170 Morse’sche und 41 Hughes’sche 
Apparate benutzt. 

Ausser auf den Telegraphenstationen können noch in 186 Post- 
comptoiren Telegramme aufgegeben werden. 

Das Telegraphen-Personal, welches, wie oben gezeigt, am I. Januar 
1870 — 3728 Personen zählte, bestand am 1. Januar 1871 aus 4135, 
von denen 344 Frauen. 

Betrachten wir nun die Anzahl der im Laufe des Jahres 1870 ab- 
gesandten und empfangenen Depeschen, so lässt sich, im Vergleich 
mit dem vorhergehenden Jahre, für die innere Correspondenz eine 
Steigerung von 12 pCt. und für die auswärtige eine solche von 
15 pCt. constatiren. Nachstehende Tabelle giebt über diesen 
Gegenstand den ausführlicheren Nachweis. 


Inländische Correspondenz . 
Abgesandte bezahlte Depeschen 
„ frei beförderte „ 

Empfangene bezahlte „ 

„ frei beförderte „ 


Summa . ! 

Ausländische Correspondenz . 
Abgesandte bezahlte Depeschen 
,, frei beförderte „ 

Empfangene bezahlte „ 

,, frei beförderte „ 

Summa . 

Durchgehende Depeschen . . . 
Transitodepeschen .. 


Im Ganzen . . 


i 1869 1 

' 

1870 ; Zuwachs ira | 
Jahre 1870 | 

pCt. 

1 

1,875,391:2,085,575 

210,184; 

II 

123,051' 

146,737 

' 23,686' 

• 18 

1,875,3912,085,575 

210,184! 

11 

123,0511 

146,737 

23,868 

18 

3,996,8844,464,624 

! 1 

467,740 

12 

191,214 

216,104 

24,890 

*3 

4 , 7*6 

5,414 

698 

*3 

192,540 

226,371 

33,831 

*7 

4,509 

5,104 

595 

11 

392,279 

452,993 

60,014 

15 

2,073,268 

2,643,694 

570,426 

27 

7,989 

31,016 

23,027 

329 

6,471,120 

7 > 592 , 3 2 7 |i, 121,209 



Mit den fremden Staaten ist die Correspondenz gewachsen: 
mit Oesterreich um 23 pCt; 

„ Grossbritannien „ 20 ,, 

„ Italien 26 „ 

„ Deutschland „ 9 „ 

wie die nachstehende Tabelle der ausgegangenen Telegramme der 
internationalen Correspondenz für die Jahre 1869 und 1870 ergiebt. 


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373 


Depeschen 
aufgegeben nach: 

1870 

*869 

1870 gegen 
wenigerj' mehr 

1869 

Procent 

Europäische Staaten : 






Baden . 

>.637 

1,390 

— 

247+17,7 

Baiern . •.. 

1,513 

1,363 

— 

150+10,7 

Belgien. 

6,257 

5,632 

— 

625+11,1 

Dänemark. 

2,390 

1,566 

— 

824 :+5 2.« 

Frankreich. 

20,830 

24,893 

4,063 

— 

—16 

Griechenland. 

637 

418 


2191 + 52 ,« 

~ ... . London .... 

Grossbritanmen 

24,105 

20,145 

— 

3 , 960 , + 19,7 

andere Städte . 

27,908 

24,907 

— 

300if +20,1 

Italien. 

9,439 

7,471 

— 

.1,968, +26,8 

, , Corfu.. * . 

Inseln 

337 

305 

. — 

32 

+10,5 

Malta. 

356 

205 

— 

151 

+ 73 ,« 

Luxemburg. 

3 


__ 


4 " 

Montenegro. 

u 

1 

— 

_ 

* 

+— 

Niederlande . . . .. 

7,038 

6,212 


826 

+13,» 

Norwegen, . . , ... 

3,190 

2,039 

. ~ 

1 , 152 !+56,4 

Norddeutscher Bund. 

68,368 

66,322 

— 

2,046 

+ 9 > ; 

Oesterreich., . , . 

29,122 

23,638 

— 

5,484' +23,8 

Portugal... 

213 

225 

12 

— 

-5 

Römische Staaten.* 

271 

389 

Il8 

,- 

^ 3 Q 

Rumänien . .. 

3,913 

3,223, 

— 

690,+ 21,4 

Serbien.. 

87 

67 

— 

20 +29,8- 

Schweiz. 

3,585 

3,005 

— 

58o.‘ +19,8 

Schweden... 

6,604 

' 5,3971 

„_ 1 

1,207 

+ 22,4 

Spanien. 

465 

; 541 

76 

— 1— 14 

Türkei (Europäische). 

4,860 

3,355 

! — 

1,505 

+44,8 

Würtemberg u. Hohenzollern 

929 

806: 

1 

1 , 

123 

+ 15,s 

Ausser-Europäische Staaten: 



! 



Asiatische Türkei • 

■ 259 

107 

1 

152 


Aegypten . .. 

. 158 

120 

— 

38 

+ 3 «,* 

Algier'und Tunis. 

19 

14 


5 

+ 3 > 6 

Amerika. 

161 

94 

| 

67 

+ 7«,8 

Indien. 

28 

19 

1 

9 + 47,4 

Persien . . . . . 

1,421 

' 1,342 

| — 

79 + 5 ,» 

Summa. 

216,1041191,214 

[24,890 13 pCt 


Eine Abnahme derCarrespondenz ist also nur mitSpanien (i4pCt.), 
Portugal (5 pCt.), Frankreich (16 pCt.) und Rom (30 pCt.) zu con- 
statiren. Was die beiden letztgenannten Staaten anbetrifft, so er¬ 
klärt sich die Verminderung des Verkehrs mit Frankreich genügend 
durch den Krieg von 1870, und mit Rorti — durch die Einverleibung 
der, päpstlichen Staaten, 


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374 


Nicht ohne Interesse ist auch der Nachweis der Vertheilung der 
Depeschen nach Monaten., 



Inländische 

Depeschen 

■ Ausländische 
Depeschen 

Summa 

Januar. 

173,243 

i 13,240 

185,483 

Februar . 

159.285 

1 13,381 

172,666 

März -. 

167,168 

16,738 

183,906. 

April... 

162,308 

18,520 

180,828 

Mai. 

186,334 

21,941 

208,275 

Juni .. 

184,119 1 

22,825 

206,944 

Juli . 

18 t,390 

24,070 

205,460 

August. 

18^,928 ; 

, 19,961 

205,889 

September. 

' 176,619 

» 9,793 

196,412. 

October. 

17 * 5,437 ! 

18,198 

194,635 

November ........ 

164,030 

14,827 

. »78,857 

December.. 

169,714 ! 

12,610 

182,324 

Summa . . 

2,089,575 

216,104 

2,301,679 


Man sieht, dass die ausländischen Correspondenz einen bei Weitem 
Constanteren Character aufweist, als die inländische. Vom März an 
beginnt eine allmähliche Steigerung, die ihrenHöhepunct im Juli und 
August erreicht; dann sinkt die Anzahl der Depeschen in steter Progres¬ 
sion bis zum Schluss des Jahres. Die grössereBewegung im I^aufe 
der Sommermonate erklärt sich, sowohl durch den lebhafteren Ver¬ 
kehr, als auch durch die in dieser Jahreszeit häufigeren Reisen ins 
Ausland. Die inländische Correspondenz ist, wie gesagt, bedeutend 
grösseren Schwankungen unterworfejn: am stillsten ist 'der Februar, 
am lebhaftesten sind die Sommermonate, namentlich der August. 

In Bezug auf die Thätigkcit der einzelnen Stationen im Jahre 1870 
stellt sich auf 14 Hauptlinien (welche mehr als 100,000 Depeschen 
im Jahre befördern:) . 

, - die Zahl der Depescheh . . , 3,730,027 
auf den übrigen 490 v , 3,862,300 


, * • Zusammen 7,593,327. 

Von» den erstgenannten 14 Stationen hatten Depeschen 5 
St. Petersburg L886,572 Rostow am Don . . ■* 
Moskau. .;. . . . ;. 631,218 

Warschau . . . f . 317,185 

Odessa . .282,969 

Charkow.255,724 


- 227473 
I£asan . . . ,, ( v ... 198,427^; 
Libau , . . . ., . . ,.-.168,404 
Shitomir. . . ... . . 166,733 
Riga. T49 ,667 


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J » 


Nishnij-Nowgorod . . 115,602 Kijew. * . . 
Tiflis 114,989 Ssaratow . . 

Von den übrigen Stationen sind verzeichnet : 


111,663 

103,401 


14 

Stationen von 

88000 bis 50000 

27 

,, 

1, 

50000 „ 

25000 

64 


»> 

25000 „ 

IOOOO 

92 


1» 

IOOOO „ 

5000 

200 „ 

11 

5000 

1000 

46 


weniger wie iooo 



so dass in ganz Russland im Durchschnitt jeder Apparat 6205 De¬ 
peschen beförderte. , 

Ucber die Wirksamkeit der Stadttelegraphen in St Petersburg und 
Moskau geben folgende Daten Auskünfte: 



Anzahl j Zahl aller 
der 'gewechselten 
Stationen^ Depeschen 

I ' .~ 

Zahl der aus¬ 
gehenden 
Depeschen 

St. Petersburg. 1 

Nikolajewsche Eisenbahn . . , 

1 

• j 

I ! 

1 

42,280 

39,890 

Winterpalais. 

I 

8.143 

4,186 

Warschauer Eisenbahn ..... 

I 

5.7 38 

5/580 

Anitschkow Palais ...... 

I 

1,119 

610 

Stationen des Stadttelegrapheri 

27 

241,497 

114,030 

Summa . . 

31 

298,777' 

1 163,796 

- ; ’ * ■ | f 

Moskau . 



; 

Nikolajewsche Eisenbahn . . .. 

I 

10,984 

1 • 7,519 , 

Nishnii-Nowgoroder Eisenbahn 

I 

4-252. , 

1 3,016 

Stationen des Stadttelegraphen 

*9 

82,464 

1 32,356 

' " ' * Summa . . 

1 21 

1 97.700 

' 42 , 89 i ' 


^ 1 - ' ' ■ ■ < ■ *. 


Das Budget des Telegraphendepartements weist für 1870, eine Brut* 
toeinnahme von3,753,096 Rbl. auf, 374,oioRbl. mehr als im vorher¬ 
gehenden Jahre, wo dieselbe 3,379,086 Rbl. betrug. Die Ausgaben 
beliefen sich auf 2,727,008 Rbl., gegen 2,465,975 Rbl. im Jahre 1*869, 
somit eine Mehrausgabe von 261,033 Rbl. Auf Anlegung neuer Li¬ 
nien sind .1870—366,148 Rbl. verwandt worden. Die Reineinnahme^ 
des Jahres 1870 belauft sich auf 1,026,088 Rbl. tmd ubersteigt um 
112,977 Rbl. die des vorhergehenden Jahres. 

Vetgjleicht man die Summe der Reineinnahme piit der Za^l der 
beförderten Telegramme, so ergiebt sich eine durchschnittliche Ein- 


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376 


Rahme Von i Rbl. 44 Kop. auf jede inländische Depesche und 1 Rbl. 
«>5 Kop. auf jede ausländische. Die Bruttoeinnahme per Drähtwerst 
hingegen beträgt 45 Rbl. 58 Kop., die Kosten derselben — 53 Rbl. 
12 Kop. Die Reineinnahme per Drahtwerst beläuft sich somit auf 
12 Rbl. 46 Kop. 

Ein paar Worte noch, bevor wir schliessen, über die 1870 stattge¬ 
fundenen Reclamationen. Derselben wurden im Ganzen 390 wegen 
Verstümmelung und nicht rechtzeitiger Besorgung geltend gemacht, 
und zwar 92 in Betreff inländischer Und 298 in Betreff ausländischer 
Depeschen. Aus der Zahl der Reclamationen wurden 245 begründet 
befunden und den Reclamanten eine Totalsumme von 895 Rbl. 
80 Kop. resfituirt. 


Zur Bevölkerungsstatistik des 
Europäischen Russlands. 

Nachstehende Tabellen sind dem, im Laufe des verflossenen Jahres 
erschienenen, Jahrbuch des statistischen CentralcomiteV) entnommen 
und erheben blos den Anspruch, Einzelnes aus dem reichhaltigen 
Inhalt desselben in einer etwas gedrängteren Form mitzutheilen. 
Folgende Gesichtspuncte sollen es namentlich sein, auf die wir die 
Aufmerksamkeit des Lesers zu lehken beabsichtigen; das Verhältniss 
des Flächeninhaltes des Landes zu der Anzahl der Einwohner, (Dich- 
tigkeitsgrad der Bevölkerung), das Verhältniss der ländlichen zu der 
städtischen Population und endlich die Vertheilung der Einwohner nach 
Ständen und nach religiösen Bekenntnissen. 1 

' I. • 1 1 1 1 

Das Europäische Russland (50 russische und io polnische Gouver¬ 
nements) besass gegen Schluss des Jahres 1867 eine Gesammtbeyöl- 
keruqg von 69,36^,541 Seelen, die sich auf einem Flächenfaume 


# ) C^THCTHHeckiii Bpe*ei«HHKT> Poccifickoft HMnepiu. BhinycKi* nepBbift TT (Statis¬ 
tisches Jahrbuch des russischen Reiches ) 


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377 


von 4,816,157,3 QWerst oder 87,485,53 geographische □Meilen 
vertheilte. Das ergiebt im Durchschnitt 16,« Seelen per pWerst oder 
792 Seelen per □Meile. 

Es ist aber mit solchen Durchschnittszahlen im Grunde nicht das Ge¬ 
ringste ausgedrückt; in Russland, in einem noch bei Weitem höheren: 
Grade als in den übrigen europäischen Ländern, können Durchschnitts- 
ziffern nur dazu dienen, die grellsten Gegensätze zu verdecken und • 
durch einen farblosen Gesammtbegriff die interessantesten localen 
Verschiedenheiten zu maskiren. Kein anderer europäischer Staat 
besitzt in seinem Bereiche so enorme Abstufungen ini Grade der 
Bevölkerungsdichtigkeit wie das russische Reich, welches in seinen 
weiten Grenzen so unendliche ethnographische und klimatische Ver- 
schiedenheiton aufzuweisen hat und so mannigfaltige Gegensätze in 
Cultur, Sitte, Nationalität und Bildungsgrad seiner Bevölkerung offen¬ 
bart. Die günstigst bevölkerten Zonen Russlands lassen sich zu den! 
mittelst gut angesiedelten Territorien Europas rechnenj die Theile 
des Reiches hingegen, in denen die Bevölkerungsdichtigkeit ihr Mi-, 
nimum erreicht, dürfen überhaupt nur mit den am allerdünnsten be-' 
völkerten Gegenden der Erde verglichen werden. ! 

Verhältnissmässig am dichtesten bevölkert sind die zehp polnischen 
Gouvernements: auf ein Territorium von 107,435,7 □Werst, oder 
2,220,4 geographische □Meilen, finden wir dort eine Bevölkerung 
von 5,765,607 Seelen; das ergiebt einen Durchschnitt v)on 53,1 Ein¬ 
wohner pro QWerst, oder 2,569 Einwohner pro □Melle. Die am 
stärksten bevölkerten Gouvernements — Warschau und Kalisch — 
haben sogar 3378 und 3048 Bewohner pro □Meile aufzuf^eisen. Von 
den russischen Gouvernements sind es namentlich di^, ih denen die 
Industrie einen höheren Grad der Verbreitung gefunden-hat und die,; 
d eren günstige Bodenculturverhältnisse einer grösserer^ Menschen-*; 
masse die Subsistenzmittel zu sichern im Stande ist, weldhe die dich¬ 
teste Bevölkerung besitzen; so namentlich, Moskau -- 2777 Ein¬ 
wohner pro □Meile, Kijew — 2316, Poltawa — 221 Kqrsk — 
2103, Tula — 2054, Charkow — 1902. — Diese Thei e des russi-j 
sehen Reiches sind im Ganzen günstiger angesiedelt als es sogar| ; 
einige Länder Deutschlands (Mecklenburg-Schwerin und Strelitz) 1 
sind. Sie übertreffen' ferner die Durchschnittszahl der Bevölkerung; 
Schwedens, Norwegens, Dänemarks und Spaniens. % ".. ! 

, Folgende Tabelle giebt in absteigender Progression c en Dichfig-j 
keitsgrad der Bevölkerung der russischen Gouvernements an: 

25 


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379 


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380 


/ 


II. 


Ein weitererGesichtspunct, den es nicht uninteressant ist herverzu- 
heben, ist der des Verhältnisses der Bevölkerung des platten Landes 
zu der der Städte, oder vielmehr der städtischen Ansiedelungen. 
Hervorgehoben muss jedenfalls werden, dass sich dieses Verhältniss 
eigentlich noch ungünstiger für die städtische Bevölkerung heraus¬ 
stellt, als es folgende Tabelle zeigt. Von den circa 1000 städtischen 
Ansiedelungen, die officieil mit dieser Benennung bezeichnet werden, 
kann ein nichtunbedeutender Theil in die Categorie der Dörfer gerech¬ 
net werden, sowohl in Hinsicht auf die geringeEinwohnerzahl,als auch 
in Anbetracht der Lebens- und Beschäftigungsweise der Bevölkerung. 
Viele Kreisstädte sind nichts mehr als grössere Dorfschaften, die 
ihrer Zeit zu Städten erhoben wurden, um künstliche administrative 
Centren zu bilden. Es lassen sich über ioo sogenannte Städte, auf- 
zählep, die weniger als 1000Bewohner besitzen; etwa 150, derenEin- 
wohnerzahl zwischen 1000 und 2000 Seelen schwankt; eine annä¬ 
hernd gleiche Anzahl, die nicht volle 300O Einwohner haben. Die 
meisten Städte Russlands, etwa 230, haben von 5000 bis io,oqo 
Bewohner. Städte mit mehr als 10,000 Einwohnern giebt es in Russ¬ 
land nur 140. Aus dieser Zahl besitzen nur 6 über 100,000 Ein¬ 
wohner, 3 — von 75 — 100,000; 5 — von 50 — 75,000; 6 von 
40 — 50,000; 9 von 30 — 40,000 ; 22 — von 20 — 30,000 und 
endlich 89 — von 10 — 20,000 Einwohner. 

Ferner ist zur richtigen Beurtheilung des ia Rede stehenden Ge¬ 
genstandes noch zu bemerken, dass in den Städten, namentlich in 
den grösseren, sich eine nicht geringe Anzahl flottanter Bevölke¬ 
rung aufhält, die entschieden in die Categorie der ländlichen zu 
rechnen ist, da sie sich nicht dauernd in den Städten fixirt, sondern 
sich nur zeitweilig dort aufhält, nie die vollkommene Fühlung mit 
der ländlichen Heimath verliert und früh oder spät in dieselbe zu¬ 
rückkehrt. Ein nicht unbedeutender Theil der Bevölkerung St. Pe¬ 
tersburgs besteht namentlich aus derartigen Elementen. Diese beiden 
Umstände dürfen bei Betrachtung der nachstehenden Tabelle nicht 
aus dem Auge gelassen werden. * 


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38i 




Nummer 

Gouvernements 

u 

*0 £ 

2 

Auf jede städtische 
Ansiedelung kommen 

Bevölkerung 

# f r 1 ürrrutriD'/uoD 


[ tM eilen 

QWerst 

in den 
Städten 

auf d< 
Land 

m 

e 

I 

Warschau .... 

55 

4,7 

277,7 

365,920 

559,719 

2 

Kalisch. 

52 


183,7 

>37,556 

463,479 

3 

Piotrkow. 

50 

4 >* 

205 

180,161 

455,312 

4 

Moskau. 

l6 

37.7 

1,847 

514,157 

1,16462 7 

5 

Keletzk. 

41 

4 >* 

202 

89,821 

380,479 

6 

Podolsk. 

«7 

44,6 

2,174 

128,797 

1,817,964 

7 

Plotzk. 

29 

6,4 

3*3 

96,561 

346,065 

8 

Ssuwalki. 

28 

7>7 

378 

103,944 

407,226 

9 

Kijew. 

12 

7,1 

3,732 

232,674 

1,911,602 

IO 

Ljublin * . , . . 

60 

4 ,» 

246 

158,071 

501,412 

II 

Radom. 

62 

3,7 

i ,745 

123,539 

375,313 

12 

Poltawa. 

18 

50,« 

2,432 

162,755 

1,839,363 

13 

Lomsha. 

30 

6,9 

334 

106,856 

349,573 

14 

Kursk. 

18 

49.* 

2,389 

125,739 

1,741,120 

15 

Tula. 

12 

46,7 

2,265 

109,451 

1,044,841 

l6 

Ssedletzk .... 

43 

5,6 

28 6 

116,120 

388,486 

l 7 

Charkow. 

17 

5,6 

2,813 

2 I 479 2 4 

1,466,562 

18 

Rjäsan., 

12 

63,6 

3,081 

73 , 3 o 8 

1,364,984 

19 

Orel. 

12 

70,« 

3,420 

179,664 

1,407,349 

20 

Kaluga. 

14 

40 

1,930 

100.395 

883,860 

21 

Woronesh .... 

12 

99,6 

4,824 

103,194 

1,965,804 

22 

Tambow. 

!3 

88,8 

4,466 

152,335 

1,903,443 

2 3 

Pensa . 

»3 

54 ,s 

2,632 

103,380 

1,094063 

24 

Tschernigow . . 

«9 

50,1 

2,447 

146,763 

1,413,615 

25 

Bessarabien . . . 

10 

65^ 

3,189 

209,898 

842,115 

26 

Kasan. 

15 

74,4 

3,599 

129,393 

1,540,944 

27 

Jarosslaw .... 

12 

54 

2,610 

93-443 

905,940 

28 

Kowno. 

9 

82,3 

3,965 

87,253 

1,043,995 

29 

St. Petersburg. . 

13 

61,« 

2,987 

638,486 

522,444 

30 

Wladimir .... 

16 

55,3 

2,675 

91,106 

1,147,945 

3 i 

Nishnij-Nowgor. 

13 

79 1 

3,436 

83,909 

1,179,004 

32 

Grodno. 

25 

28,1 

1,362 

124,510 

834,342 

33 

Ssimbirsk .... 

9 

98,6 

4,830 

70,198 

1,122,312 

34 

Wilna 

9 

85,6 

4,148 

108,458 

865, 

I l6 

35 

Wolhynien. . . . 

12 

108,7 

5,257 

126,564 

I,Sl6,706 

36 

Twer.. . 

15 

80,8 

3,920 

125,642 

1 , 395.935 

37 

Kurland. 

12 

42,3 

1,002 

64,404 

532,884 

38 

Livland.■ 

11 

76 

! 3,682 

146,720 

844,064 

39 

Chersson. 

18 

71,7 

1 3,029 

376,379 

1,121, 

616 

40 

Ssmolensk. . . . 

12 

84,4 

4,086 

81,261 

1,082, 

333 

4 i 

Ssaratow .... 

11 

! 39>3 

6,747 

227,394 

1,498,084 

42 

Jekaterinosslaw . 

15 1 

82 

1 3,966 

185,267 

1,096,215 


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382 


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V 

£ 

s 

Gouvernements 

u 

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TJ 

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Auf jede stäitische 
Ansiedelung kommen 

Bevölkerung 

3 

£ 



QMeilen 

1 F~lWerst 

in den 
Städten 

auf dem 
I,ande 

43 

Mohilew. 

13 

67 

3.246 

101,641 

807,217 

44 

Witebsk ....'. 

12 

68,2 

3.306 

109,125 

728,921 

45 

Pskow. 

I I 

72 

3»488 

55,078 

662,738 

46 

Estland. 

5 

71.« 

3.464 

33,918 

288,750 

47 

Wiatka. 

12 

232 

11,17° 

3,506 

59,893 

2,287,903 

48 

Kostroma .... 

20 

72,4 

67,758 

1,033,341 

49 

Minsk. 

11 

150,8 

7.301 

1 18,282 

1,017,306 

50 

Taurien. 

16 

69,3 

3,351 

134,706 

523,843 

5 i 

Üfa. 

6 

368,5 

• 7,833 

52,571 

1,245,006 

52 

Ssamara. 

9 

339 .» 

16,432 

82,473 

1,660,949 

53 

Nowgorod .... 

13 

169 

8,107 

69,839 1 

946,575 

54 

Perm. 

i 5 

402 

19,452 

101,782 ' 

2,071,719 

55 

Donisches Kosa¬ 
kenland .... 

1 

2913 

• 40,943 

22,918 

987,217 

56 

Orenburg .... 

6 

579 .» 

28,062 

58,106 

782,598 

57 

Astrachan .... 

5 

799 ,« 

38,696 

69,558 : 

504,396 

58 

Wologda .... 

13 

560,8 

27 .H 3 

43,769 1 

930,816 

59 

Olonez. 

7 

339 

16,438 

•9,497 

282,993 

60 

Archangelsk . . . 

12 

1123,8 ' 

54.379 

33,776 

242,003 


m. 

Aus der Gruppirung der Bevölkerung nach Ständen lassen sich 
in gewisser Hinsicht ähnliche Schlüsse ziehen, wie aus der Betrach¬ 
tung des Verhältnisses von städtischer und ländlicher Population. 
Trotzdem, dass durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, so wie 
überhaupt durch die in den letzten Decennien obwaltenden gesell¬ 
schaftlichen Strömungen, der Unterschied der Stände viel von seiner 
früheren Schroffheit verloren hat, kann eine Untersuchung wie die 
gegenwärtige doch noch immer von hohem Interesse sein. 

Jene Tendenz kann es wohl mehr oder weniger bewirkt haben, 
einzelne künstliche Standesunterschiede abzuschwächen, die z. B. 
welche den erblichen vom persönlichen Adel scheidet, ferner die, 
welche die verschiedenen Classen der städtischen Bevölkerungs¬ 
gruppen von einander trennt $ sie vermögen jedoch nicht — und 


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38 3 • 

werden noch lange nicht im Stande sein, es zu thun — jene, man 
möchte sagen, natürlichen Unterscheidungen aufzuheben, die durch 
die verschiedenartigen Beschäftigungsweisen der Bevölkerungs¬ 
gruppen gegeben sind. • Die Fluctuation, in die die russische Ge¬ 
sellschaft dadurch gerathen ist, dass die Gesetzgebung dem Uebef- 
gang aus einem Stande in den arideren alle Freiheit giebt, äussert 
ihren Einfluss doch nur auf einen verschwindend kleinen Theil der 
Population; die Masse der Bevölkerung verbleibt noch in den 
Grenzen jener gelockerten Verbände. Dass jene leisen Strömungen 
und jene numerisch oft unbedeutend erscheinenden Uebergänge aus 
einem Stande in den andern von hoher Bedeutung sind, geben wir 
unbedingt zu; die Verfolgung und das Constatiren derselben bietet 
dem Culturhistoriker ein schätzenswerthes Material. Uns jedoch 
verbietet die Natur der gegenwärtigen Arbeit ein näheres Eingehen 
auf die Bewegung der Ständegruppen der Bevölkerung, da wir*nur 
im Auge haben, einen kurzen Ueberblick über den gegenwärtigen 
Status der Population zu bieten. I 

Diesem Zweck mag folgende Tabelle entsprechen, bei welcher, 
wie auch bei der vorhergehenden, die Gouvemeriients in der 
Reihenfolge der ersten unserer Tabellen geordnet sind, was ge¬ 
schieht, um die Vergleichung der verschiedenen in denselben 
hervorgehobenen Gesichtspunkte zu erleichtern. 1 

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26 


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386 


Drücken wir die soeben angeführten Gesammtziffen in Procent¬ 
sätzen aus, so ergeben sich folgende Resultate: 

Bauern 80,8 pCt., Städtische Bevölkerungsclassen 9,», Militärischer 
Stand 5,3, Leute, deren Standeszugehörigkeit nicht festgestellt ist 
1,7, Geistlicher Stand 0,9, Erblicher Adel 0,8, Persönlicher (Dienst-) 
Adel 0,4, Ausländer o,a pCt. der Gesammtbevölkerung. 

Der Bauernstand ist im Grunde noch stärker vertreten als in der 
Tabelle angegeben. Scheiden wir aus der Ziffer der militärischen Be- 
völkerungs-Classen die circa 500,000 Mann, die in Friedenszeit im 
Europäischen Russland sich bei den Fahnen befinden, so erhalten 
wir etwa 3,200,000 Seelen, die dem Bauernstände hinzugefügt wer¬ 
den müssen, damit sich dessen wahre Stärke herausstellt. Nach 
dieser Berechnung würde der Bauernstand etwas mehr als 85 pCt. 
der Gesammtbevölkerung Russlands ausmachen. 

Die in der Rubrik ,,städtische Gassen“ angeführte Bevölkerung 
lässt sich in folgende Bestandteile zerlegen: 

Erbliche Ehrenbürger 25,460. — Persönliche Ehrenbürger 19,764. 
— Kaufleute 416,033. — Kleinbürger (M^maHe) 4,942,001., — Mit¬ 
glieder der städtischen Gilden 256,655. 

Auf dem städtischen Gebiete, mehr noch als auf allen übrigen, 
haben die Gassenunterschiede ihre frühere Bedeutung eingebüsst. 
Die neue Städteordnung hat nicht mehr wie die frühere jene Glie¬ 
derung der Stadtbewohnerschaft zur Voraussetzung; dieselbe ent¬ 
behrt somit der gegenwärtigen Bedeutung und besitzt ein mehr 
historisches Interesse. Dieser eng mit der Geschichte unserer 
Städteentwickelung verwandte Stoff soll übrigens in nächster Zeit 
an diesem Ort der Gegenstand einer eingehenden Abhandlung sein. 

IV. 

Zum Schluss lassen wir hier noch eine Tabelle über die Verkei¬ 
lung der Bevölkerung nach dem religiösen Bekenntnisse folgen. 


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) Die unter dieser Rubrik in den polnischen Gouvernements aufgeführte Bevölkerung gehört der griechisch-unirten Confession an. 
*) Die in den polnischen Gouvernements angegebenen Heiden sind Zigeuner. 
















Griechisch- Armeno- Römische Mqhame- 

Gouvernements , 1 Sectirer Gregoria- Protestanten Juden Heiden Summa 

Orthodoxe I ner Katholiken daner 


388 


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•) In den polnischen Provinzen Griechisch-unirte 220.260. 









3*9 .. 

In Procentsätze übertragen ergeben diese Gesammtbeträge fol¬ 
gendes Verhältnis: 

Griechisch-Orthodoxe 76,7, Sectirer 1,3, Armeno-Gregorlaner O,os 
Griechisch-Unirte 0,3, Römische Katholiken 10,4, Protestanten 3,60, 
Juden 3,7, Mühamcdaner 3,5, Heiden 0,4 pCt. 

Territorial vertheilen sich die Anhänger der genannten Bekennt¬ 
nisse in folgender Weise: die centralen Provinzen desReiches sind in 
einer bei Weitem überwiegenden Weise von einer griechisch-ortho¬ 
doxen Bevölkerung angesiedelt; um dieselbe gruppiren sich die An¬ 
hänger der übrigen Confessionen und Religionen, und zwar die Prote¬ 
stanten in den nordwestlichen Baltischen Provinzen, die Katholiken 
in den lithauischen, polnischen und südwestlichen Gouvernements. Die 
muselmännischen Elemente haben ihren Hauptsitz im Osten, haupt¬ 
sächlich im Südosten des Reiches. Endlich finden wir den bei 
Weitem stärksten Contingent der jüdischen Bevölkerung in den west¬ 
lichen und einigen südlichen Provinzen Russlands. 


J. R. Aspelin’s archäologische Forschungen im süd¬ 
lichen Oesterbotten und im alten Biarmien. 


Im Helsingforser „Morgonbladet“ (Das Morgenblatt) finden wir in 
dcnNNr. 248 bis 250 (24 — 26. October 1872) einen aus Perm, vom 
13. September d. J.datirten „Brief in die Heimath“ (Bref tillhemlandet) 
des finnländischen Archäologen J. R. Aspelin. Die erwähnte Helsing¬ 
forser Zeitung hat diesen Brief aus der in finnischer Sprache erschei¬ 
nenden Monatsschrift „Kirjallinen Kuukauslehti“ (Literarisches 
Monatsblatt) entlehnt. Herrn Aspelin s Thätigkeit auf dem Gebiete 
antiquarischer Forschung war bis 1871 dem südlichen Oesterbotten 
gewidmet. In dem eben genannten Jahre erschien in der finnischen 
Zeitschrift „Suomi“ (II. Serie. Th. IX, S. 1 — 234) die Frucht seiner 
in der erwähnten Gegend angestellten archäologischen Untersuchun¬ 
gen („Kokoilemia muinaistutkinon allala. I. Etelä-Pohjanmaalta“ — 
„Archäologische Sammlungen. I. Aus dem südlichen Oesterbotten“. 
Referent ist der finnischen Sprache unkundig, verdankt aber der 
Güte des Herrn Verfassers, ausser persönlichen Mittheilungen, ein 
in deutscher Sprache abgefasstes Resume dieser von 78 Zeichnungen 
auf 22 Tafeln und einer Karte vom südlichen Oesterbotten in den 
Jahren 1550 — 60 begleiteten ausführlichen Abhandlung. Letztere 
enthält die Zusammenstellung und Untersuchung des archäologi- 


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39 <> 


scheji Materials, welches in älterer Zeit, seit 1674, durch Sorge der 
Regierung und älterer Forscher und in jüngster Zeit durch den Ver¬ 
fasser selbt gesammelt worden ist. In den Jahren 1868 und 1869 führte 
der letztere zwei Forschungsreisen im südlichen Oesterbotten, bis 
Neu-Carleby im Norden, aus. 

Hier müssen wir uns begnügen, den Inhalt der Arbeit des Herrn 
Aspelin in wenigen Worten anzudeuten. Bei dem allgemeinen Inte¬ 
resse, welches in unserer Zeit das sogenannte „vorhistorische“ Alter¬ 
thum findet, glauben wir den Lesern der „Russischen Revue“ eine, 
wenn auch nur kurze Mittheilung über Herrn Aspelins Forschungen 
nicht vorenthalten zu können. Die Ueberreste des Steinalters sind, 
nach dem Verfasser, in der erwähnten Landschaft ziemlich zahlreich. 
Es werden von ihm nicht weniger als 272 hier gefundene Steingeräth- 
schaften beschrieben, von denen allein 213 von ihm selbst aufge¬ 
funden sind., Doch mit Recht weist er nicht Hie steinernen Gerät¬ 
schaften dem Steinalter Finnlands zu, so z. B. nicht die ovalen 
Schleifsteine für Pfeile, w f elche in den dänischen Moosfunden und 
den skandinavischen Gräbern des ältern Eisenalters zahlreich auf- 
treten. Auch den durch 22 Fundstücke repräsentirten Steinhammcr 
entschliesst er sich nicht, dem Steinalter bestimmt zuzuschreiben. 
Noch weniger einige Hammeräxte und Senksteine. Spuren von Woh¬ 
nungen und Gräbern, die dem Steinalter angehören dürften, haben 
sich im südlichen Oesterbotten nicht gefunden. Dagegen lassen 
sich zwei Werkstätten steinerner Gerätschaften nachweisen. In 
der einen tetr das verarbeitete Material Kieselschiefer, in’ddr ahsdein 
Syenit, weicher im Lande zwar nicht anstehend, wqM aber in losen 
Steinen auftritt. Las Material zu den schneidenden Stein^eräth- 
schaften (Meissei, Messer) lieferten meist folgende Steinarten: Kiesel¬ 
schiefer, Lehmschiefer, Diorit; seltener: Talkschiefer, Chloritschiefer, 
Sandstein, Kalkstein, Serpentin, Grünstein und Syenit. Für keulen¬ 
artige Gerätschaften wurden Porphyr, Glimmer und Gneis gewählt. 
Aus Flint verfertigte Gerätschaften sind aus dem südlichen Oester¬ 
botten bisher nicht bekannt geworden, obgleich sie im nördlichen 
Vorkommen. Der Feuerstein trit in Finnland in Knollen nicht 
auf. Die seltenen Funde von aus dieser Steinart gefertigten Gerät¬ 
schaften scheinen den Beweis für einen, wenn auch geringen Ver¬ 
kehr zwischen Finnland und dem südlichen Skandinavien in vorhi¬ 
storischer Zeit zu geben. 

Im Gegensätze zu den von Professor Grewingk in Dorpat („Das 
Steinalter der Ostseeprovinzen 41 . 1865) untersuchten Verhältnissen be¬ 
steht die Mehrzahl der im südlichen Oesterbotten aufgefundenen 
steinernen Gerätschaften aus schneidenden Werkzeugen. Von 
Aexten hat man 71 Exemplare, von Gradmeissein 60, von Hohlmeis- 
seln 40. Selten sind die Messer, noch viel seltener die Pfeilspitzen, 
da sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus Knochen angefertigt wur¬ 
den. Doch auch solche sind bisher nicht anfgefunden, worden, eben 
so wie gar keine Fabricate aus Holz, welche dem Steinalter zuge¬ 
schrieben werden könnten. Obwohl verschiedene Formen von keu- 


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Unförmigen Geräthschaften in der von Herrn Aspelin untersuchten 
Landschaft aufgefunden sind, so ist hier doch die in den Ostsee¬ 
provinzen gewöhnliche Form der Streitäxte fast unbekannt. Häufiger 
tritt sie an der Südküste Finnlands auf. 

Die mit Thierköpfen verzierten steinernen Keulen, welche nach 
des Verfassers Meinung von der bronzenen Cultur der permischen 
Gegenden herzustammen scheinen, so wie auch die westeuropäi¬ 
schen Formen der Hämmer ausgenommen, scheint eine fast vollkom¬ 
mene Uebereinstimmung zwischen den Formen des Steinalters in 
Olonez und denen des finnländischen Steinalters zu herrschen. 

Die Bronzeperiode berührt der Verfasser auf wenigen Seiten (77 
bis 79), da nur zwei Funde (siehe H . J. Holmbettfs Förteckning och 
Afbildningar af Finska Fornlenmingar. im IX. Heft der von der finni¬ 
schen Gesellschaft der Wissenschaften herausgegebenen Sammlung 
,,Bidräg tili Finlands Naturkännedom, Etnografi och Statistik. Hel- 
singfors, 1863, 8°, 39 SS. mit XX Tafeln und 1 Karte) Spuren von 
ihr aufweisen. Die Seltenheit der Funde, meint der Verfasser, sei 
kein Grund; die Existenz der Bronzeperiode in Finnland zu leugnen, 
denn man müsse in Betracht ziehen, dass daselbst die archäologi¬ 
sche Forschung bisher ziemlich lahm gelegen habe. Das Zeitalter 
der Steinhämmer, welches in Skandinavien für den Uebergang vonder 
Stein- zurBronzeperiode als bezeichnend vielleicht angesehen-werden 
könne, sei im westlichen Finnland häufig vertreten und deute auf ei¬ 
nen nicht unbedeutenden Einfluss westlicher Cultur in der für den 
Westen angenommenen Bronzezeit. Ausserdem komme dabei noch 
ein Umstand in Betracht. In Finnland findet sich nämlich eine Art 
von steinernen Grabhügeln, welche, so viel bisher bekannt, auf den 
Alands-Inseln und längs der westlichen Küste des Festlandes von 
Neu-Carleby bis Abo und östlich an der Südküste bis Helsingfors 
beobachtet sind. Von diesen Hügeln, welche theils mit, theils ohne 
steinerne Grabkisten Vorkommen, sind nur die im südlichen Oester- 
botten auftretenden ihrem Inhalte nach untersucht und beschrieben; 
doch ergab sich aus verchiedenen einzelnen Forschungen, dass die 
Bestattungsart im südlichen Finnland dieselbe war wie in Oester¬ 
botten. Aehnliche Grabhügel fänden sich auch in Schweden ziemlich 
häufig und erstreckten sich längs seiner östlichen Küste nördlich bis 
Norrland und wiesen im südlichen Theile Funde auf, welche der Bronze¬ 
periode angehören, wogegen die Funde im nördlichen Theile der 
Eisenperiode angehören. Während die im südlichen Oesterbotten 
untersuchten Grabhügel als der älteren Eisenperiode angehörig zu 
betrachten seien, habe man in der Provinz Nyland in einem auf einer 
Anhöhe gelegenen Grabhügel, der mündlichen Mittheilungen zufolge 
seiner Construction nach ganz zu den österbottischen stimme, 
ein Bronzeschwert vorgefunden. • 

Das ältere Eisenalter, welches durch die erwähnten Grabhügel, 
soweit sie bisher untersucht worden sind, repräsentirt ist, scheint, 
nach Herrn Aspelin’s Ansicht, eben so wie in Schweden , die Zeit 
nach Christi Geburt bis um das Jahr 700 zu umfassen. Diese Grab- 


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3?2 

hügel bestehen aus Feldsteinen von konischer Form; ihr Durch¬ 
messer beträgt 7 — 19 Meter, ihre Höhe 0,5 — 2,8 Meter. Nach 
ihrem Abtragen findet sich ihre Peripherie durch einen einfachen 
oder doppelten Steinkreis angedeutet. (2 Abbildungen, Fig. 51 und 
53, veranschaulichen ihre Form). Innerhalb dieses Kreises finden 
sich die Knochenüberreste der verbrannten Leichen, entweder in 
einer Steinkiste aufgehäuft, oder auch zerstreut, wie sie nach der 
Verbrennung zurückblieben. Zuweilen finden sich mehrere Stein¬ 
kisten in einem Grabhügel, wie auch verschiedene Gruppen von 
Knochenstücken Vorkommen, wenn die Steinkiste fehlt. Nicht selten 
ist der Grabhügel um einen oft in der Erde festsitzenden Centralstein 
aufgeworfen, welcher bisweilen mehrere Ellen aus dem Hügel her¬ 
vorragt. Gewöhnlich findet sich eine Knochenanhäufung am Fusse 
dieses Mittelsteins, eine andere oder mehrere an der Peripherie des 
Hügels. In der mit kleinen verbrannten Knochenstücken vermischten 
Erde finden sich Werkzeuge aus Eisen, Schinucksachen aus Bronze, 
zuweilen auch goldene und silberne, und Perlen verschiedener Art. 
Fig. 39 (ein eiserner Celt), 41 und 42 (Schwerter), 59 und 62 (Fibeln), 
so wie Fig. 58, 60, 6i, 63 — 66 bringen die Abbildungen von Ge¬ 
genständen, welche diese Art Gräber aufzuw.ejsen haben. Hält man # 
die in früherer Zeit angeführten Funde von goldenen Ringen mit der 
Auffindung zweier byzantinischen Solidi des Zeno (+491) und Pho- 
kas (4.610) zusammen, so ist man, nach des Verfassers Meinung, 
geneigt, die durch die beschriebenen Grabhügel vertretene Cultur- 
periode für dieselbe zu halten, wie die durch ihren Goldreichthum 
im Norden ausgezeichnete Solidi-Pcr\pde. Ein im historischen 
Museum auf bewahrter Fund aus einer an solchen Grabhügeln reichen 
Gegend des südlichen Oesterbottens (siehe Fig. 68 — 72) weist unter 
seinen, übrigens meist fragmentarischen Gegenständen, Bruchstücke 
einer Fibel von gothländischer Form (Fig. 70) auf, welche dem Ende 
des älteren Eisenalters zugeschrieben wird. Während dieser Pe¬ 
riode, so wie auch während der von ihm angenommenen Bronze r 
periode habe, nach des Verfassers Meinung, ein Theil der West- 
und Südküste Finnlands, wahrscheinlich eine gothische Bevölkerung 
gehabt, eine Annahme, welche auch durch die Skandinavischen 
Sagen, welche von einem Verkehr zwischen Schweden und Finnland 
in vorhistorischer Zeit berichten, unterstützt werde. Da aber diese 
Urkundep das Land ,,Finnland^' nennen, so wäre für jene Zeit eine 
lappische Bevölkerung im Innern des Landes anzunehmen, denn 
,,Finn“ ist der ursprüngliche germanische Name für „Lappe“. Die 
heutigen Bewohner Finnlands, welche den Lappen ihren gegen¬ 
wärtigen Namen gegeben und mit dem Lande auch ihren Namen 
geerbt haben , werden in den ältesten Urkunden, je nach den ver¬ 
schiedenen Volksstämmen Quaner, Samer, Tawaster und Karelier 
genannt. Die von den Lappen im Innern des Landes zurückgelas- 
senert festen Wohnsitze sind noch wenig untersucht. Gewöhnlich 
bestehen sie aus länglichen Vertiefungen in der Erde und recht¬ 
winkligen Steinsetzungen mit einem Feuerheerd in der Mitte. In 


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393 


diesen Grabhügeln hat man bisweilen eiserne Hacken angetroffen. 

Das jüngere Eisenalter, mit dem achten Jahrhundert beginnend, 
hat zu seinen Repräsentanten die gegenwärtige Bevölkerung, die 
nach des Verfassers Ansicht wahrscheinlich allmählich einwanderte 
und die frühere Küstenbevölkerung gänzlich verdrängte (oder sich 
assimilirte?), denn selbst in den Küstenlandschaften, wo Schweden 
wohnen, auch im südlichen Oesterbotten, finden sich alterthümliche 
finnische Ortsnamen. Die Festsetzung der Schweden an den Küsten » 
hatte die Eroberung Finnlands durch diese Nation zur Folge. 

Im jüngeren Eisenalter begruben die heidnischen Finnen ihre 
Todten ohne Lcichenbrand in der Erde und, wenn man der Sage 
trauen darf, in heiligen Hainen. Von Gräbern ist aus diesem Zeit¬ 
alter bisher nichts untersucht worden. Doch wird demselben ein ein¬ 
zelner Fund, bestehend aus Lanzenspitzen und einem Beil (abge¬ 
bildet F*ig. 43 — 47) vom Verfasser zugewiesen. Nach den Tradi¬ 
tionen fand die Einwanderung der finnischen Bevölkerung von Ta- 
wastland aus statt. 

Wie auf dem Gebiete der Sprachforschung die wissenschaftliche 
Welt Finnlands ihre Untersuchungen nicht auf die Grenzen ihres 
Vaterlandes aJlein beschränkt, sondern auch den entfernteren* ver¬ 
wandten Volksstämmen ihre besondere Aufmerksamkeit zugewendet 
hat — wir erinnern nur an M. Castren und A . Ahlqiäst , welche ihre 
linguistisch-ethnographischen Untersuchungen bis zum Ural und über 
denselbenhinaus ausdehnten—, ebenso betrachtet man es gegenwärtig 
in Finnland als.eine Forderung der Zeit, die antiquarischen For¬ 
schungen auf die entlegeneren Wohnsitze finnischer Volksstämme 
auszudehnen. Mit einem solchen Aufträge ist zunächst Herr Aspelin 
von der Finnischen Literärischen Gesellschaft betraut. Um sich zu 
seiner antiquarischen Forschungsreise vorzubereiten, war er vom vori¬ 
gen Herbst an bis zum Mai dieses Jahres abwechselnd in St. Petersburg 
und Moskau beschäftigt, mit dem in die ,,tschudische“ Alterthums¬ 
kunde einschlagenden Theil der russischen Literatur sich vertraut 
zu machen, so wie auch die in den genannten Städten in öffentlichen 
und privaten archäologischen Sammlungen vorhandenen, soge¬ 
nannten „tschudischen“ Alterthümer zu untersuchen. Im December 
1871 hatte Referent das Vergnügen, den eifrigen jungen Gelehrten 
auf dem zweiten in St. Petersburg abgehaltenen Congress russischer 
Archäologen kennen zu lernen. Anfang Juni begab sich Herr As¬ 
pelin nach Kasan, um mit dem arhäologischen Cabinet der dortigen 
Universität bekannt zu werden, so wie auch mit dem durch seine 
linguistischen und archäologischen Forschungen in West Sibirien 
bekannten Dr. W. Radlow in wissenschaftlichen Verkehr zu treten. 
Wie wir aus dem Anfangs dieser Zeilen erwähnten Briefe des Herrn 
Aspelin erfahren, begab er sich im August in das Wjatkasche Gou¬ 
vernement, zunächst nach Jelabuga (an der Kama). In der Nähe 
dieser Stadt ist eine aus sehr alter Zeit herrührende heidnische Be- 
gräbnissstätte, und zwar beim Dorfe Ananjino, am Kama-Ufer, 
gelegen. Dieser altheidnische Begräbnissplatz ist der russischen wis- 


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394 


senschaftlichen Welt seit 1859 bekannt, wo die im Jahre 1858 leider 
aber nicht von ganz kundiger Hand dort angestellte Ausgrabung im 
,,Boten“ der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft 
(Bd.29) beschrieben wurde. Obgleich nur einen Tag gegraben worden 
war, erwies sich die Ausbeute doch als eine sehr reiche, sowohl an 
Menschen-Schädeln und Thierknochen, als Waffen, Utensilien und 
Schmucksachen. Während die irdenen Gefässe aus groben Mate¬ 
rial roh geformt waren, bekundete sich am grössten Theil der Waffen 
und Schmuckgegenstände, besonders an den aus Bronze angefer¬ 
tigten, eine nicht geringe technische Fertigkeit und ein ziemlich 
entwickelter Geschmack. Gegenstände aus edlen Metallen (Gold 
und Silber) fanden sich nicht vor. Der Bestattung war unzweifelhaft 
Leichenbrand vorhergegangen. Es war nur in einem der grösseren 
von zwei Hügeln gegraben worden; der kleinere, in jedem Frühjahr 
von den Fluthen bespülte Hügel war im Jahr 1865, wo Referent den 
Ort besuchte, zum Theil. noch erhalten. Es wurde auf der Stelle des 
grösseren Hügels noch Nachlese gehalten, so wie auch ein Theil des 
kleineren Hügels untersucht und aufgedeckt. Wegen der späten Jah¬ 
reszeit, in welche der Besuch des Referenten fiel, konnten von ihm 
nur zweiTage der Ananjinoschen Begräbnisstätte gewidmet werden. 
Bei den Bauern des Dorfes fanden sich ebenfalls noch niedrere aus 
ihr herrührende Gegenstände vor. Herr Aspelin hat nun wieder von 
Neuem Nachlese gehalten, theils bei einer von ihm angestellten Aus¬ 
grabung, theils bei den Bauern, die im Frühjahr, wenn die Fluthen 
zurückgetreten sind, viele Gegenstände auf der Grabstätte finden. 
So hatte auch ein Moskauer Gelehrter, der noch vor der im Jahre 1858 
unternommenen Ausgrabung hier gefundene Gegenstände aus 
Bronze und Eisen erhalten, im Jahre 1870 bei den Bauern von Anan- _ 
jino wieder mehrere Alterthümer erworben. Es wäre im höchsten 
Grade wünschenswerth , dass Herr Aspelin, welcher sich dem Stu¬ 
dium der finnisch-ugrischen Archäologie speciell gewidmet hat, zum 
nächsten Frühjahr die Mittel erhielte, die Grabstätte bei Ananjino 
gründlich zu untersuchen. Der erwähnte Moskauer Gelehrte hat in 
einer umständlichen Abhandlung, die im Anfang dieses Jahres in den 
„Arbeiten des ersten Congresses russischer Archäologen in Moskau 
im Jahre 1869“ und auch besonders, 38 SS. 4° mit 2 Tafeln Abbil¬ 
dungen erschienen ist, die bis 1870 bekannt gewordenen Funde aus 
Ananjino beschrieben, so wie auch seine Ansicht über das Zeitalter, 
welchem die Grabstätte angehören könnte, ausgesprochen. Er weist 
sie dem Brdnzealter zu, wobei er uns etwas zu stärk n Rougemont , 
dem Verfasser des Buches: „Die Bronzezeit , oder die Semiten im 
Occidenf^ influencirt scheint. Es sind zu viele Eisenwaffen in der Grab¬ 
stätte von Ananjino gefunden worden, als dass letztere dem Bronze¬ 
alter zugeschrieben werden könnte. Wenn im Nordosten Russlands 
auch in vorhistorischer Zeit das Eisen lange unbekannt gewesen 
sein mag, so kann man, wenigstens bei dem gegenwärtigen Stande 
antiquarischer Forschung, hier noch nicht Stein- Bronze- und Eisen¬ 
alter unterscheiden. Diese Dreitheilung der vorhistorischen Zeit hat 


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395 


überhaupt etwass Missliches, auf welches Ländergebiet man sie auch 
anwenden will; sehr bedenklich scheint sie uns aber, wenn man das 
gleichzeitige Bestehen jedes dieser drei Zeitalter für mehrere Länder 
oder ganze Welttheile annimmt. 

