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Slovanska knihovna
SLOVANSKÄ KNIHOVNA
3186254025
3186254025
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Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff (Karl Röttger).
PROSPECTUS.
Vom I. August dieses Jahres ab wird in unserem Vei\age elitmkVfar
Russische Rev
'MONATSSCHRIFT
FÜR DIE KUNDE RUSSLANDS.
Herausgegeben
von
Karl Röttger.
Der gewaltige Aufschwung, den die gesammte innere Entwickelung
des Russischen Reiches unter der Regierung des Kaisers Alexander II.
genommen hat, hat auch einen bedeutend vergrösserten internationalen
Verkehr Russlands mit dem Auslande zur Folge gehabt. Für einen
solchen Verkehr ist aber eine richtige Kenntniss und daraus resultirende
Würdigung und Beurtheilung der einzelnen Länder und ihrer Zustände
und Verhältnisse ebenso erspriesslich als nothwendig.
Für die Kunde Russlands fehlte es bisher an genügendem Quellen-
Material in anderer, als russischer Sprache; die „Russische
Revue“ will es versuchen, diesem Mangel abzuhelfen, und eine Lücke
auszufüllen, welche durch die in deutscher und französischer Sprache
erscheinende Tagespresse nicht beseitigt werden kann.
Die „Russische Revue“ will in Originalartikeln , Referaten und
Ucbersetzungen objective , authentische Mittheilungen bringen über das staat¬
liche , gesellschaftliche , ökonomische und geistige Leben in allen Theilen des
ganzen Russischen Reiches , und glaubt allmählich der Lösung der freilich
schwierigen Aufgabe um so mehr sicher entgegen sehen zu dürfen, als
hervorragende Kräfte dem Unternehmen ihre fördernde Mitwirkung
zugesichert haben, unter denen es uns heute gestattet ist zu nennen
die Herren: W. v. Bcsobrasoio, Mitglied der Akademie der Wissenschaften,
HL.
t.i.
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Ja io'’
A. E. Horn,, Chef-Redacteur des «Journal de St. Petersbourg*, Baron
v . Osten-Sacken, vorm. Sekretär der K. Geogr. Gesellschaft, P. v. Semenow,
Direktor des Centralstatistischen Comites, v. Thörner, Mitglied des
Conseils des Finanzministeriums und Wild, Mitglied der Akademie der
Wissenschaften.
Kleine Mittheilungen sollen sich ergänzend den grösseren Artikeln
anschliessen, Literaturberichte werden über bemerkenswerthe Erschei¬
nungen auf literarischem Gebiete referiren und eine bibliographische
Uebersicht wird eine Titel- und eventuell kurze Inhaltsangabe sämmtlicher
bemerkenswerthen Publikationen der russischen Literatur bringen.
Indem die „Russische Revue“ es als ihre Aufgabe betrachtet,
in objectiver Darstellung authentisches Material für die Kenntniss des
Russischen Reiches und Lebens zu geben, kann sie nicht die Absicht
haben, polemisch in den Streit der Tagesfragen einzutreten, sie kann nur
das Ziel haben: zu orientiren und, eventuell, thatsächlich zu berichtigen.
Wir glauben uns der Hoffnung hingeben zu dürfen, dass diese Zeit¬
schrift nicht bloss im *Auslande, sondern auch in Russland selbst will¬
kommen geheissen und dass sie auch im Inlande eine rege Theilnahme
finden werde.
Beiträge werden im Falle der Aufnahme angemessen honorirt und
ebenso, wie alle Zuschriften, erbeten unter der Adresse der Verlags¬
handlung mit der Bezeichnung: «Für die Russische Revue».
Vom i. August ab wird monatlich ein Heft der „Russischen
Revue“ im Umfange von ca. 6 Bogen 8° Format erscheinen.
Der Abonnementspreis beträgt jährlich 6 Rubel, — für die Zeit
vom i. August bis Ende dieses Jahres mit Zustellung und Postversendung
ins Innere des Reiches 3 Rubel.
Bestellungen übernehmen alle Buchhandlungen, wie auch die Ver¬
lagshandlung
Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff,
(Karl Röttge r).
St. Petersburg, d. 1. Juli 1872.
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Bestellzettel
Unterzeichnete bestellt hiermit unter Beifügung von 3 Rbl. S.
1 Exemplar „RüsssieheRevue“ vom 1. August bis 31.
December 1872.
Unterschrift und genaue Adresse des Bestellers:
NB. Um recht genaue und möglichst deutlich geschriebene
Angabe der Adresse wird höflichst gebeten.
/
Ao3uo.ieno ueHaypoio, C. FleTepöypn» 8 iiOJi* 1872 r.
Buchdrockerei von Röttger & Schneider, Nevsky-Prospect Jd 5.
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Staatliche Organisation des Rassischen Reiches?} ^
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Der Kaiser aller Reussen ist unumschränkter Selbstherrscher,
desgleichen auch die Kaiserin y wenn die Thronfolge auf ein weib¬
liches Mitglied der Kaiserlichen Familie übergeht; jedoch wird im
letzteren Falle der Gemahl der regierenden Kaiserin nicht als
Kaiser angesehen; ausser dem Titel kommen demselben aber die
gleichen Ehren und Vorrechte zu, wie den Gemahlinnen der Kai¬
ser. — Der Thron des Russischen Reiches und die unzertrennlich
mit demselben verbundenen Throne des Königreiches Polen und
des Grossfiirstenthums Finnland vererben sich auf Grundlage des
. Manifestes vom 5. April 1797, nach welchem beiden Geschlechtern,
in erster Reihe aber dem männlichen, nach dem Rechte der
Erstgeburt, und, nur im Falle des Erlöschens aller männlichen
Linien, dem weiblichen, der Erbfolge gemäss, das Recht auf die
Thronfolge zusteht. Der Termin der Grossjährigkeit ist für die
Herrscher (für beide Geschlechter) und für den Thronfolger das
vollendete 16. Jahr. Falls ein minderjähriger Erbe den Thron be-
t steigt, so wird bis zu seiner Grossjährigkeit eine Regentschaft für
I die Regierung und eine Vormundschaft für die Person des Kaisers
eingesetzt. Nach dem Tode des Kaisers besteigt sein Nachfolger
; den Thron, ipso jure, Kraft des Gesetzes über die Thronfolge,
j Die Thronbesteigung des Kaisers wird von dem Todestage seines
| Vorgängers an gerechnet. •
Die herrschende Kirche im Russischen Reiche ist die recht-
*) Wir geben heute diese Uebersicht nach: ^BoenHO-CTa-rHCTiicKofi cöopHHKi», IV*
BbinycK-b : Poccia, cocTaBJieHHua O^HuepamireHepajiHaroIirraßa no/n» oÖmyiopeAaituiio
reiiepajn>-Maiopa H. H. Oöpyqeaa. Militär-statistisches Magazin. IV. Band: Russland.
Bearbeitet von Offizieren des Generalstabes unter der Redaction des General-Major
Obrutschew. 1871“ und behalten uns die detaillirtere Ausführung einzelner Punkte für
die folgenden Hefte vor.
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gläubige, Griechisch-Russische, welcher der Kaiser Stets an^hören
muss. Als Hüter der Rechtgläubigkeit wird der Monarch das
Haupt der Kirche genannt; für seine desfallsigen Handlungen ist
sein Organ der Allerheiligste Synod. Im Uebrigen erfreuen sich
nicht nur alle christlichen Confessionen, sondern auch Juden, Muha-
medaner und Heiden der Glaubensfreiheit.
Die Wirksamkeit des Kaisers ist eine zweifache; sie erstreckt
sich: d) auf die Gesetzgebung und b) auf die Regierung. Die ge¬
setzgebende (jrewalt steht in ihrer ganzen Fülle nur dem Kaiser zu,
derart, dass ausser Ihm Niemand irgend ein Gesetz erlassen kann.
Die höchste Regierungsgcwalt ruht gleichfalls in den Händen des
Kaisers. — Behörden und Personen, denen der Monarch Regierungs¬
gewalt anvertraut, handeln ie Seinem Namen und nach von Ihm
erlassenen Gesetzen.
Die Behörden, welchen die verschiedenen Zweige der Regierung
übertragen sind, werden nach dem Maasse der ihnen zustehenden
Gewalt eingetheilt in: oberste oder Reichsbehörden, mittlere oder
Gouvernerfients-, und niedere oder Kreis-* und Stadtbehörden. — Zu
den letzteren gehören auch die Wolost- und Dorf-Institutionen.'
Zu den Reichs-Behörden gehören:
I. Der Reiphsrath. — Der Berathung desselben unterliegen
alle Regierungsangelegenheiten in ihrem Verhältniss zur Gesetz¬
gebung; durch, ihn gelangen dieselben an die Höchste Gewalt.
Der Reichsrath besteht aus einer allgemeinen Versammlung ( Plenum )
und drei Departements : I. dem für Gesetzgebung , 2. dem der Civil-
und geistlichen Angelegenheiten und 3. dem für den Staats-Haus¬
halt. Bei dem Reichsrath besteht die Reichs-Kanzlei, welche vom
Reichs-Secretär verwaltet wird..— In Verbindung mit dem Reichs-
rathe bestehen ferner: •
a) Das Haupt-Comit£ für die bäuerlichen Angelegen¬
heiten, welches die Organisation und Verwaltung der gesammten
bäuerlichen Verhältnisse des Reiches auf einheitliche Principien
zurückführt.
b) Das KAUKASISCHE Comit£, dessen Durchsicht und Beurthei-
lung die sich auf das Kaukasische Gebiet beziehenden Angelegen¬
heiten unterliegen.
II. Der Dirigirende Senat. Er ist die höchste civilgericht-
liche*) Instanz und wacht über die Befolgung der Gesetze. — Der
*) Ini Gegensatz zur geistlichen und Militärgerichtsbarkeit.
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Senat besteht aus n Departements , von welchen das i. f 2., 3., 4., 5.,
das Heroldie - und -Afr.w-Departement in St Petersburg, das 6.
und 7. in Moskau und das 9. und 10. in Warschau fungiren. —
Ausserdem sind seit der Einführung der Gerichtsreform bei dem
Senat zwei Kassations ~Departements eröffnet worden. Es bestehen
bei dem Senate drei allgemeine Versammlungen (Plenum), zwei in
St. Petersburg und eine in Moskau. Die erste allgemeine Ver¬
sammlung in St. Petersburg wird von dem 1., 2., 3. und dem
Heroldie-Departement gebildet; die zweite aus dem 4., 5. und
dem Mess-Departement; die 'Moskausche allgemeine Versamm¬
lung aus allen in. Moskau bestehenden Departements. Die Auf¬
sicht über die Geschäftsordnung und über die Gesetzlichkeit der
Beschlüsse kommt in den St. Petersburger allgemeinen Versamm¬
lungen unmittelbar dem General-Procureur zu, dessen Amt mit dem
des Justizministers vereinigt ist; in der Moskauschen allgemeinen
Versammlung ist der Minister durch einen besonderen Ober-Prö-
cureur vertreten. In jedem Departement ist ein Ober-Procureur
angestellt, mit Ausnahme des der Heroldie, in welchem ein
Heroldmeister mit gleichen Rechten und Pflichten fungirt. Ein
jedes Departement hat seine besondere Kanzlei . Ausserdem be¬
stehen beim Senat: a) eine Registeramt, b) ein ökonomisches
Comit6, c) Senatsdruckereien in St. Petersburg und Moskau und
d) Senats-Archive.
IR. Der Allerheiligste Synod. Die Thätigkeit desselben er¬
streckt sich auf alle Gegenstände des geistlichen Ressorts ortho¬
doxer Confession in gleicher Weise, wie sie der Sejiat auf seinem
Gebiete ausübt. Der Synod besteht aus einigen Archijereen
(apxiepen) (darunter auch Metropoliten), aus Archimandriten und
Mitgliedern der (sogenannten „weissen“) Welt-Geistlichkeit. Der
Synod besitzt eine Kanzlei, welche aus den Bureau-Beamten des
Ober-Procureurs, aus den Ober-Secretairen, Secretairen und anderen
Beamten gebildet ist. Alle Vorlagen des Synods gelangen an
den Kaiser durch Vermittlung des Ober-Procureurs. Unter des
letzteren Ober-Aufsicht sind bei dem Synod: a) ein ökonomisches
Comite und b) eine Verivaltung der geistlichen Lehranstalten ein¬
gerichtet.
IV. Das Minister-Comite. Es dient dieses als Centrum der
den Ministem anvertrauten Executiv-Gewalt und erledigt\ über¬
dies die ihm durch die Gesetze besonders zugetheilten Geschäfte.
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V. Die Ministerien und Haupt-Verwaltungen haben die 7
Aufgabe, durch ununterbrochene Thätigkeit und Aufsicht für eine
präcise und schnelle Ausfüllung der auf den Gebieten der Gesetz¬
gebung und Verwaltung ergriffenen Maassregeln zu sorgen. Die
Leitung eines jeden Ministeriums wird einer Person mit dem
Titel eines Ministers, eines Hauptverwaltenden (iviaBHoynpaBAHiömifl)
oder Hauptdirigirenden (rjiaBHOHaHajibCTByiomitt) anvertraut —
Die Hauptabtheilungen eines jeden Ministeriums sind: I. die Depar¬
tements - oder Haupt-Verwaltungen. 2. der Conseil , 3. die allgetneifien
Versammlungen ( Plenum ) in den Departements, 4. die Kanzlei und
5. besondere Institutionen bei einzelnen Ministerien. Alle Minister
sind in ihrer Thätigkeit unmittelbar der Höchsten Gewalt unter¬
geordnet. Das Wesen ihrer Machtbefugniss besteht allein in der
Executive. Die richterliche Gewalt dagegen kommt in ihre*
ganzen Ausdehnung dem Senate und den Justizbehörden zu.
Hiernach kann kein Ministerium über irgend Jemanden aburtheilen
oder Prozesse entscheiden.
Die Ministerien und Hauptverwaltungen sind folgende:
1. Das Ministerium des Kaiserlichen Hofes vewaltet alle
Hof-Angelegenheiten. Es besteht: a) aus dem Kapitel der Kaiser¬
lich und Königlich Russischen Orden, b) dem Apanagendeparte¬
ment, c) dem Kabinet Seiner Majestät des Kaisers, d) der Kanzlei,
e) der Controle, /) dem Hofcomptoir, dem Marstallamt, dem Mos-
kauschen Palais-Comptoir, dem Jägcrmcisteramt und dem Bau-
Comptoir, g) der Moskauschen Rüstkammer, h) der Direction der'
Kaiserlichen Theater, i) den Schlossv^rwaltungen zu Zarskoje-Sselo,
Peterhof und Gatschina und k ) der Kaiserlichen Akademie der
Künste.
2. Das Kriegs-Ministerium verwaltet und disponirt über alle
militärischen Kräfte des Reichs zu Lande in Bezug auf ihre Zu¬
sammensetzung, Organisation, Verproviantirung, Versorgung, Be¬
waffnung, Dislocation ifnd Thätigkeit. Das Kriegs-Ministerium be¬
steht: a) aus dem Kaiserlichen Haupt-Quartier und der Feldkanzlei
Sr. Kaiserlichen Majestät, b) dem Kriegs-Rathe, c) dem Haupt-
Militär-Gerichtshofe, d) der Kanzlei des Ministeriums, e) dem General¬
stabe mit der militärisch-topographischen Abtheilung, f) der Haupt-
Artillerie-Verwaltung, g) der Haupt-Ingenieur-Verwaltung, h) der
Haupt-Verwaltung der militärischen Lehranstalten, /) der Haupt-
Intendantur, k ) der Haupt-Kriegs-Medizinal-Verwaltung, l) der Haupt¬
verwaltung der irregulären Truppen, nt) der Haupt-Militär-Gerichts-
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s
Verwaltung. Beim Kriegs-Rathe bestehen folgende Haupt-Comites :
a) für Militär-Codificationswesen, b) für Organisation und Ausbildung
der Truppen, c) für Militär-Unterrichtswesen, d) für Kriegs-Hospitäler
und e) für Militärgefängnisse. Zum Bestände des Ministeriums gehören
die Verwaltungen: a) des General-Inspectors der Kavallerie und b) des
Haupt-Inspectors der Schützen-Batailfone; dem Ministerium ist
ferner das Verwundeteri-Comite zugezählt. Ausserdem gehört zu
diesem Ministerium noch ein Intendantur-Museum, und es haben
die Haupt-Verwaltungen noch ihre besonderen Comites und Re¬
dactionen verschiedener fachwissenschaftlicher Zeitschriften.
3. Das Marine-Ministerium verwaltet die militärischen Kräfte
des Reiches zur See nach allen Seiten hin. Es besteht d) aus dem
Admiralitäts-Rathe, b) dem Haupt-Marine-Gericht, c) der Kanzlei
des Ministeriums, d) dem Inspections-Departement, e) dem hydrogra¬
phischen Departement, f) dem technischpn Marine-Comite, welches
aus der Schiffsbau-, Artillerie-, Bau- und wissenschaftlichen Abthei
lung besteht, g) der Haupt-Marine-Gerichts-Verwaltung, A) der
Medicinal-Verwaltung und i ) der Verwaltung der Cotfifications-
arbeiten.
4. Das Ministerium des Aeussern. Zu seinem Ressort gehören
alle politischen Beziehungen mit fremden Staaten; dasselbe sorgt
für den gesetzlichen Schütz russischer Unterthanen in fremden Län¬
dern und für die Befriedigung gerechter Wünsche der Ausländer
bei ihren Geschäften in Russland. Das Ministerium des Aeussern
ist zusammengesetzt: d) aus dem Conseil, b ) der Kanzlei, c) dem
asiatischen Departement, d) dem Departement für die inneren Be¬
ziehungen, e) dem Departement für die Personalien und die öco-
nomischen Angelegenheiten. Dem Ministerium sind ferner unterge¬
ordnet: f) das Reichs-Archiv, das St. Petersburgsche und das Mos-
kausche Haupt-Archiv und bei dem letzteren die Commission
für den Druck der Reichs-Akten und Verträge.
5. Das Ministerium des Innern. Dasselbe umfasst die Exe-
cutiv-Polizei, das Civil-Medicinal-Wesen, die geistlichen Angele¬
genheiten fremder Confessionen, die Fürsorge für die aus der Leib¬
eigenschaft entlassenen Bauern und die Reichsbauern, das Post- und
Telegraphen-Wesen, die Landschafts-Abgaben, die allgemeine Cen-
sur, das Bauwesen, das Gefängnisswesen und die Reichs-Statistik.
Das Ministerium des Innern besteht: a) aus dem Conseil, b) dem
Medicinal-Rathe, c) der besonderen Kanzlei des Ministers, d ) dem
Departement der allgemeinen Angelegenheiten, e) dem Depar-
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tement der Executiv-Polizei, f) dem Departement der geistlichen
Angelegenheiten fremder Confessionen, g) dem ökonomischen De¬
partement, k\ dem Medicinal-Departement, t) dem statistischen Con¬
seil und dem statistischen Central-Comit6, k) der Abtheilung für die
Landschafts-Angelegenheiten (3eMCKift OTA'tA'b), /) der Haupt-Press-
Verwaltung, m) dem technischen Bau-Comit£, n) dem Post-Depar¬
tement und o) dem Telegraphen-Departement.
6 . Das Ministerium der Volksaufklärung. Unter der Leitung
desselben stehen alle, die Volksbildung und die Verbreitung wis¬
senschaftlicher Kenntnisse betreffenden Angelegenheiten. Es um¬
fasst: a ) den Conseil, b) das wissenschaftliche Comite, c) das De¬
partement der Volksautklärung, d) das Archiv des Ministeriums,
e) die Kanzlei des Ministeriums in Sachen der griechisch-unirten
Cohfession, /) die Kaiserliche Akademie der Wissenschaften, g) die
Kaiserliche öffentliche Bibliothek, h) das Lasarewsche Institut für
orientalische Sprachen in Moskau.
7) Das Justiz-Ministerium. Unter seiner Direction steht Alles,
was sich auf das Justiz-Wesen im Reiche bezieht Das Ministerium
besteht: a) aus dem berathenden Comit6, b) aus dem Departement
des Justiz-Ministeriums, c ) aus der Kanzlei. Demselben sind ferner un¬
tergeordnet: a) die Kaiserliche Rechtsschule, b) das Mess-Corps,
c) das Moskausche Atchiv.
8. Das Finanz-Ministerium. Dieses verwaltet alle Staatsein¬
nahmen und Ausgaben und die Angelegenheiten des Reichs-
Credits. Das Finanz-Ministerium bilden: a ) der Conseil, b) die
allgemeine Kanzlei, c) die besondere Kanzlei für Creditwesen, d) das
Berg-Departement, e) das Zoll-Departement, f) das Departement der
indirecten Steuern, g) das Departement der directen Steuern,
h) das Handels- und Manufactur-Departement, z) das Depar¬
tement der Reichs-Haupt-Kasse, i) die Reichs-Haupt-Kasse, und
./) die Abtheilung für die Finanzen des KönigreichesPolen. —
Dem Ministerium sind untergeordnet: a) die Staats-Bank, b) die
Reichs-Schulden - Tilgungs - Kommission, c) die Anstalt zur An¬
fertigung der Staatspapiere, d) die Moskausche Depositen-Bank,
e) das St. Petersburger technologische Institut, f) die Moskausche
practische Handels-Akademie, g) das Corps der Berg-Ingenieure,
h) die Moskausche Abtheilung des Manufactur- und Handelsconseils,
i) der Conseil des Corps der Berg-Ingenieure, k) das wissenschaft¬
liche Comit6, 1 ) das Institut des Corps der Berg-Ingenieure (Berg-
Akademie), m) der St Petersburger Münzhof,
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. 9* Das Ministerium der Reichs-Domänen. Unter seiner Ver¬
waltung stehen die Staatsländereien, die Staatsforsten und die Land¬
wirtschaft, im Allgemeinen. Das Ministerium der Reichsdomänen
besteht a) aus dem Conseil, b) dem Departement der allgemeinen
Angelegenheiten, c) dem Departement des Ackerbaues und der
ländlichen Gewerbe, d) dem Forst-Departement, e) der temporären
Abtheilung ftir die ländliche Organisation der Reichsbauern und
/) dem wissenschaftlichen Comitö.
io. Das Ministerium der Verkehrswege. Dasselbe leitet alle
auf das Verkehrswesen zu Lande und zu Wasser innerhalb des
Reiches sich beziehenden Angelegenheiten. Es besteht: d) aus dem
Conseil, b) dem technischen Inspections-Comite für Chaussee- und
Wasser-Verbindungen, c) dem technischen Inspections-Comitö für
die Eisenbahnen, d) dem Departement der Chaussee- und Wasser-
Verbindungen, e) dem Eisenbahn-Departement, /) dem Departement
der allgemeinen Angelegenheiten, und g) dem berathenden Comite.
n. Die Haupt-Verwaltung des Reichs-Gestüt-Wesens. Die¬
selbe sorgt für Maassregeln zur Veredelung der Pfer^eracen im
Reiche und wird gebildet: a) aus dem Conseil, b) aus der Kanzlei.
12 . Die t REICHS-CONTROLE. Sie wacht über die Ordnung inr
den Ausgaben und Einnahmen der Staats- und öffentlichen Gelder
und besteht: d) aus dem Conseil, b) der Kanzlei, c) dem Depar¬
tement der Marine-Rechnungsablage, d) der temporären Revisions-
Commission, und c) der temporären Central-Expedition.
VT. Die Eigene Kanzlei Sr. Majestät des Kaisers. Sie
besteht aus 4 Abtheilungen:
An die ERSTE ABTHEILUNG gehen sämmtliche Schriftstücke,
welche von Personen und Behörden der höchsten Staatsverwaltung
an Se. Majestät den Kaiser gerichtet werden, sowie die zur.
Allei^iöchsten Kenntnissnahme Sr. Majestät von Zeit zu Zeit einge¬
sandten Berichte der Minister und Gouvernements-Chefs über that-
sächliche Ausführung Allerhöchster Befehle.—Bei dieser Abtheilung
besteht ein.Comite zur Fürsorge für emeritirte Civil-Beamte.
An die zweite Abtheilung gelangen sämmtliche Gesetze und
Verordnungen auf allen Gebieten der Staatsverwaltung, welche dann
von ihr alljährlich unter .dem Titel «Vollständige Gesetz-Sammlung»
herausgegeben werden. Zu ihrer Thätigkeit gehört ferner die Zu¬
sammenstellung und Herausgabe der Fortsetzung des allgemeinen
Codex der Reichsgesetze die Ausarbeitung von Verordnungen und
anderen Gesetzesprojecten auf besonderen Allershöchsten Befehl,
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ferner die Censur der von Privatpersonen publicirten Ausgaben russi¬
scher Gesetze.
Zur dritten Abtheilung gehören alle Angelegenheiten der
höchsten Polizei und alle Bestimmungen in Betreff der in Russland
lebenden Ausländer.
•
Die vierte Abtheilung besorgt die oberste Verwaltung der
Lehr- und Wohlthätigkeitsanstalten des Ressorts der Kaiserin Maria
(Feodorowna) und führt die Geschäfte des ; Haupt-Conseils der weib¬
lichen Lehranstalten.
VII. Das Staats-Seeretariat zur Annahme von Bitt¬
schriften und
VIII. Die Bittschriften-Commission sehen die an Se. Ma¬
jestät den Kaiser gerichteten Bittschriften durch.
IX. Die Eigene Kanzlei Sr. Majestät des Kaisers für
die Angelegenheiten des Königreiches Polen.
X. Das Staats-Seeretariat des Grossfürstenthums
Finnland.
In administrativer Hinsicht ist Russland eingetheilt in Gou¬
vernements , Gebiete *) und Länder; — an den Orten, an welchen in
Folge besonderer Bedingungen eine verstärkte örtliche Thätigkeit
der Regierung erforderlich ist, sind Statthalterschaften oder General-
Gouvememenp eingerichtet, welche einige Gouvernements oder Ge¬
biete umfassen. Statthalterschaften existiren i) im Kaukasus und 2)
im Königreiche Polen. General-Gouverneure sind eingesetzt: 1) fiir
Finnland, 2) die baltischen Provinzen, 3) die nordwestlichen Gou¬
vernements, 4) die südwestlichen Gouvernements, 5) Neuru^lland,
6) Orenburg, 7) West-Sibirien, 8) Ost-Sibirien, und 9) Turkestan.
Ausserdem fuhrt der Gouverneur von Moskau den Ehrentitel eines
General-Gouverneurs.
*) Gebiet e (oÖJiacTü) heissen solche Theile, welche ihrer Bestimmung nach den Gou-
rernements gleich, aber erst kürzlich mit dem Reiche vereinigt sind und desswegen
abweichende, lokale Einrichtungen beibehalten haben, oder diejenigen, in welchen die
Gouvernements-Institutionen nicht vollständig eingefiihrt werden können, = Länder
(3eMJiu) werden die Gebiete der Kosaken genannt, welche halb militärische, halb civile
Verwaltung haben.
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9
Das Gesammtreich enthält überhaupt:
Im europäischen Russland . 48 Gouv. 2 Gebiete 1 Land- 3 Stadtgeb.
In Sibirien ...... 4 » 10 »
Im Kaukasus.6 » 3 » 2 Kreis. I Abtheil.
Im Königreich Polen. . . 10 >
Im Grossfürstenthum
Finnland.8 »
Summa . 76 Gouv. 1-5 Gebiete 1 Land 2 Kreise
1 Abtheilung und 3 Stadtgebiete.
Die Gouvernements werden in Kreise oder Bezirke und 3 Stadt¬
gebiete eingetheilt. In den ersteren bestehen mittlere, in den letzt
teren niedere Regierungsorgane. Ausser der Theilung nach Gouver¬
nements, wird das Reich noch^ einigen speciellen Zweigen der Re¬
gierung entsprechend, in besondere Bezirke , welche mehrere Gouver¬
nements umfassen, eingetheilt. So wird Russland in militairischer
Beziehung in 14, in Beziehung aufs Verkehrswesen in 10 und für das
Unterrichtswesen in 8 Bezirke getheilt u. s. w.
Der grösste Theil der Ministerien besitzt in jedem Gouvernement
seine Regierungsorgane, so z. B. sind der Gouverneur und die neben
demselben bestehende Kanzlei, die Gouvernements-Verwaltung, das
Collegium der allgemeinen Fürsorge, das Comite für die Pflege des
Volkswohls, die Medicinalverwaljtung, das Impfungscomite, das Gou-
vernements-Comitd fiir allgemeine Gesundheitspflege, das Recruten-
comite, das Comite für die Landessteuern, das statistische und das
Fürsorge-Comit^ für die Gefängnisse: Organe des Ministeriums des In¬
nern; — der Cameralhof, die Gouvernements-Accise-Verwaltung, der
Handels- und der Manufactur-Rath, und die Abtheilungen der Staats
bank—sind Organe des Finanzministeriums; der Chef des Domänen* x
Hofes, das Apanagencomptoir, das Gouvernements-Comite fürs Gestüt¬
wesen, der Controlhof, das Gouvernements-Post-Comptoir und die
Direction der Gouvernements-Schulen — dienen als Organe der ent¬
sprechenden Ministerien; der Criminal- und Civil-Gerichtshof (najiara •
yrojioBHaro h rpaamaHciearo cy^a), der Gouvernements-Procureur
und der Gouvernements-Fiskal sind dem Justizministerium unter¬
geordnet. — Ausserdem bestehen in den Gouvernements dem
Synod untergeordnete geistliche Consistorien und für die örtliche
militairische Administration die Verwaltungen der Gouvernements-
Militair-Chefs.
In den Kreisen fungiren folgende Behörden und amtliche Personen:
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die Kreis-Polizei-Vervvaltung und der Kreisfichter, das Friedensrich¬
ter-Plenum und die Friedensrichter; der Kreisarzt; die Kreiskassc
(Ka3HaHeftcTBo); das Kreis-Postcoraptoir; das Kreisgericht und die
Kreisfiskale.
Die Landschafts-Institutionen.
Seit dem i. Januar 1864 sind die Landschafts-Institutionen an fol¬
genden Orten eingefuhrt: im Bessarabischen Gebiete, in den Gouver¬
nements: Wladimir, Wologda, Woronesh, Wjätka, Jekaterinosslaw
Kasan, Kaluga, Kostromä, Kursk, Moskau, Nishny-Nowgorod, Now-
N gorod, Olonez, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa, Pskow, Rjä-
san, Ssamara, St. Petersburg, Ssaratow, Ssimbirsk, Ssmolensk, Tau-
rien, Tambow, Twer, Tula, Charkow, Chersson, Tschemigow, Ufa
und Jaroslaw.
Die Versammlungen der Landschaft (3cmctbo) zerfaUen in Kreis -
und Gouvernements - Versammlungen . Sowohl diese wie jene werden
aus gewählten Abgeordneten der drei Stände: der Grundbesitzer ,
Städter , und der Bauergetneinden gebildet. Für jeden derselben gilt
ein besonderer Census.
In der Wahlversammlung der Grundbesitzer des Kreises haben
Stimmrecht: 1) Personen, die ein Grundeigenthum von 200—800
Dessjätinen (für die verschiedenen Kreise je nach dem Landpreise
verschieden) haben; 2) Personen, welche im Kreise ein anderes Im¬
mobiliar im Werthe von 15000 Rbl. oder ein industrielles Etablisse¬
ment, dessen jährlicher Umsatz nicht weniger als 6000 Rbl. beträgt,
besitzen; 3) die Bevollmächtigten von Personen oder von Gesell¬
schaften und Compagnien, deren Besitz dem in den ersten beiden
Punkten angegebenen Bedingungen entspricht; 4) die Bevollmäch¬
tigten mehrerer Grundbesitzer, deren Besitzthum einzeln nicht die
volle erforderliche Grösse, jedoch nicht weniger als 720 derselben,hat
5) Die Bevollmächtigten von Geistlichen, die ein dem Census ent¬
sprechendes Stück Kirchenland besitzen.
An den städtischen Wahlversammlungen nehmen Theil: 1) die
berechtigten Kaufleute; 2) diejenigen, welche auf städtischem Grunde
Gewerbe-Etablissements besitzen, deren jährliche Production nicht
weniger als 6000 Rbl. beträgt; 3) die Besitzer von Immobilien im
(abgeschätzten) Werthe von 500— 3000 Rbl. je nach der* Grösse
der Stadt.
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Die Versammlung zur Wahl der Deputirten aus den Bauergemein¬
den wird aus den Wählern gebildet, welche die Wolost-Versammlung
aus ihrer Mitte gewählt hat; diese wählen dann die Deputirten zur
Landschafts-Versammlung.
Das Recht des Wählers ist ein persönliches und kann nur im Falle
der Unfähigkeit: persönlich an den Wahlversammlungen Theil zu
nehmen, .— in Folge von Minderjährigkeit, Abwesenheit u. s. w.
übergeben werden. Frauen dürfen nicht persönlich an denWahlen Theil
nehmen; es steht jedoch denselben frei, solchen Personen, welche
den Bedingungfen des Census nicht entsprechen, zu denen sie aber
in einem bestimmten Verwandtschaftsverhältnisse stehen, ihre Voll¬
macht zu ertheilen, — während für Minderjährige und Abwesende
nur dem Census entsprechende Personen bevollmächtigt werden
können. Niemand kann in der Wahlversammlung mehr als 2 Stimmen
haben, eine: laut persönlichem‘Rechte, die andere: laut Vollmacht.
Es dürfen nicht als Wähler fungiren: Personen unter 25 Jahren,
Personen, die sich in einer Criminaluntersuchung befinden oder unter
Gericht stehen, solche, die vermöge richterlichen Spruches oder
Gemeinde-Beschlusses für bescholten erklärt sind und endlich Aus¬
länder, die den russischen Unterthaneneid nicht geleistet haben.
Die Zahl der Vertreter für jede der obengenannten Klassen ist
durch eine Bestimmung für jeden Kreis, je nach der Zahl der Grund¬
besitzer und der Grösse ihres Besitzthums, der Einwohnerzahl der
Städte und dem Weiche des städtischen Eigenthums, der Zahl der
Landbevölkerung und der Ausdehnung der derselben gehörenden
Ländereien, fixirt. Meistens überwiegt der Stand des Hausbesitzers
der Zahl nach. Zu Deputirten werden nur dem, für die Wähler eines
jeden Standes festgesetzten Census entsprechende Personen gewählt,
mit Ausnahme der Landgemeinden, welche ausser den an den Ver¬
sammlungen des Bauerstandes theilnehmenden Personen, auch Grund¬
besitzer und orthodoxe Geistliche zu Deputirten ernennen können.
Die Zahl der Deputirten ist in den einzelnen Kreisen durchaus ver¬
schieden, was sich aus dem Unterschied in der Bevölkerung und
dem Wohlstände der Kreise erklärt; sie wechselt zwischen 10 und
96. Auch die Zahl der von den Kreis-Landschaftsversammlungen
gewählten Gouvemements-Deputirten wechselt zwischen 15 und 100.—
Zu Deputirten können nicht gewählt werden: der Gouverneur, Vice-
Gouvemeur, die Mitglieder der Gouvernenjents-Verwaltung, Pro-
cureure, Fiskale und Polizeibeamte. Die Deputirten werden auf 3 Jahre
gewählt und erhalten weder besondere Dienstvorrechte noch Gehalt.
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12
Ausser den gewählten Mitgliedern nehmen an den Kreis- und Gou-
vemementsversammlungen, falls der Staat in den Kreisen Land,
welches nicht den Bauern zur beständigen Benutzung übergeben ist,
besitzt, Vertreter des Staates Theil und sind die Apanagen- in dieser
Beziehung den Staatsländereien gleichgestellt. — Zur Beschlussfä¬
higkeit der Landschaftsversammlungen ist die Anwesenheit eines
Dritttheils der Deputirten erforderlich, und darf diese Zahl nicht ge¬
ringer sein als io. Die Beschlüsse der Landschaftsversammlungen
werden nach einfacher Stimmenmehrheit gefasst. Zur Ausführung
der Beschlüsse der Landschaftsversammlungen bestehen Gouver¬
nements - und Kreis-Landschaftsämter (3eMCKia ynpaßu). Das Gouver¬
nements-Landschaftsamt besteht aus einem Vorsitzenden und 2—6
Mitgliedern, die aus der Landschaftsversammlung für die Dauer
von 3 Jahren aus ihfer Mitte gewählt werden; der Vorsitzende wird
vom Minister des Innern bestätigt. — Das Kreis-Landschaftsamt be¬
steht aus nicht mehr als 3 gewählten Personen. Die Mitglieder der
Aemter erhalten von der Landschaft ihre Besoldung, deren Betrag
die Landschaftsversammlungen festsetzen. Die Landschaftsversamm-
lungeri treten auf Berufung der Aemter einmal im Jahre zusammen;
die Kreisversammlungen auf 10, die Gouvemementsversammlung
auf 20 Tage. — Zum Ressort der Landschafts-Institutionen gehören:
1) die Verwaltung der Besitzlichkeiten, Kapitalien und Einnahmen
der Landschaft, 2) der Bau und die Erhaltung der der Landschaft ge¬
hörigen Gebäude und der Verkehrswege, welche auf Kosten der- +
selben unterhalten werden, 3) Maassregeln für das Volkswohl, 4) die
Verwaltung der landschaftlichen Wohlthätigkeitsanstalten, Maass¬
regeln gegen den Bettel und die Sorge für den Bau von Kirchen,
5) die Verwaltung der auf Gegenseitigkeit gegründeten landschaft¬
lichen Assekuranzanstalten, 6) Maassregeln zur Hebung des örtlichen
Handels und der Industrie, 7) die Fürsorge für die Volksbildung in
ökonomischer Beziehung, für die öffentliche Gesundheitspflege und
das Gcfängnisswesen, 8) Maassnahmen gegen Viehseuchen und die
Verwüstung der Saatfelder durch Heuschrecke^ und Mäuse, 9) die
Vertheilung der Staatssteuern, deren Repartition der Landschafts¬
verwaltung zukommt; die Bestimmung, Vertheilung und Erhebung
der örtlichen Abgaben, sowie die Verausgabung des Steuerertrages
zur Befriedigung der Bedürfnisse der Landschaft in den Kreisen und
im Gouvernement, i'q) die Wahl der Mitglieder der Landschafts
Institutionen und die Feststellung des Etats der letzteren.
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*3
* Die Städte-Ordnung.*)
Die Städte-Qrdnung ist durch Ukas vom 16. Juni 1870 eingeführt
in den Städten: Astrachan, Archangel, Kischinew, Wladimir, Wo-
logda, Woronesh, Wjätka, Jekaterinosslaw, Kasan, Kaluga, Kertsch,
Kijew, Kostroma, Kronstadt, Kursk, Nishny-Nowgorod, Nikolajew,
Nowgorod, Petrbsawodsk, Orenburg, Orel, Pensa, Perm, Poltawa,
Pskow, Rjäsan, Ssamara, Ssaratow, Ssimbirsk, Ssmolensk, Ssimfero-
pol, Taganrog, Tambow, Twer, Tula, Ufa, Charkow, Chersson,
Tschemigow, Jaroslaw, Irkutsk, Krasnojarsk, Ssemipalatinsk, To-
bolsk und Tomsk, und soll in den übrigen Städten und Flecken, ausser
denen West-Russlands, in möglichst kurzer Zeit eingeführt werden.
Die Sorge für den städtischen Haushalt und die städtische Ord¬
nung ist der allgemeinen Stadt-Verwaltung zugetheilt, welche 1)
aus den städtischen Wahl-Versammlungen, 2) aus dem städtischen
Magistrate (ropoACKa* AyMa)—der aus den gewählten Deputirten
gebildet wird, und 3) aus dem Stadt-Amte (ropoACKaa ynpaßa)—
dessen Mitglieder von dem Magistrate ernannt werden, besteht.
In kleinen Städten können die Pflichten des Stadt-Amtes auch auf
das Stadt-Haupt (Bürgermeister) übertragen werden.
Die Angelegenheiten, welche zum Ressort der allgemeinen Stadt-
Verwaltung gehören, sind: 1) die Organisation der städtischen
Verwaltung und des Stadt-Haushalts, 2) die äussere Ordnung der
Stadt, 3) die Wohlfahrt der städtischen Bevölkerung; die Sorge
für die städtische Gesundheitspflege, Maassregeln gegen Brände und
andere Unglücksfälle, die Entwickelung des städtischen Handels
und der Gewerbe, die Einrichtung von Häfen, Märkten, Kaufhallen,
Börsen und Kreditanstalten, 4) Organisation von Wohlthätigkeits-
anstalten und Krankenhäusern, und die Verwaltung derselben, die
Theilnahme an der Fürsorge für die Volksbildung, die Errichtung
von Theatern, Bibliotheken und Museen, 5) die Einsendung von
Auskünften und Gutachten an die Regierung über Fragen, die das
örtliche Wohl und Wehe der Stadt betreffen.
Das Gerichtsverfahren nach dem Gesetze (YcTaB*) vom 20. November 1864.
Die gerichtlichen, durch das Gesetz vom 20. November 1864
begründeten Institutionen, zerfallen in friedensrichterliche (MHpo-
*) Eine eingehendere Darstellung der Städte Ordnung folgt schon in einem der näch¬
sten Hefte.
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bmä) und allgemeine. Zu den ersteren gehören die Friedens¬
gerichte und das Plenum der Friedensrichter; zu den letzteren
a) die Bezirksgerichte (oKpyacHbie cy^w), b) die Gerichtshöfe (cy-
AeÖHbiÄ najiaTbi) (Appell-Instanz) und die Cassations-Departe¬
ments des Senates.
Die Friedensrichter sind entweder Bezirks - oder Ehren-Frie-
«
densrichter. —Der Bezirks-Friedensrichter (ynacTKOBott cyÄba) nimmt
seinen beständigen Aufenthalt in seinem Bezirke zur Verhandlung
aller seiner Competenz in diesem Bezirke unterliegenden Sachen;
der Ehren-Friedensrichter tritt nur in dem Falle als Richter auf,
• • •
wenn beide Parteien seine Vermittelung anrufen.
In Civil-Sachen verhandeln die Friedensrichter über folgende
Klagen: i) in Folge persönlicher Verpflichtungen und Verträge
im Betrage bis 500 Rbl. incl., 2) wegen Schadenersatzes von nicht
mehr als 500 Rbl., wie auch, falls die Höhe des Verlustes im Au¬
genblicke der Klage nicht genau bestimmt werden kann, 3) wegen
persönlicher Beleidigungen, un 4 4) wegen Wiederherstellung des
Eigenthumsrechtes, im Falle, dass seit der Verletzung desselben
nicht mehr als 6 Monate vergangen sind.
Der Friedensrichter kann jeden Streit und jede Civil-Klage zur
Entscheidung annehmen, wenn beide streitenden Theile ihn er¬
suchen, ihre Sache nach seinem Gewissen zu entscheiden; jedoch
ist in diesem Falle seine Entscheidung endgültig und inappellabel.
Zur Thätigkeit der Friedensrichter gehören ferner die Versieglung
und Bewahrung der Hinterlassenschaften, die Bestätigung im Erb¬
recht und die Vertheilung der Hinterlassenschaften, die aus be¬
weglichen Gütern im Werthe von nicht mehr als 500 Rbl. be¬
stehen. — Die Verhandlungen der Friedensrichter sind öffentlich
und mündlich*, jedoch kann, wenn beide Theile um nicht-öffent-
Hche Verhandlung nachsuchen, der Friedensrichter ihreto Wunsch,
falls er ihn für begründet erachtet, erfüllen. Der Friedensrichter
sammelt keine Beweisstücke, sondern gründet seine Entscheidung
lediglich auf die Beweise, die von den Parteien beigebracht worden
sind. — Allein zuvor sucht er die letzteren zu einem gütlichen
Vergleiche zu bewegen. Gelingt ihm dieses nicht, dann fällt er
nach seinem Gewissen eine dem Gesetz nicht widersprechende
Entscheidung. Im Falle des Nicht-Erscheinens des Angeklagten
fällt der Richter eine Entscheidung in contumaciam; im Falle der
Abwesenheit des Klägers dagegen stellt er das Gerichtsverfahren
ein, jedoch kann der Kläger dasselbe durch eine neue Klageschrift
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erneuern. Dem Angeklagten wird eine Copie des Contumacial-
Urtheils zugeschickt und steht es ihm frei, innerhalb zweier Wochen
um nochmalige Verhandlung der Sache zu bitten. Gegen eine
abermalige Entscheidung in contumaciam kann nur auf dem Appel¬
lationswege geklagt werden. Dem Friedensrichter-Plenum können
Appellationsklagen über die Entscheidungen der Friedensrichter in
Klageforderungen von nicht weniger als 30 Rbl., im Laufe eines
Monates von dem Tage der Eröffnung der Entscheidung an, ein¬
gereicht werden, — und werden die Klagen dem Friedensrichter,
der in der Sache entschieden hat, eingehändigt.