Herr Aspelin begab sich von Jelabuga die Kama hinauf nach Perm 
und dann nach Tscherdyn und dessen Umgebungen. Bei seiner 
diesjährigen Reise hatte er, und gewiss mit Recht, nur eine Recö- 
gnoscirurig seines künftigen Forschungsgebietes im Auge.- Er sammelte 
Nachrichten über Funde von Alterthümern und berichtet in seinem 
Briefe über einige höchst interessante Stücke, so über einen altrö¬ 
mischen Silberbecher. Bekanntlich enthält die hier in St. Petersburg, 
im Besitze des Grafen Sergius Stroganow befindliche Sammlung 
permischer Alterthümer mehrere Silbergefässe, welche auf den 
permischen Gütern des Grafen gefunden sind und, nach ihren Formen 
und Verzierungen zu urtheilen, auf dem Wege des Handelsver¬ 
kehrs aus den verschiedensten Weltgegenden an ihre Fundstellen 
gelangt waren. Eben so bekannt sind die Münzfunde aus dem Gou¬ 
vernement Perm, welche bactrische, sassanidische, byzantinische 
und kufischeMünzen aufwiesen. Auch bisher unbekannte und noch nicht 
bestimmte asiatische Silbermünzen, die vorislamitisch zu sein scheinen, 
hat der permische Boden, namentlich in der Nähe der Flüsse, gelie¬ 
fert. Endlich befinden sich von dort in unsern Sammlungen silberne 
und bronzene Gegenstände , die bis über die Periode des Umlaufs 
in Russland mit kufischer Schrift geprägten Geldes hinaus¬ 
reichen. 

Herr Aspelin versucht in seinem Briefe in die Alterthumskunde 
Permiens oder Biarmiens etwas Licht zu bringen und stellt Vermu¬ 
thungen über die Reihenfolge seiner Cultürbeziehungen zu andern 
Ländern auf. 

Da in der Grabstätte von Ananjino edleMetalle gar nicht vertreten, 
und andererseits aus solchen gefertigte Gegenstände, die in die glän¬ 
zendsten^) Zeiten griechischer und römischerKunst hinaufreichten in 
dem Gouvernement nachzuweisen seien, so, meint Herr Aspelin, müsse 
jener Begräbnissplatz älter als die erwähnte Zeit sein. *) Eben so 
werde durch den Umstand, dass die Formen der Pfeilspitzen, die 
man an der Kama einführte, griechischer Form seien; angeefcutet, 
dass der Handel hierher (d. h. zur Kama), vom schwarzen Meere aus 
sich möglicher Weise längs der Wolga und Oka hinaufgezogen 
habe, da man im Moskauer Gouvernement Alterthümer aus dem 
Bronzealter dieser Gegend v der Kama-Gegertd?) angetroffen habe. 
Was 9 die aus Eisen angefeftigten Gegenstände aus dem erwähnten 
Begräbnissplatze betreffe, so seien sie nur Messer von der Form des 
neuen Eisenalters *) und geschmiedet. Da das in der Sprache des 
Biarmervolkes für Eisen vorkommende Wort kord aus dem Persi¬ 
schen (richtiger Iranischen) wo karta Messer bedeutet, entlehnt ist, 
so könne man annehmen, dass-das Eisen in MeSserform durch Ver- 

*) Auch Lanzen spitzen und Dolche aus Eisen sind dort gefunden. 


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39 *> 

mittelung irgend eines iranischen Volkes noch vor der Völkerwan¬ 
derung, welche mongolische Volksstämme (Türken?) an die untere 
Wolga führte, dem Biarmervolke auf dem friedlichen Wege des 
Handels bekannt geworden-sei. Möglich wäre es, dass dieses irani¬ 
sche Volk die Skythen am Pontus gewesen, welche neulich von ei¬ 
nem deutschen Forscher (der Verfasser meint Müllenhof) als solches 
nachgewiesen sind. Dies sei um so interessanter, als die in Rede 
stehende Begräbniss-Stätte, in welcher eine Einwirkung des biar- 
misch-sibirischen Bronzezeitalters auf alle Formen zu bemerken sei, 
solche Schmucksachen aufweise, die als die wichtigsten Kennzeichen 
finnischer Gräber im nördlichen Russland, von Perm bis zur Ostsee, 
zu betrachten seien. 

Ferner findet Herr Aspelin in dem Leichenfelde von Ananjino 
den Beweis dafür, dass das Eisenalter des finnisch-ugrischen Volks* 
Stammes, wenn auch nicht früher, so doch zu derselben Zeit wie dem 
germanischen Volksstamme bekannt geworden sei. Das Hallstätter 
Leichenfeld (in der Nähe von Ischl), nach seiner Ansicht die älteste 
Begräbniss-Stätte aus .Deutschlands Eisenalter, habe wenigstens 
gewisse Bronzespiesse geliefert, welche von derselben Form seien, wie 
die von Ananjino. Gleichwohl böten, einige Geräthe aus der Grab¬ 
stätte von Ananjino, wie die Pfeilspitzen und die zapfenförmigen 
Schleifsteine, andere Gründe für die Zeitbestimmung. 

Herr Aspelin bedauert, dass er die, 3 — 4 Werst von Iljinsk an 
der Tscholwa gelegene Grabstätte noch nicht habe untersuchen 
können, da es für ihn von besonderem Interesse gewesen wäre, aus 
eigener Anschauung mit der Bestattungsweise der Biarmier bekannt 
zu werden, um so mehr, als die Bestattungsweise des finnisch-ugri¬ 
schen Volkes Verschiedenheiten, besonders im Eisenalter, aufweise. 
Einstweilen müsse ersieh mit dem, was Andere gewonnen, begnügen. 
Indessen hätte seine Reise vergangenen Sommer ihm doch mehr ge¬ 
boten, als er erwartet hätte. Als einen Hauptgewinn von derselben 
betrachtet er den Umstand, dass ihm der Zusammenhang zwischen 
dem Eisenalter der Biarmier und dem der westlichen Finnen klar 
geworden sei, — ein Zusammenhang, den Graf A. Uwarow, der beste 
Kenner des finnischen Forschungsgebietes, als er mit Herrfl Aspelin 
sich über die Merjänengräber sich unterhalten, nicht habe finden 
können. Dieser Zusammenhang beweise, meint Herr Aspelin, dass 
das biarmische Eisenalter sich aus dem biarmisch-sibirischen Bron¬ 
zealter entwickelt habe. In Sibirien sei bis zum Jenissei im Osten 
keine Spur eines Steinalters gefunden. Das Volk jenes Bronzealters 
wäre mit der Kenntniss, Bronze zu bereiten und Kupfer zu schmel¬ 
zen, aufgetreten, und seine Sitze hätten sich über das weite Länder¬ 
gebiet zwischen Kama und Jenissei erstreckt. Mehrere Formen seines 
Bronzealters bewiesen, dass es aus derselben Heimath ausgezogen 
sei, wie seine Brüder im westlichen Europa. Die Uebereinstimmung 
in der Form der Aexte, oder der sogenannten Celte könnte keine zufäl¬ 
lige;?) sein. Beider Bronzealter (des nordasiatischen und des westeuro¬ 
päischen?) Ursprung wäre auch wahrscheinlich aut das südwestliche 


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397 


Asien zurückzuführen. Gewisse am Jenissei gefundene, mit erhabe¬ 
nen bildlichen Darstellungen versehene Spiegel bewiesen, dass das 
nach Sibirien geflohene Volk seinen Bedarf an Geräthschaften so¬ 
wohl aus China als aus dem südwestlichen Asien bezogen habe. Wie 
lange aber das Bronzezeitalter dieses Volkes gewährt habe, sei nicht 
möglich zu bestimmen, doch müsse bemerkt werden, dass die Zahl 
der Gräber am Jenissei sehr gross sei. 

Die östlichen, dem Finnischen verwandten Sprachen, fährt Herr 
Aspelin fort, bewiesen, dass irgend wo ein iranisches Volk den öst¬ 
lichen finnisch-ugrischen Völkern Eisen in Form von Messern ver¬ 
schafft habe *). Da man bisher Exemplare solcher Messer fremder 
Form blos in der Kama-Gegend gefunden, und zwar zusammen mit 
Formen des Bronzealters, so schliesst er, dass das Eisen zuerst im 
Biarmerlande bekannt geworden und von hier, aber meist in den 
alten Formen des Bronzealters, seine Benutzung sich bis^zum Jenissei 
verbreitet habe. Gleichzeitig wäre aber auch das Volk aus den Je¬ 
nissei-Gegenden verschwunden (?) und erst, längere Zeit später, 
so scheine es, träten Culturformen ganz anderer Art auf — allem 
Anscheine nach — kirgisische. 

Herr Aspelin ist der Ansicht, dass die Forscher nur auf Grund 
der Kenntniss' der archäologischen Verhältnisse der biarmischen 
Gegend Schlüsse ziehen dürften in Betreff des friedlichen Ueber- 
gangs vom Bronzealter zu dem geschichtlichen Eisenalter. Westlich 
vom Ural kenne man, so viel ihm bekannt, keine ungemischten Grä¬ 
ber des Bronzealters, während solche Gräber östlich von diesem 
Gebirge, zum Beispiel im Jekaterinenburgischen Kreise, anzutreffen 
wären. Doch seien Funde von aus dem Bronzealter herstammenden 
Gegenständen im europäischen Biarmerlande zahlreich gewesen. 
Kaum dürfte daher die Frage gelöst werden, ob die Ansiedelung 
der Kama-Gegend begonnen habe, äls das Volk sich Bronzewerk¬ 
zeuge aus dem Osten verschaffte, weil im Ural zahlreiche tschudische 
Kupfergruben angetroffen werden. 

Unter Biarmerland versteht Herr Aspelin, wieerzumSchlus.se 
seines Briefes angiebt, bis auf Weiteres nur die Kamagegend als ei¬ 
nen Cultur-Mittelpunkt. Die Grenzen dieser Cultur zu bestimmen, 
sei sehr schwer, da die ihr zugehörigen Funde, ausser jener Gegend, 
über ein grosses Gebiet zerstreut seien, so im westlichen Sibirien, im 
alten Bulgarenland, im westlichen Wjatka-Gouvemement, ander 
Oka, Pinega und Petschora. Viele Gründe sprächen dafür, dass der 
finnische Volksstamm vor seiner ersten Wanderung — eine Ansicht, 
zu der Referent, wie Herr Aspelin bemerkt, auch neigt **) — die un- 


*) Die westlichen Finnen haben für Eisen das Wort rauda, welches germanischen oder 
slawischen (vergl. russ. pyda ) Ursprungs ist, — die östlichen das oben angeführte korä , 
welches iranischen Ursprungs ist. 

* # ) Ich sprach mich gegen ihn dahin aus, dass bei den ostfinnischen Völkern mehrere 
Metallnamen ausser dem Eisen, auch für Silber und Gold, welche von einem iranischen 
Volke entlehnt seien, daraufhindeuteten, dass diese Ostfinnen an der untern Wolga 
mit Iraniern in früher Zeit in Berührung gekommen freien 


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39 8 

tere Wolga und den Handel hier beherrscht habe. Erst im Eisenalter 
sei der finnische Stamm ins westliche Biarmerland gewandert. Um 
* dafür an eine Zeitbestimmung zu denken, sei das westliche archäolo¬ 
gische Material noch zu wenig untersucht, so z. B. in Livland, wo 
neben Gegenständen, die der finnischen Cultur eigentümlich wären, 
sich Formen fänden, die den germanischen Bogenspannern an- 
‘gehören. 

Bei seinen weiteren Forschungen, denen Herr Aspelin, wie aus 
unserem Referat zu ersehen, die breiteste Grundlage gegeben, 
wird er gewiss einzelne seiner Ansichten modificiren und in mancher 
Hinsicht zu festeren Ueberzeugungen, als es bisher möglich war, 
gelangen. Hypothesen sind auf allen Forschungsgebieten förderlich, 
wenn man sie nur an jeder neuen Thatsache, auf die man stösst, von 
Neuem prüft* 

Wir freuen uns, dass die Studien, denen wir uns vor einigen Jahren 
nur gelegentlich widmeten, einen so eifrigen und umsichtigen Ver¬ 
treter , wie Herr Aspelin es ist, gefunden haben. Es bleibt uns nur 
zu wünschen übrig, dass er seinen Eifer für die Alterthumskunde 
der finnisch-ugrischen Völker, ohne durch irgend welche Hindernisse 
beengt zu werden, vollkommen zu genügen immer Gelegenheit habe. 
Zunächst wünschen wir ihm, dass er zur gründlichen Untersuchung 
des in antiquarischer Hinsicht so merkwürdigen Flussgebietes der 
Kama bald die Möglichkeit finde. P. L. 


Eieine Mittheilungen. 

(Russlands Handelsverträge mit den Herrschern der 
mittelasiatischen Chanate). Unter dieser Ueberschrift bringt 
der „Regierungs-Anzeiger“ (Nr. 258) folgende Mittheilung: Von der 
Zeit an, dass Russland zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung 
in den ihm schon lange unterworfenen Kirgisensteppen, welche uns von 
den mittelasiatischen Ghanaten trennen, endlich zu kriegerischen 
Maassregeln gegen seine Nachbarn gezwungen und in die Noth- 
wendigkeit versetzt war, beträchliche territoriale Erwerbungen zu 
machen, begannen verschiedene Organe der ausländischen Presse 
uns Eroberungspläne zuzuschreiben, die gegen England gerichtet 
sein und die Ruhe der britischen Herrschaft in Ostindien bedrohen 
sollten. Derartige Ansichten wurden ungeachtet der wiederholten 
offenen Erklärungen des Kaiserlichen Ministeriums und so beruhi¬ 
gender Aeusserungen seitens Englands von einem beträchtlichen 
Theile des lesendenPublicums, sogar in Russland, gern aufgenommen. 
Erst in der letzten Zeit hat sich, wie es scheint, mehr und mehr ein 
richtiges Verständniss unserer Thätigkeit in Mittelasien und der dort 
von uns verfolgten Ziele geltend gemacht, was zumTheil der Verbrei¬ 
tung richtigerer Mittheilungen über clie geographischen und ethno- 


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399 . 

graphischen Verhältnisse in unseren dortigen Grenzländern zu 
danken ist. 

Mit der Herstellung der gewünschten Ruhe und einer gewissen 
bürgerlichen Ordnung in unseren Kirgisensteppen hat sich unser 
Handel mit den mittelasiatischen Chanaten in Folge der relativen 
Gefahrlosigkeit der Karawanenstrassen bedeutend gehoben. Bevor 
wir Taschkent einnahmen, befand sich der Handel fast ausschliesslich 
in den Händen der Bucharen und Khokander, d. h. Nicht-Russen, 
die wegen unserer Manufacturerzeugnisse nach Russland kamen und 
sich dabei nicht nur einer vollständigen Sicherheit ihrer Person und 
ihres Eigenthums, sondern auch noch verschiedener Vorzüge 
vor unseren Kaufleuten erfreuten. Unsere Kaufleute dagegen 
wurden, wenn sie sich in die benachbarten Chanate begaben, 
nicht nur von ihren Nebenbuhlern, den eingeborenen Kaufleuten 
und Handeltreibenden, sondern auch hauptsächlich von den localen 
Regierungen auf jedem Schritte bedrängt, welche letzteren von 
ihnen das Doppelte des von dem Schariat für die Muselmänner 
festgesetzten Zolles erhoben; abgesehen von den übrigen Be¬ 
drückungen und der vollständig zügellosen YVillkühr der Behand¬ 
lung, denen unsere Landsleute seitens der Zolleinnehmer und der 
städtischen Behörden ausgesetzt waren. Es war eine absolute Noth- 
wendigkeit, einen solchen Zustand der Dinge abzuändern , der so 
unvörtheilhaft für unsere Handeltreibenden und zugleich mit der 
Würde und der Macht Russlands unvereinbar war. Deshalb stellte 
die Kaiserliche Regierung beider im Jahre 1867 erfolgten Begrün¬ 
dung des turkestanschen Gouvernements für unsere fernere Thä- 
tigkeit in Mittelasien ein ganz bestimmtes Programm auf: In Hinsicht 
auf die neueroberten Länder — Einführung einer geregelten Ver¬ 
waltung und Herstellung gesetzlicher Ordnung; in Hinsicht auf die 
benachbarten Chanate — Anknüpfung freundschaftlicher diploma¬ 
tischer Beziehungen mit den Herrschern und Gleichberechtigung der 
russischen Kaufleutc im Handelsverkehr mit diesen Chanaten. 

Zur Ausführung dieses Programmes waren die unermüdlichen 
Bemühungen des General-Adjutanten von Kaufmann dahin ge¬ 
richtet, eine Annäherung zwischen uns und den benachbarten 
Herrschern und eine gewisse bürgerliche Gesetzmässigkeit in der 
Thätigkeit ihrer Regierungen herbeizufuhren. Der erste, welcher 
sich unserem moralischen Einfluss unterwarf, war der Chan von 
Khokand, welcher als unser nächster Nachbar die Unmöglichkeit 
eingesehen hatte, sich mit Russland in einen Kampf einzulassen und 
welcher nach kurzen Unterhandlungen sich zur Annahme der ihm 
für den freien Handelsverkehr vorgeschlagenen Bedingungen einver¬ 
standen erklärte. Am 13. Februar 1868 besiegelte Chudajar-Chan, 
der Beherrscher vonKhokand, nach einigem durch die kriegerischen 
Parteien in Khokand veranlassten Schwanken zum Zeichen seines 
vollen Einverständnisses die beiden ihm zugesandten Exemplare der 
gegenseitigen Verpflichtungen, von denen das eine Exemplar nach 
Taschkent zurückgesandt wurde. Damit war der Grund zu unserer 


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400 


weiteren Annäherung an dieses Chanat und zu der Entwickelung 
unseres dortigen Handels gelegt. 

Der Wortlaut des oben genannten Documentes ist folgender: 

Gegenseitige Verpflichtungen in Betreff des Handels 
zwischen Russland und dem ChanatvonKhokand. 

I. Alle Städte und Dörfer des Chanats Khokand stehen ohne Aus¬ 
nahme den russischen Kaufleuten offen, ebenso wie alle russischen 
Märkte den Handeltreibenden aus Khokand zugänglich sind. 

II. Den russischen Kaufleuten wird es freistehen, in den Städten 
von Khokand, wo sie es wünschen, ihre Karawansereien zu haben, in 
denen sie allein ihre Waaren aufspeichern können. Dasselbe Recht 
gemessen die Kaufleute aus Khokand in russischen Städten. 

III. Zur Beaufsichtigung des regelrechten Handelsverkehrs und 
der gesetzmässigen Erhebung des Zolles wird den russischen Kauf¬ 
leuten das Recht zugestanden, in allen Städten des Chanats Kho¬ 
kand, wenn sie es wünschen, Handelsagenten (KapaBaHT>-6aiim) zu 
haben. Die Kaufleute aus Khokand haben dasselbe Recht in den 
Städten des turkestanschen Gebietes. 

IV. Von allen Waaren, welche aus Russland nach Khokand, oder 
von da in das europäische und asiatische Russland gehen, wird eben¬ 
soviel Zoll erhoben, wie in dem turkestanschen Gebiet d. i. 2 ] /s pCt. 
von ihrem Werthe; in jedem Falle nicht mehr, als von den Musel¬ 
männern, die Unterthanen Khokands sind, erhoben wird. 

. V. Die russischen Kaufleute haben mit ihren Karawanen freien 
und sichern Durchzug durch das khokandsche Gebiet in die dasselbe 
begrenzenden Länder, ebenso wie die Karawanen aus Khokand russi¬ 
sches Gebiet frei passiren können. 

Diese Verpflichtungen sind bestätigt und am 29. Januar 1868 in 
Taschkent unterschrieben und untersiegelt worden von dem General- 
Gouverneur von Turkestan und Kommandirenden der Truppen des 
turkestanschen Militärbezirks, General-Adjutanten von Kaufmann I. 

Als Zeichen der Annahme dieser Verpflichtungen durch die Re¬ 
gierung von Khokand hat Seid-Muhamed-Chudajar-Chan dieselben 
am 13. Februar 1868 in Khokand mit seinem Siegel versehen. 

Es sind seitdem mehr als vier und ein halbes Jahr vergangen; 
während dieser Zeit haben sich unsere freundschaftlichen Bezie¬ 
hungen nicht nur zu Chudajar-Chan, sondern auch zu der Bevöl¬ 
kerung von Khokand bedeutend befestigt, und sie haben diese, wie 
es scheint, bereits dahin gebracht, dass sie unsere Nachbarschaft 
und Freundschaft zu schätzen weiss und in ihnen seinen eigenen 
Vortheil und seine eigene Sicherheit sieht. 

Schwieriger war es, mit dem Emir von Buchara ein Einverständ¬ 
nis zu erzielen. 

Als ihm zuerst die gegenseitigen Verpflichtungen zur Bestätigung 
vorgelegt wurden, welche für unsere Kaufleute nur diejenigen Rechte 
beanspruchten, deren sich die bucharischen Kaufleute schon längst 
in Russland erfreuten, träumte er noch von Rache für die im Jahre 
1866 erlittene Niederlage, und im Winter 1867/68, zu derselben 


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Zeit, %l 9 in Taschkent in dieser Angelegenheit mit seinem Abge¬ 
sandten Unterhandlungen gepflogen wurden, bereitete er sich mit 
aller Kraft vor zu einem neuen Kampfe mit Russland. Der für ihn 
ungünstige Feldzug des Jahres 1868 brächte ihn soweit zur Vernunft, 
dass er die neuen ihm gestellten Bedingungen, welche den von uns 
mit Khokand abgeschlossenen Verpflichtungen ähnlich waren, aa- 
nahm. Aber dieser Vertrag blieb eine Zeit lang ein todter Buch¬ 
stabe, bis der Emir durch so deutliche Beweise, wie die an ihn er-* 
folgte Rückgabe von Karschi (im November 1868) und von Schah- 
rissäbs (im August 1870) sich überzeugte, dass es unser wahrer 
und aufrichtiger Wunsch sei, mit ihm in Freundschaft zu leben 
und unsere Besitzungen nicht weiter auszudehnen. Gegenwärtig 
ist in Bezug auf unsern Handel nyt der Bucharei in Wirksamkeit 
folgender 

Handels - Vertrag , 

vorgelegt Sr. Hoheit dem Emir von Buchara, Seid-Musafar, durch 
den General-Adjutanten von Kaufmann. 

I. Allen russischen Unterthanen, welchem Glaubensbekenntnisse 
sie auch angehören mögen, steht das Recht zu, Handelsreisen nach 
Buchara und je nach ihrem Wunsche in alle bucharische Städte zu 
machen, ebenso, wie es bis zu dieser Zeit allen Unterthanen des 
Emirs von Buchara frei stand ^ind auch in Zukunft frei stehen wird, 
im ganzen russischen Reiche Handel zu treiben. . 

II. Seine Hoheit der Emir verpflichtet sich, streng darauf zu achten, 
dass die innerhalb der Grenzen seines Gebiets sich befindenden russi¬ 
schen Unterthanen mit ihren Kärawanen und überhaupt ihrem ge- 
sammten Eigenthum unversehrt bleiben und keiner Gefahr aus¬ 
gesetzt sind. 

Die nun folgenden §$ 3, 4, 5 und 6 dieses Vertrages entsprechen 
genau den §$ 2, 3, 4 und 5 der mit Khokand Uebereinkunft. 
Dann heisst es weiter: Dieser Vertrag wurde von dem General- 
Gouverneur von Turkestan und Kommandirenden der Truppen im 
turkestanschen Militärbezirk, General-Adjutanten Kaufmann L, 
unterschrieben, untersiegelt und am 11. Mai aus Ssamarkand ab¬ 
gesandt. 

Zum Zeichen der Annahme untersiegelte der Emir Seid-Musafar 
dieses Uebereinkommen in Karschi am 18. Juni 1868. 

NachdemderEmirdiesenHandelsvertrag bestätigt hatte, war er An¬ 
fangs nicht sonderlich bemüht, ihn auch in der Praxis durchzuführen 
und von einigen unserer Kaufleute, welche bald nach Einstellung der 
Feindseligkeiten mit ihren Karawanen nach Buchara kamen, wurde, 
entgegen der Bestimmung von § 5, ein doppelt so hoher Zoll er¬ 
hoben, als von den Muselmännern. Die zu viel entnommene Abgabe 
wurde jedoch auf Verlangen des General-Gouverneurs von Turke¬ 
stan, mit Berufung auf den abgeschlossenen Vertrag, in derFolge zu¬ 
rückerstattet. 

Während die Unterhandlungen mit Khokand und Buchara geführt 
wurden, versuchte man unsererseits auch, geregelte und freund- 

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402 


schaftliche Beziehungen mit Chiwa ins Leben zu rufen, aber alle un¬ 
sere Bemühungen und die wiederholten Versuche einer Annäherung 
an dieses Chanat führten nicht zu dem gewünschten Ziele, und dienten 
nur dazu, die wirkliche Stimmung der Regierung von Chiwa klar zu 
legen. Wir verlangten weiter nichts, als die Befreiung russischer Un- 
terthanen aus chiwascher Gefangenschaft und freien und sichern Zu¬ 
tritt für unsere Kaufleute in die Städte des Chanats. Aber 
diese gerechten und mässigen Forderungen wurden bald mit Still¬ 
schweigen beantwortet, bald abschlägig beschieden und zugleich 
mit den unsinnigsten Gegen-Forderungen begleitet. So kann aber die 
Lage dieser Angelegenheit nicht bleiben, und um so weniger, als 
die Ruhe und die Ordnung unserer Orenburgschen Steppe direct ab¬ 
hängig sind von unseren Beziehungen zu Chiwa. « 

Es bleibt uns noch übrig, einige Worte über den Handels-Vertrag 
zu sagen, welchen der General-Gouverneur von Turkestan im Juni 
dieses Jahres mit dem Herrscher von Dshiti-Schar*) Jakub-Beg, abge¬ 
schlossen hat. 

Bis zum Jahre 1865 gehörte Dshiti-Schar, d, hi das chinesische 
Turkestan oder die Kaschgarschen Besitzungen, zum chinesischen 
Reiche, und vom 2. November 1860 ab war diese Provinz Kraft des 
Pekinger Vertrages unserem Handel geöffnet und war es uns gestattet, 
in Kaschgar unsera eigenen Consulzu haben. Nachdem Jakub-Beg das 
Land erobert hatte, konnte er von uns nur unter der Bedingung ge¬ 
duldet werden, dass er die Verpflichtungen übernahm, welche die 
von ihm gestürzte Regierung gegen uns eingegangen war. Nicht 
wenig Geduld und Mühe war nöthig, um nicht durch Waffenge¬ 
walt, sondern durch diplomatische Verhandlungen die Anerkennung 
des Rechtes unserer Kaufleute zu erlangen, in allen Städten von 
Dshiti-Schar frei Handel treiben zu dürfen. Im Juni dieses Jahres 
nahm Jakub-Beg endlich die ihm durch den General-Gouverneur von 
Turkestan vorgelegten, von diesem Unterzeichneten Vorschläge über 
den freien Handelsverkehr an und versah dieselben zum Zeichen 
seiner Zustimmung am 8. Juni mit seinem Siegel. Das Uebereinkom- 
men selbst stimmt vollständig mit denen überein, die mit Buchära 
und Khokand abgeschlossen sind. 

Es ist einiger Grund vorhanden zu glauben, dass Jakub-Beg es mit 
der Annahme dieses Vertrages aufrichtig gemeint hat und dass er 
in allen Angelegenheiten, welche unsere Kaufleute (betreffen, danach 
handeln wird. An einem seiner Nachbarn, dem Sultan von Kuldsha, 
hat er gesehen* wohin Eigensinn und Hinterlist im Verkehre mit uns 
führen. Bei einem ; andern, dem Chan von Khokand, hat er, wie er 
selbst in seinem Briefe an den General-Adjutanten von Kaufmann 
sagt, sich fest überzeugt, ,,dass er, nachdem er Frieden und Freund¬ 
schaft mit Russland geschlossen, weder Schaden noch Unterdrü¬ 
ckung erfahren habe, sondern dass im Gegentheildie kleinen Staaten 
durch das mächtige Russland Ruhe erlangen. “ 

# ) Sieben-Städte. 


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4ö3 


(Baron A. W. Kaulbars* Reise nachOst-Turkestari im 
Frühsonämer 1872). Im Anschluss an den vorstehenden Artikel 
theilen wir nogh mit, dass in der gewöhnlichen Monatssitzung der 
Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft, welche am i. November 
unter* dem Vorsitze des Vicepräsidenten Grafen Lütke stattfand und 
welcher auch der zur Zeit hier weilende General-Gouverneur von 
Turkestan, Generäl-Adjutant von Kaufmann, beiwohnte, der Führer 
der an Jakub-Beg wegen des Abschlusses eines Handelsvertrages 
abgesandten Expedition, Major Baron A. W. Kaulbars, einen Sehr 
interessanten und äusserst lebendigen Vortrag hielt über seine Reise 
nach Kaschgar. Seinem Reiseberichte schickte der Vortragende 
einige Bemerkungen über die geographischen und ethnographischen 
Verhältnisse dieses neuen central-asiatischen Reiches voraus. Dabei 
erwähnte er der ihm seit 1868 vorangegangenen russischen Be¬ 
sucher dieses Landes, nämlich des Kaufmanns Chludow, das Kapi¬ 
täns P. /. Rernthal und eines Agenten des Handelshauses Njetft- 
tsckinow . (Auch das Handelshaus Rusnezow schickte Karawanen, 
abör unter der Leitung eines Tataren, nach Kaschgar, und zwar in 
den Sdmmem 1869 und 1870). Bis zu diesem Frühjahr hatte Jakub- 
Beg bekanntlich sich wenig geneigt gezeigt, mit den Vertretern 
unserer Regierung iii Turkestan auf freundlichen Fuss sich zu setzen, 
oder die Handelsbeziehungen der Einwohner russischen Gebietes 
zu denen seines Landes zu begünstigeh uiid zu fördern. Daher 
kam im Anfang April sein Brief an den General von Kaufmann, in 
-welchem er dem Wünsche nach’ freundschaftlichen Beziehungen zu 
Russland Ausdruck gab, ganz unerwartet. Um dieselben anzubähnCn 
und durch einem Handelsvertrag zu befestigen, beschloss derGeneral- 
Gouverneur, eine Gesandtschaft nach Kaschgar zu schicken. Mit 
dieser Mission wurde, wie auch aus den Tagesblättern bekannt, 
Baron Kaulbars betraut. Ihm würden beigegeben: Kapitän Scharn¬ 
horst, Ssotnik Kolokolzow, Unterlieutenant Starzew, N. J. Tschany- 
schew; ferner Herr M. N. KolCssnikoW, dem General v. Kaufmann 
auftryg, ausführliche Notizen über die Production und den Handel 
des Siebenstädte-Gebietes zu sammeln, und Herr Paramonow, als Ver¬ 
treter der Kaufmannschaft von Taschkent Und der turkestanschen 
Abtheilung der Gesellschaft zur Förderung der russischen indu¬ 
striellen und Handels-Interessen. Ausserdem war in Baron Kaulbars’ 
Gefolge noch der ehrwürdige Greis Jakub-bai, ein Einwohner von 
Taschkent. ' * 

Den 22. April (4. Mai) Verliess die Gesandtschaft Tokmak, am 
nördlichen Abhange des Thian-schan gelegen. Die Gesellschaft 
ging zum Naryn-Flusse getheilt auf zwei Verschiedenen Wegen. 
Baron Kaulbars mit den Herren Scharnhorst und Kolokolzow schlugen 
den westlichen Weg durch die Schlucht Buam ein, der Topograph 
Starzew mit Tschanyschew, Kolessnibow, Paramonow und Jakub-bai 
sich östlichen über den Schamsi-Pass. Am Naryn vereinigte man 
den und War in Begleitung von 12 Kosaken am 9. Mai am Felsen 

' 27* 


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_ 40 *._ _ 

Tai'n-Tübe, beim Turagartu-Pass, 30 Werst südlich vom See Tscha- 
tyr-Kul. Der Uebergang über den Tasch-Rabat war sehr b^schwier- 
lich wegen der strengenKälte und des Unwetters, die hier herrschten. 
Der über 11,000 Fuss über dem Meeresspiegel gelegene Tschatyr- 
Kul war noch mit Eis bedeckt Hier, wo man Rast hielt, «wurden 
vom Kapitän Scharnhorst astronomische und magnetische Beob¬ 
achtungen vorgenommen. 

Am Fusse der nördlichen Ausläufer des den See von Süden um- 
schliessenden Gebirges war man auf die erste Patrouille des Kasch- 
garschen Grenzpikets gestossen. Sie ward von einem Pendscha- 
baschi geführt und erwartete die Gesandtschaft. 

Die Anwesenheit in Kaschgar dauerte einen Monat, bis zum 15. 
(27.) Juni. Die Aufnahme von Seiten Jakub-Begs war eine sehr 
gastfreundliche. Baron Kaulbars gelang es, für sich und seine Be¬ 
gleitung freie Bewegung# in Kaschgar und dessen Umgegend bei 
Jakub-Beg zu erwirken, welcher russischen Reisenden und bekannt¬ 
lich auch den Engländern, die ihn besucht haben, gegenüber in die¬ 
ser Beziehung sehr ängstlich war. Anfangs weigerte er sich auch 
dies Mal, seine Einwilligung zu den Spazierritten der Mitglieder der 
Gesandtschaft zu geben, indem er vorgab, dass er Conflicte mit den 
Einwohnern befurchte. Da aber Baron Kaulbars auf seinem Wunsche 
bestand, so liess Jakub-Beg von seinem Weigern ab. 

Die Gesandtschaft wohnte auch einem Manöver der in und um 
Kaschgar stationirten Truppen bei. Jakub-Beg hat auch ein chinesi¬ 
sches Regiment, welches von Ma-dalai (d. i. Ma-da-lae oder M* der 
grosse Herr) befehligt wird. Die Geschütze der Artillerie ruhten 
auf englischen Lafetten. Die Officierc bei derselben sind Afghanen 
und Hindu. Das Commando ist das englische, ln der Infanterie 
werden kleine Geschütze (Tai für genannt) gebraucht, welche auf 
den Schultern zweier Soldaten ruhen/ Der Hintermann wird beim 
Abfeuern von einem dritten, welcher das Geschütz richtet, mit dem 
linken Arm gestützt und ein vierter giebt Feuer. 

Auch die Kasernen der chinesischen Truppen wurden besucht 
(am 31. Mai), ebenso das Fort von Kaschgar. Nachdem der Tractat 
von Jakub-Beg unterzeichnet war, hatte die Gesandtschaft am i^.Juni 
die Abschiedsaudienz, bei welcher alle Mitglieder reich beschenkt 
wurden. Baron Kaulbars erhielt zwei Pferde, die andern Herren ein 
Pferd, ausserdem Jeder ein reiches Ehrenkleid, einen Ballen Teppiche 
und einen Ballen Seidenstoffe., Die Kosaken erhielten auch 
jeder ein Ehrenkleid. Am 15. (27.) Juni, als die Gesandtschaft auf- 
hrach, erschien Jakub-Beg selbst, um ihr eine glückliche Reise zu 
wünschen. 

Auf der Rückreise wurde der vom Kapitän Reinthal im Jahre 1868 
zurückgelegte Weg genommen. 

Herr Kolessnikow T blieb noch zurück, um Jarkend zu besuchen.' 
Die Einwilligung zu dieser Excursion gab Jakub-Beg sehr ungern; 
er meinte sogar, der Reisende könpte Raubanfällen ausgesetzt sein. 
Es wurde aber auf der £eise Kpkpsnikow’s von Seiten des Baron 


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Kaulbars bestanden, und so wurde sie nun auch von Ersterem mit 
vollem Glück ausgeführt. Herr Kolessnikow (er ist der erste russi¬ 
sche Besucher von Jarkend) kehrte dann über Khokand nach Tasch¬ 
kent zurück, wo die russische Gesandtschaft und ein Abgesandter 
des Jakub-Beg im Anfang Juli bereits eingetroffen waren. 

Herrn Kolessnikow’s Reisebericht wird demnächst auch veröffent¬ 
licht werden. 

Der Vortrag des Herrn v. Kaulbars war reich geschmückt * mit 
interessanten Streiflichtern über den Culturzustand des Landes. Es 
sei uns gestattet, der Curiosität wegen, eins wiederzugeben. Die 
Bewirthung, so erzählt Herr v. Kaulbars, war äusserst opulent. War 
aber einmal eine Audienz bei Jakub-Beg nicht sehr freundlicher 
Natur gewesen, so reducirte sich die Zahl der Gerichte sehr be¬ 
trächtlich, wogegen sie sich wieder auf ihr früheres Niveau hob, 
wenn die Audienz einen angenehmen Character gehabt hatte. 

Die günstigen Verhältnisse, unter welchen Baron Kaulbars und 
seine Gefährten in Kaschgar verweilten, lassen hoffen, dass ihre aus¬ 
führlichen Berichte, sobald sie publicirt sein werden, über das öst¬ 
liche Turkestan, w elches in letzter Zeit die Aufmerksamkeit der 
Männer der Wissenschaft und der Publicisten besonders fesselt, viel 
Neues bringen werden. Jedenfalls kanH man behaupten, dass durch 
die erfolgte Annäherung der Herrschers von Kaschgar an Russland 
der wissenschaftlichen Beobachtung und dem Handelsverkehr ein 
neues Gebiet geöffnet ist. 


(Auszug aus den Sitzungsberichten der II. Section der Kaiserlichen 
Akademie der Wissenschaften f für Russische Sprache und Literatur ] 
während der Monate April bis Septe?nber 1872). 

Akademiker J. J. Ssresnetvski verlas eine Abhandlung über die 
alte Uebersetzung der Pandekten durch Nikon Tschernogorez, nach 
drei Handschriften des XIL—XIV. Jahrhunderts: dem Jarosslawschen, 
Synödal- und Tschudow-Codex. Nachdem er den Inhalt der Pan¬ 
dekten besprochen und Jeden der drei Codices beschrieben, wendet 
der Verfasser seine Aufmerksamkeit der Sprache dieser Ueber- 
setzung zu. Untet Anderem erweist sich, dass viele der in allen 
drei Handschriften gebräuchlichen Wörter, sow ohl der Lautform als 
der Bedeutung nach, russische sind. Auch, treten Wörter auf, die 
im altrusstschen Volksleben eine Bedeutung hatten, wie z. B. das 
Zählen der Werth« nach wewerizy ( Beeepnuu), wjechschy (B'fcxuibi) 
und rjesanp (p'bsaHbf), der Entfernung nach Wersten (Bepcra) u.s*w. 
Ein Auszug aus dieser Abhandlung soll als Beilage zum Sitzungs¬ 
bericht, die Abhandlung selbst in den „Nachrichten über ünbekannte 
und Iwenig «bekannte Denkmäler“ (Cß'fczrfeHi* h aatfimut o nenmb- 
cTÄ4lx'bH MeaoÄ8B^CTH«xi- naMnri'Hintaxi») veröffentlicht werden. 

In der ersten Sitzung nach den Ferien gab Akademiker J. K. Grot 
dem Gefühle der Trauer Ausdruck über den schmerzlichen Verlust, 


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406 


den die Classe durch den Tod ihres Mitgliedes, des Akademikers 
P. P. Pekarskij , erlitten. In seinem 45. Jahre (am 12. (24,) Juli d. J.) 
ward der unermüdliche Gelehrte genöthigt, seine, wenn auch junge, 
doch nicht minder fruchtbare wissenschaftliche Thätigkeit zu be- 
schliessen, nachdem er erst vor neun Jahren in die Akademie ge¬ 
treten war. Wie viele weit; angelegte Arbeiten bleiben jetzt unvoll¬ 
endet! Die zahlreichen Schriften des so früh Geschiedenen waren 
vorzüglich der Geschichte der Bildung in Russland, besonders seit 
den Zeiten Petersdes Grossen, gewidmete Nicht lange vor seinem 
Hingange war von ihm die Herausgabe der vom Akademiker Ar- 
ssenjew zur Geschichte desXVIlI. und XIX. Jahrhunderts gesammel¬ 
ten Materialien besorgt; worden, und der Tod ereilte ihn, wo ein um¬ 
fangreicher Band (der zweite) der Geschichte der Akademie fast im 
Drucke vollendet ist» Herr Grot theilt der Classe mit, dass der 
Druck dieses Bandes bald vollendet sein wird und dass nur der Index 
zu ihm auszuarbeiten sei. 

. Akademiker Ssresnewskij berichtet über eine unlängst erschienene, 
sehr bemerkenswerthe Arbeit von A. N. Popow , welche den Titel 
führt * „OnHcame pyKonnceft n KaTajion» KHUrtb nepKOBHOft neuaTK 
ÖHÖJiioxeKH A. H. X^yflOBa“, d. i, Beschreibung der Handschriften 
und der in Kirchenschrift gedruckten Bücher in der Bibliothek von 
A. I. Chludpw. Mit Chludow’s Bibliothek ist auch die HancUchrif- 
tensammlung von ; A I. JLobkow vereinigt, sowie auch diejenigen 
Manuscripte, welche A. Hilferding aus der Bulgafei und UusiMace^ 
donien mitgebracht hatte. Das dieser reichen Privatbibliothek ge¬ 
widmete Werk Popow’s hat, nach dem Urtheile Ssresnewskij’s, eine 
besondere Bedeutung, weil es als ein Handbuch beim Studium des süd¬ 
slawischen und russischen Schriftenthums dienen könne. Es bleibe 
zu wünschen übrig, dass die Beschreibung der Handschriften durch 
palaeographische Facsimile ergänzt werde. Herrn Ssresnewskij’s 
Referat wird in den Sitzungsberichten gedruckt werden. 

Akademiker A . Th. Bytschkow empfahl zum Druck die Ergän¬ 
zungen des Herrn Schein zum’ Wörterbuch 1 von W. /. Dahl, 'der in 
diesem Herbst verstorben ist. Akadetniker Groi verlas der Classe 
einen Nekrolog dieses ihres Corrfespondenten, mit Auszügen aus an 
ihn gerichteten Brieferr desselben»' ' 

Der Classe wurde vörgeiegt der 8. Band der „Russischen Histori¬ 
schen Bibliographie* für das« Jähr 1862/ dessbn Druck ih r diesem 
Sommer beendet ist. Es. Wurde beschlossen, beitn Fleribtti der Aca*- 
demie 1 darauf anzuträgen^ daiss idem BibHothekarsgehüHen Ä. P\ 
Lsmbik) dessen Fleiss .di^ » wissenschaftliche Weit diese nützliche 
Arbeit verdankt, auchVdie Ausarbeitung der Bibliographie für 'die 
nächsten Jahre (1863 Überträgen Werde. « 1 ;! 

Akadetniker SsresfiewsJ&j ''theilt aus einem Briefe PJ Av Iiawhrwa- 
kij’s mit, dass* es Herrn Pawlowskij gelungen • sei, <' den für; 'verloren 
gehaltenen Theil der Ssuprassl^schen« Handschrift (ans »dem »XI^ Jahr¬ 
hundert) aufzufiuden. / t j , t f , t r ;.r- f , v, , § r f { 

’• 1 '" ’’ '* ‘ •. ' ■ 1 1 • (; i . i - * \K1 I . »i» -'lo ' I* ) 


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407 


(Neue Specialkarte des Europäischen Russlands.) Von 
dieser neuen, von der Kriegstopographischen Abtheilung des Kafeerl. 
Generalstabs publicirten vortrefflichen Karte, die im Maassstabe von 
I : 420,000 gezeichnet und auf 144 Blätter berechnet ist, sind bis 
jetzt 64 Blatt erschienen. Dieselben umfassen die Gouvernements: 
St. Petersburg, Ostseeprovinzen, Pleskau, Kowno, Wilna, Witebsk, 
Grodno, Minsk, Mohilew, Ssniölensk, Wolhynien, Tschemigow, 
Kursk, Orel, Wononesh, Tambow, Pensa, Kijew, Charkow, Kamenez- 
Podolsk, Poltawa, Jekaterinosslaw, Chersson, das Täurische und 
Bessarabische Gebiet und Theile der Gouvernements: Archangelsk, 
Olonez, Kaluga, Rjäsar^, Ssimbirsk, Ssaratow, Ssamara, Astrachan 
und des Gebietes der Donischen Kosaken, d. h. ungefähr die west¬ 
lich und südlich von Moskau gelegenen Theile des europäischen 
Russlands, mit Ausschluss von Finnland, *und dann noch nördlich: 
die Gouvernements Archangelsk und Olonez. Die Karte ist un¬ 
streitig eines der bedeutendsten Werke, welche seit langer Zeit auf 
kartographischem Gebiete erschienen sind; sie Stützt sich, soweit 
irgend möglich, auf specielles neuestes Original-Material, zeichnet 
sich durch grosse Vollständigkeit und Genauigkeit äus und hält die 
glückliche Mitte zwischen den unzureichenden Generalkarten und 
topographischen Specialkarten. Die technische Ausführung lässt 
nichts zu wünschen übrig und der Preis pro Blatt 50 Kop., mit colo- 
irrten Grenzen 60Kop., ist mässig. Wir empfehlen diese neue Karte, 
von der jedes Blatt einzeln zu haben ist, aufs Angelegentlichste. 


Literaturbericht. 


y(ulius) Iverstn. Medaillen, geprägt auf die Thaten Peter 7 s des Grossen. Festschrift, 

• durchweiche zurFeierdes zweihundertjährigen Gedächtnisstages der Geburt Peter’s 
des Grossen am 30. Mai 1872 um I Uhr einladet im Namen des Allerhöchst 
▼erordneten Directorii der Schulen. der St. Petri-Kirche der Director der Schulen 
Mag. H. Graff. St Petersburg 1872. XXVII -f 66** # SS. mit XII Tafeln and einer 
Titel* Vignette. > , 

JO: UepctHö . Meaajm Ha A'haHi* HnnepaTOpa IleTpa BeJiutaro arb Bocnonmame Atjx- 
coTOJi-feTis co ah* poacAema IIpeo6pa30BaTeJi* Poccim n3AaHHbia JOaiem» Haep- 
I ceHowb. Co6* 1872. XXV + 63*« SS. 4 0 mit XU 

-De^ Herr Verfasser, Lehrer der alten Sprachen an der hiesigen, 
1762 gegründeten Deutschen Hauptschule zu St.> Petri und Mitglied 
der archäolögischen Gesellschaften zu St. Petersburg und Odessa, 


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408 


sowie der Gesellschaft der Geschichts- und Alterthumsforschung 
der Ostsee-Provinzen, widmet seit einer Reihe von Jahren mit viel 
Liebe und Eifer seine Mussestunden dem Studium der russischen Nu¬ 
mismatik. Ai^sser einzelnen Aufsätzen (unter andern Beschreibungen 
mehrerer Münzfunde aus dem westlichen Russland) in den Schriften 
der hiesigen Kaiserlichen Archäologischen Gesellschaft, liegt uns 
von ihm ein hier im Jahr 1870 *in deutscher Sprache veröffentlichter 
,, Bei trag zur russischen Medaillenkunde. 160 bisher unedirte, Privat¬ 
personen ertheilte, Medaillen.“ (88 SS. 80 mit 1 Tafel) vor. In dem¬ 
selben Jahre veröffentlichte er in russischer Sprache die Beschreibung 
der in ebengenannter Schrift aufgeführten, von der Kaiserin Katha¬ 
rina II. einigen Personen des Donischen Kosakenheeres verliehenen 
Medaillen (26 SS. kl. Q. mit 1 Tafel). 

Die gegenwärtig in russischer und deutscher Ausgabe uns vor¬ 
liegende Gelegenheits-Schrift ist in der Hoffnung verfasst, „dem 
Kenner und Liebhaber manche Aufklärung zu geben, dem Sammler 
aber die Möglichkeit zu liefern, Original von Copie mit grösserer 
Bestimmtheit zu unterscheiden“ (Einl. S. III). Ohne den Anspruch 
auf eine genügende Beantwortung zu erheben, behandelt der Ver¬ 
fasser in der Einleitung folgende fünf Fragen: 1. Welche Medaillen 
der Zeit Peter des Grossen waren Belohnungsmedaillen? 2. Aus 
welchem Metalle waren die Original-Medaillen derZeit? 3. WelchesMa- 
terial bieten uns Miinzcabinette und Literatur? 4. Wer sind die Me¬ 
dailleure der Zeit und woher kommen die vielen Copien der Medaillen 
auf die Thaten Peter des Grossen? 5. Wo finden sich die Originale 
zu den beschriebenen Medaillen? 

Die bedeutendste Sammlung russischer Medaillen in St. Petersburg 
ist die der Kaiserlichen Eremitage, die in jüngster Zeit durch den 
Ankauf der an seltenen Denkmünzen aus Petrinischer Zeit reichen 
Schrot /'sehen Sammlung noch einen werthvollen Zuwachs er¬ 
halten hat. 

Von seiner eigenen Sammlung sagt der Verfasser (S. VIII): 
„Meine eigene Sammlung, die an Zahl der seltenen Gepräge ziem¬ 
lich reich ist, hätte nie zu bedeutender Vollständigkeit gelangen 
können, wenn ich nicht, meinen Verhältnissen gemäss, auch Me¬ 
daillen in schlechtem Metalle aufgenommen hätte. Diese, von be¬ 
deutenden Sammlern, wie z. B. von dem Herrn Schroll, mit grösster 
Verachtung übersehen, fiefen desto billiger in meine Hände und 
brachten, neben manchen Gold- und Silberexemplaren, mir eine 
Menge verschiedener .und seltener Gepräge zu“. 

Auf S. 1 — 64 beschreibt der Verfasser 56, an Lebzeiten Peter 
des Grossen, geprägte Medaillen, zum Theil nach Copien». Nr. 57 
ist die auf den Tod Peter des Grossen geprägte Penkmünze. In 
einem Anhänge ($. 64 -r- 66 der deutschen* S.63-T- 65 der rus§i- 


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409 


sehen Ausgabe) bespricht er sieben Medaillen, die zum Andenken 
Peter des Grossen in späterer Zeit geschlagen sind. Beide Aus¬ 
gaben schliessen mit einem „Nachweis des zn den Abbildungen ge¬ 
hörigen Textes“ und dem „Inhaltsverzeichnis«“. 


Bocto’ihwü CuopnBic-b. Tomt> I. Bbiuycicb nepBhiü. Cno. 1872. 8°. 

Orientalische Sammlung Band I. Erste Lieferung. St. Petersburg. 202 SS. 8 °. 

Während der Jahre 1852 — 1866 sind mit Allerhöchster Gcneh- 
migung vom Asiatischen Departement des Ministeriums des Aeussern 
vier Bände der „Arbeiten der Mitglieder der Russischen Geistlichen 
Mission“ (Tpyau 'weHOBi> PocciftcKofi ÄyxoBHott MwcciH bt> Ilc- 
kmh'Jj, in-8<>., Bd. I, 1852 — 489 SS.; Bd. II, 1853 — 491 SS.; Bd. III, 
1857 — 473 SS. mit 2 Tafeln; Bd. 4 V, 1866 — 460 SS.) herausge¬ 
geben worden. 

Die in der Ueberschrift genannte Sammlung ist gewissermaassen 
eine erweiterte Fortsetzung der oben erwähnten „Arbeiten“, deren 
drei erste Bände in Berlin, 1858, in deutscher Uebersetzung, in zwei » 
Bänden, heausgegeben werden sollten, von denen aber nur der 
erste Band uns bekannt ist. Ausser Abhandlungen von Mitgliedern 
der Pekinger Mission, wird sie noch anderweitiges Material zur 
Kenntniss von Asien, über welche das Asiatische Departement ver¬ 
fügt, bringen und ebenso von demselben herausgegeben werden. In 
der gegenwärtigen ersten Lieferung finden wir die Arbeiten zweier 
Mitglieder der Pekinger: Geistlichen Mission, des Archimandriten 
Palladius und des Hieromonachen Jnvlampij. Der erste lieferte 
(S. l — 64) eine Abhandlung über „die alten Spuren des Christen¬ 
thums in China, nach chinesischen Quellen“ und die Uebersetzung 
aus dem Chinesischen einer alten chinesischen historischen Ueber- 
lieferung von Tschingis-chan (S. 149 — 202), — der letztere: die 
Uebersetzung der Memoiren eines Chinesen über Annam S. 67 
bis 145). 