, Im Criminal-Verfahren verhandeln die Friedensrichter folgende
Sachen: 1) Vergehen gegen obrigkeitliche Anordnungen, 2) Stö¬
rung des Gottesdienstes und der Ruhe, 3) Vergehen gegen die
öffentliche Ordnung, 4) Verletzung des Pass-Reglements, 5) Ver¬
letzungen des Rau-, Feuerwehr-, Post- und Telegraphen-Reglements,
6) Vergehen gegen das allgemeine Wohl und die persönliche
Sicherheit, 7) Verletzung der Ehre, Drohungen und Thätlichkeiten,
8) Vergehen gegen die Familien-Rechte und fremdes Eigenthum.
Diese Vergehen unterliegen der Verhandlung Seitens der Friedens¬
richter bloss in dem Falle, wenn die Strafe für dieselben sich be¬
schränkt: ä) auf einen »Verweis, eine Bemerkung oder Ermahnung,
b) auf eine Geldstrafe nicht über 300 Rbl., c) auf einen Arrest von
nicht mehr als 3 Monaten, d ) auf Gefängniss-Strafe von nicht
mehr eis einem Jahr. Unter der Gerichtsbarkeit eines jeden Frie¬
densrichters stehen bloss die Vergehen, welche in seinem Bezirk be¬
gangen ^ worden sind. — Die Verhandlung ist öffentlich ausser in
Verbrechen gegen die Familien-Rechte, die Sittlichkeit u. s. w.
Der Friedensrichter entscheidet seiner Ueberzeugung gemäss; bei
Anwendung der Gesetze aber befolgt er die allgemeinen Bestim¬
mungen filr das allgemeine Criminal-Gerichtsverfahren.
Im Falle des, Nicht-Erscheinens des Angeklagten wird, falls das
Vergehen, dessen er beschuldigt ist, keine härtere Strafe als die des
Arrestes nach sich zieht, von dem Friedensrichter ein Urtheil in con¬
tumaciam gefällt. Der so Verurtheilte kann um eine erneuerte Ver¬
handlung der Sache bitten, wird jedoch bei wiederholtem Nicht-
Erscheinen wegen des letzteren zu 25 Rbl. Strafe verurtheilt,
wobei das ‘erste Urtheil in Kraft bleibt. Das Urtheil des Friedens¬
richters ist endgültig, falls dasselbe auf eine Ermahnung, Verweis
oder Bemerkung, auf eine Geldstrafe von nicht über 15 Rbl. oder
einen nicht mehr als 3 Tage dauernden Arrest oder auf einen
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Schadenersatz von nicht mehr als 30 Rbl. erkennt. Ueber der¬
artige Entscheidungen kann bei dem Friedensrichter-Plenum bloss
nach der Cassationsordnung geklagt werden, während gegen die
nicht endgültigen Entscheidungen mündliche und schriftliche Appel¬
lationsklagen vorgebracht werden können.
Das Friedensrichter-Plenum (Mnpoßoft ct^a*) verhandelt
als Appell-Instanz in Sachen, welche in Folge von Klagen über
die Urtheile und Entscheidungen der Friedensrichter eingehen.
Seine Entscheidungen sind endgültig und inappellabel. Jedoch
sind: ä) in Civil-Sachen innerhalb eines viermonatlichen Termines
Klagen bei den Cassations-Departements des Senates auf Cassa¬
tion der Entscheidung zulässig und b ) in Criminal-Sachen,
Klagen auf dem Cassationswege in denselben Fällen, wie bei den
endgültigen Entscheidungen der Friedensrichter, gestattet. 'Letztere
werden aus dem Plenum in die Cassations - Departements des
Senates eingesendet. — Das Gerichtsverfahren in den friedens¬
richterlichen Instanzen ist von dem Gebrauche des Stempelpapiers
und von jeglichen Abgaben befreit
Die Bezirks-Gerichte (oKpyacHwe cyAu) entscheiden alle Pro¬
zess- und Criminal-Sachen, welche der Competenz des Friedens¬
richters nicht unterliegen, sowie die Sachen wegen Verletzung des
schriftstellerischen; künstlerischen und musikalischen Eigenthums¬
rechtes.
In Civilsachen schreitet das Bezirks-Gericht bloss auf eine Klage¬
schrift (ncKOBoe npoiueHie), welche auf Stempelpapier ä 40 Kop.
geschrieben sein muss, zur Verhandlung einer Sache.*) Im Falle
des Nicht-Erscheinens des Angeklagten fällt das Gericht auf Bitten
des Klägers eine Entscheidung in contumaciam. Gegen dieselbe
steht es dem Angeklagten frei, einen Protest bei dem GeÄchte ein¬
zureichen, während gegen eine wiederholte Contumacial-Entschei-
dung nur im Appellationswege geklagt werden kann. Gegen
die Entscheidung des Bezirks-Gerichts ist es gestattet: a) Klagen
auf Cassation derselben bei den Cassations - Departements des
Senates innerhalb eines viermonatlichen Termines einzureichen
und b) dem Gerichte, welches die Entscheidung gefällt hat, eine
Appellationsklage zur Uebergabe an den Gerichtshof (cyAeÖHaa
na^aTa) einzuhändigen. #
*) Ausländer müssen Bittschriften in russischer Sprache einreichen; in Russland lebende
Ausländer stehen gegenüber den russischen Gerichten den russischen Unterthanen gleich.
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*
In Criminal-Sachen beginnt das Gerichts-Verfahren im Bezirks-
Gerichte: 1) entweder auf die Verfügung des Gerichtshofes, dass
der Angeklagte dem Gerichte zu übergeben sei, oder 2) inFolge eines
Anklage-Aktes des Procureurs, oder 3) auf die Klage eines Privat-
Anklägers hin. — Diejenigen* Criminal-Sachen, welche nach dem
Gesetze Strafen nach sich ziehen, die mit dem Verluste der Standes-
Rechte verbunden sind, werden von dem Bezirksgerichte mit Hin¬
zuziehung von Geschworenen verhandelt. — Die Klagen können
mündliche und schriftliche sein und werden jederzeit von den Polizei¬
beamten, Untersuchungsrichtern, Procureuren und Procureurs-Gehül-
fen angenommen. Die Sitzungen sind öffentlich, ausser in Sachen
wegen Gotteslästerung, .Verleugnung des Glaubens und Verbrechens
gegen die Sittlichkeit. — Die Urtheile, welche unter Mitwirkung der
Geschworenen gefällt worden sind, gelten als endgültige und kann
über dieselben nur auf dem Cassationswege bei den Cassations-
Departements des Senates geklagt werden. Ueber diejenigen Urtheile
dagegen, welche beim Bezirksgerichte ohne Zuziehung der Geschwo¬
renen gefallt worden, kann auf dem Appellationsweg^ bei dem Ge¬
richtshöfe geklagt werden. Beide, die Cassations- wie Appellations¬
klagen, müssen innerhalb zweier Wochen vomTageder Publikation des
Urtheiles an gerechnet, bei dem Bezirksgerichte zur weiteren Ueber-
gabe an das Cassations-Departement resp. den Gerichtshof einge¬
reicht werden. *
Der Gerichtshof sieht in Civil-Sachen die Appellationsklagen
über die Entscheidungen des Bezirksgerichtes durch; in Criminal-
Sachen revidirt er dagegen die Voruntersuchungen bei wichtigeren
Verbrechen, erkennt endgültig entweder auf Verweisung des Ange¬
klagten vor das Gericht oder auf Einstellung des Gerichtsverfahrens
und fallt ebenfalls Entscheidungen über die Appellationsklagen betreffs
det Urtheile des Bezirksgerichtes.* Alle Entscheidungen des Ge¬
richtshofes sind endgültig und sind gegen dieselben nur Klagen
auf dem Cassationswege 'zulässig, welche in Civil-Sachen innerhalb
vier Monate, in Criminal-Sachen innerhalb zweier Wochen vom Tage^
der Publikation des Urtheiles an gerechnet, eingereicht werden
müssen.
Das Civil- und das Criminal-Cassations-Departement des
Senates. Ersteres sieht die Gesuche um Cassation der von dem
Gerichtshöfe, dem Bezirksgerichte und dem Friedensrichter-Plenum
gefällten Civil-Entscheidungen durch und urtheilt über dieselben ab.
Das Letztere unterwirft die Klagen über die endgültigen Entschei-
2
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düngen derselben Gerichtsbehörden in Criminalsachen seiner Durch¬
sicht, gleichwie die Gesuche um erneuerte Verhandlung derjenigen >
Sachen, in welchen das Urtheil bereits gesetzliche Kraft erlangt hat.
Ueber die Entscheidung des Senates sind in keinem Falle Klagen
zulässig.
Als Advokaten können bei den friedensrichterlichen Institutionen
sowohl geschworene Rechtsanwälte (npHcnacHBie noB'fcpeHrtsie) als
auch andere Personen fungiren. In den allgemeinen Gerichts-In¬
stitutionen jedoch können Privat-Personen bloss an den Orten als
Advokaten auftreten, an welchen keine genügende Anzahl geschwo¬
rener Anwälte vorhanden ist — Klagen gegen geschworene Rechts¬
anwälte hinsichtlich ihrer Wirksamkeit werden bei dem Conseil der
geschworenen Anwälte, deren in jedem Bezirke eines Gerichtshofes
einer besteht, eingereicht.
Die staatliche Organisation defc Grossfürstenthums Finnland und
des Königreichs Polen.
a) Das GrossfUrstenthum Finnland.
Im Jahre 1809 wurde Finnland von Russland erobert und durch
den Friedrichshamner Tractat auf ^wige Zeiten mit dem Russischen
Reiche vereinigt Kaiser Alexander I. fügte zu den neu eroberten
Theilen das, bereits seit Peter I. Zeiten zu Russland gehörende
Wyborger Gouvernement hinzu und Hess dem Ganzen seine alte
schwedische Verfassung, welche demselben besondere Criminal-
und Civil-Gesetze, ein besonderes Heer, eigene Finanzen und
sogar eine besondere Consulats-Vertretung in den russischen Häfen
sicher stellte.—Nachdem Kaiser Alexander I. Finnlands alte schwe¬
dische Constitution bestätigt hatte, führte .er in demselben eine
Verwaltung ein auf Grundlagen, die von der Ständeversammlung
zu Borgo angenommen wordeq waren.—Der Thron Finnlands ist
untrennbar mit dem Russlands vereinigt. Der Kaiser führt den
Titel eines Gross-Fürsten vo?i Finnland und es kommt ihm die
höchste Regierungsgewalt zu; er erlässt, auf Vorstellung des Se¬
nates, Ergänzungen und Erläuterungen der Gesetze und bestätigt das
jährliche Budget In den wichtigsten Angelegenheiten der Gesetz¬
gebung beruft er den Landtag , dessen Beschlüsse durch die Be¬
stätigung des Monarchen gesetzliche Kraft erhalten.—Der Landtag
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besteht aus den Vertretern der 4 Stände: des Adels , der Geist-
lichkeity der Stadtbewohner und der Bauern, welche ln ihrer Ge-
sammtheit Reichsstände genannt werden.
Zum Adel gehören die Geschlechter, welche in die Register
des Ritterhauses eingetragen sind. Das Haupt jedes dieser Ge¬
schlechter hat das Recht, an den Sitzungen des Landtages Theil
zu nehmen. Der Vorsitzende der Adelskammer, der vom Kaiser
ernannt wird, ist zu gleicher Zeit der Präsident des ganzen Land¬
tages.
Den Geistlichen Stand vertreten die Bischöfe der herrschenden
(lutherischen) Kirche und die Abgeordneten der Probstbezirke, ihr
Vorsitzender ist der Erzbischof von Abo.
Die Kammer der Städte besteht aus Abgeordneten aller Städte
ohne Ausnahme.
Die Kammer der Bauern besteht aus Abgeordneten, welche aus
der Zahl der bäuerlichen Grundbesitzer oder Pächter gewählt werden.
Die Vorsitzenden der beiden letzten Kammern werden aus der Zahl
derjenigen Personen ernannt, welche durch den Kaiser dazu aus¬
gewählt werden.
Zur Gültigkeit eines Beschlusses des Landtages genügt die Ueber-
einstimmung dreier Stände, ausser in Fragen, welche' Verände¬
rungen der Grundgesetze, die Erhebung neuer Steuern, die Rechte
der Stände oder Recrutenaushebungen betreffen. In solchen Fällen
ist Einstimmigkeit aller 4 Stände erforderlich.—Der Zeitpunkt zur
Berufung des Reichstages ist nicht bestimmt.
Die höchste Staat?- und Gerichtsbehörde Finnlands ist der
Senat , welcher aus nicht weniger als 14 Mitgliedern besteht, die
von dem Kaiser aus der Zahl der vom Senate vorgestellten Can-
didaten auf 3 Jahre * ernannt werden. Nach Ablauf dieser 3 Jahre
hängt es vom Kaiser ab, die Mitglieder in ihrem Amte zu
belassen.
Der Senat besteht aus 2 Departements: dem Justiz-Departement
und Oeconomischen Departement Das erstere bildet die letzte ge¬
richtliche Instanz, mit Ausnahme der Fälle von Staats- und Cri-
minalverbrechen, welche die Todesstrafe nach sich ziehen und dem
Kaiser zur Durchsicht unterbreitet werden. Das Oeconomische De - •
partement verwaltet alle Angelegenheiten in Bezug auf Administra¬
tion, Finanzen, allgemeine Fürsorge, Censur, Communicationswesen,
Post, Domänen, Cuhus und Unterrichtswesen.—Ausserdem unter¬
breitet es dem Monarchen den Entwurf des Budgets, wacht über
2* %
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die gesetzmässige Verausgabung der Staatsgelder, fuhrt die Auf¬
sicht über die Bank u. s. w. In wichtigen Fällen treten beide
Departements unter dem Vorsitze des General-Gouverneurs zu¬
sammen.
Der General-Gouverneur ist der oberste Chef der Administration
und der Executive. Er unterbreitet die Beschlüsse des Senates
dem Kaiser und ist der oberste Chef der Polizei; er überwacht die
innere Ordnung des Landes und kommandirt die Truppen des
Finnländischen Militärbezirkes. Er bereist- jährlich in Begleitung
eines Mitgliedes des Oeconomischen Departements und des Pro-
cureurs des Senates das^Grosstürstenthum zur Revision der Ver-
waltungs- und Justizbehörden. In Angelegenheiten, welche der •
Allerhöchsten Bestätigung bedürfen, giebt er, falls, er mit der Ent¬
scheidung des Senates nicht übereinstimmt, sein abweichendes Votum
ab; in Angelegenheiten, welche der Entscheidung des Senates un¬
terliegen, kann der General-Gouverneur, falls er mit der Entschei¬
dung nicht einverstanden ist, die Ausführung der Beschlüsse des
Senates nicht aufhalten, doch hat er das Recht, dem Kaiser seine
abweichende Ansicht in solchen Fällen vorzustellen. Beim Senate
fungirt ein Procureur, welcher über die Gesetzmässigkeit der Ent¬
scheidungen wacht und der berechtigt ist, im Falle, wo der Senat
gder der General-Gouverneur vom Gesetze abweichen und seine
Vorstellungen nicht* beachten, dem Kaiser darüber Bericht abzu¬
statten. — Alle Vorlagen des Senates und des General-Gouverneurs
werden dem Monarchen durch den in St. Petersburg weilenden
Minister-Staats-Secrctair des Grossfürstenthums 'Finnland unterbreitet.
Die Administration eines jeden Gouvernements besteht aus dem
Gouverneur, der demselben untergeordneten Gouvernements-
Kanzlei und dem Gouvernements-Comptoir. Erstere dient zur Er¬
ledigung der Executiv-Angelegenheiten, letztere verwaltet die fisca-
lischen (Krons-) und finanziellen Sachen.
Die erste Instanz der Gerichte bilden die Kreis - (Stadt-) Gerichte ,
die aus einem Vorsitzenden, 3 juristisch gebildeten Candidaten und 12
von den Bauern (Städtern) auf ein halbes Jahr gewählten Beisitzern
bestehen. Aus dem Kreis-Gerichte gehen die Civil-Sachen durch
Appellation in das Gouvernements- (Lagmaris) Gericht über, welches
gleichfalls aus einem Präsidenten und 12 gewählten Beisitzern be¬
steht.—Die höchste Instanz repräsentiren die 3 Hofgerichte in Abo,
Wasa und Wyborg. Vor die Hofgerichte gelangen alle Criminal-
sachen .und die Civil-Appell-Sachen; sie* bestehen aus Präsi-
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denten, Rathen und Assessoren, die vom Kaiser aus der Mitte der
Juristen gewählt werden.
Alle Stände Finnlands geniessen Kraft der Constitution und der
Allerhöchsten Manifeste persönliche Freiheit, Glaubensfreiheit und
Gleichheit vor den Gerichten, und können nur allein durch richter¬
lichen Spruch des Lebens, der Ehre und des Besitzthums ver¬
lustig gehen; — sie besitzen ferner das Recht, in andere Staaten
überzusiedeln. — Der Adel ist frei von der Kopfsteuer, wird direct
von dem Hof-Gerichte abgeurtheilt, und kann allein. steuerfreies
Grundeigenthum besitzen. — Die offizielle Sprache in Finnland *st
die schwedische.
b) Die Organisation des Königreichs Polen.
Durch den Wiener Tractat wurde das frühere Grossherzogthum
Warschau auf ewige Zeiten dem Russischen Reiche einverleibt, und
am 27. November 1815 gab der Kaiser, Alexander I. demselben eine
eigene Constitution. In Gemässheit der letzteren stand die Höchste
Gewalt dem Monarchen zu; in seinem Namen wurde Recht ge¬
sprochen und Gericht gehalten, er war Oberbefehlshaber der Armee,
bestimmte die Grösse derselben, ernannte alle Spitzen der militak
, rischen Civil-Institutionen, bestätigte die Bischöfe, erklärte Krieg und
schloss Verträge. — Zur Verwaltung des Königreiches ernannte der
Kaiser einen Statthalter, welcher entweder ein Prinz des kaiserlichen
Hauses oder ein geborener oder naturalisirterPole sein musste. — Die
Administration war unter 5 Commissionen vertheilt, die unter der
obersten Leitung des Statthalters standen. Letzterem zur Seite stand
ein Reichsrath. Die gesetzgebende Gewalt war zwischen dem Mo-
# narchen und dem Reichstage, der vom Kaiser berufen und ge*
schlossen wurde, getheilt; doch stand dem Monarchen das Recht
des absoluten Veto zu. Der Reichstag bestand aus dem Senate und
der Kammer der Abgeordneten, welche Abgeordnete des Adels,
der Städte und Bauer-Gemeinden enthielt. Einmal in 2 Jahren ver¬
sammelte sich der Reichstag und tagte nicht länger als 30 Tage; er
berieth die Criminal- und Civilgesetze, das Budget und andere Ad¬
ministrativangelegenheiten. Die gesetzgebende Initiative stand nur
der Regierung zu, doch stand es dem Reichstage frei, seine Bitten
und Wünsche in Betreff der Wohlfahrt des Landes durch den Reichs¬
rath an den Kaiser zu bringen.—Jede Kammer des Reichstages wählte
zur vorläufigen Berathung der Gesetze 3 Commissionen, welche ihre
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Bemerkungen zudenGesetzesprojecten demReichsrathe einschickten*
dieser berücksichtigte dieselben, oder legte die Projecte in unver¬
änderter Fassung den Kammern vor. —In Folge der Revolution des
Jahres 1830 wurde die Constitution von 1815 aufgehoben und dem
Lande ein neues organisches Statut gegeben. Dieses hob den Senat
und die Kammer der Abgeordneten, die Unabsetzbarkeit der Richter
und die besondere polnische Armee auf und führte die Confiscation
des Vermögens für Staatsverbrechen ein. — An die Spitze der Re¬
gierung wurde der Statthalter und der Regierungs-Rath (npaBHTejib-
CTBeHHMft coB'k'n») gestellt, welcher letztere seine Beschlüsse, die
jedoch vom Statthalter, im Falle der Nicht-Zustimmung in der Aus¬
führung aufgehalten und dem Kaiser vorgclegt werden konnten,
nach Stimmenmehrheit fasste. Anstatt der früheren 5 Regierungs-
Commissionen bestanden noch 3: a) für die inneren und geistlichen
Angelegenheiten und die Volksaufklärung, b) für die Justiz, und c) für
die Finanzen. Neben c}em Regierungs-Rathe blieb der Reichsrath in
Thätigkeit. Seine Geschäfte bestanden hauptsächlich in Durchsicht
der Gesetzesprojecte und des jährlichen Budgets. In der Folgezeit
ging der Reichsrath ein und wurde an seiner Stelle das Departement
für die Angelegenheiten des Königreiches Polen beim Reichsrathe
des Gesamintreiches eingesetzt; das Ressort der Volksaufklärung
wurde unter dem Namen des Warschauer Lehrbezirkes dem Minister
der Volksaufklärung untergeordnet, und an Stelle des früheren
oberen Gerichtshofes wurden die Departements IX und X des Dirigi-
renden Senates gebildet. An Stelle der früheren Eintheilung in Woje¬
wodschaften wurde das Königreich in 5 Gouvernements eingetheilt.
Durch Ukase vom 14. März und 24. Mai 1861 stellte der
Kaiser Alexander II. den Reichsrath des Königreiches wieder
her. Die Mitglieder desselben ausser den Ministern wurden aus
der Mitte der» höchsten Geistlichkeit, aus der Zahl der Vor¬
sitzenden der Directionen für die Bauer-Creditgenossenschaften
und der Präsidenten der Gouvernements-Conseils, sowie auch
aus anderen Personen nach Gutdünken des Monarchen gewählt.
Ferner wurden Gouvernements- und Kreis-Conseils eingesetzt,
denen die Sorge für die Entwickelung des Ackerbaues und des
Handels, für das Communikationswesen, die Versorgung der Armen,
die Wohlthätigkeits- und Strafanstalten und die öffentlichen Arbeiten
übergeben wurde. Die Kreis-Conseils hatten das Recht, am Anfänge
eines jeden Jahres ihre Bemerkungen über die Lage des Kreises
während des vergangenen Jahres und ihre Vorschläge in Betreff
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_23__
der Abhülfe öffentlicher Nothstände einzureichen; ferner wählten
sic aus der Zahl der Wähler je drei Candidaten für das Amt der
Friedensrichter, für das der Conseilsmitglieder, der Wohlthätig-
keitsanstalten u. s. w. — Diese Entvvickelungsperiode wurde durch
den Aufstand des Jahres 1863 unterbrochen. — In Folge desselben
wurde der Ukas vom 19. Februar 1864 erlassen, durch welchen
der Zwangsverkauf eines Theiles des Grundbesitzes zum Besten
der Bauern, die Aufhebung der von den Gutsbesitzern eingeführ¬
ten Abgaben und die Organisation der Wolost-Gemeinde-Verwal-
tung anggordnet wurden. Es folgte ferner der Erlass in Betreff
der Reform des Unterrichtswesens im Königreiche ^olen^ durch
welchen die Schulen der katholischen Geistlichkeit aus der Hand
genommen und in gleicher Linie mit den polnischen, russische und
deutsche Schulen zugelassen wurden. Die Organisation der katho¬
lischen Geistlichkeit wurde reformirt und neue Grundsätze für die
geistliche Verwaltung der unirten Griechen eingeführt, die Finanz¬
verwaltung umgeformt und das Budget des Königreiches mit dem
des Gesammtreiches vereinigt. Endlich wurden alle besonderen
Institutionen des Königreiches aufgehoben und allö Zweige ihrer
Verwaltung den entsprechenden Ministerien untergeordnet. Gleich¬
zeitig wurde das Königreich Polen anstatt der früheren 5 Gouver¬
nements und 39 Kreise zur Erleichterung der Administration in
10 Gouvernements und 85 Kreise cingctheilt.
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Das Russische Turkestan.
Seine Bevölkerung und seine Süsseren Beziehungen-
. * __
*
1. Exeiodnuxt . MaTepiajiw a-i* ctuthcthkh TypicecTaHCsaro Kpa*. IfeAaHie Typic.
Ctethct. KoMHTera iioat» peAaicuieio H, A. Maesa . BhinycKi» I. 1872. —Jahrbuch.
Materialien zur Statistik von Turkestan. Herausg. vom Turkestanischcn Statistischen
Bureau unter der Redaction von N . A . Majew . Lieferung L 1872. IV-}-133+237
SS. 8° Mit einer Karte von Turkestan. '•
2. Pyccxiü TypKCcmaus. CÖopHHKT» ii3AaBaeMUft no noBOAyllojinTexHHMecKOftBwcTaBKH.
Bbinycvb L Teorpa^ia m CTaTMcniKa, iioat» peAaauieio H. A . Maeea . Mocxna,
1872. Das Russische Turkestan. Ein Magazin, herausgegeben bei Gelegenheit der
Polytechnischen Ausstellung. Erste Lief. Geographie und Statistik. Redigirt von
N. A . Majnu. Moskau 1872. 133 +- 46 SS. 8°. Auszug aus No. 1.
3. TypuecTancKiH BkAOMoeTH 3a 1869—71 r. Turkestanische Zeitung für 1869—71.
4. B. IJ. BacuAbeea. ßirfe KUTakcxia 3anacKH o naAemii KyAbAacii h o 3aHjrrin ea
PyccKHMM. Zwei Memoranda eines Chinesen über den Fall von Kuldsha und seine
Einnahme durch die Russen. Von W. P. IVassiljau. Siehe „Russischer Bote“.
(Pyccxift B'fccTHHK'b) herausg. von M, Katkow. 1872. Mai. Seite 130 —191.
5. Visits to High Tartary, Yärkand, and Käshgar. By Robert Shaw , British Commis-
sioner in Ladäk. With Map and Illustrations. London 1871. XV + 486 SS. 8°.
6. Travels of a Pioneerof Commerce in Pigtail and Petticoats: or, an Overland Journey
from China towards India. By 7 \ T. Cooper y Late Agent for the Chamber of Com¬
merce at Calcutta. With Map and Illustrations. London. 1871. XIV+475 SS. 8*.
Die Geographie unserer turkestanischen Provinzen wird nach
Maassgabe der Veröffentlichung unserer eigenen Forschungen über
diesen Gegenstand auch dem Auslande bekannt. Petermann’s „Mit¬
theilungen“, das „Journal“ und die „Proceedings“ der Londoner Geo-
graphical-Society, die Berliner „Zeitschrift für Erdkunde“, das „Bulle¬
tin“ der Pariser Soci^te de Geographie, die „Annales des Voyages“
und andere der Erdkunde gewidmete Zeitschriften vermitteln in
Uebersetzungen # und Referaten die Bereicherungen, welche die
wissenschaftliche Erdkunde den Arbeiten unserer Forscher in Tur-
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kestan verdankt. -Wem also die Kenntniss der russischen Sprache
abgeht, der kann dennoch ziemlich genau über den gegenwärtigen
Stand der Geographie unserer centralasiatischen Besitzungen sich
unterrichten.
Anders aber ist es in der ausländischen Presse mit der Auffassung
derjenigen historischen Thatsachen bestellt, welche die von uns in
Centralasien unternommenen geographischen Förschungfen erst er¬
möglichten. In Betreff der centralasiatischen Frage ist das Urtheil
über uns im Westen Europas -nicht selten ein befangenes, ein von
vorgefassten Meinungen oder gar Mythen (wie z. B. dem Mythus von
einem Testamente unseres grossen Reformators) beeinflusstes. Un¬
zureichende Kenntniss der Geschichte Russlands, namentlich seiner
Beziehungen zu den östlichen Nachbarländern, sowie Unbekanntschaft
mit den nur dem Fachmanne zugänglichen Quellen zur Geschichte
Centralasiens, erschweren dem Publicisten wie dem berichterstatten¬
den Reisenden im Orient das zutreffende Urtheil in der bezeichneten
Frage, und dennoch begeben sich Beide immer von Neuem auf die¬
ses Gebiet, vielleicht eben nur deshalb, weil sie auf demselben sich
noch nicht hinreichend orientirt haben.
Ueber diese sogenannte Frage ist, wie Oscar Peschei unlängst sehr
richtig bemerkte, viel überflüssiges Papier verdruckt worden. Gewiss
ist, dass die ihr gewidmeten Pamphlete und Aufsätze den Gang der
Ereignisse in Centralasien nicht aufhalten werden, denn dieselbe ist
bedingt von einer Jahrhunderte, ja Jahrtausende zählenden Ver¬
gangenheit, die sich in den gegenwärtigen ethnischen Verhältnissen
zum Theil noch abspiegelt. Es ist daher zu bedauern, dass die
wissenschaftliche Erforschung des Russischen Turkestan bisher fast
nur auf das Einheimsen geographischer Thatsachen, geobotanische
und zoogeographische Beobachtungen.nicht ausgeschlossen, sich be¬
schränkte. Weniger reich, ja sehr spärlich ist die bisherige Ausbeute
an anthropologischem und ethnologischem Stoff aus jenen Erd¬
regionen. Der Grund dazu liegt wohl darin, dass die Befähigung zu
derartigen Studien nur durch eine sehr vielseitige wissenschaftliche
Bildung erworben wird und überhaupt. der Erfolg dieser Studien
von einer speciellen Vorbereitung für das specielle Gebiet, in dem
sic angestcllt werden sollen, bedingt ist. Der reisende Geograph und
der reisende Naturforscher, sobald sie befähigt sind, Beobachtungen
für ihre Wissenschaften anzustellen, sind damit auch in jeder Erd¬
gegend dazu befähigt. Anders ist es mit dein Anthropologen und >
Ethnologen. Je nach dem Lande werden ihre Vorstudien für die
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Reise verschieden sein müssen. Ausser Sprachfertigkeit ist von
ihnen ein Vertrautscin mit den gegenwärtigen Zielen der Linguistik
und genaue Bekanntschaft mit den zahlreichen, und für Asien zum
Theil nur in Handschriften zugänglichen, historischen Quellen zu
fordern.
Die einzelnen, nicht zahlreichen historischen und ethnographischen
Aufsätze,* die wir’ in der „Turkestanischcn Zeitung“ gelesen, sind
wenig befriedigend und lassen bei ihren Verfassern die angedeuteten
Vorbedingungen zu ethnologischen Studien vermissen«, Als eine
Vorarbeit für das künftige Erforschen der ethnischen und socialen
Verhältnisse Turkestans müssen uns die statistischen'Daten in dem
eben erschienenenTurkestanischen, Jahrbuch“einstweilen willkommen
sein, wenn man auch annchmcn darf, dass das hier gebotene stati¬
stische Material noch lange nicht ein ganz zuverlässiges sei, wie das
auch nicht anders zu erwarten ist aus einem Lande, wo der grössere
Theil der Bevölkerung aus Nomaden besteht und wo die Administra¬
tion erst eben begonnen hat sich einzurichten. Für eine der Wahr¬
heit sich nähernde Auffassung der dortigen Verhältnisse im Grossen
und Ganzen gewährt dieses Material dennoch manche Anhaltspunkte.
Die am zahlreichsten iiii Russischen Turkestan vertretene Natio¬
nalität sind die Qazag, die sogenannten Kirgisen oder Kirgis-Kais-
saken. Im Sir-Darja-Gebiete, mit Ausschluss der Kreisstädte und
der Garnisonen der Festungen, bilden sic in 3 en nördlichen Kreisen,
Kazalinsk und Peroivsk , die ganze Bevölkerung. Im ersteren sollen
sic in 12,358 Zelten leben, von denen 4,935 von Ackerbau treiben¬
den Qazaq (Igintschi) bewohnt sind. Im Durchschnitt kann man fünf
Individuen beiderlei Geschlechts, Erwachsene und Kinder, auf die
Familie rechnen. Bei solcher Annahme betrüge die Qazaq-Bevöl-
kerung des Kreises Kazalinsk 61,790 Individuen beiderlei Geschlechts*
Im Kreise Perowsk hat man bis jetzt 20,018 Zelte gezählt, was bei
der obigen Annahme von fünf Personen für das Zelt 100,090 Indi¬
viduen beiderlei Geschlechts ergäbe. Im Kreise Tschemkend zählt
eine Angabe 31,401 Zelte nomadischer Bevölkerung, bestehend aus
Qazaq von der Grossen Horde, eine andere Angabe 30,391 Zelte.
Das ergäbe 151,000 bis 157,000 Individuen beiderlei Geschlechts.
Eine dritte Angabe zählt aber nur 104,705 Individuen beiderlei Ge¬
schlechts, während die allgemeine Uebersichtstabelle für das Sir-
Darja-Gebiet im „Jahrbuch“ Abth. II, S. 4—5, 152,695 Individuen
beiderlei Geschlechts angiebt, was bei der Annahme der angeführten
Bewohnerzahl für das Zelt, 30,539 Kibitken ergäbe. Im Kreise Aulie-
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Ata zählt man 25,380 Zelte, mithin 126,900 Individuen beiderlei Ge¬
schlechts. Der grössere Thcil dieser Nomaden, die übrigens wie die
des Kreises Tschcmkcnd, auch Felder bebauen, besteht aus Qazaq
von der Grossen Horde, die übrigen sind echte Qirghiz , oder soge¬
nannte Karakirgisen. Eine andere Angabe giebt für die ersteren
73,175 Individuen beiderlei Geschlechts, ftir die zweite Nationalität
28,850 Individuen beiderlei Geschlechts an. Im Jahre 1867 schätzte
man, nach dem Berichte des Professors an der hiesigen Kriegs-Aka¬
demie, Generals A. Makschejew *), die Qazaq im Kreise Aulie-Ata auf
8,200 Zelte, die Qirghiz auf 2,250 Zelte, — Angaben, die freilich zu
niedrig gegriffen wären, doch ungefähr dasselbe Zahlenverhältniss
zwischen beiden Volksstämmen in diesem Kreise andeuteten.
Im Kreise Qnrama zählt man 39,000 bis 41,000 Familien Qazaq
in Höfen und Zelten (die Angaben im „Jahrbuch“ lauten: 39,008,
39,225 und 40,862) und zwischen 195 bis 286 Tausend Individuen
beiderlei Geschlechts (195,535, 273,105, 274,099, 286,034). Bei der
Angabe von 39,008 Zelten und Höfen werden den Nomaden 12,375
Familien zugewiesen. Es sind, mit Ausnahme einer kleinen Anzahl
von Uezbeken, Qazaq von den drei Horden, und die grösste Anzahl
gehört der Grossen Horde an. Im Jahre 1867 gab Makschejew 8,255
Zelte bei den heutigen Qazaq an — 6,660 von der Grossen Horde,
565 von der Mittleren Horde und 1,030 von der Kleinen Horde. Die
Angabe von 195,535 Individuen beiderlei Geschlechts zählt davon
102,625 für Qazaq, die übrigen zu den ansässigen Qurama, Uezbeken
und Sarten.
Im Kreise Khodschehd leben keine Qazaq, wohl aber Qirghiz; im
Kreise Dizakh wurden 2,100 Qazaq beiderlei Geschlechts angegeben.
Einer anderen Angabe zufolge sollen hier 11,200 Personen beiderlei
Geschlechts von diesem Volke leben, doch bezieht sich diese gewiss
auf die Gesammtzahl der Nomaden im Kreise, zu denen ausser den
Qazaq'auch Uezbeken und Turkmenen gehören. Im Ganzen noma-
disiren also über 100,000 Familien Qazaq im Sir-Darja-Gebiet, die.
nach obigen Zusammenstellungen in den einzelnen Kreisen in fol¬
genden Verhältnissen yertheilt wären. Wir geben runde Zahlen:
Siche dessen Teorpa^HMecKie, STiiorpasuinccKie h CTaTiicTimecKie MaTcpia.ibi o
TypKCCTaucKoM-b Kpat (d. i. Geographische, ethnograplii>chc und statistische Mate¬
rialien aus Russisch-Turkestan) in dem II. Bande der Denkschriften der Kais. Russ.
Geographischen Gesellschaft, Section für Statistik. Bd. II. 1871.
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28
Kreis Tschemkend 31,000 Familien zu der Gr. H. gehörig,
»
Perowsk. . .
20,000
»
» * Kl. u. M. H. gehörig,
»
Aulie-Ata. .
18,000
»
* * Gr. H. gehörig,
*
Kazalinsk . .
12,000
»
* » Kl. H.
»
Qurama. . .
12,000
»
» » Gr.M.u.Kl.H. geh.,
»
Dizakh . . .
400
»
>
Khodschend
—
»
_
• In den Kreisen des Gebietes von Semiretschje sind die Qazaq in
den Kreisen Kopal , Wemoje> Ssergwpol und Toqntaq vertreten.
Im Kreise Kopal> wo die nomadisirende Bevölkerung ausschliess¬
lich aus Qazaq besteht, zählt man ihrer ca. 24,000 Kibitken —
23,881 und 24,435 sind die Angaben.
Im Kreise Wemoje zählt eine Angabe 24,055 Zelte, eine andere
nur 19,403 Zelte. Makschejcw nahm im Jahre 1867 25,073 Zelte von
der Grossen Horde der Qazaq in diesem Kreise an. Der südliche
Theil desselben soll aber von Qirghiz bewohnt sein.
Im Kreise Ssergiopol sollen nach einer Angabe 20,076, nach einer
andern 23,881 Familien nomadisiren. Die Individuenzahl beiderlei
Geschlechts wird auf 74,745 und 91,963 angegeben. Einige wenige
Kalmücken abgerechnet, sind die hiesigen Nomaden alle Qazah von
der Mittleren Horde.
Im Kreise Toqtnaq zählt man 25,070, nach einer zweiten Angabe
25,599 Familien Nomaden. Von ersterer Zahl sind 7,296 Familien
Qazaq von der Grossen Horde, 17*774 Familien aber Qirghiz.
' Es ergäben sich also für die Qazaq im Gebiete von Semiretschje
ungefähr 80,000 Familien, die sich in folgenden Zahlen auf die ein¬
zelnen Kreise vertheilen würden:
Kreis Wernoje . . 25,000 Familien zu der Gr. H. gehörig,
» Kopal .... 24,000 * * » M. H. »
* Ssergiopol . 24,000 » » » M. H. »
» , Toqmaq. . . 7,000 * » » Gr. H. » ,
* Isi-Kul. ... — » » » —
Die Qirghiz (Berg-Kirgisen oder Schwarze Kirgisen bei uns ge¬
nannt) sind am Geringsten in zwei Kreisen des Sir-Darja-Gebietes,
Khodschend und Dizakh , vertreten. Im ersteren giebt es deren nach
den Angaben von A. A. Kuschakewitsch *) 856 Familien* in letzterem
*) Siche dessen CBdsAhmH o Xo^/Kchckomt» ykaAh, d. i. Nachrichten über den Kreis
von Khodschend. in den Denkschriften der Kais. Kuss. Geographischen Gesellschaft,
Section für mathematische und physische Geographie. Bd. IV. Seite 175 — 265- Mit
2 Karten.
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2 g
nach den Angaben von A. /. Makschejew — 300 Familien. Gewiss
scheint, dass ihre Zahl in diesen Kreisen eine sehr geringe ist.
Im Kreise Aulie-Ata giebt es nach dem „Jahrbuch“ von denQirghiz
28,850 Individuen beiderlei Geschlechts, wie wir bereits oben an¬
führten. Wir nehmen 6000 Familien für sie in diesem Kreise an.
Dass dieser Volksstamm auch im Süden des Kreises Wemoje ver¬
treten ist, haben wir ebenfalls erwähnt. Ueber die Stärke seiner hie¬
sigen Ausbreitung können wir uns kaum Vermuthungen erlauben,
da unsere Administratoren nicht immer auch zugleich Ethnographen
sind. * '
Für den Kreis Toqmaq giebt, wie Wir oben bereits anführten,
unsere officielle Statistik 25,070 Nomadenfamilien an. Aus der Auf¬
zählung der einzelnen Stämme und Geschlechter in den einzelnen
Wolosten, denen sie in administrativer Beziehung eingereiht sind,
lassen sich die zu 13 Wolosten dieses Kreises zugehörigen Nomaden
als Stämme und Geschlechter der Qirghiz erkennen mit einer An¬
zahl von 17,774 Familien.
Endlich sind die Qirghiz noch im Isi-Kul-Kreise vertreten, wo als
Nomaden 9,908 Familien angeführt werden, welche alle dem in Rede
stehenden Volksstammc angehören sollen. Die Zahl der Individuen
beiderlei Geschlechts wird dabei mit 41,309 angegeben.
Wenn wir also vom Kreise Wemoje absehen, ergäbe sich für die
übrigen in Russisch-Turkestan vertretenen Qirghiz die Gesammtzahl
von 34,848 Familien. Ein Aufsatz in der,,Turkestanischen Zeitung“ von
1870 schätzt die Gesammtzahl der Qirghiz im ganzen General-Gou¬
vernement auf 150,000 bis 200,000 Individuen beiderlei Geschlechts.
Nach demselben Aufsatze leben sie in den Bergen und viele von
ihnen sollen sich mit dem Ackerbau beschäftigen.
Stellen wir wieder unsere Ermittelungen in runden Zahlen über¬
sichtlich dar:
Kreis Dizakh .
0>A
•8
Familien,
* Khodschend. . .
. . . 9OO
»
» Aulie-Ata . . .
. . . 6,000
»
* Wernoje.
?
»
» Toqmaq .
. . . 18,000
■ »
» Isi-Kul .
. . . 10,000
»
Noch schwieriger als die Bestimmung der Zahl der Qirghiz und
Qazaq ist die Erstellung der üzbekischen Bevölkerung, weil erstens
angesiedelte Uezbeken oft für Sorten gelten, und dann weil im
Qurama-Kreise, wo die Qurama für Uezbeken gelten, dieselben nicht
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SQ
allein mit Sorten, sondern auch mit ansässigen Qazaq gemischt sind.
Wir wollen übrigens hier gleich bemerken, dass der Name Sart un¬
serer Ueberzeugung nach von Hause aus durchaus keine ethnische Be¬
deutung gehabt hat, sondern, wenn der Ausdruck in diesem Falle
erlaubt ist, eine kulturhistorische , und bis jetzt dieselbe auch bewahrt
hat. Wir erlauben uns hier einen kleinen Excurs über diese ethno¬
graphische Bezeichnung.
Schon ziemlich früh tritt der Name Sart in den Niederungen des
Sir, Silis bei Plinius d. J. («.... flumine Jaxarte, quod Scythae Silin,
vocant» heisst es bei ihm VI, 18) auf. Wir finden ihn dort bei Pto-
lomäos in der Form Iaxartäi , womit der Alexandriner ein grosses
Volk an dem gleichnamigen Flusse bezeichnet. Ihre Wohnsitze
weist er ihnen an demselben dort an, wo er nach ihm in der Nähe
der Tapurischen Gebirge eine andere Richtung annehmen soll. Unter
diesem Gebirge ist, wenigstens zum Theil, der jetzige Qara-Tau zu
verstehen, in dessen Nähe der Sir jetzt statt der bisher nördlichen
eine nordwestliche Richtung einschlägt. Dieser Name Tapurisches
Gebirge tritt später, im XIII. Jahrhundert, unter der Form Tauros
auf, und zwar in dem Reiseberichte des armenischen Fürsten Khe -
tum, welchen uns der armenische Historiker Kirakos von Gandscha
auf bewahrt hat Khetum nennt den Qara-Tau Khartschukh , von dem,
wie er sagt, die Seldschuken ausgingen und der ein Ausläufer des
Taurischcn Gebirges ist und bei Partschin endet. Dieses Partschin
finden wir am Qara-Tau bei Plano Carpini in der Form Barchin
(.Barschin zu lesen?) und bei einem arabischen Gelehrten des XIV.
Jahrhunderts in einer Schreibweise überliefert, die Bardschend zu
lesen wäre.
Feste Ansiedelungen und Städte waren im unteren Stromgebiete
des Sir in alter Zeit viel zahlreicher als jetzt. Das alte Faräb oder
das spätere Otrar , wo Timur starb, an der Mündung des Aris in den
Sir, und Saurän, das Sab ran der arabischen Geographen, 50 Werst
nördlich von der jetzigen Stadt Turkestan, wo sich über dem Grabe
des Heiligen Ahmed Jassawi (Turkes^n hiess früher Jassy) ein
Prachtbau Timuris erhebt, waren einst volkreiche Städte, von denen
. jetzt nur wenige Ruinen vorhanden sind. In der Gegend zwischen
dem jetzigen Kazalinsk und dem Fort Nr. 2 lag, nach meinen anti¬
quarischen Untersuchungen in den Niederungen des Sir, die Stadt
Dschendy nicht Dschond,, wie Deguignes u. A. sclfreiben, wo der
Stammvater der Seldschukidcn zumlsiam übertrat und starb. Jetzt
finden sich von dieser ebenfalls früher zahlreich bevölkerten Stadt,
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3*
die am rechten Ufer des Sir Jag, nur wenige Schutthügel und die
fragmentarischen Ueberreste einiger mit arablschcn-Inschriften ver¬
sehener Grabsteine. Die Ziegel von den Gebäuden der alten Stadt,
die von dem Heere, welches Dschingiz-Khan im Jahre 616 der Hi-
dschret (1219 n. Chr.) unter Anführung seines Sohnes Dschudschi
von Otrar aus in die Niederung des Sir schickte, gründlich geplün¬
dert wurde, sind zum grossen Theil von den modernen Qazaq dieser
Gegend zu plumpen Mausoleen über den Gräbern ihrer Väter ven.
braucht worden. Sonst tritt Dschend noch in der Geschichte der
Khowarczm-Schahc im XII. Jahrhundert auf, wo auch die Niederungen
des Sir von den Ufern des Oxus aus . beherrscht wurden. Nach
Dschingiz-Khan’s Zeit geschieht der Stadt Dschend in den Quellen
zur Geschichte dieser Gegend nicht mehr Erwähnung.
Ich habe hier nur der bedeutendsten Städte Erwähnung ge-
than. Die Beschreibungen des Feldzuges Dschudschis und die
Reise des erwähnten armenischen Fürsten zählen in den Gegen¬
den, wo wir die Wohnsitze des grossen Volkes der Jaxartai des
Ptolomaeos zu suchen haben, der Städte noch mehrere auf. Plano
Carpini und sein Begleiter Pater Benedict, die 25 Jahre nach
Dschudschi’s verheerendem Feldzuge jene Gegenden besuchten,
berichten, viele zerstörte Festungen und entvölkerte Städte dort
gesehen zu haben. Die Städte und auch die Weiler, die gewiss
nicht gefehlt haben, sind in jenen Gegenden gänzlich geschwun¬
dem — nur in Qaratau haben sich einige erhalten — seitdem die
Uezbeken Beherrscher von Transoxanien wurden. Anders war cs
dort, als die Araber die Länder jenseits des Oxus kennen lernten.
Ihre ältesten Geographen zählen viele feste Ansiedelungen nörd¬
lich von der Provinz Sch&sch (dem jetzigen Taschkend) auf. Aus
dem südlichen Transoxanien ausgewanderte iranische G§lonen hat¬
ten seit den frühesten Zeiten angefangen im Norden sich nieder¬
zulassen. Aus dem grossen Strome, so jvie aus seinen Zuflüs¬
sen und den Gebirgsbächen konnte der. trockene Boden leicht ge¬
wässert werden. Der Ueberschuss des Bodenertrages und der
Städteindustrie fand Absatz bei den benachbarten Nomaden, welche
die Städte besuchten, um ihr Vieh gegen die Producte des Land- •
baugrs und des Handwerkers einzutauschen. So wie es jetzt auf
den Bazaren von Aulie-Ata, Turkestan und andern in Mitten einer
no madisirenden Bevölkerung liegenden Städten an Markttagen von
berittenen Qirghiz und "Qazaq wimmelt, eben so bildeten hier in
ältesten Zeiten die Städte Anziehungspunkte für den in Zelten
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lebenden Viehzüchter. . In der Zeit,. auf die sich die Nachrichten
des alexandrinischen Geographen über die ,,Scythia intra Jmaum“
beziehen, war die nomadische Bevölkerung daselbst noch keine
türkische. Der Vordrang türkischer Hirtenstämme aus dem In¬
nern Asiens begann erst später, wahrscheinlich nicht vor dem
fünften Jahrhundert n. Chr. Die Massageten, die scythischen Stämme,
die am Jaxartes lebten, waren iranische Nomaden, eben so wie
die Daher, die südlich vom untern Lauf des Oxus (Amu-Darja)
lebten. Die Städtebewohner, überhaupt die fest angesiedelten
Landbauer, im Gegensätze zu sich, den umherstreifenden Hirten,
benannten sie gewiss mit einem gemeinschaftlichen Worte. Ein
solcher Collectivname tritt uns nun auch entgegen in dem der
ptolomaeischen Iaxartai , in dessen zwei letzten Silben, — xartai ,
wir es mit dem Repräsentanten eines altiranischen Stammes kksa -
tra zu thun haben. Von diesem Stamme findet sich die neuere
Form in dem neupersischen shchr (sh-sch) d. i. Stadt Das h vor
dem r in diesem letzteren Worte ist Vertreter einer aspirirten
Dentalis, zu der sich das ursprüngliche t, wie es das Iranische
besonders vor r liebt, verändert hatte. In — xartai ist also eine
v Umstellung (Metathesis) der Lautgruppe tr vor sich gegangen,
die pbrigens in iranischen Sprachen, namentlich im Ossetischen,
nicht selten ist Die Anlautssilbe des Namens Jaxartai, ja — be¬
trachte ich als Vertreter eines Pronomiilalstammes, für den im
Altpersischen (in der Sprache der Keilinschriften der Achemeni-
den) hja und tja , im Zend aber ja gebräuchlich war. Jaxartai ist
also griechische Wiedergabe nicht einer Wortbildung, sondern ei¬
nes Satztheiles, welcher im Munde des iranischen Scythen *der zur
Stadt Gehörige » bedeutet hätte. Ob am Ende sirfi ein Ajectivsuffix,
etwa ja, nock befand, ist kaum zu entscheiden. Dem Fluss ist dann
derselbe Name gegeben. Man sprach von einem «Lande der Städ¬
ter» und einem «Flusse der Städter.» Von den iranischen Nomaden
überkamen später die türkischen Nomaden das Wort Sart als Be¬
zeichnung für die ansässigen Einwohner im untfem Stromgebiete des
Sir. Datier finden wir ihn noch später bei Uezbeken und Qazaq.
• Es ist bemerkenswerth, dass die in Rede stehende Bezeichnung sich
nicht auf die angesiedelten Einwohner Sogdiana’s erstreckt hat Hier
gilt der Name Tadschik , über dessen Ursprung man verschiedene
Meinungen und Vermuthungen ausgesprochen hat. Soviel ist ge¬
wiss, dass er im XIII. Jahrhundert nach Chr. schon im Gebrauch
war. Bei den persisch ‘schreibenden Historikern Dschingiz-
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13
khan’s heisst Mawerennahr (Transoxiana) und die südlich an das¬
selbe grenzenden Länder — das Land de» Tadschik. Seit der¬
selben Zeit wird damit ein das Persische Redender bezeichnet.
Die Historiker, die im südlichen Transoxanien nach der angege¬
benen Zeit ihre Bücher geschrieben, gebrauchen das Wort Tod -
scltik im Gegensatz zu Türke. Das Wort Sart kennen sie nicht
So z. B. der Verfasser des Scheref-name-i schähl, einer Geschichte
des Abdu-l-lah-khan von Buchara (Ende # des .XVI. Jahrhunderts).
Ebenso ein viel späterer Schriftsteller, der die Begebenheiten in
Buchara im vorigen Jahrhundert schildert
Nicht weniger bezeichnend ist, dass der Name Sari, während er im
Centrum Transoxaniens ungebräuchlich ist, im Osten und Westen
auftritt. In Khokand, in Kaschgar und in Khiwa finden
wir ihn angewendet. Von Historikern finden wir ihn bei
dem in Khokand geborenen Sultan Baber und bei dem in
Khiwa geborenen Abulghazi. Letzterer in seiner „Türkische
Stammtafel“ betitelten Geschichte von Khowarezm (Khiwa), die
er im XVII. Jahrhundert schrieb, spricht von Tadschiken nur da, wo
es sich nicht um Einwohner des von ihm beherrschten Landes, sondern
um das heutige Buchara handelt. Die persische Sprache nennt er
Tadschikiy nicht allein das Bucharisch-Persische, sondern die persi¬
sche Schriftsprache überhaupt. Die Bezeichnung Sart gebraucht $r
für die ansässige Bevölkerung in seinem Lande, im Gegensatz zu
den herrschenden Uezbeken, denen er selbst angehört Sultan Ba¬
ber erwähnt der Sarten, wo er von der Bevölkerung einzelner
Städte und Districte in Ferghänä (dem jetzigen Khokand) spricht
So besteht nach ihm die Bevölkerung von Marghinan (Marghilan) aus
Sarten. In Asfera, westlich von Marghinan, sind die Bewohner Sar¬
ten und Ko/d, d. h. Gebirgsbewohner, nach Nazarow, der jene
Gegenden i.J. 1813 besuchte, Gebirgstadschik> auch Galtscha genannt
Das Wort Tadschik kann ich mich nicht erinnern, bei Baber vor¬
gefunden zu haben. Er gebraucht augenscheinlich das Wort Sart
für die iranische Bevölkerung. Im Jahre 1867 fand ich in Auiie-
ata Auswanderer aus Marghinan, deren .Sprache das Tadschiki,
das centralasiatische Persische war.
Der Name Sart für die Städtebewphner, feste Ansiedler (Land¬
bauer, Handwerker und Handelsleute) hat sich also vom Norden
des Sir, das heisst von seinen Niederungen an das Flussgebiet hin¬
auf verbreitet Am Amu-daija finden wir die Bezeichnung nur im
Gebiet von Khiwa. •
• 3
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u
Robert Shaw in seinen anziehenden Schilderungen aus Yarketid
und Kaschgar hat den Begriff, «der mit dem Worte Sart zu verbinden
ist, ganz richtig aufgefasst. Er sagt: ,,Unter den verschiedenen
Stämmen, welche Turkestan bewohnen, sind zweierlei Gegensätze
zu beobachten. Der eine ist der von Turk und Tadschik oder von
tatarischem und arischem Blute; der andere ist der von nomadisiren -
der und angesiedelter Bevölkerung — oder Qirghiz und Sarten. Zu
den ersteren gehören, ausser Qirghiz, Qazaq, Qiptschaq, Qara-qal-
paq u. a. Zu den letzteren, den Sarten, gehören sowohl die ari¬
schen Tadschik als die tatarischen Uezbeken und andere.“
Das türkische Blut drang in die ansässige iranische Bevölkerung
zunächst dort, wo diese in unmittelbarer Berührung mit den Noma¬
den türkischen Stammes sich fand. Wie wir oben sahen, geschah
es in jener Gegend, wo nachPtolomaeos fozjaxartai lebten. Im IX. u.
X. Jahrhundert n. Chr. war der in der Nähe der Sirmündung lebende
Türkenstamm unter dem Namen der Ghuzen bekannt. Die türki¬
schen Ghuzen werden es auch gewesen sein, die der Stadt, deren
Ruinen ich im Jahre 1867 im Aufträge der Kaiserlichen Archäologi¬
schen Kommission untersuchte und die auf dem linken Ufer des Sir
25 Werst unterhalb des jetzigen Kazalinsk lag, den türkischen Na¬
men Jangi-kent d. i. Neustadt gaben. Bei den Qazaq heisst sie
Uschankent*). Im Jahre 1219 war sie von Dschudschi’s Kriegern ein¬
genommen, später sah sie Plano-Carpini und in der zweiten Hälfte
des XIV. Jahrhunderts wurden in ihr noch kunstvolle Grabdenk¬
mäler errichtet. Sie scheint nicht zerstört, sondern von ihren Ein¬
wohnern verlassen worden zu sein, aus Gründen, die uns unbekannt
geblieben sind. Die Auswanderung der Einwohner hat lange vor
1740 stattgefunden, denn in jenem Jahre lag die Stadt schon in
Ruinen. Nach dem arabischen Geographen Edrisi (aus dem XII.
Jahrhundert) lebte in Jangi-kent in den Wintermonaten ein Fürst der
Ghuzen, clie nach Masüdi, der im X. Jahrhundert schrieb, eben so
wie die modernen Qazaq sich in drei Horden theilten. Eben so wie
der Stammvater der Seldschuk nach Dschend gezogen war, weiten
viele andere Ghuzen vor und nach ihm $tädtebewohner geworden
sein. Ghuzenstämme lebten aber auch um die Oxusmündung, wie
•) S. meinen Bericht in dem Compte-Rendu de la Commission Implriale Arch6ologi-
que pour l’ann£e 1867. St. P6tersbourg 1868. — Im Jahre 1870 veröffentlichte ich in
russischer Sprache einen erweiterten Bericht unter dem Titel: Apxeojionwecjca«
no-ha^ica m> TypnecraHcicift Kpaft bt> 1867 roay. II. Jlepxa, d. i. Reise nach Turke¬
stan zum Behuf archäologischer Untersuchungen im Jahre 1867, X. und 39 SS. gr. 4 0 .
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wir aus den ältesten arabischen Geographen wissen. Aus denselben
wissen wir auch, dass mit diesen Ghuzen die Einwohner von Khowa-
rezm in Handelsverbindungen waren. Daher auch hier das Auftre¬
ten des Namens Sart, als Turkstämme hier die Herrscher wurden.
Dass sich in Buchara, dem alten Sogdiana, der Name Tadschik erhal¬
ten hat, mag daher rühren, dass hier das iranische Element von den
ältesten Zeiten an bis auf die Neuzeit lebenskräftiger war, als in den
Niederungen des Sir und Amu. Auf den Märkten Buchara^ hört
man das Tadschiki, auf denen von Khiwa und Taschkend fast .gar
nicht. In diesen Städten, wie in den Ländern, in denen sie liegen,
hat das türkische Element das ursprüngliche iranische überfluthet.
Damit steht in Zusammenhang, dass auf dem Boden des alten Sog¬
diana die alten iranischen Ortsnamen sich in viel grösserer Zahl er¬
halten haben, als in Khowarezm und um Taschkend herum. In Kho-
dschend und dem jetzt dazu gehörigen Kreise des Sir-darja-Gebiets,
eben so in Khokand, das mit dem ersteren zusammen das alte Fer-
ghana bildete, ist das iranische Element durch die dortigen Tadschik
auch noch stark vertreten. Nördlich von Khodschend, im Qurama
Kreise, kommen ihrer nur ungefähr 8000 Individuen beiderlei Ge¬
schlechts vor.
So ist es denn nicht auffallend, dass die Sprache der Sarten
eine türkische ist, die der dschagataischen Schriftsprache am
Nächsten steht. An einzelnen Punkten nähert sie sich den Volks-
dialecten der Uezbek und Qazaq, da wo die Sarten aus diesen
Volksstämmen neue Elemente in sich aufnahmen.
In unsem folgenden Mittheilungen statistischer Daten aus dem
„Jahrbuch“ berücksichtigen wir zunächst die nomadisirenden Uez¬
bek. Die Stärke der sesshaften Uezbek, so wie der angesie¬
delten Qirghiz, Sart und Tadschik im Einzelnen ist schwer zu er¬
mitteln, da diese Elemente unter der sesshaften Bevölkerung oft
sehr durcheinander gemengt sind.
Im Sir-darja-Gebiet sind die 1 nomadisirenden Uezbek nicht zahl¬
reich. Sie mögen von hier durch die Qazaq verdrängt sein, die
im XVII. Jahrhundert in Taschkend herrschten, und kommen nur
in den zwei Kreisen Khodschend und Dizakh vor. Für den
ersteren fuhrt Kuschakewitsch 526 Zelte nomadisirender und. 487
Zelte halbnomadisirender Uezbek an. Letztere treiben also auch
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Ackerbau, öbgleich sie nicht fest angesiedelt sind. Im Kreise
Dizakh ist die Zahl der Uezbek eher geringer als stärker.
Dem Namen Uezbek (Oezbek) begegnen wir in der Geschichte
erst seit der zweiten Hälfte des XV. Jahrhunderts. Mit ihm trat
aber kein neues Volk auf. Es waren dieselben Turkstämme, die
im X. Jahrhundert von ihren südlichen Nachbarn Ghuzen genannt
würden. Zu diesem letzteren Namen steht jedoch der Name Uez¬
bek in keiner verwandtschaftlichen Beziehung. Uezbeken nannten
sich die türkischen Stämme und Geschlechter, welche Abu-l-kheir-
khan um den Aralsee herum in der angegebenen Zeit beherrschte.
Er war aus dem Geschlechte Scheiban’s, eines Sohnes Dschu-
dschi’s, des Sohnes Dschingiz-khans, hatte einem der letzten Timu-
riden in Mawerennahr wichtige Dienste geleistet und eine seiner
Frauen war die Urenkelin Timur’s, eine Tochter des als Astronomen
berühmten Ulugh-beg. Seine Nachkommen setzten sich unter seines
Enkels Mohammed Scheibäni Anführung in Mawerennahr fest und
herrschten dort bis zum Ende des XVI. Jahrhunderts. In Khowa-
rezm setzten sich bald nach Scheibäm s Tode andere Nachkommen
des erwähnten Enkels Dschingiz-khan’s fest, die von einem Bruder
• des Grossvaters Abu-l-kheir-khans abstammten und unter den Uez-
b'eken in der nördlichen Steppe sich aufgehalten hatten.
Zu derselben Zeit, wo der Name Uezbek für gewisse türkische
Stämme der Nordsteppe aufkam, tritt auch der Name Qazaq in der
•Geschichte Centralasiens auf. Es waren Unzufriedene aus dem
Uluss des Abu-l-kheir-khan, die sich um die Nachkommen des Soh¬
nes Dschudschi’s Tughaj-Timurs gesammelt hatten. Die Bedeutung
von „Qazaq“ ist bekanntlich: „Vagabund“. Ein Jahrhundert später
machten sie dem Abd-ullah-khan von Buchara bereits viel zu schaf¬
fen. Es waren wieder dieselben türkischen Stämme, die wir als
Ghuzen kennen gelernt haben, und von denen ein Theil unter dem
Namen Uezbek in den Süden gezogen war.
Aus dem Vorhergehenden lässt sich leicht erklären, woher unter
den Uezbek und Qazaq dieselben Stämmenamen auftreten und 'die
Sprachen beider keine bedeutenden dialectischen Unterschiede auf¬
weisen.
Es bleibt noch zu bemerken, dass im Kreise Dizakh Turkmenen
leben, deren Zahl auf etröa 3500 Ind.. b. G. geschätzt wird. Sie sind
Nomaden.
Die zahlreichste sesshafte Bevölkerung hat im Russischen Tur-
kestan, ausser demZerafschän-Thal, der QuramarKreis. Sie zählt hier
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circa 27,000 Familien, unter denen die Quramä genannten Einwoh¬
ner türkischer Abstammung die zahlreichsten sein werden. Es giebt
unter ihnen auch viele angesiedelte Qazaq. Qurama giebt es nach
N. Khanikoff in Buchara, auch kamen sie dort, nach einer histori¬
schen Quelle, schon im vorigen Jahrhundert vor. Sie rechnen sich
zu den Uezbeken, scheinen aber von Hause aus keinen besondem
türkischen Stamm gebildet zu haben, sondern die Splitter verschie¬
dener Stämme zu sein. Der Zahl nach kommen im Kreise nach den
Qurama die Sart und dann die oben erwähnten 8000 Tadschik . Das
„Jahrbuch“ (II., S. 26) rechnet 161,532 Ind. b. G. für die sesshaften
Landbesitzer, ausserdem 24,381 Landloser.
Im Kreise von Khodschend herrscht in seinem östlichen Theile
die Tadschikbevölkerung, im westlichen die üzbekische vor. Nach
Kuschakewitschs Angaben, beträgt die Zahl der ansässigen Bevöl¬
kerung in diesem Kreise, die Städte Khodschend und Ura-tepe ausge¬
nommen, 7,552 Familien, von denen nach ihm 4,038 Familien auf
die Tadschik, 3154 auf die Uezbek kommen sollen. In Khodschend
selbst rechnet er 3,560 Familien mit 17,800 Ind. b. G. (also 5 auf
die Familie), und ca. 20 Uezbekfamilien mit 100 Ind. beid. Geschl.,
in Ura-tepe 1,767 Tadschikfamilien mit 8,900 Ind. b. G. und 197
Familien Uezbek mit 985 Ind. b. G. Die Gesammtzahl der ansässi¬
gen Bevölkerung des Kreises beträgt also 13,096 Familien.
Im Kreise Dizakh mit den Städten Dizakh und Zatnin zählt eine
Angabe 22,714 Einwohner in 7,123 Häusern, und ausserdem 91 Rus¬
sen b. G., welche neben der bei Dizakh angelegten Befestigung
miKWBoe d. i. Kljutschewoe , von Kljutsch Quelle, sich angesiedclt
haben. Eine andere Angabe, vom Jahre 1870, rechnet allein für
Sarten, also für die ansässige Bevölkerung, 48,038 Ind. b. G., was
uns bei der Häuserzahl der ersten Angabe auch mehr Wahrschein¬
lichkeit für sich zu haben dünkt. Gewiss bezieht sich jene Annahme
von 22,714 Einwohnern nur auf die männliche Bevölkerung, da eine
dritte Angabe 22,115 Muhamedaner männl. Geschl. und 22,047
weibl. Geschlechts zählt. Nach meinen eigenen Erfahrungen be¬
steht die sesshafte Bevölkerung hier aus Uezbek und Tadschik.
Im Kreise Tchemkend ist die sesshafte Bevölkerung geringer, als
in jenem der drei südlichen Kreise. Man rechnet in den Städten
und Weilern, 4936 Höfe mit 29,192 Ind. beiderlei Geschlechts. Die
Städte sind hier auch nicht so gross wie Khodschend und Ura-tepe.
In Tschefnketid sollen 925 Häuser, in Sairam 669, in Mankeiid 352, in
Qarabulaq 603, in Turkestan 965 Häuser sein. Aüsser dem eben
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Angeführten giebt es nur noch sieben Ortschaften mit sesshafter Be¬
völkerung. Eine andere Angabe zählt im Tschemkender Kreise
5,145 Höfe mit 24,560 Ind. beiderlei Geschlechts (12,683 männl.,
11,877 weibl.)
Im Kreise Aulie-ata beschränkt sich die sesshafte Bevölkerung auf
die beiden Städte Aulie-ata {667 Häuser) und Merke (71 Häuser), in
denen zusammen, wenn man 5 Personen aufs Haus rechnet, 3,690
Individuen beiderlei Geschlechts wohnen.
Auch in den beiden nordwestlichen Kreisen beschränkt sich
die sesshafte Bevölkerung auf die beiden Kreisstädte und die
zwei kleinen Forts Dschulek und Fort Nr. 2. In Perowsk rechnet
man ohne Garnisonstruppen 3400, in Kazalinsk 1400, ih Dschulek
nur 16 und in Fort Nr. 2 nur 8 Individuen beiderlei Geschlechts. Die
Mehrzahl sind hier Russen , ausser ihnen Qazaq und Handelsleute
aus den südlichen’ Kreisen und den Uezbekenstaaten.
Im Gebiete Senuretschje finden wir die ansässige Bevölkerung fast
ausschliesslich durch russische Ansiedler vertreten. In den Kosaken-
Stanitzen wohnen in den fünf Kreisen ca. 14,000 Russen beiderlei
Geschlechts, in den Städten, ausser den Gamisonstruppen, ebenfalls
ungefähr 14,000 Individuen beiderlei Geschlechts. Ausserdem sind
bis zum 12. October 1871 noch 574 Familien angesiedelt worden.
Sarten nimmt man etwas über 30ÖO Individuen beiderlei Geschlechts
an. Am stärksten sind sie vertreten in den Kreisen Wemoje und
Toqmaq.
Wir haben noch anzuführen, dass in den Kreisen des Gebiets von
Semiretschje gegen 13,000 Individuen beiderlei Geschlechts Kal-
müken leben, die fast alle Nomaden sind. Einzelne Kalmüken leben
auch in den Städten, wie t in denselben auch ’Qazaq leben.
Es bleibt uns noch übrig, der Stadtbevölkerung von Taschkend zu
gedenken, welches inmitten des Qurama-Kreises liegt. Das asiatische
Taschkend umfasste im Jahre 1868 — 16 ,775 Familien mit 76,092 In¬
dividuen beiderlei Geschlechts (41,377 männlichen Geschlechts und
34,715 weiblichen Geschlechts). Auf Sarten kommen 16,518 Fami¬
lien mit 74,848 Individuen beiderlei Geschlechts. Die übrigen 1244
vertheilen sich auf Tataren aus Russland (610), Qazaq (261), Ju¬
den (213), Indier (93), Russen (38), Afghanen (25), Chinesen (3) und
I Perser. •
Der russische Theil (bei meiner Anwesenheit daselbst im Jahre
1867 gerne das „Europäische Viertel“ genannt), soll nach der Zäh¬
lung von 1871—2,009 Einwohner beiderlei Geschlechts haben. Davon
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sind Russen 1289, Deutsche 110, Polen 18, Sarten 318, Qazaq 114,
Tataren 98, Juden 80, die übrigen 46 Individuen gehören auch noch
sehr verschiedenen Nationalitäten an, und sind Dänen, Schweden,
Finnen, Franzosen, Engländer, Grusiner, Moldauer, Perser, Baschkiren;
Afghanen, von denen manche nur einen Repräsentanten haben.
Ueber die Bevölkerung des im Jahre 1868 gebildeten Zerafschau -
Dislricts giebt das „Jahrbuch“ noch keine eingehenden Data. Im Gan¬
zen zählt man einstweilen (s. Jahrbuch I, S, 137) 163,185 Individuen
beiderlei Geschlechts auf einem Flächeninhalte von 204 Quadratmeilen.
Mein Freund W.Radloff , welcher das Zcrafschanthal im Jahre 1868 be¬
suchte, hat über die Topographie des Landes und die Bestandteile,
der Bevölkerung sehr interessante.Mittheilungen gemacht. Ich vcr-
* weise daher auf seine Arbeit in der „Zeitschrift der Gesellschaft für
Erdkunde zu Berlin“ Band VI, Heft 5 und 6 (1871). Er nimmt an,
dass die türkische Dialekte redende Bevölkerung die überwiegende
sei. Doch zugleich scheint es, dass die sesshafte Bevölkerung die
an Zahl stärkere ist. Zu dieser Annahme berechtigt schon die Dich¬
tigkeit der Bevölkerung, riämlich 860 Individuen auf die Quadrat-
mcile. Grösstentheils besteht die Bevölkerung aus Tadschik und
Uezbek. Auch die sogenannten Berg-Tadschik oder Galtscka sind
im Zerafschan-Districte vertreten. Sie sollen sich aber in Sitte und
Lebensweise wenig von den anderen Tadschik unterscheiden. Ihre
Sprache wird sich aber gewiss reiner von dem fremden (türkischen)
Elemente erhalten haben. Ausserdem kommen im District noch
Qara-Qalpak und Türkmen vor.
Fassen wir nun das von uns über die Bevölkerung des Russischen
Turkestan Gesagte in einer allgemeinen, gedrängten Uebersicht zu¬
sammen. Wir nahmen an;
I. Unter der nomadischen Bevölkerung:
1. Qazaq . . . 93,40oFam.,alsozu5Pers.aufdieFam.467,oooInd.b.G.
* ... 80,000 » » » 400,000 »
2. Qirghiz . . 35,200 » » * 176,000 *
(ohne die im Kreise Wernoje:)
3 .Kalmüken. — .. 13,000 »
4. Uezbek . . 1,000 Farn., also zu 5 Pers. auf die Farn. 5,000 »
* 5. Türkmen . —. 3,500 *
i,o64,50oInd.b.G.
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II. Für die sesshafte Bevölkerung:
i. Im Kreise Qurama 27,000 Farn, zu 7 Pers. auf
die Fam. [Uezbek (Qurama), Sarten und Ta¬
dschik} ....'. .. 189,000 Ind. b. G.
2 . 1 m Kreise Khodschend 13,100 Fam. zu 5 Pers.
gerechnet [Tadschik, Uezbek]..66,500 »
3! Im Kreise Dizakh 7,100 Fam. [Uezbek, Tad¬
schik und wenige Russen].48,000 *
4. Im Kreise Tschemkend 5,000 Fam. zu 5 Pers.
[Sarten].25,000 *
5. Im Kreise Perowsk [Russen und Qazaq] .... 3,400 »
6: Im Kreise Kazalinsk [Russen, Qazaq u. A.] . . 1,400 »
7. In der Stadt* Taschkend [Sarten, Russen u. A.] . 78,100 » •
8. Im Gebiete von Semiretschje , in den Städten
[Russen, Qazaq, Sarten]. 14,000 »
Im Gebiete von Semiretschje in den Kosakcn-
stanizen. 14,000 »
Im Gebiete von Semiretschje in neuen Ansiede¬
lungen [Russen] 574 Fam. ca. . . .. 1,700 »
I 411,100 Ind. b. G.
III. Sesshafte und wandernde Bevölkerung:
im Zcrafschan-Districte . ..163,000 Ind. b. G.
Ucbcr die Bevölkerung der Gebirgslandschaften südlich und süd¬
östlich von Samarkand, die das Quellenland des Zerafschan bilden,
giebt uns die „Turkestanische Zeitung“ für 1871 einige Aufschlüsse.
Nach der Expedition des Generals Abramow zum See Iskender-Kul
sind die Landschaften Faräb , Mäghian und Kischtud itn Jahre 1870
mit dem Zerafschan* Districte vereinigt worden. Die Bewohner dieser
Gebirgsgaue sowie die der östlicher liegenden von Fätt y Jaghnau ,
Masdscha und Falghar , deren Bege sich gegenseitig bekämpften,
warenx sehr unruhige Nachbarn, welche in die südlichen Theile des
Zcrafschan-Districtes und der Kreise Dizakh und Khodschend be¬
ständige Raubeinfälle machten. Ausserdem beeinträchtigten die
Einwohner von Mäghian die Speisung eines Kanals, welcher von
ihrem Flusse, dem Maghian , aus Pendschikend > mit Wasser versorgen
sollte. Endlich stockte auch die Versorgung des mittleren Zeraf-
schanthales mit Holz und Kohlen, welche man aus den nächsten*
Gebirgsgauen bisher immer bezogen hatte. Ausser der Beseitigung
dieser Uebelstände bringt die Besitzergreifung von 1870 keinen Vor-
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4*
theil, denn die Bevölkerung in Farab, Maghiän und Kischtud ist eine
sehr spärliche und arme, die zu erhebenden Steuern können daher
auch nur gering ausfallen. In Farab zählt man nur zwei Ansiedelun¬
gen mit 120 Häusern, in Mäghiän 19 Weiler mit 510 Häusern, und
aus Kischtud ist nur die Zahl der Weiler bekannt: man zählte ihrer 17.
Die bereits erwähnten Gebirgslandschaften Fan, Masdscha und
Jaghnau liegen an den gleichnamigen Gebirgsflüssen. Der Masdscha ,
auch Matscha genannt, ist der eigentliche Quellfluss des Zerafschan
(auch Kohik genannt), denn dieser bildet sich aus der Vereinigung
des Abflusses des Iskender-Kul mit dem weit von Osten herfliessen-
den Masdscha. Der Jaghnau , welcher mit dem letzteren parallel
fliesst, vereinigt sich mit dem Abfluss des Iskender-Kul (Iskender-
Su), welcher nach dieser Vereidigung den Namen Fan annimmt.
Der Masdscha entspringt aus einem grossen Gletscher. Die Land¬
schaft Falghar liegt nördlich von der von Masdscha. Zu ihr führt ein
Weg aus dem Kreise von Khodschend, und zwar südlich von Sawat.
Bis zum Jahre 1868 waren die vier letzterwähnten Landschaften von
ihren Nachbarn abhängig: Masdscha und Jaghnau von dem südlich
von ihnen liegenden Qarategin , Falghar und Fan bald von Ura-Tepe ,
bald vom Beg von Hisar . Nach Hisar führt von Fan aus ein nörd¬
lich vom Iskender-Kul gelegener Pass. Durch den Beg von Hisar
waren Falghar und Fan mittelbar vom Emir von Buchara abhängig.
'In die Orographie und Hydrographie der hier besprochenen Ge¬
birgslandschaften, welche im ersten Jahre des XVI. Jahrhunderts
gultan Baber zum Theil durchwanderte, hat erst die vom General-
Major Abramow geleitete Expedition zum See Iskender-Kul Licht
gebracht. Baber, damals erst neunzehn Jahre alt, girtg von Kesch
(Shehrisebz) nach Hisar , von da über den Pass, den er als sehr
schwierig beschreibt, zum Iskender-Kul. Von Fan wandte er sich
links gegen Kischtud und dann nach Yäri , von wo er Samarkand er¬
reichte und mit einem Handstreich nahm. Diese Gebirgslandschaf¬
ten werden in einer Geschichte Buchara’s aus dem vorigen Jahr¬
hundert auch sehr oft erwähnt.
Bis zur Expedition des Generals Abramow herrschte, wie gesagt,
bei jenen Gebirgsbewohnern vollständige Anarchie. Während der
kurzen Zeit von 1868 bis 1870 war hier ein beständiger Wechsel der
Autoritäten. Die Landschaft Masdscha lud zu sich als Beg den
Neffen des Herrschers von Qarategin, Rahim-Khan, ein, Falghar
nahm bei sich den früheren Beg von Ura-tepc, Abdul-Ghafar, auf.
Diesen letzteren erkannten als ihren Herrn auch Fan und Jaghnau
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an. Es dauerte aber nicht lange, so wurde Abdul-Ghafar von Rahim-
khan vertrieben und floh nach Schehri-sebz. Seine früheren Unter¬
gebenen beriefen den Beg von Kischtud, mussten aber bald dem
Rahim-Khan unterliegen. Dieser, übermüthig geworden, unternahm
einen Feldzug gegen Hisär, wobei er aber Alles, was er bisher be¬
sessen, verlor. Die Einwohner von Masdscha wählten nun Einen aus
ihrer.Mitte zum Beg, doch auch der brachte sie bald zur Verzweif¬
lung, so dass Viele von ihnen nach Samarkand kamen, um dort
Schutz zu suchen.
Um dieser Anarchie nun ein Ende zu machen und die lästigen
Nachbarn zur Ruhe zu bringen, ward 1870 die erwähnte Expedition,
nicht ohne Rücksicht auf die Erzielung wissenschaftlicher Resultate,
unternommen. General Abramow vernichtete die Gewalt der Bege.
Während er Maghiän, Faräb und Kischtud mit dem von ihm ver¬
walteten Districte vereinigte, überliess er in Fan, MasdsCha, Jaghnau
und Falghar die Verwaltung ihren Qadhi und Gemeinde-Aeltesten,
und zeigte den Einwohnern an, dass bis zum Schluss des Jahres 1870
sie von jeder Abgabe frei sein würden. Um weiteren Umtrieben in
den zuletzt erwähnten Gebirgslandschaften zu steuern und die Ruhe
in den südlichen Theilen des Zerafschän-Districtes und der Kreise
Dizakh und Khodschend zu sichern, wurde jenen Gebirgsbewohnern
(Kohistani) angezeigt, dass sie von nun an sich als unter russischem
Schutz stehend zu betrachten und dass weder Khokand noch Qara-
tegin irgend welche Ansprüche auf ihr Land zu erheben hätten. Da¬
für sollten sie aber i>ach Samarkand durch ihre Aeltesten (Aqsaqal)
und Inspectoren (Amin) geringe Abgaben, jährlich 1 Rbl. 20 Kop.
vom Gehöft, einsenden. Ausserdem sollen sie selbst zum Unterhalt
der Inspectoren beitragen und zu diesem Zweck hat jeder Hof
30 Köp., ausser jener Abgabe, einzuschicken.
Falghar soll in 29 Dörfern 2779 Häuser zählen, Masdscha in 36
Dörfern 1877 Häuser, Fan in 30 Dörfern 908 Häuser und Jaghnau
in 27 Dörfern 881 Häuser.
Wir haben noch des im vorigen Jahre erworbenen Gebiets von
Kuldscha , am oberen Ili, Erwähnung zu thun. Ueber die Einwohner
dieses Districts bringen uns das , Jahrbuch“ und ein Artikel des für
die peographie Central- und Hochasiens unermüdlich wirkenden
M . Wenjukow in den „Mittheilungen“ unserer Geographischen Ge¬
sellschaft*) ziemlich umständliche Angaben. Jenes Gebiet ist deut-
*) S daselbst Bd. Vül Nr 1, Abth II. Seite 26 28: „Tabelle über die Volks-
bestandtheil e der Bewohne^ des Kuldscha-Cebietes“. vergl auch von demselben Autor
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sehen Lesern aus dem umständlichen Aufsatze Dr. W. RadlofTs in
•
Petermann’s „Mittheilungen“ für 1866, S. 88—97 und 250—294,
,Das Ili-Thal in Hochasien und seine Bewohner“ zum Theil bekannt.
Radloff besuchte das Ilithal und die Stadt Kuldsöha im Jahre 1862,
als dieses Gebiet noch der chinesischen Regierung unterworfen war.
Während sein Aufsatz gedruckt wurde, war jene muhammedanische
Insurrection ausgebrochen, welche die chinesische Autorität be¬
seitigte und das fruchtbare und gut angebaute Land ein grässliches
Blutbad überstehen Hess. Im Jahre 1865 wurden die Dunganen Her¬
ren des Landes,. zwei Jahre später traten an ihre Stelle die ihnen
wohl religionsverwandten, aber nicht blutsverwandten Tarantschi , zu
denen von russischem Gebiet oft Qazaq übergingen, um auf das¬
selbe von den Grenzen des neugebildeten Staates aus Raubanfälle zu
unternehmen.
Die statistischen Data, welche Wenjukow uns mittheilt, haben
dieselbe officielle Quelle, wie die des „Jahrbuchs“, doch weichen sie
in Einzelnheiten von denen des letzteren ab. Zu der sesshaften Be¬
völkerung’ des Kuldsdia-Distric gehören:
1. Die sogenannten .Tarantschi — von tary , Hirte, tarymaq
säen—aus dem Sechs-städte-Gcbiet (Altyschar) übergesiedelte Ost-
Turkestaner, die, obgleich ihre Sprache jetzt eine türkische ist, den¬
noch nicht rein türkischer Abkunft sein dürften. In Ost-Turke^:an
ist das iranische Element schon in früher Zeit vertreten gewesen,
denn bereits im letzten Jahrhunderte vor Christi Geburt ist nach chi¬
nesischen Quellen westlich von Goatschan (jetzt Pitschan), Khotan
ausgenommen, hier eine Bevölkerung gewesen, die durch ihre
tief liegenden Augen und gebogenen Nasen den Chinesen auffiel.
Wenjukow giebt die Zahl der Tarantschi auf 8,540 Familien und
43,638 Individuen beiderlei Geschlechts (23,598 männliche und
20,040 weibliche) an. Das „Jahrbuch“ giebt für die Tarantschi 7,693
Höfe mit 38,211 Individuen beiderlei Geschlechts an.
2. Die Dunganen, nach Radloff, Wenjukow und Andern, theils
verbannte, theils freiwillige zum Islam sich bekennende Ansiedler im
Ili-Thale aus den nordwestlichen Provinzen China’s. Radloff hält sie
für den ursprünglichen Stock der Muhammedaner in den erwähnten
Provinzen China’s, für die Nachkommen uigurischer Colonen da¬
selbst. Dem widerspricht Vater Palladius in Peking in seinem Auf-
den Aufsatz: „Bemerkungen über die Bevölkerung des Dzungarischen Grenzgebietes
in denselben ,,Mittbeilungen“, Bd VII. Nr. 7 , Abth II, Seite 333“34^*
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satze „lieber die Muhammedaner in China“*). Indem er zugiebt, dass
die Anfänge des Muhammedanismus in China in jene Zeiten hinauf¬
reichen, wo, im X. Jahrhundert, die ersten Handelsbeziehungen der
Muhammedaner *u China aufkamen und dass die Chinesen den
Muhammedanern den Namen der Uiguren, Choi-choi, beilegen, so
meint er doch diesen letzteren Umstand dahin erklären zu müssen,
dass unter den ersten Repräsentanten des Islam in Chhina die ange¬
sehensten di$ Uiguren gewesen und dass daher die Chinesen, ihrer
Gewohnheit gemäss, Ausländer unter allgemeinem Namen zusammen
zu fassen, alle Einwanderer aus dem Westen, die sich zum Islam be¬
kannten, ohne Rücksicht auf ihre Abstammung, Choi-choi nannten.
Professor W. P. Wassiljew**) spricht ungefähr dieselbe Ansicht aus.
Er meint, der Name Choi-choi mag seit langer Zeit durch die Chi¬
nesen von den Uiguren, dem ihnen nächsten Volke türkischen Stam¬
mes, auch auf die übrigen mehr im Westen lebenden Völker türki¬
scher Zunge übertragen worden sein. Iii der That finden wir auch
bei dem chinesischen. Reisenden Tschan- Tschun im Anfänge des XIII.
Jahrhunderts, dass er die damals eben von Dschingiz-khan eroberten
Länder der Charezmschah mit dem Namen Choi-choi belegt. Je¬
denfalls ist das Uigurenthum ein sehr unbedeutender, nicht in Be¬
tracht zu ziehender Bestandtheil der muhammcdanischen Bevölke¬
rung China’s. Die Zahl der Dunganen oder aus China stammenden
Mohammedaner im obern Ili-Gebiöte giebt das „Jahrbuch“ auf 676
Höfe mit S130 Ind. b. G., ausser den in Kuldscha lebenden, an.
Wcnjukow rechnet mit denen, die in dieser Stadt (dem alten chine¬
sischen lli ) leben, 5,545 Ind. b. G. — 2,717 männl. u. 2,828 weibl.
Die Dunganen, nachdem sie die Macht der Mandschu im Ili-Thalc
gestürzt hatten, wünschten mit uns Frieden au halten, beschützten un¬
sere Factorei in Tschugutschak und erboten sich, mit uns die Han¬
delsbeziehungen zu erneuern. Ihre Wünsche wurden nicht erwidert,
da man sie bei uns als Insurgenten gegen dife mit uns in Frieden
lebende chinesische Regierung betrachtete. 1867 unterlagen sie den
Tarantschi und ein Theil von ihnen entfernte sich nach Urumtsi und
Manas. Aus Tschugutschak entfernten sich die Dunganen ebenfalls,
*) S. den IV Band der Arbeiten der Mitglieder der russischen geistlichen Mission
zu Peking (TpyAbi PocciftcitoÄ /fyxoBHOÄ Muccin bi* IleKHirfc. Tomt» IV. 1866)
& 437 ~ 46 o.