Ehe wir über den Inhalt dieser drei Beiträge zur Geschichte und 
Erdkunde von Ost-Asien berichten, halten wir es für angemessen, 
einige Worte über den Inhalt des vierten Bandes der „Arbeiten der 
Pekinger Russischen Geistlichen Mission“ zu sagen* 

Voran steht in diesem Bande (S. 1 — 258) die Familiengeschichte 
derjuen — (Mongolen Dynastie, übersetzt aus dem Chinesischen, , 
wo sie den Titel „Juen-tschao-mi-schi führt. Ursprünglich ist sie in 
mongolischer Sprache abgefasst gewesen, denn, wie ein hiesiger 
Orientalist bei Gelegenheit der Anzeige des IV. Bandes der „Ar¬ 
beiten“ sich ausdrückte, nur „ein echter Steppenbewohner, ein No¬ 
made vom Kopf bis zu Fuss, ein solcher nur konnte der Verfasser 
dieseh Erzählung sein:, wer es aber <wai* y bleibt uns unbekannt“. 
„Ueber die welterschüttemden Thaten Tschingis-chans wind hier in 
demselben Tone berichtet, wie etwa über den durch das Vieh des 
einem Nontactenstamines an den* Weiden eines andern angerichteten 


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4io 


Schadens. Vom Anfang bis zum Ende des Werkes herrscht eine epi¬ 
sche Ruhe, endlos wie die unabsehbare Weite der mittelasiatischen 
Ebenen, ohne alles Pathos“. Die Abfassung dieser Schrift wird von 
einem chinesischen Kritiker auf das Jahr 1240 verlegt, was auch nicht 
zu bezweifeln ist. Ins Chinesische wurde sie zu Ende des XIV. Jahr¬ 
hunderts übersetzt. Sehr werthvoll sind die Anmerkungen des rus¬ 
sischen Uebersetzers. Dann folgt die Uebersetzung des „Tagebuches 
der Reise Tschang- Tschuns in den Westen“, mit Beilagen und An¬ 
merkungen, ebenfalls von Palladius geliefert. Fast um dieselbe Zeit 
(1867) erschien im Journal Asiatique die französische Ueber¬ 
setzung dieses für die Geschichte und Geographie Mittelasiens in der 
ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts wichtigen Documentes. Die 
Reise des Mönches von der Secte der Tao-sse ging von China über 
Transoxiana bis an die Grenzen von Indien/ auch die Rückreise 
wird beschrieben. Das von einem Begleiter des Tschang-Tschun 
geführte Tagebuch ist meist sehr präcis, dass ein moderner Rei¬ 
sender in der Beschreibung selbst unbewohnte Localitäten leicht 
wieder erkennt Auch hier sind die Anmerkungen des gelehrten 
Sinologen ein kostbarer Schatz, wenn auch mitunter Irrthümer in der 
näheren Bestimmung der Reiseroute des Mönches Vorkommen. Am 
Schluss des Bandes, (S. 437 — 460) finden wir eine Arbeit des Va¬ 
ters Palladius: „Ueber denMuhammedanismus in China“. Noch ist der 
dem zweiten Beitrage beigelegten chinesischen Karte von Dscha- 
gatai, Kiptschak und Iran, die aus den Jahren 1329 —- 1331 stammt, 
zu erwähnen. * 

Der die Geschichte des Christenthums in China betreffende Auf¬ 
satz in der „Orientalischen Sammlung“ hatte in den „Arbeiten“ zu 
Vorläufern zwei Aufsätze des verstorbenen Hieromonachen P. Zweet - 
kow\ Ueber das Christenthum in China“ (Bd. III. S. 183 — 204), 
wo Nachrichten über die Beziehungen Chinas zu Byzanz und über 
die Einführung der christlichen Lehre in China aus chinesischen hi¬ 
storischen Schriften mitgetheilt werden, und,,Ueber das nestorianische 
Denkmal des VII. Jahrhunderts“ (S. 205 — 212) aus derselben Fe¬ 
der. Gründlicher als sein Vorgänger behandelt diesen Gegenstand 
Vater Palladius, obgleich er sich meist an die chinesischen Quellen 
hält. Die nestorianische Inschrift von Ssi-an-fu (der einstmaligen 
Residenz der Than~ Dynastie, welche im Jahre 781 nach Christi an¬ 
gefertigt wurde, ist von chinesischen Alterthumsforschern mehrfach 
j herausgegeben und commentirt worden. Die Redaction des chine¬ 
sischen Theils ist, nach Palladius* Ansicht, von einem gelehrten Chi¬ 
nesen, der sehr belesen und mit dem monumentalen Styl vertraut 
waf, gemacht. „Während die skeptischen Kritiker des Abendlandes 
sich abmühten, die Fälschung dieser christlichen. Urkunde aus 
China zu beweisen/ indem sie sie für ein Machwerk der Jesuiten 
hielten, und die einheimischen Christen bei dem unerwarteten Funde 
eines Zeugnisses für das hohe Alterthum der Einführung ihrer -Reli¬ 
gion.in t ihrem Vaterlande Jubelten; gingen die chinesischen Gelehrten 
ohne , Jeden Zweifel an die Echtheit der Urkunde, weil sie ihnen 


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4U 


eine oft in China sich, wiederholende Thatsache war, an ein gewis¬ 
senhaftes Aufsehen in ihren Chroniken der Zeugnisse, welche dieses 
neu entdeckte (es war nach Einigen in den Jahren 1573 — 1619, nach 
Andern zwischen 1628 und 1643) Denkmal unterstützen könnten. 
Die von ihnen angestellten Untersuchungen haben unleug£>ar das 
Vorhandensein, des Christenthums zur Zeit der Than-Dynastie be¬ 
wiesen“ (S. 11 — 12). Neben Manichäern (Moni) und Mazdajag- 
niern (Parsen, Chaen-sehen) werden auch Christen (' Da-tsin Byzan¬ 
tiner) in einem Denkmal, das aus der Zeit der erwähnten Dynastie 
sich erhalten hat, genannt. Spätere unkritische chinesische 
Schriftsteller haben die I'a-fsin (Christen) und Chilenischen (Parsen) 
zusammengeworfen, andererseits haben chinesische Muhammedaner 
die Benennung Moni für sich in Anspruch nehmen wollen, und darin 
Imani (arabisch von Iman Glaube) wie sie ihre Religion nennen, 
sehen wollen, um dadurch die zweifelhafte Existenz derselben zur 
Zeit der Than-t)y nastie zu stützen, ln einer besondern Beilage stellt der 
Verfasser die chinesischen Nachrichten über das Manichfierthum und 
den Mazdaismus zusammen, festere sollen schon im VI. Jahrhundert in 
China aufgetreten sein. Positive Nachrichten erwähnen ihrer un^er dem 
Jahre 732. Im Jahr 768 wurde für die idgnrischen Moni ein Kloster 
in der Hauptstadt erbaut. Die Benennung Chaen-sehen wurde, im Al- 
terthume in China keiner bestimmten Religion beigelegt. Man kann 
nur so viel behaupten, dass Ufsprtmglidh mit diesem Namen Gei¬ 
ster bezeichnet wurden, welche das gemeine Volk und Fremde ih 
China verehrten (S.* 53 — 54); Später erst, als sich freie und häufige 
Beziehungen Chinas zum Westen: festgestlellt hatten, gab man 1 diesen 
Namen der Religion Zoroasters lind speciefl dem Geiste des Feuers. 
In der Geschichte der Wei-Dynastie, welche in der ersten Hälfte des V. 
Jahrhunderts gegründet wunde, geschieht zum ersten Mal dieser Re¬ 
ligion Erwähnung. Damals wurden auch Tempel zu f Ehren des 
Gkaen+stken errichtet. Mit dem Aufkommen der Than-Dynastie Wer¬ 
dern die Nachrichten* über den Clfe^rw-Glauben zahlreicher. ! Der 
Feueraltäre 1 der Guebern wird dann* unter’ * verschiedenen Benen¬ 
nungen erwähnt: Chu-chdentsd (der* Tempel des barbarischen Chaen), 
Chaen^su (TomptI > zu Ehren des i Chaen), Bo-ssu^stü (Klöster der 
Perser) und sogar Später geschieht der Guebem unter 

deni Jahre 845 ErWähnmtg. ^ ^ ^ 

H* ■ r-l ur. • t* ■ ' • 1 . •: * . f» -u■ - .\ :* . 'I > , 

Die christliche Religion war, zu Zeiten des Herrscherhauses 77 jwW, än- 
fartgs unter dem : Namen, der; Religion der Bo-ssü^ oder ider Perser, 
bekannt; und zwar, nachdem: Namen des Vaterlandes ihrer «Bekenner, 
später Aitfter i dem, Namen d £>(ht$in . oder der Römer, < dn einem 
Ediete vom Jahre *745 heisst ea, däss „die heiligen 1 Schriften und der 
Glaube der i£o*ssü aus Mtfrtstn stammen“ (S., 15)4 DenUrsprung des 
letzteren Namens {Da~tsiu grpsse /Tsin),für das Römische Reich 
hält* der Verfasser für räthselhaft*. doch führt er ; Einiges am * Was als 
Ergänzung zu dena^ was »westeuropäische Sinplogdn darüberbeige* 
branht (haben, dißmmrkann, Zun;Zeit ,de$rT>jwrt stritt bekanntfichnfür 


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Da-tsin der Name Fu-lin auf aus den gr. Wort für Stadt nach der 
gewöhnlichen Ansicht, nach dem Verfasser aus dem Namen der 
Franken . 

Die in der Inschrift von Ssi-an-fu erwähnte Erbauung eines christ¬ 
lichen Klosters ip dieser Stadt im Jahre 638, wird in einer im Jahre 
1076 verfassten und im Jahre 1787 herausgegebenen Beschreibung 
von Tshan-an , wie früher Ssi-an-fu hiess, bestätigt. 

Eine koreanische Quelle berichtet, dass zur Zeit der 7 han t unter 
der Regierung des Tai-tsun , aus dem Reiche Da-tsin ein Gesandter 
kam, um (dem chinesischen Herrscher) heilige Schriften vorzulegen. 
Von dem Bestehen des Christenthums in China in der Zeit zwischen 
der 7 %#/*-Dynastie und der der Juen (Mongolen) giebt es nur 
schwache Andeutungen. Nach ihrer Erwähnung geht der Verfasser 
über zu den Nachrichten über die Zeit der letzteren Dynastie. Der 
Raum erlaubt es uns nicht ihm dabei hier zu folgen. In der zweiten 
Beilage zu seiner Abhandlung erklärt er die Namen der privilegirten 
Stände, welche zur Zeit der Mongolen-Dynastie gleiche Rechte mit 
den Christen genossen und deren in Urkunden häufig Erwähnung 
geschieht. Nach den Beilagen folgen auf S. 62 — 64 einige An¬ 
merkungen des Professors W. W, Grigorjcw zu der Abhandlung des 
Vaters Palladius. 

Die,, Memoiren eines Chinesen über Annam“ stammen aus dem 
Jahre 1835 und bieten ein geographisches Interesse. 

Die historische Schrift über Tschingis-chan ist unter der Mon- 
golen*Dynastie abgefasst. Eine nähere Angabe der Zek ihre? Ab¬ 
fassung fehlt uns. Sie führt den Titel: Ckuan juen sehen wu tsin 
dschen lu — Beschreibung der persönlichen Feldzüge des heilig-i 
kriegerischen {Herrschers) der erlauchten (Dynastie) Juen» Sie be^ 
steht in einer unvollständigen Biographie Tsdiingis-ohans und ist» 
nach des russischen Ueberselzers Meinung, äuf Grund mongolischer 
Documente in den spätesten Jahren der Joen abgefasst Bekannt 
wurde sie erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Eir\ chincsi-- 
scher Gelehrter der Neuzeit unternahm den sehr entstellten Text 
zu reinigen. Nach seiner .Redaction» die ini Drucke aber nicht er- 
schienen ist,, ist die gegenwärtige russische Uebersetzung gemacht 
und in derselben wird uns eine Quelle zugänglich^ welche als Vari¬ 
ante und Ergänzung derfrüher veröffentlichten BiographieTschingis- 
chans dienen kann* . \ • , 

Am Schlüsse dieser kurzen Adteeige de? ersten Lieferung d et 
„Orientalischen Sammlung* glauben wir Um Namen aller Freunde 
und Bearbeiter der Geschichte des Orients flicht allein den Männern, 
dercU^ Fleiäse und Wissen wir die hier veröflfentltehten'Beiträge 
verdanken v Sondern auch dem aufgeklärten * Vorstande der> Bei 
borde, welche für deren Veröffentlichung * sorgte und •eiuffidi 
demMaime, der dett Druck leitete unsere aufrichtige «Erkennt* 
lichkeit aussprechen ztr müssen Wenn auch Letzterer in seine? 
liebenswürdige* Bescheidenheit sich ‘nicht* genannt hat* so können 


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wir doch nicht umhin, dem um die Förderung unserer Kennt¬ 
nisse mittelasiatischer Verhältnisse in neuer und alter* Zeit stets 
eifrig bemühten Baron Fr. v. Osten-Sacken unsern besondern Dank 
für die sorgfältige Leitung des Druckes des hier angezeigten Buches 
darzubringen. Wir hoffen, dass er auch ferner dieses für die Wissen¬ 
schaft nützliche Unternehmen fordern wird. P. L. 


C. Sa dl er. Peter der Grosse als Mensch und Regent. Eine Characterstudie St. 

Petersburg 1872. 8°. 298 S. 

Der Verfasser, der schon früher zwei Schriften über Peter den 
Grossen veröffentlichte, nämlich: „Onw tt» HCToptmecKaro onpae- 
AaHijj IleTpa I npoTUB?» oö&üizeHie H r hKOTopuxi> coBpeMeHHbixi> 
inicaTejiett C.-IIeTep6ypn> 1866.“ und „Die geistige Hinterlassen- 
schaft Peter I, als Grundlage für dessen Beurtheilung als Herrscher 
und Mensch“, hat das vorliegende, in deutscher Sprache gedruckte 
Buch „dessen Manen zu seinem 200jährigen Geburtstage, am 30. Mai 
1872,“ gewidmet. Die Schrift zerfällt in zwei Hauptabtheilungen, 
von denen die erste Peter's Entwickelung , die zweite sein Wirken be¬ 
handelt. In der ersten Abtheilung stellt der Verfasser die Urtheile 
der Zeitgenossen und der Nachwelt über den grossen Reformator 
Russlands kurz zusammen, giqbt dann einen gedrängten Ueberblick 
über die Lage des Reiches bei Peter’s Regierungsantritt und die bei 
seinem Tode, behandelt seine Entwickelung als Kind und Jüngling 
und die auf seinen Reisen ins Ausland und schildert s£ine Steilung zu 
den Bojaren, Altgläubigen, Strelitzen und zu seiner Stiefschwester 
Sophie. Die zweite Abtheilung des Buches, über Peters Wirken , 
beginnt mit einem kurzen Ueberblick seines politischen, diplomath 
sehen und kriegerischen Verhaltens zu Lande und zur See, giebt 
dann einen Einblick in seine Gesetzgebung und Handelspolitik, sein 
Wirken für Kunst und Wissenschaft und für die Aufklärung und 
Bildung seines Volkes und behandelt darauf ausführlicher die Stellung 
und das Verhalten Peter’s zu Catharina und Alexej. Aus dem 
Vorhergegangenen zieht der Verfasser dann Schlussfolgerungen auf 
Peter’s Character und Eigenschaften und giebt in einem Anhang eine 
Zurückweisung einiger entehrenden Anklagen ausländischer Schrift¬ 
steller gegen Peter und Catharina. 

Der Autor hat die vorhandenen Quellen in ausgedehnter Weise 
Lenutzt, und, wie es scheint, hat ihm auch ungedrucktes und bisher 
unbenutztes 'Material zur Disposition gestanden. Auf Grund des 
letzteren widerlegt er auch u, A. die von Schlosser und später von 
Scherr (nach Pöllnitz Memoiren) gegebene Erzählung über einen 
Vorgang mit der Herzogin von Mecklenburg. Es handelte sich für 
den Verfasser, wie er in der Einleitung sagt, wesentlich darum, Peter 
als Menschen darzustellen, und es lässt sich nicht leugnen, dass seine 
Darstellung grosses Interesse gewährt. Die einschlägige neuere 


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russische Literatur, die über viele Dinge aus jener Zeit manchen 
neuen Aufschluss geboten, hat der Autor sorgsam verwerthet, und 
wenn er seinen Helderi auch nicht vorf allen Vorwürfen rein waschen 
will, so ist es ihm doch darum zu thün, das bisher so vielfach irre 
geleitete, befangene und falsche Urtheil über Peter zürechtzustellen, 
wobei er sich auf Grund seiner dtirten Quellen aüch gegen Her¬ 
mann, Schlosser u. A. wendet. Das Buch ist ein empfehlenswerter 
und dankenswerter Beitrag zur Literatur über Peter den Grossen. 

—n. 


Elenaente der politischen Oetonomie von J. Babst. Moskau 1872. (Hsjiosceme Hanajit» 
nomaffihiecieot »kohowii. H. EaöcTa, Mocua 187a.) 

Von diesem Werke des bekannten Professors der Moskauer Uni¬ 
versität liegt bis jetzt blos die erste Lieferung vor; in derselben 
giebt uns der Autor eine Auseinandersetzung über die Elementar¬ 
begriffe der Volkswirtschaft, desgleichen einen sehr anziehend ge¬ 
schriebenen geschichtlichen Abriss der Entwickelung der national- 
öconomischen Wissenschaft. — Die‘Darstellungsweise des Herrn 
Babst müssen wir als eine durchaus gelungene bezeichnen*, der Styl 
des Werkes ist durchweg anmutig und leicht, die erläuternden Bei¬ 
spiele sind gut gewählt und nicht selten mit grossem Geschick spe- 
cifisch russischen Verhältnissen entnommen. — Eine nähere Be¬ 
sprechung des Inhaltes dieses Werkes müssen wir bis zurti Er¬ 
scheinen der folgenden Lieferungen hinausschieben; soviel jedoch 
ist schon aus dem Lesen der ersten ersichtlich, dass Herr Babst 
seiner früheren historischen Richtung treu geblieben ist. Es ist zu 
hoffen, dass dieses neue Werk in Russland die Zahl der Adepten 
dieser für die moralisch-politischen Wissenschaften so fruchtbaren 
Richtung vergrössCrn wird. 


Russische Bibliographie. 


MeJIbHMKOBl, H. 11. O’iepKH npoH3BO40TBa 6yMam AepeBa bt> 
Poccin. Cn6. in-8°, 13 cTp., 1 ji. ci o6pa3n;aMH öyMarn h 4 ji. uepT. 
(Melnrkow, N. P. Die Anfertigung des Papiers aus Holz in Russland. 
St.' Petersburg. 8°. 14 S. mit Mustern u. 4 Tafeln Abbildungen.) 

Ordert o Ä'httcTBiRX'B H. BojibHaro SKOHOMnuecxaro 06 m,ecTBa 
3a 1871 r. Cn6. in-8°, 90 CTp. (Pc: cht über die Thätigkeit der 
Kaiserl. freien Oekortomischen Gesellschaft imj. 1871. St. Peters¬ 
burg. 8°. 90 S.V 


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415 


B 0 A 06030 BI, B. ÄpeBHaa pycocaa jiHTepaTypa or£ Hanajia rpaMOT- 
hocth ao JIoMOHocoßa. Cn6., in-8°, IV.-f- 350 cTp. (Wodowosow, W. 
Aeltere russische Literaturgesch. von Beginn der Schriftkunde bis 
Lomonossow. St. Petersburg. 8 Ü . IV-f-350 S.) 

IlaMHTHaa KHHÄKarieTpoKOBCKoft ryöepHin Ha i 872 r.rieTpoKOBT>. 
in-8°, 205 CTp., 9 Taöji. h i KapTa. (Jahrbuch des Piotrokowsky- 
schen Gouvernements für d. Jahr 1872. Petrokow. 8°. 205 S., 9 
Tabellen u. 1 Karte.) 

TeHNaAN, rpnropiH. Pycacia khhhchbis p^äkocth. Bn6jiiorpa<i>H- 
necKift ciihcokt> pyccKiixi» pisAKHxi> KHnn>. Cn6. in-8°, VI + 150 
CTp. (Germadf, Gr. Russische Bücherseltenheiten. Bibliographisches 
Verzeichniss der russischen seltenen Bücher. St. Petersbg. 8°. 
VI+S.150.) 

. IlaMHTHaH KHHMCKa JIioöjiHHCKoft ryöepHin Ha 1872 ro;n». JI106- 
jihht». . in-12°, XLVII +199 CTp. h 1 KapTa. (Jahrbuch des Lub- 
linschen Gouvernements auf das Jahr 1872. 12°. XLVIL + 199 S. 
und I Karte.) 

JlK>6oiiyApOBi>, H- O npoHCXOÄAemH h 3HaneHin hmchh PjiaaHb. 
4 0 . 32 CTp. (Ljubomudrow, N. Ueber die Entstehung und die Bedeutung 
des Namens Rjäsan. Rjäsan. 4 0 . 32 S.) 

Tpy^M BpocjiaBCKaro TyöepHCKaro CTaTHCTHHecxaro KoMHTeTa 
H 3 A. noAt peÄ. A. K. «Porejia. Bbin. VI. üpocjiaßjib. 8 Ü . 168 CTp. h 
8 ji. Taöji. (Die Arbeiten des statistischenComites des Jarosslawschen 
Gouvernements, herausg. unter Redaction von A. Vogel. Liefg. 6. 
8°. 168 S. und 8 Tabellen.) 

Tapcl», A- K. SanncKH BoeHHaro. EejuieTpHCTHnecitie onepKH, pa3- 
cKa3bi h KapTHHbi BoeHHaro öbiTa. 8°. 1 4. 284 CTp. (Giere, D. K. 
Denkwürdigkeiten eines Militairs. Belletristische Umrisse, Erzäh¬ 
lungen und Bilder aus dem Militairleben. St. Petersburg, 8°. 1 -\- 
284 S.) * 

IlHTHAecjJTHJi'fcTie rpaac/iaHCKoft h yneHoft cjiyacöbi M. II. Iloro- 
AHHa (1821 —1871). MocKBa. in-8°, 124 CTp. (Das 50 jährige Dienst- 
Jubiläum M. P. Pogodins (1821 — 1871). Moskau 8°. 124 S.) 

BefiHÖeprb, fleTpv PyccKia Hapo^HbiH irfccflH o6i> HßaHi Bacnjibe- 
BHH'h rpo3HOM*b. Bapiuaßa. in-8°. V 4- 134 CTp. (Weinberg, P. Russi¬ 
sche Volkslieder über Iwan Wassiljewitsch den Grausamen. War¬ 
schau. 8°, V 4- 134 S.) 

ApXHBT» khh3h BopoHitOBa. Kh. V. ByMarH rpa<i>a AjieKcaHapa 
PoMaHOBHHa BopoHH,oBa. 4 . I. MocKBa, in-8 ü , 479 ci*p. (Archiv des 
Fürsten Woronzow. Band V. Die Papiere des Grafen Alexander Ro¬ 
manowitsch Woronzow. Theil I. Moskau, 8°. 479 S.) 

TeHi», BüKTOpi». KyjibTypHbia pacxeHbi m ÄOMaumiH mchbothbiji 
bt> hxt» nepexoA'h H 3 i> A 3 in bi> Tpeniio h bi» IjTajiiio, a TaiüKe h bt> 
ocTajibHyio Eßpony. HcTopuKo-JiHHrBucTHHecKie 3CKH3bi. IlepeB. 
CT» H±M. Ü3A- A. Ca 30 H 0 BHHT» H E. JlHMÖeKT».' in-8°. 379 CTp. 
(Hehn, V. Culturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus 


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Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa. 
Historisch-linguistische Skizzen. Aus d. Deutschen übersetzt von 
Ssasonowitsch u. Lrmbeck. St. Petersburg. 80. 379 S.) 

CßyHKe, Otto, yueörnncb 4>H3io;ioriH. Ct» h^sm. nepeß. JIhtbhhobt», 
noA*b PeA. H. CfeneHOBa. Bwn. I. Cn6. in-8°. VIII + 226 cTp. 
(Funke, o. Lehrbuch der Physiologie. Aus dem Deutschen von 
Litwinow unter der Redaction von Ssetschenow. Liefg. I. 8“. 
VIII 4 226 S.). 

OfijieHtiyprb, A/ibdeprb. PyKOBOAcxßo hcpbhmxt» 6ojrfc3Heft. 
IlepeBOÄ. ct> H'hM. rioAX» peA. B. Hexoßa. Bbin. I: HeBpo3bi HyecT- 
Byromaro annapaTa. Cn6. in-8\ 277 exp. (Eulenburg, A. Handbuch 
der Nervenkrankheiten. Aus dem Deutschen von W. Tschechow. 
Liefg. I. Neurosen des Gefühlsapparates. 8°. 277 S.). 

reTTHepi», I". HcTopifl Bceoömeft AHxepaxypbi XVIII B'biea. T. III. 
H'fcMeuica« jiHTepaTypa. Kh. I. HepeB. FlbinHHa h A. FLrfcmeeBa 
MocKBa. in-8°, 383 exp. (Hettner, H. Allgemeine Literaturgeschichte 
des XVIII Jahrhunderts. Band III. Die deutsche Literatur. Buch I. 
Uebers. von Pypin und Pleschtschejew. Moskau. 8°. 383 S.) 

ycMHCKÜ) 8. uepBMB cJiaBÄHCKiH MOHapxin Ha c r feBepo- 3 anaA , fe 
Cn6. in-8°, IX 4 270 crp. (Uspensky, Th. Die ersten slawischen Mon¬ 
archien im Nord-Westen. St. Petersburg, 8°. 270 f IX S.). 

Ctpohmhv A. Ilo.iHXHKa KaKi> Hayica. C116. in-8“, 530 CTp. (Stronin, 
A. Die Politik als Wissenschaft. St. Petersburg 8“. 530 S.) 

BaCHAbHKttOBl), A. Kh. O caMoynpaBJieHin. CpaBHHxejibHbift oÖ3opx» 
pyccKHxx. h HHocxpaHHbixi» 3 eMCKnxi» h oömecxBeHHbix'b ynpeac- 
AeHift. 2 xo\ia. H 3 A. 3-e. Cn6. in-8°, XLII 470 h 550 crp. (Wassil- 
tschikow, A., Fürst, Ueber die Selbstverwaltung, vergleichende Ueber- 
sicht der russischen und ausländischen gesellschaftlichen und Land¬ 
schafts-Institutionen. 2 Bde. 3 Ausg. St. Petersburg. 8“. XLII. 470 
und 5 50 S.) 

Erdmann, K. Das Güterrecht der Ehegatten nach dem Provinzial¬ 
recht, Liv- Est- und Kurlands. Dorpat, 8°. 258 S. 

EoöpOBCKaa, C. A. CymHocxb cHcxewbi OpeöeAH h npHM'feHeHie ea 
bt> H'feKoxopbixi» A'bxcKHX'b caAaxi». MocKBa, in-8°. 92 exp. (Bo- 
browsky- S. L Das System Fröbel’s und seine Anwendung in einigen 
Kindergärten Deutschlands. Moskau. 8°. 92 S.) 

KanyCTHHT», M. Mcxopia npaßa. Macxb i.üpocJiaBAb, 8° IV+ 274 
exp. (Kapustin, M. Rechtsgeschichte. Band 1 . Jorosslaw. 8° 274 S.) 

OccnnOB*, A. BpanHoe npaßo ApeBHaro Bocxoica. Bbin. 1. Ka3aHb. 
8° IV + 207 exp. (Ossipow, A. Das Eherecht des alten Orients. Lie¬ 
ferung 1,Kasan, 8° IV + 207 S.) 


Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Rottoer. 

Ao3ik»jicho uen3ypoH3.C-rierepf>yprb 22-ro no«öpa 1872 ro.*a. 
Buchdruckerei von Röttokr & Schneider. Newsky-Prospect No. 5. 


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Die polytechnische Ausstellung in Moskau 

im Jahre 1872. 

Die industriellen und die Productions- 
verhältnisse Russlands 

als Schlussartikel. 

In der allgemeinen Uebersicht der Moskauer polytechnischen Aus¬ 
stellung dieses Jahres, welche ich in dem i. und 2. Hefte der 
,,Russischen Revue“ gegeben habe, musste ich schon hervorheben, 
dass diese Ausstellung, so interessant und lehrreich sie in vieler Be¬ 
ziehung auch war, doch durchaus kein nur einigermaassen genügen¬ 
des Bild des gegenwärtigen industriellen Zustandes Russlands bot. 
Die russischen Industriellen hatten sich, wie mehrfach angedeutet, 
dieser Ausstellung gegenüber im letzten Momente sehr kühl ver¬ 
halten und keineswegs die Hoffnungen gerechtfertigt, die man an 
ihre Betheiligung knüpfte. Die meisten Industriezweige waren zwar 
vertreten, jedoch nur so unvollständig, dass der Fremde, welcher 
diese Ausstellung besuchte, Begriffe über die Entwickelung der 
russischen Industrie in sich aufnehmen musste, welche den factischen 
Verhältnissen nur wenig entsprechen konnten. Ich glaube in diesen 
Umständen eine Berechtigung zu findet]!, im vorliegenden Schluss¬ 
artikel über die polytechnische Ausstellung Moskaus vorzugsweise 
von Dem zu sprechen, was diese Ausstellung nicht enthielt, mit 
andern Worten, die vielen Lücken, welche sie zeigte, nachträglich 
durch eine objective Darlegung des gegenwärtigen Zustandes der 
russischen Jndustrie in kurzer aber übersichtlicher Weise auszufullen. 
In einem grösseren Werke % über die russische Industrie, dessen 
zweiter und letzter Band in kürzester Zeit der Oeffentlichkeit über¬ 
geben werden wird, habe ich die industriellen Verhältnisse Russlands 
in allen Details behandelt und verweise ich daher Diejenigen, welche 
sich für diese Details interessiren sollten, auf das angegebeneWerk. *) 
Hier beabsichtige ich nur eine auf vieljähriges Studium basirte all¬ 
gemeine Kritik über die einzelnen Zweige der gesammten russischen 

Industrie zu geben, und diese Kritik durch statistische Zahlen, so 
_✓ 

*) F. Matthäi. Die Industrie Russlands. 2 Bände. Leipzig bei Herrn. Kries. 

1872 und 1873. 

28 


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4i 8 


weit mir solche durch officielle Quellen zugänglich sind, zu vervoll¬ 
ständigen. Ich kann es aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, 
dass die Gewerbestatistik Russlands, gleich derjenigen der meisten 
übrigen Staaten, immerhin noch sehr wenig zuverlässiges Material 
bietet. Die Angaben, welche gewissermaassen auch als „officielle“ 
Geltung haben, sind nicht das Resultat objectiven Forschens Unbe- 
theiligter und daher auch Unparteiischer, sondern stammen grossen- 
theils nur von den Fabrikanten und Industriellen selbst her, welche 
nicht immer ein Interesse daran finden, über die Ausdehnung und 
die Betriebsverhältnisse ihrer Unternehmen einen authentischen Be¬ 
richt zu erstatten. Man vergleiche nur die Angaben, welche die 
Industriellen alljährlich obligatorisch dem Handels- und Manufactur- 
Departement einreichen müssen mit denen, welche sie bei andern 
Gelegenheiten, z. B. der letzten St. Petersburger Manufactur-Aus- 
stellung, gemacht haben und man wird finden, dass diese Angaben 
trotzdem, dass sie sich auf ein und dasselbe Betriebsjahr und auf 
ein und dasselbe Etablissement beziehen, sehr bedeutend von ein¬ 
ander abweichen. 

Die Statistik, namentlich die Gewerbestatistik, ist, so sehr man 
dies auch bedauern muss, noch sehr weit davon entfernt, eine popu¬ 
läre Wissenschaft zu sein. Ein grosser Theil der Industriellen, und 
dies gilt nicht nur von den russischen allein, betrachtet noch immer 
die Statistik als ein fiscalisches Mittel einer späteren Steuererhebung 
und diese Herren machen daher für officielle Zwecke möglichst 
niedrige Angaben, so dass man in Folge davon mit Recht annehmen 
kann, dass unsere officiellen Exposes über die industriellen Produc- 
tionsverhältnisse hinter der Wirklichkeit nicht unbedeutend Zurück¬ 
bleiben. Dessen ungeachtet sind wir jetzt gezwungen, faute de 
mieux, uns derselben zu bedienen. Nach dem Vorausgeschickten 
werden wir daher gut thun, sie als Minimalangaben zu betrachten. 
Es ist erfreulich, dass beim letzten internationalen statistischen 
Congress zu St. Petersburg die Frage wegen Begründung einer den 
Vrhältnis sen mehr entsprechenden Gewerbestatistik wiederholt 
verhandelt wurde (S. „Russ. Revue“ Heft 2 , S. 202) und steht 
daher zu erwarten, dass in Zukunft uns ein Material zu Gebote 
stehen werde, welches den wirklichen Verhältnissen mehr entspricht, 
als das gegenwärtig gesammelte. Vor allen Dingen wird es aber 
darauf ankommen, die Gewerbetreibenden davon zu überzeugen, 
dass die Angaben, welche man von ihnen fordert, nicht fiscalischen, 
sondern eben nur wissenschaftlichen und gemeinnützigen Zwecken 


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4*9 


zu dienen haben, mit andern Worten, man muss darnach streben, 
die Statistik in Wirklichkeit zu einer populären Wissenschaft zu machen. 

Um die nachfolgenden Erörterungen in mehr systematischer 
Weise durchzufuhren, folge ich bei denselben der Classificirung der 
Erzeugnisse der Industrie, wie eine solche bei der letzten St. Peters¬ 
burger Manufactur-Ausstellung Geltung fand. Gerade in dieser Be¬ 
ziehung Hess die letzte Moskauer Ausstellung so viel zu wünschen 
übrig, dass ein fortwährendes Herüberspringen aus einer in die 
andere Industriebranche nothwendig sein würde, wollte man den 
Moskauer Gruppen folgen. Ich habe mir auch nur zum Ziele ge¬ 
steckt, die rein industriellen Verhältnisse des Europäischen Russ¬ 
lands, jedoch mit Einschluss der von ihnen kaum zu trennenden 
Verhältnisse der Urproduction, insoweit es sich hierbei um indu¬ 
strielle Grundstoffe handelt, zu erörtern. Dass ich die Montan-In- 
dustrie von den übrigen Zweigen der Industrie nicht trenne, bedarf 
wohl um so weniger einer Entschuldigung, als die Producte der¬ 
selben zu den wichtigsten industriellen Hülfsmitteln und Basen ge¬ 
worden sind. 


A. Industriezweige, welche sich mit der Herstellung von 
Gespinnsten und Geweben aus verschiedenen Faser¬ 
stoffen befassen. 

i) DIE FLACHSrlNDUSTRIE. 

Schon der Umstand, dass Russland so grosse Quantitäten ge¬ 
hechelten Flachses, Werges und Leinsamens exportirt, dass z. B. 
im Jahre 1868, das noch keineswegs zu den hervorragendsten Export¬ 
jahren in dieser Beziehung zu zählen ist, der Exportwerth der eben 
genannten Artikel (58,051,305 Rbl.) den vierten Theil des Werthes 
des russischen Gesammtexports (209,529,778 Rbl.) überstieg, 
weist darauf hin, dass in keinem Lande Europas die Flachsindustrie 
eine so weite und gesicherte Grundlage finden dürfte, als gerade 
in Russland. So grosse Dimensionen nun auch dieser Industrie¬ 
zweig angenommen hat, so entspricht seine Ausdehnung und 
quantitative wie qualitative Leistung doch noch keineswegs 
der natürlichen Grundlage, welche der russischen Flachsindustrie 
zu Gute kommt und dieselbe zur ersten der Welt machen 
könnte. Man unterschätzt in dieser Beziehung die Kraft 
des Landes, und Industriezweige, wie z. B. die Baumwollen- 

28* 


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420 


Industrie, die keineswegs einen so urwüchsigen Boden unter sich 
haben und trotzdem Fabricate von hohem technischem Werthe 
liefern, bieten den Beweis, dass es russische Industrielle zu den her¬ 
vorragendsten Leistungen bringen können, wenn sie sich ihrer Auf¬ 
gabe bewusst sind und das Ziel, welches sie verfolgen, nur mit 
Energie verfolgen. Warum sollte die russische Flachsindustrie in 
ihrer Sphäre nicht dasselbe leisten können, was die Baumwollen- 
Industrie leistet? Man ist der Ansicht, dass Russland nur in der 
Herstellung von mehr grober Waare, von Sackleinen, Segeltuch, 
gröberen Leinwänden etc. seine industrielle Aufgabe erblicken soll, 
weil es derartige Fabrikate schon jetzt in grösseren Quantitäten 
nach dem Auslande absetzt. Nichts berechtigt aber zu der 
Ansicht, dass sich dieser Export nicht auch auf feinere 
Artikel ausdehnen üesse, wenn sich die russischen Indth 
striellen nur ernstlich bemühen wollten, dieselben herzustellen, 
wozu ihnen die Mittel vollständig geboten sind. Selbstverständlich 
müssten in diesem Falle auch die Landwirthe der Industrie Vor¬ 
arbeiten und ihr einen Flachs zur Verfügung stellen, der? sich noch 
mehr zur Herstellung feinerer Gespinnste eignet, wie der bis heute 
von ihnen in grossen Quantitäten cultivirte. Dass sie auch dies im 
Stande sein werden, beweist der Umstand, dass der russische Saat¬ 
lein nach allen Flachsbau treibenden Gegenden Europas geht und 
auch heute noch als der beste allgemeine Geltung findet. Die russi¬ 
sche Industrie kann keine dankbarere Aufgabe finden, als die Flachs¬ 
industrie in allen ihren verschiedenen Zweigen auf die Höhe der Zeit 
zu erheben und in Verfolgung dieser Aufgabe muss sie dahin ge¬ 
langen, nicht blos für ihre Sackleinwand und für ihr Segeltuch, son¬ 
dern auch für alle andern Flachsfabricate sich die Weltmärkte zu 
erschliessen. Wären der russischen Flachsindustrie nur die halben 
Mittel zugewendet worden, welche der Baumwollenindustrie in so 
reicher Fülle zugeflossen sind, sie müsste heute weit höher stehen 
als diese letztere und würde bereits einen ausserordentlich fördern¬ 
den Einfluss auf die Handelsbeziehungen Russlands zum Auslande 
geübt haben. 

Es gab in den letzten Jahren (nach dem Jahrbuche des Finanz¬ 
ministeriums von 1869 und nach dem statistischen Atlas der Gross- 
industrie des Europäischen Russlands von D. A. Timirjasew) in 
Russland: 

14 Flachsspinnereien, welche 7500—8600 Arbeiter beschäftigten 
und eine Production im Werthe von ca. $['2 Millionen Rbl. lieferten. 


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421 


103 Leinwandfabriken *), welche 19,100 Arbeiter beschäftigten 
und eine Production im Werthe von ca. 6 Millionen Rbl. lieferten. 

Für ein Land, das für 58 Millionen Rubel Flachs und Flachs¬ 
samen exportirt, muss der hier namhaft gemachteWerth vonLeinen- 
fabricaten (ca. 6 Millionen) so niedrig erscheinen, dass man ihn 
kaum für nur annähernd richtig halten dürfte. In der That hat sich 
auch die Production der meisten Fabriken so gesteigert, dass man 
heute den Werth der durch die Grossindustrie Russlands erzeugten 
Leinwandfabrikate auf 8 bis 8 Vs Millionen Rubel* veranschlagen 
kann. Einzelne Fabriken, z. B. die von Hielle & Dietrich in Zyrar- 
dowo beiWarschau erfreuen sich heute eines jährlichen Productions- 
werthes, der den im Jahrbuche angeführten allein um (2 Million 
Rubel übersteigt. Ausserdem gehört die Flachsindustrie zu den¬ 
jenigen Erwerbszweigen, welche noch in grossen Verhältnissen als 
sogenannte Hausindustrie betrieben werden, deren Production sich 
der statistischen Berechnung entzieht. 

Als Hauptsitz der fabrikmässigen Flachsspinnereien sind die' 
Gouvernements Wladimir mit 2, Wologda mit I, Kostroma mit 5, 
Livland mit 1, Rjäsan mit 1, St. Petersburg mit 1 und Jarosslaw 
mit 2 Fabriken anzusehen. Die 103 Lcinwandwebereien (incl. 
Segeltuch-^ Sackleinwand- und Damastwebereien) vertheilen sich 
auf die Gouvernements Archangel 1, Wladimir 36, Wologda 3, 
Witebsk 1, Kaluga 3, Kostroma 13, Moskau 2, St. Petersburg 5, 
Twer 2, Tschernigow 25 und Jarosslaw 6 Fabriken. Der Haupt¬ 
sitz der Flachsindustrie ist das Gouvernement Wladimn^ mit einer 
jährlichen Production im Werthe von über 2 1 s» Millionen Rubel; ihm 
zunächst stehen die Gouvernements St. Petersburg (981,642 Rbl.), 
Jarosslaw, Kostroma, Moskau und Wologda. Die grössten 
Flachsspinnereien giebt es dagegen in den Gouvernements 
Kostroma (2,611,470 Rbl. Productionswerth) — nach Timirjasew — 
und Jarosslaw (1,308,000 Rbl.). 

Die aufSeite 87 der „RussischenRevue“ angeführtenlndustriellen, 


*) Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt für das Gesammtgebiet Russlands 94 
Leinwandfabriken auf, welche zusammen 19,100 Arbeiter beschäftigen und eine Pro¬ 
duction im Werthe von 5,925,697 Rubel liefern sollen. Unter denselben befindet sich: 
1 finnländische Fabrik mit 745 Arbeiter und 525,000 Rbl. Productionswerth und 
5 polnische Fabriken „ 1184 ,, ,, 587,067 ,, ,, 

Timiijasew dagegen fuhrt für das Europäische Russland (mit Ausschluss Polens und 
Finnlands) 97 Leinwandfabriken an, welche 11,236 Arbeiter beschäftigen und eine 
Production im Werthe von 4,931,407 Rubel liefern sollen. 


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422 

welche die Moskauer Ausstellung mit Fabrikaten aus dem Gebiete 
der Flachsindustrie beschickt hatten, gehören zu den hervorragen¬ 
den in dieser Industriebranche, obgleich es noch eine grosse Anzahl 
Anderer giebt, welche den genannten ebenbürtig zur Seite 
gestellt werden können. Es würde hier zu weit fuhren, dieselben 
aufzuzählen. Was die technischen Leistungen der Flachsindustrie 
im Allgemeinen anbelangt, so kann die Maschinenspinnerei als ent¬ 
wickelt bezeichnet werden, besonders seitdem durch die Association 
grössere Capitalien beschafft worden sind, um die Etablissements 
mit allen nur möglichen Hülfsmitteln auszustatten. Die Norsk’sche 
Leinenmanufactur (Gouvernement Jarosslaw) — Spinnerei und 
Weberei — beschäftigt 2000 Arbeiter, arbeitet auf 21,000 Spindeln 
und 160 mechanischen Webstühlen und liefert eine Production im 
Werthe von 1,700,000 Rbl. Die T. D. Sotow’sche Spinnerei 
(Kostroma) — 17,000 Spindeln —hat es zu einer solchen von 
1,200,000 Rbl. gebracht. — Lieferten die Landwirthe den Spinne¬ 
reien besser zugerichteten Flachs, so würden die russischen Ma¬ 
schinenspinnereien-im Stande sein, ein Fabricat zu liefern, welches 
d em ausländischen nicht nachsteht. Letzteres gilt auch von den 
Sackleinwänden, dem Segeltuch und den gröberen und mittelfeinen 
Leinwänden. In hochfeiner Leinwand, sowie in der Damastweberei 
steht Russland dem Auslande aber noch nach, trotz der Vervoll¬ 
kommnung der letzten Jahre und dem anerkennenswerthen Bestre¬ 
ben einzelner Fabrikanten. Nichts desto weniger kann man sagen, 
dass der russischen Flachsindustrie die Zukunft gehört, wenn sie in 
derselben Weise fortarbeitet, wie es in den letzten 10 Jahren ge¬ 
schehen ist. Die Industriellen werden dadurch für ihren eigenen 
Vortheil sorgen, gleichzeitig aber auch im Interesse Russlands 
arbeiten. 

2) Die Hanf-Industrie. 

Von ihr gilt nahezu dasselbe, was von der Flachsindustrie gesagt 
wurde. Sie gehört zu den naturwüchsigen Industriezweigen Russ¬ 
lands und hat als solcher ebenfalls eine grosse Zukunft. Als 
Centrum der Hanfcultur kann das Gouvernement Orel angesehen 
werden. Auch in den nördlichen Theilen der Gouvernements Kursk 
und Tschernigow, im Gouvernement Ssmolensk, sowie im südwest¬ 
lichen Theile des Gouvernements Kaluga wird Hanf in grosser Aus¬ 
dehnung und von trefflicher Qualität cultivirt. Russland exportirt 
davon über 3J/1 Millionen Pud. Die Hanfcultur hat in den letzten 
10 Jahren wenig Fortschritte gemacht, und ist, wie mancher 


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423 


andere wichtige landwirtschaftliche Culturzweig, in eine unliebsame 
Stagnation gerathen. Die Hanf Industrie, namentlich die Hanf¬ 
spinnerei, wird noch grossentheils als häusliches Gewerbe betrieben. 
Auch die Fabriken, welche die Hanfspinnerei betreiben, sind weder 
zahlreich, noch von sehr bedeutendem Umfange. Es giebt deren im 
Ganzen 18, von denen 7 (mit 602 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 245,945 Rbl.) auf das Gouvernement Orel, 2 (236 Ar¬ 
beiter und 120,800 Rbl.) auf das Gouvernement Ssmolensk und 9 
(mit 1175 Arbeitern und einem Productionswerth von 900,500 Rbl.) 
auf das Gouvernement Twer fallen. Die grösste Fabrik dieser 
Branche ist die von K. & F. G. Nemilow in Rshjew (Gouvernement 
Twer) mit 260 Arbeitern und einer Production im Werthe von 
270,000 Rbl. 

Zahlreicher sind die Tau- und Seilerwaarenfabriken, unter welchen 
es, wenn auch in geringer Zahl, Etablissements der hervorragendsten 
Art giebt Das Jahrbuch führt deren für das Gesammtgebiet Russ¬ 
lands 142 mit 3219 Arbeitern und einer Production im Werthe von 
3,261,586 Rubel an, von denen 9 auf Finnland, ebensoviel auf den 
Kaukasus (Eriwan) und 7 auf Sibirien entfallen, welche letzteren 
aber sämmtlich von so geringer Leistungsfähigkeit sind, dass sie 
kaum den Namen „Fabrik 14 verdienen. Timirjasew dagegen führt 
für das Europäische Russland 121 Fabriken mit 2,282 Arbeitern und 
einer Production im Werthe von 2,902,226 Rubel auf. Die meisten 
Seilereien befinden sich in den Gouvernements Witebsk (20), Ar- 
changel und Perm (ä 17), St. Petersburg (10), Nishnij-Nowgorod und 
Twer (ä 9); die grössten jn St. Petersburg (W. Hoth, A. Kasalet & 
Söhne, A. P. Ssasonow), Jarosslaw (N. M. Shurawljew in Rybinsk) 
und in Rshjew, Gouvernement Twer, (K. & F. G. Nemilow, Mylni* 
kow-Gluschkow u. A.). Nur N. M. Shurawljew (Seite 87) hatte von 
allen Fabriken als alleiniger Aussteller von Taufabrikaten die Mos¬ 
kauer Ausstellung beschickt. Im Verhältniss zu der Hanfproduction 
Russlands ist die Taufabrikation, trotz dem, dass sie äusserst loh¬ 
nende Resultate liefert, doch im Ganzen wenig entwickelt. Die bei 
Weitem überwiegende Zahl d^rFabriken ist so klein, dass der Werth 
ihrer jährlichen Production die Summe von 1000 Rubel noch nicht 
immer erreicht. Dagegen steigt dieser Werth beiW. Hoth (St. Peters¬ 
burg) auf 807,000 Rubel, bei A. Kasalet & Söhne (ebendaselbst) auf 
250—500,000 Rubel, bei N M. Shurawljew auf 800.000 Rubel etc. 
Man ersieht hieraus, dass die Taufabrikation, wo sie eben fabrik- 
mässig betrieben wird, grosse Leistungen aufzuweisen hat. In 


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4*4 


Russland gehört sie zu den Industriezweigen, welche einer grossen 
Ausbreitung würdig sind und die vollständig den Verhältnissen des 
Landes entsprechen. Die Qualität der aus den St. Petersburger 
Fabriken hervorgehenden Taue ist eine hohe und ihr Absatz nach 
dem Auslande könnte noch bedeutend gesteigert werden. 

3) Die Baumwollen-Industrie. 

Wenige Industriezweige haben sich in Russland derart und so 
rasch entwickelt, wie dies die Baumwollenspinnerei und Weberei 
gethan hat. Obgleich die Begründung derselben von ausländischen 
Unternehmern ausging, nachdem die noch in die letzten Jahre des 
vorigen Jahrhunderts zurückreichenden ersten Versuche der Grün¬ 
dung von Baumwollenspinnereien fehlgeschlagen waren,- so fanden 
sich doch auch bald russische Unternehmer, und Capitalisten, welche 
Baumwollenspinnereien und Webereien mit einem grossen Auf- 
wande von Capital errichteten. Fast alle derartigen Unternehmun¬ 
gen floriren bis auf den heutigen Tag, und wenn man auch nicht in 
Abrede stellen kann, dass die Baumwollenindustrie keineswegs zu 
denjenigen Betriebszweigen gehört, welche in Russland einen natur¬ 
wüchsigen Boden haben und welche nur der Schutzzoll gross ge¬ 
zogen hat und auch für die Zukunft nur erhalten kann, so muss man 
auf der andern Seite doch zugestehen, dass sich kein anderer Indu¬ 
striezweig nicht nur so rasch entwickelt, sondern auch technisch so 
ausgebildet hat, wie die russische Baumwollenindustrie. Freilich 
ist diese Entwickelung und Vervollkommnung auf Kosten von 80 
Millionen Menschen erfolgt, welche durch den Zolltarif zu einer in- 
directen Steuer verurtheilt sind, die schwer genug zu tragen ist, da 
sie auf einem der nothwendigsten Lebensbedürfnisse, dem der täg¬ 
lichen Kleidung, lastet. Diese Steuer ist aber noch nicht das 
Schlimmste an der Sache. Die Baumwollenindustrie trägt durch 
ihre gegenwärtige, man kann wohl sagen unnatürliche Entwickelung 
die Schuld, dass mit so grosser Zähigkeit an dem Systeme des 
Schutzzolles fest gehalten werden muss, denn an eine Beseitigung des¬ 
selben ist nicht zu denken, ohne dass auch die Baumwollenindustrie 
durch sie betroffen würde. Das Capital, welches in diesem Industrie¬ 
zweige angelegt ist, beträgt viele Hunderte von Millionen und es 
läge allerdings eine grosse Verantwortung darin, dasselbe möglicher¬ 
weise gänzlich zu gefährden. 

* Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums beträgt die Zahl der 
Baumwollenspinnereien imGesammtgebieteRusslands (mit Polen und 
Finnland) 67, welche 43,778 Arbeiter beschäftigen und eine jähr- 


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425 


lidhe Production im Werthe von 53,322,170 RbL liefern. Timiijasew 
giebt die Zahl dieser Spinnereien mit Ausschluss von Polen und 
Finnland auf 48 an (37,483 Arbeiter und 39,389,844 Rubel Prpduo 
tionswerth). 

Die Centralpunkte dieser Baumwollenspinnereien sind St Peters¬ 
burg, Mfcskau und das Gouvernement Wladimir. Ausserdem giebt 
es noch grosse Spinnereien in den Gouvernements Rjäsan* Twer, 
Estland und Jarosslaw. Die bedeutendsten Manufacturen sind in 
und um St Petersburg, grossentheils Actienuntemehmen. Der 
Werth der jährlichen Production schwankt per Etablissement zwi¬ 
schen 400,000 Rubel und 4 Millionen Rubel. Die St. Petersburger 
Spinnereien verarbeiten grossentheils nur amerikanische Baumwolle, 
während die Spinnereien in den inneren Gouvernements die ameri¬ 
kanische Baumwolle mit asiatischer mischen. Um nur ein Beispiel 
anzuführen, so beschäftigt die Krähnholmer Manufactur ca. 2000 
Arbeiter und standen im Jahre 1870 — 172,284 Spindeln imBetrieb, 
doch sollte die Zahl dieser letzteren durch Zubau noch um 60,000 
vermehrt werden 

Baunvwollenwebereien giebt es im Europäischen Russland mit Aus¬ 
schluss Polens 586 mit 60,378 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 30,137,336 Rubel. Für Polen zählt Timirjasew in seinem 
nächst erscheinenden 3. Hefte seines statistischen Atlases noch 1171 
Baumwollwebereien mit 11,720 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 6,573,660 Rubel auf. Finnland besitzt nach derselben 
Quelle 5 Baumwollspinnereien und Webereien mit 3638 Arbeitern 
und einer Production im Werthe von 1,626,623 Rubel. 

Die-meistenBaumwollenwebereien giebt es in den Gouvernements: 
Moskau . . 371 mit 22,75oArbeitern u.10,018,835 Rbl.Prodqctionsw. 


Kostroma. 73 „ 

3,761 

»> ff 

3,869,205 „ 

Wladimir . 60 „ 

23,894 

ff ff 

7,872,554 „ 

Twer ... 28 „ 

3-164 

•f ff 

2,557,571 » 

Rjäsan . . 21 ,, 

2,103 

ff ff 

921,138 „ 

St. Petersburg 9 „ 

2,298 

ff ff 

3,220,814 „ 

Die Zahl der Zitzfabriken ist 

: aus folgender Tabelle (nach Timir- 

jasew) zu ersehen: 

Zahl der 

Werth der jährlichen 

Gouvernements 

: Fabriken 

Arbeiter 

Production in Rubeln. 

Wladimir . . 

69 

9,244 

11,467,454 

Kostroma . . 

I 

200 

183,000 

Moskau . . . 

57 

14,207 

12,167,200 

St. Petersburg 

5 

8u 

1,666,772 

Twer .... 

I 

314 

1,144,000 

Summa 

• 133 

24,776 

26,628,426 


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426 


Diese Angaben dürften genügen, um den Lesern ein übersicht¬ 
liches Bild über die grossartige Entwickelung der russischen Baum¬ 
wollenindustrie zu gewähren. Trotzdem dürften diese Angaben 
die Wirklichkeit noch nicht erreichen, da dieser Industriezweig 
gerade in den letzten Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen 
und seine Production, wenn auch nicht verdoppelt, doch afisehnlich 
gesteigert hat. Wie gross diese Productionssteigerung gewesen ist, 
geht daraus hervor, dass auf der letzten St. Petersburger Ausstel¬ 
lung 28 grössere Baumwollenspinnereien, Webereien und Zitz¬ 
fabriken gegenüber den hier tabellarisch angeführten Angaben 
48,000 Arbeiter mehr beschäftigten und eine um 32,981,420 Rbl. 
höhere Production lieferten. (S. meine „Industrie Russlands“). 