**) S. dessen Vortrag „Ueber die muhammedanisclie Bewegung in Chiwa u (O abh-
sKeHui uajioMeTaHCTpa bi» Kirrafe. Cn6.) 1867. 30 SS. rait 13 SS. chinesischen
Textes. 8°,
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so dass jetzt dieser Ort, der einen nicht unbedeutenden Punkt für
den russischen Handel bildete, verödete. Unsere Rücksichten für
die chinesische Regierung hatten zur Folge gehabt, dass unsere ei¬
genen Handelsinteressen litten und an unsern Grenzen sich, ein neuer
muhammedanischer Staat gebildet hatte, der uns durchaus feindlich
gesinnt war.
3. Für die im Kuldscha-Districte ansässigen Chinesen giebt das
„Jahrbuch“ 8,081 Ind. b. G. an und ausserdem noch 3,000 Ind. b. G.
in den Dörfern — Kent werden hier die Dörfer genannt — Schicho
(Wenjukow: Tschin-cho) und Takianza. Wenjukow hat nur 4,509
Ind. b. G.
4. Die Mandscku , die bei Wenjukow fehlen, werden im „Jahrbuch“
in der Stärke von 450 Ind. b. G. angeführt.
5. Die Sibo oder Sipu sind, nach Radloff, aus der Mandschurei mit
ihren Familien nebst den Solon übergesiedelte daurische Soldaten
mit scharf ausgeprägtem mongolischem Gesichtstypus. Ihre Sprache
soll, nach demselben, ein tungusischer Dialect sein. Im Jahre 1868
wanderten mehrere Sibo und Solon aus dem Üi-Thale auf russi¬
sches Gebiet. 100 Familien haben sich an Borochodzir (zwischen
Kopal wk 1 Kuldscha), andere, in Gemeinschaft mit Kalmüken, in den
Kreisen Ssergiopol und Kopal angesiedelt, wo sie das Christenthum
angenommen und sich als Kosaken haben anschreiben lassen. Im
Kuldscha-Districte scheinen keine Solon mehr zu leben, wahrschein¬
lich sind sie bis auf diejenigen, welche später auswanderten, als Re¬
präsentanten der früheren chinesischen Macht mit dem grössten
Theil der Mandschu von den Insurgenten vernichtet worden.
Die in Zelten lebende Bevölkerung des Ili-Gebietes bilden Kalmü-
ken, Qazaq und Qirgihz.
1. Die Zahl der Kalmüken, , der Ueberreste der früheren (vor 1758)
Herren des Landes giebt Wenjukow auf 4,283 Zelte und 20,829 Ind.
b. G. an (11,331 männl. und 9,498 weibl). Im Jahrbuch sind die An¬
gaben über sie unvollständig.
2. Die Qazaq werden im „Jahrbuch“ mit 4,286 Zelten ange
fuhrt, und
3. die Qirgluz mit 1,300 Zelten.
Für beide nimmt das „Jahrbuch“ 22,344 Individuen b. G. an,
Wenjukow für die Qazaq allein 5,619 Zelte mit 23,361 Jndividuen
beiderlei Geschlechts.
Im Ganzen dürfte die sesshafte Bevölkerung des Kuldscha-Distric-
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Aß
tes auf 12 bis 13,000 Familien geschätzt werden, während für diewan*-
dernde Bevölkerung ungefähr 10,000 Zelte anzunehmen wären.
Nachdem wir die numerischen Grössen der sesshaften wie nömadi-
sirenden Bevölkerung von Russisch-Turkestan nach ihren Stammes¬
verschiedenheiten erörtert und zu Resultaten gekommen sind, die,
wenn auch, wie schon von uns bemerkt worden, als nicht ganz sicher
zu betrachten sind, doch im Ganzen von der Wirklichkeit nicht zu
entfernt sein dürften, wollen wir uns etwas bei der trage nach der
Gestaltung der Verhältnisse in diesem Lande in der nächsten Zu¬
kunft aufhalten.
Dass die russische Herrschaft, als eine von einem geordneten
Staatswesen ausgehende, den dortigen Lebensverhältnissen einen be¬
sonders schwer ins Gewicht fallenden Vortheil gebracht hat, daran
wird Niemand zweifeln, der auch nur entfernt mit diesen Verhältnis-
• sen bekannt war. Viele Jahrhunderte haben die Einwohner die
Möglichkeit entbehren müssen, der Bestellung der Aecker, der Pflege
der Gärten, der Züchtung der Heerden und dem Handelsverkehr in
Ruhe sich hingeben zu können. Den Anwohnern des Sir und des
Zerafschan wird jedes Jahr, das sie unter der russischen Herrschaft
verleben, den Vorzug in dieser Beziehung ihrer jetzigen Lage vor
der früheren immer mehr zum Bewusstsein bringen. Schon im X.
Jahrhundert hiess es bei einem arabischen Geographen, unter den
Ländern des Islam gäbe es keines, wo so viel Kriegsgetümmel herrsche
wie inMawerennahr (Transoxiana). Später hat sich die'Lageder ansäs¬
sigen Bevölkerung durchaus nicht verbessert. Die Einfälle roher
Wänderstämme aus dem Norden nahmen nicht ab, im Gegentheil, sie
nahmen zu. Jene grosse Schlacht, in welcher der mächtige Sindschar
eine in den Annalen des Islam unerhörte Niederlage durch denKur-khan
*der Qara-khataier erlitt, wurde auf den Feldern von Qathwan in der
Nähe von Samarkand geschlagen. Beiläufig bemerken wir, dass
dieser Fürst, der nun Besitzer des Landes wurde, nach dem Zeug¬
nisse des arabischen Historikers Ibn-al-Athir, für seine Zeit und Ver¬
hältnisse sehr gesunde Regierungsprincipien hatte. Seinen Emiren
gab er keine Lehen, d. h. er überliess ihnen nicht die Verwaltung
von Provinzen, denn, pflegte er zu sagen, wenn man ihnen solche
giebt, erlauben sie sich Gewalttaten. Auch ernannte er keinen Emir
im Heere zum Anführer von mehr als hundert Reitern, um ihm
die Möglichkeit zum Aufstande zu benehmen. In Ost-Turkestan, das
sie sich vordem unterworfen, heisst es von den Qara-Khataiem,
wurden die Einwohner nicht mit der Einführung von Neuerungen
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belästigt. In der Stadt und auf dem Dorfe nahmen sie von jedem
Haus£ einen Dinar, die Felder und Gärten den Einwohnern zu unbe¬
schränktem Gebrauch überlassend. Fünfundsiebzig Jahre später kam
Mawerennahr in die Hände des Khowarezmschah Ala-eddin-Muham-
med, der bald sein Reich an Dschingiz-khan verlor. Nach den meist
unfähigen Dschaghataiden trat der eroberungssüchtige Timur auf.
Am Ende des XV. Jahrhunderts welkte die Macht der Timuriden
hin und im Norden lauerten wieder Horden auf die Beute, als
welche ihnen das gut angebaute Zerafschänthal zufalleo sollte. Es
wären bekanntlich die Uezbeken, deren Geschichte bis zur letzten
Zeit in einer ununterbrochenen Reihe von Bruderkriege^ sich ab¬
wickelte.
Um dem Leser ein Bild zu geben von den Zuständen am Sir wäh¬
rend einer kurzen Reihe von Jahren, will ich den gedrängten histo¬
rischen Bericht, wie er mir im Jahre 1867 von einem Einwohner von
Zamin im dortigen Persisch (Tadschiki) aus seiner eigenen Erin¬
nerung mitgetheilt wurde, hier folgen lassen. Zamin liegt auf der
Strasse von Ura-tcpe nach Dizakh, in der früheren Provinz Usru-
schna y Sutulusena bei dem buddhistischen Pilger aus China Hiuen-
Disang im Anfänge des VII. Jahrhunderts, und ist jetzt ein kleines
Städtchen. Die Strasse, auf der sie liegt, führte schon früh aus Sog-
diana nach Ferghäna.
„Nach der Ermordung Mnsulman-Quli s *), berichtet der Zaminer,
regierte in Khokand Khudajär-khan, in Taschkend Mella-k/ian. Nach
Verlauf eines Jahres entzweiten sie sich (sie waren Brüder). Khu-
dajär zog gegen Taschkend, von wo Mella-khan floh und sich nach
Buchara**) begab. Nach einem Jahre kehrte er von dort zurück
*) Er ward ermordet im Jahre 1853. Von Geburt war er ein Qiptschaq, und Khu-
daj&r-Khan, welcher eine Tochter von ihm zur Frau hatte, warum das Jahr 1846
durch ihn auf den Thron gekommen, Hess ihn aber sieben Jahre späterhinrichten.
••) Zwölf Jahre früher war Khokand von Nasr-ullahy dem Vater des jetzigen
Emirs von Buchara, erobert worden. Als er in seine Hauptstadt zurückgekehrt war,
brach in Khokand ein Aufstand gegen seine Regierung aus, die dort auch gestürzt
wurde. Ueber diese Episode der Geschichte von Khokand hat W % Wcljaminow-Zernow
im II. Bande der Schriften der OrientalischenSection der St. Petersburger Archaeologischen
Gesellschaft ausführliche Mittheilungen gemacht (s. Tpyabi BocroHHaro OTA*üJia M*n-
ApxeoJioiHHecicaro OömeCTBa, t. II.,St. Petersburg 1856, S. 329 u. folg ) Daselbst sind
auch zwei Aufsätze von W. Grigorjew und P. Saweljeiv über die neuere Numismatik
von Khokand mit Historischen Erläuterungen.
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und ging nach Khokand, wo er ein Jahr blieb, aber bald wieder Um*
triebe anfing, in Folge deren er fliehen musste, sich zu den Qtighiz*
Qiptsaq begab, dort ein Heer zusammenbrachte und gegen Khokand
zog. Khudajar zog ihm entgegen, kämpfte mit ihm und schliesslich
sah er sich genöthigt, nach Buchara zu fliehen. In Folge dessen ge¬
langte Mclla-khan zur Herrschaft und regierte vier Jahre *). Unter,
dessen starb der Emir Nasr-ullah (1860). Damals war Gouverneur
von Ura-tepe ein gewisser Bazar-bai, Abdul - Ghafar (derselbe,der, wie wir
oben sahen, in der neuesten Zeit eine Rolle in den Gebirgsgauen
desZerafschän spielte), Gouverneur in Nau (westlichvonKhodschend)
zog gegen Ura-tepe und nahm es. Als nun Mella-khan gegen ihn
zog, unterwarf sich Abdul-Ghafar dem Emir Mozza/ar von Buchara.
Mella-khan kam ein zweites Mal und belagerte Ura-tepe zwei Mo¬
nate. Mozzafar schickte ein Heer gegen Ura-tepe. Mella-khan, der
es nicht nehmen konnte, zog sich zurück. Die Truppen des Emirs
von Buchara verfolgten ihn und zwangen ihn nach kurzem Kampfe
zu weiterem Rückzuge. An Stelle des Abdul-Ghafar wurde* in Ura-
tepe vom Emir ein gewisser Berat-beg zum Gouverneur eingesetzt.
Nach einem Jahre kündigte dieser dem Herrscher von Buchara
den Gehorsam und unterwarf sich dem von Kkokand.
Mella-khan kapi wieder, nach Ura-tepe und von dort nach Zamin, wo
er zwölf Jahre blieb. Der Emir Mozzaar ging von Schebri-sebz gen
Dizakky von wo er einen Gesandten schickte, welcher mit Mella-
khan Frieden schloss. Mella-khan verliess Zamin und der Emir zog
aus Dizakh nach Hause. In Zamin hatte Mella-khan einen gewissen
Musa-Mohammed zum Gouverneur eingesetzt, in Ura-tepe Hess er
aberBerat-beg an seinemPlatze. Dieser jedoch neigte sich nach fünf
sechs Monaten schon wieder zum Efnir hin. Da kam Mella-kjian
wieder, nahm Ura-tepe und setzte hier einen gewissen Duscha-bai
zum Gouverneur ein. Ein Jahr später erschlugen die Qiptschaq den
Mella-khan und setzte einen der Ihrigen, Schalt-Murad-khan , als
Herrscher ein **). Der Emir rief wieder sein Heer zusammen und zog
Khudajar-kltan mit sich nehmend, gen Khokand. Khokand ward
•) Bis zum Jahre 1274 der Hidschrit (begann den 22. August 1857) tragen die
Münzen von Khokand den Namen Khudajär-khans. Im nächsten Jahre finden wir auf
ihnen die Namen Mella-khans. Das dauert bis zum Jahre 1277 (endet den 8. Juli 1S61).
**) Vom Jahre 1278 (1861 — 1862) ist mir eine Münze Schah-Murad-khans
bekannt.
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genommen *). ‘Als der Emir Khokand verlassen, begab sich Mella -
Alim-qul zu den Qiptschaq , rief dort den (minderjährigen) Sohn
Mella-khans**) zum Khan aus, sammelte ein Heer, nahm Andidschän,
Marghilän und zog gegen Khokand. Da kam der Emir Mozzafar
wieder, nahm Khokand und zog im Rücken der Qiptschaq bis Uz-
kend. Da er sie nicht erreichen konnte, zog er sigh zurück, Hess
Murad-fthan in Khokand und zog sich mit Khudajar-khan nach Di-
zakh zurück. Bald darauf zogen die Qiptschaq wieder heran,
nahmen Khokand und Alim-qul regierte im Namen des Sohnes
Mella-khans. Zwei oder drei Jahre regierte er, kämpfte einige Mal
mit Jen Russen und starb den Märtyrertod, worauf die Russen
Taschkend einnahmen ***). Abermals zog Emir Mozzafar .jnit Khu-
dajär-khan gegen Khokand, nahm es, vertrieb die Qirghiz-Qiptschaq
bis nach Usch, konnte sie aber nicht erreichen. Khudajär-khan blieb
Khan in Khokand“.
So weit der Aqsaqal von Zamin. In den wenigen von ihm nieder¬
geschriebenen Zeilen giebt er uns ein widerwärtiges Bild beständi¬
ger Kämpfe, wo wir die Khane in Khokand eben so oft wechseln
sehen, wie die Gouverneure in den westlichen Provinzen, auf die der
blutdürstige Nächbar beständig sein habgieriges Auge gerichtet hat.
Zur Vervollständigung dieses wenig ansprechenden Bildes gebe ich
noch die kurze Uebersicht der Geschichte der Gouverneure von Za¬
min und Ura-tepe, von den dreissiger Jahren an bis zur Unterwerfung
der Länder am mittleren Sir unter Russland, wie sie mir derselbe
Zaminer mittheilte.
„Zur Zeit Mohammed-Ali^khans'***) gehörte Zamin mit seinem Ge¬
biete bis Atschi zu Khokand. Der Parwanatschi *****) Ibrahim war hier
Gouverneur und verwaltete Zamin zwölf Jahre lang. Nach ihm er¬
nannte Mohammed-Ali einen gewissen Abdal-Ali zum Gouverneur
von Zamin, worauf er Feindseligkeiten gegen Buchara begann, indem
er Truppen zusammen zog, gen Dizakh ging, über die Feste Bischa-
ghar herfiel und in der Gegend Venvüstungen anrichtete. Darauf
*) Im Jahre 1279 d. Hidschret (29. Juni 1862— 17. Juni 1863) prägte man wieder
Münzen mit Khudaj&r-khans Namen.
**) Es war Muhammed-Sultan, in dessen Namen Alim-qul 1280 und 1281 (18. Juni
1863—26 Mai 1865) Münzen prägen liess.
***) Bekanntlich im Juni 1865.
•*•*) Mohammed-Ali-khan regierte von 1823 b'is 1842, wo eraufBefehl Nasr-ullahs mit
seiner Familie getödtet wurde.
*++**') Pcrwanatseki heisst nicht „butterfly-man“, wie der Verfasser der „Travels in
CentTal Asia“, die 18Ö4 bei John Murray in London erschienen, S. 374 angiebt, sondern
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kam Nasr-ullah, nahm Bischaghar*) und zog sich zurück. Das
nächste Jahr kam er wieder, nahm zuerst Jatn> darauf Zamin> Ura -
tepe und setzte in letzterem Orte einen gewissen Bardijär-bcg zum
Gouverneur ein. Das darauf folgende Jahr zog er gegen Khokand,
nahm es ein, tödtete den Khan und, einen Gouverneur (Hekim) dort
zurücklassend, # kehrte er heim. Nach einem Monat kam SchirAli -
kkan, nahm Khokand. Nach einem oder zwei Jahren karrt Musul -
man-Quli, tödtete den Schir-Ali-khan und setzte Khudajär als Khan
ein, regierte aber selbst ungefähr zehn Jahre.
* „In Ura-tepe war nach Bardijär-beg Jahja-bai Gouverneur, dann
ain halbes Jahr später wieder Bardijär-beg y zwei, drei Jahre Sarauf
Ishaq-beg. aus dem Stamme Mangit, nach neun Monaten Allah-Schu-
kur-bai. Nachdem Letzterer ein Jahr lang Ura-tepe verwaltet hatte,
kamen die Qiptschaq, nahmen Ura-tepe, tödteten Allah-Schukur-bai
und machten Isa*bai zum Gouverneur, worauf sie sich zurückzogen.
Nach einem Jahre erkannte Isa-bai die Oberhoheit des Emirs (von
Buchara) an. Da kam Musulman-Quli, belagerte Ura-tepe, und, da
er es nicht nehmen konnte, kehrte er um. Isa-bai kam aber in die
Enge und musste Ura-tepe den Qiptschaq überlassen, ging selbst
nach Khokand, worauf Musulman-Quli den Dädkhah Terdi-bai zum
Gouverneur von Ura-tepe machte. Nach fünf, sechs Monaten
machten die Qiptschaq 'einen gewissen Schir-Dädkhäh zum Hekim,
der es nur fünf, sechs Monate blieb, bis es unter den Qiptschaq zu
blutigen Zwistigkeiten kam. Darauf wurden als Gouverneure Abdul -
Ghafar nach Ura-tepe und Rustem-bcg nach Zamin geschickt, die
nach fünf Monaten mit einander in Hader geriethen. Abdyl-Ghafar
zog gegen Zamin, Rustem-beg ihm entgegen 1 und Letzterer nahm
Ura-tepe. Sieben Jahre war er hier Mir (Fürst). Bald erkannte er die
Oberhoheit des Emirs von Buchara, bald die des Khans von Kho¬
kand an. Nicht lange darauf nahm Nasr-ullah Ura-tepe, er schlug den
Kustem-beg und ernannte Bazar-bai zum Gouverneur daselbst, cfer
kommt von dem bekannten persischen Worte fertnän Befehl her, welcher der Tadschik-
Pialect in perman verändert hat. Der ,«Ueberbringer der Befehledes Emirs heisst
nicht desshalb Perwanatschi, weil er wie ein'Schmetterling {perwan e) mit den Aufträgen
.seines Herrn umherfliegt, sondern weil er eben ,,Befehle 11 überbringen soll. Eine so
witzige Stimmung herrscht gar nicht an üzbekischen Höfen- — Dieser Titel wird
eben so vom Herrscher von Khokand, wie von dem von Buchara ertheilt und besteht
schon lange.
*) BischagTutr liegt auf dem Wege von Dizakh nach Zamin und wird oft in Baber’s
Memoiren erwähnt. • *
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5i
drei Jahre es blieb. Darauf kam Abdul-Ghafar und nahm Urartepe.
Nachdem Mella-khan erschlagen (s. oben), kam Abdtfl-Ghafar wieder
von Buchara und nahm Ura-tepe. Nach drei Monaten kam Emir
Mozzafar nach Ura-tepe, gab . es dem Ullah-jär-bäi und zog sich
zurück. Ullah-jär war drei Jahre Mir. Nachdem der Emir sich von
den Ufern des Flusses (Sir) zurückgezogen, gab er.Ura-tepe wiedef
dem Abdul-Ghafar. Sechs Monate später nahmen es die Russen.“
Nicht erfreulicher als beim Lesen dieser Zeilen sind die Eindrücke,
welche wir aus den Berichten der Geschichtschreiber der Uezbe-
k^n-Dynastien des XVI., XVU. und XVIII. Jahrhunderts empfangen.
Seit Scheibäni-khan, dem Zeitgenossen Baberis, des Stifters des Rei¬
ches des sogenannten Gross-Moguls in Indien, ist die gegenwärtige
die dritte Dynastie, die in Transoxiana herrscht. Keine von ihnen
hat einen Herrscher aufzuweisen, dem es gelungen wäre, auf die
Dauer die zügellosen Elemente der Nomadenstämme, die im Lande
zerstreut sind, zur Ruhe zu bringen. Abdullah-khan, die einzige be¬
deutende Persönlichkeit in der Geschichte der Uezbeken seit Schei¬
bäni-khan — er herrschte am Ende des XVI. Jahrhunderts und in den
ersten Jahren des XVII. Jahrhunderts — wenn er es auch verstand,
die Uezbeken in fester Hand zu halten und während seiner zahlrei¬
chen Kriege im Norden und auf dem rechten Ufer des Amu noch
Zeit fand, für die reellen Bedürfnisse seiner Unterthanen zu sorgen,
so fehlte ihm doch der Nachfolger, der mit derselben Ausdauer und
Energie gegen innere und äussere Feinde aufzutreten gewusst hätte.
Uebrigens ist ein Staat mit zahlreicher nomadisirender Bevölke¬
rung, wenn dazu noch die streitbaren Kräfte desselben von diesem
Theile der Bevölkerung geliefert we/den, keiner Entwickelung fähig.
Gelingt es einem Herrscher, die Sonderinteressen der Nomaden¬
stämme zu. unterdrücken, so können nur Eroberungen und glückliche
Kriege seiner Macht Dauer verleihen. Sobald diesen Eroberungen
und Kriegen Schranken gesetzt werden, beginnt der Verfall der
Macht. Bei den Uezbeken, überhaupt bei der türkischen Race,
kommt noch hinzu, dass, wenn sie das Nomadenleben aufgiebt, ein
warmes Gefühl für den heimathlichen Boden sich bei ihr nicht ent¬
wickelt. Ohne Kreuzung mit anderer Race erhebt sie sich auch nicht
zur fleissigen Sorgt für ihr Heim. Ich habe in der Umgegend von
Taschkend Qazaqfamilien gesehen, die, ausser Feldern, Gärten besas-
sen, die wohl die Felder bebauten und die Ernte von ihnen einsam¬
melten, aber die Bäume in ihren Gärten verdorren Hessen. Statt die¬
selben zu wässern und in ihnen Schatten zu suchen, stellten sie ihr
4 *
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Zelt auf die freie Fläche, wo die Sonne Boden und Atmosphäre er¬
hitzt. Auch in Khiwa, in derHauptstadt des Padischäh von Khälezm,
wie sich der Herrscher dieses Raubstaates nennt, sah ich oft
Zelte in den Höfen stehen, wo das für Baumanpflanzungen nothwen-
dige Wässer nicht fehlte. Die Uezbeken, welche Gärten in Khiwa
besitzen, lassen sie von persischen Sklaven besorgen.
Ebenso fehlt dem Uezbek wie dem Qazaq die Anhänglichkeit api
seinen Clan, wie wir sie bei andern Völkern, zum Beispiel bei Kur¬
den und Afghanen, noch finden. Stolz auf die eigene Abstammung
ist der Uezbeke nur, wenn er einem in der Gegenwart mächtigen
Stamme angehört. Aus diesem Mangel an Anhänglichkeit beim Tür¬
ken für den Clan, aus dem er stammt, wäre auch die grosse Zer¬
splitterung der Uezbek- und Qazaq-Stämme zu erklären, die schon
manchem Beobachter central-asiatischer Verhältnisse aufgfcfallen ist.
Der Leser sieht, dass wir nicht zu den Verehrern der Turk“
Stämme gehören. Es ist in letzter Zeit von Kennern central¬
asiatischer Verhältnisse oft der Nomade, Uezbek wie Qirghiz
und Qazaq, über den ansässigen Tadschik und Sart, ja es sind
die geistigen wie physischen Kräfte des Nomaden über¬
haupt über die des sesshaften Landbauers erhoben worden.
Diese Vorliebe für den wandernden Hirten und seine Sitten
ist eben keine neue Erscheinung in der Literatur^ Sie ist am
Ende eben so alt, wie Homer, der die Abier glücklich preist, oder
wenigstens nicht neuer als Choerilus, der die Schafe weidenden
Saken die gerechtesten unter den Menschen nennt. Hier macht sich
eben der Reiz geltend, den selbst für den civilisirtesten Menschen
der naive Naturmensch mit seinen geringen Bedürfnissen und ein¬
fachen Sitten hat. Man findet, der Tadschik und Sart seien kriechend,
falsch, habgierig. Erstens muss ich bemerken, dass das nicht so all¬
gemein ist, als man annimmt. Zweitens, wo es der Fall ist, da sind
diese Eigenschaften die Waffen, womit der Unterjochte den Kampf
um das Dasein gegen die rohe Gewalt seines Unterdrückers kämpft.
Wäre es den Uezbeken gelungen, am Zerafschan die Tadschik aus¬
zurotten, oder gänzlich in die Berge zu verdrängen, dort wo jetzt
noch Gärten und Felder sich ausbreiten, wären diese längst ge¬
schwunden, denn dem Sohn der Steppe hätte es an Energie gefehlt,
die zahlreichen, 1 weit verzweigten Wasserleitungen zu unterhalten.
Eben dasselbe wäre mit der Oase von Khiwa gewesen. Dass Khiwa
und Buchara überhaupt noch Staaten, wenn auch erbärmlich regierte
Staaten sind, haben diese Länder den Sarten und Tadschik allein
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zu verdanken. Dieser Gedanke drängte sich mir oft bei meiner dor¬
tigen Anwesenheit im Jahre 1858 auf.
Man hat gesagt, wäre der Nomade dem sesshaften Ackerbauer
nicht geistig und physisch an Kraft überlegen, wie hätte es ihm so
oft gelingen können, diesen zu besiegen und sich zu unterwerfen.
IJ)ie Thatsache ist richtig, aber aus ihr folgt keineswegs jene^ Schluss,
denn der Nomade und cler Sesshafte kämpfen mit ungleichen Waf¬
fen. Der Erstere, wenn er dem Andern auch an Zahl nicht über¬
legen ist, kann dennoch eine grössere Zahl von Kämpfern ins Feld
schicken, als dieser. Jener kann über die ganze waffenfähige Mann¬
schaft für seinen Krieg dispoiliren, der Ackerbauer dagegen muss
einen, und zwar nicht unbeträchtlichen, Theil derselben zur Be¬
stellung der Felder zurücklassen. Ausserdem sind die Sesshaften für
den Krieg weniger geübt, da unter ihnen gegenseitige Ueberfälie
seltener Vorkommen, als unter den Nomaden. Diese können ihre
Heerden, ihre Weiber und Kinder in den Steppen und Wüsten hin¬
ter sich zurücklassen, sie haben also weder den Verlust von Land
noch von Eigenthum zu fürchten, da die Wüste, die Steppe selbst
das Letztere schützt, während bei jenen die Sorge um die Familie
und die Erhaltung der Productionsmittel sie viel eher den an und
für sich schon ungleichen Kampf aufzugeben zwingt.
Diejenigen, welche von der höheren Begabung des Nomaden
im Vergleich sum sesshaften Landbauer sprechen, weisen gewöhn¬
lich auf die Volkspoesie der ersteren hin, so zum Beispiel auf die
Poesie der Wüstenbewohner Arabiens im Alterthum, in der Neu¬
zeit auf die Gesänge der Qazaq, von denen uns W. Radloff
eine so reiche Auswahl im III. Bande seiner „Proben der Volks¬
literatur der türkischen Stämme Süd-Sibiriens“ (St. Petersburg 1870)
geliefert hat Wenn beim Nomaden die Volkspoesie mehr blüht
als beim sesshaften Landbaüer, so haben wir den Grund dafür in
dem Umstande zu suchen, dass die Lebensweise, die jeder von
ihnen führt, d. h. die Mittel, die der Eine und der Andere anwen¬
det, um sich seinen Lebensunterhalt zu verschaffen, sehr verschie¬
den sind, und dass der Nomade viel weniger Zeit der Händear¬
beit widmet, als der Landbauer. Ausserdem sorgt bei jenem fast
ausschliesslich das Weib für den Unterhalt der Familie. Die Wei¬
ber melken das Vieh, scheeren die Schafe und Kameele, sie be^
reiten die Speise, fertigen den Filz und die Teppiche an, sie weberi
und nähen die Kleider, nicht allein für sich,, sondern auch für den
Mann und die Kinder. Da hat nun der Mann, wenn er nicht be~
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schäftigt ist, Fehden auszukämpfen, volle Müsse, der Poesie zu
leben und seine poetischen Anlagen zu entwickeln. Der sbsshafte
Landmann ist ebenso wie sein Weib, seine Tochter, oder seine
Schwester genöthigt, seine Kraft dem Felde und dem Garten zu
widmen.. Blüht beim Landbauer die Poesie, so ist es vorzüglich
di^ lyrische, während beim Nomaden das^ Epos zur Entwickelung
gelangt und vorherrscht. Bei Letzterem ist der Mann der Träger
der Poesie, bei Ersterem das Weib.
# Der Reichthum und die Blüthe der VolkSpoesie beim Nomaden
sind folglich mehr durch die Lebensweise, als durch die ursprüng-
' liehe natürliche Anlage bedingt.
Wenn also der sesshafte Landbauer so oft dem- Wanderhirten
unterliegt, so ist das nicht Folge der grösseren Ueberlegenheit
des Letzteren vor dem Ersteren an physischer und geistiger Kraft.
Der tlrund liegt in den Verhältnissen- des Bodens, den jeder von
ihnen bewohnt. *
Was nun den türkischen Volksstamm anbetrifft, so dürfte man
ihm gewiss nicht physische und geistige Ueberlegenheit im Ver¬
gleich zum iranischen Volksstamm zuschreiben. Das lehrt schon
die Geschichte, obgleich der Türke viel häufiger als Herrscher über
den Iraner, denn als vom Iranier Beherrschter auftritt. Von Türken
beherrschte Staaten sind wohl zu bedeutender Macht, aber nie zur
Blüthe gelangt. Den Türken fehlt die Fähigkeit, ein Staatswesen
zu organisiren. Daher ist ihr Vordringen nach Vorderasien und
nach Europa als ein Unglück für viele Länder zu betrachten.
Der geringere Grad an physischer und geistiger Kraft bei den
Turkstämmen Centralasiens im Vergleich zu den von ihnen unter¬
worfenen Iraniern spricht sich hauptsächlich, in der geringen Be¬
fähigung der dort lebenden Turkstärfime zum Landbau und zum
Handel aus, in denen dem Uezbeken wie dem Qazaq der Tadschik
und der aus der Vermischung von iranischem und türkischem Blute
hervorgegangene Sart überlegen sind. Am Augenscheinlichsten
spricht sich dieser Gegensatz aus, wenn man die Städte Khodschend
und Taschkend mit einander vergleicht. Die eine ist die Stadt
der iranischen Tadschik, die andere die der aus Kreuzung her¬
vorgegangenen Sart, bei denen das türkische Element aber vor¬
herrschend sein muss, da ihre Sprache eine türkische ist. Bezeich¬
nend für den Uezbek ist das von Vambery (Skizzen aus Mittel¬
asien. Leipzig 1*68) angeführte üzbekische Sprichwort«: „Wenn der
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Sart reich wird, baut er gleich ein Haus“. Der Uezbek prunkt mit
Pferden und Waffen.
Die Beschränktheit des Uezbek gegenüber dem Tadschik spricht
sich auch darin aus, dass er dem stupiden Fanatismus des # central-
asiatischen Muselmans zugänglicher ist als der Tadschik, den
auch der Sart an Fanatismus übertrifft. Der Einwohner von Kho-
dschend ist gegen den europäischen Fremden leutseliger als der
von Taschkend. In Khodschend besuchte ich eine Moschee jn Ge¬
sellschaft mehrerer unserer Vaterlandsgenossen, worunter auch
eine Dame war. In Taschkend wäre es unmöglich gewesen.. Unter
den Ischänen sind Turkestaner, deren Muttersprache das Türkische,
auch häufiger als das Tadschiki Redende. Der. eifrigste Pfleger der
Bigotterie in Buchara war der Stifter der jetzigen Dynastie, die
bekanntlich aus dem üzbekischen Stamme der Manghit ist. Abge¬
schmackte Heiligengeschichten und asketische Dichtungen circuliren
meist in türkischer Sprache. Die türkische Bevölkerung, sobald §ie
ansässig wird, ist dem Fanatismus viel zugänglicher, als die ur¬
sprüngliche iranische. Es scheint, als ob sie im Fanatismus und der
Askese einen Ersatz für die verlorene Steppenpoesie suche.
Hier bin ich bei einem Punkte angelangt,’ wo ich mit meinem
verehrten Freunde Radloff nicht übereinstimme. Er sieht, ebenso
wie ich, in Turkestan zwei Elemente mit einander kämpfen. Das
eine ist ihm aber das türkisch-volksthümliche, das andere das per-
sisch-arabisch-muhammedanische (s. seinen Aufsatz: „Das mittlere
Zerafschanthal“ im VI. Bande der Zeitschrift der Gesellschaft für
Erdkunde zu Berlin, S. 512). Letzteres hätte, meint er, schon hier
die Oberhand gewonnen und halte jede Entwickelung des Volkes
zurück. Einen Fortschritt hält er nur dann für möglich, wenn das
volksthümliche türkische Element durch europäische Civilisation
eine Hülfe gewinnen könnte, die die Uebermacht der Muhammedaner
paralysirte. Jetzt, wo der Volksgeist in der Steppe noch kräftig
sich erhalte, sei dies nicht schwer. Daher müsste eilig Hülfe ge¬
schafft werden.
Radloff sieht weiter in der Vermischung der türkischen Bevöl¬
kerung der Städte mit dem iranischen Elemente das Gefährliche.'
Meiner Ansicht nach wären die productiven Kräfte jener Länder viel
geringer, wenn diese Vermischung nicht in dem Grade vor sich gegan¬
gen wäre, als sie es ist. Das reine türkische Blut, wie ich es oben
ausgesprochen,, ist für die Cultur des Bodens nicht so geeignet,
als das an den Anbau desselben seit Jahrtausenden gewöhnte ira-
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nische Blut. Den nomadisirenden Qazaq, Qirghiz oder Uezbek,
die eine scf besondere Vorliebe für’s Zelt haben, zu civilisiren,
ist keine »leichte Aufgabe. Zum Ackerbau greifen sie nur, wo die
Noth sig dazu zwingt, wie überhaupt Nomaden von der ausschliess¬
lichen Viehzucht zum theilweisen oder sesshaften Landbau nur
durch die Noth, gezwungen übergehen. In den Niederungen des
Sir-Därja, wo der Qazaq schon seit längerer Zeit unter russischem
Schutt lebt, sind von ihm noch keine festen Ansiedelungen ge¬
gründet, obgleich die Bodenverhältnisse dem nicht hinderlich sind,
wie sie es auch vor dem XIII. Jahrhundert nicht waren. Bis jetzt
hat er sich damit begnügt, Getreide vereinzelt zu säen, ohne sich
auf Gartenbau zu legen. Schulen bei den Nomaden anzulegen,
abgesehen davon, dass es eine Unmöglichkeit, ist zwecklos. Die
in Schulen erzogenen Kinder der Nomaden werden ihrer Natio¬
nalität entfremdet und können daher nicht derselben nützlich werden.
Ueberhaupt ist jede formelle Bildung und jeder religiöse Cultus für
ein Volk, das noch keine sesshafte Lebensweise führt, ein un¬
brauchbarer Luxus. Der tatarische Mulla, der sich so gerne beim
Zeltbewohner einschleicht, um ihn materiell auszubeuten, macht
sich bei ihm hauptsächlich als Zauberer beliebt. Für den Nomaden,
namentlich für den Nomaden türlaschen und mongolischen Stam¬
mes, hat jede Religion nur dann Werth, wenn sie seinem Glauben
an die Kraft des Zaubers Genüge leistet Mangu-Khan hatte an
seinem Hofe christliche, moslimische und heidnische Priester, aber
erlegte Werth auf das Gebet und den Segen aller, dieser Priester
nur desshalb, weil er sie als Zaubermittel betrachtete, welche Un¬
glück ab wenden und Glück zu wenden können. Als einmal in der
Nacht grosse Kälte eingetreten war, schickte er nach Rubruquis und
einem armenischen Mönch, welcher mit jenem zusammen wohnte, und
liess sie bitten, sie möchten zu Gott beten, dass er diese Kälte und
diesen Wind mässige, indem sonst alles Vieh darauf ginge. — Erst
bei fortgeschrittener Cultur sieht der Mensch ein, dass für sein gei¬
stiges Wohl die angeerbten Sitten nicht ausreichen.
In Russisch-Turkestan wird unter der sesshaften Bevölkerung der
Einfluss der muhammedanischen Geistlichkeit abnehmen, je mehr
die im Lande herrschende Ruhe die Entwickelung des Ackerbaus,;
des Handels und der Hausindustrie (die Industrie hat sich bis jetzt dort
fast ausschliesslich aufs Haus beschränkt) befördert. Der gegen
früher geringere Bedarf an einheimischen Beamten im Lande wird
von nun an den muhammedanischen Gelehrtenschulen auch eine
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geringere Zahl von Schülern zuführen. Wenn dabei unsere Verwal¬
tung darauf bedacht ist, zu ihren Beamten vorzüglich Leute zu wäh¬
len, die der im Lande vertretenen einheimischen Sprachen mächtig
und ausserdem auch mit der früheren Geschichte des* Landes" und
der des Muhammedanismus vertraut sind, dann wird es ihr auch
eher gelingen, die Volksstimmung kennen zu lernen und bedacht¬
sam gewählte Maassregeln zu ergreifen, um nach • Möglichkeit die
Volk$stimmung zu leiten. In geeignetster Weise können gut unter¬
richtete Beamte durch ihren persönlichen Verkehr mit der Bevölke¬
rung wirken. Als nothwendig erscheint uns aber dabei die Beseiti¬
gung einheimischer Dolmetscher, die den wohlthätigsten Einfluss
eines Beamten zu paralysiren immer Gelegenheit haben. Doch
,ßind wir weit davon entfernt, die gänzliche Beseitigung einheimi¬
scher Beamten anzurathen, am wenigsten aus der Polizei, weil ein
.Polizeibeamter bei jeder Bevölkerung* mag es sein welche es wolle,
selten eine personagrata ist. Die Verwaltung der Gemeindeangelegen¬
heiten ist gleichfalls in den Händen der Einheimischen zu lassen, was
auch, so viel wir wissen, eben so ivie mit den Richterämtem, gesche¬
hen ist. Was wir hier eben ausgesprochen, ist schon vor fünf Jahren
von einemKenner centralasiatischer Verhältnisseangerathen worden.
So viel uns bekannt, ist man noch nicht auf die Beseitigung der
Dolmetscher bedacht gewesen. Wir halten dieselbe als eine durch¬
aus nothwendige Bedingung für ein erfolgreiches Wirken jeder euro¬
päischen Regierung in asiatischem Lahde. Ausserdem wäre noch
wünschenswerth, dass die russischen Beamten in Turkestan, die sich
als ihren dortigen Aufgaben gewachsenerweisen, zu längerem Ver¬
weilen im Lande aufgemuntert würden. Freilich muss, wer nach
Turkestan geht, manche seiner europäischen Lebensgewohnheiten
aufgeben, s<^hon der Unterschied im Klima verlangt es.
Uebrigens ist das turkestanische Kliitia für den Europäer kein
schädliches, denn wer bei seiner häuslichen Einrichtung den An¬
forderungen desselben Rechnung trägt und auch sonst eine demselben
entsprechende Lebensweise führt, im Sommer zum Beispiel die frühen
Morgenstunden zur Arbeit benutzt, kann sich dort wohl fühlen. Frei¬
lich darf ein solcher Umstand, wie z. B. der, dass Kartoffeln in jenem
Lande viermal theurer als Weintrauben sind, keinen Gegenstand der
Klage für ihn ausmachen, wie eine solche vor einigen Jahren in einer
Correspondenz aus Taschkend zu lesen war. Das Ziel einer einiger-
maassen bedeutenden Coionisation von Aussen wird Turkestan nie
werden. Auch eine bedeutende Industrie wird sich dort nicht ent-
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*
wickeln, wenigstens nicht indernächstenZeit. Füris Erste ist daraufhin¬
zuwirken, dass die zifr Handarbeit nothwendigen Utensilien zweckmäs¬
siger seien als die bisher gebräuchlichen, die in vielen Fällen sehr pri¬
mitiver Art sind. Ich erwarte viel mehr von der allmählichen % Verbes-
serung der Handwerkzeuge, als von einer Errichtung von Maschinen¬
fabriken, an die man etwa jetzt schon denken wollte. Der einzelne
Fremde, mag er Beamter oder Kaufmann sein, kann bei gutem Wik-
len und einigem Interesse für seine Umgebung schon sehr nützlich
wirken, wenn er eine Reihe 4 von Jahren im Lande ansässig bleibt.
Eben so können ansässige Europäer durch Einführung zweckmässi-.
ger Geräthschaften für den Land- und Gartenbau ihre, wenn auch
nicht umfangreichen häuslichen Wirthschaftcn zu Musterwirtschaf¬
ten für den Eingeborenen erheben. Sobald die Mehrzahl der russi^
sehen Beamten, und zwar diejenigen unter ihnen, die bei ihren Pflicht¬
erfüllungen in tägliche Berührung mit der Bevölkerung ihres Auf- •
enthaltsortes kommen, mit der an demselben herrschenden Sprache
vertraut sein werden, wird das Interesse für ihre Umgebung ein
viel grösseres sein, als es bis jetzt der Fall sein könnte.
Zu den aus Russisch- Turkestan ausgeführten Rohstoffen, gehört
vorzüglich dieBaumwolle, die hauptsächlich von Tadschik und Sarten
angebaut wird. 'Im Jahre 1867 wurden aus Taschkend in das Euro¬
päische Russland 30,000 Pud Baumwolle eingeführt. Der bedeutend¬
ste Theil der Baumwollenernte wird im Lande selbst von der Haus¬
industrie verarbeitet. Eine bedeutende Steigerung der Ausfuhr aft
Baumwolle ist nicht zu erwarten, so lange noch ein beträchtlicher
Theil des Bodens, welcher zur Baumwollencultur geeignet wäre, von
den Heerden der Nomaden abgeweidet wird. Die im genannten Jahre
aus Central-Asien bezogene Baumwolle betrug ungefähr den sechsten
Theil' der gesammten in Russland eingeführten Quantitäten diese»
Rohstoffes. Nach den Erfahrungen, welche in Indien gemacht wur¬
den, als die Manchesterschule während des amerikanischen Krieges^
daselbst die Production der Baumwolle auf Kosten anderer Produc-
tionen zu steigern sich bemühte; wäre auch in Jiussisch-Turkestan
vor einer einseitigen Baunvwollencultur zu warnen, namentlich wenn
dadurch die Brodpreise in die Höhe getrieben werden könnten. Die
Qualität der centralasiatischen Baumwolle bleibt hinter der amerika-
nischei*sowohl als indischen und ägyptischen zurück. In letzterer Zeit
ist HerrN. M. Rajewski bemüht gewesen, amerikanischen Baumwol¬
lensamen im Lande zu verbreiten und eine ratiönelle Methode der
Reinigung der Baumwolle und ihrer Verpackung einzuführen. Diese
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• 59
Bemühungen um die Erhöhung des Werthes der in Rüssisch-Tur-
kestan angebauten Baiynwolle verdienen volle Anerkennung. Eben
so ist man seit 1866 darauf bedacht gewesen, die in Russisch-Turkestan
producirte Seide durch zweckmässige Behandlung der Cocons zu ver¬
bessern, und vor einiger Zeit ist die Ausfuhr der Seidenraupeneier von
dort verboten worden. Wenn auch zu erwarten steht, dass die Bo¬
denerzeugnisse in Russisch-Turkestan in den meisten ihrer Zweige
eines jährlichen* Zuwachses sich zu erfreuen haben werden, so glaube
ich dennoch nicht, dass bald die Zeit eintreten dürfte, wo das Land
dem Staate Einnahmen bieten kann, welche die Kosten seiner Ver¬
waltung und des Unterhalts der Truppen in ihm decken würden.
Wie schon bemerkt, ist am wenigsten an irgend eine bedeutende Fa-
brikindustie zu denken. Was die in Russisch-Turkestan entdeckten
Kohlenlager betrifft, so ist zunächst daran zu denken, wie ihr Inhalt
in der Hauswirthschaft allgemeinere Anwendung finde. Das ist
um so mehr zu wünschen, als der Mangel an Brennholz ein sehr fühl¬
barer ist, eben so wie der an Bauholz.
Mit einiger Genugthuung habe ich bemerkt, dass man in letzterer
Zeit von dem Gedanken an die Möglichkeit, den Sir für die Commu-
nication in erheblicher Weise nutzbar zu machen, zurückgekommen
ist. Seitdem ich den Sir und den Amu kennen gelernt, habe ich ihre
eigentliche Bedeutung in der Fruchtbarkeit gesehen, die sie den von
ihnen durchströmten Ländern gewähren und in noch höherem Gradei,
als es. seit einigen Jahrhunderten der Fall gewesen, gewähren kön¬
nen. Als Bewegungsmittel wird in jenen Ländern noch länge das Ka-
meel dienen müssen, und es giebt in ihnen noch genug Strecken,
welche nur zur Züchtung dieses nützlichen Thieres geeignet sind.
In dem Schluss dieses Aufsatzes, welchen das nächste Heft der
„Russischen Revue“ bringen wird, werden wir über die Beziehungen
Russisch-Turkestans zu den Nachbarländern reden und daran eine
gedrängte Uebersicht der Thatsachcn knüpfen, welche unser bisheri¬
ges Vorschreiten in Central-Asien bedingt haben.
(Schluss folgt.)
P. Lerch.
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Der Verein der Freunde geistlicher Aufklärung
in St. Petersburg und Moskau.
Die Griechische Kirche wandelt unter ihren Schwestern, wie die
Frauen des Orients, verhüllt und schweigend. Nur das aufgeschla¬
gene Aifge der still Dahinschreitenden lässt den Nähertretenden
Tiefen des Seelenlebens ahnen, die wohl den Wunsch rege machen,
mehr von den verhüllten Zügen schauen und genauere Kunde des
inneren Lebens erhalten zu dürfen. Darum begrüssen wir mit Freude
und Dank jede Mittheilung, die uns die vorder Oeffentlichkeit so
scheue Schwester giebt und haben denn auch mit dem grössten
Interesse von der Entstehung eines Vereins Notiz genommen, der
durch die Ziele, die er verfolgt, wohl geeignet ist, jenem Wunsche
entgegenzukommen und das Bedürfniss nach Mittheilung zu be¬
friedigen'.
Auch $n die Pforte der griechischenKirche hat die berechtigte For¬
derung der Zeit, die Gemeinde zur innigen und lebendigen Theilnahme
an den ernsten, tiefgehenden religiösen Fragen aufzurufen, nicht ver¬
geblich geklopft, vielmehr freundlichen Einlass erhalten. Schon vor
zehn Jahren (am 22. Juni 1862) war in Moskau eine Anzahl Glieder
der griechischen Kirche zu einem Verein zusammengetreten, der es
sich zur Aufgabe stellte, „die Verbreitung und Entwicklung religiös¬
sittlichen und anderen Wissens zu fördern, welches den Bedürfnissen
des orthodoxen Glaubens entspricht und zwar sowohl unter der Geist¬
lichkeit, wie unter den übrigen Volksclassen durch Herausgabe von
Schriften religiösen und sittlichen Inhalts und kurzer gemeinver¬
ständlicher Abhandlungen ähnlicher Art zur Erbauung des Volkes,
durch Vorlesungen über Gegenstände aus dem Gebiet des ortho¬
doxen Glaubens, der Kifche und des christlichen Lebens und durch
andere Mittel.“
Nur wenig ist von der Thätigkeit dieses Moskauer Vereins in
weiteren Kreisen bekannt geworden und die Zeit ist auch noch zu
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kurz, zu prüfen, mit welchem Erfolg diese gewiss zeitgemässen Be¬
strebungen gekrönt wurden. Die Zeitströmung hat unterdessen in
gewaltiger, noch vor einem Lustrum kaum geahnter Weise die tief¬
eingreifendsten, religiösen Fragen herangefiihrt und zwingt ihre Er¬
ledigung dem gegenwärtigen Geschlechte fast auf. Die römische
Kirche ist bis in ihre innersten Fügen erschüttert und in eine Be¬
wegung hineingerathen, deren Zielpunkt noch kein Menschenauge
entdeckt hat. Die erste entscheidungsvolle Arbeit des deutschen
Reiches und doch auch nur ein Anfang, dem sich eine weitere Folge
nothwendig anreihtf ist auf kirchlichem Gebiete geschehen. Unsere
grössten Tagesblätter lesen sich augenblicklich wie Kirchenblätter:
so beherrscht die eine brennende Frage den ganzen Inhalt. Die
Wogen dieser Bewegung schlagen auch hier an; es ist nicht
mehr ein Rauschen und Branden nur in der Ferne: unmittelbar
nahe sind einzelne Punkte der Bewegung der griechischen Kirche
gerückt. t
Das Bedürfnis, das vor zehn Jahren in Moskau jenen Verein ins
Leben gerufen, erheischt unter solchen Verhältnissen in gesteigertem
Grade seine Befriedigung nun auch in der Hauptstadt des Reiches.
Der Grossfürst Constantin Nicolajewitsch ist es gewesen, der als
erster Gründer hier in St. Petersburg eineSection jen^s Moskauer Ver¬
eins vor wenigen Monaten ins Leben gerufen. Auf seine Anregung hin
bildete sich in St. Petersburg eine Gesellschaft, diesich am 14. Februar
1872 zum ersten Male in einer Anzahl von 40 Mitgliedern versammelte.
Unter den Anwesenden finden wir Namen, die im Auslande bekannt
sind, zum Theil dort einen guten Klang haben, wie den des Ober¬
priesters Wassiljew, der der russischen Kirche in Paris vorgestanden,
des Oberpriesters Janischew, der als Priester der russischen Kapelle
lange in Wiesbaden geweilt und dort auch mit deutscher Theologie
sich vertraut gemacht und des Professors Ossinin, der bei dem Alt-
katholikencongress in München zugegen gewesen.
Man beschloss in dieser ersten Versammlung, nicht das sehr
vollständige Programm des Moskauer Vereines anzunehmen, sondern
zunächst noch bis zur weiteren Entwickelung und der Gewinnung von
Anhaltspunkten durch eigene Erfahrung die Wirksamkeit der Section
vorzugsweise auf folgende Ziele zu lenken:
„1. Die Annäherung zwischen unserem Clerus und der weltlichen
Gesellschaft und den Gedanken-Austausch über Fragen, welche
die rechtgläubige Kirche betreffen, zu fördern;
2. der Verbreitung gesunder Anschauungen von der wahrhaften
Lehre > den historischen Schicksalen und den derzeitigen Desi-
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derien der rechtgläubigen Kirche durch t Schriften und Vorle¬
sungen, wissenschaftliche sowohl als populäre, zu dienen;
3. «mit den Vorkämpfern der rechtgläubigen Wahrheit im Aus- -
lande Beziehungen zu unterhalten, ihnen einen moralischen Halt
zu bieten und zur Läuterung der Ansichten über die orthodoxe
Kirche im Auslande mitzuwirken.“
Schon am 26. März konnte d%r Oberprocurator des Synod mit-
theilen, .„dass seine Majestät der Kaiser, der Resolution des hlg.
Synod entsprechend, die Gründung der ^t. PetersburgerSection des Ver-
eins der Freunde geistlicher Aufklärung auf der Basis des von den
Gründern der Section eingereichten Programmes Allerhöchst zu
genehmigen geruht habe.“
In einem darauf entworfenen Memoire hat die Section ihre Ziel¬
punkte näher bestimmt mit der Absicht, durch seine Veröffentlichung
dem Verein Freunde zu gewinnen. Aus dem bedeutsamen Schrift¬
stücke heben wir folgende Stellen hervor:
„Eine der hauptsächlichsten öffentlichen Calamitäten unserer
Zeit liegt in der Gleichgültigkeit des weltlichen Publikums für die
Fragen und Bedürfnisse des kirchlichens Lebens. Auch bei uns
zieht die weltliche Gesellschaft allzugeringen Nutzen von dem
aufklärenden Einflüsse der Kirche; die Geistlichkeit hat das Ge¬
füge und die Gewohnheiten eines abgeschlossenen Standes an¬
genommen und die russische Kirche selbst ist Angriffen wegen
ihrer angeblichen Leblosigkeit ausgesetzt, die dem Wesen der Or¬
thodoxie doch so wenig eigen ist.
Dieser Missstand wird bereits von Vielen anerkannt; die Hierarchie
hat eine Reihe wichtiger Maassnahmen ergriffen, um jene hi¬
storisch ausgebildeten Verhältnisse zu beseitigen, welche die Ent¬
wickelung desselben begünstigten; plrivate Anstrengungen geist¬
licher Personen haben sich demselben Ziele zugewandt, und gegen¬
wärtig ist es mehr denn je von nöthen, dass das weltliche Pub¬
likum diesem Streben die Hand bietet. ...
Unter den zahlreichen öffentlichen Institutionen unserer Resi¬
denz gibt es keine, welche die Geistlichkeit und die Laien zu ge¬
meinsamer Erörterung allgemein kirchlicher Fragen und zu ver¬
eintem Wirken für die Beseitigung der kirchlichen Nothstände
aufforderte. Bis zur Stunde harren in St. Petersburg Maassnahmen der
Verwirklichung, wie sie von dem Moskauer Verein der Freunde
geistlicher Aufklärung zur Verbreitung genauer Kenntnisse von
der orthodoxen Kirche und zur Bearbeitung der im Laufe der Zeit
auftauchenden Fragen des kirchlichen Lebens ergriffen worden
sind. So geschah es z. B., dass Personen aus dem Westen, welche
das Studium der Quellen der christlichen Glaubenslehre zur Wahr-,
heit der Orthodoxie geführt hatte, wenn sie sich an uns wandten,
einzig und allein der Hierarchie gegenüber standen und unter uns
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kein öffentliches Organ fanden, das ihnen; im Namen der ms»
sischen Gesellschaft hätte Rede stehen können. Augenblicklich
wird der Mangel eines solchen gesellschaftlichen Centrums noch
fühlbarer und kann aus demselben ein directer Nachtheil für die
Erfolge der Orthodoxie erwachsen, denn bei der gewaltigen reli¬
giösen Bewegung, wie sie .der Westen Europas darbietet, steht zu
erwarten, dass man sich immer häufiger an uns Russen als Mit¬
glieder der orthodoxen Kirche wenden wird. Wer von uns aber
soll auf diese Fragen die Antwort ertheilen? Der Kirchen-Obrig-
keit steht es nicht an, sich auf alle Einzelheiten der religiösen
Fragen einzulassen, welche unsere Epoche aufregen; ihr Wort ist
nur in entscheidenden Fällen am Platze.“
Die in diesem Memoire zum Theil nur angedeuteten Gedanken
hat der Erzbischof Wassiljew in einer ausführlichen Rede näher
erörtert. Wer mit den hiesigen Verhältnissen näher vertraut ist und
die Hoffnung nicht aufgeben will, dass den Worten, deren Trag^
weite der hochgestellte Kirchenmann gewiss zu ermessen vermag,
nun auch ihre Ausführung folgen möchte, der ist geneigt, in dieser
Rede den Markstein einer Entwickelung zu sehen, die einflussreich
und bedeutsam auf die Ausgestaltung der erwähnten Gegen¬
stände einwirken muss. Der Erzbischof erkennt die Sonderung
zwischen der Geistlichkeit und der Gesellschaft und die Fcrnhaltung
der Gesellschaft von der Betheiligung an kirchlichen Angelegen¬
heiten an und zeigt, dass es vordem nicht so gewesen und die Ver¬
hältnisse dringend die Wiederherstellung der alten Ordnung fordern.
In freudig-überraschei\d freisinniger Weise deckt nün der Erz- #
bischofdcn Ursprung und den Umfang der Theilnahme der Laien an
kirchlichen Angelegenheiten auf. So wird heute kein römischer
Priester zu sprechen mehr wagen! Die einzelnen Gedanken erinnern
an die tiefe Auffassung der evangelischen Kirche, und zwar, was
den behandelten Punkt betrifft, näher noch, wie diese Auffassung
ihren lebendigen Ausdruck in der reformirten Kirche gefunden.
• Das ist eben der grosse Vorzug, den die griechische Kirche vor der
römischen voraus hat, dass sie in solchen Fällen unbehelligt in den
Rcichthum der alten Kirche zurückgreifen und die dort aufge- '
häuften Schätze, als heute noch zu Recht bestehend, für sich ver¬
wenden kann.
Treten wii* einzelnen dieser epochemachenden Sätze des Erz¬
bischofs etwas näher.
Scho» in dem Begriffe der Kirche, wie er von den Aposteln auf¬
gestellt, so sagt* Wassiljew, wurzelt das Recht oder vielmehr die
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Pflicht aller Glieder der Kirche, nach dem Maasse ihres Berufes,
ihrer Kräfte und ihrer Gaben, zum Leben und zu der Stärke dieser
heiligen Gemeinschaft mitzuwirken*). Selbst bei der Vollziehung der
Sacramente, wo den Laien allerdings der geringste Antheil gestattet
ist, sind sie doch nicht theilnahmlos. Unter Umständen ist ihnen der
Vollzug der Taufe gestattet; eine gewisse vorbereitende Seite des
Sacramentes der Busse, nämlich die brüderliche gegenseitige
Beichte in Begleitung von gegenseitigen Rathschlägen und des Ge¬
betes ist auch ihnen zugänglich. „Die von Gott berufenen und ge¬
weihten Vollzieher des Sacramentes der Eucharistie sind die Bischöfe
und Priester; als vernünftige Werkzeuge Christi aber, des Dar¬
bringers muLdes Dargebrachten, sondern sie sich bei der Ver¬
richtung ihres heiligen Amtes nicht von den Gläubigen und diese
nicht von ihnen. Der Administrirende fleht zu Gott: und lass uns
%iit einstimmigem Munde und einstimmigem Herzen verherrlichen und
preisen Deinen hochgefeierten Hamen des Vaters, des Sohnes und
des heiligen Geistes . Die Gläubigen theilen das Gebet des Admini-
strirenden, sie antworten auf seine Anrufung mit der Bekräftigung
des Glaubens und der Zuversicht: Amen; sie singen einige kurze
Bruchstücke aus dem eucharistischen Gebete selbst, legen das Glau-
bensbekenntniss ab und sprechet das Gebet des Herrn; auf das
Herabflehen des Segens unseres Herrn Jesu Christi, der Liebe Gottes
des Vaters und. der Gemeinschaft des heiligen Geistes antworten
sie mit dem Herabflehen derselben Segnung auf den Administri-
renden: und mit Deinem Geiste. Wenn somit der berufene Priester
im Geheimen das Sacrament vollzieht, so unterstützen ihn die Gläu¬
bigen moralisch und durch das Gebet.“
Ausführlicher geht der Erzbischof auf die Administration der
Kirche ein, in der der weltlichen Seite grösserer Spielraum gewährt
wird. Von den Aposteln war es eingesetzt, dass dem Laien eine
lebendige und thätige Mitwirkung bei der Wahl der Candidateh
für hierarchische Aemter gestattet werde. „Es unterliegt keinem
. Zweifel, dass die Laien während der vier ersten Jahrhunderte das
Recht der Bischofs- und Presbyterwahl besassen und dass die Hie¬
rarchie ihre Wahl nicht nur als einen von den Aposteln eingesetzten
Gebrauch und als ein Vorbild anerkannte, sondern bisweilen der
Beharrlichkeit der Wähler nachgab“. Auch bei den Provincial- und
*) Wie nahe berührt sich dieser Gedanke mit dem reformirten Bekenntmss, z. B.
in der 55. Krage des Heidelberger Catechismus.
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öconomischen Synoden war die Betheiligung der Laien in ver¬
schiedener Form und in verschiedenem Grade gestattet.
Der Erzbischof kommt dann darauf Zureden, dass, wenn den Gläu¬
bigen die moralischeMitwirkung bei derkirchlichenGesetzgebung nicht
versagt wurde, um so wenigerder christliche Staat von derselben fern
gehalten werden konnte. Aus mehr wie einem Grunde sind wir
gewillt, dem Redner bei dieser Gedankenreihe zu folgen; als inte¬
ressant unter den gegenwärtigen Verhältnissen heben wir nur den
einen Satz hervor, dessen Spitze gegen die römische Kirche ge¬
richtet ist. „Mögen uns die Anhänger jener andersgläubigen Kirche
dafür rügen, wo herrschsüchtige Isolirung der Kirche vom Staate 4
und von der Gesellschaft für Ordnung, fruchtloser Kampf gegen die
politische Macht für Unabhängigkeit gehalten wird. Wir folgen dem
Worte des Erlösers: Gebet dem Kaiser, was des Kaisers ist und
Gott, was Gottes ist. Wie eine Bürgerin, die dem Herrscher unter-
than, wie eine Scelsorgerin, die für ihn betet und ihn erleuchtet,
wie eine Erdenpilgerin, die sich unter seinen Schutz stellt, nähret
sich die orthodoxe Kirche dem Ideal des Apostels Paulus: auf
dass wir ein geruhlichcs und stilles Leben führen mögen in aller
Gottseligkeit und Ehrbarkeit. Denn solches ist gut,* dazu auch
angenehm vor Gott.“
Auch auf dem Gebiete der. Lehrthätigkeit weist der Erzbischof
den Laien und der Gesellschaft den ihnen schon von den Aposteln
eingeräumten Platz an. Im Anschluss an das Wort des Apostels
Petrus, dass „die Gläubigen allzeit bereit sein sollen zur Verant¬
wortung Jedermann, der Grund fordert der Hoffnung, die in uns ist“,
giebt das „Orthodoxe Glaubensbekcnntniss“ als zweite Handlung
der christlichen Barmherzigkeit an: „zu belehren den Unwissenden
upd Thoren; dieses Werk vollbringt Derjenige recht, der den Unwis¬
senden lehrt, wie man an den dreieinigen Gott glaubt.“
Möchten die Worte des Erzbischofs nicht erfolglos verhallen!
Möchte der Verein im innigen, lebendigen Glauben an die Wahrheit,
die von Gott ist, muthig auf der eingeschlagenen Bahn vorwärts
gehen! Riesengross*ist die Aufgabe, die ihm gestellt ist; unendlich
kann der Segen sein, der da aus treuer und beharrlicher Arbeit für
das Land und sein Volk hervorgehen wird. Ein Wunsch kann
nicht unterdrückt werden, dass der Verein seine ganze Aufmerk¬
samkeit der Heimath zuwenden und den Blick nicht allzusehr in die
Ferne möge schweifen lassen.—Der erste und zweite Artikel desPro-
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grammes gehen dem dritten wohlweislich voraus: sie haben die erste
Berechtigung an die ungetheilte Arbeitskraft der Männer, die den
Verein bilden.
Ein Blick auf das dritte Protokoll der Gesellschaft vom 12. Mai
hiess dem Wunsch Ausdruck geben. Es will uns bedünken, als ob der
ausländischen altkatholischen Bewegung eine zu grosse Beachtung
eingeräumt sei gegenüber den unendlich wichtigen Aufgaben, die sich
der Verein im Vaterlandc gestellt und die so dringend ihrer Inan¬
griffnahme harren. Wo man in der Heimath und mit ihren Verhält¬
nissen und Bedürfnissen vertraut, sichere und feste Schritte thun
kann, da ist der Gang unsicher und schwankend bei der Beurtheilung
der Strömungen im fremden Lande. Als Beispiel dafür könnte die
günstige Beurtheilung der Thätigkeit eines Geistlichen angesehen
werden, wie die des Aloysius Anton in Wien, dessen rapide Ent¬
wickelung eher geeignet sein dürfte, die altkatholische Bewegung
in gewissem Sinne zu compromittiren, als ihr einen grossen Erfolg zu
sichern. In einer seiner letzten Schriften (Das gefälschte Christenthum
und die Welt. Pest 1871) hat dieser altkatholische Weltpriester An¬
sichten entwickelt, von denen man doch wohl nicht wünschen kann,
dass sie überall Eingang fänden.
Doch unsere Absicht ist es nicht, die Thätigkeit des Vereins einer
Beurtheilung zu unterwerfen, als vielmehr sein Zustandekommen in
St. Petersburg herzlich zu begrüssen als Lebensäusserung einer
Kirche, der wir räumlich so nah gestellt sind.
H. Dalton.
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Die polytechnische Ausstellung in Moskau
vom Jahre»V872.
I.
Das Andenken an die Geburt Peter’s des Grossen durch die Ab¬
haltung einer allgemeinen polytechnischen Ausstellung zu feiern, war
jedenfalls ein würdiger und im Geiste des gefeierten Mannes liegen¬
der Gedanke. Dass die Auffassung dieses Gedankens und dessen
practische Ausführung von den Mitgliedern der MoskauerUniversität
ausgegangen, und von andern aufgeklärten und mit der Zeit fort¬
schreitenden Männern der alten Zarenstadt unterstützt worden ist,
gereicht nicht nur all diesen Männern zur Ehre, sondern liefert auch
einen schlagenden Beweis der universellen Wirksamkeit aller jener
volkswirtschaftlichen Maassnahmen, die ihr Entstehen der Initiative
Peters dtfs Grossen verdanken, einer Wirksamkeit, welche das weite
Gebiet Russlands umfasst, und die eben einen neuen Ausdruck in
der. diesjährigen polytechnischen Ausstellung Moskaus gefunden
hat. Der Gründer St. Petersburgs, der den politischen Schwerpunkt
des russischen Reiches vonMoskau an dieUfer des Baltischen Meeres
verlegt und dadurch die damals erste Hauptstadt Russlands zur
zweiten herabgedrückt hatte, sorgte durch seine wirtschaftlichen In¬
stitutionen auch für die Zukunft der alten Krönungsstadt, indem sei¬
nen Anordnungen und Maassnahmen vorzugsweise Moskau seine,
jetzige Blüthe und d^is hochentwickelte industrielle Leben dankt,
dessen es sich heute in so ausgedehntem Maasse erfreut. Dieser
Umstand genügt, um einen Anhaltspunkt dafür zu bieten, warum es
gerade Moskau war, das sich berufen fühlte, sich gewissermaassen
zum Schwerpunkt der Feier des zweihundertjährigen Geburtstages
Peters des Grossen zu machen.
Was nun die Ausstellung selbst anbelangt, so wurde der Gedanke
an eine solche zwar allgemein mit Sympathie begrüsst, trotz dem, dass
die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung vom Jahre 1870 noch
5 *
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nicht einmal geschlossen war, als derselbe schon zu reifen begann; allein
diese anfängliche Sympathie erkaltete namentlich unter den russi¬
schen, von Moskau entfernt wohnenden Industriellen nicht unerheb¬
lich und in dem Verhältnisse, als sich dieselben des Zweckes und der
Bedeutung der in Anregung gebrachten Ausstellung klarer bewusst
wurden. Etwas enttäuscht betreffs der materiellen Erfolge der St-
Petersburger Ausstellung, fand ein grosser Theil unserer russischen
Industriellen kein Interesse darum, der „belehrenden“ Aufgabe der
Ausstellung seine Unterstützung zu leihen. Hätte es sich um eine
reine Concurrcnz-Ausstcllung gehandelt, wie dies bei der letzten
St. Petersburger mehr oder weniger der Fall war, so würde trotz
dem die Betheiligung der industriellen Kreise Russlands eine leb¬
haftere gewesen sein. Allein der dem Unternehmen zu Grunde lie¬
gende Zweck „das Publicum auf den Nutzen der Anwendung der
Naturkunde auf das Leben in wissenschaftlicher und practischer
Hinsicht hinzuweisen und dasselbe mit den verschiedenen techni¬
schen Productionen bekannt zu machen“, musste zwar die Billigung
aller ernst denkenden Leute finden, harmonirte aber wenig nlit den
Ansichten einer grossen Anzahl unserer Industriellen, welche gewohnt
sind, in den Ausstellungen das Mittel für eine wirksame und dabei
gerechtfertigte Reclamc für ihre industriellen Erzeugnisse zu finden.
Die Zahl der russischen Aussteller, insoweit man solche' im Kreise
der russischen Gewerbetreibenden der verschiedenen Art sucht, ist
daher auch eine verhältnissmässig geringe, und steht im Vergleiche
zu derjenigen, welche die St. Petersburger Ausstellung vom Jahre
1870 beschickten, weit zurück. Diese letztere bot daher auch ein
viel vollständigeres Bild des, russischen Industriclebens, als dies die
heutige Moskauer Ausstellung thut, welche dafür aber in anderer
Beziehung von ungleich höherem Interesse ist.
Dass sich das Ausstellung^ - Comite so zu sagen in letzter
Stunde noch entschloss, die Ausstellung . des Characters einer spe-
cifisch russischen zu entkleiden und ihr den einer mehr oder weniger
internationalen zu geben, mag wohl die Ursache in den eben ange¬
deuteten .Verhältnissen finden, obgleich der Ausstcllungsreferent
der deutschen „St. Petersburger Zeitung“ ausdrücklich hervorhebt,
dass schon während der letzten St. Petersburger Ausstellung mit
dem deutschen Commissär Dr. Grothe wegen Betheiligung Deutsch¬
lands an der gegenwärtigen Ausstellung verhandelt worden sei.
Wäre letzteres wirklich der Fall gewesen, so muss es auffallen, warum
man so lange Zeit vergehen liess, bevor man die ausländischen In-
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dustriellcn officiell zur Betheiligung an der Moskauer Ausstellung
auffordertc. Dies bestärkt nur in der Ansicht, dass letzteres wahr¬
scheinlich ganz unterblieben seih würde, wenn die gehoffte Betheili-
4 gung der russischen Industriellen eingetreten wäre.
Schon der Name „polytechnische“ Ausstellung, obgleich durchaus
nicht erschöpfend und, zum Theil wenigstens, irreführend, deutet
darauf hin, dass sich das Moskauer Unternehmen von den bisherigen
sogenannten Industrie!- und Manufactur-Ausstellungen nicht unwe¬
sentlich unterscheidet. Während diese letzteren dem Beschauer das
fertige Industrieproduct vor Augen führen, bezweckt die polytechni¬
sche Ausstellung nicht n.ur, wie im Programm hervorgehoben, „den
Nutzen der Anwendung der Naturkunde auf das Leben in. wissen -
schaftlicher und practischer Hinsicht darzustellen, sondern auch die
Besucher mit dem Gange der Entstehung der einzelnen Industrie er Zeug¬
nisse selbst bekannt zu machen “, ihnen die verschiedenen Stadien der
Production, angefangen von der Gewinnung des Rohstoffes bis hin¬
auf zur Herstellung des fertigen Fabricates in allen Details vor
Augen zu führen und ihnen an practiscjien Beispielen die verschiede¬
nen Manipulationen zu zeigen, welche vorgenommen werden müssen,
um den Rohstoff in ein oft complicirtes Kunstproduct umzuwandeln.
So erblicken wir beispielsweise den Samen (das Ei) der Seidenraupe,
sehen die Entwickelung dieser letzteren in ihren verschiedenen Le¬
bensperioden, ihre Verpuppung, das Entstehen, die Verwendung
der Cocons, die Abhaspelung der Seide nach den verschiedenen
üblichen Methoden, das Spinnen der abgehaspcltcn Seidenfaden, die
Verwebung der gesponnenen Seide zu Stoff, der sich schliesslich
unserem Auge als vollendetes Seidenbrocat darstellt, mit einem
Worte, wir überblicken das ganze Gebiet der Seiden-Industrie mit
allen von ihr benutzten Hülfsstoffen und Hülfsmaschinen und es ist
gewiss nicht abzuleugnen, dass eine derartige Ausstellung des Inte¬
ressanten und wirklich Belehrenden viel bietet, dass sic darnach an-
gethan ist, den Sinn für gewerbliche Thätigkeit in weiten Kreisen
zu wecken, dass mit ihr ein neuer und practischer Weg betreten
worden ist, um unser modernes Ausstcllungswesen, weniger wie
früher zu einem Mittel blosser*Rcclame, sondern vielmehr zu einem
Bildungsmittel hervorragendster Art und auf breitester Grundlage
zu machen. Den Moskauern gebührt das Verdienst, diese Idee in
grossartigem Maassstabe zur practischen Ausführung gebracht zu
haben. Dass der dem ganzen Unternehmen zu Grunde liegende
Zweck, obgleich der Hauptsache nach und im Allgemeinen, doch
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bei diesem ersten grossen Versuche nicht vollständig erreicht wurde,
j?t selbst bis in alle Details nicht erreicht werden konnte, darf weder
Wunder nehmen, noch den Veranstaltern zum Vorwurf gereichen;
im Gegentheil muss man anerkennen, dass sie unter äusserst schwieg
rigen Verhältnissen das nur Mögliche geleistet haben; ja, dass sie das
Unternehmen in Russland überhaupt zu Stande bringen konnten, ist ein
grosses Verdienst, das ihnen Niemand, der es ehrlich meint, abstrei¬
ten wird. Der persönliche Egoismus, der im modernen Industrie¬
leben eine so hervorragende Rolle spielt, ja der gewissermaassen als
der Impuls der Entwicklung desselben angesehen werden muss, wird
immer und selbst aüch in der Zukunft ein mächtiges Hinderniss bil¬
den, um eine derartige, wenn auch ungemein nützliche, doch mehr
oder weniger ideale Idee, wie die hier vorliegende, zur Ausführung
zu bringen.
Wenn auch eine verhältnissmässig nur geringe Zahl unserer russi¬
schen Industriellen und unter diesen auch hauptsächlich nur solche^
welche Fabricate erzeugen, zu deren Herstellung keine besondern
Geheimnisse oder mindestens geheim zu haltende Kunstgriffe erforder¬
lich sind und daher auch nicht gewahrt zu • werden brauchen, die
Ausstellung beschickt haben, so sind dieselben doch meistens, wenn
auch unter Opfern verschiedener Art, dem ursprünglichen Pro¬
gramme einer ,,polytechnischen“ Ausstellung treu geblieben und
haben gewissenhaft Alles aufgeboten, um die Besucher der Ausstel¬
lung mit den verschiedenen technischen Manipulationen des von
ihnen betriebenen Gewerbes bekannt zu machen. Diesen Männern
gebührt der Dank nicht nur unserer lebenden Generation, sondern
auch der kommenden, denn sie haben, und wäre es auch nur durch
die jetzige Moskauer Ausstellung, der Zukunft vorgearbeitet und sie
sind nicht davor zurückgeschreckt, ihr eigenes Wissen und Können
nach besten Kräften zum Gemeingute zu machen. Hierin liegt die
Bedeutung, ja selbst die epochemachende Bedeutung der Moskauer
polytechnischen Ausstellung und dieser eine Umstand schon lässt
diese Ausstellung in einem Lichte erscheinen, das zur Leuchte für
die Zukunft und mehr oder weniger^ maassgebend für andere kom¬
mende Ausstellungen werden muss. Man kann wohl sagen, die
Moskauer Ausstellung ist die erste bis zu einem gewissen Grade
wirklich practische, weil auf die Praxis einflussnehmende, grössere
Ausstellung der Gegenwart und es ist nicht daran zu zweifeln, dass das
ihr zu Grunde liegende Princip in Zukunft immermehr Anerkennung
finden wird, dass die Ausstellungen in Folge davon ihren gegen-
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7 *
wärtigen Character jnehr oder weniger* ändern und zu wirklichen
Volksbildungsmitteln heranreifen werden. Der Hauptcharacter, den
die gegenwärtige Moskauer Ausstellung mindestens in wesentlichen
Theilen trägt, ist daher auch der eines Volksbildungsmittels.
Die ausländischen Industriellen, sowie diejenigen russischen, deren
Etablissements in grösserer Entfernung von Moskau liegen,, waren
schon in Folge dieses letzteren Umstandes nicht in der Lage, durch
ihre Ausstellungen dazu beizutragen, den belehrenden Character des
Moskauer Unternehmens zu fördern. Jede Ausstellung ist ohnedem
für den Aussteller mit Kosten und Ungelegcnheiten verschiedener
Art verbunden und er ist in den meisten Fällen froh, wenn er sein
Ausstellungsobject, das fertige Fabricat, ungefährdet in den Aus¬
stellungsräumen aufgestellt sieht. Die meisten Aussteller sind Ge¬
schäftsleute und bezwecken durch ihre Betheiligung zunächst ein
Bekanntwerden ihrer Fabricate in weiteren Kreisen und in Folge
davon die Erwerbung neuer Absatzgebiete. Unter Berücksichtigung
dieser Verhältnisse hiesse es mehr von ihnen verlangen, als sie zu
leisten im Stande sind, wollte man ihnen auch noch die Pflicht auf¬
erlegen, dier hiesigen Industriellen dadurch zu belehren, dass sie die¬
selben mit den ausländischen Fabricationsmethoden bekannt machen,
dass sie die Kunstgriffe preisgeben sollen, deren Handhabung sie be¬
fähigt, für ihre Waaren Absatz in Russland zu finden und der hiesigen
wie ausländischen Concurrenz die Spitze zu bieten. Man hat von
mancher Seite den ausländischen Ausstellern hieraus einen Vorwurf
gemacht, der mir nicht gerechtfertigt zu sein scheint. Diese Herren
haben zunächst nur ein Interesse daran, sich von ihren Geschäfts¬
rücksichten leiten zu lassen und diese zu dem Ausgangspunkt ihrer
Betherligung zu machen. !Man kann ihnen um so weniger einen
Vorwurf daraus machen, dass sie dem Ausstellungs-Programm nicht
nach allen Richtungen entsprochen haben, als einerseits eine strenge
Einhaltung desselben wegen der grossen Entfernung geradezu un¬
möglich war, weil ihnen andererseits der Termin zu ihrer Bethei-
ligung nur sehr kurz zugemessen war, und weil man schliesslich
an die ausländischen Industriellen doch nicht strengere Anforderun¬
gen stellen darf, als an die russischen, welche auch zum grossen
Theil nur ihr fertiges Fabricat zur Ausstellung sandten. Was nützt
es auch im Ganzen viel, wenn man neben dem Wollenstoff ein
Bündel Schafwolle ausstellt, aus welchem schliesslich das Fabricat
entstanden ist, nachdem es einmal die Umstände unmöglich gemacht
haben, das ganze Verfahren der Fabrication dem Beschauer prac-
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tisch vorzuführen. Haben sich doch selbst viele russische Indu¬
strielle von der Beschickung der Ausstellung nur deshalb abhalten
lassen, weil ihnen die Ausführung der letzterwähnten Forderung
ungelegen kam. Hätte das Ausland sich von gleichen Gesinnungen
leiten lassen : aus der Moskauer Ausstellung wäre nicht entfernt das
geworden, was aus ihr in Wirklichkeit geworden ist. Dass auch
das Ausland die der Moskauer Ausstellung zu Grunde liegende
Idee richtig erfasst hat, beweisen die Collectionen, welche einzelne
Regierungen, namentlich die deutsche, österreichische, wiirtem-
bergische etc. zum Zwecke der Moskauer Ausstellung zusammen-
stellen Hessen und welche ein anschauliches Bild über den Zustand
wichtiger Staatsinstitutionen, z. B. des Montanwesens, .des Tele¬
graphen- und Postwesens, des Erziehungswesens etc. in den ver¬
schiedenen Staaten liefern und welche wesentlich dazu beigetragen
haben, der Moskauer Ausstellung ihren bedeutungsvollen, die Zu¬
kunft beeinflussenden und belehrenden Character zu wahren. In
erster Linie ist dieser letztere auch der russischen Regierung und
dem Ausstcllungs-Comite selbst zu danken, das mit unermüdlichem
Eifer und mit opferwilliger Thätigkeit bemüht war, die' Ausstellung
in Wirklichkeit zu einem Bildungsmittel des russischen Volkes zu
machen.
Diese, meinen Ausstellungsberichten vorausgeschickten allgemei¬
nen Bemerkungen kann ich nicht schliesscn, ohne noch einen Irr¬
thum zu berichtigen, der mir in mehreren namhaften deutschen
Zeitungen, z. B. der Augsburger ,,Allg. Zeitung“, der „Leipziger
Zeitung“ etc. aufgestossen* Man trägt sich darnach im Auslande
mit dem Gedanken oder vielmehr mit der Hoffnung, dass die gegen¬
wärtige Moskauer Ausstellung und die Betheiligung der auslän¬
dischen Industrie an derselben ein Anzeichen sei, als ob man in den
maassgebenden Kreisen Russlands einer Aenderung der bisherigen
Handelspolitik nicht abgeneigt sei, und durch die Ausstellung einen
Maassstab gewinnen wolle, in wie weit es unter den gegenwärtigen
gegenseitigen Industrieverhältnissen möglich sei, den Eingangszoll
auf einzelne ausländische Industrieerzeugnisse herabzusetzen. Der
Verfasser des vorliegenden Artikels gehört nicht zu den Vertei¬
digern des russischen Schutzzollsystems, glaubt aber, dass die Han¬
delspolitik Russlands zur Ausstellung wohl in gar keiner Bezie¬
hung steht. Die Reformen, welchen der russische Zolltarif
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von Zeit zu Zeit, gewissermaassen periodenweise, unterzogen wurde,
und deren letzte vom Jahre 1868 datirt, bezeugen zwar einerseits,
dass man in den maassgebenden Kreisen nicht daran denkt, den
Zollschutz noch zu erweitern, zugleich aber auch, dass Zollermäs-
sigungen nur gradatim eintreten und dieselben keineswegs den
ausländischen Erwartungen entsprechen dürften. Dass man in den
Weg der handelspolitischen Reform in Russland eingelenkt ist,
steht zwar wohl fest, allein ebenso fest steht es auch, dass man
diesen Weg nur äusserst behutsam verfolgt und hierbei allein das
Interesse der russischen Industrie berücksichtigt und befragt. Die
Industriellen Russlands haben sich aber in einer Weise an den
Schutzzoll gewöhnt, haben ihre ganzen Einrichtungen auf densel-
_ ben und in Folge dessen auf die Ausbeutung der inländischen Con-
sumenten so basirt, dass sie'jedcr nennenswerthen Reform abhold
sind und ihren nicht zu unterschätzenden Einfluss in entgegenwir¬
kender Weise zur Geltung zu* bringen suchen. Diese Verhältnisse
erinnern lebhaft an jene Oesterreichs, bevor dieses Land in seiner
Handelspolitik das Prinzip des Finanzzolles zur Geltung brachte.
Auch dfg dortigen Industriellen glaubten sich «ohne ihren Schutz-
* zoll dem Untergänge geweiht. Fragt man sie aber heute, ob sie
zum Schutzzoll zurückkehren wollen, so werden sic mit einem ent¬
schiedenen „Nein! 44 antworten, denn wenige Jahre haben genügt,
sie eines Besseren zu belehren und ihnen zu zeigen, dass der Fi¬
nanzzoll ihren Interessen besser dient, als dei J ehemalige Schutzzoll
Erst nachdem dieser letztere beseitigt war, konnte die österrei¬
chische Industrie zur vollkommenen Entwickelung gelangen und
heute steht sie bereits in voller Bliithe. Dieselbe Bewandtniss
wird es auch mit der russischen Industrie haben. Auch sic hat in
den meisten ihrer Zweige einen ganz gesunden Boden unter sich,
sie kennt nur ihre Kraft noch nicht und das, was sie zu leisten im
Stande sein dürfte, wenn sie vom Schutzzoll befreit wird. Jede
Ausstellung liefert einen neuen Beweis von dieser innern Kraft,
und die russische Industrie rafft sich bereits heute stellenweise zu
Leistungen auf, welche jeder ausländischen Industrie zur Ehre ge¬
reichen würden. Dennoch würde es voreilig sein, hieraus den
Schluss zu ziehen, dass die Zeit bereits gekommen sei, um eine
einflussreiche Acnderung der russischen Handelspolitik zur Geltung
zu bringen. Die russischen Industriellen müssen erst die Einsicht
gewinnen, dass ein massiger Finanzzoll im Grossen und Ganzen
ihren Interessen mehr entspricht, als der gegenwärtige Schutzzoll.
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74
Wann ‘ dieser Zeitpunkt eintreten wird, dafür liegen noch keine
Anhaltspunkte vor.
Durch meinen vorliegenden ersten Bericht über die Moskauer
polytechnische Ausstellung beabsichtige ich den Lesern ein Ge-
sammtbild derselben zu geben. In den späteren demselben Gegen¬
stand gewidmeten Artikeln werde ich speciell auf einzelne hervor¬
ragende Momente der Ausstellung zurückkommen und hierbei na¬
mentlich auch die Productions- und industriellen Verhältnisse Russ¬
lands berücksichtigen, und in so fern solche namentlich auch für
das Ausland von Interesse sind, dieselben auf Grundlage statisti¬
scher Daten eingehender erörtern. Für heute enthalte ich mich
jeder weiteren Kritik in dieser Beziehung, und beschränke mich
auf eine allgemeine Beschreibung der Ausstellung, welche sich, wie.
bereits oben erwähnt, sclion in ihrem äusseren Arrangement ebenso,
wie hinsichtlich ihrer Tendenz von den bisherigen Industrie-Aus¬
stellungen unterscheidet.
Was zunächst die räumliche Einrichtung anbetriflft, so hat man
cs, im Gegensätze zu dem bisher üblichen Verfahren, vorgezogen,
die Ausstellung nffcht in einem einzelnen grossen, für diesen Zweck
besonders eingerichteten Gebäude abzuhalten, sondern anstatt des-'
sen in einer grösseren Anzahl kleinerer Pavillons, deren Grösse
der Räumlichkeit der in jeder einzelnen Abtheilung oder Gruppe
auszustellenden Gegenstände möglichst entspricht. Mit Ausnahme
der grossen steinernen Manege, welche durch geschicktes Arrange¬
ment mit den übrigen Theilen der Ausstellung in unmittelbare Ver¬
bindung gebracht ist und gewfesermaassen den Hauptpunkt bildet,
wozu sie sich ihrer baulichen Ausdehnung wegen an und für sich
schon eignet, hat man noch 90 grössere und kleinere Pavillons, Bau¬
ten und selbst Zelte errichtet, welche zur Aufnahme der verschiede¬
nen Ausstellungsgegenstände, zur Einrichtung der Administrations¬
lokale und der nothwendigen Restaurationen und Erfrischungsräume
etc. dienten. Zur Aufnahme dieser Baulichkeiten dient der Garten,
welcher den altcrthümlichen und denkwürdigen fcreml in der Rich¬
tung nach dem Moskwa-Quai wie'ein Gürtel umgiebt, so dass eine
Gesammtfläche von 44,000 Quadratfaden den Ausstellungszwecken
dienstbar gemacht worden ist. Dieses Arrangement der ganzen Aus¬
stellung kann, da es sich hier nicht um eine systematisch geordnete
Industrie-Ausstellung handelt, sondern jede einzelne Ausstellungs¬
gruppe gewissermaassen als ein abgeschlossenes Ganzes zu betrach¬
ten ist, als ein glückliches, die Uebersicht in gewisser Beziehung er-
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t
leichterndes angesehen werden, obgleich auch in dieser Beziehung,
wie auch in Betreff des Werthes und Nutzens der ganzen Ausstellung,
im Allgemeinen die Ansichten getheilt sind und oft weit auseinander
gehen. Nachdem man sich einmal für die Einzelpavillons entschieden
hatte, konnte man wohl keinen schöneren und zweckmässigeren Platz
auswählen, als eben den genannten Kremlgarten, der mit seinem
schattigen Boulevard und den allenthalben angebrachten Blumen¬
gruppen so recht geeignet ist, den vom Anschauen ermüdeten Be¬
suchern eine wohlthuende und erfrischende Ruhestätte zu bieten.
Zu beiden Seiten des schattigen Hauptganges sind die einzelnen Pa¬
villons in abwechslungsreichem Baustyle erbaut, so dass deren Be¬
such und Auffindung verhältnissmässig leicht zu bewerkstelligen ist.