Um nur ein Beispiel anzuführen, so betreiben Sawwa Morosow & 
Söhne in verschiedenen Fabriken die Spinnerei, Weberei und 
Druckerei (Zitzfabrikation) und beschäftigen auf denselben nach ihren 
eigenen Angaben bei einem jährlichen Productionswerth von 
6,800,000 Rbl. — 35,000 Arbeiter! 

Was die technischen Leistungen der Baumwollenindustrie anbe¬ 
langt, so verdienen dieselben alles Lob. Der russische Metkal 
steht dem ausländischen nicht nach, und wenn auch das Ausland 
feinere Gewebe, z. B. Mousseline, Batiste u. dgl. in höherer Qualität 
herstellt, wie dies die russischen Industriellen thun, so hat dies ein¬ 
fach seinen Grund darin, dass diese letzteren sich mit derartigen 
Fabrikationen überhaupt noch wenig befassen, da die russischen 
Baumwollenwaaren hauptsächlich den Zweck haben, die Bedürfnisse 
der niederen Volksklassen zu decken. Diesen Zweck erfüllen sie 
auch in hohem Grade; sie sind haltbar und in der Farbe echt. 
Namentlich ist die Türkischrothfärberei in Russland ziemlich ent¬ 
wickelt und giebt es grosse Etablissements, wie z. B. das von L. 
Rabeneck im Kreise Bogorodsk (Moskauer Gouvernement) — jetzt 
Actiengesellschaft — die sich ausschliesslich nur mit dieser Art 
von Färberei beschäftigen. Auch die Zitzdruckerei hat sich sehr 
ausgebildet und liefert Fabrikate, welche denen des Auslandes nicht 
nachstehen. Gegenüber diesen Vorzügen bleibt das russische Fa¬ 
brikat aber immer theurer wie das gleichwerthige ausländische und 
es ist eben nur dem hohen Schutzzoll zu danken, dass die russische 
Baumwollenindustrie im Stande ist, den ausländischen Fabrikaten 
gegenüber selbst im Inlande die Concurrenz zu behaupten. 


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4*7 


4) Die Schafwollen-Industrie. 

Weit mehr dem Character des Landes entsprechend, gehört die 
Wollindustrie zu den wichtigsten und weit verbreitetsten In¬ 
dustriezweigen Russlands. Obgleich, wie die übrigen Branchen der 
landwirtschaftlichen Viehzucht, auch die Schafzucht ihre Bestände 
reducirt hat, so zählt doch Russland zu den Staaten Europas, welche 
die grössten Bestände an Schafvieh aufzuweisen haben. Nach dem 
landwirthschaftlich-statistischen Atlas des Domänenministeriums gab 
es im Europäischen Russland im Jahre 1864: 11,655,000 feine 

(Merino-) und 32,516,000 ordinäre Schafe, in Summa demnach einen 
Bestand von 44,171,000 Stück. Bis zu dem genannten Jahre und 
auch noch eine Reihe Jahre darauf vermehrte sich der Schafstand in 
Russland, namentlich der der Merinoschafe von Jahr zu Jahr j in den 
letzten Jahren zeigte sich jedoch eine Verminderung desselben, was 
mit den übrigen landwirtschaftlichen Verhältnissen in Ueberein- 
stimmung steht. Auch der sich verringernde Wollexport deutet 
auf diese Abnahme des Schafstandes hin, denn dieser Export hatte 
sich in den letzten 10 Jahren von 1,033,263 Pud (im Jahre 1861) auf 
'920,609 Pud (im Jahre 1870) successive reducirt, während gleich¬ 
zeitig der Import ausländischer Wolle, grossentheils Merinowolle, 
welche als Halbfabrikat, gekrempelte und gefärbte Wolle, nach Russ¬ 
land eingeführt wurde, von 77,760 Pud (1861) auf 255,733 Pud (1870) 
stieg. Letzteres deutet auf eine erweiterte Ausdehnung der russi¬ 
schen Wollenindustrie, welche in der That auch stattgefunden hat. 

Da die Wollspinnerei in Russland gleich der Flachs- und Hanf¬ 
spinnerei vorzugsweise als häusliches Gewerbe betrieben wird, an¬ 
dererseits auch mit einzelnen Wollstoffwebercien in Verbindung 
steht, so giebt es verhältnissmässig sehr wenig Etablissements, 
welche sich selbstständig mit diesem Industriezweige beschäftigen. 
Timiijasew führt in seinem Industrieatlas für das Europäische Russ¬ 
land nur 30 Wollspinnereien an, welche 3217 Arbeiter beschäftigen 
und eine jährliche Production im Werthe von 2,605,656 Rubel liefern 
sollen. Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums kommen 
hierzu noch 15 Wollspinnereien mit 337 Arbeitern und einer Pro¬ 
duction im Werthe von 743,000 Rubel des Zarthums Polen, so dass 
es demnach im Gesammtgebiete Russlands 45 Wollspinnereien mit 
3554 Arbeitern und einer Production im Werthe von 3,348,656 RbU 
geben würde. Diese geringe Production lässt sich, eben nur dadurch 
erklären, dass sie sich nur auf die Leistungen von fabrikmässig be¬ 
triebenen Wollspinnereien bezieht. 


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42 ® 


Wollstoffivebereien giebt es: 

Zahl der Werth der jährlichen 

.Fabriken 'Arbeiter Production in Rubeln 

im Europäischen Russland . . . . 147 21,816 12,566,960 

im Zarthum Polen.564 3,204 2,169,118 

im Grossfürstenthum Finnland . , 6 46 7,783 

Summa. . 717 25,066 14,743,861 

Die meisten und grössten Fabriken befinden sich im Moskauer 
Gouvernement: 128 mit 20,025 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 11,351,502 Rubel, dann in St. Petersburg 8 mit 1,123 
Arbeitern und 678,864 Rubel Productionswerth. Die polnischen Fa¬ 
briken sind, wie aus obiger Zusammenstellung schon ersichtlich, 
zwar sehr zahlreich aber auch sehr klein und mit wenigen Ausnahmen 
hinsichtlich ihrer Production sehr wenig leistungsfähig. In den 
Städten Lodz und Pobjanitze giebt es Wollstoff fabriken von grösserer 
Bedeutung, darunter 4, die eine jährliche Production im Werthe von 
230,000—500,000 Rubel aufzuweisen haben. Dagegen steigt der 
Werth dieser jährlichen Production bei Grjasanow & Labsin auf 
1 Million Rubel, bei Armand & Söhne (beide im Moskauer 
Gouvernement) auf 3 { /i Millionen, während es in demselben Gou¬ 
vernement noch eine grössere Anzahl von Fabriken giebt, die jähr¬ 
lich flir 600,000 Rubel fabriciren. 


Tuchfabrikation . Tuchfabriken giebt es 


» 

Zahl der 

Wert!» der jährlichen 


' Fabriken 

Arbeiter 

Production in Rubeln 

im Europäischen Russland . . . 

• 432 

66,519 

33,691,415 

in Sibirien .. 

• 4 

498 

217,486 

im Zarthum Polen . 

. 284 

3.78s 

3,038,807 

im Grossfürstenthum Finnland . 

. 8 

129 

. 49-853 

Summa . 

00 

n 

70.931 

36,997,561' 


Die zahlreichsten Tuchfabriken befinden sich im Gouvernement 
Grodno: 114 (4,147 Arbeiter und 4,183,565 Rubel Productions- 
werth), Podolien: 77 (784 Arbeiter und 334,525 Rubel Productions- 
werth), Moskau: 52 (18,045 Arbeiter und i4,i5i,i2 5RubelPro- 
ductionswerth), Ssimbirsk: 21 (10,487 Arbeiter und 2,575,860 Rubel 
Productionswerth), Kijew: 21 (1,013 Arbeiter und 504,501 Rubel 
Productionswerth), Tschemigow. 19 (5,173 Arbeiter und 2,603,856 
Rubel Productionswerth), Pensa; 18 (5,834 Arbeiter und 1,202,283 
Rubel Productionswerth), Ssaratow: 12 (3,261 Arbeiter und 


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719,800 Rubel Productionswerth) und Tambow: 10 (4,361 Arbeiter 
und 804,890 Rubel Productionswerth). Nächstdem giebt es noch 
im St. Petersburger und im Liv- und EstländischenGouvememet sehr 
bedeutende und renommirte Tuchfabriken (Baron Stieglitz, Wöhr¬ 
mann & Sohn, Baron Ungern-Sternberg u. A.) Auch im Zarthum 
Polen (Chr. Moes) und in Finnland giebt es Etablissements von her¬ 
vorragender Leistungsfähigkeit. 

Die Tcppichfabrikalion. Teppichfabriken bestehen nach Timir- 
jasew in Russland 9 mit 625 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 398,725 Rubel. Mit Ausnahme einer einzigen kleinen 
Fabrik entfallen die sämmtlichen Teppichwirkereien auf das Gou¬ 
vernement Moskau. Jedenfalls ist die Leistung dieser Fabriken in 
Wirklichkeit grösser als die oben angegebene, und kann man den 
Werth ihrer gegenwärtigen Production um mindestens 40 pCt. höher 
annehmen, indem derselbe schon 1870 — 565,000 Rubel betrug. 
Ausser den hier aufgezählten giebt es noch im Zarthum Polen zwei 
kleinere Teppichwirkereien. 

Im Allgemeinen wird es nicht zu bestreiten sein, dass die russi¬ 
sche Wollstoffweberei und Tuchfabrikation grosse Fortschritte ge¬ 
macht hat, und so verhältnissmässig klein die Zahl der russischen 
Aussteller auf der letzten Moskauer Ausstellung auch gewesen sein 
mag, so zeichneten sich doch ihre Fabrikate durch hohe Qualität 
aus. Die, Seite 87 der „Russischen Revue“, aufgeführten Namen 
gehören mit zu den ersten Industriellen Russlands. Namentlich 
die Tuchfabrikation hat, was die Erzeugung feiner Tücher anbelangt, 
grosse Fortschritte aufzuweisen und die Wöhrmann’schen, Stieglitz- 
schen, Ungern-Sternberg’schen, Jokisch’schen, Moes’schen etc.Tuche 
können sich m einzelnen Sorten getrost mit den ausländischen 
messen. Auch die Teppichfabrication leistet Brauchbares, (die 
grösste Fabrik ist die von Flandin & Co. (Gouvernement Mos¬ 
kau, Kreis Klin in Wassiljewka), doch wird sie immer noch grosse 
Anstrengungen zu machen haben, um auf ein gleiches Niveau mit 
der ausländischen zu gelangen. 

Filzfabriken zählt das Jahrbuch des Finanzministeriums 77 auf, mit 
295 Arbeitern und einer jährlichen Production im Werthe von 
70,585 Rbl. Die meisten davon (55) entfallen auf das Gouvernement 
Nishnij-Nowgorod. Sämmtliche Fabriken sind nur von untergeord¬ 
neter Bedeutung. 


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430 


5) Die Seiden-Industrie. 

Bei Besprechung der Productionsverhältnisse des Kaukasus undTur- 
kestans (3. und 4. Heft d. Bl.) habe ich bereits auf die Wichtigkeit 
dieser Länder für die Seidenzucht hingewiesen. Ich habe daher nicht 
nöthig nochmals auf die guten Eigenschaften der kaukasischen und 
turkestanschen Rohseide zurückzukommen. Der ganze Süden von 
Russland ist für die Cultur des Maulbeerbaumes und daher für die 
Seidenraupenzucht geeignet. Dieselbe kann in allen Gouvernements 
südlich von Moskau mit Erfolg betrieben werden und Faben sich 
ihrer vorzugsweise die deutschen Colonien Südrusslands bemächtigt. 
Aber auch noch weit nördlicher gedeiht der Maulbeerbaum, was 
durch die Maulbeerplantagen und die gewonnene Rohseide des Herrn 
Mankowski im Wilnaschen Gouvernement bewiesen wird. Dass 
sich die Seidenraupenzucht in Russland noch mehr ausdehnen liesse, 
wie es der Fall ist, versteht sich von selbst, doch ist wenig Aussicht 
vorhanden, dass dies in Wirklichkeit geschehen werde, wenn nicht 
die Regierung in dieser Beziehung aufmunternd eingreift. 

So reich nun auch die Production Russlands an Cocons ist oder 
richtiger gesagt, sein könnte, von so geringer Leistungsfähigkeit sind 
die inländischen Abhaspelanstalten und Seidenspinnereien. Das 
Jahrbuch führt nur 4 solcher Etablissements an, welche auf Podoiien 
entfallen, alle übrigen (133) gehören dem Kaukasus an. Mit einigen 
Seidenwebereien sind allerdings auch noch Seidenspinnereien ver¬ 
bunden; ihre Anzahl und Leistungsfähigkeit entspricht aber den 
Bedürfnissen keinesweges und die russische Seidenindustrie ist daher 
genöthigt, einen nicht unbedeutenden Theil der ihr nothwendigen 
Seiden aus dem Auslande zu beziehen, während die russische Rohseide 
wiederum nach dem Auslande zur Weiterverarbeitung geschickt 
wird. 

Wenn auch bei Weitem noch nicht so entwickelt, wie die übrigen 
Zweige des Manufacturwesens, so erscheint doch bereits die russische 
Seidenindustrie entwickelt genug, um zu den besten Hoffnungen 
zu berechtigen. Giebt es doch bereits im Europäischen Russland 
81 Seiden- Atlas- und Sammtwebereien, welche 6,598 Arbeiter be¬ 
schäftigen und eine jährliche Production im Berthe von4,2Ö3,o36Rbl. 
liefern. Hierzu kommen noch 3 Warschauer Fabriken mit 100 Arbei¬ 
tern und einer Production im Werthe von 94,200 Rbl. und 112 aller¬ 
dings sehr kleine kaukasische Etablissements mit einer Production 
von 59,025 Rbl., so dass die Gesammtproduction Russlands nach 


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43 1 


Timirjasew und dem Jahrbuche des Finanzministeriums die Werth- 
summevon4>4i6 f 26i Rbl. repräsentirt. Es lässt sich aber mit Bestimmt¬ 
heit annehmen, dass diese ofFiciellen Daten den gegenwärtigen Produc- 
tionsverhältnissen nicht mehr entsprechen, ja nach den Anhaltspunkt 
ten, welche in dieser Beziehung die letzte St. Petersburger Ausstellung 
geboten hat, darf man annehmen, dass der Werth der gegenwärtig 
in Russland fabricirten Seidenstoffe zwischen 7 und 8 Millionen Rbl. 
variirt. Der Hauptsitz der russischen Seidenindustrie ist wiederum 
Stadt und Gouvernement Moskau, wo es 72 grössere Seidenstoff¬ 
fabriken giebt, darunter Etablissements , wie z. B. das der Gebrüder 
Ssolowjew, welche einen jährlichen Umsatz von 700,000 Rbl. er¬ 
zielen. Fabriken mit einemUmsatz von 250,000—400,000 Rbl. giebt 
es eine grössere Anzahl. Die Moskauer Fabriken beschäftigen sich 
namentlich mit der Fabrikation von verschiedenen Seidenstoffen, 
von Atlas (mit Baumwolleneinlage) und von Sammet, welcher ins¬ 
besondere die oben genannte Ssolowjewsche Fabrik obliegt. In 
schweren Seiden-und Möbelstoffen liefert Mosch jugiii in Moskau und 
die Fabrik der Gebrüder Kondraschjew Hervorragenderes, wenn man 
auch den russischen Möbelstoffen den Vorwurf macht, dass sie nicht 
haltbar in der Farbe sein sollen. Als Moskauer Specialität ist noch 
die Fabrikation von Brocaten und Kirchenstoffen crwähnenswerth 
und zeichnen sich in dieser Branche namentlich die Herrn A. & W. 
Ssaposchnikow aus, (Seite 87 der ,Russischen Revue“) deren Fabri¬ 
kate nicht nur in ganz Russland), sondern auch im Auslande Aner¬ 
kennung finden. Auch St. Petersburg hat treffliche Seidenfabriken 
aufzuweisen und sind es hier besonders Modestoffe und verschieden¬ 
artige schwarze Seidenstoffe, Fai, Sarge, gros d’Ecosse und Atlase, 
welche producirt werden. Es giebt 7 derartige Fabriken in St. Pe¬ 
tersburg, deren jährlicher Umsatz zwischen 100,000 Rbl. und 400,000 
Rubel variirt. In Livland (Riga) existirt nur die Fabrik von Karins, 
mit einem Umsatz von 50,000 Rbl.; dagegen giebt es noch in Polen 
drei grössere Seidenfabriken, 2 in Lodz und 1 in Warschau. Als lan¬ 
desüblicher Seidenstoff, der namentlich im Moskauer Gouvernement 
und Im Kaukasus in grossen Quantitäten erzeugt wird, kann der ge¬ 
streifte Kanaus angesehen werden, dessen Qualität dem Preise ent¬ 
spricht und der sich durch besondere Dauerhaftigkeit auszeichnet. 

Seidenbandfabriken giebt es nach Timirjasew im Europäischen Russ¬ 
land nur 7 (nach dem Jahrbuche 8) mit 342 Arbeitern und einer jähr¬ 
lichen Production im Werthe von 249,830 Rbl. Die Leistungen die¬ 
ser Industriebranche sind geringer wie die der Seidenstoffweberei, 


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und wird das Ausland in dieser Beziehung, noch lange ein grosses 
Uebergewicht behaupten. Nur in einfachen Fabrikaten kann daher 
auch die russische Seidenbandweberei die Concurrenz, und zwar 
auch nur in dem durch den Zoll geschützten Inlande, behaupten. 

6) WlRKWAAREN- UND TRICOTAGEFABRICATION. 

Auch dieser Industriezweig hat in den letzten Jahren eine weit 
grössere Ausdehnung gewonnen, als zu jener Zeit, aus welcher 
statistische Nachrichten veröffentlicht sind. Im statistischen Indu- 
strieatlas sind für Russland io Fabriken angeführt mit 245 Arbeitern 
und einer Production im Werthe von nur 144,961 Rbl. Die Hälfte 
dieser Fabriken befand sich im St. Petersburger Gouvernement. Auf 
der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung waren aber 
5 Fabriken vertreten (darunter mehrere neue), welche allein schon 
eine Production im Werthe von 445,00x5 Rbl. lieferten. Seitdem die 
Rundstühle auch in Russland Eingang gefunden, hat sich die Wirk- 
waarenfabrication stark vermehrt, und es stehen sehr ansehnliche 
Fabriken im Betriebe, abgesehen von einer grossen Anzahl kleiner 
Etablissements, welche ihr Gewerbe in einem mehr handwerksmässi- 
gen Umfange betreiben. Da der Zoll für ausländische Wirkwaaren 
ohne Abstufungen dem Gewichte nach erhoben wird, so kann die 
russische Industrie mit den feineren ausländischen Wirkwaaren, von 
denen ein grösseres Quantum auf ein Pfund geht, nicht concurriren, 
und die Folge davon ist, dass die russischen Industriellen sich 
grossentheils nur die Herstellung gröberer Wirkwaaren, namentlich 
solcher aus Wollengarnen, angelegen sein lassen. Eine Ausnahme 
hiervon machen nur Hielle & Dietrich in Warschau (Zyrardowo), 
W. P. Kersten in St. Petersburg und L. Volkmann & Co. in Riga, 
welche nicht nur feinere Wollen- und Baumwollengarne, sondern 
auch selbst Seide verarbeiten. Jedenfalls ist dieser Industriezweig 
noch erweiterungsfähig und hat dieselbe Berechtigung wie die 
Baumwollenindustrie, mit welcher er das Gemeinsame hat, den 
grössten Theil des zur Fabrication erforderlichen Rohstoffes aus dem 
Auslande zu beziehen. 

7) Rosshaare, Schweinsborsten, Bettfedern. 

Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt die Fabriken oder 
Etablissements, welche sich mit dem Reinigen und Sortiren der 
Rosshaare und Schweinsborsten befassen, nicht getrennt auf, wahr¬ 
scheinlich wohl aus dem Grunde, weil es viele Etablissements giebt, 


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433 


welche diese beiden Industriezweige gemeinsam betreiben. Die An¬ 
gaben über die Productionsverhältnisse sind übrigens auch jeden¬ 
falls veraltet, denn das Jahrbuch führt für 34 Fabriken nur eine Ge- 
sammtproduction im Wcrthe von 1,448,388 Rbl. auf, während z. B. 
im Jahre 1868 die Rosshaare für die Werthsumme von 618,425 Rbl., 
Borsten für 3,131,506 Rbl., beide zusammen also in Summa für 
3,749,931 Rbl. exportirt wurden, und der inländische Consum doch 
ebenfalls noch grosse Anforderungen stellt. Heute kann man wohl den 
Werth der jährlichen Production von für den Handel vorbereiteten 
Rosshaaren und Schweinsborsten auf 14—16 Millionen Rbl. ! ) veran- 
- schlagen, um so mehr als die Borstenpreise in den letzten Jahren 
sehr im Preise gestiegen sind. Die meisten Etablissements, welche 
sich mit der Herrichtung und dem Sortiren von Rosshaaren und 
• Schweinsborsten beschäftigen, befinden sich in St. Petersburg 
nämlich: 8 (meistens für Rosshaare), dann in Tschernigow: 6 
(grossentheils für Borsten), Wladimir: 5 (Rosshaare), Kaluga: 4 
(Borsten), Moskau, Twer und Tula ä 3. 

Auch das Ankäufen, Einsammeln, Reinigen und Sortiren von Bett¬ 
federn bildet in Russland einen Industriezweig, mit welchen sich eine 
ganze Reihe von Etablissements beschäftigen und werden jährlich 
6 — 8000 Pud davon exportirt. Leider fehlen nähere statistische 
Angaben über die Betriebsverhältnisse. 

B. Producte aus dem Innern des Bodens (mit Ausnahme 
der Metalle), Hölzer und Holzfabricate. 

8) Baumaterialien und andere hierher gehörende Fabrt- 

CATE AUS NATÜRLICHEM UND KÜNSTLICHEM STEIN, STEINHAUEREI 

Steinschleiferei etc. 

Ich verweise zunächst auf das, was ich über diese Industriezweige 
bereits im I. Hefte der „Russischen Revue“ Seite 80 und im II. Hefte 
Seite 167 u. f. gesagt habe, und erwähne hier nur, dass es iin Jahre 
1866 nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums in Russland gab: 

Arbeiter Production im Werthe 
von Rubeln 

8 Alabasterfabriken (Gypsbrennereien) 87 ' 129,051 

146 Kalkbrennereien .14Ö (?) 357 * 48 * 

2117 Ziegelbrennereien .. (?) 2,932,167 

39 Dachziegel- und Thonröhrenfabriken 139 690,500 

179 Holzschneide-und Sägefabriken . . . 179 3*886,798 

Es wurden im Jahre 1871 exportirt: Rosshaare 45,298 Pud im Werthe von 
1,298,233 Rubel, Schweinsborsten 98,607 Pud im Werthe von 9,860/, 00 Rubel. 

29 


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434 


Dass sich die Zahl dieser Etablissements seit dieser Aufstellung 
bedeutend gesteigert und dass namentlich auch die Leistungs¬ 
fähigkeit derselben sich sehr gehoben hat, kann als selbstverständlich 
angesehen werden. Hinsichtlich der Cementfabriken, deren Zahl 
das Jahrbuch nur auf 3 angiebt, habe ich bereits Seite 168 den 
Nachweis ihrer bedeutenden Ausdehnung geliefert. Die in Folge 
der grösseren Nachfrage steigenden Preise aller Baumaterialien 
haben die Speculation wach gerufen, und in Folge davon sind in 
den letzten Jahren bedeutende Etablissements entstanden. Nament¬ 
lich Kalkbrennereien sind mehrseitig angelegt worden und liefern 
bei den hohen Kalkpreisen die günstigsten Resultate. — Ueber die 
Steinschleiferei habe ich bereits im 1. Hefte Seite 80 gesprochen. 
Sie gehört zu den Industriezweigen, welche Russland eigenthümlich 
sind und findet ihre Begründung in dem Reichthum des Landes an 
schleifbaren Mineralien. 

9) Brennmaterialien aus dem Erdreiche. 

. a) Kohlen . 

Des grossen Holzreichthums Russlands habe ich schon bei Ge¬ 
legenheit der allgemeinen Besprechung der Moskauer Ausstellung 
(Heft 2. S. 146 etc.) gedacht. Trotzdem haben nicht nur die un¬ 
gleiche Vertheilung des russischen Waldlandes, sondern auch die 
im Laufe der Zeiten eingetretene Devastirung dieses letzteren Russ¬ 
land gezwungen, die Beschaffung andern Brennmaterials ins Auge 
zu fassen. Glücklicherweise ist Russland auch an diesem letzteren 
nicht arm und namentlich sind es seine Kohlenlager, welche berufen 
sind, dieses Land vor einem Mangel an Brennmaterial zu schützen. 
Seitdem Russland nach allen Richtungen hin mit Eisenbahnen 
durchzogen ist, hat die Kohlenindustrie an Bedeutung dadurch ge¬ 
wonnen, dass nun die Möglichkeit geboten ist, einen billigeren 
Kohlentransport zu bewirken, der ohne Eisenbahnen ausserhalb der 
Grenzen der Möglichkeit, liegt. Einige Eisenbahnen danken sogar 
lediglich diesem Zwecke ihr Entstehen. — Für verschiedene Zweige 
der russischen Industrie ist die Benutzung von Kohlen ein Gebot der 
Selbsterhaltung geworden. Ohne eine solche Benutzung würde 
z. B. ein Theil der uralschen Hüttenwerke schon nach wenigen 
Decennien ihren Betrieb beschränken, wenn nicht eins*ellen müssen, 
denn nach der Ansicht von Autoritäten reichen die Holzvorräthe in 
mehreren Gegenden des Urals nur etwa noch auf 25 Jahre, wenn sich 


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, ^435 _ 

die Hüttenwerke ausschliesslich nur des Holzes als Brennmaterial be¬ 
dienen würden. Mehrere Zuckerfabriken (in Tula und Kijew) ver¬ 
wenden jetzt schon Kohlen als Brennmaterial, andere aber, denen 
solche noch nicht zur Verfügung stehen, müssen der Zukunft etwas 
trüben Blickes entgegensehen, indem sie nicht mehr über die zum 
Fabrikbetriebe nothwendigen Holzvorräthe disponiren können. Sie 
müssen sich also ebenfalls anderes Brennmaterial verschaffen, um das 
mangelnde Holz zu ersetzen. 

Nach den „Tableaux statistiques d l’industrie des mines en Russie 
en 1868 par C. Skalkowsky, Ingenieur des mines — St. P£tersbourg 
1870“, herausgegeben vom Bergdepartement, verfügt Russland über 
9 grosse oder minder grosse Kohlenbassins. Es sind dies*. 

1. Das Bassin von Moskau (umfassend die Kohlenlager der Gou¬ 
vernements Nowgorod, Twer, Moskau, Tula, Rjäsan, Orel und 
Ssmolensk). 

Es befinden sich in diesem Bassin 11 Kohlengrubendistrikte, die 
im Jahre 1868 eine Ausbeute lieferten von.2,967,334 Pud 

(5 neue Gruben waren im genannten Jahre noch 
im Bau begriffen). 

2. Das Bassin von Kijew-Jelissawetgrad. 

3 Gruben, von denen 2 im Bau begriffen, lieferten 
im Jahre 1868. 90,540 „ 

3. Das Donezbassin. 

a ) Im Gebiete des Donischen Kosakenheeres, 
umfasst 6 Grubengebiete und lieferte 1868 

an Kohlen 9,480, an Anthracit 5,403,534 Pud 5,413,014 „ 

b) Im Gouvernement Jekaterinosslaw 3oKohlen- 
grubendistricte, in welchen 4 Gruben mo- 

' mentan ausser Betrieb standen, mit einer 
Production von 2,362,236 Pud Kohlen und 


52,400 Pud Anthracit.2,414,646 „ 

4. Das Bassin des Ural (4 Grubendistricte, von 

denen 1 Grube ausser Betrieb stehend). 323,645 „ 

5. Das Bassin des Zarthums Polen. 


ä) Gruben der Krone (5 Districte) Steinkohlen 6,680,671 „ 

b) Privatgruben (4 Districte) Steinkohlen . . . 8,539,730 ,, 

6) Bassin von Kusnetzky — Gouvernement Tomsk 


— (1 Grube). 188,167 „ 

7. Bassin des Territoriums der sibirischen Kirgisen 
(5 Gruben, von denen 1 ausser Betrieb stehend) . . 382,414 ,, 

29* 


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436 


8. Bassin des östlichen Sibiriens (i Grubengebiet) 333,880 ,, 

9) Bassin des Kaukasus (2 Grubengebiete) liefern 
zus. 198,000 Pud, wovon 60,000 Pud Lignite • v . . 198,000 ,, 

Zusammen . . . 27,532,141 Pud. 

Darunter Stein- und Braunkohlen .... 21,925,657 Pud 

Anthracit.. 5,455,944 

Bituminöser Schiefer und Lignite . . .' . 150,540 „ 

Diese Zusammenstellung zeigt, welche Bedeutung namentlich die 
Bassins im Zarthum Polen und das weit ausgedehnte Donezbassin 
haben. Von letzterem theilt General von Helmersen mit, dass unter 
den hunderten, in der Westhälfte dieses Bassins aufgeschlossenen 
Flötzen sich 44 bauwürdige mit einer Gesammtmächtigkeit von 112 
Fuss befinden, und dass diese Flötze nach sorgfältiger Abschätzung 
ein Quantum von 414 Milliarden Pud guter Kohle liefern können, 
wenn man sie auch nur bis zu der verhältnissmässig geringen Tiefe 
von 100 Lachter abbauen wollte. Im östlichen, den Donschen 
Kosaken gehörenden Antheil, dürfte der Vorrath an guter Kohle 
noch bedeutender sein. 

Im Moskauer Bassin (bei Tula) wird nun, seit die Eisenbahn von 
Tula nach Wjasma und die Zweigbahn von dieser nachjelez be¬ 
stätigt sind, die Kohlenindustrie sehr bald einen gewaltigen Auf¬ 
schwung nehmen und einer sehr günstigen Zukunft entgegensehen 
können. Nahe beiMosJvau gelegen, im Herzen Russlands, ist für diese 
Kohle die Möglichkeit leichterer Beförderung in die P'abrikdistricte 
Central-Russlands gegeben. Sie wird auch dadurch noch gewinnen, 
als sich vielfach Eisenstein neben der Kohle findet. 

Dass demnach Russland genügende Kohlenvorräthe besitzt, steht 
ausser Zweifel. Ebenso gewiss ist es, dass sich intelligente und 
materielle Kräfte finden, um die russischen Kohlenlager zu exploi- 
tiren. Der Schwerpunkt der russischen Kohlenindustrie beruht auf 
der zu schaffenden Möglichkeit einer billigen Verfrachtung, welche 
nur durch die Eisenbahnen vermittelt werden kann. Die Lösung 
der Eisenbahnfrage wird daher auch die Lösung der Kohlenfrage 
bedingen. 

Gegenüber der oben nachgewiesenen inländischen Production ist 
der Import ausländischer (englischer) Kohlen bedeutend genug. 
Derselbe betrug im Jahre 1868 — 35,217,000 Pud. Im Jahre 1870 
stieg dieser Import sogar auf 51,583,006 Pud. Dieser Import wird 
grossentheils durch das Bedürfniss der St. Petersburger Fabriken 


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_ _437_ 

hervorgerufen. Dieselben sind gezwungen, ihren Bedarf aus Eng¬ 
land zu decken, weil der Eisenbahntransport die inländischen Kohlen 
so vertheuern würde, dass die englischen Kohlen, trotz ihrer an¬ 
sehnlichen Preissteigerung, doch noch immer weit billiger zu stehen 
kommen, wie dies bei den inländischen der Fall sein würde. 

b] Torfindustrie . 

Missglückte Versuche mit der Exploitirung Von Torfmooren, 
welche im Laufe der letzten 20 Jahre sowohl im Moskausphen wie 
im Tulaschen Gouvernement und auch anderwärts gemacht worden 
sind, haben die Torfindustrie, und zwar zum grossen Nachtheile der 
Consumenten von Brennmaterial in solchen Misscredit gebracht, dass 
heute jeder Capitalist vor einem derartigen Unternehmen zurück¬ 
schreckt. Dies ist um so mehr zu bedauern, als sich sowohl in Moskau 
wie in St. Petersburg und in den Zuckerrübendistricten der Torf 
als Brennmaterial hoch verwerthen Hesse. In der Nähe von St. Pe¬ 
tersburg giebt es treffliche Torfmoore, welche sich leicht bearbeiten 
lassen und die ein Torfmaterial enthalten, welches an holler Qualität 
seines Gleichen sucht, das aber immer noch einer entsprechenden 
Ausnützung vergebens harrt. In neuester Zeit, namentlich seit 
dem so unverhältnissmässigen Steigen der englischen Steinkohlen¬ 
preise und nachdem sich die Fabrication von Kugeltorf als eine 
leichte und zweckmässige bewährt hat, scheint es allerdings, als pb 
sich derartige Unternehmungen in grösserem Maassstabe anbahnen 
würden. Wir können den Unternehmern nur Glück dazu wünschen, 
gleichzeitig aber auch dem Lande, denn es ist jedenfalls zu bedau¬ 
ern, dass man bis jetzt angestanden hat, sei es aus Vorurtheil oderaus 
Misstrauen, ein treffliches Brennmaterial einer rationellen Benutzung 
zu unterziehen. 

9 # 


10) Glas, Fayence, Porcellan; Thonwaaren etc. 
a) Die Glas fabrication . 

Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums giebt es im ganzen 
russischen Reiche 222 div. Glasfabriken mit 10,748 Arbeitern und 
einer jährlichen Production im Werthe von 3,798,158 Rbl Davon y 
entfallen: 


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438 


Werth der jährlichen 
Froduction in Rubeln. 

2,806,984 
776,194 
120,309 
79,671 

15,OCX) 

Die grösste Anzahl von Glasfabriken befindet sich im Gouver¬ 
nement Wladimir (27)7 dann folgen die Gouvernements Wolhynien 
(21), St. Petersburg (16), Livland (9), Twer (9;, Wjatka, Nishnij- 
Nowgorod, Nowgorod und Ssmolensk (ä 7), Orel, Rjäsan und Ssim- 
birsk (ä 6), Wilna und Perm (ä 5) u. s. w. Ueberhaupt giebt es in 30 
Gouvernements des Europäischen Russlands Glasshütten, woraus schon 
hervorgeht, dass dieser Industriezweig verhältnissmässig stark be¬ 
trieben wird. Die höchste Production (819,776 Rbl.) wird im Gou¬ 
vernement Wladimir erzielt, dann folgen Orel mit 440,000 Rbl., 
St. Petersburg mit 359,997 Rbl., Ssmolensk mit 228,075 Rbl, 
Twer mit 210,719 Rbl. u. s. w. Die meisten Fabriken liefern nur 
ordinäre Glaswaaren, namentlich Fenster- und Bouteillenglas und 
ist die quantitative Production einzelner Hütten sehr bedeutend. 
So produciren die Fabriken von Kostjerjew in den Gouvernements 
Jarosslaw und Wladimir jährlich 6 Millionen Flaschen und 2000 Ki¬ 
sten Fensterglas. In der Fabrication feinerer Glaswaaren, nament¬ 
lich von Tafelgeschirr und Crystall liefern die schon grösseren Fa¬ 
briken von Ssinowjew (St. Petersburg und Twer), J. *S. Malzow 
(Rjäsan und' Wladimir) und S. J. Malzow (Orel und Ssmolensk) Her¬ 
vorragenderes. Letzterer besitzt 8 verschiedene Glashütten, welche 
eine jährliche Production irn Werthe von gegen 1 1 /% Million Rbl. liefern 
und 1800 Arbeiter beschäftigen. Die drei hier genannten Glasfa¬ 
briken sind übrigens die grössten in Russland. Die Kaiserliche Glas-; 
fabrik in St. Petersburg ist ihren Leistungen nach wohl die hervor¬ 
ragendste, doch nimmt dieselbe, gleich der Kaiserlichen Porcellan- 
fabrik, eine so exceptionelle Stellung ein, dass man sie kaum mit 
den übrigen Fabriken, bei welchen der zu realisirende Geschäfts¬ 
gewinn nothwendig in den Vordergrund tritt, in Vergleich ziehen 
kann. Die finnländischen Fabriken, obgleich zahlreich, sind meist 
von kleinerem Umfange, doch erfreuen sich die finnländischen Fa- 
v bricate ihrer Billigkeit wegen eines guten Rufes. Weit bedeutender 
in ihrer Production sind die polnischen Fabriken, unter denen es 


Zahl der 

Fabriken Arbeiter 


Auf die Gouvernements des 
Europäischen Russlands ... 123 935 2 

auf das Zarthum Polen .... 22 787 

auf das Grossfürstenth. Finnland 61 294 

auf Sibirien. 15 315 

auf den Kaukasus . 1 ? 


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439 

einzelne giebt, wie z. B. die der Gebrüder W. & E. Gordlitschky, 
welche in Crystall- und geschliffenen Glaswaaren gute Fa- 
bricate liefern. Uebrigens hatten sich die russischen Glasfabrikanten 
in sehr auffallender Weise von der Moskauer Ausstellung fern ge¬ 
halten; nur der obengenannte Herr Kostjerjew, und wenn ich nicht 
•irre, Herr S. J. Malzow, hatten dieselbe beschickt. Sollten sie ge¬ 
fürchtet haben, mit ihren Fabricaten zu sehr hinter den ausländischen 
zurückzubleiben? So grosse Fortschritte die russische Glasfabri- 
cation auch gemacht hat, so vermag sie allerdings noch nicht, weder 
hinsichtlich der Qualität noch des Preises, mit der ausländischen 
Glasindustrie zu concurriren. 

b) Die Porcellan-, Fayence - und Thomvaarenfabrication . 

Nach dem Jahrbuche giebt es in Russland und Polen 28 Porcellan- 
fabriken mit 2580 Arbeitern und einer jährlichen Production im 
Werthe von 1,042,054 Rubel, von denen 16 Fabriken auf das Mos¬ 
kauer, 4 auf das Wolhynische, 3 auf das Warschauer, je 2 auf das 
St. Petersburger und Wladimirsche Gouvernement und I auf Liv¬ 
land entfallen. Neuerdings ist nicht nur die Zahl der Fabriken, 
sondern auch die Productionsleistung gestiegen. So hat die be¬ 
kannte Firma Siemens Halske im Nowgoroder Gouvernement 
eine Porcellanfabrik eröffnet, die Anfangs nur Isolatoren für Tele-, 
graphenleitungen arbeitete, neuerdings abgr auch alle möglichen 
Geschirre liefert. Auch in Helsingfors (Finnland) giebt es eine 
Porcellanfabrik, welche das Jahrbuch nicht berücksichtigt, die von 
W. Andsten, mit einer jährlichen Production im Werthe von 
42,000 Rubel. Ausser den hier genannten giebt es noch zwei be¬ 
deutende Fabriken, die von Kusnezow (Livland und Wladimir) — 
Umsatz 626,000 Rubel —, und von E. Gardener (Moskau) -- Um¬ 
satz ^00,000 Rubel —, welche die Porcellanfabrication in Verbin¬ 
dung mit-der Fayencefabrication betreiben. Die grösste russische 
Porcellanfabrik, zugleich diejenige, deren Fabricate nach denen der 
Kaiserlichen Porcellanfabrik in St. Petersburg das grösste Re- 
nomme gemessen, ist die der Gebrüder Kornilow mit einem jähr¬ 
lichen Umsatz von 165,000 Rubel. Die Porcellafle dieser Fabrik 
kommen, bis auf die hohen Preise, den ausländischen Fabricaten 
noch am nächsten. Im Allgemeinen gilt aber von der Porcellan¬ 
fabrication, was von der Glasfabrication gesagt wurde. Uebrigens 
kann man heute den Werth der Gesammtproduction auf I l /s Mill. 
Rubel veranschlagen. 


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440 


Fayencefabriken giebt cs nach der mehrfach angeführten Quelle 
44 mit 1032 Arbeitern und einem jährlichen Productionswerth von 
angeblich nur 359,590 Rubel, dagegen weist das Jahrbuch 616 
Thonwaarenfabriken und Töpfereien auf, welche 1715 Arbeiter be¬ 
schäftigen und eine Production im Werthe von 400,084 Rubel 
liefern sollen. Diese Angaben scheinen, selbst w T enn man den ge¬ 
ringen Werth der Fayence- und namentlich der Töpferwaaren in 
Anschlag bringt, doch zu niedrig gegriffen. Auf die 44. Fayence¬ 
fabriken würde nur eine Durchschnittsproduction im Werthe von 
8170 Rubel per Fabrik, auf die Thonwaarenfabriken eine solche von 
ä 649 Rubel entfallen, und dies scheint doch in Berücksichtigung 
der russischen industriellen Verhältnisse eine zu geringe Production 
zu sein. Man muss immer bedenken, dass durch derartige Fabricate, 
wie gerade die hier in Rede stehenden, der Bedarf von 80 Millionen 
Menschen gedeckt werden muss, und das kann mit der oben ange-' 
führten Production nicht geschehen. # 

11) Holz-Industrie. 

Der Export von rohen und ungearbeiteten Hölzern, sowie von 
Brettern, Schiffs- und andern Bauhölzern nimmt von Jahr zu Jahr zu, 
und erreichte in der letzten Zeit eine Höhe von 13 bis 14 Millionen 
Rubel jährlich. Der trefflichen Schiffsbauhölzer habe ich schon bei 
Besprechung der Forstabtheilung der Moskauer Ausstellung Er¬ 
wähnung gethan. Russland hat durch einen massenhaften und 
ziemlich unsystematischen Export dieser Hölzer das Capital .ange¬ 
griffen, das durch seine Waldungen repräsentirt wird, anstatt nur 
die Zinsen dieses Capitals zu benutzen. Es wird daher dringend 
nothwendig, für die Zukunft diesen Fehler zu vermeiden. Auch er¬ 
scheint es höchst wünschenswerth, auf den Export zugerichteter und 
bearbeiteter Hölzer noch mehr Gewicht zu legen, als. es bisher ge¬ 
schehen ist. Dies wird aber nur dadurch möglich, dass eine gere¬ 
gelte Forstcultur allgemein eingeführt und mit dieser der Betrieb 
forstvtfirthschaftlich - technischer Nebengewerbe eingeführt wird^ 
Auch hierüber habe ich mich Seite 150 d. Bl. fluchtig ausgesprochen. 
Mag auch die Zahl der Sägemühlen in Russland bedeutend sein . 
so entscheidet die Zahl allein doch nicht, sondern lediglich die Lei 
stungsfähigkeit dieser Mühlen, und letztere lässt im Allgemeinen 
noch sehr viel zu wünschen übrig. Die Gromow’schen, Bernadaki- 
schen, Wölirmann’schen Dampfsägemühlen etc. liefern den Beweis 
der Lucrativität derartiger Etablissements. — Auch andere Zweige 


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441 


der Holzindustrie, wie z. B. die Böttcherei (Fassbinderei) haben 
sich keineswegs noch in der Weise entwickelt und herausgebildet, 
wie dies möglich wäre. 

Die Tischlerei ist zwar sehr, verbreitet, doch erhebt sie sich tnit 
wenig Ausnahmen nur über den handwerksmässigen Betrieb. 
Namenlich muss es auffallen, dass im Zweige der Bautischlerei, 
welche doch jedenfalls einen Betrieb in grossartigerem Maassstabe 
gestattet, nur sehr wenige Etablissements vorhanden sind, welche 
durch Bearbeitung des Holzes mittelst Maschinen ihren Betrieb zu 
erweitern streben. Wir haben in dieser Beziehung nur erst Anfänge 
zu registriren. Für Möbeltischlerei giebt es namentlich in St. Peters¬ 
burg einige grössere Etablissements, welche sich bereits über dea 
handwerksmässigen Betrieb erheben, so die N. Stange’sche, früher 
Tuhr’sche Tischlerei, mit einem jährlichen Umsatz von 319,000 
Rubel, die Lizeray’sche mit einem Umsatz von 150,000 Rubel etc. 
Auch einig* Etablissements für Billardtischlerei gehören hierher. 
Die Anwendung von Holzbearbeitungsmaschinen' ist aber keines¬ 
wegs noch so verbreitet, wie dies wünschenswerth wäre und im 
Interesse der Industriellen läge. 

C. Producte aus dem Pflanzen-, Thier- und Mineral¬ 
reiche, welche einer chemischen Bearbeitung unter¬ 
zogen sind. 

12) Chemische und Farbewaarenfabriken, Zündholz- 

FABRICATION ETC. 

Nach Timirjascw giebt es im Europäischen Russland mit Aus¬ 
schluss Polens und Finnlands 278 Fabriken, welche sich mit der 
Erzeugung von verschiedenartigen chemischen Fabricaten, als: 
Chemiealien, FarbewaaVen, cosmetischen Mitteln, von Essig, künst¬ 
lichen Mineralwassern; Zündhölzchen, Lacken verschiedener Art und 
Siegellack beschäftigen, 6000 Arbeiter unterhalten und eine jähr¬ 
liche Production im Werthe von ca. 7 Millionen Rubel liefern. 

Hiervon sind 96 wirkliche chemische und Färbt waarenfabriken 
mit 2,570 Arbeitern und einer Production im Werthe von 4,747,075 
Rubel. Das Jahrbuch dagegen, dessen Angaben aus früheren- 
Jahren stammen, macht für Gesammtrussland 102 derartige Fabriken* 
namhaft, von denen 8 mit 418,720 Rubel Productionswerth auf den 
Kaukasus, 7 mit 532,720 Rubel Productionswerth auf das Zarthum 
Polen und 3 kleine Fabriken auf Finnland entfallen.' Wie wenig 
diese Fabriken im ßtande sind, den inländischen Bedarf zu decken, 


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442 


geht daraus hervor, dass Russland sehr bedeutende Quantitäten 
ausländischer Chemiealien und Farbewaaren importirt, so im 
Jahre 1870 für 13,416,973 Rubel Farbewaaren und für 4,233,185 
Rubel Chemiealien für den Gebrauch inländischer Fabriken. Dem¬ 
nach würde aus dem Auslande nahezu der vierfache Betrag der¬ 
artiger Waaren noch importirt werden, den Russland im Stande ist, 
in seinen eigenen Fabriken zu erzeugen. Dennoch ist die Leistungs¬ 
fähigkeit einzelner russischen Fabriken sehr bedeutend. So liefern 
u. A. Maljutin Söhne zu Dochtorow (Moskauer Gouvernement) jähr¬ 
lich für 21/2 Millionen Rubel Chemiealien, Krapp und andere Farbe¬ 
waaren, demnach mehr wie die Hälfte der oben angeführten Ge- 
sammtproduction, woraus schon hervorgeht, dass selbst die Timir- 
jasew’schen Angaben nicht mehr den gegenwärtigen Productions- 
verhältnissen entsprechen. Die Annahme von Buschen’s, dass der 
Werth der jährlichen Production von Chemiealien und Farbewaaren 
aller Art die Höhe von 8 Millionen Rubel erreicht, dürfte % daher kaum 
zu hoch gegriffen sein. In volkswirtschaftlicher wie in industrieller 
Beziehung wäre namentlich die Erzeugung künstlichen Sodas von 
grosser Wichtigkeit, da sich Russland in Bezug auf diesen wichtigen 
Hülfsstoft noch in der vollsten Abhängigkeit von England befindet, 

- indem der Import englischer Soda sehr bedeutend ist, beispiels- 
„ weise im Jahre 1870 — 910,706 Pud betrug. Die Anfänge, welche 
man in Russland mit der Fabrication von Soda gemacht hat,' stehen 
trotz des grossen Salzreichthums Russlands noch sehr vereinzelt 
da, und beschränken sich erst auf 2 bis 3 Fabriken. Es unterliegt 
gar keinenl Zweifel, dass die Sodafabrication in grösseren Verhält¬ 
nissen nicht nur in Russland ausführbar, sondern auch sehr nutzbar 
und lucrativ sein dürfte. Ueber die Salzprgduction Russlands" hat 
die ,,Russische Revue“ im 1. Hefte S. 100 bereits authentische 
Nachrichten gebracht. Unter die chemischen Fabricate, welche* 
einen mehr speciell russischen Character tragen, gehört das Eier- 
Albumift, welches in Kasan und Moskau fabricirt wird, und das eben 
nur in Gegenden gewonnen werden kann, welche so reich an Hüh¬ 
nereiern sind, .wie die Wolgagegenden Russlands. Seitdem man 
übrigens in Russland angefangen hat, Blutalbumin in grösserem 
Maassstabe (in den Schlächtereien von St. Petersburg und Moskau) 

' zu fabriciren, tritt die Eieralbuminfabrication schon sehr in den 
Hintergrund. 

Mit der Entwickelung der russischen Industrie im Allgemeinen 

wird auch die Fabrication von Chemiealien und Farbewaaren Hand 

% • 


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443 


in Hand gehen müssen, wenn nicht im Industrieleben Russlands 
eine sehr fühlbare Lücke entstehen soll. & 

Die Fabrication von Zündhölzchen ist verhältnissmässig weit ent¬ 
wickelter als die andern Zweige der chemischen Production, und 
giebt es nur im Europäischen Russland allein 79 derartige Fabriken 
mit L 955 Arbeitern und einer Production im Werthe von 452,555 
Rubel. Hierzu kommen noch einige grössere Fabriken Finnlands 
und Polens, so dass der Werth der jährlichen Production auf höher 
als */* Million Rubel steigt. Die BjörneborgscWzn Streichhölzer sind 
berühmt und werden auch nach dem Auslande exportirt; dasselbe 
gilt auch von russischen Fabricaten. 

Cosmctische Erzeugnisse stammen vorzugsweise aus St. Peters¬ 
burger, Moskauer und Warschauer Fabriken. Im Europäischen 
Russland giebt es im Ganzen 25 solcher Fabriken mit über 500 
Arbeitern und einer Production im Werthe von 1 */» Million Rubel. 
Von diesen Fabriken entfallen nur 4 kleinere nicht auf St. Petersburg 
und Moskau. In Warschau befinden sich überdem noch 3 grössere 
Fabriken cosmetischer Mittel und Präparate. 

Ziemlich entwickelt ist die Fabrication verschiedenartiger Lacke, 
und würde dies wahrscheinlich in noch umfangreichererWeise derFall 
sein, träten dem nicht die in Folge der Branntweinaccise hervorgeru¬ 
fenen hohen Spirituspreise hindernd entgegen. Man zählt in Russ¬ 
land 29 Lackfabriken, undTimiijasew giebt den Werth ihrer jährlichen 
Production mit 489,143 Rbl. an, was ihren heutigen Leistungen nicht 
mehr entspricht. Heute werden schon für wenigstens I Million Rbl. 
Lacke in Russland fabricirt. Auf der letzten St. Petersburger Aus¬ 
stellung waren 10 Fabriken vertreten, welche zusammen eine Pro¬ 
duction im Werthe von 727,000 Rubel lieferten. Diese Vergleiche 
sind deshalb von hohem Interesse, weil sie beweisen, wie rasch sich 
alle Zweige der russischen Industrie entwickeln, und wie sehr 
sie ihre Production vön Jahr zu Jahr steigern. Uebrigens kann 
Russland hinsichtlich der Fabrication von feinen Lacken nicht mit 
dem Auslande concurriren und die feinen französischen und eng¬ 
lischen Lacke sind auch heute noch der russischen Industrie unent¬ 
behrlich. 

13) Talg-Industrie. 

Russland gehörte zu den Ländern, welche den meisten Talg er- - 
zeugten und exportirten. Heutehaben Talgproduction so wieTalgex- 
port bedeutend abgenommen. Man hat zum grossen Theil das un- 


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444 


wirtschaftliche Nicderschlachtcn ganzer grosser Rindvieh- und 
Schatheerden, lediglich zum Behufe der Talggewinnung, aufg^ge- 
ben, und dies würde jedenfalls als ein Fortschritt zu betrachten sein, 
wäre nicht die Verminderung der Viehbestände die in anderer Bezie¬ 
hung weniger erfreuliche Ursache davon. Diese Umstände erklären 
auch zugleich das Sinken des Talgexportes. Eine andere Ursache 
findet dieses letztere in der zunehmenden Concurrenz Amerikas, 
dessen Talgexport sich von Jahr zu Jahr vergrössert. Nicht nur, dass 
man in England, Oesterreich und Preussen schon überseeischen 
Talg anstatt des russischen verarbeitet, es findet der amerikanische 
Talg sogar schon Absatz bis nach Warschau. Während noch vor 
8—io Jahren ausRussland 4*,2 MillionenPudTalg ausgeführt wurden, 
war diese Ausfuhr im Jahre 1871 nach und nach schon auf 
931,976 Pud gesunken. Eine erfreuliche Ursache dieses Sinkens ist 
aber auch der Umstand, dass die russische Industrie selbst heute 
weit mehr Talg verarbeitet wie in früheren Jahren. Die Stearin- und 
Seifenfabrication haben grosse Dimensionen angenommen, und die 
P'abrication von Talglichtern hat sich mindestens nicht vermindert. 
In sehr vielen Etablissements geht diese letztere mit der Fabrication 
von Seife Hand in Hand. Dies ist wohl auch die Ursache, dass die 
russischen Statistiker, z. B. Timirjasew, beide Industriezweige Ge¬ 
meinsam aufführen. Letzterer giebt die Zahl der Seifen- und Lichter¬ 
fabriken im Europäischen Russland.auf 874 mit 2,734 Arbeitern und 
eine Production im Wert he von 6,606,325 Rbl. an. Das Jahrbuch 
dagegen berechnet die Zahl .der Seifenfabriken allein für Ge- 
sammtrussland, inclusive Polens, des Kaukasus und Sibiriens, auf 
353 mit einer jährlichen Production im Werthe von 4,892,107 
Rubel. — Grössere oder minder grosse Seifensiedereien giebt es # in 
allen Theilen Russlands, die meisten in Tobolsk (32), Tambow und 
Eriwan (29), Perm (22), Tomsk (17), Archangelsk (16), Kursk, Ssara- 
tow und Tiflis (ä 11), Moskau, Woronesh, Orel und Stawropol (ä 10), 
Rjäsanund Wolhynien (8), St. Petersburg, Charkow, Jekaterinosslaw, 
Ssamara, Warschau und Irkutsk (ä 6) etc. Die höchste Production 
liefern die Gouvernements Moskau (über 1 Million Rbl.), St. Peters¬ 
burg (4 bis 500^000 Rbl.), Chersson und Kursk (2 bis300,000 Rbl.). 
Die Kybersche Seifenfabrik in Moskau allein liefert eine jährliche 
Production im Werthe von 700,000 Rbl. Die Krestownikow’sche 
Stearin- und Seifenfabrik in Kasan wohl eben eine solche, wenn nicht 
eine noch höhere. Die Kasanschen Seifen gemessen eines besonderen 
Renomm6e§. Die russische Seifenfabrication ist von hoher Wichtigkeit 


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445 


und verdient die vollste Aufmerksamkeit der russischen Industriellen. 
Gelingt es, die ihr nothwendige Soda im Lande zu erzeugen, so sind 
bei ihr alle Bedingungen erfüllt, welche man an eine gesunde Indu¬ 
strie stellen kann und es ist dann auch zu hoffen, dass russische 
Seife ein sehr bedeutungsvoller Exportartikel werden dürfte. 

Nahezu dasselbe gilt von der Stearin/ab rication. Das Jahrbuch 
führt 16 Stearinfabriken mit 2137 Arbeitern und einer Production von 
7,337,642 Rbl. huf. Timirjasew berechnet den Werth der jährlichen 
Production der 10 russischen Fabriken auf 5,190,290 Rbl. Nach den 
Angaben aber, welche der grösste Theil der Stearinfabrikanten gele¬ 
gentlich der letzten St. Petersburger Ausstellung gemacht hatte, erhebt 
sich die jährliche Production sämmtlicher Stearin fab riken auf die 
Werthsumme von 10,768,269 Rbl. In letzterer Summeistallerdings auch 
der Werth der Seife mit einbegriffen, welche aus dem Olein als Ne- 
benproduct gewonnen wurde. Jedenfalls zeigt diese letzte Angabe 
aber, dass die Stearinfabrication in Russland grosse Dimensionen 
angenommen hat, wenn auch die Zahl der Fabriken selbst keine 
sehr bedeutende ist. Die grösste und leistungsfähigste Stearinfabrik 
(ohne Seifenfabrik) ist die St. Petersburger Newski-Fabrik (Kasalet 
& Co ) mit einer jährlichen Production im Werthe von 3,900,000 Rbl., 
dann folgt die Stearin- und Seifenfabrik der Gebrüder Krestownikow 
in Kasan (2,460,000 Rbl.), die Gesellschaft der Kaletowschen Lichte 
in Moskau (1,150,000 Rbl.), die Moschninsche Fabrik im Moskau- 
schen Gouverrtement, Dorf Martjarow und die Petrowsche Fabrik in 
Jelez (ä 600,000 Rbl.), die Gawisskische Actiengesellschaft in Wy- 
borg (300,000 Rbl.) u/A. Ausserdem giebt es auch noch Fabriken 
im Gouvernement Minsk, Perm und Wjatka, und 5 Fabriken im 
Zarthum Polen. Trotz der ansehnlichen Steigerung der Stearinfa¬ 
brication in Russland, ist doch der Export von Stearin und Stearin¬ 
lichtern im Ganzen ein unbedeutender, was um so mehr zu beklagen 
ist, als in früheren Zeiten russische Stearinlichte zu den gesuchten 
Artikeln auch ausserhalb Russlands zählten. 

14) Oelfabrication. 

v. Buschen berechnet den Werth der jährlich in Russland ge¬ 
pressten verschiedenartigen Oele auf 1 1 ‘/4 Millionen Rbl. Die Haupt¬ 
masse des producirten Oeles bildet das Hanf- und Leinöl, welche 
auch, so wie das Sonnenblumenöl, als Exportartikel eine hervorra¬ 
gende Rolle spielen. Dieser Export ist aber nicht gleichmässig hoch, 
und namentlich in den letzten Jahren zeigt sich eine Abnahme des- 


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446 


selben. Im Jahre 1868 exportirte Russland über seine Europäische 
Zollgrenze noch 143,622 Pud Hanf- und Leinöl (689,385 Rbl.), 1869 
fiel dieser Export auf 69,910 Pud und 1870 sogar auf 2081 Pud. 
Sonnenblumenöl wurdeim Jahre 1868—21,974 Pud (94,489 Rbl.) ex- 
portirt, 1870 dagegen gar keines. Der Consum von Oel ist in Russ¬ 
land sehr bedeutend und als Ursache davon kann die lange Fasten¬ 
zeit angesehen werden. Die stärkste Oelfabrication wird im Gouver¬ 
nement Kursk betrieben, in welchem es 42 grössere Oelfabriken 
und 150 landwirtschaftliche Oelmühlen giebt. Aber ausserdem 
existiren in St. Petersburg, Moskau, Riga, Odessa u. a. O. sehr be¬ 
deutende Etablissements, welche nicht nur für den iünern Consum, 
sondern auch für den Export arbeiten. Ich erwähne nur die St. Pe¬ 
tersburger russische Dampfölfabrik (Kasalet & Co.), welche jährlich 
100, (XX) Pud Leinöl und 300,000 Pud Oelkuchen, beides im Werthe 
von 800,000 Rbl. producirt, mit starker Dampfkraft und auf 12 hy¬ 
draulischen Pressen arbeitet. Unter den Odess^er Oelmühlen ist die 
von M. J. Bljumski, unter den Rigaer die von K. Schmidt, und 
unter den Warschauern die von J. R. Bornstein hervorzuheben. 

15) Naphthagewinnung. 

Da dieselbe nur auf den Kaukasus und auf Turkestan entfällt, 
so verweise ich auf das, was ich hierüber bei Besprechung der kau¬ 
kasischen und turkestanschen Productionsverhältnisse (im 3 und 4. 
Hefte der „Russischen Revue“) gesagt habe. 

16) Leder, Lede-rfabricate & Pelzwaaren. 

Der grosse Viehreichthum Russlands bedingt auch einen entspre¬ 
chenden Reichthum an Rohleder, das zu den bedeutendsten Export¬ 
artikeln Russlands gehört. Dieser Export überwiegt auch bedeutend 
den von bearbeitetem Leder; während von letzterem (vorzugsweise 
Juchten) 1868 — 40,239 Pud (für 615,249 Rbl.), 1869 — 28,430 Pud 
und 1870—27,303 Pud exportirt wurden, belief sich der Export von 
Häuten (Rohleder) 1868 auf 343,143 Pud (2,386,355 Rbl.), 1869 auf 
358,660 Pud und 1870 auf 176,038 Pud. Vom Jahre 1861 bis 1868 
war der Export von Rohleder uni 131%, der von beärbeitetem Leder 
nur um 300/0 gestiegen. Dies characterisirt die russische Lederin¬ 
dustrie und zeigt, dass sie keineswegs gleichen Schritt mit der Ent¬ 
wickelung der ausländischen Lederindustrie gehalten hat, denn sonst 
müsste auch der Export von bearbeitetem Leder bedeutender sein, 
als es der Fall ist. 


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447 


Nach Timirjasew giebt es im Europäischen Russland (ohne Polen) 



Zahl 

der 

Höhe der Production 


Fabriken 

Arbeiter 

in Rubel 

Gerbereien. 

2,584 

> 1.545 

14,906,797 

Saffianfabriken. 

35 

1,164 

>,245,163 

Sämischlederfabriken . . 

77 

179 

46,393 

Lacklederfabriken .... 

9 

206 

259,400 

Hierzu kommen noch 
nach dem Jahrbuche des 
Finanzministeriums im Zar- 
tkürn Polen: 

2,705 

13.094 

> 6 , 457,753 

Gerbereien etc. 

272 

1,259 

1,894,638 

Im Grossf. Finnland . . . 

32 

114 

60,765 

In Sibirien. 

219 

998 

1,825,714 

Im Kaukasus. 

75 

> 99 ') 

120,170 SO 

dass im Gesammtgebiete 


/ 


Russlands existiren .... 

3,303 

15,664 

20,359,040. 


Schon diese Zusammenstellung genügt, um darzuthun, dass die 
Bearbeitung von Leder einen der bedeutendsten Industriezweige 
Russlands bildet, indem kein anderer eine so grosse Anzahl von ihm 
eigentümliche Etablissements aufzuweisen hat. Die grösste Anzahl 
derselben befindet sich in den Gouvernements Warschau (239), To- 
bolsk (139), Ssaratow (127), Wolhynien (121), Perm (117), Nishnij* 
Nowgorod (104), Witebsk (100). Die höchste Production dagegen 
liefern die Gouvernements St. Petersburg, Warschau, Tobolsk, Orel, 
Moskau, Wjatka, Kasan, Twer (sämmtlich über 1 Million Rbl. jähr¬ 
lich). Die Fabrication von rothen und schwarzen Juchten hat die 
russische Lederindustrie berühmt gemacht, trotzdem ist aber nur ein 
sehr geringer Theil der fabricirten Leder exportfähig, da das Ausland 
weit höhere Ansprüche an die Qualität des Leders stellt, wie das 
Inland. Es können nur etwa 15 — 200/0 der erzeugten Lederwaaren 
exportirt werden, obgleich das Ausland weit höhere Preise gewährt 
wie das Inland. Dieser Umstand zeigt mehr als alles Andere, dass 
die russische Lederindustrie trotz des Renommes, dessen sie sich 
erfreut, noch keineswegs eine hohe Entwickelungsstufe erreicht hat; 
er erklärt zugleich aber auch, warum der Export von bearbeitetem 


*) Theilweise unbekannt. 


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448 


Leder so sehr hinter dem von Rohleder zurückbleibt. Das Ausland 
würde bereitwilliger Käufer von russischem Juchtenleder sein, wenn es 
nur im Stande wäre, solches in erforderlicher Quantität und Qualität 
zu erhalten. In anderen Ledersorten als Sohlenleder, Deckenleder, 
Riemenleder, Chagrin- und namentlich Lackleder steht das russi¬ 
sche Fab ricat dem ausländischen noch sehr bedeutend nach, obgleich 
ein grosser Theil der russischen, namentlich der Warschauer Fa¬ 
briken alle Anstrengungen macht, die berührten Lederindustriezweige 
nach Kräften auszubilden. Es findet daher auch noch ein lebhafter 
Import der oben genannten Ledersorten aus dem Auslande statt. 
Saflfianleder wird in guter Qualität in Russland, namentlich in Moskau 
erzeugt. Das Kasansche Chagrin- (Ziegen-) Leder ist von hoher Qua¬ 
lität und deshalb gesucht, doch wird es nur in geringer Quantität 
erzeugt. In der Bearbeitung von Pferdeleder ist Russland auffallender- 
weise noch zurück, trotz des grossen Reichthums an Rohleder dieser 
Art. Dagegen ist man in der Bearbeitung von Füllenleder, als Hand¬ 
schuhleder, ziemlich weit und versteht man dasselbe so zuzurichten, 
dass ma^i es vom Ziegenleder kaum zu unterscheiden vermag. Der 
Hauptsitz der Juchtenlederfabrication ist das Gouvernement Ko- 
stroma und gilt der dortige juchten als der beste. Neuerdings liefern 
aber auch St. Petersburger und Kasansche Fabriken guten Juchten. 
In der Saffianfabrication zeichnet sich besonders Moskau aus; 
die dortige J. Schuwalow’sche Fabrik verarbeitet jährlich gegen 
Million Häute zu Saffianleder, und liefert eine jährliche Pro¬ 
duction im Werthe von 860,000 Rbl. Die grösste Lederfabrik Russ¬ 
lands ist die der Gebrüder Ssawin in der Stadt Ostraschkow (Gou¬ 
vernement Twer). Sic beschäftigt 700 Arbeiter und erzielt eine 
jährliche Production im Werthe von I Million Rbl. Die meisten und 
bedeutendsten Lederfabriken giebt es in St. Petersburg. Die Fabri¬ 
ken von N. Brussnizyn (806,000 Rbl.), F. Jegorow (450,000 Rbl.) 
A. Schwerkow (422,500 Rbl.), J. Küssow Söhne (300,000 Rbl.), 
R. Kamjentschikow u. Th. Hausch (ä 250,000 Rbl.), endlich die Ge¬ 
sellschaft der Wladimirschen Lederfabrik sind die bedeutendsten. 

Sehr tüchtige und hervorragende, dabei ihrer Fabrication nach 
vielseitige Fabriken giebt es in Warschau. Die Lederfabriken von 
Temler & Schwede (Umsatz 610,000 Rbl.), K. Schlenker (356,100 
Rubel), Pfeifer (225,000 Rbl.), Lidke (200,000 Rbl.), Fröhlich 
(126,000 Rbl.) sind Etablissements c**;ten Ranges. 

Ein anderer wichtiger Zweig der Lederindustrie ist die Leder¬ 
zurichtung zu Stiefelschäften, welche sich ebenfalls vorzugsweise 


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_ 449_ 

in St Petersburg concentrirt hat. Die russischen Stiefelschäfte aus 
Juchtenleder bilden einen gesuchten Exportartikel, können aber, 
wenn man an einer guten Qualität festhält, kaum in der gewünschten 
Menge producirt werden. Kalblederne Schäfte eignen sich dage¬ 
gen trotz ihrer trflflichen Qualität nicht zum Export, da sie sich für 
diesen Zweck zu theuer stellen. 

Die Schuhwerkfabrication selbst hat als fabrikmässig betriebener 
Industriezweig in Russland noch keine Bedeutung, obgleich genü¬ 
gende Veranlassung hierzu vorläge. Die Etablissements, welche ge- 
wissermassen sich das Ansehen solcher Fabriken geben, lassen bei 
einer Masse kleinerer Meister arbeiten, welche ihr Gewerbe rein 
handwerksmässig betreiben. Dagegen wird in vielen Gegenden 
Russlands, namentlich im TwerSchen Gouvernement, die Schuh¬ 
macherei als ein sehr verbreiteter häuslicher Industriezweig betrieben, 
ja sie hat bereits den Character einer „Gemeindeindustrie“ ange¬ 
nommen. In Kymra (Gouvernement Twer) wird jeden Sonnabend 
eine Art Messe oder Jahrmarkt abgehalten, auf welcher die St. Pe¬ 
tersburger und Moskauer Schuhwaarenhändler ihre Magazine 
füllen. 

Die Handschuhfabrication, früher fast ausschliesslich nur in den 
Händen von Franzosen, geht nach und nach in die von Russen und 
Deutschen über. Der Zollverhältnisse wegen werden im Ganzen wenig 
fertige französische und auch Wiener Handschuhe importirt, um so 
mehr aber zugeschnittenes Handschuhleder, welches namentlich in 
St. Petersburger Etablissements fertig genäht wird. Hier befinden 
sich auch mehrere Etablissements für Handschuhe aus Füllenleder; 
das sonstige Handschuhleder kommt grösstentheils aus dem Aus¬ 
lande. Ausser in St. Petersburg giebt es noch in Moskau und War¬ 
schau bedeutendere Etablissements für Handschuhfabrication. Die 
grösseren derselben liefern jährlich io bis 15000 Dutzend Hand¬ 
schuhe im Werthe von 140 bis 150,000 Rbl. Eine bedeutendere Fabrik 
zur Erzeugung von Handschuhledei^, zugleich mit einer Handschuh¬ 
macherei verbunden, ist die y von A. Prostow in Charkow, welche 
jährlich 1150,000 Stück Handschuhlcder (Felle) — Füllen- Ziegen- 
und Schwedischleder — liefert. 

Pelzwaarenfabrication . Bekanntlich ist Russland, namentlich aber 
Sibirien reich an edlen Pelzthieren. Die sibirischen Zobel, Biber und 
Hermeline behaupten noch immer den ersten Platz. Russland expor- 
tirt daher auch jährlich an 40,000 Pud diverser Pelzwerke im Werthe 
von I Million Rbl. Der Export fertiger Pelzwaaren ist jedoch un- 

30 


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45ö 


bedeutend. Nichts destoweniger kann die Kürschnerei als ein sehr 
entwickelter Industriezweig angesehen werden, in welchem hier mehr 
geleistet wird, wie im Auslande. Wenn es auch keine so grossen 
Pelzhandlungen giebt wie in London oder selbst in Leipzig, so giebt 
es doch in St Petersburg und Moskau Etablissements von der aller¬ 
grössten Bedeutung; so erzielt z. B. M. J. Odnuschewski in St. Pe- 
tersburg einen jährlichen Umsatz von 700,000 Rbl. und beschäftigt 
200 Arbeiter. Im Allgemeinen aber kann die Kürschnerei nicht als 
ein Zweig der russischen Grossindustrie angesehen werden und die 
einzelnen Werkstätten haben eine weit grössere Geltung als Handels-, 
wie als Industrieetablissements. 

17) Kautschuk- und .Gutta-Perchafabricate, 

Wachsleinwand. 

In der Actiengesellschaft der russisch-amerikanischen Gummima- 
nufactur besitzt St Petersburg ein Etablissement ersten Ranges, das 
mit jeder ausländischen derartigen Fabrik concurrirenkann. Vielleicht, 
dass diese letzteren in derFabrication chirurgischer Hülfsmittel etwas 
weiter sind, da diese noch vielseitig aus dem Auslande nach Russland 
importirt werden. Die obengenannte Manufactur liefert alle Erzeug¬ 
nisse, welche in die Gummiwaarenfabrication einschlagen und erzielt 
einen jährlichen Umsatz im Werthe von 1 V2 Millionen. Eine zweite, 
auch in grossem Maassstabe angelegte Fabrik ist noch im Baue be¬ 
griffen. Die Fabrik von E. Lerch in Moskau beschäftigt sich vorzugs¬ 
weise mit der recht gelungenen Anfertigung von Gummi-Gespinnst 
zu Stiefeleinsätzen etc., und fertigt deren über 600,000 Arschinen 
jährlich. Eine kleinere Gummiwaarenfabrik giebt es nur noch in 
Riga.—Mit der Anfertigung von Wachsleinwand, Wachstuch (Klionka) 
und wasserdichten Stoffen beschäftigen sich nur 7 Fabriken, unter 
denen die bedeutendste die von A. W. Huck in »St. Petersburg ist, 
da ihr Fabricat den gleichwerthigen ausländischen an wenigsten 
nachsteht. Im Allgemeinen aber ist letzteres beim russischen Fa- 
bricate der Fall. Ein bedeutenderes Etablissement zum Wasser¬ 
dichtmachen von Leinwand und Segeltuch zu Wagendecken etc., ist 
das von N. Müller in St. Petersburg. 

18) Papier-Fabrication, Tapeten-Fabrication. 

Die hohen Papierpreise in Russland stehen in directem Wider¬ 
spreche mit den verhältnissmässig niedern Lumpenpreisen, welche 
letztere auch Veranlassung geworden sind, dass grosse Quan¬ 
titäten dieser Lumpen alljährlich aus Russland nach dem Aus¬ 
lande exportirt werden. Auch die Zahl der Papierfabriken ist 


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keine geringe und fast jedes Gouvernement weist eine oder 
mehrere derselben auf. Viele dieser Etablissements sind mit den 
besten Hülfsmitteln ausgestattet, so dass sie auch in ‘ ihren 
Leistungen, wenigstens was die Fabrication gewöhnlicher Papier¬ 
sorten anbelangt, kaum hinter denjenigen ausländischer Fabriken 
Zurückbleiben. Unter solchen Umständen scheinen die hohen Papier¬ 
preise kaum gerechtfertigt, wenn sie sich auch durch die hohen 
Eingangszölle erklären, welche auf den ausländischen Papieren 
lasten. Ungeleimte Papiere zahlen 2 Rbl., geleimte 3 Rbl. Zoll 
per Pud, also 50 bis 75°/o ihres Werthes. Dass trotzdem nicht 
unbedeutende Quantitäten ausländischen Papieres nach Russland im- 
portirt werden, liefert den Beweis, dass die russische Papierfabri- 
cation ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen ist. Wäre der Eingangs-' 
zoll niedriger, der Import ausländischer Papiere würde ein sehr be¬ 
deutender sein, um so mehr, als der Papierconsum in Russland von 
Jahr zu Jahr steigt und die inländische Papierfabrication den Anfor¬ 
derungen, welche an sie gestellt werden, durch gleichzeitige Steige¬ 
rung ihrer Production nicht entspricht. Unter diesen Umständen 
wurde, namentlich in der letzten Zeit, mehrfach in der russischen 
Presse fiir eine gleichzeitige Reduction des Eiilgangszolles fiir Papier 
und eine entsprechende Steigerung des Ausgangszolles für Lumpen 
plaidirt, wenn auch bisher (und wir möchten im Interesse der Bildung 
sagen leider) ohne Erfolg. 

In 36 Gouvernements des Europäischen* Russlands giebt es 'nach 


Timirjasew) 

Papierfa- * 

Arbeiter 

Jährliche Production 

in Sibirien . . . 

Nach dem 

briken 

*34 

3 

8,054 

32 

im Werthe von 

5,522,181 Rbl. 
2,137 

im Zarthum Polen 

Jahrbuche 

16 

776 

584,655 

Im Grossfürsten¬ 
thum Finnland, 

des Finanz¬ 
ministeriums 

7 

324 

174,373 


Summa 

160 

9,176 

6,283,346 Rbl. 


Diese Angaben in Betreff des Zarthums Polen und Finnlands ent¬ 
sprechen den gegenwärtigen Verhältnissen in keiner Weise. Von deü 
16 polnischen Fabriken sind die Betriebsverhältnisse von 5 grösseren 
Fabriken genau bekannt, und diese letzteren allein liefern schon eine 
jährliche Production im Werthe von 635,000 Rbl. Ebenso lieferten 
im Jahre 1870 zwei finnländische Fabriken, die von Frenkel & Sohn 
und die Terwakosser Actiengesellschaft eine Production im Werthe 
von 490,000 Rbl. Man kann demnach, da auch die meisten russi- 

30* 


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452 


sehen Fabriken ihre Production in den letzten Jahren sehr ansehnlich 
gesteigert haben, den Werth des jährlich in Russland producirten 
Papieres auf 8 Vs bis 9 Millionen veranschlagen. 

Die meisten Papierfabriken giebt es in den Gouvernements: Kaluga 
15, St. Petersburg 12, Moskau 10, Wjatka 9, Wilna und Wladimir ä 7, 
Livland und Ufa ä 6, Tschernigow, Jarosslaw und Wolhynien ä 5, 
Kostroma, Kursk, Orel und Ufa ä 4, Nowgorod, Perm, Ssmolensk 
und Charkow ä 3 etc. Die grössten Fabriken giebt es dagegen in 
den Gouvernements St. Petersburg (Umsatz über 1 Vs Million), 
Kaluga (1 Million), Livland ( l /a Millionen), Nowgorod (V2 Million), 
Jarosslaw (400,000), Moskau (350,000), Pensa (300,000), Wladimir 
und Wolhynien (250—300,000 Rubel). — Die grösste und zugleich 
eine der besten Papierfabriken Russlands ist die Gesellschaft der 
Troitzki-Kondrowoer Papierfabrik (W. Howard & Co.) im Dorfe 
Kondrowo des Kalugaschen Gouvernements. Diese Fabrik erzeugt 
jährlich 300,000 Ries diverser Papiere, darunter auch bessere Brief¬ 
papiere im Wcrthe von 800,000 Rubeln und beschäftigt hierbei 800 
Arbeiter. Unter den St. Petersburger Fabriken ist die der Gebrüder 
Wargunin die bedeutendste und dürfte hinsichtlich ihrer jährlichen 
Production der vorgenannten kaum nachstehen. Derselben Firma 
gehört die ebenfalls sehr bedeutende Uglitscher Papierfabrik (Gou¬ 
vernement Jarosslaw). Ein leistungsfähiges und renommirtes Eta¬ 
blissement ist auch die Rigaer Papierfabrik (Actiengesellschaft) mit 
einer jährlichen Production im, Werthc von 400,000 Rbl. Sehr be¬ 
liebt wegen ihrer guten Qualität sind auch die finnländischen 
Papiere, namentlich die aus den beiden oben genannten Fabriken. 
Von den polnischen Fabriken ist die grösste die von J. Eppstein im 
Kreise Gostynin des Warschauer Gouvernements. 

Im Allgemeinen ist die Qualität der russischen Papiere nicht 
schlecht, und da man hier noch immer weniger Holzmasse dem 
Papierzeuge zusetzt, wie gegenwärtig im Auslände (aus welchem man 
theilweisc noch diese Holzmasse bezieht), so ist das russische Papier 
weniger brüchig als das ausländische. Andererseits geht ihm aber 
der Körper und die Weisse des letzteren ab. In feinen Briefpapieren 
jst Russland noch am Weitesten zurück, und kann daher das ausländi¬ 
sche Fabricat nicht entbehren. Auch in feineren Druckpapieren 
leistet das Ausland weit mehr, doch hindert hier der hohe Eingangs¬ 
zoll den Import. 

An guten Pappfabriken ist in Russland entschiedener Mangel, 
indem es nur sehr wenige derartige Fabriken giebt. Neuerdings hat 


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453 


A. Neumann eine solche in St. Petersburg angelegt, vorzugsweise 
wohl zur Erzeugung seiner trefflichen Dachpappen. In Finnland, sowie 
im Nowgorodschen Gouvernement hat man neuerdings Fabriken zur 
Erzeugung von Holzmasse angelegt. Die älteste derselben ist die im 
Jahre 1863 gegründete von W. Passburg in Okulowki (Nowgo- 
roder Gouvernement). Es ist ganz zweckmässig, dass man sich bei 
den immer steigenden Lumpenpreisen diesem Industriezweige zu¬ 
wendet, da noch ein entschiedener Mangel an einem Surrogate 
herrscht. Die Papierfabrik der Expedition zur Anfertigung von 
Staatspapieren (S. 162 d. Bl.) fertigt Hanfpapier, das sich durch be¬ 
sondere Haltbarkeit auszeichnet. 

Die Tapetenfabrication ist ziemlich entwickelt, und die russischen 
Tapeten sind, wenn auch nicht unbedeutend höher im Preise als die 
ausländischen, doch von guter Qualität. Viel hat zur Entwickelung 
dieses Industriezweiges der Umstand beigetragen, dass man in Russ¬ 
land, namentlich in allen Städten und selbst auf dem Lande, alle 
Zimmer tapeciert, was im Auslande nicht allenthalben der Fall ist. 
Man zählt in Russland 26 Tapetenfabriken; davon entfallen 20 auf 
die Gouvernements des Europäischen Russlands, 3 auf Polen und 3 auf 
Finnland. Die meisten (11) und zugleich grössten Fabriken giebt es in 
St. Petersburg, dann folgt Moskau mit 7 und Warschau mit 3 Fabri¬ 
ken. Die grösste Fabrik in Russland ist die St. Petersburger Com¬ 
pagnie der Tapetenfabrik Camuset (Productionswerth 200,000 Rbl.), 
dann folgt Götschy mit einem Umsatz von 100,000 Rbl. Die Mos¬ 
kauer Fabriken sind weit kleiner. Von Warschauer Fabriken ist die 
bedeutendste die von A. Vetter & Co. (Umsatz 45,000 Rubel) und von 
finnländischen die von G.Riks mHelsingfors (Umsatz 65,000 Rubel). 
Der Werth der Gesammtproduction Russlands an Tapeten kann auf 
800,000 bis 1 Million Rubel veranschlagt werden. 

Die fabrikmässig betriebene Buchbinderei zeigt erst Anfänge. Es 
giebt in St. Petersburg, Moskau und Riga Etablissements, welche 
schon in grösseren Verhältnissen die Buchbinderei, namentlich die 
Anfertigung von Comptoirbüchern etc. betreiben. So liefert z. B. 
I. Rumänin in Moskau jährlich 100,000 Stück solcher Bücher im 
Werthe von 70,000 Rubel. A. Lomkowski in St. Petersburg ver¬ 
kauft jährlich für 100,000 Rubel Comptoirbücher, Portefeuilles und 
andere Buchbinderarbeiten und beschäftigt 100 Arbeiter. A. Frei¬ 
berg (Firma A. Lyra) in Riga reiht sich den Vorgenannten hin¬ 
sichtlich der Productionsleistung an. Trotzdem ist man in Russländ 


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noch weit davon entfernt das zu leisten, was das Ausland im fabrik- 
mässigen Betriebe leistet. Dagegen aber ist die russische Arbeit, 
wenn auch theurer, doch im Einzelnen haltbarer und solider, anderer¬ 
seits aber auch weniger geschmackvoll. 

D. Erze» Metalle und daraus gefertigte Fabricate. 

19) Gusseisen, Schmiedeeisen und Stahl. 

Die Qualität des russischen, namentlich des Uralschen Eisens ist 
ganz vorzüglich und kann letzteres an Güte dem englischen und 
schwedischen Eisen zur Seite gestellt werden. Die grosse Entfer¬ 
nung der russischen Eisenwerke von den Centralpunkten der In¬ 
dustrie und der immer fühlbarer werdende Mangel einer Eisenbahn, 
welche einen billigen Transport des Eisens aus dem Ural nach der 
Wasserstrasse der Kama und Wolga vermitteln könnte, ist die Ur¬ 
sache, dass das treffliche Uralsche Eisen von der russischen Industrie 
noch nicht in dem Verhältnisse benutzt werden kann, wie dies die 
grossartigen Productionsverhältnisse gestatten würden. Die russi¬ 
schen Industriellen benutzen daher noch vielseitig ausländisches, 
namentlich englisches Eisen, das sie theilweise, je nach Verhältniss 
ihres Bedarfs, zollfrei einführen. 

Die russischen Eisenhüttenwerke werden officiell in folgende Berg 
bezirke eingetheilt, aus welchen zugleich diejenigen Gouvernements 
zu ersehen sind, in welchen sich Eisenwerke in abbauenswerthem Zu¬ 
stande befinden: 

1) Uralische Kronshütten und ausseruralische Kronshütten -— 13 
Werke. -— 2) Hütten des Kabinets Sr. Majestät der Kaisers (Altai, 
Nertschinsk) — 3 Werke. 3) Privatwerke im Uralschen Bergbezirk 
jm Gouvernement Perm, Ufa, Orenburg und Wjatka — 53. 4) Mos¬ 
kauer Bergbezirk a ) I.Bergbezirk: Gouvernement Wladimir, Nishnij- 
Nowgorod, Tambow und Kostroma, b) 2. Bergbezirk: Gouvernement 
Kaluga, Rjäsan, Orel, Pensa und Tula — 29. 5) Andere Hütten¬ 

werke des Reiches: a) Privathütten im Kaukasus — 1, b) Hütten¬ 
werke, welche nicht zum Ressort des Bergdepartements gehören 
(Westliche Provinzen) — 8, c) Privathütten in Sibirien — 2. 
6) Kronshüttenwerke im Zarthum Polen — 7. 7) Privathütten im 

Zarthum Polen — 6. 8) Privathütten in Finnland — 17. 

Im Ganzen giebt es demnach nach Skalkowsky im Gesammt- 
gebiete Russlands 139 Eisenhüttenwerke, welche im Jahre 1868 eine 


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455 


Production von 16,600,101 Pud Schmiedeeisen und von 3,187,644 
Pud Gusswaaren lieferten. Von dieser Production entfallen auf die 


Hüttenwerke der Krone. 

., des Kabinets Sr. Maj estät 

des Kaisers. 

Privathüttenwerke im Uralschen Berg¬ 
bezirk . 

Privathüttenwerke im Moskauer Berg¬ 
bezirk . 

Hüttenwerke nicht zum Ressort des 
Bergdepartements gehörend: 

Westliche Provinzen. 

Privathütten in Sibirien . . .%. 

Kronshüttenwerke im Zarthum Polen 
Privathütten „ „ „ 

„ in Finnland. 


Schmiedeeisen 

Pud 

1,672,009 

67,188 

10,353.925 

2,574,969 


247,454 

200,554 

458,061 

105,050 

920,891 


Gusseisen 

Pud 

231,450 

6,652 

1,783,676 

1,074,025 


27,255 

18,144 

46,442 


Schon aus dieser kurzen Zusammenstellung geht die überwiegende 
Bedeutung des Ural für die russische Eisenproduction hervor. 

Ueber die weitere Verarbeitung der obigen Production zu raffinir- 
tem Eisen giebt Skalkowsky für das Jahr 1868 folgende Daten: 



Eisen in Barren, 
Stab-, Sorteneisen 

Eisenblech 

Schmiede- und 

(fer en barres, verges 

aller Gattungen 

Gussstahl 

Kronshütten. 

et d’ecliantillon) 

820,172 

119,224 

104,497 

Hüttenwerke des Kabi¬ 
nets Sr. Majestät des 
Kaisers. 

15,516 

3,051 

251 

Privathütten im Ural . 

5,306,195 

2,570,569 

64,842 

„ ,. Mos¬ 

kauer Bergbezirk . . 

1,358,103 

98,476 

92 

Privath. im Kaukasus . 

4,384 

— 

— 

„ in Sibirien . . 

56,828 

— 

1,382 

Hütten, welche nicht 
zumRessort desBerg- 
Departements gehö¬ 
ren: westl. Provinzen 

•1,859,102 

314,017 

200,100 

Kronshütten im Zar¬ 
thum Polen. 

270,118 

19,276 

_ 

Privathütten im Zar¬ 
thum Polen. 

188,772 

12,400 

_ 

Privathütten in Finnland 

634,067 

— 

77,565 

Summa . . 

10,513,860 

3,137,009 

447,229 


13,650,869 Pud 


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An Fabricaten wurden in den russischen Eisenhüttenwerken im 
Jahre 1868 erzeugt: 


Stahlkanonen. 

1,820 Pud 

Lafetten und Apparate .... 

4,295 „ 

6,115 Pud 

Gusseiserne Kanonen .... 

72,627 „ 

Artilleriemunition. 

408,006 „ 

Schiffspanzer. 

Bearbeitetes Gusseisen im 

22,625 ,, 

Kupolofen. 

992,000 „ 

ImFlammen-(Reverberir-)ofen 

339 , 99 * » 

Summa . f . 

1,3 r-991 Pud 

Sonstige Eisenfabricate . . 

461,040 Pud 

„ Stahlfabricate . . 

3 8 9.305 Stück 

»» „ 

8,741 Pud 

Handwaffen. 

17,749 Stück 


Zubehör. 19,788 „ 

Skalkowski führt weiter an, dass im Jahre 1868 im Betriebe stan¬ 
den: 1039 Hütten für Eisengewinnung, 137 für Eisenguss und 
209 Eisen- und Stahlfabriken, sowie dass 207 Hoh-, 434 Puddel-, 
577 Fein-, 876 Heerd-, 707 Stahl-, ausserdem aber noch i56Kupol- 
und 82 Flammen-Oefen in Benutzung standen. 

Die grosse Bedeutung der uralschen Eisenhütten wurde bereits 
hervorgehoben. Es kommt daselbst Braun- und Rotheisenstein und 
in der Kohlen- und Perm’schen Formation auch hin und wieder 
Thon- und Spatheisenstein vor; das Hauptquantum der vorkommen¬ 
den Eisenerze bildet aber der dem Ural eigenthümliche treffliche 
Magneteisenstein. Die beiden grossen Erzberge der Wyssokaja- 
Gora und der Gora-Blagodat konnten bisher als die Hauptfund¬ 
stätten dieses letzteren gelten, inzwischen hat man aber fast in der 
ganzen Ausdehnung des Urals, namentlich auf dessen östlichen Ab¬ 
hängen neue Magneteisensteinlager entdeckt, und es steht zu er¬ 
warten, dass die Reihe der Fundorte noch keineswegs abgeschlossen 
ist. Aus dem Magneteisenberge Wyssokaja-Gora allein werden 
jährlich 8 Millionen Pud Eisenerze (mit 66 bis 70 pCt Roheisen¬ 
ausbringen) gewonnen. Die ganze Mächtigkeit dieses Berges wird 
von Tunner auf 16 Millionen Cubikklafter ä 200 Pud — 33,000 Mill. 
Pud berechnet. Das wirkliche Quantum soll jedoch noch grösser 


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457 


sein. Der letztgenannte Berg, sowie der Gora-Blagodat sind nebst 
ihrer nächsten Umgebung im Stande, noch auf 1000 Jahre hinaus 
jährlich über 30 bis 40 Millionen Pud sehr reicher Magneteisensteine 
zu liefern. 

Es würde mich zu weit führen, noch weiter in die Details der russi¬ 
schen Eisenproduction und seines Eisenhüttenwesens einzugehen. 
Ich will nur erwähnen, dass alle Zweige der productiven Eisen¬ 
industrie in Russland vertreten sind. Die meisten Eisenhütten er¬ 
zeugen Schmiedeeisen in allen gangbaren Sorten und Formen- 
Neuerdings haben sich mehrere grosse Hütten- und Eisenwerke 
(Demidow, Putilow u. A.) derFabrication von Eisenbahnschienen zu¬ 
gewendet, ohne jedoch dadurch einen massenhaften Import aus¬ 
ländischer Schienen entbehrlich zu machen. Auch die Eisenblech- 
fabrication wird in grosser Ausdehnung betrieben, und in der Fa- 
brication von Glanzblechen steht Russland unübertroffen da. Die 
Stahlfabrication, namentlich die Gussstahlfabrication, weist grosse 
Fortschritte auf, wie denn überhaupt in den meisten Zweigen der 
Eisenproduction und -Industrie solche zu bemerken sind. Das russi¬ 
sche Hüttenwesen gebietet über grosse Hülfsmittel, nur eines, zu* 
gleich aber das nothwendigste mangelt ihm noch: eine Eisen¬ 
bahn, durch deren Vermittelung es seine reiche Production den 
übrigen Theilen Russlands und der Industrie zugänglich machen 
würde. 

20) Eisen- und Stahlfabricate. 

Die Sensenfabricaiian und die Fabrication blanker Waffen . Man 
sollte meinen, dass in einem Agriculturstaate wie Russland die 
Sensen- und Sichelfabrication grosse Dimensionen angenommen 
haben müsse. Dem ist aber nicht so. Nur wenige Hüttenwerke 
haben sich diesem Industriezweige zugewendet. Es werden jährlich 
noch ca. 100,000 Pud Sensen aus dem Auslande nach Russland 
importirt. Und doch eignet sich das uralsche Eisen ganz vortreff¬ 
lich zur Fabrication von Sensen, Die Artinsker Kronshütte liefert 
jährlich bei 30,000 Stück Sensenblätter zu ä 45 bis 50 Kop. Auch 
in Slatoust werden noch Sensen fabricirt. A. M. Mosjagin (Gou¬ 
vernement Twer Ostaschkow) liefert jährlich 80,000 Stück Sensen 
und 35,000 Stück Sicheln. Hiermit scheint aber auch die Zahl der 
russischen Sensenhämmer nahezu erschöpft zu sein. Blanke Waffen 
werden vorzugsweise in der Slatouster Waffen- und Gussstahlfabrik 
(Kronshütte, Gouvernement Perm) in grösserem Maasstabe und von 


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45 ? 


guter Qualität fabricirt. Es wurde oben angeführt, dass im Jahre 
1868 gegen 18,000 Stück fabricirt worden seien. 

Die Messerwaarenfabrication wird nicht nur in grösseren Fabriken 
und Werkstätten, sondern auch genossenschaftlich als Gemeinde¬ 
industrie betrieben. In letzterer Beziehung bieten besonders die 
Dörfer Wormsa und Pawlowa im Gouvernement Nishnij-Nowgorod 
und das Dorf Watsch im Gouvernement Wladimir Interesse. Im 
Dorfe Wormsa betreiben die zeitweilig verpflichteten Bauern des 
Grafen Scheremetjew mit 902 Arbeitern die Stahlwaarenfabrication. 
In der Wolost Pawlowa wird dieser Industriezweig ebenfalls als 
häusliches Gewerbe betrieben un<i 1645 Arbeiter, welche sich mit 
demselben beschäftigen, liefern eine jährlicheProduction im Werthe 
von 128,296 Rubel. Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt 
12 grössere Messerfabriken an, welche 2160 Arbeiter beschäftigen 
und eine Production im Werthe von 458,395 Rubel liefern sollen. 
Diese Angaben erscheinen auch noch heute ziemlich zutreffend, 
woraus sich ergiebt, dass dieser Industriezweig kaum an Ausdehnung 
gewonnen hat Die meisten Messerwaarenfabriken befinden sich im 
Kreise Gorbatow des Gouvernements Nishnij-Nowgorod. Die grösste 
und renommirteste derselben ist die der Gebrüder Sawjalow in 
Wormsa; sie beschäftigt 800 Arbeiter und liefert eine jährliche Pro¬ 
duction im Werthe von 200,000 Rubel. Eine ebenfalls beachtens- 
werthe Fabrik ist die von D. Kondratow im Dorfe Watsch (Kreis 
Murom, Gouvernement Wladimir) mit einem Umsatz von 100,000 
Rubel. Ausser den beiden genannten bringt es nur noch die Fabrik 
von F. Warypajew in Pawlowo (s. o.) zu einem jährlichein Umsatz 
von 60,000 Rubel. Alle übrigen Fabriken sind von weit geringerer 
Leistungsfähigkeit. Finnland besitzt in seiner Fiskar’schen Fabrik 
(E. v. Julin) ein hervorragenderes Etablissement dieser Art. 

Fabricatian von Handfeuerwaffen . Die grössten Gewehrfabriken 
sind Kronsfabriken. Eine der bedeutendsten ist die Tulasche Fabrik 
und die zuSsestrorjezk, welche mit allen nothwendigen Hülfsmitteln 
ausgestattet sind. Die neue, im Bau begriffene Gewehrfabrik zu 
Tula, dürfte wohl die bedeutendste, jedenfalls die am besten einge- 
richte überhaupt werden. Von Privatfabriken ist die Libauer Ge¬ 
wehrfabrik der Herren Meinhardt, Ronnefeld & Schmelzer erwähnens- 
werth. Dieselben arbeiten für das Kriegsministerium und haben 
vorzugsweise die Gewehre alter Form in Hinterlader umzuarbeiten, 
wodurch ihnen eine mehrjährige umfassende'Thätigkeit gesichert ist. 
Auch die Nobefsche mechanische Fabrik zu St. Petersburg arbeitet 


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459 


Müitärgewehre. — Die Anfertigung von Jagdgewehren erfolgt in 
kleineren Etablissements, unter denen das von F. Wischnewski eines 
der bedeutendsten (Umsatz 50,000 Rbl.) ist. Ihre Hauptthätigkeit 
besteht darin, die aus dem Auslande bezogenen Gewehrtheile hier 
zusammenzusetzen und zu adjustiren. 

Die Schlosserei ist ein über ganz Russland verbreiteter Industrie* 
zweig, der jedoch nur ausnahmsweise fabrikmässig ^trieben wird. 
Von allgemeinem Interesse ist, dass auch sie als gemeinschaftliche 
oder vielmehr gemeindeweise betriebene Industrie in den Gouver¬ 
nements Nishnij-Nowgorod, Tula und Wladimir nicht ohne Bedeu¬ 
tung ist. Namentlich ist es die Fabrication von Vorlegeschlössen!, 
welche nicht nur ganze Gemeinden, sondern ganze Districte der ge*- 
nannten Gouvernements beschäftigt. — Ein Zweig der Schlosserei 
hat auch in Russland eine grössere industrielle Bedeutung gewonnen, 
die Fabrication feuerfester Cassen- und Dokumentenschränke, mit 
der sich sehr bedeutende Etablissements befassen. In St. Peters¬ 
burg, Riga, Warschau giebt es Fabriken dieser Art von grosser 
Leistungsfähigkeit. 

21) Kupfer, Messing, Zink. 

Kupfer . An reinem Kupfer in Barren und in Blechen werden jähr* 
lieh im Gesammtgebiete Russlands circa 300,000 Pud gewonnen. 
Nach C. Skalkowsky gestaltete sich im Jahre 1868 diese Production 
wie folgt: 

Production an reinem Kupfer. 


Kronshütten des 
Ural (2 Hütten- 

Kupfererz 

in Barren 

Pud Pfund 

ln Kupferblech 

Pud Pfund 

werke). 

Hüttenwerke des 
Cabinets Sr. Ma¬ 
jestät des Kai- 

1, 204,826 

29.273 5 

7,088 23 

sers (1) .... 
Privathütten des 

367,976 

33.197 — 


Ural (18) . 
Privathütten der 
sibirischen Kir¬ 

5,669,848 

151,165 34 

23,860 23 

gisensteppen (7) 
Privathütten des 

283,235 

30,461 26 

— —. 

Kaukasus (14) . 
Privathütten Finn¬ 

449,821 

22,314 131/« 

2,13013V* 

lands (1) . . . . 

106,380 

1,646 — 

— — 


8,092,086 268,078 18 30,949 6 


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460 


Die grössten Kupferwerke sind die P. Demidowschen zu Nishnij- 
Tagilsk. Im Jahre 1869 wurden daselbst 3,206,824 Pud Kupfererz 
geschürft, welche eine Reinausbeute an Kupfer von 102,557 Pud 
ergaben. Als das beste Kupfer in Russland gilt das von W. A. 
Paschkow, insbesondere das der Bogojawlensker Kupferhütte mit 
einer jährlichen Ausbeute von 200,000 Pud Kupfererz. (S. überdem 
Kaukasus III. Heft d. R. R.). 

Kupferindustrie . Mit derselben beschäftigen sich nach dem Jahr¬ 
buche des Finanzministeriums 168 Fabriken mit 3,232 Arbeitern 
und einer Production im Werthe von 2,292,706 Rbl. Die meisten 
Fabriken befinden sich im Gouvernement Tula (50), von denen 49 
auf Kreis und Stadt Tula entfallen. Diese Fabriken beschäftigen 
sich grösstentheils mit der Fabrication der bekannten russischen 
Theemaschinen — Ssamowars. — Die übrigen Gouvernements ran- 
giren in folgender Reihenfolge: Moskau (12 Fabriken), Wladimir 
und Finnland (ä 9), Nishnij-Nowgorod und Jarosslaw (ä 7), Wolhy¬ 
nien, Podolien, Perm und Tiflis (ä 6), Eriwan (5), Livland und 
Zarthum Polen (ä 4) etc. Hinsichtlich der Höhe der Production 
nimmt Moskau den ersten Platz ein, dann folgen Tula, Wladimir, 
Tiflis, St Petersburg, Eriwan etc. Die russische Kupferindustrie 
leistet in den Branchen, in welchen sie arbeitet, ganz Annerkennens- 
werthes, wenn sie sich, wie aus obigen Zahlenverhältnissen hervor¬ 
geht, auch noch nicht zu einem grossen fabrikmässigen Betriebe 
emporgeschwungen hat. Der handwerksmässige Betrieb herrscht 
daher im Ganzen noch vor. Namentlich liegt noch die fabrikmässigs 
Erzeugung von Kupfergeschirren darnieder, trotzdem, däss letztere 
in Russland eine so allgemeine Verwendung finden. 

Zink wird nur im Zarthum Polen, und zwar auf 3 Kronshütten und 
3 Privathütten gewonnen. Die Gesamratproduction des Jahres 1868 
betrug 188,259 Pud Rohzink und 35,812 Pud Blattzmk. Von dieser 
Production geht ein sehr grosser Theil als Exportwaare ins Ausland. 
Im Jahre 1868 betrug dieser Export 162,768 Pud. Dagegen wurden 
im gleichen Jahre aus dem Auslande über die Europäische Grenze 
nach Russland importirt Zink in Barren 76,594 Pud und in Blechen 
10,043 Pud. Hieraus resultirt, dass Russland selbst im Ganzen nur 
ca. 150,000 Pud Zink consumirt, was in Anbetracht seiner grossen 
Bevölkerung als ein sehr geringer Verbrauch angesehen werden 
muss. 


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4ßi 


22) Bronce, imitirte Bronce und Kupfercompositionen. 

Hinsichtlich der Broncefabrication verweise ich auf das, was ich 
in meinem Generalbericht über die Moskauer Ausstellung S. 169 der 
„Russischen Revue“ gesagt habe, und will hier nur noch einige An¬ 
gaben über die Neusilber- (Melchior-) Fabrikation hinzufugen. Die 
Zahl derartiger Fabriken ist im Ganzen beschränkt, wenn auch die 
Leistungsfähigkeit der vorhandenen eine recht bedeutende ist* Auf 
der letzten St. Petersburger Manufactur-Ausstellung begegneten wir 
7 Melchiorfabriken, und da das Jahrbuch nur 2 anfuhrt, so ist anzu¬ 
nehmen, dass diese 7 Fabriken die Gesammtzahl der m Russland 
existirenden bilden. Es waren dies die Fabriken von J. Fraget 
(350—380,000 Rubel Productionswerth und 270—280 Arbeiter), der 
Gebrüder Buch (175,000 Rubel und 180 Arbeiter), von L. Norblin 
& Co. (120,000 Rubel und 200 Arbeiter), sämmtlich in Warschau; 
von A. Katsch (125,000 Rubel und 90 Arbeiter in St Petersburg, 
und die 3 kleinen Moskauer Fabriken von W. Lebejugin, E. Pekin 
und F. Gerber, welcher letztere doch immerhin schon eine Production 
im Werthe von 15,000 Rubel erzielt. Die hervorragendsten Lei* 
stungen weisen J, Fraget und Gebrüder Buch in Warschau amd A. 
Katsch in St. Petersburg au£ und ist ihrFabricat dem ausländischen 
vollkommen gleichzustellen. Die Fraget’sche Fabrik wurde im 
Jahre 1824 auf Veranlassung des damaligen Ministers des Innern für 
Polen, des Grafen Mostowski, gegründet, und die Fabrik der Ge¬ 
brüder Buch stammt aus dem Jahre 1829 und wurde dieselbe von 
dem Erfinder der Neusilbercomposition, Henninger, angelegt. Mit 
beiden Fabriken verbindet sich demnach ein gewisses historisches 
Interesse. 

23) Sieber und Blel 

Es giebfc nur wenige Silberfundstätten in Russland, keine einzige 
im Europäischen Theile. Am Reichhaltigsten ist das zum Cabinet 
Sr. Majestät des Kaisers gehörende Berggebiet des Altai mit einer 
jährlichen Ausbeute von 1,056 bis 1,060 Pud Silber, dann die Silber¬ 
minen von Nertschinsk. Das Kronsbergwerk Alaghir (Kaukasus) 
lieferte in den letzten Jahren nur eine Ausbeute von 12 Pud 15 Pfund, 
während die Privatminen der Kirgisensteppen seit dem Jahre 1864, 
wo sie noch 38*/a Pfund Silberausbeute gaben, nur noch auf Blei 
bearbeitet werden. Im Ganzen gewann man im Jahre 1868 nach 
Skajkowsky 1,092 Pud 18 Pfund Silber und da letzteres allenthalben 


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46a 


an Blei gebunden ist 100,324 Pud 32 V2 Pfund Blei. Von letzterem 
gewann man 


in den Hüttenwerken des Altai . 

94,476 Pud 

— 

Pfund 

„ von Nertschinsk 

2,545 ,, 

12 7s 

' M 

„ von Alaghir . . 

3,240 „ 

— 


„ der sibirischen 




Kirgisensteppe 

63 ,, 

20 

>» 


Während die Silberausbeute, abgesehen vot\ einigen Schwan¬ 
kungen, seit dem Jahre 1860 (1,092 Pud 35 Pfund) demnach ziemlich 
gleich geblieben ist, lässt sich ein sehr bedeutendes Steigen der 
Bleiausbeute nachweisen. In den Jahren 1830 bis 33 betrug die 
jährliche Bleiausbeute durchschnittlich 44,000 Pud; 1860 war die¬ 
selbe auf 54,000 Pud gestiegen. Seit dem eben genannten Jahre ist 
sie demnach um 85, seit dem Jahre 1830 um 127 °/o gestiegen. 
Trotzdeirf genügt diese Production dem) inneren Cohsum nicht 
und mussten im Jahre 1868 noch 388,100 Pud importirt werden, 
wogegen nur 340 Pud Blei exportirt wurden. 