Das ganze Arrangement freilich ist ein sehr kostspieliges, wurde
aber durch die reichen Beiträge ermöglicht, welche dem Ausstellungs-
Comite durefy Privatspenden zuflossen, Beiträge, deren Gesammt-
summe sich auf über eine Viertel-Million Rubel beläuft. Leider ist
bisher im Ganzen der Besuch der Ausstellung ein verhältnissmässig
schwacher gewesen, was möglicherweise seinen Grund in dem etwas
hohen Entree von I Rbl. S. findet, das man i ! /2 Monate hindurch für
den Besuch der Ausstellung zu zahlen hatte. Gegenwärtig ist dieses
Entree auf 60 Kop. (20 Sgr. = 1 fl. österr. Währ.) herabgesetzt.
Auch der Besuch aus dem Auslande hat nicht jene Dimensionen an¬
genommen, welche man Anfangs erhoffte, indem derselbe bis jetzt
ein beschränkter, gewissermaassen nur officieller geblieben ist. Die
Nähe der bevorstehenden Wiener Weltausstellung hat in dieser Be¬
ziehung jedenfalls störend gewirkt, und wird die genannte Ausstel¬
lung auch als Grund angeführt, dass noch so wenige Russen aus dem
Innern des Reiches die polytechnische Ausstellung Moskaus be¬
suchen.
Sachgemäss zerfällt die Ausstellung in zwei Hauptabtheilungen: in
die naturgeschichtliche mit ihren drei Reichen, dem Pflanzen-, Thjer-
und Mineralreiche, welche die Kenntnisse yeranschaulicht, die der
Mensch in Bezug auf diese drei Reiche erworben hat und die Art
und Weise, wie er dieselben gewinnt, während in der zweiten Haupt¬
abtheilung der Einfluss versinnlicht wird , welchen diese Naturreiche
auf die Verhältnisse des practischen Lebens , auf die Industrie, auf die
Schule und die Erziehung des Menschen , überhaupt auf die Befriedigung
der menschlichen Bedürfnisse üben. Entstammen doch diesen drei Na¬
turreichen alle jene Grundstoffe, welche durch die Arbeit des Geistes
und der Hand in Fabricate der verschiedensten Art • umgewandelt
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werden, die die Bedürfnisse des Erdenlebens befriedigen. Dem
instructiven Zwecke entsprechend, musste alles Das dem Beschauer
in logischer Gliederung, in systematischer Entwickelung klar gelegt
werden. Es muss anerkannt werden, dass dies dem Ausstellungs ■
comite im Grossen und Ganzen auch vollkommen gelungen ist.
Wir betreten daher auch zunächst die Pavillons, in welchen die
Naturreiche dem Besucher vorgefuhrt werden und beginnen mit
der botanischen Abtheilung , welche in zwei Gebäuden, von denen
das kleinere für Warmhauspflanzen reservirt ist, untergebracht wer¬
den konnte. Der Hauptpavillon stellt ein elegantes mit gewölbtem
Glasdache versehenes Gewächshaus dar, dessen hübsche äussere
Form mit dem reichen inneren Schmuck exotischer Gewächse
vollkommen harmonirt. Der berühmte botanische Garten St. Peters¬
burgs hatte mit den rcichausgestatteten Gewächshäusern Moskaus
und seiner Umgebung und mit anderen, selbst ausländischen, Aus¬
stellern gewetteifert, um die botanische Abtheilung mit schönen
Palmen und anderen Decorationspflanzen und seltenen Gewächsen
reich aiiszustatten. Gleichzeitig wurde dieser Pavillon benutzt zur
Aufstellung von Vitrinen, welche kleinere Specialausstellungen ent¬
hielten für Gegenstände, welche zur Botanik, in wenn auch theil-
weise mehr entfernter,* Beziehung stehen, oder welche als bota¬
nische Lehrmittel, thcils als Hiilfsmittel für den Gartenbau vorw Be¬
deutung sind. Auch den künstlichen Blumen hat man hier ihren
Platz angewiesen, und will ich hier nur vorübergehend erwähnen,
dass die Ausstellung den Beweis liefert * dass Russland in der Er¬
zeugung von Kunstblumen grosse Fortschritte gemacht und sich
dieser Industriezweig bereits zu einer anerkennenswerthen Ver¬
vollkommnung entwickelt hat, wenn auch die aus Berlin zur Aus¬
stellung gesandten Kunstblumen ihrer naturgetreuen Nachbildung
wegen den Vorzug haben.
Die zoologische Abtheilung ist in 4 Pavillons untergebracht, von
welchen sich namentlich Pavillon Nr. 3, der Hauptpavillon dieser
Abtheilung, durch seine Grösse auszeichnet, indem er aus drei
mit einander verbundenen Oblongen besteht. Die Baukosten des¬
selben sind ebenfalls, wie die der meisten übrigen Pavillons, aus
Privatmitteln bestritten worden, und zwar durch die Herren Sset-
schinski, von Meck und Gubonin. Selbstverständlich konnte es nicht
in der Absicht des Ausstellungscomites liegen, ein vollständiges
zoologisches Museum herzustellen, sondern es musste sich, der
Tendenz der Ausstellung *entsprechend, darauf beschränken, vorzugs-
\
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weise diejenigen Thiere vorzufiihren, deren Producte Handelsartikel
bilden, die daher in landwirtschaftlicher wie industrieller Beziehung
von besonderem Interesse sind. Zunächst begegnen wir derFischerei,
repräsentirt durch einen Apparat für künstliche Fischzucht und ei¬
ner grösseren Anzahl von Aquarien verschiedener Grösse und Art.
Mehr Interesse bietet die Collection von Fischen; wie solche in den
russischen Gewässern, dem Ural,. der Wolga, Occa, Moskwa und
dem schwarzen Meere Vorkommen, so wie der Netze und sonstigen
Fischapparate, deren sich die Uralischen Kosaken zum Fangen der'
verschiedenen Störgattungen bedienen. Das mittlere Oblong gehört
den Säugetieren, und hier finden wir eine schöne Auswahl von
Pelzen und Pelztieren von. M. Grünwald in Riga und von N. P. So-
bolew in Moskau. Die Haustiere sind vorzugsweise durch eine
schöne Sammlung von der Natur treu nachgebildeten Köpfen von
englischem und Schweizer Rindvieh von Bartlett in London und
Rütimeier in der Schweiz vertreten, welche für das Moskauer zoolo¬
gische Museum angekauft ist, und durch eine Sammlung fiusgc-
stopfter nützlicher Haustiere, als Schafe, Ziegen, Katzen, Kaninchen,
Hunde etc. Auch ausgestopfte Raubtiere: Wölfe, Füchse, Scha-
cals, Löwen etc. fehlen ebensowenig, wie Vögel verschiedener Gat¬
tungen. Endlich sind auch die niederen Thierarten durch reiche Col-
lectionen vertreten. Von industriellen Erzeugnissen finden wir hier
gute Ledersorten von Liedtke in. Warschau, einer alten berühmten
Fabrik, von Schmemotschkin und von Woluiski in Moskau, welche
den Beweis liefern, dass die Gerberei, überhaupt Lederfabrikation
und Lederzurichtung in Russland ihren alten Ruhm gewahrt hat,
und auch mit der Zeit vorwärts schreitet. Leider gewährt die gegen¬
wärtige Moskauer Ausstellung bei Weitem kein zutreffendes Bild des
jetzigen Zustandes dieses für Russland so ausserordentlich
wichtigen und zukunftsreichen Industriezweiges, und ist zu bedauern,
dass man die wenigen Lederexponenten, welche die Ausstellung
beschickt haben, in die verschiedensten Gruppen und Pavillons ver¬
theilt hat. Leider kann ich bei dieser allgemeinen.Uebcrsicht nicht
näher in die Details dieses jedenfalls interessanten Pavillons ein-
gehen, doch dürfte das bereits Mitgetheilte genügen, ein allge¬
meines Bild desselben zu bieten.
Kleinere Pavillons (Nr. 4 und Nr. 5) dienen zur Belehrung über
die Bienen - und Seidenraupenzucht. Eine Collection von Bienen¬
stöcken aller Art befindet sich vor Pavillon Nr. 4, in welchem wir
den Producten der Bienenzucht von der eben aus dem Bienenstock
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geschnittenen Wachswabe bis zum Honigkuchen, dem Wachsstock
und der Kunstblume aus Wachs begegnen. Im Pavillon für Seiden¬
zucht ist alles Das zu sehen, dessen ich in der Einleitung dieses
Artikels Erwähnung gethan habe, und bemerke ich hier nur noch,
dass der Pavillon mit zu den interessantesten-der ganzen Ausstellung
gehört. Ueber die Bedeutung der Seidenkultur und Bienenzucht
für Russland werde ich mich übrigens noch in einem besondern Ar¬
tikel aussprechen.
Mindestens seiner Lage nach ist der sogenannte Jagdpcrcillon
noch zur zoologischen Abtheilung zu rechnen, obgleich die in dem¬
selben aufgestellten ausgestopften Thiere: mächtige Bären, einzelne
Wölfe und Füchse, eine Collection von Schnepfen und anderen
agdbaren Sumpfvögeln, im Ganzen eine untergeordnete Rolle
spielen und gewissermaassen nur als Staffage dienen. Dennoch bietet
dieser Pavillon des Interessanten genug und das Publicum hat Recht,
wenn es ihn mit Vorliebe besucht. Gestatten uns doch die hier aus¬
gestellten Gegenstände, wenigstens einen Blick auf die Entwickelung
einiger Ihdustriezweige Russlands zu werfen, mag auch die Zahl der¬
selben immerhin eine sehr beschränkte sein. So begegnen wir z. B.
gleich der Eingangsthür gegenüber einer vorzüglich ausgeführten
Bronzegruppe, den Kaiser Alexander II. darstellend, in dem Au- t
genblickc, wo Allerhöchst derselbe aus nächster Nähe einen Bären
erschiesst, der einen der kaiserlichen Jäger niedergerannt hat und
mit Ingrimm diesen letztem angreift. Diese in allen Details ganz vor¬
züglich ausgestattete Gruppe stammt aus dem Kunsfgussatelier des
Herrn Licbcrich in St. Petersburg. Eine reiche Auswahl alter und
neuer Jagdgewehre aus allen Ländern bis zu den neuesten Hinter¬
ladern, bildet den Hauptschmuck der einen Hälfte dieses Pavillons,
während die andere Hälfte von anderen auf das Jagdwesen bezug¬
habenden Gegenständen ausgefüllt ist. Hierher gehören namentlich
die Jagdanzüge, Pelzpaletots, Jagdmützen, Muffe etc. von Grümvald
in Riga, so wie dessen Fussdecken, Tische, Stühle etc. zur Aus¬
schmückung von Jagdsalons. Die von Eck in St. Petersburg ausge¬
stopften Thiere liefern einen Beweis grosser Kunstfertigkeit. Die
Tulaschen Gewehre des Hrn. Toljakoiv zeigen bereits eine gute, sorg¬
fältige Arbeit sowohl in den Eisen- wie in den Holztheilen. Auch
österreichische (die Waffenfabriksgesellschaft zu Steyer), belgische
französische und schwedische Gewehrfabriken haben ihre Erzeugnisse
ausgestellt.
Die mineralogische , geologische und Bergbauabtheilung ist in drei /
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Pavillons untergebracht, von welchen der grösste. auf Kosten "des
Fürsten S. AL Golizyn erbaut worden ist. Dieser Pavillon enthält in
seinem Mittelraume vorzugsweise Producte der russischen Eisen-, in
seinem hinterenTheile die der russischen Steinkohlenindustrie; doch
ist zu bemerken, dass durch diese Ausstellung durchaus nicht ein
selbst nur annähernd richtiges, Bild von der w r eittragenden Bedeu¬
tung des russischen Montanwesens gegeben worden ist. Nur um
anzudeuten, in welcher anschaulichen Weise einzelne Aussteller be¬
müht waren, den itistructiven Character der Ausstellung festzu- s
halten, sei hier erwähnt, dass die Herren Ryko'tv und Bemard\ die
Besitzer der Kohlengrube Pawelez im Rjannsanschen Gouvernement,
die Rückwand des Pavillons benutzt hatten, um den Eingang in eine
Kohlengrube und deren Abbau lediglich und genau der Natur ent¬
sprechend darzustellen. Man sieht die verschiedenen Bodenschichten,
unter denen die Kohle lagert, an der Wand angedeutet und die Art
und Weise der Gewinnung dieser letztem wird in einem nachgebildeten
Stollen dargestellt, indessen Tiefe ein Bergmann bei seinem Gruben¬
lichte arbeitet. Ausser dem Steinkohlenmuster dieser beiden ge¬
nannten Herren begegnet man auf der Ausstellung auch noch anderen
Proben bedeutender Kohlenwerkc. So intercssiren namentlich die
Malewkaschen Steinkohlen des Grafen A. A. Bobrinski , dessen Ober¬
ingenieur Herr Emil Leo , bekannt durch sein interressantes Buch •
über Steinkohlenexploitation ') es durch seine energische und kennt¬
nisreiche Thätigkeit dahin gebracht hat, das in Rede stehende Koh-
tenwerk in Malewka zu einem der bedeutendsten und hoffnungsreich¬
sten Russland» zu machen. Aus dem Donezbassin, das durch seinen
Anthracitreichthum bekannt ist, waren vortreffliche Kohlen aus den
Werken der Gebrüder Popow und des Herrn 6*. Popow ausgestellt;,
aus dem Rjäsanschen Gouvernement* begegnen wir Kohlen, ausser
denen der obengenannten Herren Rykoiv und Bemard , noch aus
der Murajewninsker Grube, ausgestellt durch Herrn Lehman . Eine
reiche Auswahl auf das Bergwesen sich beziehender in-^ind ausländi¬
scher Modelle schmückt das Mittelschiff, unter diesen namentlich eine
gut gewählte Collection der Freiberger Bergacademie. In der linken
Seitenhalle begegnen wir einer übersichtlich und geschmackvoll ge¬
ordneten Sammlung von schwedischen Bergbauproducten (Eisen,
*) E. Leo, Die Steinkohlen Central-Russlands, mit besonderer Berücksichtigung
ihrer Verbreitung, Aufsuchung und Verwerthung, mit 128 Holzschnitten und Tafeln, ctc.
4 ° 100 S. St. Petersburg.
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So
Kupfer, Marmor etc.), einer Sammlung der in Preussen vorlcom-
menden Kohlenarten, die treffliche Ausstellung der wiirtember-
gischen Hüttenwerke, namentlich der königlichen Eisengiesserei
Wasseralfingen, des Eisenwerkes Königsbronn, so wie des Stein¬
salzwerkes Friedrichshall, endlich auch einer Sammlung geschliffener
Serpentingcfässe, Vasen, Schalen, Schrcibzcuge, Leuchter etc. der
Zöblitzer (Sachsen) Aktiengesellschaft. Zwei hübsche Modelle (von
der St. Petersburger Ausstellung her bekannt) stellen die Salzge¬
winnung im Astrachanschen Gouvernement bildlich dar. Die rechte
Seitenhalle bietet kaum viel Bemerkcnswcrthes, wenn wir von einer
Petrofaktensammlung, einer Collection von Bernsteinschnitzereien,
Proben Orenburgschen Steinsalzes etc. absehen. Ich kann mich um
so mehr mit diesen Andeutungen begnügen, als ich noch Gele¬
genheit nehmen werde, spater in mehr ausführlicher Weise auf das
russische Monkamvesen zurückzukommen.
Den zu dieser Abtheilung gehörigen Pavillon No. 9 haben die
Herren Barkow und Kusnezen^ erbaut und denselben auch aus¬
schliesslich mit denProducten ihrer im Rjäsanschen Gouvernement lie¬
genden Eisenwerke gefüllt. Sehr anerkennenswerth sind die Lei¬
stungen dieser Herren in der Herstellung von Eisen- und Kupfer¬
drähten, sowie in Drahtnägeln. Erstcrc erzeugen sie in 38 Num¬
mern, und namentlich auch die feinsten Sorten zeigen gute
Qualität. Weniger gelungen sind die Leistungen in der Nähnadcl-
fabrication, dagegen sind die Gussstücke (Treppen etc.) beachtens-
werth.
Der Pavillon No. io ist der Steinschleifern gewidmet, einem
Industriezweige, der mit zu den entwickeltsten Russlands zahlt. Die
ser Pavillon gehört zu*' den wenigen, welche ausschliesslich nur
russische Erzeugnisse enthalten. Allerdings ist auch die Zahl der
Aussteller eine sehr geringe. Bemerkenswerth ist, dass die Stein-
scldciferei in Russland, vorzugsweise und in grösster Vollkommen¬
heit auf den Kaiserlichen (Krons-) Fabriken betrieben wird. Auf
der letzten St. Petersburger Ausstellung hatten wir Gelegenheit,
die ausgezeichneten Leistungen der Kaiserlichen Steinschleifern zu
Jekaterinburg und die gleichwertigen der Koliwan’schcn Schleif¬
fabrik des Kabinets Sr. Majestät des Kaisers in grösseren Verhält¬
nissen kennen zu lernen, heute bietet uns die Moskauer polytech¬
nische Ausstellung Gelegenheit, die der Kaiserlichen Fabrik in
Peterhof in Augenschein zu nehmen. Spezialität dieser letzteren
scheint die Herstellung von polirten Steintischplatten mit eingeleg-
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ten Blumen und Fruchtstücken zu sein, und ich glaube behaupten
zu dürfen, dass derartige Kunsterzeugnisse nirgends besser und
vollkommener hergestellt werden können, als in Peterhof. Anderer¬
seits schliessen die wahrhaft kaiserlichen Mittel, welche zur Unter¬
haltung dieser Fabriken gewährt werden, jede Concurrenz von
Privaten aus, obgleich immerhin auch die. Leistungen dieser letz¬
teren sehr beachtenswerth sind. Namentlich hat sich in Jekaterinburg
selbst die Steinschleiferei zu einem Industriezweige ausgebildet, der
nicht ohne Bedeutung ist und es darf wohl kaum bezweifelt werden,
dass letztere mit der Zukunft noch wachsen werde. J. Sp'örhase in
St. Petersburg hatte die Moskauer Ausstellung mit seineri! unver¬
meidlichen Malachittisch für 6000 Rbl. beschickt, den die russischen
Leser von der St. Petersburger Ausstellung her kennen und den
die ausländischen voraussichtlich auf der Wiener Weltausstellung
im kommenden Jahre kennen lernen werden. Uebrigens bietet
dieser Tisch ein seltenes Beispiel von Malachitschleiferei, das
volle Anerkennung verdient. Auch A. Vogt in St. Petersburg
bewährt sich durch seine Collection geschliffener Edelsteine als
efti^tüchtiger Juwelenschleifcr.
Folgen wir dem Plane und zugleich auch gewissermaassen dem
Programme der Ausstellung, so haben wir uns jetzt der pädagogi¬
schen Abtheilutig zuzuwenden, welche mit zu den bestorganisirten
der Ausstellung zählt.* Von der Klc^nkinderschule an bis zum
Gymnasium sind die einzelnen Schulen in ihren Lehrmitteln ver¬
treten. Pavillon Nr. 11 enthält das Fröbclhaus nebst dem Kinder¬
garten in solidem Bau, und war dieses Gebäude Anfangs bestimmt,
das Mustermodell eines Fröbelhauses für etwa 30 Kinder darzu¬
stellen. „Leider“, schreibt die „ Deutsche Moskauer Zeitung „musste
sich Architect Schulz, der den Plan zu diesem Hause entworfen
hatte, später manche Veränderungen gefallen lassen, um hier noch
die Blinden- und Taubstummenschule unterzubringen, so dass wir
jetzt allerdings keine instructive Vorstellung eines Normalfröbel-
hauses mit all* seinen für nothwendig erachteten Räumen erhalten,
sogar durch die jetzige Eintheilung leicht, wenn die stets bereit¬
willig ertheilte Unterweisung versäumt wird, zu einer falschen Vor¬
stellung gelangen.“ Es existiren bereits in Russland: in St. Petersburg
und Moskau, Fröbelschulen und beide waren durch ihre Arbeiten, oder
vielmehr durch die Arbeiten der dort beschäftigt gewesenen Kinder
auf der Ausstellung vertreten. In diesem Augenblicke wird in Russ¬
land ziemlich starke Propaganda in Betreff der vielseitigen Errichtung
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Fröberscher Kinderschulen (Kindergärten) oder Spielschulen,
wie man sie in der Regel nennt, gemacht (in St. Petersburg exi-
stirt seit vorigem Jahre ein Fröbel-Verein) und deshalb war auch das
Moskauer Fröbelhaus (d. h. auf der Ausstellung) Gegenstand eines
sich dokumentirenden allgemeinen Interesses. Die Lehrmittel
für Blinde und Taubstumme waren in reichen Collectionea vertreten,
so wie auch die von Blinden und Taubstummen angefertigten Hand¬
arbeiten. Die obengenannte „Deutsche Moskauer Zeitung“ giebt die
Zahl der in Russland lebenden Blinden auf 46,000 an, von denen
jedoch nur einige Hundert in den heimathlichen Anstalten Unterricht
und Pf^pge finden. Dem Moskauer Oberpastor Dickhoff gebührt’
da# Verdienst, durch aufopfernde und rastlose Thätigkeit die oben
erwähnten Collectionea von Lehrmitteln zusammengebracht und ein
allgemeineres Interesse für das Blindenwesen angeregt zu haben.
Iift 2. Kremlgartcn unter Nr. 47 finden wir ein Gebäude, welches
die Normaldorf schule darstellt. Nebst der Wohnung für den Schul¬
lehrer — 2 Zimmern, 1 Küche — enthält es eine helle geräumige
Schulstube, deren Wände mit Karten, Bildern für den Anschauungs¬
unterricht, näturhistorischen Abbildungen etc. behängen sind. Oas
Lokal ist für den Besuch von 45 Schülern eingerichtet und vor¬
sorglich mit allen pädagogischen Hülfsmitteln versehen. Es wäre
nur zu wünschen, dass in Russland nicht blos auf der Ausstellung, son- *
dern auch in Wirklichkeit recht viele derartig eingerichtete Volks¬
schulen angetroffen werden möchten und dass auch das Lehrer-
personal und die Schülerzahl diesen Einrichtungen entsprächen. Ob¬
gleich nach dieser Richtung hin Vieles .geschieht, so bleibt das Ge¬
schehene hinter dem Bedürfnisse doch noch weit zurück.
Wir müssen wieder in den 1. Kremlgarten zurückkehren, weil
sich der übrige Theil der pädagogischen Ausstellung in der gros¬
sen Manege und einem Anbaue derselben (Nr. 12) befindet. Be¬
treten wir diesen letzteren, so begegnen wir zunächst einer zwei -
clässigen städtischen Normalschule und dem Inventar eines Gymna¬
siums, das sich besonders durch eine hübsche Collection mathema¬
tischer und physikalischer Instrumente und Apparate von F. Schwade
in Moskau auszeichnet. Hier finden sich auch in einem grossem
und zwei kleinern Zimmern die verschiedenen Lehrmittel der russi¬
schen Volksschule in einer sehr vollständigen Zusammenstellung von
Herrn Szimaschko in St. Petersburg ausgestellt. Besonders reichhal¬
tig erweist sich die mathematisch*; und naturhistorische Ab¬
theilung.
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»3
Wir betreten jetzt vom Anbaue aus die Gallerie der Manege und
begegnen hier zunächst den ausländischen Expositionen pädagogi¬
scher Hülfsmittel. Den Anfang macht die schwedische Volksschule,
welche mit allem Nöthigen, aber auch mit nichts Ueberflüssigem
ausgestattet wird, und die mit nordischer Kaltblütigkeit das unter
allen Umständen Erreichbare festzuhalten sucht Von den deut¬
schen Bildungsanstalten sind es besonders die Würtembergischen , .
welche reich und in hervorragender Weise vertreten sind, weshalb
auch diese Abtheilung eine allgemeine Anerkennung und Würdigung
gefunden hat. In Folge besonderer Aufforderung des Kaiserlich Russi¬
schen Ministers der Volksaufklärung hat der Würtembergische Unter¬
richtsminister eine Repräsentation sämmtlicher Zweige des öffent¬
lichen Unterrichtes auf der Ausstellung angeordne't u\\d daher fin¬
den wir denn auch die Stuttgarter Töchterschule, das Polytechni-
cum und die Baugewerbcschule, die Kaufmännische Bildungsschule,
die Gewerbe-Fortbildungsschule, die Volksschule und die gelehrte •
.Realschule auf derselben vertreten. Es bietet sich uns hier ein sehr
reiches und beachtenswerfhes Material, dessen Studium für*den Pä-
dagogen von höchster Wichtigkeit ist. Namentlich . das Volks,
schulfach hat würdige Vertretung gefunden. — Zu den deutschen
Lehrmitteln müssen auch die Karten und Atlanten des Geographi¬
schen Instituts zu Weimar gezählt werden, deren Bedeutung schon
längst anerkannt ist. 'Aus England sind zunächst astronomische
Karten und naturhistorische Abbildungen in schönem Farbendruck
eingesandt worden, so wie andere Schulmittel, welche aber nichts
Characteristisches bieten. Auch einige Fabrikanten und Händler
haben die sich bietende Gelegenheit benutzt, um ihre Erzeugnisse und
in das Schulfach schlagende Waaren in weiteren Kreisen bekannt
zu machen.
. yon Specialschulen waren auf der polytechnischen Ausstellung
und zwar im gleichen Ausstellungsräume vertreten, zunächst die
Kaiserlich technische Schule in Moskau^ welche ihren ganzen Lehrgang
theila durch die Arbeiten derZöglinge, theils durch die Hülfsmittel und
Maschinen, welche diesen letzteren zur Verfügung stehen, versinn¬
licht hat. Wir sehen daher die Leistungen der Drechslerei, der
Tischlerei, der Schlosserei und der Schmiedearbeit und Giesserei,
in welchen Branchen die Zöglinge der Reihe nach unterrichtet wer¬
den, und die uns vorgeführten Arbeiten lassen die Leistungen die¬
ses trefflichen Instituts in einem äusserst günstigen Lichte erschei¬
nen. Der Verkaufswerth der von dieser Schule jährlich geliefer-
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ten Arbeiten beziffert sich auf ca. 40,000 Rbl. Von weit geringerer
Bedeutung erscheint dem gegenüber die practischc Abtheilung des
St. Petersburger technologischen Instituts, welche ebenfalls hier ihre
Vertretung gefunden hat. Die technische Alcxanderschule an Tschere-
poivez , sowie die Strogamnv sehe technische Zeichenschule zu Moskau
haben Zeichnungen verschiedener Art, letztere in trefflicher Ausfüh¬
rung und grosser Mannigfaltigkeit ausgestellt. Schliesslich erwähne
ich noch der Lehrmittel der Veterinär - und 7 hierarzneisc hule, welche
Herr Gubonin ausgestellt hat, und schliesse hiermit den pädagogischen
Theil der polytechnischen Ausstellung, welcher sehr reiches Mate¬
rial üncfrdadurch Gelegenheit zu den eingehendsten Studien bietet.
Der Turkestanischcn und Kaukasischen Abtheilung erwähne ich hier ^
nur vorübergehend, um nicht eine Lücke in dem Gesammtbilde zu
lassen, das ich von der Moskauer polytechnischen Ausstellung zu
geben beabsichtige. Diese Abtheilungen erscheinen aber wichtig
• genug, um später nochmals im Detail auf dieselben zurückzukommen,
da sie wesentliche Anhaltspunkte inBetrcff derCultur- undProductions-»
Verhältnisse dieser asiatischen Länder bieten, die erst seit verhältniss-
mässig so kurzer Zeit dem russischen Reiche einverleibt worden sind.
Der Kaukasus ist in all seinen Thcilen schon ziemlich bekannt und
man weiss die reichen Naturproductc, welche er birgt, gebührend
zu schätzen. Mit Turkestan dagegen ist 6s anders, dieses grosse
Land ist nur erst wenig erforscht, und daher ist Alles, was geeignet
ist, über dasselbe Aufschluss zu geben, von hohem Interesse, und muss
mit Eifer gesammelt und benutzt werden. Die 7 nrkestanische Ab¬
theilung auf der polytechnischen Ausstellung bietet in Betreff der
Culturverhältnisse dieses Landes weit mehr Anhaltspunkte als z. B.
die Turkestanische Abtheilung der letzten grossen St. Petersburger
Manufacturausstellung, wie; denn auch das ganze Arrangement mit
Sorgfalt und unter Anwendung nicht unbedeutender pecuniärer
Mittel getroffen worden ist. Schon das Aüsstellungsgebäude (No. 25)
deutet darauf hin, dass das Comite. bestrebt war, den Beschauer
mitten in das Land zu versetzen, dessen Naturproducte und Indu¬
strieerzeugnisse ihm in diesem Gebäude vorgeführt werden. Dieses
letztere stellt nämlich mit nur geringfügigen Abweichungen die Ko¬
ranschule Schirdar in Samarkand dar, deren Entstehung in’s 17.
Jahrhundert zurückreicht und welche eines der schönsten und best¬
erhaltenen Baudenkmäler dieses Landes ist. Ueber das, was ’das
Innere bietet, werde ich, wie gesagt, in einem späteren Artikel aus¬
führlich berichten, und kann mich daher jetzt der Kaukasischen Ab -
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thcilung zuwenden, welche man auffallenderweise und wohl wegen
Mangels eines besonderen Gebäudes in die grosse technische Cen-
tralabthfcilong verwiesen hat, wohin sie meiner Ansicht nach am we¬
nigsten gehört. Diese Abtheilung liegt ebenfalls noch im ersten
Kremlgarten, der turkestanischen Abtheilung schräg gegenüber.
War dem Arrangement dieser letzteren ein besonderes Lob zu
spenden, so ist im Gegensätze hierzu, was das Arrangement anbe¬
langt, der Kaukasus ziemlich stiefmütterlich behandelt worden; auch
wollte es mir scheinen, als wären wir auf der letzten St. Petersburger
Manufacturausstellung nicht nur einer weit systematischer geordne¬
ten, sondern auch vollständigeren Sammlung kaukasischer Natur-,
Industrie- und Kunstproductc begegnet. Trotz dem werde ich
auch auf diese Abtheilung nochmals detaillirtcr zurückkommen, und
etwaige Lücken der heutigen Ausstellung durch Bezugnahme auf
die letzte St. Petersburger. Manufacturausstellung ausfüllen.
Da wir nun schon einmal die technische Centralabtheilung betreten
haben und ohnedem veranlasst sind, jetzt in das eigentliche Ge¬
biet der Industrie überzutreten, so sei es uns gestattet, an dieser
Stelle sogleich eine kurze Beschreibung der in Rede stehenden
Abtheilung folgen zu lassen. In derselben sind Industrieerzeugnisse
aufgenommen, welche mit Ausnahme der Nähmaschinen, die hier
ihren Platz finden, niejit in das Maschinenfach und auch nicht
in das Manufacturfach, denen beiden besondere Räume ange¬
wiesen sind, gehören. Es herrscht daher hier ein ziemlich bun¬
tes ‘Durcheinander. Wir bemerken englische Stärke, die
nicht gekocht zu werden braucht, und neben amerikanischem Ce-
ment zum Kitten von Porzellan und Glas, böhmische, sächsische,
schwedische Glaswaare und Krystallgläser, denen sich auch
eine russische Fabrik, die bekannte Malzend sehe, zugesellt
hat. Diese geringe russische Betheiligung muss um so mehr
auffallen, als die Glasindustrie Russlands zu den vollständig selbst¬
ständigen Industriezweigen zählt, und schon recht anerkennenswerthe
Leistungen aufzuweisen hat. Russische Porzellane und Fayence da¬
gegen waren durch die Kus?ijezow sc\\e. Fabrik in einem ausgewähl¬
ten und recht hübschen Sortiment vertreten, während sich wiederum
die ausländischen Industriellen dieser Branoi^, mit Ausnahme eines
schwedischen, sehr zurückhaltend gezeigt hatten. Nach der Besich-
tigung der russischen, wiener und Stockholmer Streichhölzchen ge¬
langen wir dann in den Bereich von londoner und wiener Hutfabri-
canten, denen sich eine nicht unbedeutende Anzahl in- untf ausländi?
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scher Papier- und Pappfabricanten anschliesst, in deren Reihe wir
auch einem sächsischen Fabricanten von Papierwäsche begegnen-
Dann folgen Nahrungsmittel: die berühmte Erbswurst* Wurzener
Grützen und Graupen, Liebig’scher Fleischextract, condensirte Milch
und andere Conserven, ungarische, deutsche Natur--und Kunstweine
und deutsche, galizische, namentlich aber russische Branntweine und
Liqueure. Den Schluss dieser Abtheilung * bilden, ausser mannig¬
faltigen Bleistiftfabricaten, Farbewaaren und Lacken verschiede¬
ner Art, Tinten und Chemikalien; letztere auch in sehr gelungener
Weise von russischen Fabricanten ausgestellt. Im Ganzen aber
wird diese umfangreiche Abtheilung vorzugsweise von ausländischen
Fabricaten eingenommen, so dass sich von ihr aus ein Schluss auf
die russischen Industrieverhältnisse nicht ziehen lässt. Die Abthei¬
lung für Nähmaschinen war reich besetzt, doch sehen wir hier
fast ausschliesslich nur die bekannten Systeme und Fabriken. Von
Interesse dürfte jedoch noch sein, dass auch eine russische Fabrik,
die von Tschikoljew & Co. in Moskau, angefangen hat, sehr brauch¬
bare, vielseitig verwendbare und dabei verhältnissmässig billige Näh¬
maschinen (complett für 45—60 Rbl.) zu liefern, eine Erscheinung,
die bei der grossen Concurrenz der berühmtesten ausländischen
Nähmaschinenfabriken in Russland beachtenswerth genug ist, indem
sich das Preisverhältniss unter allen Umständen günstig für das rus¬
sische Fabricat stellt, da die ausländischen Nähmaschinen auch heute
noch in Russland mit 60—100 Rbl. bezahlt werden. Bemerkt sei
noch, dass die Tschikoljew’schen Maschinen im Ganzen accurat und
sorgfältig gearbeitet sind, leicht gehen und dabei dieselben verschie¬
denen Nähte arbeiten, wie die ausländischen Maschinen.
Di e Flachs-, Hanf-, Jute -, Baumwollen -, Wollen - und Seidenindustrie
findet sich in dem schönen und grossen Pavillon No. 15 für dxzManufac-
turabtheilung vertreten. Das Arrangement dieser Abtheilung ist ganz
derSache angemessen und würdig, und die meisten Aussteller haben
ihre Fabricate in hübsch ausgestatteten Vitrinen ausgestellt, so dass
der eleganten äussern Form und Ausstattung des ganzen Pavillons
auch die innere Einrichtung entspricht. Obgleich eine nicht ganz
unbedeutende Anzahl russischer Fabricanten diese Abtheilung der
verschiedenen hier genanten Industriezweige beschickt hatten, und
denselben auch unbedingt die besten Plätze angewiesen w^-en,
demnach die ausländischen Aussteller, wie es scheint etwas absicht¬
lich, in den Hintergrund, wenigstens in die Nebenschiffe verwiesen
worden waren, so würde man doch fehlen, wollte man annehmen,
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dass das russische Manufacturvvesen, dessen Sitz doch in erster
Linie Moskau ist, auf der Ausstellung seiner Bedeutung entsprechend
vertreten sei. Sehen wir vom Mittelraum des Pavillons ab, der,
wie gesagt, fast ausschliesslich russischen Fabricanten eingeräumt
worden war, so überwiegen doch die ausländischen Aussteller sowohl
in qualitativer als quantitativer Beziehung sehr bedeutend. Die
russische Industrie hatte ihre ersten Matadore ins Feld rücken
lassen, oder vielmehr diese letzteren waren für die erstere frei¬
willig in’s Feld gerückt. Die russische Flachsindustrie, Leinwand-
und Damastweberei sind durch die Fabriken von /. D. Sidorow ,
Jacob Gribanazv Sohne (Ustjug Welika) und durch die neue
Kostroma'sc he Leincnmanufactnr, die Hanfindustrie (Taue) durch
N, M. Shurenvljew , die Wollweberei durch Gebrüder Bahntch in Lodz
und Rabianitz , die Tuchfabrfcation durch A. G. Wycozki und W.
Jokisch & Söhne und' Moes, sämmtlich in sehr entsprechenderWeise
vertreten. Aus der in Russland so auffallend hoch entwickelten
Branche der Baumwollenindustrie begegnen wir den hier hoch
geachteten Namen eines Sawwa Morosow (Nikolsker Fabrik )*. Baum-
wollenfabricate aller Axt Garne, Mitkal, gedruckte und gewebte
Stoffe; W. E. Morosow. Baumwollenstoffe verschiedener Art, Sam¬
met, Mitkal etc.; A. A. Korospelow: Mitkal und Sammet (Plüsch);
J. N. Simin , Ludwig Rabenek: Türkischrothfärberei, Emil Ziin -
del und Albert Hübner: Zitze. — Gedruckte Wollentücher hatten
Gebrüder Steffko in grosser Mannigfaltigkeit ausgestellt. Als jus-
ische Aussteller für die Seidenbranche waren vertreten: S? Sub-
kow: Kleiderstoffe, /. S. Solowjew: Atlas, Sammet, gemusterte Sei¬
denstoffe, Gebrüder Kondraschew : schwere Seiden- und Möbelstoffe,
und endlich A. & W. Ssaposcknikoiv mit ihren selbst über die Gren¬
zen Russlands hinaus berühmten Brocaten. Fast sämmtliche Aus¬
steller waren Moskauer. Die ausgestellten Fabricate lassen aller¬
dings fast Nichts zu wünschen übrig, wie verschwindend klein er¬
scheint aber die Zahl der Aussteller selbst, wenn man bedenkt,
dass Russland
111 Flachsspinnereien und Leinwandwebereien,
139 Hanfspinnereien und Taufabriken,
635 Wollspinnereien, Webereien und Tuchfabriken,
759 Baumwollspinnereien, Webereien und Zitzfabriken und .
* 81 Seidenstofffabriken
besitzt Jutefabricate hatte nur England gestellt, dagegen hatten
sich Deutschland und Oesterreich namentlich mit Tuchen und WoL
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lenstoffen stark betheiligt. Auch die schönen sächsischen und
österreichischen Damaste und Leinwänden verdienen Erwähnung,
ebenso die Dannenberg sehe und Wolf sehe (Nathan Wolf & Sohn)
Kattundruckerei in Berlin, die vortrefflichen Gobelins von Jid.
Schmidt in Elberfeld, und von W. Sodom & Sohn in Wien, die
treffliche Maschinenstickerei von Emil Kloss in Kappel bei Chemnitz
unef vieles Andere. Die Zahl der ausländischen Aussteller in dieser
Abtheilung war eine ungleich bedeutendere wie die der russischen,
und wollte ich Alle namhaft machen, die es ihrer.Leistungen wegen
verdienen, ich müsste den mir reservirten Raum weit überschreiten.
Der interessanteste Theil der ganzen Ausstellung, und gewisser-
maassen deren Centralpunkt, ist die grosse Manege selbst, schon des¬
halb, weil sich in ihr die der Ausstellung zu Grunde liegende Idee am
klarsten veranschaulicht. Diese Reitbahn gehört zu den grössten Ge¬
bäuden Moskaus und ihr weiter innerer Raum gestattet es, nicht nur
eine grosse Anzahl von Maschinen aller Art aufzustellen, sondern
auch in Betrieb zu setzen. So sehen wir denn auch hier eine grosse
Auswahl namentlich von industriellen und Werkzeugmaschinen
durch ein geschickt angelegtes System von Transmissionen in Be¬
wegung gesetzt, sind im Stande ihre Leistungen zu beurtheilen und
werden durch diese so recht in das eigentliche Gebiet der Industrie
mit ihren verschiedenen Apparaten und Hülfsmitteln eingeführt. Hat
die polytechnische Ausstellung den Zweck, ‘ das Publikum mit der
Fabrication industrieller Producte bekannt zu machen; so muss man
wohl sagen, dass dieser Zweck durch das, was uns in der Manege
geboten wird, auch am Vollständigsten erreicht wird. Hier ist den
Ausstellern Gelegenheit geboten worden, dem Publicum zu zeigen,
was sie von ihren Leistungen der Oeffejitlichkeit preisgeben wollen;
hier ist es den Maschinenfabricanten gestattet, ihre verschiedenen
Maschinen in Betrieb zu setzen und das Publikum mit den Leistun¬
gen derselben bekannt zu machen. Viele haben davon einen recht
umfassenden Gebrauch gemacht, viele haben es aber auch hier vor¬
gezogen, die sich ihnen bietende Gelegenheit unbenutzt zu lassen.
Ausser den erwähnten Leistungen der Grossindustrie, welche mitZu-
hülfenahmb von Dampfkraft und complicirten Arbeitsmaschinen
ihre Production liefert, gewahren wir aber auch noch einen zahl¬
reichen Handbetrieb, wie solcher in vielen russischen Industrie¬
zweigen an der Tagesordnung ist; wir finden hier das sogenanftte
Kleingewerbe, für welches die Mechanik noch nicht durch leistungs¬
fähige Arbeitsmaschinen gesorgt hat, wir sehen selbst die einfachen
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Handgewerbe, die Drechslerei in ihren verschiedenen Branchen, die
Buchbinderei, die Putzmacherei, die Lederzurichtung, überhaupt
eine ganze Reihe von fabriks- und handwerksmässig betriebenen Ge¬
werben, jedoch mit Ausschluss jederFeuerarbeit, die sich ja ohnedem
aus naheliegenden Gründen bei solchen Gelegenheiten-verbietet;
zwar ist auch letztere vertreten, wenn auch nur in einer kleinen vor
der Manege angebrachten Militairschmiede.
In der heutigen Generalübersicht der Moskauer polytechnischen
Ausstellung kann ich selbstverständlich nicht auf alle Einzelheiten
eingehen. An den eigentlich industriellen Productionen, d. h. an der
Herstellung des Fabricates vor plfcn Augen des Publieums, haben
sich, wie es in der Natur der Sache liegt, vorzugsweise nur russische
Industrielle betheiligt, wenn auch die Maschinen, deren sich Einzelne
derselben bedienten, ausländischen Ursprungs sind, wie dies z. B.
bei den Baumwollspinnmaschinen der Fall ist, die in der Ausstellung
die Rohbaumwolle zu Garn verarbeite. . Um meinen Bericht jedoch
nicht gar zu lückenhaft abzufassen, will ich die Hauptgewerbszwcige
hier anführen, die in der Manege vertreten waren und welche durch
practische Arbeiten den Entstehungsprozess ihrer Fabricate dem
Publicum vorlegten. Der Handbetrieb herrscht, wie gesagt, hier
grossen Theils vor und gebe ich nur eine ganz summarische Ueber-
sicht, die keineswegs auf Vollständigkeit vollen Anspruch machen
kann, um so weniger, als viele Industrielle, durch räumliche und
andere Verhältnisse gezwungen, nur im Stande sind, die Herstel¬
lung einzelner Theile ihrer Fabricate dem Publicum zu zeigen.
Wir begegnen der Cigarren- und Papierfabrication, der Erzeugung
kohlensaurer Wasser, der Handdruckerei von vielfarbigen Wollen¬
tüchern, der Seidenstoff- (Fai-) Weberei (Gebrüd. Kondraschew,
Moskau),derTeppichweberei(GebrüderProtopopow), Schirmmacherei,
Fabrication gebogener Möbel, Drechslerei, Glasschleiferei, Töpferei
und Fayencefabrication (Gardener), Näherei und Putzmacherei,
Buchbinderei, Mützenmacherei, Lederzurichtung und schliesslich
der Juwelierkunst, welche abweichend von, den bisher genannten
practischen Betrieben durch eine grössere Anzahl bedeutender
Industrieller vertreten ist, die auch den Beschauern in einem
grösseren Maassstabe und in vollem Detail alle jene Manipulationen
zeigen, welche vorgenommen werden müssen, um Schmuckgegen¬
stände verschiedenster Art, vom einfachen Ringe an bis zum von
Brillanten strotzendem Diadem herzustellen. Mit dieser sachlichen
Darstellung ist aber auch gleichzeitig in sehr practischer Weise der
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Verkauf von Juwelen- und Goldschmuck verbunden und, wie es scheint,
machen die Herren Fulda, Nemirow-Kolodkin, Krumbügel, Chleb-
nikow u. And. auf der Ausstellung recht gute Geschäfte.