Von der Silberindustrie wird weiter unten die Rede sein. Die 
Bleiindustrie ist wenig entwickelt. Die Privatindustrie verarbeitet 
nur in sehr unbedeutenden Verhältnissen dieses Metall und benutzt 
es namentlich zur Fabrication von Schrot, zu Legirungen und zur 
Bleiweissfabrication. Mit der Schrotfabrication beschäftigen sich 
mehrere Fabriken ia St. Petersburg, Moskau und Charkow, ohne 
es jedoch zu einer bedeutenden Production gebracht zu haben. 
Ausserdem werden in St. Petersburg (von den Gebrüdern Gaidukow) 
noch dünne Bleibleche und Bleistaniole fabricirt. 

24) Gold und Platina. 

Seit dem Jahre 1754 bis zum Jahre 1869 wurden in Russland 
43,935 P u 6 Gold im Werthe von 615,090,000 Rbl. S. gewonnen. 
Der Goldbergbau ist, weil nicht einträglich, ganz eingestellt worden. 
Alles jetzt gewonnene Gold ist Waschgold. Int Jahre 1868 belief 
sich die Goldausbeute auf 1,711 Pud 16 Pfund 50 Solotnik8o72 Doli« 
Davon entfielen auf 3 Golddistricte der Krone in runden Zahlen 
90 Pud 15 Pfund, auf 2 zum Cabinet Sr. Majestät gehörende Di- 
Stricte 170 Pud 13 Pfund, auf 12 Districte des östlichen Sibiriens, 
3 des westlichen Sibiriens und 3 Districten im Ural, welche von 
Privaten ausgebeutet werden, 1,450 Pud 27 Pfund. Ausgewaschen 
Wurden im genannten Jahre 1*177,288,224 Pud goldhaltigen Sandes*. 
Hierbei fanden 56,216 Arbeiter Beschäftigung und standen 993 


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Wäschen in Betrieb. Im Jahre 1870 war nach dem Bergjoumale 
die Zahl der Wäschen bereits auf 1034 und die Ausbeute an Gold 
auf 1874 Pud 19 Pfund gestiegen. Nach den bisherigen Erfahrungen 
steht noch eine weitere Steigerung bevor, um so mehr, da auch im 
nördlichen Finnland Goldsandlager entdeckt worden sind, welche 
der Bearbeitung werth erscheinen, und auch bereits in den letzten 
Jahren eine nicht unansehnliche Goldausbeute gewährt haben. 

Platina wird vorzugsweise in sehr wechselnden Quantitäten in den 
Platinaseifen von Nishnij-Tagilsk (P. Demidow) gewonnen. Das 
höchste Quantum 135 Pud 39 x j% Pfund fällt auf das Jahr 1865. Im 
Jahre 1869 betrug die Ausbeute daselbst 128 V* Pud; seit dieser;Zeit 
ist sie nicht unbedeutend zurückgegangen. Ausser in den Demidow- 
schen Werken, wird noch auf den Werken der Fürstin Putera-Radoli 
Platina in nicht unbedeutenden Quantitäten (1868: 7 Pud 22 Pfund) 
gewonnen. Auf der Kronshütte Mijassk hat man zuletzt im Jahre 
1865 —7 Pfund 29Solotnik Platina gewonnen,doch scheint man dort 
den Betrieb ganz eingestellt zu haben. Sämmtliche Lagerstätten des 
Platina befinden sich im Ural. 

25) Silber-, Gold- und Juwelierarbeiten. 

Schon auf der letzten Pariser Weltausstellung war man durch die 
russischen Gold- und Silberarbeiten überrascht. Die letzten Aus¬ 
stellungen zu St. Petersburg und Moskau zeigten in dieser Bezie¬ 
hung noch mehr. Das Jahrbuch des Finanzministeriums weist im 
Gesammtgebiete Russlands 27 Fabriken oder vielmehr Werkstätten 
und Fabriken nach, welche sich mit der Fabrication von Silber- 
waaren befassen, 587 Arbeiter beschäftigen und eine Production 
im Werthe von 655,945 Rbl. liefern sollen. Wie wenig diese Anga¬ 
ben den heutigenLeistungender russischenSilberwaarenfabriken ent¬ 
sprechen, geht daraus hervor, dass W. J. Ssasikow allein in seiner 
Moskauer und St. Petersburger Fabrik eine jährliche Production im 
Werthe von 750,000 Rbl. aufzuweisen hat Er beschäftigt bei dieser 
Production 200 Menschen und verarbeitet jährlich 20,000 Pfund 
Silber. A.M. Postnikow in Moskau macht in selbst fabricirten Silber- 
waaren einen Umsatz von 250,000 Rbl, und P. A. Owtschinikow 
ebendaselbst, dessen schöne Fabricate wir auf der Moskauer Aus¬ 
stellung zu bewundern Gelegenheit hatten, dürfte heute einen ähnlich 
entsprechenden Umsatz erzielen. Auch in St Petersburg giebt es 
bedeutende ähnliche Fabriken, und erwähne ich nur die des eng¬ 
lischen Magazins. Die Herstellung von Silberfabricaten kann daher 


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4 6 4 . ;>i , 

als ein in Russland jedenfalls sehr entwickelter Industriezweig ange¬ 
sehen werden. Zu bemerken ist noch, dass sie als ein selbstständiger 
Gewerbszweig anzusehen ist, der nichts mit den Werkstätten der 
Goldarbeiter und Juweliere zu thun hat; sie kann im Gegentheil mit 
vollem Rechte als ein Zweig der Grossindustrie, und zwar der Fabrik¬ 
industrie angesehen werden. Den Gesammtwerth der heut^ in 
Russland erzeugten Silberfabricate kann man mindestens auf ca. 2 
Millionen Rubel schätzen. 

Goldfabricate und Juwelierarbeiten. Obgleich die derartigen Fa- 
bricate nicht eigentlich zum Gebiete der Grossindustrie gehören, so 
hat doch die letzte Moskauer Ausstellung gezeigt, dass es daselbst 
Etablissements giebt, welche die Goldschmiedekunst ganz fabrik- 
massig betreiben. Auch in -St. Petersburg giebt es Werkstätten, 
welche man mit den Namen von Fabriken bezeichnen kann. Leider 
aber entzieht sich der Betrieb derselben der statistischen Berechnung 
und somit bin auch ich des Mittels beraubt, näher auf diesen Indu¬ 
striezweig einzugehen. Ich will nur bemerken, dass namentlich die 
St. Petersburger Juweliere selbst unter ihren ausländischen Fach¬ 
genossen einen hohen Rang einnehmen, und dass, was die Brillanten¬ 
fassung anbelangt, die St. Petersburger Juweliere nur etwa noch 
von den Londonern übertroffen werden. 

E. Instrumente verschiedener Art, Apparate und 
Maschinen. 

Masckinenfabrication . 

Nachdem ich schon in der allgemeinen Uebersicht über die Mos¬ 
kauer polytechnische Ausstellung (S. 151 d. Bl.) Mittheilungen über 
die grösseren landwirtschaftlichen Maschinenfabriken gemacht habe, 
beschränke ich mich hier darauf, einige Andeutungen über die 
Maschinenfabrication inRussland im Allgemeinen zu geben. Timir- 
jasew fuhrt in seinem nächsterscheinenden 3. Hefte seines mehr¬ 
genannten statistischen Atlas auf, dass es in Russland 154 Maschi¬ 
nenbau- und mechanische Fabriken (mit Giessereien) giebt, welche 
33>736 Arbeiter beschäftigen und eine Production im Werthe von 
32,592,879 Rbl. liefern. Hierzu kommen noch im Zarthum Polen 36 
Maschinenfabriken mit 1,491 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 1,296,338 Rbl. und im Grossfürstenthum Finnland 13 
Maschinenfabriken mit 1,808 Arbeitern und einer Production im 
Werthe von 885,881 Rbl., demnach für Gesammtrussland 203 Fa¬ 
briken mit 37,035 Arbeitern und einer jährlichen Production im 


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4<*5 


Werthe von 34,774,698 Rbl. Die grösste Anzahl dieser Fabriken (37 
mit einer Jahresproduction im Werthe von über 20 Millionen Rbl.) 
befindet sich im Gouvernement St Petersburg, fast ausschliesslich 
in der Hauptstadt selbst; dann folgt Moskau mit 28 Fabriken 
( 7 >°& 3 * 9(>7 Rbl. Umsatz). Der Ausbau der russischen Eisenbahnen 
hat mächtig dazu beigetragen, den russischen Maschinenbau zu 
entwickeln. Während in den früheren Jahren alle zum Eisenbahnr 
betriebe nothwendigen Maschinen aus dem Auslande verschrieben 
werden mussten, liefern schon heute inländische Fabriken einen, 
wenn auch noch kleinen Theil derselben. Ausserdem beschäftigen 
sich noch viele derartige Fabriken mit der Herstellung von Dampf- 
und andern Maschinen, deren die übrigen Fabriken als Betriebs¬ 
mittel bedürfen. 

Die meisten Eisenbahnen haben ihre eigenen .MaschinenWerk¬ 
stätten, auf welchen nicht nur alle nothwendigen Reparaturen vorge¬ 
nommen, sondern auch selbst neue Maschinen und Locomotiven 
gebaut werden. * Eine der bedeutendsten dieser Eisenbahnfabriken 
ist die der grossen Eisenbahngesellschaft zu St Petersburg mit 
einer jährlichen Production im Werthe von 1,781,00a Rbl. Derseh 
ben Gesellschaft gehört auch die ehemalige Herzoglich Leuchten« 
berg’sche Fabrik in St. Petersburg und die grosse Maschinenbau¬ 
werkstätte zu Kowrow (Gouvernement Wladimir), letztere ebenfalls, 
mit einem Productionswerth von über 1 Million Rbl* (s. u.). Der 
gleichen Betriebsleistung erfreut sich die Werkstätte der Dünaburg- 
Witebsker Eisenbahn zu Dünaburg. Von Privatetablissements sind, 
als besonders hervorragend namhaft zu machen die Maschinenbau- 
und Eisengussfabrik der Gebrüder Struve in Kolomna (Gouverne¬ 
ment Moskau), welche nur für Eisenbahnen arbeitet und im Loco¬ 
motiven- und Waggonbau, so wie in Eisenconstruction für Brücken 
Ausgezeichnetes leistet Die Fabrik beschäftigt 2000 Arbeiter und 
liefert eine Jahresproduction im Werthe von 2Millionen Rbl. Die 
Fabrik der russischen Gesellschaft für Maschinen- und Hüttenbam 
in St. Petersburg hat schon über 40 Locomotiven geliefert. Die 
S. J. Malzow’sche Fabrik bei Brjansk (Gouvernement Prel) baut 
ebenfalls Locomotiven. — Mit dem Bau von Eisenbahnwaggons 
beschäftigen sich namentlich die Gebrüder Struve in Kolomna^ 
welche jährlich 1200 Stück Güterwaggons liefern, die Kowrower 
Werkstätte der Grossen Eisenbahngesellschaft, die Komissarow- 
Schule in Moskau, Lilpopp, Rau & Co. in Warschau u. A. Es ent 
stehen fast jährlich neue derartige Etablissements. 

3 * 


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466 


Im Allgemeinen hat Russland im Zweige des Maschinenbaues 
gute Fortschritte aufzuweisen, wenn auch diese Fortschritte noch 
nicht im Verhältnisse des inländischen Bedarfes stehen. Im Jahre 
1870 wurden 2,488,758 Pud Maschinen und Maschinentheile im 
Werthe von 21,827,889 Rub. nach Russland importirt. Vom Jahre 
1861 bis 1870 hatte sich der Werth der jährlich importirten auslän¬ 
dischen Maschinen um 153 pCt gesteigert. 

F. Nahrungsmittel. 

Mehl, Stärke , Zucker, 

Ueber die Ausdehnung der Mühlenindustrie fehlen eingehende 
statistische Nachrichten. Das Jahrbuch führt, ohne weitere Details zu 
geben, nur an* dass es im Jahre 1866 in Russland 2176 Mehlmühlen 
gegebenhabe, welche 7,707 Arbeiter beschäftigten und eine jährliche 
Production im Werthe von35,755,347 Rbl. geliefert haben. Der grösste 
Theil dieser Mühlen sind Wassermühlen von einfachster, theilweise 
sehr primitiver Bauart. Die Dampfmühlenindustrie fängt nur verhältniss- 
mässig langsam an, Boden zu gewinnen, obgleich die wirthschaftlichen 
Verhältnisse Russlands diesen Industriezweig ausserordentlich begün¬ 
stigen und eine recht umfassende Entwickelung desselben dem 
Lande nur zum grossen Vortheile gereichen würde. Im Zarthum 
Polen ist die Dampfmühlenindustrie mehr entwickelt als in Russland 
und giebtes dort ansehnliche Etablissements; in Russland herrschen, 
äuch bei grösseren Betrieben, noch die Wassermühlen vor. 

Stärkefabriken giebt es nach dem Jahrbuche 59 mit 622 Arbeitern 
und einer Production im Werthe von 269,723 Rbl. Dass diese An¬ 
gaben den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr entsprechen, 
geht schon daraus hervor, dass 7 Stärkefabriken auf der letzten 
St. Petersburger Ausstellung den Werth ihrer jährlichen Production 
auf 335, OCX) Rbl, angaben, also um 65,277 Rbl. mehr, wie das Jahr¬ 
buch für sämmtliche 59 Fabriken berechnet. Die meisten Fabriken 
befinden sich in den Gouvernements Tula (13), Twer (12) und Wo- 
ronesh (10). Die grössten Fabriken befinden sich im Gouvernement 
Twer, dann in St. Petersburg, deih Ssamaraschen und Poltawaschen 
Gouvernement. Die grösste Fabrik ist die von J. P. Stalow (mit 
einem Umsatz von 125,000 Rbl.) in Kaljasin (Gouvernement Twer), 
wo sich noch andere grosse Fabriken befinden. Auch die Stärke? 
fabrication gehört zu den Industriezweigen, welche einer weitern 
Ausdehnung fähig und würdig wären. 


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4 6 _ 7 _ 


Die Rübenzukerfabrication . 

Die Zahl der Rübenzuckerfabriken hat sich in den letzten Jahren 
nicht vermehrt, sehr bedeutend aber die Leistungsfähigkeit der 
einzelnen Etablissements. Die kleinern Zuckerfabriken verschwinden 
nach und nach, wie dies in der Natur der Sache liegt, und räumen den 
grösseren das Feld. Nur Fabriken mit Dampfbetrieb und leistungs¬ 
fähigen Pressen können heute noch grosse pecuniäre Resultate 
erzielen. Die russische Rübenzuckerindustrie hat einen hohen Grad 
von technischer Entwickelung erreicht; weniger befriedigend dagegen 
ist die Cultur der Zuckerrübe, die mit vielen Hindernissen zu 
kämpfen hat, obgleich es in den Grenzen der Möglichkeit liegt, 
diese Hindernisse grösstentheils zu besiegen. Es giebt in Russland, 
inclusive Polen, 309 in Betriebe stehende Zuckerfabriken, welche 
in der Campagne von 1867 bis 1868 den normalmässigen Zucker¬ 
ertrag von 5,290,640 Pud producirten. In Wirklichkeit ist aber die 
Zuckerproduction höher, da alle Fabriken einen höheren Ertrag als 
den normalmässigen erzielen, und kann man die Production daher 
(nach Timirjasew) aüT mindestens 7,376,291 Pud, im Gesammt- 
wertli von 36,881,455 Rbl. annehmen. Sämmtliche Fabriken be¬ 
schäftigen 92,931 Arbeiter. Die grösste Zahl (69 mit einem Produc- 
tionswerth von 20,367,035 Rbl.) befindet sich im Kijewschen Gou¬ 
vernement, dann in den Gouvernements Tschernigow (38 mit 
1,293,316 Rbl. Productionswerth), Podolien (34 mit 3,346,335 Pro- 
ductionswerth), Charkow (24 mit 2,375,855 Rbl.), Kursk (19), Tula 
(17), Bessarabien (12), Tambow und Woronesh (ä io;,- Orel (8), 
Pensa (7), Wolhynien und Mohilew (ä 5), Rjäsan (3), Ssaratow und 
Minsk (ä 2), Kaluga (1). Im Zarthum Polen giebt es im Ganzen 
43 Fabriken mit einem Productionswerth von 4,020,840 Rbl. Hin¬ 
sichtlich der Productionsverhältnisse der Jahre 1869 und 1870 ver¬ 
weise ich auf die S. 101 d. Bl. gemachten Angaben, welche zugleich 
den Fortschritt constatiren, welchen die Rübenzuckerfabrication 
in Russland gemacht hat. — Ich werde übrigens später Gelegenheit 
finden, in einem selbstständigen Artikel auf die Wichtigkeit der Rüben¬ 
zuckerindustrie für Russland zurückzukommen, und erwähne hier 
nur noch, dass es ausser den oben angeführten Rohzuckerfabri¬ 
ken in Russland noch 3 t Zuckerraffinerien mit 8763 Arbeitern und 
einer Production im Werthe von 34 > 2 ^ 2 > I 5 ^ Rbl. giebt; im Zarthum 
Polen 22 Zuckerraffinerien mit einer Production im Werthe 
5,726,000 Rbl. 


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468 


Die grösste Anzahl dieser Raffinerien (8) fällt ebenfalls auf das 
Gouvernement Kijevv, ä 5 auf Moskau und Podolien, 4 auf St. Peters¬ 
burg, 3 auf Charkow und auf Minsk, je I auf Orel, Pensa, Tschemi- 
gow und Tula. Die meisten polnischen Raffinerien befinden sich im 
Gouvernement Warschau (10), dann in Radom (4), Piotrkow (3), 
Ljublin(2),Kalisch,Kjeletzk und Sjedletz(ä 1). SämmtlicheRaffinerien 
verarbeiten jetzt inländischen Sandzucker. In Finnland giebt es un¬ 
weit den StädtenHelsingfors und Abo 2 Raffinerien, welche grossen- 
theils ausländischen Sandzucker verarbeiten. 


G. Getränke. 


a) Branntweinbrennereien . 


In der Brennerciperiode 1867 und 1868 gab es Brennereien: 


Spiritusproduction 
Zahl der Grade wasserfreier 

Fabriken. Spiritus. 

im Europäischen 
Russland in 45 

Gouvernements 2,952 2,198,171,6620 

im Zarthum Polen 488 ? 

im Grossfürsten¬ 
thum Finnland 3 (?) ? 


Werth der jährlichen 
Production in Rubel. 


54,954,300 

10,564,415 

116,053 


65,634,768 

Die grösste Anzahl weisen auf die Gouvernements: Kijew 224, 
Wolhynien 213, Podolien und Witebsk ä 166, Minsk 147, Tscher- 
nigow 146, Livland 136, Grodno 132, Kurland und Poltawa ä 123, 
Wilna 113 und Charkow 110; die der Leistung nach grössten 
Fabriken dagegen Pensa (Productionswerth 4,223,400), Woronesh 
(4,090,000), Charkow (3,767,400), Kijew, Podolien, Ssaratow und 
Wjatka (2 bis 300,000 Productionswerth). 

Das grosse Quantum des fabricirten Spiritus wird auch fast aus¬ 
schliesslich imLande selbst consumirt, da derExport ein, wenn auch 
steigender, doch immerhin verhältnissmässig geringer ist. Im Jahre 
1870 wurden 647,516 Pud (ä 2 Rbl.) 40 gradiger Branntwein expor- 
tirt. Im Interesse Russlands wäre es zu wünschen, dass es in der 
Lage wäre, diesen Export noch zu steigern, wozu aber wenig Aus¬ 
sicht ist, da schon im Jahre 1871 der Export wieder sehr gesunken 
ist. Die Fabriken verkaufen ihren Spiritus an die Destillateure, welche 
denselben nochmals reinigen und in trinkbarenBranntwein umarbeiten. 
Leider fehlen mir detaillirte statistische Angaben über die Destilla- 
en inRussland, doch ist ihre Zahl eine enorm grosse. Die Hauptsitze 


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469 


dieses Industriezweiges sind St. Petersburg, Moskau, Riga und 
Warschau. Es giebt in St. Petersburg Destillationen, die einen 
Umsatz von 2 bis 3 Millionen Rubel machen. Das Jahrbuch des 
Finanzministeriums giebt für das Jahr 1866 die Zahl der Destilla¬ 
tionen in Russland, mit Ausschluss von Polen und Finnland, auf 
1160 an. Seit dem Jahr 1863 hatte sich die Zahl der Destillationen 
um ca 70 pCt. vermehrt. 

b) Bierbrauereien. . 

Das Jahrbuch führt die Zahl der Bierbrauereien für 1867 ohne 
Polen und Finnland mit 1683 an. In den grossrussischen Gouver¬ 
nements gab es deren 284, in West- und Südwestrussland 897, in 
den Ostseeprovinzen 492, im Donschen Kosakenlande 10 und in 
Sibirien 16. Der grösste Theil dieser Brauereien liefert ein Bier, 
das mit den bessern Bieren der Neuzeit wenig gemein hat. Nur in 
den Hauptstädten und einzelnen Gouvernementsstädten braut man 
bessere Biere nach bairischer Methode und das rasche Wachsen 
der Production der grösseren, namentlich der St. Petersburger 
Brauereien beweist, dass das russische Publicum anfängt, an diesen 
bessern Bieren Geschmack zu finden. DieKalinkinbrauerei (St. Peters¬ 
burg) producirt jährlich gegen 2 Millionen Wedro, die Bavaria¬ 
brauerei I Million. Auch in einigen GouvemementsstädUn wie Riga, 
Twer, Warschau und in Finnland wird ein gutes Bier gebraut. Ueber 
die Gesammtproduction an Bier stehen mir keine genauen Angaben 
zur Disposition, jedoch berechnet v. Buschen diese Gesammt¬ 
production auf 9 Millionen Wedro. Nachdem aber der Bierconsum 
in Russland sich ganz ausserordentlich gesteigert, kann diese An¬ 
nahme der Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. Ausser den oben 
angeführten 1683 Brauereien gab es 1867 noch im Europäischen 
Russland (ausser in Polen und Finnland) 233 und in Sibirien 11 
Brauereien, die sich ausser mit der Bierbrauerei noch mit der Fabri- 
cation von Meth beschäftigten. Demnach steigt die Gesammtzahl 
auf 1927 Brauereien, zu welchen noch 169 Methbrauereien kommen. 
Der Hauptsitz der Methbrauerei ist übrigens das Zarthum Polen, 

Kurland und die westlichen Provinzen Russlands. 

• 

c) Tabakfabricatian. 

Ich schliesse meinen Ggncralbericht über die industriellen Pro- 
ductions-Verhältnisse Russlands mit einem Industriezweige, der 
schon deshalb nicht ohne Bedeutung ist, weil er wenigstens einen 
Theil seiner Basis in der landwirthschaftlichen Production Russlands 


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findet. Die russische Tabakscultur ist aller Beachtung werth und 
würde es verdienen, dass sich ihr tüchtige und zahlreiche Cultur- 
kräfte zuwendeten. Im Jahre 1868 belief sich die Zahl der Tabaks¬ 
plantagen auf 75,342, die Ausdehnung des mit Tabak bestellten 
Areals auf 34,9881/2 Dessjätinen (148,724 preuss. Morgen) und die 
erzielte Tabaksproduction auf 2,384,894 Pud. Der meiste Tabak 
wird in den Gouvernements Poltawa, Tschernigow und Ssamara, der 
beste in Bessarabien producirt. Von russischem Tabak wurden im 
Jahre 1870 — 82,323 Pud für 411,615 Rubel an Blättertabak und 
5,747 Pud für 212,639 Rubel an geschnittenem Rauchtabak exportirt 
Dagegen wurden aber importirt 173,506 Pud Blättertabak für 
3,643,638 Rubel 'und für 817,034 Rubel Cigarren. Schon hieraus 
ergiebt sich, dass die russischen Tabakfabriken grosse Quantitäten 
russischen Tabaks verarbeiten, wenn auch nur zu den niedrigsten 
Fabricaten. Im Jahre 1867 gab cs inRussland (mitAusschluss Polens 
und Finnlands) 317 Tabakfabriken, welche zusammen für 4,391,086 
Rbl. Tabaksbanderolen verbrauchten. Danunder Werth der Banderole 
ungefähr dem 3. Theil des Werthes des mit ihr verschlossenen 
Fabricates entspricht, so lässt sich für das genannte Jahr der 
Werth der von den russischen Tabaksfabricanten gelieferten Fabri- 
cate auf 13,173,258 Rubel berechnen. In Wirklichkeit stellt sjch 
aber der Werth hoher, da die Banderolen nicht immer die ent¬ 
sprechende Verwendung gefunden haben. Da nun aber der Ver¬ 
brauch sehr gestiegen ist — im Jahre 1870 verbrauchten nur 29 
St. Petersburger Fabriken für Papiros und türkischen Tabak allein 
für mehr als I Million Rubel Banderolen — so geht hieraus hervor, 
dass auch der Werth der Tabaksfabricate in gleichem Verhältniss 
gestiegen sein muss. Die meisten Fabriken giebt es in Chersson 
(36), dann in St. Petersburg (29), Kijew (26), Podolien und Taurien 
(a 19), Moskau und Wolhynien (ä 18), Bessarabien (12), Charkow, 
Tambow, Orel, Grodno (ä 11) etc. Die St. Petersburger Fabriken 
arbeiten sowohl Cigarren wie Papiros und Rauchtabake, die Rigaer 
zeichnen sich besonders durch Cigarrenfabrication aus. Im Süden 
Russlands werden vorzugsweise türkische Rauchtabake und Papiros 
fabricirt. Das mit dem 1. Januar d. J. in Wirksamkeit getretene 
neue Reglement dürfte in Betreff der Tabakfabrication nicht ohne 
Einfluss sein und zur Folge haben, dass nach und nach die kleineren 
Fabriken eingehen, dagegen die grösseren ihren Betrieb noch er¬ 
weitern. Die Regierung hoflt dadurch die Controle hinsichtlich des 
mit der Accise belasteten Fabricates zu erleichtern. 


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47 * 


Ich glaube in Vorstehendem ein, wenn auch flüchtiges, doch ziem¬ 
lich zutreffendes Bild der russischen Industrieverhältnisse geliefert 
zu haben. Wir begegnen in demselben einer schon bedeutenden 
Entwickelung der russischen Industrieverhältnisse, wenn auch hin 
und wieder die Abwege hervortteten, auf welche einzelne Zweige 
der Industrie gerathen sind, i Wir können hoffen, dass es einer ge¬ 
sunden, den factischen Verhältnissen Russlands entsprechenden 
Handelspolitik gelingen wird, die russische Industrie auf den richti¬ 
gen Weg zurückzufiiren, was nur im Interesse dieser letztem liegen 
Würde. F. MATTHÄI. 


Die Pferdezucht in Russland. 

Ein kurzer Ueberblick 

von 

J. V. Moerder. 

Das erste Auftreten des Pferdes in Russland verliert sich im 
Dunkel der Zeiten; die geschichtlichen Ueberlieferungen beweisen 
aber, dass die Slaven immer grosse Liebhaber und Verehrer des 
Pferdes waren. Die Verwendung desselben im grösseren Maass¬ 
stabe gehört der zweiten Hälfte des eilften Jahrhunderts an, wo 
Russland zum eigentlichen Staate wird. Berühmt war schon die 
Reiterei des Grossfürsten „Oleg“, und nicht nur die Grossfürsten, 
sondern auch die Bojaren hatten seit je her zahlreiche Marställe. In 
den späteren Zeiten, als die Landbewohner gezwungen wurden, dert 
Grossfiirsten Pferde für die Kriegsreiterei zu stellen, wurden jene 
genöthigt, sich mit Pferdezucht zu beschäftigen. Die bei ihnen 
vorherrschende Race stammte, wie zu vermuthen ist, aus Asien. 
Die Pferdezucht wurde in Russland vom Staate stets unterstützt, 
lange Zeit aber ohne jegliche systematische Maassregel. Ungemein 
vermindert sich die Zahl der Pferde im dreizehnten Jahrhundert 
während des Einfalles der Mongolen, und nur nach geraumer Zeit 
bemerkt man wieder allmählich einen Aufschwung der Pferdezucht. 
Im fünfzehnten Jahrhundert, unter Iwan III., wurde das erste Krons¬ 
gestüt, Choroschew, bei Moskau gegründet, und fast gleichzeitig 


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472 


wurden ähnliche Gestüte, sowohl vom Staate, als auch von den Bo¬ 
jaren und den Klöstern gestiftet* Diese Zeit kann man als den An¬ 
fang einer geregelten Pferdezucht in Russland bezeichnen; bis zum 
achtzehnten Jahrhundert lassen sich indessen nur schwache Fort¬ 
schritte in derselben nachweisen. Im Jahre 1511 führte der Gross- 
fiirst Wassily Iwanowitsch eine besondere Verwaltung ein, bekannt 
unter dem Namen „Konjuschennoy-Prikas“, welche an der Spitze 
aller Hofmarställe und Staatsgestüte stand. Glanz und Reichthum 
des russischen Hofes Hessen sich vor Allem auch an schönen Pferden 
und dem ganzen Gespann erblicken. Während der Regierung Iwan 
des Grausamen wie auch seines Sohnes Feodor machte die Pferde¬ 
zucht sichtbare Fortschritte; es wurden u. a. in Dörfern viele Ge¬ 
stüte vom Staate eingerichtet, die man Konjuschennni-Slobody“ 
nannte. Die Pferde dieser Gestüte waren noch vorherrschend 
orientalischer Race; Pferde europäischer Racen kamen nur als 
Seltenheit vor; in späteren Zeiten brachten diese Gestüte dem Staate 
grosse Einkünfte» Einen bedeutenden Aufschwung nimmt die Pferde¬ 
zucht zurZeitdesZaren Alexej Michailowitsch; ihm eigentlich gebührt 
das Verdienst einer geregelten Organisation der Staatsgestüte. Zu 
seiner Zeit zählte man allein an 50,000 Pferde, die dem Hof gehör¬ 
ten. Zar Alexej liess sehr viele der schönsten asiatischen Hengste 
ankaufen und schenkte eine besondere Aufmerksamkeit den liv- und 
estländischen Pferden — Klepper genannt —, welche er zahlreich 
in die Gouvernements Wjatka und Kasan befördern liess. Als sein 
Sohn Peter der Grosse den Thron bestieg, befand sich die Pferde¬ 
zucht im besten Aufschwünge. Klein-Russland allein war im Stande, 
dem Staate an 60,000 Pferde zu stellen; die Gegenden des Don und 
die Steppen des Ural lieferten bis an 20,000 Pferde und unzählbare 
Heerden von Pferden konnte man in den Gegenden des Kuban und 
in Sibirien finden. Zu dieser Zeit befanden sich die besten Krons- 
. gestütc in den Gouvernements: Kasan, Asow und Kijew. Im Jahre 
1720 errichtete Peter der Grosse in Astrachan noch ein Gestüt, in 
welchem die schönsten persischen Hengste und tscherkessischen 
Stuten sich befanden. Unter Anna Iwanowna macht die Pferde¬ 
zucht grosse Fortschritte; zu ihrer Zeit ward im Jahre 1733 eine 
Kanzlei des Hofmarstalles eingerichtet, und im Jahre 1739 wurden 
wieder zehn neue Gestüte gegründet. In den Kronsgestüten zu jener 
Zeit finden wir folgenden Bestand: 

Im Bronnitzkyschen Gestüte (Gouvernement Moskau) 100 Stuten 
und alle Beschäler: Reitschlag. — Im Charkpwschen Gestüte: ioq 


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Mutterstuten und alle Beschäler: grosse Wagenpferde. — Im Gaw- 
rilowschen Gestüte: 120 Mutterstuten.—Im Danilowschen Gestüte 
(Gouvernement Kostroma): 2170 Hengste und Stuten; alle deutscher 
Race. — Im Gestüte Sidorowo (Gouvernement Kostroma): 130 
Beschäler und Mutterstuten. — Im Gestüte Wsegoditsche (Gou¬ 
vernement Wladimir): 209 Beschäler und Mutterstuten, alle Rappen. 

— Im Skopinschen Gestüte (Gouvernement Rjäsan): 1000 Stuten 
von dunklem Haar. — Im Gestüte Powschino (Gouvernement 
Moskau): 20 Mutterstuten, TscheremissischerRace, kleinen Wuchses. 

— Im Gestüt Bogoroditzk (Gouvernement Tula): Pferde allerlei 
Racen. — Im Gestüte Scheksowo: 80 Mutterstuten und alle Be¬ 
schäler scheckig und ausserdem Beschäler, Schimmel, Dänischer 
Race. — InPakechrino waren sortirte junge Reit- und Wagenpferde, 
die dem Hofe zugehörten. 

Im Jahre 1732 zählten die Kronsgestüte an 318 Beschäler, 1320 
Mutterstuten und 832 Füllen; ausserdem 961 -Wagenpferde, 287 
Pferde für verschiedenen Gebrauch; im Ganzen also 3718 Pferde. 
Im Jahre 1740 aber stieg diese Zahl auf 4414 Pferde von Arabischer, 
Englischer, Spanischer, Persischer, Türkischer, Neapolitanischer, 
Dänischer, Deutscher, Tscherkessischer Abkunft und von inländi¬ 
scher Race. Dieser Aufschwung rief nun im Allgemeinen grosse 
Fortschritte hervor und im Jahre 1750 findet man schon über zwanzig 
Privat-Gestüte, deren Zahl sich unter der Regierung Catharina II. 
sehr bald vermehrte. Unter diesen waren mehrere besonders be¬ 
rühmt, wie das vom Grafen Orlow-Tschesmensky, vom Grafen 
Flubow u. a. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts steigt die 
Zahl der Privat-Gestüte auf 250. 

Nach den Kriegen, welche den Anfang des neunzehnten Jahr¬ 
hunderts bezeichnen, erfuhr die Verwaltung des Gestütwesens eine 
neue, bessere Organisation. Im Jahre 1819 wurden die Krons¬ 
gestüte auf Befehl des Kaisers Alexander II. in Gestüte des Hofs 
und in Militär-Gestüte getheilt, und im Ganzen eine jährliche Summe 
von 757,248 Rubel Assignaten für sie ausgeworfen. Im Jahre 1843 
wurden die Militärgestüte aufgehoben und statt dieser andere Ge¬ 
stüte gegründet, deren hauptsächliches Ziel in der Verbesserung der 
Pferderacen in Russland bestand. 

Im Jahre 1845 wurden von der Krone die berühmten Privat- 
Gestüte: das Chränowoische vom Grafen Orlow, das Gestüt des 
Grafen Rostopschin und das des Herrn Amensky angekauft. Vom 
Staate unterstützt, vermehrten sich die Privat-Gestüte immermehr, 


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und schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts besass Russland 
900 Privat-Gestüte. Auf der Pariser Ausstellung im Jahre 1867 
fanden die russischen Pferde anerkannt den hervorragendsten 
• Beifall. 

Von den inländischen Pferden Russlands sind folgende Racen zu 
nennen; 

Die Kirgisen-Pferde —klein an Wuchs, aber kräftig und gewandt. 

Pferde , die man in den Thälern von Sibirien findet, in den Um¬ 
gegenden des Altai-Gebirges — sie gleichen sehr dem Kirgisischen 
Pferde, sind aber grösser, breiter und geeigneter, allerlei Anstren¬ 
gungen zu ertragen. 

Die Kahnüken-Pferde an der Wolga und dem Kaspischen Meere, 
dann zwischen den Flüssen Kuma und Manytsch. Diese Pferde sind 
wild, schwer zu bändigen, sehr stark, gewandt und im Stande, Ent¬ 
behrungen der mannigfachsten Art zu ertragen. 

Die Pferde der Baschkiren werden sowohl in Thälern als auch in 
Gebirgen gebraucht und sind tauglich als Reit- und Anspannpferde. 
Sie sind einheimisch in den Gouvernements: Orenburg, Ufa, Ssamara 
und Perm. N 

Die Pferde des Don bilden zwei Racen: einheimische und ver¬ 
edelte. Sie sind besonders vortrefflich als Reitpferde und laufen 
mit grosser Schnelligkeit. 

Die Ukrainschen Pferde , die hauptsächlich für die Cavallerie be¬ 
nutzt werden, besitzen auch alle nöthigen Eigenschaften eines guten 
Reitpferdes. 

Die Tscherkessen-Pterde aus dem Kaukasus, eher klein als gross, 
aber stark, im höchsten Grade leicht und gewandt, voll Energie, 
dabei zahm und gehorsam. 

Die Estländischen Klepper bilden eine besondere Race und sind 
seit uralten Zeiten in den Ostseeprovinzen heimisch; vor ungefähr 
30 Jahren gab es noch sogenannte Doppelklepper y durch das viele 
Kreuzen sind diese jedoch ausgeartet. Die Klepper sind kräftig und 
haben einen vortrefflichen Trab. 

Die Finnländischen Pferde, unter dem Namen „Schwedki“ be¬ 
kannt, gleichen sehr den Kleppern, sind von kleinem Wüchse, auch 
kräftig und sind ebenfalls gute Traber. Schliesslich sind noch zu 
erwähnen die sogenannten Wjätki, das Pferd der Obwa , Imud y 
Mezen und das Bitjugscke Pferd. * 

Zur Veredlung der Racen in den Gestüten nehmen die arabischen 


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und englischen Pferde die erste Stelle ein. Die berühmtesten Be¬ 
schäler der Kronsgestüte waren: „Birmingham“ von Filo da Pouta, 
„Göneral-Chass£“ von Acteon, „Henriade“ von Voltaire, „Coronatiori“ 
von Sir Hercule, „Djerid“von Sultan, „Vantromp“ von Banerkost, 
„Studower“ von Be-Midletoti, „Rifleman“ von Toutchonej dann 
noch Lord Fauconberg, Costriel, Longdoun, Kontinua, El-Hadm, 
Roman. Das Gestüt zu Chranowoi besitzt Stuten, welche von 
Priam, Touchstone, Defense, Jerry und The-Sadler abstammen. 

Die bemerkenswertheste inländische Race ist die sogenannte 
„Orlowsche“, entstanden durch methodische Kreuzung arabischer 
und englischer mit dänischen und holländischen Pferden. Der 
Graf Orlow besass die Beschäler: Balaban, Sultan, Sennietanka, 
Fackel und Flasan. Als das im Jahre 1802 vom Grafen Rostopschin 
im Gouvernement Woronesh gegründete Gestüt nach Chranowoi 
übergefiihrt wurde, besass es die berühmten englischen Vollblut- 
Hengste: Cadi. Dragoüt, Caimak und Richan. Alle anderen Ge¬ 
stüte in Russland haben ihr Dasein diesen zwei primitiven Racen, 
vom Grafen Orlow und Rostopschin, zu verdanken. 

Die zur Zeit bestehenden Kronsgestüte sind folgende: 

I. Gestüt zu Chränowoi (Gouvernement Woronesh, Bezirk von 
Bobrow) im Jahre 1845 gekauft von der Gräfin A. A. Orlow-Tsches- 
mensky. Es besteht aus drei Abtheilungen: in der ersten sind 4 
Beschäler und 40 Mutterstuten — englische Vollblut-Pferde, in der 
zweiten nur Pferde vom Reitschlage und in der dritten: Traber. 

II. Gestüt zu Bjälowodsk im Gouvernement Charkow, Bezirk von 
Starobjelsk. Unter diesem Namen sind vier Gestüte zu verstehen, 
von welchen ein jedes eine besondere Gattung Pferde stellt: 

A. Das Gestüt von lerkulsk , welches eines der ältesten Gestüte ist. 
Vor Zeiten, als noch die Gestüte in H,of- und Militär-Gestüte getheilt 
waren, gehörte dasselbe zu diesen letzteren und lieferte nur grosse 
Cavallerie-Pferde. Heute aber züchtet es grosse und kleine Last- 
und Wagenpferde; es enthält 12 Beschäler und 150 Mutterstuten. 

B. Gestüt von Streletzk. Hier werden Pferde für die leichte 
Cavallerie gezüchtet. — Bestand: Beschäler und 150 Mutterstuten. 

C. Gestüt von Limarew . In diesem Gestüte befinden sich nur 
arabische und anglo-arabische Pferde. Es enthält 4 Beschäler und 
20 Mutterstuten. Bei diesem Gestüt besteht ein Depot von 160 
jungen Pferden, die alljährlich aus den Gestüten Streletzk undNowo- 
Alexandrowsk übergeführt werden. 


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D. Gestüt von Nowo-Alexatidrowsk, früher Alexeiwsky genannt. 
Es züchtet Halbblut-Reitpferde und enthält 12 Beschäler und 150 
Mutterstuten. 

III. Gestüt und Depot zu Janow in Polen, Gouvernement Sjedletz, 
Bezirk von Bjiela. Dieses Gestüt sowie auch das Depot wurden vom 
Kaiser Alexander I. gegründet und sie enthielten damals iqo Mutter¬ 
stuten und 55 Beschäler gemischter Racen. Jetzt aber hat das Ge¬ 
stüt 5 Beschäler und 60 Mutterstuten und das Depot 80 Beschäler. 

IV. Gestüt zu Orenburg. Hier werden Pferde von inländischen 
Racen gezüchtet; die Paarung wird jedoch ganz den He'ngsten über¬ 
lassen, da das Beschälen der Mutterstuten nicht aus der Hand, son¬ 
dern im Freien in den Tabunen geschieht. Dieses Gestüt enthält 
12 Beschäler und 100 Mutterstuten. 

Ausser den genannten Gestüten existiren noch Depots für Be¬ 
schäler und besondere Stallungen, wo Kreuzungen mit Kronshengsten 
und Stuten von Privat-Personen stattfinden. 

Diese Depots sind folgende: 

1) Das Depot in Potschinki, Gouvernement Nishnij-Nowgorod, 
Bezirk von Bukjanow, 158 Beschäler. 

2) Depot in Chränowoi, Gouvernement Woronesh, Bezirk 
Bobrow, 110 Beschäler. 

3) Depot in Jelissawetgrad, Gouvernement Chersson, in der Stadt 
Jelissawetgrad selbst, 100 Beschäler. 

4) Depot in Tambow. 

5) Depot in Charkow. 

6) Depot in Ssmolensk. 

7) Depot in Kamenez-Podolsk; die letzten vier Depots befinden 
sich in den Hauptstädten der genannten Gouvernements. 

8) Depot in Limarew, Gouvernement Charkow, im Bezirk von 
Starobjelsk. 

In den fünf letztgenannten Depots befinden sich stets 60 Beschäler. 

9) Depot in Janow in Polen, 80 Beschäler. 

10) Schliesslich das Depot in Moskau — 10 Beschäler der besten 
Abstammung. Hierzu gehört ein Zweig-Depot, das sich in 
Nowgorod befindet. 

Stallungen, wo Kreuzungen der Kronsbeschäler mit verschiedenen 
Stuten stattfinden, sind in den Gouvernements Wilna, Perm und 
Poltawa; im Ganzen giebt es solcher Stallungen drei und in jeder 
derselben befinden sich 60 Beschäler. 

1000 Kronsbeschäler decken jährlich bis 12,000 Stuten. 


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4 77 


Rennvereine, Vereine des Trabrennens, die Resultate beim Last¬ 
schleppen, sowie auch locale Pferde-Ausstellungen werden vom 
Staate reich unterstützt. Die Hauptverwaltung des Reichs-Gestüt¬ 
wesens vertheilt zu diesem Zwecke jährlich eine Summe von 86,000 
Rubel. Die verschiedenen Rennvereine ihrerseits geben für den¬ 
selben Zweck 64,000 Rubel aus; Alles in Allem werden also jährlich 
150,000 Rubel hierfür verwandt. 

Der Pferdehandel im engeren Sinne wird vorzüglich auf den 
Pferdemärkten betrieben. Der Umsatz auf diesen Märkten ist sehr 
beträchtlich, so dass die Zahl derjenigen Pferde, die von Züchtern 
aus Gestüten und Tabunen gekauft werden, vergleichsweise nicht 
sehr gross ist. — Um eine richtige Vorstellung vom Pferdehandel in 
Russland zu gewinnen, ist es nothwendig, speciellere Daten über die 
Pferdemärkte kennen zu lernen. Im ganzen Europäischen Russland 
zählt man 356 zerstreut liegende Orte, an welchen Pferdehandel be¬ 
trieben wird. An diesen Orten werden jährlich 1073 Jahrmärkte 
abgehalten. Nach Monaten sind diese Märkte sehr ungleich ver¬ 
theilt; die meisten finden im Juni, die wenigsten im December statt; 
namentlich aber imr 


Januar. 

65 

Februar ..... 

82 

März. 

81 

April. 

69 

Mai. 

104 

Juni. 

148 

Juli. 

63 

August. 

94 

September .... 

121 

October. 

113 

November .... 

73 

December .... 

60 


Wenn wir aber die Vertheilung der Jahrmärkte nach den Jahres¬ 
zeiten betrachten, so finden wir eine regelrechte Stufenfolge. Auf die 
Wintermonate fallen 207 Jahrmärkte, auf die Frühlingsmonate 254, 
auf die Sommermonate 305, auf die Herbstmonate 307. 

Allen 356 Jahrmarktsorten werden zum Verkauf über 300,000 
Pferde verschiedener Gattungen zugeführt. 

Nehmen wir, gestützt auf verschiedene Angaben, an, dasä auf den 
Jahrmärkten von dieser Anzahl zwei Drittel verkauft werden, und 
setzen wir den Durchschnittspreis eines Pferdes auf 60 Rubel, so 


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/ 









478 


erhalten wir die Summe von 12,000,000 Rubel, welche annähernd 
den jährlichen Umsatz auf den Pferdejahrmärkten Russlands be¬ 
zeichnet. 

Nach den eingegangenen Berichten beträgt die G$sammt-Anzahl 
der Pferde des Europäischen Russlands mit Inbegriff des Weichsel- 
Gebiets 19,266,667. Wenn der Durchschnittspreis eines Pferdes 
auf 40 Rubel angeschlagen wird, so ergiebt sich für ihren Gesammt- 
Werth die Summe von 770,666,680 Rubel. 

In der Gesammtzahl der Pferde befinden sich an Mutterpferden 
in den Gestüten 77,678, in den Steppen etwa 640,000 und unter den 
Bauerpferden etwa 850,000. Ihre jährliche Zuzucht erreicht fast 
eine Million, was zur gesammten Pferdezahl beinahe 5 pCt. v aus¬ 
macht. Dieser jährliche Zuwachs genügt für die Bedürfnisse des 
Staates und Landes und deckt auch die Ausfuhr ins Ausland, nach 
Europa und Asien. 

Wir lassen diesen Mittheilungen noch einige Worte über die 
Privat-Gestüte folgen. Im Ganzen giebt es 44 Gouvernements, in 
welchen sich Gestüte befinden, und zwar sind dieses hauptsächlich 
die östlichen und südlichsten Gouvernements; die nördlichen und 
nord-westlichen Gouvernements haben gar keine Gestüte aufzu¬ 
weisen. Im Ganzen zählt man 2650 Privat-Gestüte. Die meisten 
Gestüte (321) hat das Gouvernement Tambow, die wenigsten (1) 
das Gouvernement Nowgorod. An Beschälern zählt man in allen 
diesen Gestüten gegen 7151, an Mutterstuten 77,678. Die meisten 
Beschäler (2005) hat das Land der Donischen Kosaken, die wenig¬ 
sten (nur einen) das Gouvernement Wologda aufzuweisen. Auch die 
meisten Zuchtstuten (26,734) befinden sich im Lande der Doni¬ 
schen Kosaken, die wenigsten (9) im Gouvernement Wologda. — 
Was den Einfluss betrifft, den die Gestüte auf die Veredelung der 
sämmtlichen Pferde Russlands ausüben, so kann man wohl behaupten, 
dass er ein höchst wohlthätiger ist. Die Zeit wird es lehren, wie 
viel die Haupt-Verwaltung des Reichsgestütwesens vermocht hat, 
die Pferdezucht im Reiche zu fördern und welche sichere Grund¬ 
lagen dieser Zweig der Landwirtschaft seit 1859, ungeachtet der 
Crisis, die das russische Gestütwesen in Folge besonderer und ganz 
fremder Ursachen traf, gewonnen hat Jetzt aber lässt sich schon 
sagen, dass in Folge bedeutender Abnahme der Privat-Gestüte und 
der Entwickelung der Pferdezucht unter den kleinen Landbesitzern 
und Bauern einige Racen in der Nachzucht wohl theilweise an ihren 
Vorzügen: verloren, sich ^aber in der Masse nicht verringert haben. 


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_479 

Die verhältnissmässige Wohlfeilheit der Pferde, die mehr gebräuch¬ 
liche Gattung, die auf die Jahrmärkte unserer mittleren und süd¬ 
lichen Gouvernements gebracht wird, beweist, dass wir Pferde im 
Ueberfluss haben und im Falle stärkerer Nachfrage kein Mangel 
beim Ankäufe eintreten kann. Es wurde schon erwähnt, dass die 
Remonte der Cavallerie auch als sichergestellt zu betrachten ist, 
weil wir, ausser der bedeutenden Pferdezucht in unseren südlichen 
Gouvernements, auch im Orenburgschen, am Don, über ungeheure 
Massen verfügen können, die allerdings weniger schön sind, dagegen 
aber durch unschätzbare Vorzüge für die Kriegstüchtigkeit sich aus¬ 
zeichnen. 

Schliesslich wollen wir noch erwähnen, dass die grosse Flächen- 
Ausdehnung Russlands der Pferdezucht besonders zu Gute kommt 
und dass je mehr die vorzüglichen Eigenschaften des russischen 
Pferdes Anerkennung Anden werden, um so mehr auch der Handel 
mit demselben steigen müssen wird. 


Statistische Notizen über das Königreich Polen. 

1. Das Gouvernement Ssuwalki. 

In Folge der neuen, durch Allerhöchsten Ukas vom 19. (31.) De-' 
cember 1866 eingeführten, Organisation des Königreichs Polen ha¬ 
ben die früher über dasselbe gesammelten statistischen Daten man¬ 
nigfache Veränderungen erlitten; die administrative Einrichtung des 
Landes ist jetzt eine andere. Aus den bis zum Jahre 1866 bestehenden 
fünf Gouvernements sind zehn geworden, die natürlich in anderen 
Bedingungen sich befinden als die früheren. Eine neue, übersichtliche 
Beschreibung des Landes, auf Grund genauer, statistischer Ermitte¬ 
lungen scheint daher um so mehr von Nöthen, als überhaupt in den 
letzten Jahren die Statistik Fprtschritte gemacht hat und die For¬ 
schungen jetzt gewissenhafter geführt werden. Als ein Beweis hier¬ 
für kann angeführt werden, dass, während noch vor wenigen Jahren 
die Bevölkerung des ganzen Königreichs Polen auf nicht ganz fünf 
Millionen Seelen angegeben wurde, dieselbe gegenwärtig auf beinahe 
sechs Millionen berechnet wird. Da es nun höchst unwahrscheinlich 


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ist, dass sie sich um fast eine Million vermehrt haben könnte, muss 
angenommen werden, dass die früheren Volkszählungen ungenau 
waren. Gegenwärtig beschäftigt man sich angelegentlich mit der 
Statistik des Königreichs Polen. Mit der Zeit werden wohl über¬ 
sichtliche Beschreibungen aller einzelnen Gouvernements erscheinen, 
aus denen sich ein festes Urtheil über die gegenwärtige Lage des 
Landes wird gewinnen lassen. Vorläufig haben wir jedoch erst die 
Beschreibung des jetzigen Gouvernements Ssuwalki; die ein Beamter 
der dortigen Gouvernements-Regierung, Herr M. J. Kirkor, in einem 
von ihm herausgegebenen Jahrbuche geliefert hat. Indem wir uns 
Vorbehalten, die anderen Gouvernements später folgen zu lassen, 
wollen wir diesmal, mit dem Gouvernement Ssuwalki beginnend, aus 
dem Buche des Herrn Kirkor das Wichtigste hier zusammenstellen. 
Vorher aber müssen wir der allgemeinen Uebersicht halber bemerken, 
dass das Königreich gegenwärtig in administrativer Beziehung in 
nachbenannte Gouvernements zerfallt: Warschau (254,3 Q.-M.), 
Kalisch (197,5 Q.-M.), Piortkow (212 Q.-M.), Radom (223,8Q.-M.), 
Keletzk (170,4 Q.-M.), Lublin (294,3 Q.-M.), Sjedletz (249,2 Q.-M.), 
Plozk (188 Q.-M.), Lomsha (207 Q.-M.), Ssuwalki (227 Q.-M.). 

Das gegenwärtige Gouvernement Ssuwalki besteht" aus dem 
grösseren Theil des früheren Gouvernements Augustowo, während 
ein kleinerer Theil desselben zum Gouvernement Lomsha geschlagen 
wurde; es stellt den nördlichsten Theil des Königreichs Polen dar und 
grenzt im Norden an das Gouvernement Kowno, im Osten an die 
Gouvernements Wilna und Grodno, im Süden an das Gouvernement 
Lomsha und im Westen an das Königreich Preussen. Mit den 
übrigen diesseitigen Gouvernements hängt es nur durch einen 
schmalen, mehrere Meilen langen Pass zusammen. Die Oberfläche 
des Landes beträgt 1,158,444 Dessjätinen oder 227 Q.-M. Ueber 
dn Viertel der gesammten Bodenfläche oder 270,000 Dessjätinen ist 
mit Wald bedeckt, 27,000 Dessjätinen nehmen Gärten ein, 481,800 
Ackerland und der Rest besteht aus Wiesen, Gebüschen, Gewässern 
und Sümpfen. 