Von weit mehr Interesse, als die vorerwähnten Ausstellungsob¬
jecte, sind die eigentlichen grossen Kraft- und Arbeitsmaschinen,
welche in der Manege und deren nächster Umgebung in reicher
Fülle aufgestellt, und, wie gesagt, zum Theil in Thätigkeit gesetzt
sind. Hier nimmt das russische Fabricat, wie vorauszusehen war,
kaum einen wesentlichen Antheil und verschwindet unter der Fülle
der von auswärts hierher gesandten trefflichen Fabricate. Unter den
grossen Kraft- und Industriemäßig nen dominiren die englischen,
unter den sogenannten Werkzeugmaschinen uncj den kleineren
Hülfsmaschinen die deutschen Erzeugnisse.
Von Dampfkesseln und Dampfmaschinen, unter unseren heutigen
Culturverhältnissen als die eigentlichen Krafterzeuger die wichtigsten
Maschinen, sind hervorzuhehen: ein neuer Sicherheitsdampfkessel
von J. B. Howards & Sohn in Manchester, der die strengsten Kraft¬
proben glücklich überstanden hat; die horizontalen Dampfmaschinen
(Corlisspatent)vonHickHargreavs & Co. in Bolton, von der Buckauer
Maschinenfabrik bei Magdeburg und der Wilhelmshütte Sprottau.
Der Ausstellungscatalog weist 22 Aussteller für diese Branche aus,
darunter auch solche, die nur Modelle ausgestellt haben. Unter
diesen Ausstellern finden sich nur 5 russische Namen, und zwar die/
Herren Schipow, Nikolski, Kusnezow, Kolotow und Wetschinkin.
Wenden wir uns den grossen Industriemaschinen zu, so finden
wir die Schlag-, Karden-, Strick-, Spinn- und Webmaschinen (für die
Baumwollenmanufactur) von Platt Brothers in Manchester, unter
denen sich auch ein dreifarbiger Webstuhl (drop-bot loom) neuester
Construction befindet; ferner eine treffliche Spinnmaschine (Mulle)
von Curtis, Parr & Madeley in Manchester, deren Aussteller S. Mo-
rosow Sohn & Co. ist, welche letztere auch zwei Webstühle für
Halbwollen-Tricot und Baumwollen-Sammet ihrer eigenen Fabrik
ausgestellt hatten. Für Zitzdruckerei findet sich eine beachtenswerthe
Maschine von Mather & Platt in Manchester vor, und von den aus¬
gestellten Webstühlen werden die von R. Illingworth (Manchester
und Moskau) für Brillantine und ein Chek-Gingham-Webstuhl als
besonders beachtenswerth hervorgehoben. Von Maschinen, welche
der Wollindustrie dienen, sind zu nennen: eine aus 3 verschiedenen
zusammenhängenden Maschinen bestehende Wollgarn- und Krem¬
pelmaschine für Streichgarn von Curtis, Parr & Madeley in Man-
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ehester; eine ähnliche Maschine, wenn auch anderer Construction
genannt Selfactor, ist die von Gebrüder Netnkow in Moskau, die
das Kämmen und Spinnen der Wolle in sich vereinigt und die, ob¬
gleich der Vervollkommnung noch sehr bedürftig, doch immerhin
beachtenswerth ist. Tuchwebstühle hatten ausgestellt A. Schön¬
herr, Chemnitz, die sächs. Maschinenfabrik, ebendaselbst, und Möh-
ring & Co, in Berlin, dessen mechanischer Webstuhl, System Brach,
als eines der besten auf der ganzen Ausstellung befindlichen Er¬
zeugnisse gerühmt wird. Von den, der Seidenindustrie dienenden
Maschinen ist eine Collection von Greenwood Battley & Co., Leads,
zu nennen, bestimmt, aus fehlerhaften Cocons noch eine schöne
Seide zu gewinnen, und wird deren«grosse lucrative Wirksamkeit
hervorgehpben, indem das Pfund des zu verarbeitenden Rohma¬
terials nur i Rubel, die Bearbeitungskosten aber nur 75 Kop. zu
stehen kommen sollen, während das Fabricat, die gesponnene Seide,
einen doch 'ungleich und vielfach höheren Werth hat. Es würde
mich zu weit fuhren, wollte ich alle Maschinen von Bedeutung nam¬
haft machen, welche sich in dieser Abtheilung befinden; ich will nur
erwähnen, dass sich Deutschland in höchst vortheilhafter Weise
namentlich in Werkzeugmaschinen ausgezeichnet hat, dass auch
Schweden mit einer kleinen aber gediegenen Collection (Blatt- und
Kreissägen, Raspeln und Feilen, Guillochirmaschinen etc.) vertreten
ist und will schliesslich, bevor ich zu einer anderen Abtheilung über- •
gehe, noch einige russische Firmen nennen, die sich durch ihre Ausstel¬
lungsobjecte bemerkbar .gemacht haben: Die Herren Jachnenko &
Simirenko (Gorodistschensky-Maschinenfabrik) horizontale Dampf¬
maschine mit Luftpumpe zum Evacuiren der Verdampfungsräume
in Zuckersiedereien; Centrifugal-Apparat zum Klären des Zucker¬
saftes. Lilpop, Rauh & Co. in Warschau undM. Walkowin Kijew Va-
cuummaschinen. Sobolew & Sohn, und Apraxin, beide in Moskau,
Branntweindestillir- und Brennap*pärate. W. N. Tenischew, Moskau,
eine Sägemaschine grosser Dimension mit 22 Sägen von ungewöhn¬
licher Leistungsfähigkeit. Froom & Co., Moskau, Metallhobelma^
schine. Tschikolow & Co. Werkzeugmaschine. Gebrüder Buch, St.
Petersburg, Schraubenmaschine und Koltschin, Moskau, DrahUtift-
maschine. Ob die drei letztgenannten Maschinen wirklich russische
Maschinen sind, oder nur russische Aussteller haben, ist nicht an¬
geführt.
Der Ausstellungscatalog weist für diese Abtheilung 374 Aus¬
steller auf, doch hat sich nachträglich die 2ahl derselben noch weit
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höher herausgestellt, da sich selbst erst nach der Eröffnung der
Ausstellung noch eine nicht unbedeutende Anzahl von Ausstellern
eingefunden hat.
Bevor wir den ersten Kremlgarten verlassen, liegt uns noch ob,
einen Blick in einige kleinere Pavillons zu werfen, welche’wir bisher
noch nicht berührten. Der Manege zunächst begegnen wir der Ex¬
position der Herren Froom & Co. (Moskau und St. Petersburg) von
Maschinen, namentlich Sägen verschiedener Art, welche zur Holz¬
bearbeitung dienen; mehr Interesse bieten noch zwei Pavillons (Re¬
misen) mit englischen, russischen, pariser und wiener Equipagen»
von welchen besonders die ersteren und die letzteren (Jakob Löhner &
Co., Wien, Binder, Paris) sehr gefielen. Die Fabrication von
Schmuckgegenständen und Gold- und Silberarbeiten, letztere im
Moskauer und im kirchlichen Style, zeigen die Herren Tschitschelew,
Postnikow und Owtschinikow in besondern, auf ihre Kosten recht
geschmackvoll erbauten Pavillons. In der Fabrication' von Silber
waaren, namentlich auch in getriebener Arbeit, hat es Moskau Von
Alters her sehr weit gebracht, und ist dieser Industriezweig, unter¬
stützt durch die schwerwiegende Kundschaft des Landesklerus, wohl
in wenig Städten dermaassen entwickelt, wie in Moskau. Es giebt
hier Fabriken dieser Branche, wie z. B. die bekannte Fabric W. J.
Ssasikow (welcher, nebenbei gesagt, die Moskauer Ausstellung, so
viel mir bekannt, nicht beschickt hatte), welche in derartigen Fa-
bricaten einen jährlichen Umsatz von gegen 800,000 Rbl. machen.
Besonderes Interesse in dieser Beziehung bietet die Ausstellung von
P. A. Owtschinikow, da dieselbe mit dem ganzen Mechanismus der
Fabrication in ziemlich übersichtlicher Weise bekannt macht.
Auch die Fabrication von kosmetischen Waaren, * Toilettseifen,
Parfümerien etc. hatte ihre Vertretung in dem Pavillon von Bouis &
Comp, in Moskau gefunden, unS muss auch von diesem Industrie¬
zweige bemerkt werden, dass er Sich in dieser Stadt ziemlich ent¬
wickelt hat. Es giebt hier sehr bedeutende Fabriken, welche ihren
jährlichen Umsatz nach Hunderttausenden vonRubeln zählen. Moskau
ist namentlich zum Sitze der Eierseifenfabrication geworden, welche
z. B..die unter der Firma Ralle bekannte Fabrik in einem gross¬
artigen Verhältnisse betreibt. Eine ähnliche Bewandtniss hat es mit
der Confect- und Chocoladenfabrication, welcher auf der Ausstellung
der Pavillon des Hertri N. J. Kazaraki eingeräumt war. Auch in
dieser Branche giebt es in Moskau *Fabricen, deren jährlicher
Umsatz sich nach Hunderttausenden Von Rubeln berechnen lässt
*
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93
so die oben genannte, die ‘Chocoladen- und Confectfabrik von
Einem und A. Die günstige Lage Moskaus zu den innern Gouver¬
nements Russlands, die nachhaltige Vermehrung der Eisenbahnver¬
bindungen, für welche Moskau immer einer der wichtigsten Knoten¬
punkte bleibt, und der steigende Wohlstand des Landes sind stich¬
haltige Erklärungsgninde für die stetig wachsende industrielle Be¬
deutung Moskaus, das sich bereits zum Centrum des russischen
Manufacturwesens emporgeschwungen hat.
Noch ist eines Pavillon^ zu gedenken,, der von hohem Interesse
und von hoher culturhistorischer Bedeutung sein könnte, wenn er
das hielte, was er verspräche, der Pavillon nämlich, in welchem die
häusliche und genossenschaftliche Industrie Russlands ihre Vertretung
finden sollte. Abgesehen davon, dass sich in diesem Pavillon viele •
Ausstellungsgegenstände befinden, welche unbedingt nicht in die
Classe der sogenannten häuslichen Industrie gehören, indem sie un,
verkennbare Merkgiale an sich tragen, dass sie das Product eines-
und zwar recht entwickelten Fabrikbetriebes sind, z. B. die von den
Herren Pesterow, Marugin und Prodow ausgestellten sogenannten #
Jaroslawschen Leinwandfabricate,SchuwalowscheLederfabricate etc.,
so vermissen wir andererseits'wichtige Erzeugnisse der häuslichen
Industrie Russlands, einer Industrie, die sich »in keinem Lande so
herausgebildet hat, wie gerade hier. Bei der Entwickelung der rus¬
sischen Culturverhältnissc, die nur eine langsame Einbürgerung des
europäischen Industriewesens gestatteteft, musste die häusliche In¬
dustrie einen grossen Theil jener Bedürfnisse decken, die für das
russische 'Volk unentbehrlich waren. Wie in den meisten wirt¬
schaftlich wenig vorgeschrittenen Ländern waren in vielen Gegenden
Russlands, namentlich in solchen, die von den grossen Verkehrs¬
strassen entfernt lagen, .die Bewohner angewiesen, den grössten
Theil ihrer Bedürfnisse durch Selbstproduction zu befriedigen. Fand die
häusliche Industrie in diesen Verhältnissen ihre Begründung, so war
es wiederum der russische Volkscharacter, der in so ausgesprochener
Weise, wie die Institution des ganzen russischen Artelwesens be¬
kundet, der Association zuneigt, der sie ihre weitere Entwickelung
zu danken hat. Zuerst vereinigten sich einzelne, gfösstentheils mit
einander verwandte Familien zum gemeinsamen Betriebe gewisser
Gewerbe, später dehnte sich diese Association auf andere Fami¬
lien aus, bis sie ganze Dörfer und Ortschaften umfasste, ohne
selbst hier noch ihre Grenzen zu finden. Es entstanden fh Russ.
land, und zwar noch in einer Zeit, von welcher uns Jahrhunderte
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94
• f
trennen, Gemeindeindustrien, eine* Art Genossenschaften, welche
unseren modernen Productivgenossenschaften als Vorbild hätten
dienen können, wenn sie von den westeuropäischen Volkswirthen
wären gekannt und gewürdigt worden. Was. im Westen Europas das
Resultat volkswirtschaftlicher Studien war, was hier gewisser-
maassen als Regulator des überhandnehmenden Einflusses des (ka¬
pitales geschafft wurde, das bestand längst in Russland als Volks¬
institution und fand seine Verkörperung in der genossenschaftl¬
ichen Hausindustrie, von welcher fast jedes Gouvernement einzelne
und ihm eigne Branchen aufzuweisen hat.
Dass eine derartig entwickelte häusliche Industrie nicht nur für
den Volkswirt von hohem Interesse ist, sondern auch auf die Wohl¬
stands- und Industrieverhältnisse Russlands von maassgebendem Ein¬
fluss sein musste, wird wohl nicht bestritten werden können. Um
so mehr lag Veranlassung vor, dieselbe auf der polytechnischen Aus¬
stellung von Moskau in würdiger Weise und mit der ihrer Wichtig¬
keit angemessenen Specialität vertreten zu sehen. Es ist zu be-
# dauern, dass das Ausstellungscomite nicht in die Lage versetzt wor¬
den ist, diese Bedingung zu erfüllen. Wir begegnen zwar in dem
der häuslichen Industrie Russlands eingeräumten Pavillon vielfachen
häuslichen Erzeugnissen, wir vermissen aber unter denselben gerade
diejenigen, welche wirklich maassgebend auf die Entwickelung dieses
genossenschaftlichen Industriewesens waren, welche dasselbe zu
einer industriellen Macht Russlands erhoben haben und welche zu¬
gleich den Beweis liefern, dass das Genossenschaftswesen, wie es
sich in Russland entwickelt und ausgebildet hat, im Stande ist, Er¬
zeugnisse zu liefern, welche selbst unsern modernen Begriffen von
Industrieerzeugnissen und deren Eigenschaften nahe kommen. Da¬
gegen finden wir in jenem Theile der Ausstellung Erzeugnisse so
untergeordneter und primitiver Art, dass deren Besichtigung dem
mit den wirklichen Verhältnissen Unbekannten ein ganz falsches Bild
von der Bedeutung und Entwickelung der häuslichen Industrie
Russlands geben muss. Wenn man in jener Abtheilung die Filz¬
pantoffeln und andere primitive Fussbekleidungen betrachtet, so
kommt man sicherlich nicht auf den Gedanken, dass es in Russland,
und zwar in den verschiedensten Gegenden, ganze Dörfer, Ort¬
schaften, ja Kreise giebt, die grossentheils von der Schuhwerksfa-
brication leben, die so massenhafte* Erzeugnisse liefern, dass sie,
wie z. B. in Kymra, alle Wochen messenähnliche Jahrmärkte abhal¬
ten, auf welchen diese Fabricate im Werthe von vielen Tausenden
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95
von Rubeln verkauft werden, um in den Schuhmagazinen St. Peters¬
burgs, Moskaus und anderen Städten als permanenteVerkaufswaaren
ihren Platz zu finden. Das Twer’sche, Nowgorod’sche, Wladimir-
sche, Wjatka sehe, Jaroslaw’sche, Nishnij-Nowgorod’sche Gouverne¬
ment sind reich an Industriezweigen, welche als genossenschaftliche
und häusliche Industrien eine grosse Bedeutung erlangt haben und
die zum Ausgangspunkt eines äusserst lebhaften innern Verkehrs
geworden sind. Bis an die Grenzen Asiens dehnt sich dieses Indu¬
strieleben aus, das sich an den Ufern der Wolga und Kama mit
gleicher Intensität entwickelt hat, wie an denen der Oka und Twerza.
Es geschieht so Vieles, um über die Verhältnisse Russlands ein
klares Licht zu verbreiten, um dessen natürliche Hülfsquellen zu
erforschen und zu erweitern, es ist aber zu bedauern, dass sich diese
Forschung noch nicht auch auf die genossenschaftliche und häus¬
liche Industrie Russlands ausgedehnt, dass sich noch nicht der Mann
gefunden hat, der ohne Vorurtheil und mit Wohlwollen sich
einem Studium hingiebt, das nicht nur Aufschluss über die natür¬
liche Basis der russischen Industrie geben, sondern das selbst dem
Auslande practische Anhaltspunkte bieten müsste für seine Bestre¬
bungen in Betreff der Entwickelung der genossenschaftlichen Insti¬
tutionen. Was ich bei der genossenschaftlichen Industrie Russlands
besonders hochschätze und den russischenFabricanten zurNachahmung
empfehlen möchte, ist der richtige Tact, mit welchem die häusliche In
dustrie sich nur solcher Gewerbe bemächtigt hat, die in der massen¬
haften inländischen Erzeugung des Rohproductes ihre Basis fin¬
den und deren Berechtigung daher vollkommen unbestritten bleiben
muss. Es würde mit der russischen Industrie weit besser stehen
wenn die gleichen Grundsätze allenthalben Anwendung gefunden
hätten.
Es ist zu bedauern, dass das Moskauer Ausstellungscomite, das
doch im Ganzen eine so vielseitige und dankenswerthe Thäjtigkeit
entwickelt hat, nicht noch mehr Gewicht darauf gelegt, durch die
Ausstellung ein neues Licht über diese Verhältnisse zu verbreiten.
Das, was uns von häuslicher Industrie vorgeführt wird, ist niejit das
Rechte, und, was am meisten zu beklagen ist, es ist angethan, die *Be-
griffe eher zu verwirren als zu läutern. Man hat den genossenschaft¬
lichen Standpunkt dieser Industrie vernachlässigt, man hat uns den
Keim gezeigt, aber nicht die Frucht. Von Interesse sind die Lein-
wandfabricate des Jaroslaw’schen Gouvernements, die aber, wie ge¬
sagt, den Stempel an sich tragen, dass es einzelne grössere Händ-
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9 6
ler und Fabricanten sind, welche dort diesen Industriezweig beherr¬
schen; mehr Interesse bieten die Spitzen des Wjätka’schen, Wolog-
daschen undNishnij-NowgoroderGouvernements, die genetzten, ge¬
webten und geklöppelten Umschlagetücher des Orenburg’schen
Gouvernements, die Fabrication von bunt bemalten und laqkirten
Holzgeräthschaften, Schüsseln, Vasen, Sessel, Tischen etc. des Now-
gorod’schen Gouvernements etc. Diese Abtheilung hätte unbedingt
eine der interessantesten und bedeutungsvollsten der ganzen Aus¬
stellung sein können und wir müssen nur hoffen, dass sich recht bald
eine andere Gelegenheit bieten werde, um das in dieser Beziehung
Versäumte nachzuholen.
(Fortsetzung folgt.)
F. Matthäi.
Kleine Mittheilungen.
(Eisenbahnen.) Nach Mittheilungen des Eisenbahn-Departe¬
ments stellt sich die Uebersicht der Einnahmen im Monat April, so¬
wie das Ergebniss des Verkehrs auf den Russischen Bahnen in den
letzten vier Monaten des Jahres 1872 folgendermaassen heraus: Die
dem Betrieb übergebenen Linien hatten eine Länge von 12,903
Werst, von denen 194 auf Staatsbahnen kommen. Die Zahl der auf
russischen Bahnen im Monat April beförderten Reisenden betrug
1,872,388 gegen 1,426,029 desselben Monats im Jahre 1871^— und
im Güterverkehr 50,217,065 Pud Waaren gegen 57,031,672 dessel¬
ben Monats des vergangenen Jahres.
Die Gesammtsumme der Brutto-Einnahmen betrug 6,530,740 Ru¬
bel, wovon 36,276 Rbl. auf Staats- und der Rest auf Privatbahnen
entfallen; 'im April des Jahres 1871 betrugen diese Brutto-Einnah¬
men auf ersteren Bahnen 50,633 Rbl. und 6,293,568 Rbl. auf letzte¬
ren Bahnen, im Ganzen 6,344,201 Rbl.
Der Verkehr im Monat April ergiebt im Vergleich zu demselben
Monat des vorhergehenden Jahres eine Steigerung, und zwar für 18
Linien, wie folgt: Zarskoje-Sselo (17Vs pCt.), Warschau-Wien (6 3 /4
pCt.), Peterhofer ( 8 7 /g pCt.), Moskau-Jarosslawl (27V3 pCt.), War¬
schau-Bromberg (2 3 /4 pCt.), Lodsz (6 l /4pCt.), Rjäsan-Koslow (4pCt.),
Mockau-Kursk (6 9 /io pCt.), Koslow-Woronesh (27 7 * pCt.), Schuja-
Iwanowo (473 pCt.), Kursk-Kijew (16 pCt.), Riga-Mitau (12 */* pCt.),
Kursk-Charkow-Asow (30^6 pCt.), Tambow-Koslow (54 pCt.), No-
wotorshok (6 3 /* pCt), Rybinsk-Bologoje (52 1 /2 pCt.), Kijew-Brest
(34 5 /« pCt.) und endlich Baltische (56 3 /4 pCt.). Eine Verringerung
ergaben folgende 13 Bahnen: Jelissawetgrad-Kremcntschug (Staats¬
bahn, 37*/5 pCt), Zarskoje-Sselo (sVe pCt.), Nicolaibahn (iof's pCt.),
St- Petersburg-Warschau-Wirballen (2i 3 /s pCt.), Moskau-Nishnij
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97 ...
(4 s A pCt.), Riga-Dünaburg (46 5 /c pCt.), Wolga-Don (2iVspCt.),
Moskau-Rjäsan (2 4 /s pCt.), Odessa (7V2 pCt.), Dünaburg-Witebsk
(24V2 pCt.), Warschau-Terespol (2 s /4 pCt.), Orel-Grjäsi (1 5 9 /io pCt.),
Rjäshk-Morschansk (6 ö /io pCt.'), Orel-Witebsk ( 39 5 / 6 pCt.). 12 Bah¬
nen haben einen Vergleich nicht zugelassen, indem die Betriebs-Er¬
gebnisse derselben im Monat April nicht veröffentlicht waren.
Der Verkehr und die Brutto-Einnahmen auf allen Bahnen während
der vier ersten Monate des Jahres 1872 waren folgende:
Verkehr.
Brutto-Einnahmen .
Staatsbahnen:
Reisende.
Waaren.
Im Ganzen.
Rbl
pr. Werst.
Rbl. | K.
Jelissawetgrad-
Krementschug .
40,189
1,033,099
109,887
814 46
Liwny.
13-554
1,393,472
46,787
820 |82
Gesammtsumme
f. d.Staatsbahnen.
53.743
2,426,571
156,674
816
35
Privatbahnen:
Zarskoje-Sselo. .
168,370
140,934
71,677
2,867
IO
Warschau - Wien*
310,475
17,882,539
1,006,72 6
3,097 62
Nicolaibahn . . .
479.429
•29,976,899
4,981,438
8,247 41
Petersb.- War sch.
472,482
22,918,948
2 , 957,309
2,450
13
Peterhofer ....
208,546
1,077,776
18,572,164
113,868
2,189 76
Mosk.-Nishnij-N.
325.998
1,669,393
4 , 07 «
69
Riga - Dünaburg
92,453
5,346,259
423,189
2,074 46
Wolga-Don . . .
3.032
i ,47!,786
59,622
816
73
Moskau-Rjäsan .
299.701
23, io ' i ,668
1,809,182
7.445
20
Mosk. - Jarosslawl
295,386
11,044,346
74 J. 2 I 5
•2,685 56
Warsch. -Bromb.
87,614
4 , 733,949
238,265
1,726 56
Woron.-Rostow .
187,701
4 , 713,093
531,814
880 49
Odessa.
321,212
37,197
9,516,781
2,118,077
1,668,168
38,849
i ,445
i ,494
32
18
Lodsz.
Dünab. - Witebsk
98,413
6,733,802
563,401 •
2,309
2
Rjäsan-Koslow .
W arschau -T eres-
124,708
19,796,769
1,465,469
7,401
36
pol-Brest ....
88,644
2,825,429
301,125
I, 5 i 3
•4
Moskau-Kursk. .
417,753
19,040,320
2,500,603
4,981
28
Rjäshk- Morsch .
32,751
3,072,675
172,032
1,421
75
Koslow - Woron.
107,990
6,047,546
375,752
2,250
01
Orel-Grjäsi. . . .
84,482
6,284,725
450,020
1,590 118
Schuja-Iwanowo.
73,210
3,762,687
I 5 i, 3 i 3
869
61
Orel-Witebsk . .
124,079
12,080,189
1,198,622
2,456
19
Kursk-Kijew. . .
123,151
5 , 033,520
1,106,691
2 , 5*5
21
7
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9 8
Verkehr .
Brutto-Einnahmen.
•
Im Ganzen.
or. Werst.
Reisende.
Waaren.
1
.
Rbl.
Rbl.
K.
Riga-Mitau. . . .
81,918
586,845
57,576
M 7 6
31
Kursk - Charkow-
Asow.
298,251
7,251,915
1,521,841
1,994
55
Grjäsi-Zarizyn. .
62,996
4,822,490
410,757
657
21
T ambow -Koslow
57,966
5,487,563
183,999
2,705
87
Nowotorshok . .
21,435
760,086
24,653
770
41
Rybinsk-Bolog. .
73,367
5,595,490
444,089
1,586
03
Charkow-Krem..
117,285
2,465,805
386,066
i ,595
31
Tambow-Ssarat..
74,030
6,070,791
481,846
1,365
—
Ki j ew- Brest-Ber-
ditschew ....
130,596
3,975,608
534,750
1,923 56
Moskau-Brest . .
309,049
12,353,173
1,230,108
1,196 60
Baltische.
94,680
3,441,481
337,047
862
Ol
Skopin.
12,159
1,565,819
31,264
563 73
Nowgorod.
38,901
368,902
43,379
637 92
Poti-Tiflis ....
40,595
1,330,050
132,168
1,120
07
Li bau.
34,921
822,115
83,470
283
91
Jarosslawl - Wo-
logda.
20,228
73,742
i‘ 6,344
194
46
Konstantinow . .
2,779
102,563
5,224
256
94
Gesammtsumme
der Privatbahnen
6,035,933
294,367,319
30,520,327
2,413
47
Zusammen . .
6,090,676
296,793,890
30,667,001
W
U>
OO
VO
60
Von den 31 Linien, welche einen Vergleich mit den Ziffern der
vier ersten Monate des vergangenen Jahres zulassen, weisen sieben
eine Abnahme aus; es sind dies: Nicolaibahn (6 2 3 pCt.), St. Peters-
burg-Warschau-Wirballen (8 7 * pCt.), Riga-Dünaburg (38710 pCt.),
Wolga-Don (14 pCt.), Orel-Witebsk (8 Ve pCt.) und die Staatsbahn Je-
lissawetgrad-Krementschug (14*/4 pCt.), Dünaburg-Witebsk (i8pCt.).
Die anderen Linien ergeben eine Steigerung, welche ungefähr 114
pCt, (Tambow-Koslow) beträgt, der dann die Linie Koslow-Woro-
nesh (63 Vs pCt.) folgt, wohingegen die geringste Steigerung
( 7 ,8 pCt.) die Linie Warschau-Bromberg ausweist. Die Durch¬
schnittszahl der Zunahme der sämmtlichen Betriebseinnahmen ist
147 » pCt. oder 3^/5 Millionen Rubel.
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(Thätigkeit der Gesellschaft der Aerzte in Kasan.
npOTOKOJüji aac*AaHifl o6meeTBa Bpaneft r. Kasaim.)
1872 Nr. 1—9. Berichte über Sitzungen dieser im Jahre 1868
gegründeten Gesellschaft am 2. und 14. Januar, 11. und 18. Februar,
10. und 22. März, 5. und 28. April und 1. Juni 1872, deren wissen¬
schaftlicher Inhalt in extenso einer besonderen Abtheilung („Beilagen* *)
„üpHJiOHceHia“ übergeben ist, geben ein anschauliches Bild des
innern Lebens dieses strebsamen Vereins, dem Petrow (mit Schtscher-
bakow Vf. der aaM^Tica Meaim.HH'b bt> Ka3aHCK0ft ryöepmft. Ka3am>
1872. Bemerkungen an die Medicin im Kasan’schen Gouvernement
1812) präsidirt, dem Wyssozky, Schtscherbakow und Iwanow als
Secretäre dienen. Jedes ordentliche Mitglied zahlt 5 Rbl. jährlichen
Beitrags, die Casse befindet sich aber in steter Bedrängniss, da Un¬
ternehmungen angelegt sind, denen sie nicht gewachsen ist. Ne¬
ben den wissenschaftlichen Arbeiten wird auf Antrieb des Moskauers
Tarassenkow mit Eifer die medicinische Statistik verhandelt, es wer¬
den Blankette den Mitgliedern zugesandt zur Ausstellung von Po-
stulaten, es wird die Beschickung eines medicinisch - statistischen
Congresses während der polytechnischen Ausstellung in Moskau
durch die Delegirten Wyssozky, Gwosdew und Nawalychin vorbe¬
reitet, Mölieson aus Perm plaidirt für eine in ihren Forderungen
nicht zu eng begrenzte medicinische Statistik, und im April setzt
Studensky die Herausgabe eines aus den täglichen Berichten der
Aerzte zusammenzustellenden R hcbhhk-b oömecTBa Bpa*ieft r. Ka-
3 aHH KaKT> npiuioaceirie kt> npoTOKOJiaMi» (Tagebuch der Gesell¬
schaft der Aerzte in Kasan als Beilage zu den „Protokollen**) durch.
Ferner interessirt sich die Gesellschaft für die Pockenlymphe, es
wird wiederholt über Anlage eines Kälberstalls zur Unterhaltung der¬
selben discutirtj auch unterlässt sie nicht die Anregung zu gymna¬
stischen Uebungen. Mit Ernst werden die Vorbereitungen zur Ver¬
sammlung russischer Naturforscher und Aerzte in Kasan im Jahre
1873 besprochen. Endlich lässt sich Volkmann über die Stellung
der Gerichtsärzte aus und verlangt die Trennung von Hygienistcn
und Juro-Medicinern.
Von dem ,,Tagebuch**(ÄHeBHHiCB) sind denn auchNr. 1—6 zurVer-
sendung gelangt. Sie enthalten ein höchst schätzenswerthes Mate¬
rial zur Krankheiten-Statistik für Kasan vom 1. April 1872 ab,
wenngleich nur die acuten fieberhaften Krankheiten, namentlich das
Wechselfieber, die chirurgischen Fälle, die ausgeführten Opera¬
tionen, die gerichtlich-medicinischen Vorkommnisse aufgeführt
werden. Besonderer Fleiss wird verwandt auf die Statistik der In-
termittens, es werden Interm, quotidiana, tertiana, quartana, lar¬
vata von einander geschieden, es wird die Ausbreitung nach dem
Geschlecht, der Lebensstellung und Beschäftigung und dem Wohn¬
orte genau differencirt. Eine solche Arbeit ist selbstverständlich eines
Auszuges nicht fähig, aber des Preises sehr werth. Frese liefert auch
eine statistische Tabelle aus der Kasaner Bezirksanstalt für Geistes¬
kranke (am i.Mai 1872 Bestand 59 m., 32 w., zusammen 91 Kranke),
7 *
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IOO
Petrow berichtet über Einzelfalle im pathologisch-anatomischen In¬
stitute, Wyssozky giebt eine Statistik der Ohrenkrankheiten; eine
solche für Augenleiden wird fürs Erste vermisst. 11 Krankenanstal¬
ten in Kasan, namentlich das Stadthospital, das Militärhospital, das
Alexander-Krankenhaus, das Hospiz für Angereiste, das Gefange-
nen-Krankenhaus, die Lazarethe beim i. Gymnasium, bei der geist¬
lichen Akademie, beim Seminar, ferner bei drei Fabriken und Privat-
Praxis von 31 Aerzten Kasan’s liefern das Material für die statisti¬
sche Zusammenstellung, während 24 Aerzte die Zusendung dessel¬
ben bisher unterlassen haben. — Dieser Statistik sind diverse, das
ärztliche Publikum interessirende Nachrichten aus Kasan und den
Nachbargegenden angehängt: in Perm ist am 28. December 1871
eine Hundesteuer von 25 Cop. jährlich pro Kopf eingeführt, an der
Kette liegende Hofhunde sind ausgenommen; ebenda haben die
Aerzte beschlossen, eine fortlaufende Statistik der Krankheitsfälle
zu veröffentlichen; bei dem Militärhospital in Kasan ist eine Abthei¬
lung für fünf barmherzige Schwestern eröffnet, die daselbst einen
Lerncursus von 6 Monaten zu bestehen haben. An der Kasaner
Universität wurde zum Doctor med. promovirt: am 7. Mai W. D.
Wladimirow („einige neue osteoplastische Operationen an den un¬
tern Extremitäten“), ein ausführliches Referat über die Disputation
liegt vor.
Dr. S.
(Die Salzausbeute) im ganzen Russischen Reiche betrug
nach dem neuesten „Jahrbuch des Finanz-Ministeriums“ im Laufe
des Jahres 1870: 29,013,458 Pud gegen 39,876,926 Pud im Jahre
1869. Nach den verschiedenen Formen der Salzgewinnung vertheilen
sich die eben angeführten Zahlen wie folgt:
Es wurden gewonnen an:
Steinsah Sudsais und Seesalz (krystalli-
nisches Salz aus
den Salzseen)
im Jahre 1869 3,050,226 Pud. 12,909,328 Pud. 23,917,372 Pud.
» » 1870 2,887,319 * 12,164,892 » 13,961,247 »
Während demnach die Production des Stein- und Sudsalzes
während der beiden angeführten Jahre nur wenig dififerirte, zeigte
sich in der Ausbeute des aus den Seen gewonnenen krystallinischen
Salzes im Jahre 1870 die sehr bedeutende Abnahme von fast 10
Mill. Pud gegen das vorhergehende Jahr, d. h. eine Verminderung
der Production um fast 40Ü und es repräsentirten die gewonnenen
13,961,247 Pud Seesalz überhaupt die niedrigste Ziffer, welche die
Production desselben innerhalb der letzten 10 Jahre erreicht hat.
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IOI
(Ueber die Runkelrüben-Zuekerfabrieation) des Russi¬
schen Reiches entnehmen wir derselben Quelle folgende Daten:
Sie erreichte in den Jahren 1869 und 1870 folgende Dimen¬
sionen: ,
Iip Russischen Reiche mit Ausnahme des Königreiches Polen wurden
im Jahre 1869 im Jahre 1870
a) Runkelrüben verarbeitet: 7,910,275 Berk. 9,556,686 Berk.
b) an Sandzucker erzielt: 4,947,506 Pud. 6,308,330 Pud.
In den Gouvernements des Königreiches Polen:
a) Runkelrüben verarbeitet: 2,276,744 Berk. 2,057,125 Berk.
b) Sandzucker gewonnen: 1,486,529 Pud. 1,182,538 Pud.
Summa 10,187,019 Berk, gegen 11,613,811 Berk.
6,434,035 Pud. > 7,490,868 Pud.
Mit schnellen Schritten hat sich die Fabrication des Runkelrüben-
Zuckers im Russischen Reiche verbreitet und die Raffinerie des
mit einem hohen Einfuhrzoll belegten Colonialzuckers fast gänzlich
verdrängt. Während im Jahre 1848 die Production von Sandzucker
aus Runkelrüben ca. 1 Mill. Pud betrug und bloss ! /a der Gesammt-
menge des verarbeiteten Rohstoffes war, hob sie sich in den Jahren
1859—63 bereits auf die Summe von 4 Mill. Pud und beträgt
augenblicklich reichlich 8 Mill. Pud, eine Zahl, die eine achtfache
Steigerung im Verlauf von 22 Jahren repräsentirt.
(Zur Bevölkerungsstatistik von St. Petersburg).
Nach den officiellcn Angaben des hiesigen statistischen Central-
Comites betrug die Gesammtsumme der Bevölkerung der Residenz
nach der Volkszählung im December 1869—667,207Scclcn. (Davon
56,5$ pct. männlichen, 43,44 pct. weiblichen Geschlechts.) Zu dieser
Summe kommen noch 756 im Findelhause befindliche Kinder (bei¬
derlei Geschlechts) unter einem Monat alt, so dass also die Total¬
summe der Bevölkerung sich auf 667,963 beläuft.
Dem Religionsbekenntniss nach befanden sich darunter:
Griechisch-Orthodoxe.S 57» 1 73
Raskolniki. 3,138
Armenisch-Gregorianische . . . 355
Römisch-Katholische.20,882
Protestanten.76,831
Juden. 6,654 '
Muhammedaner. 2,071
Heiden und unbestimmt . . 103
667,207.
Der Muttersprache nach zählte man:
Russen.566,102 Polen.11,1 57
Serben. 13O Böhmen. 93
Bulgaren. 14 Serben-Croaten ... 3
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102
Slowaken. 24 Mordwinen, Tschuwa-
Lithauer. 540 sehen, Tschere-
Letten.1,850 missen,Wotjaken . .' 50
Deutsche.46,498 Ungarn. 19
Schweden.5,077 Türken. 28
Norweger ..... 2 Tataren und Bucharen. 1,983
Dänen. 93 Baschkiren und Kirgisen 8
Engländer und Amen- Mongolen und Kal-
kaner.2,099 mücken. 2
Holländer. 132 Chinesen. 2
Franzosen.3,104 Japanesen. 2
Spanier. 12 Zigeuner. 38
Portugiesen und Brasi- Juden. 6745
lianer. 8 Araber. 11
Italiener. 444 Perser und Afghanistanen 52
Rumänier. 14 Armenier. 386
Griechen. 185 Grusiner. 146
Finnen.16,085 Ossäten, Abchasen,
Esten. 3,735 Tscherkessen und
Karelen. 106 andere Gebirgsvölker 26
Sirjanen. 7 Lesgier und Kabardiner ‘ 17
Suljane u. unbestimmt . 198
667,207
Den Ständen nach:
Erblicher Adel . . 54,398 Soldaten, auf unbestimm-
Persönlicher Adel . . 40,186 tenUrlaub entlassen . 11,335
Kloster-Geistlichkeit. . 336 Soldaten, verabschiedete 15,333
Welt-Geistlichkeit . . 5,777 Familien der Soldaten . 66,495
Erbliche Ehrenbürger . 4,130 Finnländer.17,205
Persönl. Ehrenbürger . 2,860 Verschiedenen Ständen
Kaufleute.22,333 und Gewerben ange-
Bürger (ivrfcmaHe) . . 123,267 hörend . . . . . 17,771
Handwerker .... 17,678 Bauern.207,007
Soldaten im Fronte- Ausländer.21,335
dienst befindlich . . 32,516 Ohne Standesangabe . 798
Soldaten nicht in der
Fronte dienend . . 6,447
667,207
Die Zahl der Ausländer betrug 21,335 und zwar:
Angehörige des Deut- Schweizer. 551
sehen Reiches . . . 12,718 Italiener 427
(DavonPreussen und Nord- Schweden und Norweger 1,269
deutsche 11,019,Süddeut- Dänen. 469
sehe 1,699) Holländer und Nieder-
Engländcr . . * . . 1,709 länder. 192
Franzosen.2,199 Belgier. 133
Oesterreicher .... 1,079 Spanier und Portugiesen. 22
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i °3
Griechen. 73 Bucharen. 6
Untcrthanen der Donau- Amerikaner (Nord- und
fürstenthümer .... 26 Siid-Amerikaner) ... 96
Türken und Montenegriner 119 Unbestimmt.227
Perser. 20
Literaturbericht.
ß. B. rpueopbesa. O ckhgckom'l Hapo;rfe CaKaxi>.' PIcTopHnecKaa
MOHorpa4>ia HanncaHHan Kt ABa^n.aTH-Ji'kTHOMy K)6njreio IlMn.
PyccKaro ApxeojformiecKaroOömecTBa. C.-IIeTep6ypn> 1871.
Ueber das scythische Volk der Saken. Eine historische Monographie,
der Kaiserlichen Archäologischen Gesellschaft zu ihrem fünf¬
undzwanzigjährigen Jubiläum gewidmet von W. W. Grigorjew ,
ihrem wirklichen Mitgliede und Vorsitzenden in der Orienta¬
lischen Section der Gesellschaft. St. Petersburg 1871. 202
SS. 80.
Diese inhaltreiche Schrift wurde im letzten Monat des vorigen
Jahres bei der auf dem Titel angedeuteten Gelegenheit ausgegeben
und ist eine der Abhandlungen aus dem nächstens erschei¬
nenden XVT. Bande der „Arbeiten“ (TpyÄw) der Orientalischen
Section der St. Petersburger Archaeologischen Gesellschaft. Der Ver¬
fasser, welcher auf eine langjährige gelehrte Laufbahn zurückblicken
darf und gegenwärtig Professor der Geschichte des Orients an der
hiesigen Universität ist, war als specieller Kenner der Geschichte
Central-Asiens zu dieser Arbeit durch seine, zum Theil schon im
Druck erschienene Bearbeitung des VII. Theiles von Ritteris Erd¬
kunde besonders veranlasst. Seit 1837, wo der berühmte Berliner
Geograph diesen Theil seines grossen Werkes herausgab, haben
sich nicht nur die authentischen Berichte über die darin behan¬
delten Erdgegenden in ausserordentlicher Menge vermehrt, auch
für die historische Behandlung der von denselben bedingten Völker¬
verhältnisse haben sich viele neue Gesichtspunkte eröffnet. Als
Aufgabe stellt sich der Verfasser die Zusammenstellung der Nach¬
richten der Schriftsteller des classischen Alterthums über die Saken
mit denen der orientalischen, namentlich der chinesischen, Ge¬
schichtsschreiber und Denkmäler über dasselbe Volk. Wir be¬
dauern sehr, dass uns hier der Raum* zu einem eingehenden Refe¬
rate fehlt und beschränken uns daher ungern auf die Andeutung
der Hauptpunkte der Unternehmung.
Die Hauptsitze der Saken findet der Verfasser hinter dem Ja -
xartes (nach der Vorstellung, welche die alten Europäer von dem
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104
Laufe dieses Flusses hatten) und nördlich von Indien, wenn man
als dessen nördliche Grenze den Khuen-lien betrachtet. Ptolemaeos
dachte sich, nach unserem Verfasser, die Saken im westlichen Theile
Ost-Turkestans, auf dem Pamir und längs dem Thian-Schan bis
zu seinen nördlichen Abhängen. Dieselben Sitze schreiben ihnen
die chinesischen Nachrichten aus der Zeit der älteren Han-Dynastie
zu. Nach Ost-Turkestan verweisen sie auch die dunkeln Andeu¬
tungen des Mahabharata. Nach allen diesen Nachrichten wohnten
die Saken, seit Alters her, ungefähr in den Quellländern des Amu-
und Järkend-Därja, von hier nordwärts über den Thian-Schan zu dem
Balkhasch-See, nordostwärts — bis zum oberen Ili-Thal, in nord¬
westlicher Richtung—bis zu den Niederungen des Tschu, und west¬
wärts (nach den Geschichtsschreibern Alexanders des Grossen) bis
in die Gegend des heutigen Taschkend und (nach Herodot und der
Inschrift des Darius in Nakschi-Rustem) in einem Theile von
Ferghäna. Aus diesen Ursitzen jenseits des Jaxartes wäre, nicht
später als im VII. Jahrhundert vor Ch. G., ein Theil der Saken zum
Kaspischen Meere gewandert, denn nur von hier hätten sie jenen
Einfall in Armenien unternehmen können, von welchem Strabo
spricht Ein anderer Theil der nach Westen ausgewanderten Saken
wohnte westlich vom untern und südwestlich vom mittleren Laufe
des Amu-Darja, zu welcher Annahme den Verfasser die Nachrichten
des Ktesias veranlassen. In Margiana wären nach ihm die Saken
die Vorgänger der Daher gewesen und am Murgh-ab sucht er die
Saka-Haumavarga der Darius-Inschrift von Nakschi-Rustem und die
Amurgioi des Herodot, während er die Saka-Tighrakhuda der er¬
wähnten Inschrift in dem oben angeführten Ferghäna sucht.