Das Gouvernement zerfällt in nachfolgende sieben Kreise: Ssuwalki, 
Augustowo, Sejny, Kalwarya, Mariampol, Wolkowyszki und Wlady- 
slawör. Die Ausdehnung derselben ist nicht gleichmässig und wech¬ 
selt von 22 Qf-M. (Wolkowyszki) bis zu 40 Q.-M. (Sejny). In diesen 
sieben Kreisen giebt es ausser der Gouvernements-Hauptstadt und 
den Kreis-Städten nur noch drei andere Städte, 15 Marktflecken* 
3,403 Dörfer und 1*890 Vorwerke, zusammen 5,293 bewohnte Ort- 


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481 


schäften. Hiervon sind 2,064 Dörfer Eigenthum der Regierung, 1339 
Dörfer Privat-Eigenthum. Im Gouvernement bestehen 55 Allerhöchst 
mit Dotationen vergebene Majorate. 

In administrativer Beziehung ist das Gouvernement Ssuwalki in 
zehn städtische und 94 Land-Gemeinden eingetheilt. Die Re¬ 
gierungs-Forsten zerfallen in zwölf Forst-Aemter. In Bezug auf die 
Gerichtspflege bestehen im Gouvernement vier Friedens-Gerichte, 
ein Polizei-Gericht (in der Stadt Kalwarya), ein Civil-Tribunal in der 
Stadt Ssuwalki. Ein Criminal-Gericht besitzt das Gouvernement nicht 
und werden die Criminal-Processe vom Criminal-Gericht in Plozk 
abgewickelt, was natürlich mit verschiedenen Nachtheilen ver¬ 
bunden ist 

Die Bev'ölkerufig ist aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt 
und bildet daher in ethnographischer Beziehung ein nicht uninte¬ 
ressantes Bild. Sie besteht aus Lithauern, Polen, Russen, Deutschen, 
Tartaren, Zigeunern und Juden. Im nördlichen Theile des Gouver¬ 
nements wohnen Lithauer, im südlichen Polen. Unter diesen letz¬ 
teren verdient der Stamm der „Kurpie“ im Kreise Augustowo beson¬ 
dere Erwähnung. Gegenwärtig ganz mit den Polen verschmolzen, 
bieten sie dennoch in Character, Sitten und Gebräuchen manches 
Besondere, das auf eine anderweitige Abstammung hindeutet. Es 
wird auch in der That angenommen, dass das kleine Völkchen der 
„Kurpie“ ursprünglich einer der umwohnenden polnischen Bevöl¬ 
kerung fremden Abstammung ist, aber bis jetzt sollte es den Nach¬ 
forschungen der Geschichtsschreiber und Archäologen nicht gelingen, 
seine Herkunft unumstösslich festzustellen. Während Einige die An¬ 
sicht vertreten, dass die ,,Kurpie“ Vorjahrhunderten aus den Kar¬ 
pathen eingewandert und eines Stammes mit den dortigen Gebirgs¬ 
bewohnern sind, mit denen sie in der That in manchen Sitten und 
Gebräuchen Aehnlichkeit haben sollen, behaupten Andere, dass in 
vorhistorischen Zeiten der Grüne-Urwald (gegenwärtig Urwald von 
Nowogrod genannt) Zufluchtsort aller Derjenigen war, welche aus 
verschiedenen Ursachen aus der Heimath flüchten mussten. Diese 
Flüchtlinge wären demnach die Stammväter der „Kurpie“. Viel wahr¬ 
scheinlicher jedoch als diese, klingt eine dritte Ansicht, die nämlich, 
dass in früheren Jahrhunderten, ja sogar noch im XIV. Jahrhundert, 
der Urwald von Nowogrod zum Verbannungsorte für Verbrecher aus 
den umliegenden Ländern diente (also eine Art Verbrecher-Colonie 
bildete). Die „Kurpie“ wären somit Nachkommen der damaligen 
Exilirten. Alles das sind aber, wie gesagt, nur vage Annahmen und 

3a 


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eine endgültige Aufklärung der Sachlage ist erst zu hoffen. In frü¬ 
heren Zeiten waren die „Kurpie“ sehr kriegerisch und bekannt als 
äusserst verwegene und geschickte Parteigänger; von ihren Waffen 
trennten sie sich niemals. In Friedenszeiten beschäftigten sie sich 
mit Bienenzucht und Jagd. Ackerbau betrieben sie gar nicht. Erst 
in neuerer Zeit wurde ihnen das Waffen-Tragen verboten und da ihre 
früheren Urwälder stark gelichtet, müssen sie auch zum Ackerbau 
Zuflucht nehmen. 

Einen zweiten nicht uninteressanten Bruchtheil der Bevölkerung bil¬ 
den die zur FilopowskischenSecte gehörigen russischen „Starovierzen“ 
(Altgläubigen), die sich schon vor mehreren hundert Jahren im süd¬ 
lichen Theile des Gouvernements niedergelassen haben, wie dies aus 
einem von ihnen aufbewahrteti, im Jahre 1571 in Lemberg von 
Johann Feodorowitsch Chodkiewitsch herausgegebenen Buche er¬ 
hellt. Die Niederlassungen der Starovierzen sind sporadisch unter 
der einheimischen Bevölkerung zerstreut. Die erste soll im Kreise 
Sejny, in der Nähe des Dorfes Lipin gegründet worden sein. Gegen¬ 
wärtig bewohnen die Starovierzen fünf Dörfer, und zwar Giebokiröw 
im Kreise Ssuwalki, Pogorzelcy im Kreise Sejny, Piawne ruskie, Ra- 
sztabal und Szury im Kreise Augustowo. Sie gemessen vollständige 
Freiheit in Bezug auf die Ausübung ihres Cultus, haben sowohl ihre 
Sprache als auch Sitten erhalten und beschäftigen sich mit Land¬ 
wirtschaft, Gartenbau und Leinwandfabrication, in welcher letzteren 
sie es zu einer hohen Stufe der Vervollkommnung gebracht haben. 
In den neuesten Zeiten mehren sich unter ihnen dieUebertritte zu der 
Sekte der Jedinovierzen, und zwar traten in den letzten Jahren zu der 
genannten Secte 800 Starovierzen über. Die Jedinovierzen siedelten 
sich in den Dörfern Nikolajewo, Alexandrowo und Pokrowskie an; 
in Petrowskie besitzen sie eine Kirche. 

Bekenner des griechisch-unirten Glaubens giebt es im Gouver¬ 
nement Ssuwalki ebenfalls; sie gehören zur griechisch-unirten Diöcese 
Chelm, bewohnen zum grösseren Theil den Kreis Augustowo und 
besitzen daselbst neun Kirchen. 

Unter diesen Elementen der Bevölkerung sind noch die Tartaren 
zu erwähnen, die hier seit Jahrhunderten angesiedelt sind und trotz¬ 
dem sie am muhamedanischen Glauben festhalten, polnische Sprache, 
Sitten und Gebräuche angenommen haben. Sie wohnen meistentheils 
in den Kreisen Kalwarya und Wolkowyszky und besitzen im Dorfe 
Winksznupe eine Moschee. Die Zahl der Juden im Gouvernement 
ist sehr beträchtlich. Die Mehrzahl der Städte ist fast ausschliesslich 


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von ihnen bewohnt, aber auch auf dem Lande sind sie zahlreich ver 
treten; sie beschäftigen sich mit Handel und Handwerken. Eine 
kleine Anzahl sporadisch im Lande zerstreutet Zigeuner vervollstän¬ 
digt die bunte Zusammensetzung der Bevölkerung. 

Eine-genaue Eintheilung der Bewohner nach der Nationalität ist 
schwierig, weil es in vielen Fällen unmöglich wird zu bestimmen, ob 
Jemand zum polnischen oder lithauischen Stamme gehört. Nach 
dem Religions-Bekenntnisse getheilt, zählt die Bevölkerung i, 184 Grie¬ 
chisch-Orthodoxe, 4,79oStarovierzen, 9,709Griechisch-Unirte,386,373 
Römisch-Katholische, 34,071 Lutheraner und Reformirte, 87,839 
Juden, 223 Muhamedaner, oder zusammen 532,372 Köpfe, darunter 
260,689 männlichen und 271,683 weiblichen Geschlechts. Das in der 
obigen Zahl mitinbegriffene Militär zählt 7,883 Mann. Nach den Stän¬ 
den berechnet zählt das Gouvernement: 193 Weltgeistliche (sammt 
Familien), 33 Kloster-Geistliche, 1,272 Personen, welche zunt Erb- 
Adel des Kaiserreichs und 7,731 Personen, die zum Erb-Adel des 
Königreichs Polen gehören, 913 Kaufleute, 79,980 städtische Bürger, 
417,150 Bauern, 8342 Colonisten, 1,738 fremdländische Unterthanen, 
6,680 beurlaubte oder verabschiedete Soldaten, 7883 im Dienst be¬ 
findliche Soldaten und45ö Personen, die in obigeCategorien nichtein 
bezogen werden können. Die Gesammt-Bevölkerung stellt sich somit 
wie obenauf 532,372Köpfe. Der weitab grösste Theil der Bewohner, 
fast 4 /5 derselben, bekennt sich zum römisch-katholischen *Glauben. 

Wenn wir den Stand der Bevölkerung im Jahre 1870, auf welchen 
die vorerwähnten Zahlen sich beziehen, mit den drei vorhergehenden 
Jahren vergleichen, so erhalten wir nachfolgende Resultate: Im Jahre 
1867 zählte die Bevölkerung 511,170 Seelen, im Jahre f868—515,924, 
im Jahre 1869 — 517,357. Seit dem Jahre 1867 hat sich dem¬ 
nach die Einwohnerzahl des Gouvernements Ssuwalki um 440 
vermehrt. Im Jahre 1871 wurden 3,404 Ehen geschlossen, 
geboren wurden 9,784 Knaben und 9,342 Mädchen; der Zu¬ 
wachs betrug zusammen 19,126 Köpfe. Es starben 6,257 Män¬ 
ner, 6,210 Frauen. Die Abnahme bettägt 12,467 Individuen. 
Wenn wir nun diese Ziffern mit den entsprechenden des Vorjahrs 
vergleichen, so finden wir, dass die Bevölkerung sich wiederum um 
7,129 Personen, oder um 1,36 0/0 vermehrt hat. Die Zunahme resul- 
tirt hauptsächlich aus dem Ueberschuss der Geburten über die To¬ 
desfälle, welcher sich mit 6,659 beziffert. Im Jahre 1871 wurden im 
Vergleich mit dem Vorjahre 562 Ehen mehr geschlossen. 

In Bezug auf geographische Lage , Klima , Boden und Industrie 

32* 


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4»4 


unterscheidet sich das Gouvernement Ssuwalki sehr bedeutend von 
den andern neun Gouvernements des Königreichs Polen. Nur durch 
einen, engen Pass gegen Süden mit dem Gouvernement Lomsha ver¬ 
bunden, breitet es sich mehr gegen Norden aus, ist zwischen 
Preussen und den Gouvernements Grodno, Wilna und Kowno wie 
eingezwängt und bildet somit die äussersten nördlichen Marken des 
Königreichs. Was die Fruchtbarkeit des Bodens anbelangt, gehört» 
das Gouvernement Ssuwalki im Vergleich mit den übrigen zu den am 
wenigsten bevorzugten. Das Klima ist bedeutend rauher und die 
Industrie am wenigsten entwickelt. 

In topographischer Beziehung kann das Gouvernement Ssuwalki 
in zwei Hälften getheilt werden, eine nördliche und eine südliche, 
die unter einander wiederum sehr verschieden sind, sowohl was den 
allgemeinen Character des Landes wie auch die Eigenschaften des 
Bodens, den Stand des Ackerbaus und die Anzahl der Seen und 
Wälder anbelangt. 

Das Klima dieses Landes ist zwar gemässigt, aber in Folge der 
nördlichen Lage, wie gesagt, viel rauher als in den anderen Theilen 
des Königreichs. Der mittlere Stand der Temperatur beträgt 
+ S»o R. In Folge der klimatischen Verhältnisse und der localen 
Eigentümlichkeiten des Bodens steht der Ackerbau', welcher 4 /& der 
Bewohner den Lebensunterhalt gewährt, auf einer nur sehr mittel- 
mässigen Stufe der Entwickelung. Bei den Bauern ist noch die 
Dreifelder-Wirthschaft im Gebrauch, die Gutsbesitzer und Pächter 
grösserer Ackerflächen führen nach und nach das System der Rota¬ 
tion ein. Zum Düngen der Felder wird Viehdünger verwendet, 
jedoch ist in den Kreisen Augustowo und Sejny versuchsweise Torf¬ 
düngung eingeführt, die sich auf Sand-Boden sehr gut bewähren 
soll. Das Ackerland beträgt, wie gesagt, 481,000 Dessjätinen, die 
hauptsächlich mit Roggen aber auch mit Weizen, Gerste, Wicken, 
Hafer und Kartoffeln bebaut werden. Auf die Production dieser letz¬ 
teren wird besondere Sorgfalt verwendet 

Auf vielen grossem Gütern bildet der Betrieb von Branntwein- 
Brennereien eine nicht unwesentliche Aushülfe bei der Landwirt¬ 
schaft. Man producirt hier den Branntwein meistenteils aus Kar¬ 
toffeln, aber nur wenige Gutsbesitzer betreiben diesen Industrie¬ 
zweig in grösserem Umfange , weil es ihnen schwer, ja unmöglich 
ist, mit den Brennereien im Gouvernement Lomsha zu concurriren, 
die das Product zu viel billigeren Preisen auf den Markt im benach¬ 
barten Departement Ssuwalki bringen können. Aus diesem Grunde 


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48s 


hat denn ^auch im Allgemeinen die Branntwein-Production in diesem 
letzteren abgenommen, so dass die Zahl der im Betrieb stehenden 
Brennereien im verflossenen Jahre von 102 auf 82 gesunken ist. 
Uebrigens ntag die Verminderung der Production ausser in den oben 
erwähnten Ursachen zum Theil auch in der Abnahme der Consum- 
tion ihren Grund finden und zwar führt auf diese Vermuthung der 
Umstand, dass gleichzeitig die Zahl der Bier-Brauereien um acht 
gestiegen ist. Sie betrug nämlich 32 im Jahre 1870, gegenwärtig 
dagegen 40. Es. muss hierbei bemerkt werden, dass nicht allein im 
Gouvernement Ssuwalki, sondern auch in allen übrigen Gouverne¬ 
ments des Königreichs in letzterer Zeit eine Abnahme des Brannt¬ 
wein-Consums und eine Zunahme des Bier-Verbrauchs constatirt 
worden. Es bewährt sich somit auch hier die alte Erfahrung, dass 
nämlich die Bauern viel arbeitsamer und nüchterner werden, sobald 
sie Grundeigenthümer geworden. 

Die Landwirthschaft beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen 
auf die Production der eigentlichen Kornfrüchte und Kartoffeln. Mit 
dem Anbau von Flachs, Oelsaaten, Zuckerrüben befassen sich die 
Eigenthümer grösserer Land-Güter gar nicht, die Bauern dagegen 
nur im beschränkten Umfange, soweit es ihre eigenen häuslichen 
Bedürfnisse erheischen. Obst- uxid Gemüse-Gärten sind gänzlich 
vernachlässigt. Die Bauern beschäftigen sich mit deren Cultivirung 
gar nicht. Eine Ausnahme hiervon bilden die Starovierzen, deren 
Dörfer in den Kreisen Sejny und Ssuwalki von schönen Obst- und 
Gemüse-Gärten umgeben sind; auch giebt es deren auf einzelnen, 
aber bei Weitem nicht allen adeligen Gütern. Erst in neuester Zeit 
zeigen sie Spuren einer grösseren Liebe zur Gartenwirthschaft. 
Hier und da sind Pflanzungen von Obstbäumen angelegt worden. 
Die Artfänge dieser Cultur sind namentlich in den Kreisen Augu- 
stowo und Kalwarya sichtbar. 

Die Zahl der Mühlen ist nicht gross. Sie beträgt nur acht Dampf¬ 
mühlen und 66 Wasser- und Windmühlen. 

Die Viehzucht\ die hier noch am besten gedeihen könnte, steht 
ebenfalls auf keiner hohen Stufe. Was z. B. die Pferdezucht anbe¬ 
langt, so besitzt das Gouvernement Ssuwalki kein Regierungs- 
Gestüt, dafür hat es aber fünf Privat-Gestüte, von denen sich einige 
eines guten Rufes erfreuen. Man berechnet, dass auf jede Familie 
(vier Personen) der ländlichen Bevölkerung im Durchschnitt ein 
Pferd kommt, ausserdem t 1 2 Stück altes und 2 Stück junges Horn¬ 
vieh. Schaafe von veredelter Race werden nur von wenigen reichen 


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Gutsbesitzern gehalten. Die Wolle, die nicht im Lande verbraucht 
wird, geht theilweise nach Preussen, theilweise nach den angren¬ 
zenden Gouvernements des Kaiserreichs. Die Federviehzucht ist 
wenig entwickelt, die Bienenzucht im Verfalle. Früher war in diesen 
Gegenden die Zucht der wilden Wald-Bienen sehr verbreitet und 
der Handel mit Honig und Wachs bildete den hauptsächlichsten 
Industriezweig der Bewohner; das hat aber aufgehört, nachdem es 
sich herausgestellt, dass die wilden Bienen in den Wäldern grossen 
Schaden anrichten. Gegenwärtig, werden sie nur noch in den 
Wäldern des Kreises Mariampol geduldet. Sie liefern einen sehr 
schönen, angenehm riechenden, weissen Honig, aus dem in Köwno 
ausgezeichneter Meth bereitet wird. 

Ausschliesslich dem Ackerbau hingegeben, beschäftigt sich die 
ländliche Bevölkerung mit Industrie gar nicht. Einestheils fehlt es 
ihr an dem hierzu nöthigen Unternehmungsgeist, anderen Theils mag 
auch die bedeutende Entfernung von den grösseren Industrieheerden 
des Königreichs oder Kaiserreichs Schuld daran sein. Insofern jedoch 
überhaupt industrielle Thätigkeit sich hier vorfindet, ruht sie in den 
Händen der jüdischen Bevölkerung. Auch die Handwerke werden 
fast ausschliesslich von dieser letzteren betrieben und dass dies mit 
dem Handel gleichfalls der Fall ist, versteht sich von selbst. Während 
die einheimische christliche Bevölkerung nur allein dem Ackerbau 
obliegt, zeigen die Juden, wie überall so auch hier, eine ungemeine 
Rührigkeit; sie versehen die Landlcute mit den ihnen nöthigen 
Waaren, besorgen den Transport dieser Waaren so wie der Landes- 
producte. Die Juden sind Entrepreneure bei allen öffentlichen Ar¬ 
beiten und besorgen alle Lieferungen für die Regierung, sie haben 
ausserdem die Mehrzahl der Schänken in Pacht, so wie viele Mühlen 
und Seen, welche letztere sich durch grossen Reichthum an Fischen 
auszeichnen, die nicht allein nach den benachbarten Gouvernements, 
sondern auch nach Warschau ausgeführt werden. 

Den einzigen Industriezweig, mit dem sich die ländliche Bevölkerung 
in etwas grösserem Maassstabe beschäftigt, bildet die Tuch- und 
* Leinweberei. Das hier verfertigte Tuch ist von ordinairer Gattung 
und nur für den häuslichen Verbrauch berechnet, die Leinwand 
hingegen oft von grosser Güte und Feinheit. Die Bewohner sind zur 
Leinweberei sehr geschickt und da auch Boden und Klima zur Flachs- 
cultur sich wohl eignen, ist es sehr Schade, dass dieser Industrie¬ 
zweig nicht mit grösserer Energie betrieben wird. Es sind in dieser 
Beziehung mehrere Versuche gemacht worden, ohne bis jetzt nen* 


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4 87 


nenswerthe Resultate erzielt zu haben. Jedoch sind immerhin 29,679 
Spinnstühle thätig. Die jährliche Production an Tuch beträgt 48,000 
Arschinen im Werthe von 22,000 Rbl Die Leinwandproduction 
beträgt jährlich im Durchschnitt gegen 1 V a Millionen Arschinen,* 
im Werthe von 250,000 Rbl. Eine etwas grössere Lcinwandfabrik 
befindet sich auf dem Gute Dobrowola, Kreis Wladystawöw. Von 
anderen Fabriken existiren im Gouvernement zwei Baumwollen- 
Spinnereien, 4 Färbereien, 50 Gerbereien, 1 Seifenfabrik, 11 Talg- 
schmelzereien, 8 Stärkefabriken, 46 Ziegeleien, 3 Topffabriken, 24 
Kalköfen, 31 Theerhütten, 16 Oelfabriken und 7 Essigfabriken. Der 
Productionswerth aller dieser Industrieanstalten ist verhältnissmässig 
unbedeutend. 

Von andern Etablissements verdienen hier noch erwähnt zu wer¬ 
den: die Gasfabrik auf der Eisenbahnstation Wirballen, auf der 
Linie Wilna-Königsberg; ferner die Gusseisenfabriken in Sztabina, 
Kreis Augustowo, und Szeiwia. Kreis Wolkowyszky. Die jährliche 
Production dieser beiden, 22 Arbeiter beschäftigenden Anstalten 
repräsentirt einen Werth von 16,000 Rubel. Sie produciren Acker- 
baugeräthe, Dampfmaschinen, Spritzen u. s. w., welche meistens 
nach andern Gouvernements ausgeführt werden. 

Der Handel steht auf einer sehr niedrigen Stufe der Entwickelung 
und verspricht auch für die Zukunft keineh'besonderen Aufschwung, 
sowohl wegen der geographischen Lage des Gouvernements, als 
auch wegen Mangel an Eisenbahnen, Capitalien und Unternehmungs¬ 
geist. Die Haupthandelspunkte sind Ssuwalki, Augustowo und das, 
Kowno gegenüber, am Niemen gelegene Aleksota. Als Ausfuhr¬ 
artikel dienen ausschliesslich die Rohproducte der Landwirtschaft, 
wie z. B. Getreide, Flachs, Leinsamen, Holz, Häute, Wolle u.dgl.m. 
Eingeführt werden, zum grössten Theil aus dem Auslande: Eisen, 
verschiedene Fabrikerzeugnisse, Galanteriegegenstände, Farben, 
Erzeugnisse aus Glas und Fayence, ferner Heringe, Wein, Jucker 
und andere Colonialwaaren. 

Grössere Jahrmärkte giebt es im Gouvernement gar nicht, dafür 
werden kleinere Märkte, meistens an Festtagen in den Städten';und 
Marktflecken abgehajten. Dergleichen Märkte giebt es im Jahre 120. 
Der Werth der auf ihnen ausgebotenen Waaren wird im Durch¬ 
schnitt auf 800,000 Rubel berechnet. Hiervon wird für ungefähr 
600,000 Rubel verkauft. . . 

An Forsten hat das Gouvernement Ssuwalki bis jetzt noch keinen 
Mangel. Dieselben bedecken im Gegentheil den vierten Theil des 


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488 


Bodens. Das Waldareal beträgt 270,320 Dessjätinen, von denen 
182,904 der Regierung gehören und der Rest von ungefähr 88,216 
Dessjätinen theils Commune-, theils Privateigenthum ist. Von diesen 
letzteren gehören über 16,217 Dessjätinen den Majoratsherren. Die 
Forsten der Regierung sind nach wissenschaftlichen Grundsätzen 
eingerichtet und werden rationell verwaltet. Im Bezirke eines jeden 
Forstamtes existiren Baumschulen zur Verbreitung edlerer Baum¬ 
gattungen. Die Privatwaldungen sind dagegen ganz und gar ver¬ 
wahrlost. Trotz des grossen Werthes, welchen in gegenwärtigen 
Zeiten die Forsten repräsentiren, haben eine rationelle Forstwirth- 
schaft nur äusserst wenige Privatbesitzer eingeführt. 

Von der gesammten Bodenfläche des Gouvernements Ssuwalki 
nehmen die Gewässer den 7. Theil ein, und zwar kommen auf die 
Flüsse 7,296 Dessjätinen, auf Seen 50,991 Dessjätinen und 26,763 
auf Sümpfe. Das Gouvernement ist demnach sehr wasserreich. 
Dieser Umstand sowie die niedrige Lage des Landes hat viele For¬ 
scher auf die Vermuthung geführt, dass ehemals diese Provinz von 
den Wogen der Ostsee bedeckt war. Es sind auch in der That vor 
Jahren die Bestandteile eines phönicischen Schiffes aus grosser Tiefe 
in der Erde ausgegraben worden. Die hiesigen Flüsse und Seen 
gehören theils zum Flusssystem des Niemen, theils zu dem der 
Weichsel. Die Zahl der Seen beträgt zusammen 480, von denen 440 
zum Flusssystem des Niemen und 40 zu dem der Weichsel gehören. 

Unter den Flüssen nimmt der Niemen, welcher im Osten und 
Norden die Grenze des Landes bildet, die erste Stelle ein. Er ist 
schiffbar auf der ganzen Länge seiner Berührung mit dem Gouver¬ 
nement Ssuwalki. Von den zum Flusssystem der Weichsel ge¬ 
hörigen Flüssen ist der Bobr der bedeutendste; unter seinen Neben 
flüssen sind zu nennen: Netta, Stawiska, Jastrzebianka Als Ver¬ 
bindungen zwischen dem Flusssystem der Weichsel und des Niemen 
dient der Canal von Augustowo. Früher von grosser Bedeutung in 
handels-politischer Beziehung, hat er jetzt zum grösseren Theil seine 
Wichtigkeit verloren. 

An Verkehrsstrassen besitzt das Gouvernement eine Seitenlinie 
der Warschau-St Petersburger Eisenbahn von Kowno bis zur 
preussischen Grenze, in der Länge von 85 Werst, ferner zwei Chaus¬ 
seen I. Classe; die Kownosche und Königsberger in der Länge von 
zusammen 193 Werst, und schliesslich zehn GubemiähChausseen in 
der Länge von 496 Werst. 

In Bezug auf die Volksbildung bestehen im Gouvernement 163 


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verschiedenartige männliche und weibliche Lehranstalten, darunter 
zwei Knaben- und ein Mädchen-Gymnasium, ein Lehrerseminar mit 
damit verbundener Muster-Elementarschule, 141 einclassige Ele¬ 
mentarschulen und 25 städtische Schulen. Die Zahl der Schüler in 
diesen Lehranstalten betrug äm l. Januar 18^2 — 6596, darunter 
5164 Knaben und 1405 Mädchen. Dem Religionsbekenntnisse 
nach wurden die Schulen besucht von 118 Griechich-Orthodoxen, 50 
Jedinovierzen, 326 Griechisch-Unirten, 69 Starovierzen, 3714 Katho¬ 
liken, 1370 Evangelischen, 7 Muhamedanern und 915 Juden.« Nach 
den Ständen zerfallt die Schuljugend in: 478 Kinder von Edelleuten 
und Beamten, 12 Kinder von Geistlichen, 1626 Kinder von Stadtbür¬ 
gern Und 4453 Kinder von Bauern. 

Die sanitären Verhältnisse hängen wie überall so auch hier mit 
dem Clima in unmittelbarem Zusammenhang. Im Allgemeinen ist 
das Clima gesund, mit Ausnahme etwa der sumpfigen Niederungen, 
in denen besonders im Herbst Fieber vorherrschen. Von der Cholera 
wird das Gouvernement öfter heimgesucht, nur die Hauptstadt 
Ssuwalki ist in so glücklidier Lage, dass diese Epidemie dort fast 
unbekannt ist. Unter der jüdischen Bevölkerung herrscht Aussatz, 
unter der lithauischen Weichselzopf und ein Magenleiden, das sie 
„gumbos“ nennt, und welches ihr eigen zu sein scheint. Die schwere 
hölzerne, von den Lithauern getragene Fussbekleidung verursacht 
Plumpfüsse, welche viele unter ihnen zum Militärdienst untauglich 
machen. 

Das Gouvernement besitzt fünf Civilspitäler , von denen zwei in 
Ssiiwalki und je eins in Mariampol, Kalwarya und Sejny. Ausserdem 
existirt ein Spital beim Gefängniss in Kalwarya, und ist neuerdings 
in Augustowo ein jüdisches Spital errichtet worden. Aerzte giebt 
es 27 und zwar 15 im Dienste der Regierung und 12 private. 
Privat-Apotheken existiren 12. 


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Kleine Mittheilungen. 


(Auszug aus den Protocollen der physico - mathematischen Classe der 
Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften für April-September 1872). 

In der Sitzung am 4. April legte der Vice-Präsident der Akademie, 
Akademiker V. J. Bunjakowski ’, der Classe seine für die „Memoires“ 
bestimmte Abhandlung „Consid^rations sur quelques singularitcs 
dans les constructions de la geometrie non-enclidienne“ vor, welche 
seitdem im XVTII. Bde. der „Memoires“ der Akademie (No. 9) ge¬ 
druckt erschienen ist. Akademiker O. /. Ssonurw las eine „Sur les 
vitesses virtuelles d’une figure invariable, assujeties ä des ^quations 
de conditions quelconqnes de forme lineaire“ betitelte Abhandlung 
vor, welche im ,,Bulletin“ der Akademie publicirt ist ( 1 \ XVIII 
S. 161 — 184). Sie knüpft an das Memoire von Manheim „Sur le 
d^placement d’une figure de forme invariable“ an. Akademiker 
D. M. Perewoschtschikow las eine Abhandlung „Ueber das Integriren 
logarithmischer Functionen“ („MHTurpHpoBaHte jiorapneMimecKHX'b 
«*>yHKidö u ), welche im ersten Buche des XXL Bandes der .,3anHCKH“ 
(„Sapisski“) der Akademie (S. 87— 106) abgedruckt ist. Die Aka¬ 
demiker Otto Struve und A. N. Ssazvitsch legten der Classe eine 
astronomische Abhandlung eines jungen Gelehrten, des Herrn 
5 . Glasenapp , betitelt „Observations des satellites de Jupiter“ vor 
und empfahlen sie zum Druck im „Bulletin“ der Akademie (er¬ 
schienen im B. XVIII, S. 80—102). Die Akademiker B. S. Jakobi 
und H . L Wild berichteten über die Abhandlung des Herrn Perneth: 
„Die periodischen Aenderungen des Luftdruckes in St. Petersburg 
nach 50jährigen Beobachtungen“ und empfehlen ihren Druck im 
„Meteorologischen Repertorium“, welches unter Leitung des Herrn 
Akademikers Wild von der Akademie herausgegeben wird. 

Einer Commission, bestehend aus dem Vice-Präsidenten der 
Akademie und den Akademikern P. L. Tschcbyschau , 0 . L Ssomow 
und D. M. Perewoschtschikcnv , wurde die von Herrn Heinrich 
Kjelkijew tsch y Gutsbesitzer in Podolien, eingesandte Abhandlung über 
das Verhältniss zwischen den Differenzialen erster, zweiter, dritter 
und vierter Ordnung zur Prüfung übergeben. 

Vorgelegt wurde der Classe das Werk von Plantamour: Nouvelles 
experiences faite avec le pendule ä reversion et determination de la 
pesanteur ä Gen£ve et au Righi-Kulm, welches der Kaiserl. Russische 
Gesandte beim Schweizerbunde, Geheimrath Giers, an die Akademie 
gesandt hatte. 

Das Cornite der Kopernikanischen Gesellschaft der Wissenschaft 


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und Kunst in Thom benachrichtigt in einem Circular, dass am 
7. (19.) Februar 1873 der 400jährige Geburtstag von Kopernikus 
gefeiert werden solle und dass die Gesellschaft beabsichtige, zu diesem 
Feste das Werk des grossen Astronomen ,jde revolutionibus orbium 
coelestium welches gegenwärtig eine bibliographische Seltenheit 
sei, neu herauszugeben. Diese Ausgabe solle nach Format und 
innerer Anordnung eine möglichst treue Reproduction der Nürn¬ 
berger Ausgabe von 1543 werden; was aber die äussere Ausstattung 
derselben betreffe, so solle sie den gegenwärtigen Fortschritten der 
typographischen Kunst vollkommen entsprechen und die erste Aus¬ 
gabe sein, welche das Manuscript des Kopernikus mit diplomatischer 
Treue wiedergiebt Es wurde beschlossen, dass die Bibliothek der 
Akademie auf ein Exemplar subscribire. 

Akademiker PA. W. Chvssjctnikow theilte der Classe mit, dass die 
Pariser Societe d’acclimatisation ihm die Medaille erster Classe für 
seine Bemühungen um die künstliche Fischzucht in Russland zuer¬ 
kannt habe. 

In der Sitzung am 2. Mai zeigte der Beständige Secretär der 
Classe den Tod zweier ihrer correspondirenden Mitglieder an: des 
am 25. März in Reval verstorbenen Admirals Baron B. W. Wrangell , 
welcher seit 1828 Correspondent für die mathematischen Wissen¬ 
schaften war, und des am I. April n. St. in Tübingen verstorbenen 
und imj. 1854 erwählten Correspondenten für die biologischen 
Wissenschaften H. Mokl. 

Akademiker Ph. W. Owssjannikow legte der Classe eine von ihm 
und H. Tschirjczv ( l lnpbeBi>) verfasste Abhandlung vor „Ueber den 
Einfluss der reflectorischen Thätigkeit der Gefässnervencentra auf 
die Erweiterung der peripherischen .A:tc::en und auf die Secretion 
in der Submaxillardrüse“. Es wurde ihr Druck im .,Bulletin“ der 
Akademie beschlossen. 

Akademiker A. M. Butlerow trug seine Abhandlung „Sur Tackle 
trim&hylacetique, une variete isomerique nouvelle de Tackle vale- 
rique“ vor, welche im „Bulletin“ (Band XVIII, S. J02—108 er¬ 
schienen ist. 

Die Akademiker I. 1 . Sinin und A . M. Butleroiu empfahlen zum 
Druck im „Bulletin“ folgende Aufsätze: 1) Ueber die Einwirkung 
desChlorsuccinyTs auf Benzoin, von Frau Adel. Lukanin (s. Bd. XVIII, 
S. 72—75); 2) Sur Tethyle-trimethylformene, une variet6 isomerique 
du hexane, von Gorjainow (s. Bd. XVIII, S. 75—76); 3) Sur la for- 
mation du chlorure de butyle tertiaire au moyen de Tisobutylene, 
von Salesskij (s. Bd. XVIII, S. 77—78); 4) Sur la transformation de 
Tamylene en un alcool amyiique, au moyen de Tackle sulfurique, 
von Flavisxij (s. Bd. XVIII, S. 78—79) und 5) Action du bromure 
d’aeetyle, brom£ sur le zincmethyle, von Shdanow , (s. Bd. XVIII, 
S. 80—82). 

Das Ehrenmitglied der Akademie Alexander von Middendorff 
hatte der Classe eine Abhandlung „Nachträge zur Kenntniss des 


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492 


Nordcapstromes“ eingesandt, deren Druck im „Bulletin“ beschlossen 
wurde (s. Bd. XVIII, S. i—5). 

Den Akademikern B. S. Jacobi und H. /. Wild wurde von der 
Classe die Durchsicht der vom Ehrenmitgliede der Akademie Adiek 
aus Tiflis eingesandten Abhandlung des Herrn N'öschel „Einige 
Worte über die Verdunstungsmesser und über einen von mir con- 
struirten Atmometer“ übertragen. ' 

Einer aus den Akademikern Fr. Brandt , Pk. W. Owssjanmkozv, 
Leop . von Schrenk, Alexander Strauch und 7 A: Schmidt zusammen¬ 
gesetzten Commission wird die vom bekannten russischen Zoologen 
W. Kowalewskij aus Berlin eingesandte Abhandlung „Sur TAnchi- 
therium aurelianense Cuv. et sur Thistoire palöontologique du 
cheval“ zur Durchsicht und Berichterstattung übergeben. Ferner 
werden den vier ersten der genannten Akademiker zur Durchsicht 
und Berichterstattung übergeben die Abhandlungen: 1) des Dr. 
Alex. Brandt >,Ueber die Cyamiden des Zoologischen Museums der 
K. Akademie der Wissenschaften“ und 2) des Dr. Knock „Ueber 
Missbildungen betreffend die Embryonen des Salmonen- und 
Corregonus-Geschlechts. 

Akademiker O . /. Ssotnow übergab der Classe seine eben (in 
russischer Sprache) im Druck erschienene Kinesiometrie , welche den 
ersten Theil seines Cursus der rationellen Mechanik bildet, Akade¬ 
miker N. I. Kokscharow die Forschung seiner „Materialien zur Mine¬ 
ralogie Russlands“, Band VI, S. 97—208 und Tafeln LXXV 1 II bis 
LXXXII. Vom correspondirenden Mitgliede der Akademie A. 
Popow in Kasan wurde seine in den „Gelehrten Abhandlungen“ der 
Kasaner Universität gedruckte Abhandlung „Ueber denReflex eines 
senkrechten Strahles auf einer horizontalen Ebene“ (o6t> oTpa- 
»eHin oTB'hcHoll CTpyn Ha ropH 30 HTajibHott iuiockocth) der Classe 
vorgelegt, ferner: zwei vom russischen diplomatischen Agenten in 
Aegypten eingesandte Exemplare des in italienischer Sprache in 
Alexandrien imj. 1872 gedruckten Werkes von Idotn Vittoris über 
das Verhältniss der Peripherie des Kreises zum Diameterj der erste 
Band der „Annali“ der R. Scuola normale superiöre in Pisa, ein¬ 
gesandt vom Director der Schule, Betti, welcher den Schriften¬ 
austausch mit der Akademie wünscht. Es wird beschlossen, der 
genannten Anstalt das „Bulletin“ der Akademie vom laufenden 
Bande an zu senden. 

Akademiker Fr. Brandt berichtete über Darbringungen an das 
Zoologische Museum ddr Akademie: 1) vom russischen Consul in 
Wardö in Norwegen, Herrn Skanke einer kleinen Collection von 
Vogeleiern und eines Vogelnestes, 2) von W. /. Basilezuskij — eines 
schönen ausgestopften schwarzen Fuchses aus den Umgegenden 
von Jenisseisk, 3) vom Inspector der hiesigen, Handelsschule H. 
Selkeim — eines Exemplares der Paradisea magnifica, und 4) vom 
Akademiker Alexander Strauch — eines Pyknogoniden vom Nörd- 
ufer Lapplands, welchen Herr Jarshinskij (s. „Russische Revue“ 
Heft 3, S. 293) mitgebracht hatte. * > >'•> 


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493 


Akademiker /. B . Jacobi las „Ueber eine galvanische Eisenreduc- 
tion unter Einwirkung eines kräftigen electromagnetischen Solenoids“, 
welche Abhandlung im „Bulletin“ erschienen ist (s. Bd. XVIII, 
S. ii—18). 

In der Sitzung am 23. Mai theilte der Beständige Secretär der 
Classe das am 29. April n. St. in Paris erfolgte Ableben ihres cor- 
respondirenden Mitgliedes Duhamel mit 

DerVice-Präsident V. Bunjakowski zeigte in der Classe einen 
von ihm erfundenen Rechnenapparat zum Behufe mechanischer Aus¬ 
führung der Addition und Subtraction mehrstelliger Zahlen vor. 
Akademiker Fr. Brandt las „Ueber die Reste eines in Italien bei 
Aque in den untern Schichten des mittleren Miocän entdeckten 
jungen Squalodons“, welche Notiz im Bulletin“ (Bd. XVIII, S. 31) 
erschienen ist. Akademiker H. /. Wild berichtete über seine fiir die 
„Memoires“ der Akademie bestimmten „Metrologischen Studien“ 
in denen er einige auf das metrische Maass- und Gewichtssystem 
bezüglichen Fragen behandelt und die seitdem im XVIlI.Bde., No. 8 
erschienen sind. Akademiker K. L Maximowicz las seine Abhand¬ 
lung „Diagnosis plantarum novarum Japaniae et Mandshuriae. 
Decas duodecima“, welche im „Bulletin“ erschienen ist (s.Bd. XVIII, 
S. 35—72). Akademiker Alexander Strauch las seine für die *,M6- 
moires“ der Akademie bestimmte Monographie „Die Schlangen des 
Russischen Reiches“, in der er alle bisher aus Russland bekannten 
Schlangenarten, deren Zahl sich auf 36 beläuft, behandelt. I Art 
gehört zu den Scolecophidia, 25 Alten zu den Azemiophidia und 
10 zu den Toxicophidia. Unter ihnen sind 4 neue Arten, welche 
der Verfasser ausführlich beschreibt. Am Schluss der Monographie 
wird die geographische Verbreitung der einzelnen Arten behandelt, 
wobei das von Schlangen bewohnte Terrain des Russischen Reiches 
in 4 Gebiete getheilt wird, von denen jedes durch bestimmte, ihm 
ausschliesslich zukommende Ophidienartcn characterisirt ist. Das 
er^te dieser Gebiete, das europäische, erstreckt sich südlich bis zum 
Fusse des Kaukasus, östlich bis zum unteren Laufe der Wolga und 
weist 9 Arten auf, von denen eine giftig ist — Coluber quadri- 
lineatus Pall — und für dieses Gebiet characteristisch ist^ das heisst 
ausschliesslich in ihm vertreten ist. Das zweite, das transkauka¬ 
sische Gebiet, welches auch das Kaukasus-Gebirge umfasst, ist sehr 
reich an Schlangen: es weist 21 Arten auf, von denen 5 giftig urid 
9 ihm ausschliesslich angehören. Das dritte, das westsibirische 
Gebiet, umfasst-alle Länder zwischen dem Kaspi-See und dem 
Baikal und besitzt nur 16 Arten, von denen 7 ihm allein eigen sind. 
Das letzte, das ost-sibirische Gebiet, welches sich vom Baikal bis zu 
den Ostufern Sibiriens erstreckt, unterscheidet sich wesentlich von 
den ersten drei Gebieten und weist viel Uebereinstimmung mit der 
Ophidien-Fauna Japans und des nördlichen 1 China auf. Es besitzt 9 
Arten, von denen 3 giftig sind, 2 (Elaphis diene Pall, und Vipera 
berus L.) der -europäisch-asiatischen Fauna angehören und 7 sonst 
nur in Japan und im nördlichen China auftretem 


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494 


Akademiker Th* Schmidt las seine Abhandlung „Ueber die Pefre- 
facten der Kreideformation von der Insel Sachalin“, welche in den 
„M^raoires“ der Akademie erscheinen wird. 

Die Akademiker Brandt , Schrenk und Strauch empfehlen zum 
Druck (im „Bulletin“) die Abhandlung des Dr. Ai Brandt über die 
Cyamiden des zoologischen Museums, (gedruckt im „Bulletin“, 
Bd. XVIII, S. 113 — 133), in welcher eine neue Art, Cyamis Kess- 
leri, eines Parasiten des Walfisches, beschrieben wird. Sonst werden 
noch 9 Arten dieser an Arten armen Gruppe krebsartiger Thiere 
besprochen. Die Akademiker Otto Strvve und A. N, Ssawitsch 
empfahlen zum Druck im „Bulletin“ die Abhandlung des Hm. Lm- 
demünn „Vorläufige Resultate in Pulköwa angestellter photometri¬ 
scher Beobachtungen“ (gedruckt im „Bulletin“ Bd. XVIII, S. 31—35). 
Den Akademikern Brandt, Owssjanmkow, Schrenk und Strauch werden 
zur Begutachtung übergeben: 1) eine Abhandlung des correspon- 
direnden Mitgliedes Prof. Grübet „Ueber eine Variante des vom 
Musculus semitendinolus abgehenden Musculus tensor fasciae 
surales“, 2) „Studien über den Amphioxus lanceolatus“, von Prof. 
Dr. Ludtü. Stieda in Dorpats Den Akademikern N. N. Siniti, B. 5 . 
Jacobi und H. WM wird die Begutachtung einer Abhandlung von 
H. Dorand „Zur Kritik der Ozonbeobachtungen“, den beiden letzt¬ 
genannten Herren Akademikern die Begutachtung der Zeichnung 
und Beschreibung eines vom Ingenieur-Technologen Twerskoi 
erfundenen Apparats zur Messung von Meerestiefen, Bestimmung 
des Wasserdrucks und zur Heraufschaffung von Wasser vom Boden 
des Meeres übergeben. 

Akademiker Strauch las seine „Abhandlung“ Ueber die in Russ¬ 
land einheimischen Eidechsen-Arten aus der Gattung Stellio Daud., 
in welcher er nachweist, dass ausser der in Transkaukasien und 
Persien vorkommenden Art Stellio caucasius Eichw., im Russischen 
Reich noch zwei Arten dieser Gattung leben, und zwar: Stellio 
himalayanus Steind., von welchem P1 FecUschenko ein Exemplar in 
Turkestan gefangen und die von Lehmann im Anfänge der vier¬ 
ziger Jahre vom Oalyk-tan gebrachte Art Stellio Lehmanni, welche 
neue Art auch in den Umgegenden von Khodschend gefunden 
worden ist. Die Abhandlung des Herrn Strauch wird im „Bulletin“ 
erscheinen. 

Es wird derClasse ein Brief von Perrey inLoriene, Departement du 
Morbihan, vom 15. Mai, mitgetheilt, in welchem derselbe bei Ueber- 
sendung seiner Abhandlung „Notes sur les tremblements de terre 
ert 1869, avec Supplements pour les ann£es ant&ieures de 1843 ä 
1868“, die Akademie um diejenigen ihrer Publicationen bittet, in 
welchen Besprechungen von Erdbeben sich finden. Der Beständige 
Secretär wird beauftragt Herrn Perrey für die Mittheilung seiner 
Abhandlung zu danken und seinen Wunsch zu erfüllen. 

Akademiker H. WM legte die Protocolle der Metercommission 
aus den Jahren 1869 bis 1872 vor und berichtete über seine letzte 
Reise nach Paris und über die Berathungen des vorbereitenden 


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495j 

Comites, welchem die Untersuchung der Frage von den Prototypen 
der Maasse und Gewichte des metrischen Systems überwiesen war. 
An der auf den 12/24 September in Paris anberaumten Ver¬ 
sammlung der Metercommission nahmen Seitens der Akademie 
Theil die Herren Jacobi, Struwe und Wild. 

Akademiker K. J. Maxtntowicz machte der Classe den Vorschlag, 
dem Conservator des Botanischen Cabinets der Akamedie, K. Th . 
Meinshausen , Reisegeld zu erwirken, damit er die vom verstorbenen 
Akademiker Ruprecht und ihm (Meinshausen) unternommene gründ¬ 
liche Erforschung der Flora des St. Petersburger Gouvernements 
in den Flussgebieten der Norowa, Luga, Pljussa und des Qredesh in 
diesem Sommer fortsetzen könne. Die Classe stimmte diesem Vor¬ 
schläge bei. Darauf berichtete derselbe Akademiker, dass er für 
das botanische Museum eine Sammlung von Pflanzen, die im jahre 
1871 Herr Hall am Oregon veranstaltet hat, durch Vermittelung 
des Herrn Aza Grey in Cambridge erworben habe. 

Eine Abhandlung des correspondirenden Mitgliedes der Akademie 
Alex . Bunge in Dorpat „Ueber Hypogomphia, eine neue Labiaten¬ 
gattung aus Taschkend“ wurde von den Akademikern K. J. Maximo - 
wicz und N. J. Shelesnow zum Druck im „Bulletin“ der Akademie 
empfohlen. Diese bisher unbekannte Pflanze ist in einer Beziehung 
sehr merkwürdig: sie ist von den mehr als 2500 Arten umfassenden 
Labiatae die einzige, bei welcher vollkommen nicht das hintere, 
sondern das vordere Paar der Staubbeutel entwickelt ist. Durch dieses 
Merkmal nähert sie sich der australischen Gruppe der Prostantherae 
aus der Familie der Labiaten; in ihrem allgemeinen Typus gleicht 
sie aber mehr den europäischen oder asiatischen Formen dieser 
Familie. 

Akademiker Gregor von Heltnersen theilte der Classe mit, dass er 
in Betreff der Frage über eine Wasserleitung für Wassili-Ostrow 
einen Aufsatz abgefasst habe, welchen er in der russischen „St. Peters¬ 
burger Zeitung“ abzudrucken gedenkt 

In der Sitzung vom 5. September zeigte der Beständige Secretär 
den Tod des Correspondenten der Akademie, Mitgliedes des Instituts 
und Directors des Pariser Observatoriums Ch. E. Delaunay, an. 

Die Akademiker, denen die Begutachtung der Abhandlung des 
Professors Kowalewski über das Anchitherium aurelianense (s. oben 
S. 492) aufgetragen war, empfehlen ihre Aufnahme in die „Me- 
moires“ aer Akademie, wünschen aber, dass der Verfasser zu seiner 
Arbeit noch eine kurze Zusammenstellung seiner Beobachtungen 
der Entwicklungsstufen der Gattungen Palaeotherium, Anchithe¬ 
rium, Hiparion und Equus hinzufüge. •— Akademiker Owssjannikow 
berichtet, dass Herrn Stiedds Arbeit (s. obenS. 494) die erste gründ¬ 
liche anatomische Untersuchung aller Organe des durch seinen 
Bau höchst interessanten Amphioxus lanceolatus enthalte. Nicht 
nur die grobe Anatomie dieses Fisches sei dargelegt, sondern auch 
die feinsten Theile seines Baues seien beschrieben. Zu bedauern sei 
nur, dass die Untersuchung nicht an frischen, sondern in Spiritus 


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aufbewahrten Exemplaren angestellt ist. Derselbe Akademiker 
empfahl in seinem und im Namen der übrigen Mitglieder der biolo¬ 
gischen Section der Classe zum Druck im „Bulletin“ i) Professor 
Metschnikow s „Vorläufige Mitteilung über die Embryologie der 
Polydesmiden, 2) Dr. Alex . Brandts Aufsatz: „Ueber ein grosses 
fossiles Vogelei aus der Umgegend von Chersson“. 

Herr Jenkins aus London sendet der Classe, nebst zwei ge¬ 
druckten Abhandlungen ,i) More light; a dream in Science, London 
1869, 2) VVhat is matter, London 1869) handschriftliches Memoire 
„Sur la natu re et la Constitution de la Terre et des corps celestes“ 
ein, welches dem Akademiker A N. Ssawitsch zur Begutachtung 
übergeben wird. Demselben wird auch die Durchsicht des vom Di- 
rector der Wilnaer Sternwarte eingesandten Jahresberichts für 1871 
aufgetragen. 

Akademiker Fr . Bratidt theilte der Classe einen Abdruck seiner 
im LXV. Bande der Sitzungsberichte der Wiener Akademie erschie- 
neuen Abhandlung mit: „Bemerkungen über die untergegangenen 
Bartenwale (Balenoiden), deren Reste bisher im Wiener Becken 
gefunden wurden“. Demselben wird auch zur Begutachtung über¬ 
geben der Brief des Admirals Possiet aus der Capstadt vom 26 Juni 
(8 Juli), in welchem derselbe der Akademie mittheilt, dass der Pro¬ 
fessor der Rochester-Universität Henry A. Wond beabsichtige, dem 
Zoologischen Museum der Akademie drei Büffelhäute und ein Büffel¬ 
skelet darzubringen, wofür er, wenn es möglich sein sollte, eine 
Sammlung russischer Mineralien sich ausbitte. 

Auf Allerhöchste Verordnung sind der Akademie übergeben die 
von Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Grossfürten Alexej Alexan- 
drowitsch aus Amerika eingesandten Karten und Bulletins meteoro¬ 
logischer Beobachtungen, welche auf den Posten der Dislocation 
✓ der Armee der Vereinigten Staaten angestellt werden. Es wird 
bestimmt dieselben der Bibliothek des Physikalischen Central-Obser- 
vatoriums zu übergeben. 

Akademiker N. /. Kokscharow überreichte der Classe im Namen 
des Beständigen Secretairs der Neapolitanischen Akademie der 
Wissenschaften, des Senators Scacc/u ,, zwei gedruckte Abhandlungen: 
1) Sülle forme cristalline di alcune compocti di tuene, 2) Dei cristalli 
di solfate di Rome. 

In der Sitzung vom 19. September legte derselbe Akademiker 
der Classe vor eine Karte des Vesuvs, den er in diesem Sommer 
besucht hatte und las eine Abhandlung „Ueber Afterkrystalle des 
Malachits aus den Turjinschen Kupfergruben im Ural“. Diese Ab¬ 
handlung wird im „Bulletin“ erscheinen. Die zur Begutachtung von 
Professor Grubers Abhandlung „Ueber eine Variante des Musculus 
tensor fasciae suralis“ (s. oben S. 494) ernannte Commission empfahl 
dieselbe zum Druck ira „Bulletin“ (s. Bd. XVIII, No. 2). 

Akademiker A . N.Ssawitsch referirte über den Bericht der Wilnaer 
Sternwarte für 1871. Gegenstand der Thätigkeit der dortigen Astro¬ 
nomen waren: Beobachtungen an der Sonne mittelst eines Photo- 


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497 


liographen und eines sechszolligen Refractors, Beobachtungen der 
Verfinsterungen der Jupiter-Trabanten und photometrischc Unter¬ 
suchungen über die relative Lichtstärke einiger Sterne. Hervorge¬ 
hoben wurde vom Referenten die äusserst gelungene Ausführung 
der photographischen Bilder. Ausser astronomischen Arbeiten 
wurden, wie auch früher, meteorologische Beobachtungen .ange¬ 
stellt und das Observatorium unterstützte die örtliche Section der 
Geographischen Gesellschaft bei der Errichtung meteorologischer 
Stationen. Die Classe verfügte den Druck des Berichtes in der russi¬ 
schen Ausgabe der akademischen Abhandlungen ( 3 anncKH „Sapiski“) 
und die Uebergabe der Abdrücke der photographischen Aufnahme 
der Sonne an die Sternwarte in Pulkowa. Dem Director des Wilnaer 
Observatoriums, Hrn. Smysspw wurde der Dank der Akademie für 
seine sorgfältige Leitung der Anstalt votirt. 

Das correspondirende Mitglied der Akademie, Professor Merklin 
hatte für die akademische Bibliothek je ein Exemplar seiner in russi 
scher und deutscherSprache in zweiter Auflage erschienenen „Unter¬ 
weisung zum Untersuchen verdächtiger Blecken, für Acrzte und 
Juristen 1 * so wie der botanischen Abtheilung des Catalogs der 
Bibliothek der Kaiserlichen Medico-Chirurgischen Akademie einge- 
sandt. 




(Das Demidow’sehe Juristische Lyeeum in Jarosslaw. 

Im Jahre 1803 bestimmte Paul Grigorjewitsch Demidow seine im 
Gouvernement Jarosslaw belegenen Güter (mit 3500 Bewohnern) 
sowie ein Capital von 100,000 Rubel zur Gründung einer höheren 
Lehranstalt in der Stadt Jarosslaw. Der ursprüngliche Plan des 
Spenders dieser bedeutenden Gabe ging dahin, in Jarosslaw eine 
Universität errichtet ziT sehen. Der damalige Cultusminister Graf 
Sawadowski hielt es indessen für unmöglich, diesem Wunsche 
Demidows nachzukommen, weil die dargebrachten Mittel trotz ihrer 
relativen Grösse doch zur Erreichung des Zieles nicht ausreichen 
konnten. Er begnügte sich daher mit einem Mittelding von Univer¬ 
sität und Gymnasium, das den Namen „Jarosslawsche Demidow’sche 
Schule für höhere Wissenschaften* * erhielt und setzte folgenden 
Lehrplan fest: Russische, Griechische und Römische Literatur und 
Sprache, Philosophie, Natur- und Völkerrecht, Reine und Ange¬ 
wandte Mathematik, Naturgeschichte, Politische Geschichte nebst 
den Hülfswissenschaften, Politische Oeconomie und Finanzwissen¬ 
schaften. 1805 wurde dieses Programm bestätigt und blieb bis 1834 
in Kraft, wo die Anstalt den Namen Lyeeum erhielt und in Bezug 
auf den Lehrplan der staatswissenschaftlichen Facultäten einigen 
deutschen Universitäten einigermaassen nachgebildet wurde. Einige 
nicht speciell zur Sache gehörige Gegenstände, wie Mathematik, 

33 


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Russische Literatur, Lateinische Sprache wurden indessen beibe¬ 
halten. 1845 wurde die Philosophie gestrichen und an deren Stelle 7 
ein Lehrstuhl für Technologie und Agronomie errichtet. Die Be¬ 
schränktheit der Mittel jedoch einerseits, welche nicht erlaubte, die 
gehörige Anzahl Professoren anzustellen, und die steigenden An¬ 
forderungen andererseits bewirkten, dass der durch die Liberalität 
eines Privatmannes ins Leben gerufenen Bildungsanstalt völliger 
Verfall drohte. Unter diesen Umständen wurde im Jahre 1866 durch 
den noch jetzt fungirenden Unterrichts- und Cultusminister 
Grafen D. A. Tolstoj die Reorganisation der Anstalt in Angriff ge¬ 
nommen. Der Minister entschied sich für die Verwandlung des 
Lyceums in eine selbstständige juristische Facultät, weichein jeder 
Beziehung den juristischen Facultäten der russischen Universitäten 
gleich gestellt werden sollte. Nachdem dieser Vorschlag die Aller¬ 
höchste Bestätigung erhalten hatte, und der erforderliche jährliche 
Zuschuss von einigen 30,000 Rbln. zu den 16,000, welche die Demidow- 
sche Stiftung an Zinsen abwirft, bewilligt war, konnte die feierliche 
Eröffnung des rcorganisirten „Dcmidow’schen Juristischen Lyceums“ 
am 30. August 1870 erfolgen. Der Bericht über die Thätigkeit der 
Anstalt liegt in dem officiellen Theil der drei ersten Hefte ihres Jahr¬ 
buchs J ) vor, und Referent entnimmt ihm noch folgende Notizen: 
Von den durch die provisorischen Statuten bestimmten 10 juristischen 
Cathedern sind 7 besetzt. Drei jüngere Kräfte sind zur Vorberei¬ 
tung für von ihnen zu übernehmende Lehrstühle mit Reiscstipendien 
ins Ausland bedacht worden. Die Zahl der Studenten belief sich 
am 1. Januar 1872 auf 139, von denen 27 Stipendien (incl. einmalige 
Unterstützungen und Vorschüsse) im Gesammtbetrage von 2643 
Rubeln erhielten. Die Mittel zu diesen Stipendien etc. werden von 
dem „Jarosslawer Verein für Unterstützung hilfsbedürftiger Stu¬ 
denten des Lyceums“ aufgebracht, dessen Capital sich am 1 .Juli 1872 
auf 4600 Rubel belief. Die Bibliothek bestand am I. Januar 1872 
aus 3399 Nummern, in 7356 Bänden. 

Der nicht officielle Theil der drei vorliegenden Hefte des Jahr¬ 
buchs enthält, ausser einigen kleinen Artikeln Antrittsvorlesungen 
u. dgl., folgende grössere Abhandlungen mit besonderer Pagi- 
nation, von denen bei ihrer Beendigung Separatabzüge erscheinen 
werden: 1) Chrestomathie zur Geschichte des Russische^ Rechts von 
Wladimirski Budanozv (XpHCTOMaTia 110 ncTopitt pyccKaro npaßa). 
Erste Lieferung 227 pp. (Heft 1 u. 2 des Jahrb.). Der Herr Ver¬ 
fasser giebt den mit kritischem und bibliographischem Apparat ver¬ 
sehenen Text folgender Denkmäler des russischen Rechts: Friedens¬ 
verträge der Russen und Griechen unter Olega. 911, und unter 
Igor a. 945. Prawda Russkaja. Friedensvertrag der Nowgoroder 


*) BpeMemuiKi. Acmhaohckoio lOpeaMHecKaro JIuae*. Kmrra I, 2 h 3, d. i. Jahrbuch 
des Demidow’schen Juristischen Lyceums. Band I—3. Jarosslaw 1871 — 72. 8“. 


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_499 _ 

mit den Deutschen a. 1195. Vertrag des Ssmolenskischen Fürsten 
Mstislaw Dawidowitsch mit Riga, Gothland u. d. deutschen Städten 
a. 1229. Testament des Nowgoroders Kliment aus d. 13. Jahrh. 
„Ustavnaja Gramota“ des Grossfürsten Wassilij Dmitriewitsch ver¬ 
liehen den Bewohnern der Dwinaländer. Die Pskowsche Ssudnaja 
Gramata. Die Nowgorodsche Ssudnaja Gramata. Vertrag Now¬ 
gorods mit Casimir IV. Wladimir’s Ustav über die geistlichen Ge¬ 
richte. Jarosslaw Wladimirowitsch’s Ustav über dieselben. — Die 
beiden folgenden Lieferungen sollen Auszüge aus den wichtigsten 
juristischen Denkmälern der folgenden Perioden d. russ. Geschichte 
bringen, entsprechend dem Plane des ganzen Werkes, — die Stu- 
direnden mit einem handlichen und nicht theuren Hülfsmittel zum 
Quellenstudium des russischen Rechts zu versehen. 2) N. N . Wo- 
roschilow . Kritische Uebersicht der Lehre von der Theilung der 
Staatsgewalten (451 pp. Heft 1, 2, 3 d. Jahrb.). 3) AI. N. Rapustin . 
Cursus der Rechtsgeschichte (240 pp. Heft 2 u. 3 d. Jahrb.) Fort¬ 
setzung folgt.) 4) Die Wissenschaft vom Staate, als Gegenstand der 
höheren Fachbildung von N. K . Nelidow (p. 115—219 des 3. Heftes 
des Jahrb.), welche einen interessanten Einblick in die Entwickelung 
der russischen Universitäten unter Nicolaus I. erlaubt. 


(Die Naturforscher-Gesellschaft von Neu-Russland). 
War Odessa durch Verkehr und Handelsthätigkeit bisher die weitaus 
bedeutendste Stadt des südlichen Russlands gewesen, so hat sich in 
jüngster Zeit durch die Gründung einer Universität daselbst auch 
das wissenschaftliche Leben zu entfalten begonnen und verschiedene 
gelehrte Gesellschaften ins Leben gerufen. Zu letzteren rechnet auch 
die 1871 begründete „Naturforscher-Gesellschaft“ von Neu-Russland, 
die sich zu ihrer nächsten Aufgabe die genauere Erforschung der 
Naturerzeygnisse von Neu-Russland gesetzt hat, und bei der Reg¬ 
samkeit, die sie in der kurzen Zeit ihres Bestehens bereits bewiesen, 
wohl zu der Hoffnung berechtigt, sie werde in Gemeinschaft mit 
der Neu-Russischen Universität eine neue Epoche für die Natur¬ 
wissenschaften des Südens von Russland inauguriren. Der unlängst 
erschienene Rechenschaftsbericht giebt für die Thätigkeit der Ge¬ 
sellschaft in dem zweiten Jahre ihres Wirkens die erfreulichsten Be¬ 
lege: von der botanischen Abtheilung sind die nördlichen Theile 
des Taurischen Gouvernements durchforscht und die, im vorigen 
Jahre begonnene Bearbeitung der Dnjestr-Flora im mittleren Bessa- 
rabien durch neu hinzugekommenes Material vervollständigt worden, 
während die Zoologen der Gesellschaft sich der Fauna der Krim 
zuwandten und nebenbei das Zustandebringen einer zoologischen 
Sammlung (unter anderem von 70 Fischarten aus der Bucht von 
Ssewastopol)sich angelegen sein Hessen. Die Vertretung naturwissen¬ 
schaftlicher Kenntnisse als ihre weitere Aufgabe erfassend, hat die 
Gesellschaft sich nun auch ein Organ geschaffen, das dazu bestimmt 


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33 


500 

ist, ihre wissenschaftlichen Arbeiten über den engen Kreis der Pro¬ 
vinz hinaus zu einem Gemeingut für Fachmänner und Freunde der 
Naturwissenschaften zu machen. Dasselbeführt den Titel: ,, 3 anncKH 
HoBopocciftcicaro OömecTBa EcTecTBonncanejietPf (Memorien der 
Naturforscher-Gesellschaft von Neu-Russland) uud ist bis jetzt davon 
erschienen Band I, Lieferung i, mit drei lithographirten Tafeln. 
Odessa, 1872. 8°. Ausser dem Jahresbericht und den Protocollen 
der Gesellschaft enthält diese Lieferung folgende Arbeiten. 

J. F. Koschtschug: Entwickelungsgeschichte von Callithamnion 
Daviesii Lyngb. und vonPorphyra LaciniataAg.—E. F. Klimenko: 
Ueber die Pyro-Traubensäure.—N. K. Ssredinskij: Materialien zur 
Flora von Neu-Russland undBessarabien.—I.M.Ssjetschenow. Einige 
Bemerkungen über die Wirkung schnell auf einander folgender Er¬ 
schütterungen des Sehnervs. — S. K. Kusnetzow: Ueber Protein¬ 
stoffe. 

Gleichzeitig mit dem ersten Band der Memoiren hat die Gesell¬ 
schaft unter russischem Titel als: ,,erste Beilage zum 1. Bande“ eine 
umfassendere, auf den Gegenstand sehr sorgfältig eingehende Mono¬ 
graphie von Eduard von Lindemann: „Onepin> <j>jiophi XepcoH- 
cicott TybepHin“ (ProdromusFlorae Chersonensis), Odessa, 1872, 8°. 
veröffentlicht. Der Text, in lateinischer Sprache, umfasst 229 S., 
zählt 100 Familien unter den Phanerogamen, 3 unter den Crypto- 
gamen auf, und wird mit einem russisch und deutsch geschriebenen 
Vorworte und einem übersichtlichen Verzeichnisse des zu behan¬ 
delnden Gegenstandes eingeleitet (Seite I—LXII), so wie mit einem 
alphabetischen Register abgeschlossen. Diese Monographie, die der 
Verfasser als eine Ergänzung zur Flora Rossica von Ledebour be¬ 
trachtet wissen will, erhält in einer gleichfalls gesonderten zweiten 
Beilage zum Bandei der Memoiren einen Anhang: „Cnncoicb 
ynoTpeÖHTejibH'fctiiiiHX'b pacjeHift XepcoHCKoö 4>jiopi>i,“ (Index 
plantarum usualium Florae Chersonensis), in welchem Herr von Lin¬ 
demann nicht nur die officiellen, sondern überhaupt alle practisch 
verwerthbaren Pflanzen verzeichnet. 


Literatur bericht. 


B, Ee 3 odpd 3068 . rocyAapcTBeHHhiH aoxoam PocciH, nx-n KJiaccH^itKaiiifl, BburkuiHee co- 
CTOHnie h ABiiKeHie 1866—1872. ( W.Bcsobrasow . Die russischen Staatseinnahmen, 
deren Classification, gegenwärtiger Zustand und Bewegung 1866 — 1870). 

Dieses Werk, welches in französischer Uebersetzung des Autors x ) 

1 Revenus publics de la Russie, leur Classification, leur Situation actuelle et lcur mou- 
vement, in den Memoiren der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Folge VII, 
Band XVUI, No. 9.) 


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auch dem nicht russisch lesenden Publicum zugänglich ist, be¬ 
reichert in erfreulichster Weise die Masse des schätzenswerthen 
statistischen Materials, welches wir in letzter Zeit den eifrigen Be¬ 
mühungen des statistischen Centralcomites verdanken. Die von 
Herrn Besobrasow zusammengestellten Tabellen bieten einen ausführ¬ 
lichen Einblick in die Bewegung der russischen Staatseinnahmen 
während des fünfjährigen Zeitraums von 1866—1870; die streng¬ 
wissenschaftliche Classification, die der Arbeit zu Grunde gelegt ist, 
sowie die zahlreichen erläuternden Anmerkungen, tragen nicht 
wenig dazu bei, das Werk auch für Diejenigen vollständig verständ¬ 
lich zu machen, die mit den Eigenthümlichkeiten des russischen 
Steuersystems wenig oder gar nicht bekannt sind. 

Die Classification, die der Autor in einer ausführlichen Eipleitung 
motivirt, ist folgende: Alle Staatseinnahmen theilt derselbe inSteuem 
(im weiteren Sinne) und in solche Einnahmen, die in der industriellen 
Thätigkeit des Staates ihre Quelle haben. Die ersteren zerfallen 
ihrerseits in Steuern im engeren Sinne und in Gebühren. Diese 
Eintheilung erklärt sich sowohl in Hinblick auf juristische, als auch 
auf financielle und volkswirtschaftliche Gründe; die Steuern erhebt 
der Staat auf Grundlage des ihm angehörenden Besteuerungsrechtes 
zum Zwecke der Deckung allgemeiner Ausgaben und der Pro¬ 
duction gemeinnütziger Güter; die Gebühren werden ebenfalls auf 
Grund eines allgemeinen Besteuerungsrechtes erhoben, jedoch als 
Aequivalent für specielle Dienste des Staates, die die Unterhaltung 
besonderer Institutionen erfordern. 

Die industriellen Einkünfte des Staates lassen sich in zwei Haupt¬ 
gruppen eintheilen: Regalien und industrielle Staatseinnahmen iqi 
engeren Sinne, als da sind: Einkünfte aus den Staatsdomänen und 
sonstigem Staatsvermögen, Veräusserung desselben und schliesslich 
Einnahmen aus industriellen Unternehmungen des Staates. 

Neben der angedeuteten Classification finden wir in Herrn Beso- 
brasow’s Buch noch eine zweite, der man unbedingt wissenschaft¬ 
lichen Werth zuerkennen muss und die eine besondere Bedeutung 
für russische Verhältnisse besitzt; das ist die Eintheilung der Staats¬ 
einkünfte in solche, die von der Centralgewalt unmittelbar erhoben 
werden, und solche, die ^in Form von Beiträgen von juristischen 
Personen, Corporationen und mehr oder minder autonomen Landes- 
theilen an den Staatsschatz geleistet werden und deren Quelle <Jem 
directen Einfluss der Centraladministration nicht unterworfen ist. 
Die Hauptcategorie dieser Art von Einnahmen besteht aus den Bei¬ 
trägen an den Staatsschatz seitens des Grossfürstenthums Finnlands 
(welches bekanntlich in financieller Hinsicht eine vollkommene Au¬ 
tonomie geniesst), der Gou\*ernementslandschaften (Setnstwo), der 
städtischen und ländlichen Gemeinden, der Kosakendistricte und 
einiger anderer Corporationen. Ausser den Beiträgen rubricirt der 
Autor in die in Rede stehende Categorie noch die Schenkungen an 
den Staat und die zufälligen Einnahmen, d. h. solche, die in keiner 


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5° 2 

Weise der Gegenstand der Voraussicht oder der financiellen Be¬ 
rechnung sein können. *) 

Als Hauptquelle, aus welcher die Ziffern der Tabellen geschöpft 
sind, giebt uns der Verfasser die Rechenschaftsabschlüsse des 
Reichscontroleurs an. (Dieselben werden, beiläufig bemerkt, in 
letzter Zeit auch in deutscher und französischer Sprache vom Finanz¬ 
ministerium veröffentlicht.) Ausserdem jedoch theilt uns der Autor 
in der Einleitung mit, dass er auch sonstiges, dem Publicum meistens 
unzugängliches Material benutzt hat und dass es ihm nur auf diesem 
oft sehr mühsamen Wege gelungen ist, sich über die wissenschaft¬ 
liche Bedeutung mancher namentlich untergeordneter Zweige des 
Staatseinkommens Klarheit zu verschaffen. . 

Zu dem Inhalte der Tabellen selbst übergehend, heben wir aus 
dem reichhaltigen Material derselben einige specielle Gesichts¬ 
punkte hervor. 

Die Gesammtsumme der Staatseinnahmen Russlands betrug seit 
dem Jahre 1866: 2 ) 

1866 .418,285 

1867 .463.397 

1868 .469,987 

1869 .498,283 

1870 517,176 

Das ergiebt eine Durchschnittssumme von 473,426,000 Rubeln und 
eine Steigerung von 23 pCt für den ganzen in Rede stehenderi 
Zeitraum. 

Dieselbe Steigerung, die sich in der Gesammtsumme der Ein¬ 
nahmen erblicken lässt, können wir auch in den einzelnen Zweigen 
des Einkommens, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, constatiren. 
In wirklich erheblichem Maassstabe verringert haben sich nur die 
oben besprochenen subsidiären, von der Centralverwaltung Unab¬ 
hängigen, Staatseinnahmen (um 61 pCt.), einige staatsindustrielle 
Einnahmen: Staatsbahnen (26 pCt.), Bergwerksbetrieb und Metall- 
production (34 pCt.), Salinenbetrieb und Salzverkauf (46 pCt.) und 
diverse andere commercielle und industrielle Unternehmen des 
Staates (80 pCt.). 

Das Nähere über diese Steigerungen giebt in übersichtlicher 
Weise nachstehende Tabelle: 


') Z. B. die im Laufe des Jahres 1869 in Turkestan erhobenen Kriegscontributionen. 
2 ) Alle angeführten Summen sind sowohl in diesem Artikel als auqh in Herrn Beso* 
bjrasow's Werke in Tausenden von Rubeln angegeben. 


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503 



! Procentsatz 
Durchschnitts- ^ # Zunahme 

Ziffer für denj oder Ver- 
Zeitraum von | minderung 

lfi ~ lC _ während 

.866-1870 , mnfJaliren 

Voranschlag 

des 

/ahres 1871 

Procentalisches 
Verhältn. zur 
Gesammteinn. 
a. Grundlage d. 
Voranschlages 

1 von 1871 

Steuern. 

Directe . 

Personalsteuer (vor¬ 
wiegend Kopfsteuer) 

71,331 + 14 

72,705 

13,9 

Vermögenssteuer . . 

27.125 + 36 

31,618 

6 

Indirecte. 

Zölle. 

aö. iic _i_ 26 

42,211 

149,943 

8 

28,7 

Getränkeaufschlag 
(Accise und Patent¬ 
steuer) . 

138,189 + 33 

Tabaksteuer. 

7,201 + 35 

8,086 

I,» 

Zuckersteuer. 

1,853 +289 

2,723 

0,5 

Salzaccise. 

6,724 -j- 26 

8,260 

1,6 

Gebühren. 

i) Als Aequivalent für 
gerichtlichen und 
administrativen 
Schutz derPersonen 
u. des Eigenthums 
(Stempelpapier,Re- 
gistrationsgebühr., 
Pässe, Gerichts¬ 
höfen) . 

1 

1 

1 

• 

>4,330 + 23 

15,401 

3 

2) Als Aequivalent für 
Dienste des Staates 
auf öconomischem 
Gebiete (Wegegel¬ 
der und Schiflfs- 
abgaben, Remune¬ 
ration für Land¬ 
messungen, Staats¬ 
gestüte u. s. w.) . . 

1 

1 1 

1 ' ; 

: 1 

2,459 

ii 

2,752 | 

0,5 

3) Als Aequivalent für 
Dienste des Staates 
auf dem sittlichen 
und intellectuellen 
Gebiete (Einnahmen 
der Lehranstalten 
und der vom Staate 
herausgegebenen 
Publicationen) . . . 

Cr» 

O 

+ 

er» 

O 

i 

■ 

2,479 

0,4 


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504 


\ 

| Procentsatz 
Durchschnitts- d Zunahme 
Ziffer für den 1 oder Ver- 
Zeitraum von Minderung 

_o~ ,c, rt während 
1866-1870 fünf Jahren 

Voranschlag 

des 

Jahres 1871 

Procentalisches 
Verhältu. zur 
Gesammteinn. 
a.Grundlaged. 
Voranschlags 

1 von 1871 

4). Als Aequivalent für 
diverse Dienste des 
Staates (Diplome, 
Attestate u. s. w.)^. 

1.356 

+ 25 

4,648 

0,:, 

Industrielle Ein¬ 
nahmen des Staates 

Regalien. 

Post. 

8,773 

+ !3 

9,808 

i,s 

Telegraphen. 

2,737 

-I-292 

4,342 

0,8 

Münzregal. 

3,803 

+114 

5,049 

0,9 

Lotterieregal. 

228 

+ 12 

202 


Spielkartenfabrication 

18 

0 

18 


Schiesspulverfabricat. 

. 457 

■ j- 28 

758 

0,1 

Herrenlose Güter . . 

IOI 

0 

80 


Oeffentliche Anzeigen 

325 

_ 2 r 

328 


Industrielle Einnah - 
men im engeren Sinne . 
Ertrag des Staats¬ 
vermögens 
a) des unbeweglichen 

: 

* 

42,694 

+ 9 

45,066 

8,6 

b) des beweglichen 

*,595 

+ 28 

6,811 

M 

Veräusserung von 
Staatseigenthum . . 

4 ,i 55 

+ 356 

15,316 

% 

1 2,9 

.Rückzahlung dem 
Staate geschuldeter 
Summen. 

45,997 

+ 84 

i 

47,566 

9 >i 

Industrielle Unter¬ 
nehmungen des 
Staates ....... 

39,989 

1 - 

36,648 

7 

Einnahmen , deren Quelle 
von der Centrahm %val- 
tung unabhängige ist. 

Beiträge an den Staats¬ 
schatz . 

2,796 

— 73 

4,073 

f* 

0,7 

Schenkungen an den 
Staat. 

18 

‘ — 30 

218 


Zufällige Einnahmen . 

7,146 

, — 53 

: 4,610 

0,8 


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505 


In absteigender Progression je nach dem procentaüschen Ver¬ 
hältnis zur Gesammtsumme geordnet, ergeben die einzelnen Zweige 
des Staatseinkommens folgende Gradation-/ 


I. Getränkeaufschlag . . . 28,7 


2. Personalsteuer.13,» 

3. Rückzahlung dem Staate 

geschuldeter Summen . 9,1 

4. Ertrag vom unbeweglichen 

Staats vermögen. 8,6 

5. Zölle. 8,0 

6. Industrielle Unternehmun¬ 
gen des Staates ..... 7,0 


7. Vermögenssteuer .... 6,0 

8. Gebühren als Aequivalent 
für gerichtlichen und ad¬ 
ministrativen Schutz der 
Persoifcn und des Eigen¬ 


thums . 3,0 

9. Veräusserung von Staats¬ 
eigenthum .. 2,9 

10. Post. 1,8 

11. Salzaccise. 1,6 

12. Tabaksteuer. 1,6 


13. Ertrag vom beweglichen 

Staatsvermögen . . . . 1,3 

14. Gebühren als Aequivalent 

für diverse Dienste des 
Staates .... *. 0,9 

15. Lotterieregal. 0,9 

16. Münzregal ... 0,8 

17. Zufällige Einnahmen . . o,$ 

18. Beiträge an den Staats¬ 
schatz . 0,7 

19. Gebühren als Aequivalent 

für Dienste des Staates auf 
öconomischem Gebiete . 0,5 

20. Zuckersteuer. .. 0,5 

21. Gebühren als Aequivalent 

für Dienste des Staates auf 
dem sittlichen und intellec- 
tuellen Gebiet. 0,4 

22. Schiesspulverfabrication 0,1 


3amicKH HMneparopcKOä AKajeMiii Hayieb. Tomi> Auaauacb nepaoft/ KuHwica I. 
C.-necep6ypaT>, 1872. 8°. 

Abhandlungen („Sapisky**) der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Ild. XXI. 
1. Heft. St. Petersburg, 1872. S. I —198. Mit Beilage No. I—II SS., No. 2 bis 
LVI+236 SS. 8°. 

Die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften giebt jährlich 
zwei Bände in vier Heften ihrer Abhandlungen in russischer Sprache 
unter obenstehendem Titel heraus. 

Das gegenwärtige Heft enthält: drei Reden, welche in der feier¬ 
lichen Sitzung der Akademie am 31. Mai dieses Jahres, zum zwei- 
hundertjährigen Jubiläum Peters des Grossen gehalten wurden. Es 
sind die Reden: 1) des Akademikers Otto Stnroe — Ueber die Verr 
dienste Peter’s des Grossen um die mathematische Geographie Russ¬ 
lands (S. 1 — 19), 2) des Beständigen Sekretärs, Akademikers 
K. S . Wesselowskij.— Ueber Peter den Grossen als Stifter der Aka¬ 
demie der Wissenschaften (S. 20 — 30), und 3) des Akademikers 


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So6 


J. K. Grol — Ueber Peters^des Grossen Verdienste um die Auf¬ 
klärung in Russland (S. 31 — 86). Seines bedeutenden Interesses 
wegen geben wir den Inhalt dieser drei Reden hier kurz an. 

Das Ehrenmitglied der Akademie Carl Emst von Baer hatte zur 
Feier des zweihundertjährigen Geburtstages des grossen Reforma¬ 
tors Russlands den Druck seiner Schrift „Peters des Grossen Ver¬ 
dienste um die Erweiterung der geographischen Kenntnisse“ be¬ 
endet l ). Akademiker Struve führt im Beginn seiner Rede an, dass 
der allgemein verehrte Nestor der Naturwissenschaften in der ge¬ 
nannten Schrift nachgewiesen habe, wie sehr alle während der Re¬ 
gierung Peter’s ausgeführten geographischen Unternehmungen den 
Stempel seines Characters an sich trügen, und dass der leitende 
Gedanke zu jeder derselben immer von ihm selbst ausgegangen wäre. 
Bei seiner Thronbesteigung fand der Zar keine wissenschaftlichen 
Mittel vor, er musste sie gelbst erst schaffen. Die Früchte der 
meisten seiner geographischen Unternehmungen zu erblicken, war 
ihm nicht vergönnt; sie reiften unter den Regierungen seiner Nach¬ 
folger und gereichten ihnen zum Ruhm. Herr von Baer hat in seiner 
gewohnten Bescheidenheit in der genannten Schrift sich darauf 
beschränkt, diejenigen geographischen Unternehmungen Peter's 
historisch vorzustellen, welche die Erkenntniss der Landesbeschaffen¬ 
heit des Reiches zum Ziele hatten, also in dasjenige Wissensgebiet 
einschlugen, auf welchem der ehrwürdige Verfasser auf seiner lang¬ 
jährigen wissenschaftlichen Laufbahn so vielfach und so fruchtbar 
zum Nutzen der Wissenschaft und des Vaterlandes gewirkt hat. 
Die daher entstandene Lücke in Hinsicht auf die mathematische 
Geographie und die Kartographie des Reiches und der angren¬ 
zenden Länder versucht Redner durch eine kurze Skizze der ein¬ 
schlagenden Arbeiten auszufüllen. 

Erst im XVI. Jahrhundert hebj; sich etwas der Schleier, * welcher 
über der Erdkunde Russlands lag. Bis dahin waren nur die Nord¬ 
gestade des Pontus durch die italienischen Karten des XIII. Jahr¬ 
hunderts, ferner Polen und die baltischen Länder durch die Handels¬ 
beziehungen Gross-Nowgorods zur Hansa bekannt gewesen. Es 
wird die von Magin in Bologna im Jahre 1596 herausgegebene 
Karte, ferner die Karte Isaak Massds (1612), der seine Materialien 
in Russland sammelte und der Reise durch Russland nach Persien 
von Olearius f so wie der „Grossen Zeichnung“ (Bojibinoft l IepTeMO>) 
erwähnt. Massa’s Karte stützte sich, wie der Redner meint, wahr¬ 
scheinlich auf dieselben Materialien wie die für uns verlorene 
„Grosse Zeichnung“, deren Anfertigung er mit Karamsin in die 
Zeit des Zaren Fedor Iwanowitsch setzt. 1687 erschien des Amster¬ 
damers Nicolai Wilsen Karte, welche' für die Kartographie Russ- 


Sie ist wegen Verzögerung in der Ausführung der für sie bestimmten Karten 
noch nicht erschienen. Sobald sie erscheint, werden wir nicht säumen, sie in diesen 
Blättern anzuzeigen. 


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lands epochemachend ist. Peter der Grosse trat auf seiner Reise 
nach Holland in die nächsten Beziehungen zu Witsen, welcher 1717 
starb, als Peter zum zweiten Mal Amsterdam besuchte. 

Nach der Einnahme von Asow im Jahre 1696 Hess Peter eine 
Karte des Dons anfertigen, worauf die Aufnahme des Asowschen 
Meeres erfolgte und 1701 war die Karte desselben gestochen. Sie 
ist als die erste Probe einer vaterländischen Kartenausgabe zu be¬ 
trachten. Sie wurde aber nicht veröffentlicht, wahrscheinlich wegen 
der Aufschrift, die schwerlich den Beifall Peters hatte („Super Ga- 
ramantes et Indos proferet regnum“), und existirt nur noch im 
Archiv des Hydrographischen Departements und erschien später, 
aber ohne die prahlende Aufschrift, in des Admirals Cruys hollän¬ 
dischen Atlas des Dons nebst zwei Karten des Schwarzen Meeres, 
welche den Italienern entlehnt sind, und einer Karte des Marmora- 
Meeres. Dann folgte eine Karte des Schauplatzes des Krieges mit 
der Türkei zwischen Don und Dnjepr, welche sich auf die vom 
Artillerie-Hauptmann, späteren Feldmarschall Bmce ausgeführten 
Aufnahmen stützte. Nach der Eroberung Ingermanlands wurde 
in russischer Sprache eine Karte dieser neuen Provinz auf Grund¬ 
lage der früheren schwedischen Karten derselben herausgegeben. 
Ihre Zusammenstellung wird vom Redner in das Jahr 1703 gesetzt. 
Mit dem Namen Petersburgs ist auf ihr die Insel bezeichnet, auf 
welcher damals der Bau der Peter-Pauls-Citadelle begann. Unmit¬ 
telbar darauf folgte eine Karte des Königreichs Polen und des 
Grossfürstenthums Lithauen. 1714 erschien zum Nutzen der Zög¬ 
linge der Navigationsschule (seit 1715 ,;See-Akademie“) der aus 
12 Karten bestehende Atlas der Ostseeoder des „Waräger-Meeres“ 
(„Kmrra paaM^pHaa rpa^ycHbixi» Kapx'b Ocn>- 3 ee hjih Bap£»c- 
cKaro Mopn u ) welcher sich hauptsächlich auf ausländische Quellen 
stützte. Im folgenden Jahre wandte Peter der Grosse seine Auf¬ 
merksamkeit dem Kaspisehen Meere zu. Koshin , Vau- Verden und 
Ssoimonow sammelten das Material zu der Karte, welche alle bis¬ 
herigen Vorstellungen von der Gestalt des Kaspischen Meeres besei¬ 
tigte. Erst aus ihr erfuhr man, dass die Längenausdehnung des Kaspi¬ 
schen Meeres nicht von W. nach O., sondern von S. nach N. gehe. 
Sie wurde vom Monarchen der Pariser Akademie mitgetheilt, 
welche zwei Jahre früher ihn zu ihrem wirklichen Mitgliede gewählt 
hatte. Durch seinen Leibarzt Blumentrost, dem spätem ersten Prä¬ 
sidenten der Akademie der Wissenschaften, Hess Peter der Pariser 
Akademie auch alle merkwürdigenNachrichten über Sibirien mittheilen. 
Die Karte des Kaspischen Meeres wurde später von Ssoimonow im 
Einzelnen zu einem Atlas ausgearbeitet, welcher 1731 erschien. 
1717 war Peterschon an die Ausführung eines längst gefassten Vor¬ 
habens gegangen — nämlich die Anfertigung einer Landkarte des 
ganzen Staates. Es wurden mehrere Geödeten, die in der See- 
Akademie gebildet waren, in verschiedene Provinzen geschickt, um 
Specialkarten anzufertigen. Bis zum Jahre 1721 war ihre Zahl auf 30 
gestiegen. Die Specialkarten wurden dem Senat eingeliefert, ausser- 


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dem wurde auch eine Menge von geographischem Material durch 
einzelne Expeditionen und Reisen gesammelt, sowohl im Innern 
des Reiches als auch in den angrenzenden Ländern. Es sind hier zu 
erwähnen: die Arbeiten Gärbcrs, Messerschtnidfs und Strahlen - 
berg s — , die Nachrichten über Persien, Chiwa und Buchara, die 
Peters Gesandte in diese Länder, Florio Benevini , sammelte, die 
Expeditionen von Buchholz und Licharew zum Irtisch und in die Kir¬ 
gisensteppe zur Aufsuchung eines Weges nachjarkend, die Gesand- 
schaft Unkozvskt s zu den Kalmüken, die Reisen von Isbrant Ides , 
Adam Br mit, Lorenz Lange , Ismailoiv und S. W. Ragusinski nach 
China. Fast alle genannten Männer erhielten ihre Instructionen 
persönlich vom Kaiser und berichteten auch meist direct an ihn. 
Die Ausarbeitung des Atlas war dem Obersecretär des Senats 
huan Kiriloiv aufgetragen. Die erste Karte des Atlascs (es waren 
ihrer bei der Beendigung — im Jahre 1734 — 14 Specialkarten und 
1 Generalkarte), war erst im Jahre 1726, also bereits nach dem 
Tode Peter’s gestochen. Doch Peter’s Verdienste um die Geographie 
schliessen nicht mit seinem Tode. Eine seiner letzten Thaten war 
die eigenhändige Abfassung einer Instruction an den Capitän 
Behring zur Untersuchung Kamtschatkas und zur Lösung der 
Frage, ob Asien mit Amerika Zusammenhänge. Von Peter war 
auch der Gedanke jener, wie C. E. von Baer sich äussert, in den 
Annalen der Wissenschaft beispiellosen gelehrten Reisen nach 
Sibirien, welche die Regierungen der Kaiserinnen Anna und Elisabeth 
verherrlichten. Dabei muss als ein besonderes Verdienst Peter’s aner¬ 
kannt werden, dass er sich klar bewusst war, wie alle Bemühungen 
um die Erdkunde erst dann eine Bedeutung erhalten, wenn sie auf 
wissenschaftlicher Grundlage ruhen und dass er in Anbetracht dessen 
die zweckentsprechenden Mittel ergriff. Zu diesen gehört die Be¬ 
rufung Joseph De FIsle's in die zu eröffnende St. Petersburger Aka¬ 
demie als Astronomen. Seit jener Zeit ward die weitere Bearbeitung 
der Karte Russlands in die Hände der höchsten gelehrten Körper¬ 
schaft des Reiches gelegt. Bei der Akademie wurde auf De l’Isle’s 
Initiative ein besonderes geographisches Departement errichtet, wo 
ihre Ausbildung erhielten: Krassilnikow, Popow , Jsslenjew und an¬ 
dere Geödeten, denen wir die ersten genauen Ortsbestimmungen in 
den entferntesten Theilen des Kaiserreiches verdanken. Durch die 
Bemühungen der Mitglieder der Akademie, besonders Heinsius , 
Winsheim , unter der Leitung Leonhard Eulers , warde der vor¬ 
treffliche Atlas angefertigt, welchen die Akademie 1745 herausgab 
und der bis zum Anfang dieses Jahrhunderts in Gebrauch blieb. In 
ihm haben wir die Verwirklichung der Wünsche und Entwürfe 
Peters des Grossen in Betreff der Kartographie Russlands. 

Herr Akademiker Wesselowskij hob zunächst in seiner Rede 
hervor, dass die Gründung der Akademie in engster Beziehung zu 
dem Geiste und der Bedeutung der Reformen stehe, durch welche 
Peter der Grosse in seinem Vaterlande ein neues Leben geweckt 
habe. Wie Alles, was er unternahm, tragt auch diese Schöpfung den 


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Stempel seines persönlichen Characters an sich. Als einen glän¬ 
zenden Zug aller Thaten Peter’i des Grossen bezeichnete der Redner 
die Genialität, mit der er die Mittel wählte, die ihn seinen Zielen ent¬ 
gegen führen sollten. Die Natur hatte ihn mit freigebiger Hand aus¬ 
gestattet. Ein ungewöhnlicher Scharfsinn und eine ausserordent¬ 
liche Tiefe der Ueberzeugung vereinigten sich in ihm mit Willens¬ 
kraft und Thatendurst. Peters klarer Geist, durch den er über 
seiner Nation stand und in mancher Hinsicht seinem Zeitalter voran¬ 
geeilt war, hatte begriffen, dass ohne Wissenschaft wahre Grösse 
eines Volkes nicht möglich sei und dass, ohne sie in seinem Lande 
heimisch zu machen, diejenigen Institutionen, die er zur Erneuerung 
des staatlichen Lebens seiner Unterthanen in’s Leben rief, nicht ge¬ 
sichert sein könnten. Durch eine Entlehnung der nöthigen Kennt¬ 
nisse von Aussen, durch Uebersetzungen fremdländischer Bücher, 
durch Berufung von Ausländern in den russischen Staatsdienst und 
andere ähnliche Maassregeln, war für die Bedürfnisse des ersten 
Augenblicks gesorgt; doch das Alles hätte nicht hingereicht, um 
Russland auf der Höhe zu erhalten, auf welcher er es zu sehen 
wünschte. Diese Einsicht weckte in ihm den Gedanken von der 
Nothwendigkeit selbstständiger Beschäftigung mit der Wissenschaft 
in seinem Vaterlande und einer Verpflanzung des Wissens des 
Westens auf dessen Boden. Auch hier blieb er wie in andern Fällen 
nicht bei halben Maassregeln stehen, und so sehen wir denn, wie in 
seinem Geiste allmählich der Gedanke reift — in einem Lande, wo 
cs noch keine Gelehrte, keine Universitäten, keine Gymnasien gab, 
eine Anstalt zu gründen, welche zugleich Gymnasium und Univer¬ 
sität und höchste gelehrte Körperschaft wäre. 

Der Redner schildert weiter, wie Peter wissenschaftliche Hülfs- 
mittel sammelt, erwähnt seiner Besiehungen zu Leibnitz , zur Pariser 
Akademie, zu Chr . Wolff , der Absendung des kaiserlichen Biblio¬ 
thekars Schumacher nach Frankreich, Deutschland, Holland und 
England (im Jahre 1721), wobei demselben der Auftrag wurde, mit 
Gelehrten Correspondenz darüber zu fuhren, wie eine Gesellschaft 
der Wissenschaft zu gründen sei. Im Anfang des Jahres 1724 
erhielt Blumentrost den Auftrag, das Project zu einer Akademie zu 
schreiben, welches* der Leibarzt am Ende Januar in russischer 
Sprache dem Kaiser vorlegte. Es ist höchst wahrscheinlich, dass 
die wesentlichen Theile dieses Projects dem letzteren selbst ange¬ 
hören und dass Blumentrost nur die Redaction der ihm mündlich 
mitgetheilten Gedanken ausführte. 

Während er sich mit der Gründung der Akademie beschäftigte, 
reifte in Peter’s klarem Geiste die Ueberzeugung, dass die Wissen¬ 
schaft an und für sich, in ihrer abstracten Bedeutung, überall und 
besonders in einem Lande wie Russland, Gegenstand der Beschäf- 
tigung nur eines kleinen Kreises, durch die Fürsorge der Regierung 
dazu aufgemunterter Männer sein könne. 

Ebenso wollte er, indem er dem damaligen Stande der Bildung 
bei uns Rechnung trug, dass das von ihm zu gründende obere Colle- 


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gium zugleich ein Centrum sei, aus welchem die Wissenschaftauf dem 
Wege der Lehre und practischer Anwendung ins Leben dringe. Um 
diesen Zwecken zu entsprechen, sollte die Akademie aus drei eng 
mit einander verbundenen Theilen bestehen: i) aus der Akademie, 
deren Mitglieder „um die Vervollkommnung der Künste und Wissen¬ 
schaften sich zu bemühen“, ferner nötigenfalls durch ihre Kenntnisse 
die Behörden zu unterstützen, und für die Verbreitung und Ein¬ 
führung „der freien Künste und Manufacturen u zu sorgen hatten; 

2) aus der Universität, in welcher die Akademiker öffentliche Vor¬ 
träge über ,,die Künste und Wissenschaften“ zu halten hätten, und 

3) aus dem Gymnasium, „wo die Adjuncten oder Eleven der Aka¬ 
demiker Jünglinge in den Elementen der Wissenschaften zu unter¬ 
richten und sie zum Eintritt in die Universität vorzubereiten oder zu 
Lehrern künftiger Schulen auszubilden hätten. Es war Peter nicht 
vergönnt, die Eröffnung der Institution zu erleben, an deren Grün¬ 
dung sein Geist so eifrig gearbeitet. Nach dem Zeugnisse eines Zeit¬ 
genossen übertrug er auf seinem Todtenbette seiner Nachfolgerin 
die Verwirklichung seiner Entwürfe in Betreff der Akademie, welche 
anderthalb Jahre nach seinem Tode, am 29. December 1726, in 
öffentlicher Sitzung feierlich eröffnet wurde. Mit ihr wurden bereits 
damals die ,,Kunstkammer“ und die Bibliothek Peters, aus welchen 
sich später die jetzigen Museen und die Bibliothek der Akademie 
entwickelten, vereinigt. 

Eine ebenso eingehende als anziehende Characteristik Peter’s des 
Grossen als Menschen, Regenten und historische Persönlichkeit 
finden wir in der Rede des Akademikers Grot, Der beschränkte 
Raum für eine Anzeige gestattet uns nicht, diese umsichtige und lei¬ 
denschaftslose ßeurtheilung des Characters und der reformatori- 
schen Thätigkeit des unsterblichen Mannes unsern Lesern vorzu¬ 
führen. Doch wollen wir eines Zuges in der gefeierten Persönlich¬ 
keit Peter’s, auf den der Redner aufmerksam machte, erwähnen. 
„Selbstherrscher übe? Millionen, vereinigte er, vielleicht in Folge 
eines besonderen Bedürfnisses seiner genialen Natur oder auf Grund 
eines tief durchdachten Planes, mit der Herrscherwürdc den Charac- 
ter einer privaten Persönlichkeit: die Ehren und die Rolle des Mon¬ 
archen übergiebt er einem Unterthanen, selbst tritt er in die Reihen 
nicht nur der gewöhnlichen Bürger, sondern der Arbeiter; führt 
mechanische Arbeiten fast in allen Zweigen technischer Fertigkeit 
aus; verschmäht zuweilen nicht den bedungenen Lohn; singt in der 
Kirche im Chor; fährt in Moskau um Weihnachten das Christkind 
preisen; macht den Dienst von den niedrigsten Graden an durch; 
erscheint vor dem vermeintlichen Caesar in der Eigenschaft eines 
Unterthanen; empfängt aus den Händen seiner Grossen Belohnungen 
und correspondirt mit vertrauten Personen als einer ihres Gleichen.“ 

„So zeigt sich uns Peter auf dem Throne als eine ganz ausnahms¬ 
weise und beispiellose Erscheinung in der Geschichte: nichts Aehn- 
liches treffen wir bei andern Völkern. Man hat Grund anzunehmen, 


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dass Peter so nicht aus Laune, sondern mit Absicht handelte, — um 
einem wenig gebildeten Volke, welches bis dahin alle Grösse in 
äusserem Glanze, alles Glück in müssigem und sorglosem Leben 
sah, als Beispiel zu dienen.“ 


Nach den eben besprochenen drei Reden finden wir im gegen¬ 
wärtigen Hefte der „Sapiski“ 4) eine mathematische Abhandlung 
des Akademikers 1). M. Perewoschtschikow (S. 87 — 106) über das 
Integriren logarithmischer Functionen (MirrerpHpoBaHie jiorapne- 
MHHecKHX'b <j>yHKu,iß, (s. oben S. 490); 5) einen Aufsatz des Ge- 
hülfen des Directors des Wilnaer Observatoriums, Berg , über den 
Photometer Schwerd’s und über die Absorption des Lichts durch 
die Atmosphäre, für den Wilnaer Horizont (S. 107 — 112); 6) den 
Bericht über die fünfzehnte Zuerkennung der Preise des Grafen 
Uwarow, welche am 25. September in einer öffentlichen Sitzung 
stattfand (S. 113 — 141); 7) Berichte über die Sitzungen des Ple¬ 
nums und der drei Classcn der Akademie während April — Sep¬ 
tember dieses Jahres (S. 142 — 193)- Auszüge aus den hier abge¬ 
druckten Sitzungsberichten der drei Gassen gaben wir im 4. Heft 
der „Russischen Revue“ S. 405—406 und in diesem Heft S. 490 
u. flg. Den Schluss des Heftes bildet 8) ein Aufsatz des Akademikers 
/. /. Ssrcsncivsky über die Pandekten des Nikon Tschcrnogorez nach 
einer alten Ucbersctzung (s. Heft 4. S. 405). 

Die Beilagen zu diesem Heft bringen uns: No. 1 die russische 
Ausgabe der von der „Russischen Revue“ in Heft 3 in deutscher 
Ausgabe gegebenen Abhandlung des Ehrenmitgliedes der Akademie 
5 . A . e Gcdeonow über die Raphaelischc Marmor-Gruppe „ein 
todter Knabe, getragen von einem Delphine“, und No. 2 eine 
ebenfalls in die Kunstgeschichte einschlagende, umfassende Arbeit 
von D . Rowinskij: Wörterbuch der in Russland gestochenen Por- 
traits (CjiOBapb pyccKHX'b rpaBnpoBaHHbixT> nopTpeTOBT»). Die 
Beilagen zu den „Sapiski“ sind auch einzeln im Buchhandel zu 
haben. Wir werden daher diese von gründlichen Studien und ausser¬ 
ordentlichem Fleisse zeugende Schrift in einem der nächsten 
Hefte der „Russischen Revue“ besprechen. 


Russische Bibliographie. 


O Haiueft BoeHHoft pe4>op]vrfe cl sKOHOMimecKÄ tohkh ap'femH. 
MocKBa. 8° 50cTp. (Ueber unsere Militairreform vom öconomischen 
Standpunkte. Moskau. 8° 50 S.) 

ÄpceHbeBb 4>. A., 3bipnHe h uxt oxothhhbh npoMbic;u>i. MocKBa. 
8° 65 CTp. (Arssenjew, F. A. Die Syijänen und ihre Jagd-Gewerbe. 
Moskau. 8° 65 S.) 


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TpuropOBiim», A* B. ftopaöjib PeTBH3aHi>. Toä'b B'bEßpoirfe h Eb 
poneftcKHX'B Mopxxi». C.-II6. 8° 391 cTp. (Grigorowitsch, D. W. Das 
Schiff Retwisan. Ein Jahr in.Eurbpa und in den europ. Meeren. St. 
Petersburg. 8° 391 S.) 

flAPHHueß'b, H, M. PyccKax oöuijHHa bt> TiopM'h h ccbiJirk C-.IT6. 
8° VII + 719 exp. (Jadrinzew, N, M. Die russische Gemeinde im Ge- 
fängniss und im Exil. St. Petersburg. 8° VII + 719 S.) 

Ky3HenoBi, M. C. PyccKo-HdsMeitKiH BoeHHo-TexHHHecKin cjioßapb. 
C.-II6. 8 Ü 499 CTp. (Kusnetzow, J. S. Russisch-deutsches militairisch- 
technisches Wörterbuch. St. Petersburg. 8° 499 S.) % 

llyTeBOAMTeJib B1 > cbhtoü rpa4i> IepycajiHMi> ko rpo6y TocnoAHio 
H npOMHMl» CBHTbIM'b MisCTaMT» BocTOKa M Ha Cimaft. C'h pnc. H no- 
jiHTun. KieBT». 8° 208 CTp. (Führer zur heiligen Stadt Jerusalem, zum 
heiligen Grabe und den übrigen heiligen Qrten des Orients und nach 
dem Sinai. Mit Zeichnungen. Kijew. 8° 208 S.) 

tfrpMKeHl», A. PuMCKix KaTaxoMÖbi h naMXTHHKH nepBOHanajibHaro 
xpncTiaHCKaro HCKyccTBa. H. 1. MocKBa. 8° 189 CTp. (Fricken, A. Die 
römischen Katakomben und die Denkmäler der Anfänge der christ¬ 
lichen Kunst. Th. I. Moskau. 8° 189 S.) 

KpecTOBCKiM, B. Ha 3anaAi5 h Ha boctokIs. C.-II6. 8° 359 CTp. (Kre- 
stowsky, W. Jm Westen und im Osten. St. Petersburg. 8° 359 S.) 

MaKapOBi, C. noB'bcTH h3t> pyccKaro 6brra. Ob 6 pncyHKaMif. 
C.-EI6, 8° 252 CTp. (Makarow, S. Erzählungen aus dem russischen 
Leben. Mit 6 Abbildungen. St. Petersburg. 8° 252 S.) 

TpayTUiOJlA'b, T. Ochobli reojioriH. H. I. TeoreHla h reoMop<j>ix. 
(Trautschold, G. Elemente der Geologie. Theil I. Geogenie und Geo- 
morphie.) 

Tiüie, Mb. CoßpeMeHHoe cocroxHie napoßbix-b mojiotobt>. (Thieme, 
Iw. Gegenwärtiger Zustand der Dampfhammer). 

ycOAbließi», A. 0. Othcti> cHÖnpcKaro Oiyrfejia PyccKaro Teo- 
rpa<i>HnecKaro OömecTBa. (Usolzew, A. Th. Bericht der Sibirischen 
Abtheilung der Kaiserlichen Russischen Geographischen Gesell¬ 
schaft für das Jahr 1871.) 

Tpy äh .flpocjiaBCKaro TybepHCKaro CTaTHCTHnecKaro Komhtctb. 
(Die Arbeiten für die Statistischen Comit^s des Jarosslawschen Gou¬ 
vernements.) 

POBMHCHiif, A- Cjioßapb pyccKHXT> rpaßnpoBaHHbixT> nopTpeTOBi». 
(Rowinsky, D. Verzeichniss der russischen in Stich erschienenen 
Portraits.) 

St. Petersburger Kalender für das Jahr 1873. 

C( 5 pOHHKT> CB r hÄ'tHifi O npaBOCJiaBHbTX’L MHCCUDCb H Ä'bHTeJIb- 
hocth üpaBOCJiaBHaro MuccioHepcKaro OömecTBa. (Sammlung von 
Berichten über die Missionen und die Thätigkeit der rechtgläubigen 
Missionsgesellschaft). 

Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Rüttger. 

Ao 3 BOJieHO ueHaypoio. C-rieTep^ypn», 22 -ro Aeraöpa 1872 roAa. 

Buchdruckerei von Röttger & Schneider, Newsky-Prospect No. 5. 


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