Was die Lebensweise der Saken betrifft, so ergiebt sich für den
Verfasser aus den Nachrichten über sie, dass sie ein halb sess¬
haftes, halb nomadisirendes Volk waren. Diejenigen, welche in und
für den Wanderhirten geeigneten Steppen lebten, wären aus¬
schliesslich Viehzüchter geblieben, andere, welche zum Anbau
geeignetes Land gefunden hätten, wären zum Ackerbau überge¬
gangen, und endlich ein dritter Theil hätte in Städten sich ange¬
siedelt und dort der Industrie und dem Handel sich ergeben. Zu
diesem Schluss hielt sich der Verfasser um so mehr berechtigt, als
dieselbe Ordnung der Dinge in Bezug auf die Vertheilung der Be¬
völkerung immer bestanden habe und noch bestehe, nicht nur in
Centralasien südlich von Sir-därja, sondern auch fast im ganzen süd¬
lichen Asien.
Bei Erörterung dieser Frage wird vom Verfasser jene Ansicht
von der körperlichen und geistigen Ueberlegenheit der Nomaden
den ansässigen Ackerbauern gegenüber geltend gemacht, welche
Referent in seinem oben abgedruckten Aufsatze über Russisch-
Turkestan zu bestreiten Veranlassung fand.
Auch in Betreff der Nationalität der Saken neigt sich der geehrte
Verfasser einer Ansicht zu, die Ref. nicht ganz mit ihm theilt. Dass
der Gedanke an eine türkische oder mongolische Abstammung der
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Saken und eigentlichen Scythen aufzugeben sei, darin stimmt Ref.
mit dem Verfasser vollkommen überein, auch darin; dass ihnen ein
arischer (indo-europäischer) Ursprung zuzuschreiben sei. Der Verf.
ist jedoch geneigt, sie für ein speziell slavisches Volk zu halten,
bemerkt aber an einer Stelle, dass er auf diese seine Ansicht kein
besonderes Gewicht lege. Ref. weiss sehr wohl, dass zur Wider¬
legung dieser'Ansicht, welcher bekanntlich auch J. H. Cuno (For¬
schungen im Gebiete der alten Völkerkunde, Erster Theil: Die
Scythen. Berlin 1871. 8°) huldigt, eine eingehende Untersuchung
über das Verhältniss der slavischen Sprachen zu den iranischen,
die noch ein pium desiderium für die historische Linguistik ist, noth-
wendig wäre, will sich aber hier die Bemerkung erlauben, dass Herr
Cuno weniger zuversichtlich seine Ansicht ausgesprochen hätte, wenn
er, wie unser Verfasser, ein eingehendes Studium den chinesischen
Nachrichten über die Völkerverhältnisse des nordwestlichen Asiens
gewidmet hätte.
Indem wir noch ein Mal unser Bedauern darüber aussprechen,
dass wir hier aut eine kurze Anzeige der Monographie des Herrn
Grigorjew uns beschränken müssen, sprechen wir zum Schluss ihm
unsern aufrichtigsten Dank aus für die mannigfaltige Anregung und
Belehrung, die wir aus seiner Schrift erhalten haben.
P. L.
Upemocmu repodomoeoü Cxueiu ,, CöopHHKT» onncaHift apxeojiom-
HecKHXT> paciconoKi» h HaxoAOKi» bt> *jepHOMopcKHXi> cxe-
idixt». Ci> aTJiacoMt h xapxoio. Madame UMnepaxopcKoö
ApxeojiorHHecKOfi KoMMHccin. BbinycKT> II-Ä. Camcxnexep-
6 ypra> 1872.
Alterthümer des Herodoteisc/ien ScytJiiens. Repertorium für die Be¬
schreibung der archaeologischen Ausgrabungen und Funde in
den Pontischen Steppen, herausgegeben von der Kaiserlichen
Archaeologischen Commission. Zweite Lieferung . St. Peters¬
burg 1872. SS. 29 —108 und Beilage SS. XVII.—CXXVII.
(Mit in den Text gedruckten Abbildungen und einer Karte von
Herodot’s Scythien.) 4 0 .
Dazu Atlas , Lief. II., Tafel C bis F und XXII bis X in
Gross-Folio.
Die erste Lieferung dieses mit Kaiserlicher Munificenz schön
ausgestatteten, für das Studium des Alterthums des südlichen Russ¬
lands höchst wichtigen Werkes erschien bereits 1866 in russi¬
scher und französischer Ausgabe und ist im Auslande bekannt. Von
seiner zweiten Lieferung ist unlängst die vorliegende russische Aus¬
gabe erschienen und wird ihr die französische noch in diesem Jahre
nachfolgen.
Die Erzeugnisse classischer griechischer Kunst, welche in den
Gräbern südrussischen Steppengebiets seit den fünfziger Jahren ne¬
ben den eigenen Erzeugnissen der Steppenvölker gefunden wurden,
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io6
sind ausführlich in den Beilagen zu den Compte-Rendus der Kaiserli¬
chen Archäologischen Commission von einem bewährten Kenner classi-
schen Alterthums beschrieben worden. Die vor uns liegende Aus¬
gabe giebt uns die Tagebücher der mit Ausdauer und Geschick ge¬
leiteten Ausgrabungen bis 1864 incl. Mit Recht werden die hier
beschriebenen Alterthümer — Alterthümer aus dem Scythien Hero-
dot’s genannt. Nicht allein, dass ihre Fundorte in dem Herodotei-
schen Scythien liegen, auch die Construction und der Inhalt der un¬
tersuchten Gräber sagt uns, dass wir es hier mit den Ruhestätten
der vom Vater der Geschichte in lebhaften Zügen und Farben ge¬
schilderten Scythen zu thun haben. Man kann die reichhaltigen
Tafeln des vorliegenden Werkes als Illustrationen zu dieser Schil¬
derung aus dem Alterthum betrachten.
Der Historiker, den seine Studien der Erforschung der ethnischen
und socialen Verhältnisse des europäischen Nordostens im Alter¬
thum und im Mittelalter zuführen, wird aus den hier beschriebenen
Funden reiche Belehrung schöpfen.
Als einen willkommenen Beitrag* zur historischen Ethnographie
begrüssen wir dem in der Beilage von Professor F. K. Brun in
Odessa gelieferten ,»Versuch einer Vereinbarung der sich wider¬
sprechenden Ansichten über das Scythien Herodot’s und der angren¬
zenden Länder.“ Wenn der verehrte Verfasser, nach des Referen¬
ten Ansicht, die dieser sich ganz bescheiden auszusprechen erlaubt,
auch nicht zu einem in allen Punkten befriedigenden Resultat ge¬
langt ist, sö liefert seine vertraute Bekanntschaft mit der Geographie
der betreffenden Länder, die sich theilweise auf eigene Anschauung
gründet, für die künftigen Forscher doch des Beachtenswerthen
recht Vieles. Auch die genaue Kenntniss der einschlagenden Lite¬
ratur, die der Verfasser in dieser wie in andern seiner Arbeiten (z. B.
über das mittelalterliche Gazarien der Krim) bekundet, sichert der¬
selben einen dauernden Werth unter den historisch-geographischen
Forschungen der Neuzeit.
Einen wichtigen Dienst würde die hiesige Kaiserliche Archäolo¬
gische Commission der Wissenschaft, erweisen, wollte sie das „Ono-
masticon Ponticum“, mit welchem, wie wir gehört, eine tüchtige ge¬
lehrte Kraft auf ihre Anregung hin hierselbst beschäftigt ist, in einer
der folgenden Lieferungen des besprochenen Sammelwerkes veröf¬
fentlichen. Die Veröffentlichung einer solchen, grossen Fleiss und
bewährte Umsicht erfordernden, Arbeit wäre von unberechenba¬
ren Folgen für die glückliche Lösung vieler Fragen aus der histori¬
schen Ethnographie.
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Russische Bibliographie
B&pm&BCKiR, H. äpcbhäh ncTopi* eBpeftcxaro HapoAa, ott> cotbq-
penia Mipa ao coopyaceHbi BToparo xpaMa.H3A.2-oe.OAecca.72 cTp.
(Warschawsky, J. Alte Geschichte des jüdischen Volkes, von Er¬
schaffung der Welt bis zur Erbauung des zweiten Tempels. 2.
Aufl. Odessa. 72 Seiten).
Pouie$op‘b (Ae), rpa4>i>. CTponTeAbHaa TexHOAorla h apxnTex-
Typa rpaxcAaHCKHxi» 3AaHiö. H. II. PadoTw. Bbin. I. 3 eMARHbm
pa6on»i. IIocTpoflKa xceA'hsHbix'b Aopon>. Cn6. in-2 0 , 88 CTp.
h VII TaÖA. nepTexcett. (de Rochefort, Graf. Die Bautechnologie und
die Architectur der bürgerlichen Wohngebäude. Theil II. Ausge-
fiihrte Arbeiten. Liefg. I. Erdarbeiten. Eisenbahnbau. Mit Tafeln.
St. Petersbg. folio. 88 S.)
j/lMBaHOBl, 0 . B. PaCKOJIbHHKH H OCTpOXCHHXH. O^epKH h pa3Ka3bi. 1
T. III. Cn6. in-8°, 626 cTp. (Liwanow, Th. W. Die Schismatiker
(Raskolniki) und Gefangenen. Skizzen und Erzählungen. Bd. III.
St. Petersburg. 8°. 626 5 .),
Ke/ibcieBV B. H. Ilpn rieTpi. Hctophh. hob. Ct> 6-10 xapT. Cn6.
in-8°, 176 cTp. (Kelsijew. Zu Peter’s Zeiten. Historische Novellen.
Mit 6 Abbildungen. .St. Petersburg. 8°. 176 S.).
KJfmeBim, Kapjiv M'hAOBaa <t>opMauiH BT> JIioßAHHCXoft ryÖepHin.
Baprn. in-8°, 77 crp. h i xapTa. (Jurkewitsch, K. Die Kreideformation
im Lublin’schen Kreise. Warschau 8°. 77 S. und eine Karte.
TpeÜAOCeBNHi», HBatn». O nepexoAHbix*b oopMauiiDCb K'fejreuxHX'b
rop*b b'b DapcTB'h üoAbcxoM-b. in-8°, 64 CTp. h 1 Taöji. (Treidose-
witsch, J. Ueber die Uebergangsformation der Kjelezki’schen Berge
im Zarthum Polen. 8. 64 S. und 1 Karte).
UlMyiieBNHli, fl. M. yHeÖHHKt rncTOJiorin h 4>H3ioAoriH ähbot-
Hbixi». Bwn. II. Cn6. in-8°. 99—163 CTp. (Schm ulewitsch, J. M. Lehr¬
buch der Histologie und Physiologie der Thiere. Liefg. II. St. Pe¬
tersburg. 8°. S. 99—163.
AparoMMpoBV TaxTHxa. H. I. Kypcb, npHHapoBAeHHMft xi> npo-
rpaMMi BoeHHbix*b yTOAHm*b. H 3 A. 2 -oe, ncnp. ryA0MT>-JIeBXOBH-
HeM*b, noAi» peA. JleBHuxaro. Cn6. in-8°, IV + 318 CTp. h 9 ji. ^epT.
(Dragomirow. Taktik. Th. I. Cursus für die Militair-Lehr-Anstalten.
2. Aufl. verbessert von Gudim-Lewkowitsch unter der Redaction von
Lewitzky, St. Petersbg. 8°. IV + 318 S. und 9 Tafeln Abbildungen).
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io8
<t>ftMMflOBl>. BocHHbift o63opi> Tn<i>JiHccKoft ryßepHiH. Cn6. in-8°,
411 CTp. (Filipow. Militair. Uebersicht d. Tiflis’schen Gouvernements.
St. Petersburg. 8°. 411 S.).
TaBpifturb. Oöoap'bHie A6xa3CKHxi> npHXOÄOß-b bt> 1871 r. IlyTeBbiH
3anHCKH. MocKBa. in 8°. (Gawril. Uebersicht der Abchasischen Ge¬
meinden im J. 1871. Reisebriefe. Moskau. 8°).
CTOJlbiriMHi», A. I. Kjiaccimn3MT> h no;io)KiiTejibHbiÄ HayKH. II. 06 t>
e^HHCTB'fe bt> HayK'fe h o peajibHOM-b o 6 pa 30 BaHin. MocKBa. in-8°,
6ocTp.(Stolypin,D.J.DerClassicismus und die positiven Wissenschaften.
II. Ueber die Einheit in der Wissenschaft und über die reale Bildung.
Moskau. 8°. 60 S.).
MHHHHb, H. yneÖHaa Teopia cjiobcchocth. IT34. 8-e, Cn6. in-8°,
111 CTp. (Minin, N. Lehrgang der Literaturwissenschaft. 8. Ausg.
St. Petersburg. 8°. 111 S.).
Ae-BniTb, H. CruxoTBopem*. Cn6. in-8°, 218 CTp. (de Witt,
N. Gedichte. St. Petersburg. 8°. 218 S.).
KyjiOJibHHKi>, flaBejn». OrnxoTfcopeHiH. BmibHa. in-8°, 276 CTp. (Ku-
kolnik, P. Gedichte. II. Bd. Wilna. 8°. 276 S.).
MßaHOBb, H. HcTopH^ecKoe onncame Mocrbw. MocKBa. in-12 0 ,
304 CTp. (Iwanow. N. Historische Beschreibung Moskaus. Moskau.
12“. 304 S.).
IlaMaTHaH KHHECKa MopcKHxt apTHJuiepHCTOBT». Cn6. in-8°,
XXIV+743 + 80 CTp. h CXXII ji. nepT. (Taschenbuch für Marine-Ar¬
tilleristen. St. Petersbg. 8°. XXIV-+ 743+80 S. und CXXII Tafeln).
Radloff, W. Proben der Volksliteratur der türkischen Stämme Süd-
Sibiriens. IV. Theil. St. Petersb. 8°. XVI+512 S.
7leBH,3AyapA'b.Bon> h Mipi> cb cocTaBHbiMH nacTHMii nocjrfeÄHHro.
JXyuia, ^yx-b h npnpoAa. MocKBa. in-8 n , VII+217 CT P- (Levy, Ed. Gott
und die Welt mit ihren Bestandtheilen. Die Seele, der Geist und die
Natur. Moskau. 8°. VII+217 S.).
UUepHraHA'b, I- O 3Ha i ieHiH opraHOBi> uyBCTB:b bt> ncnxireecKott
>KH3Hii. BjiaAHMip-b. in-8°, 47 CTp. (Stemhand, J. Ueber die Bedeu¬
tung der Gefiihlsorgane im psychischen Leben. Wladimir. 8°. 47 S.).
yießeCTaub, r. M. McTopimecKitt o^epK-b .zjpeBHecKaHÄHHaBCKoft
no33in cxajib.aoB’b. Bapniaßa. in-8°, VII 4- 137 CTp. (Löwestaam, 6. M.
Historischer Umriss der altscandinavischen Poesie der Skalden.
Warschau. 8°. VII+137 S.).
BeceiiOBCKiM, A. H3t> ncTopin jiHTepaTypHaro oßmema BocTOKa h
3 aiia>ia. CjiaBaHcxia cxa3aHia o CojioMOH'fe h KnTOBpac'h h 3 anaA-
hwh jiereHAbi o Mopo^b^ h MepjiHH'h. Cn6. in-8°, XX + 350 crp.
(Wesselowsky, A. Aus der Geschichte der liter. Gemeinschaft
des Ostens und Westens. Slavische Sagen über Salomon und
Kitowras und die abendländischen Legenden über Morolf und Merlin.
St. Petersburg. 8°. XX+ 350 S.).
3a6tüHHb, Mb. OnbiTbi H3yMema pyccKHxi> «apeBHOcreft h HCTopin.
MacjrfeÄOBaHifl, onncama h KpHTmecxia CTaTbH.H; I. MocKBa. in-8°,
5^6 CTp. (Sabelin, J. Versuche zum Studium der russischen
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Iö 9
Alterthümer und Geschichte. Forschungen, Beschreibungen und
kritische Aufsätze. Th. i. Moskau. 8°. 566 S.).
riaMüTHHKH pycccKott CTapHHBi bt> aanaAHbix-b ryöepHinx'h Hm-
nepin, H3A. n. H. EaTK)inKOBbiMT>. Bbin. V. BmibHa. Teiccn» kt> 18
pucyHKaMi». Cn6. in-4*, 117 cTp. (Denkmäler der russischen Vergan¬
genheit in den westlichen Gouvernements, herausg. von P. N. Ba-
tjuschkow. Liefg. 5. Wilna. Text zu 18 Abbildungen. St Peters¬
burg. in 4 0 . 117 S.).
McTopHHecKoe onncame 3 eMJin Boficxa ßoHCiearo. T. II. H3A.
06 ji. B. J\. CTaTHCT. KoMHTeTa. HoBonepKacicb. in-8°, 291—598
CTp. (Historische Beschreibung des Landes der Donischen
Kosaken. Bd. II. Herausg. von dem örtlichen statistischen Comit£.
Nowotscherkask. 8°. 291—598 S.).
MapTbflHOBI», n. BeCeHHblH BCXOAbl. CtHXH, 9CKH3bI, HaÖpOCKH H
nicHH. Cn6. in-8°, 256 crp. (Martjanow. Frühlingsanfang. Gedichte,
Skizzen und Lieder. St. Petersburg. 8°. 256 S.).
FB03AeBl>, H. B. ÄBa M'fecxn.a BH'h ropoaa. Onepio». MocKBa. in- 1 2°, 47
CTp. (Gwosdew, N- W- Zwei Monate ausser der Stadt. Moskau. 12 0 . 47 S.j.
Äono;iHeHiH kt> aKTaMT> ncTopimecKHM'b, coöpaHHbin n H 3 AaHHbiH
Apxeorpa<t>HHecKoio KoMMHcieio. T XII. Cn6. in-4 0 , VIII+14+423
+ 24 CTp. (Nachträge zu den historischen Acten, die von der archaeo-
graphischen Commission gesammelt und herausgegeben worden
sind. Bd. XII. St. Petersburg. 4 0 . VIIJ. 461 S.).
flerpOBb, fl, H. IleTpi, BejiHKift nocji+zuntt I+apb MockobcküI h
nepßbift HMnepaTopi> Bcepoccittcxift. Biorpa4>HHecxift o^epKt, ct>
nopTpeTOM*b. C116. 8°, 161 CTp, (Petrow, P. N. Peter der Grosse,
letzter Czar von Moskau und erster Kaiser aller Reussen. Biographi¬
scher Umriss mit dem Portrait Peters. St. Petersburg. 8°. 161 S.).
BJiaAHilipCKiü-EyAaHOBb, M. XpncTOMaTix no ncTopin pyccicaro
npaßa. Bbin. I. üpocjiaßjib. in-8°, 229 CTp. (Wladimirsky-Budanow, M.
Chrestomathie aus der Geschichte des russischen Rechts. Liefg. I.
Jaroslaw. 8°. 229 S.).
TpaxcAaHCKie 3axoHbi (Cb. 3 aic. t. X n. I), c*b paancHeHieMT» hxt»
no p'hineHixM’b IIpaBHT. CeHaTa. Ü3A. 6-oe, Aon. Cn6. in-8°, IV+774
CTp. . (Civilgesetzbuch (Swod Bd. X Th. I) erläutert durch
Entscheidungen des Senats. 6. Ausg. St. Petersb. 8°. IV+774 S.).
Tarn», Mn. OnepicH coBpeMeHHoft Ahtjuh. Cn6. in-8°, 346 crp.
(Tarne, i. Das gegenwärtige England. Umrisse. St. Petersburg.
8°. 346 S.).
Teni, BwKTopb. MTajiin. B3ivi.HAbi n ö'fcrjibix 3aM+TKH. IlepeB.
ct> h+m. Cn6. in-12°, II+200. CTp. (Hehn, V. Italien. Ansichten
und Streiflichter. A. d. Deutschen. St. Petersburg. 12°. II +200 S.).
flopeHCb, AmoHl» h Mytn», Pofieprb. IlpaKTmiecKoe pyxoBOACTBo kt»
H3yHeHiio rjia3Hbix*b 6oji+3Heft. Ct> pnc. IlepeB. noxh peA. C. Co-
xojioBa. Cn6. in-8°, 2+220 CTp. (Lorens. J. und R. Muhn. Practisches
Handbuch der Augenkrankheiten. Mit Abbildgn. Uebers. von S.
Sokolow. St. Petersbg. 8°. 2 + 220 S.).
EayuiMHrepi, I. S^ieMeHTbi rpa«x>HnecKoft cTaTHKH. IlepeB. A. HeA-
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HO
3*JiKOBCKaro. Cn6. in-8°, 238 cTp. h 20 ji. MepT. (Bauschinger, J. Ele¬
mente der graphischen Statik. Uebers. von Nedsjelkowsky.
St. Petersbg. 8°. 238 S. und 20 Tafeln Abbildgn.).
Suaph, PyCTaB-b. Pa3CKa3bi H3t xch3hh bi> 6pa3HJibcKHxi> cTenaxt.
IlepeB. B. TpoHitKaro. Cn6. in-8°, 270 CTp. (Aimard, 6., Er¬
zählungen aus dem Leben in den brasilischen Steppen. Uebers. von
W. Troitzky. St. Petersburg. 8°. 270 S.).
7 la 6 yji 9 , 3 A' Hoßbia cKa3KH. 2-oe H3Aame. Cn6. in-8°, 119—199 CTp.
(Laboulaye, Ed. Neue Märchen. 2. Ausg. St. Petersburg. 8°).
duapt, FycT. E'fcrytraa BOAa. PoMam*. Cn6. in-8°, 432 CTp. (Aimard,
Q. Strömendes Wasser. Roman. St. Petersburg. 8° 432 S.).
floHCOHi» a*o Teppaüab. BejiHKocB'feTaeie Bopbi. PoMaHt. IlepeB. II.
HcaeBHHa. MocKBa. in-8°. (Ponson du Terrail. Die Diebe der grossen
Welt. Roman. Uebers. von J. Isaewitsch. Moskau. 8°).
(JUipuHKepi». PyxoBOACTBo Kt yneHiK) o TKaHaxt neJioB'feKa h m-
BOTHbixt. IlepeB. et H'hM. noAt peA. 0 - 3 aBapbiKHHa. Bbin. I. C116.
in-8 0 ,* 184 CTp. (Stricker Handbuch zur Kenntniss der Gewebe des
Menschen und der Thiere. Uebers. a. d. Deutschen von Sawarikin.
Liefg. I. St. Petersb. 8°. 181 S.).
Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttger.
Ao3Bo,ieHO UeH3ypoio. 4 AyrycTa 1872 roA*.
Buchdruckerei von Röttger & Schneider, Newsky-Prospect No. 5.
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Von dem in unseren Verlag übergegangenen grossen Prachtwerke
PAR
TIi. die Pauly
ist nur eine kleine Anzahl von Exemplaren noch vorhanden, für
welche wir bis zum i. Januar 1873 den Preis auf 200 Rubel für m Callico
gebundene Exemplare festgesetzt haben. Nach dem 1. Januar 1873 wird
der Preis wieder erhöht.
Eine neue Auflage dieses Werkes in der bisherigen Form wird zweifels¬
ohne nie wieder erscheinen, und wir laden daher Diejenigen, welche das
in seiner Art einzig dastehende schöne Werk, welches bekanntlich auf
62 grossen, wahrhaft künstlerisch ausgeführten, Tafeln in prachtvollem Farben¬
druck die Typen und Trachten der verschiedenen Völkerschaften Russlands dar-
stellt (mit 500 Seiten Text), anzuschaffen wünschen, ein, baldigst von
der jetzt noch bestehenden Preiscrmässigung Gebrauch zu machen. In
kurzer Zeit wird das Werk in Wahrheit eine Seltenheit werden.
Kaiserliche Hofbuchhandlung H. Schmitzdorff.
' (Carl Röttger.)
In der Verlagshandlung von Hermann Fries in Leipzig ist erschie¬
nen und durch alle grösseren Buchhandlungen des In- und Auslandes zu
beziehen und vorräthig in der Kaiserlichen Hofbuchhandlung H.
Schmitzdorff:
DIE INDUSTRIE RUSSLANDS
in
ihrer bisherigen Entwickelung and in ihrem gegenwärtigen Zustande
mit besonderer Berücksichtigung
der
allgemeinen russischen Industrie-Ausstellung im Jahre 1870.
bidustrielles Handbuch für das Gcsammtgebiet des Russischen Reiches
von 4
Friedrich Matthäi.
Erster Band. Leipzig, 1872. — XVI. 409. gr. 8.
Die Kritik hat das vorstehende Werk in der günstigsten Weise aufge¬
nommen, und ist allenthalben anerkannt worden, dass es in der vollen Be¬
deutung des Wortes eine empfindliche Lücke in unserer Literatur aus¬
füllt. Die russische Industrie wird in allen ihren Zweigen in dem Werke in
so ausführlicher Weise behandelt, dass dieses Werk in Wirklichkeit, wie
es der Titel besagt, zu einem industriellen Handbuche Russlands,
und dadurch unentbehrlich für alle Diejenigen geworden ist, welche mit
der russischen Industrie in irgend welcher Beziehung stehen. Der zweite
Band wird noch im Laufe dieses Herbstes erscheinen und nimmt die Ver-
agshandlung Insertionen für denselben entgegen.
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Von dem in meinem Verlage erscheinenden Kunstwerke:
DIE KUNSTSCHÄTZE
DER
KAISERLICHEN EREMITAGE
in photographischen Nachbildungen direct nach den Originalen.
Hit Allerhöchster Autorisation Sr. Majestät des Kaisers
kmoigtgeta
4 von
i
CARL RÖTTGER,
Kaiserlichen Ilofbuchh&ndier,
sind bis jetzt an 130 Blätter Photographien nach Gemälden zur Ausgabe fertig
oder in Vorbereitung zum baldigen Erscheinen (in Folio pro Blatt I Rbl.
80 Kop.) und zwar von folgenden Meistern: Raphael — Correggio —
Lionardo da Vinci — Guido Reni — Murillo — Rembrandt — Tizian —
Domenico Feti — Carlo Dolci — Paul Potter — Carlo Maratta — Moretto
da Brescia — Neff — Orlowsky — Kiprenski — Jean Mabuse — Rubens
— W. v. Mieris — F. Sneyders — D. Teniers d. j. — Denner — Wouver-
mann — van der Werff — Worobjew — Iwanow — Van Dyk — Liberi —
Domenichino — Sassoferrato — Luini — Van der Heist — Dow — eng¬
lische Schule — Luti — P. Veronese — S. Rosa — Francia— Velasquez
— Bruni — Van Eyck — Reutern — J. von Ostade — Zuccherelli —
Moralze — Miereveldt — Sirani — Palma Vecchio — Fr. Francia—‘
R. Mengs — Ruysdael etc.
Ausserdem erschienen bis jetzt noch:
Originalhandzeichnungen der Kaiserlichen Eremitage in Photographien direct
nach den Originalen; zunächst 12 Lieferungen ä 6 Blatt, per Lieferung
4 Rubel. Jedes Blatt einzeln 80 Kop. und
Sculpturen, antike und moderne (u. A. 4 Canovas, Bienaime, Houdon etc.)
der K. Eremitage, in grossem Format (Folio) 1 Rbl. 50 Kop. pro Blatt
und in Visitenkartenformat ä 20 Kopeken.
Interieurs (im grössten Imperial-Folio ä 6 Rbl. und in Folio ä 1 Rbl. 50 Kop.)
und Stereoskopen.
Jedes Blatt der Sammlung ist einzeln käuflich; doch werden die Photo¬
graphien nach Gemälden in Serien erscheinen ä 10 Lieferungen, jede
ä 30 Blatt.
Ich freue mich, sagen zu dürfen, dass dieses Unternehmen nicht bloss
hier, sondern auch im Auslande sich der allgemeinsten Theilnahme und
Anerkennung erfreut.
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Das Russische Turkestan.
Seine Bevölkerung und seine äusseren Beziehungen.
(Fortsetzung und Schluss.)
Wie wir im Vorhergehenden hervorhoben, ist es der sesshafte
Theilder Bevölkerung von Russisch-Turkestan, welcher besonders
Grund hat, mit der gegenwärtigen Lage der Dinge daselbst zufrie¬
den zu sein und es in der That auch ist. Jeder aus diesem Theil der
Bevölkerung, mag sein Leben ein oder zwei Menschenalter zählen,
wird sich des Gegensatzes zwischen seiner jetzigen und früheren
Lage bewusst sein. Selbst dig Geistlichkeit, die Ulemä, die von
ihrem früheren Einflüsse eingebüsst hat, — denn die üzbekischen
Machthaber stützten sich nächst ihren Streitkräften hauptsächlich auf
dieselbe, und sie ging immer mit ihnen, der Macht, weil diese, ihr
den Niessbrauch der Vermächtnisse (Waküf) sicherte, —• wird sich
in die gegebenen Verhältnisse fügen. Anders ist es aber mit den
Ordenspriestern, den als Heilige betrachteten Ischänen, bestellt. Sie
sind den Regierungen in den Khanaten oft im Wege gewesen und
auch unserer Verwaltung werden sie nicht selten unbequem sein,
namentlich dadurch, dass sie auf die wandernde sowohl, als auch auf
die sesshafte Bevölkerung, wo diese arm ist, einen unmöglich zu
controlirenden Einfluss ausüben. Besonders macht sich ihr Einfluss
beim Nomaden geltend und diese Ordensbrüder sind der eigentliche
Heerd des Fanatismus unter den Muslim von Central-Asien, der
seinen Einfluss auch auf diejenigen Nomaden erstreckt, welche sich
nur äusserlich zum Islam bekennen. Wo von Raubanfällen auf ver¬
einzelte Ansiedelungen oder auf Karawanen zu hören, so sind sie
meist von Ischänen geleitet.
Doch nicht allein in den von Russland seit 1864 annectirten Land¬
schaften, auch in den Khanaten ist die Lage der Dinge eine andere
als vor vier oder sechs Jahren. Abgesehen davon, dass das Ver-
hältniss der Regierungen in Khokand und Buchara zu dem Vertreter
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unserer Regierung in Turkestan ein anderes geworden ist, hat sich
auch ihr Verhältniss zu ihren eigenen Unterthanen geändert. Sie
haben es einsehen gelernt, dass sie sich hauptsächlich auf die sess¬
hafte Bevölkerung ihrer Länder zu stützen haben. Besonders
Khudayär-khan hat von den Nomaden seines Reiche^ viel zu viel zu
leiden gehabt, um, nachdem er zwei Mal vertrieben und jedes Mal
mit fremder Hülfe, und zwar der Hülfe eines nicht gerade wohl¬
wollenden Nachbars, auf den Thron zurückkehrte, es nur zu gut zu
wissen, bei welcher. Partei im Lande seine Interessen liegen. Daher
ist er auch darauf bedacht, so gut er es versteht, die Interessen der
sesshaften Bevölkerung zu pflegen. So fand ihn vor zwei Jahren
der Abgesandte des General-Gouverneurs von Turkestan persönlich
mit der Leitung eines Canalbaues beschäftigt. Im Jahre 1867 hörte
ich in Khodschend, dass Khudayär einen neuen steinernen Bazar in
Khokand baue. Wie sich die Verhältnisse bei seinem Todesfälle
gestalten werden, ist nicht vorauszusehen. Dass die Qiptschaq, die
einst den Mella-khan und später dessen Sohn auf den Thron von
Khokand brachten, auch bei einem eintretenden Thronwechsel
wenigstens einen Versuch machen werden, einen Nebenbuhler des
Sohnes Khudayär s aufzustellen, etwa den in Kaschgar lebenden
Sohn Mella-khans, Muhammed-Sultan, dürfte nicht unwahrscheinlich
sein. Auch würde wahrscheinlich Jakub-beg, der Ataliq-Ghäzi von
Kaschgar — als Usurpator wagt er noch nicht, sich Khan zu nennen
— nicht abgeneigt sein, solch einen Versuch der Qiptschaq zu
unterstützen, um auch seinerseits Einfluss auf die Angelegenheiten
von Khokand zu haben, wie ja auch die Emire Nasr-ullah und
Mozzafar-eddin dem Khudayär Zuflucht gewährten und ihn unter¬
stützten, um bei guter Gelegenheit sich ift Khokand geltend zu
machen. Unsere Besitzergreifung von Kodschend, Ura-tepe, Zamin,
Dizakh und endlich des östlichen Zerafschan-Thalcs hat Khokand
ausserhalb bucharischen Einflusses und bucharischer Intentionen
gestellt. Jedenfalls ist der Umstand, dass die beiden Khanate auf¬
gehört haben Nachbarn zu sein, als ein Glück für sie zu betrachten.
Das Volk wird sich um so wohler befinden, je weniger seine Be¬
herrscher die Möglichkeit haben, die Ausgeburten ihres Grössen¬
wahnsinns zu verwirklichen.
Auch der Emir von Buchara, obgleich wir ihn gezüchtigt, muss
dennoch sich als uns verpflichtet betrachten, nachdem wir ihm ge¬
holfen, mit seinen innern Feinden fertig zu werden. Er macht, dar¬
aus "uns gegenüber auch kein Hehl und ebenso ist sein Volk
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zufrieden, dass es von den Lasten befreit is*, welche ihm die
früheren alljährlichen Kriegszüge seines Herrschers aufcrlegten.
Wie lange die alten Rivalen der Manghit — diesem Uezbeken-
Stamm gehört die gegenwärtig in Buchara herrschende Familie an
— die Keneges in Schehri-sebz, sich ruhig verhalten werden, ist für
Den, der die dortigen Verhältnisse von den Ufern der Newa aus
verfolgt, nicht möglich vorauszusagen. Wenn übrigens der Emir
bei der ,Wahl seiner Gouverneure (Bege) für die einzelnen Pro¬
vinzen vorsichtig und glücklich sein sollte, so könnte er, eben so
wie der Khan von Khokänd, die sesshafte Bevölkerung ganz für
sich gewinnen und dieselbe würde bei ihren conservativen Interessen
ein bedeutendes Gegengewicht gegen das unruhige, wenig produ-
cirende Element der Uezbeken-Stämme bilden.
Der Handel Bucharas dürfte, wenn die Verhältnisse so bleiben
wie sie sind, einen gegen früher*nicht unbedeutenden Aufschwung
nehmen, da jetzt nicht nur bucharische Kaufleute wieder sich frei auf
russischem Gebiete bewegen können, sondern da auch, in Folge der
Rücksichten, welche die bucharische Regierung Russland schuldet,,
die Agenten russischer Handelsleute auf bucharischem Gebiete nicht
mehr jenen Einschränkungen und Erpressungen ausgesetzt sind,
welche die rtissischen Handelsleute früher in Buchara zu erleiden
hatten. Wir haben uns das lange gefallen lassen. Unsere t
früheren wiederholten Gesandtschaften nach Buchara veranlassten
wohl sehr umständliche Verhandlungen in Betreff der gegenseitigen
Handelsbeziehungen, brachten auch dem bucharischen Handel sehr
viel Nutzen, nur nicht dem russischen. Der Emir und seine Regie¬
rung mussten erst die Wucht der Schläge, welche ihnen die russi¬
schen Waffen beibrachten und dann die Wohlthat einer Unter¬
stützung durch diese Waffen gefühlt haben, um den Werth freund¬
schaftlicher Beziehungen zu ihrem Nachbar schätzen zu lernen.
Andere Ueberzeugungsgründe finden bei Asiaten kein Gehör, am
wenigsten in Central-Asien. Die üzbekischen Diplomaten, obgleich sie
sehr schlau sind, vermögen die Grösse einer fremden Macht nur
dann abzuschätzen, wenn sie sie zu ihrem eigenen Schaden gefühlt
haben. Das zeigen auch alle die Beziehungen, in denen .wir bisher
zu Khiwa gestanden, selbst die neuesten. Seit einem Jahre bringen
uns die Tagesblätter beständig Berichte darüber, dass der Khan
von Khiwa durch Boten, Gesandte und andere Vermittler unserer
Regierung und ihren Repräsentanten seine Bereitwilligkeit zu er¬
kennen gebe, die in seinem Lande als Gefangene lebenden Russen
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in die Heimath zu schicken, aber die thatsächliche Ausführung dieses
lobenswerthen Vorhabens lässt noch immer auf sich warten, obgleich
man in Khiwa sehr gut wissen muss, dass, von Krasnowodsk aus
das Land des „Padischäh von Khowarezm“ nicht unerreichbar ist.
Uebrigens haben wir ein anderes, weniger kostspieliges Mittel, ihn
zur Erfüllung seiner Versprechen und unserer gerechten Forderungen
zu zwingen: wir brauchen nur alle von Khiwa kommenden Kara¬
wanen von unsern Grenzen zurück zu weisen. Um uns zu einer
Occupation veranlasst zu sehen, ist die Oase von Khiwa ein zu
wenig beneidenswerther Besitz. Am Wenigsten wäre auf Diejenigen
zu achten, welche meinen behaupten zu müssen, dass der Besitz des
Amu der Schlüssel zu einem bedeutenden Handel bis an die Grenzen
Indiens sei.
Wenn auch im Alterthume auf dem Oxus Waaren transpqrtirt
würden, welche von Indien über Baktrien kamen, so gelangten sie
bis zum Ostufer des Kaspischen Meeres nicht direct auf dem Oxus,
denn im Alterthume ergoss sich dieser Fluss nicht ins Kaspische
Meer. Die classischen Schriftsteller schreiben ihm diese Mündung
zu, weil sie den Aralsee nicht kannten. Die arabischen Geographen,
welche den Ptolemaeos nicht kennen, lassen ihn nur in den Aralsee
münden, weil diese Mündung ihnen bekannt war . Istakhri (im X.
Jahrhundert) kannte den Aibugir und den Ust-urt. Wenn ein Arm*
des Amu zeitweilig sich ins Kaspische Meer ergoss, so kann das nur
zwischen dem Anfang des XIII. und dem Ende des XVI. Jahrhunderts
gewesen sein. Dass aber dieser Arm zur Schifffahrt benutzt worden
sei, glauben wir nicht. Abulghäzi, den* wir die Nachricht über die¬
sen Arm verdanken, spricht nur davon, wie er zur Bewässerung von
Feldern und Gärten gedient habe. Und dann braucht eine Handels¬
strasse, die von Bedeutung fürs Alterthum gewesen ist, noch
keine Bedeutung nach unserem gegenwärtigen Maassstabe zu haben,
selbst wenn sie auch zu den belebtesten des Alterthums gehört haben
mag. Dass Peter der Grosse, zu dessen Zeit Russland (seit 1711)
vom Schwarzen und Asowschen Meere ausgeschlossen war, ernstlich
daran dachte, das Kaspische Meer für den russischen Handel mit
Asien fruchtbar zu machen, ist sehr natürlich, denn damals war die
Weltlage eine andere. Die Engländer hatten noch kein Stück Lan¬
des in Indien im Besitz: und wären unseres grossen Reformators Ge¬
danken an einen Handel mit Indien zur Ausführung gelangt, dann
stände es um Central-Asien besser als jetzt. Wäre Bekowitsch’s
Expedition gelungen, hätte man auch % bald eingesehen, was Viele
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jetzt noch nicht einsehen wollen, dass das alte Bett des Amu nicht
zur Schifffahrt, sondern nur zur Bewässerung des zwischen der
chowarezmischen Oase und dem Kaspischen Meere gelegenen Land¬
striches dienen könne. Dann wäre hier eine Landstrasse geschaffen
worden, welche durch angebautes Land mit sesshafter Bevölkerung
ginge.
Obgleich die Qazaq der Kleinen Horde, deren ,Wanderplätze vom
Jaik (Uralfluss) bis zum Sir sich erstrecken, schon wenige Jahre nach
Peter’s Tode, 1731, russische Unterthanen wurden, so sind sie*es
factisch eigentlich erst in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts ge¬
worden. Hätten wir aber nach einer erfolgreichen JJekowitsch’schen
Expedition an der Ostküste des Kaspischen Meeres und in den
Niederungen des Amu uns festsetzen* können, dann wäre die Be¬
zähmung der Qazaq viel früher vor sich gegangen. Dass Russland
zur Sicherstellung seiner weitgestreckten östlichen Grenze vom
Uralflusse bis zum Ischim und Irtisch die ausserhalb derselben
lebenden Nomaden sich zu unterwerfen genöthigt war, wird Keiner
leugnen wollen. Sie zu gehorsamen Unterthanen zu machen, hat
unserer Regierung viel Zeit, Mühe und Mittel gekostet und hat uns
zu der Occupation südlicher Landstriche mit sesshafter Bevölkerung
gezwungen, von der wir seit Peter’s des Grossen Zeit abstanden.
Lange hat man bei uns mit dieser Maassregehgezögert, weil sie dem
Staate nur Opfer an Mitteln auferlegt, welche die Einnahmen von
den neu erworbenen Ländern noch lange nicht zu decken im Stande
sein werden. Wenn die britische Verwaltung im reichen Ost¬
indien schon ein bedeutendes Deficit aufzuweisen hat, um wie viel
mehr die von Ländern mit einer viel weniger dichten Bevölkerung,
welche durch üzbekische Wirthschaft heruntergekommen ist. Für
Britannien wiPd aber dieser Schaden durch den Gewinn, den ihm sein
Handel mit der asiatischen Besitzung bringt, in bedeutendem
Maasse aufgewogen. Ueberhaupt kann Russland von asiatischen
Besitzungen nicht den Vortheil haben, den England von solchen hat,
da in ihm die disponibeln Capitalien in nicht so reichem Maasse
fliessen. wie in diesem und daher noch im eigenen Lande leicht An¬
wendung finden.
Wir wollen hier einen flüchtigen Blick werfen auf die Geschichte
der Qazaq oder „Kirgis-Kaissaken“, wie sie bei uns zuerst genannt
wurden. Mit ihrer Geschichte ist die Geschichte unseres Vorrückens
in Central-Asien verknüpft. Zu einer ausführlichen Geschichte dieses
Volksstammes hat sich, Dank den Bemühungen verschiedener
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russischer Forscher, ein bedeutendes Material dazu bereits ange¬
sammelt. Akademiker W. W. Weljaminow-Zernow ist mit den
Anfängen der Geschichte der Qazaq, nach orientalischen und russi¬
schen Chroniken, im II. Bande seiner umfangreichen Geschichte der
Khane von Kassimow’) beschäftigt gewesen. Ausserdem hat er aus¬
führliche Mittheilungen aus den Orenburgischen Archiven über die
Beziehungen der Qazaq zu Russland imXVIII. Jahrhundert gemacht.^)
Sonst haben sich A. J. Lewschin, in seinem durch eine französische
Uebersetzung auch im Auslande bekannten Werke über die Horden
und Steppen der Kirgis-Kaissaken"** ***) ) und Obrist Meyer in seinem
Büche über die transuralischen Steppcnf) verdient gemacht. In
letzter Zeit sind auch einzelne Episoden aus der neuesten Geschichte
der Qazaq behandelt worden.
Wir haben im Anfang unseres Artikels bereits angegeben, wann
der Name Qazaq aufkam (siehe Heft i. S. 36) Die aus dem Ulus
des Uezbeken-khans Abu-l-kheir davongegangenen Brüder aus dem
Geschlechte Dscliudschi’s, Girej und Dschani-bek fanden mit ihrem
Anhänge Aufnahme im Osten, hinter dem Balkasch-See, beim Dscha-
gataiden Isa-Bugha-khan. Der von ihnen und ihren Söhnen gestiftete
Bund gelangte bald zu Ansehen und Macht und als die Uezbeken
aus den Steppen im Norden in die Oxusgegend gezogen waren,
hielt sich Baranduk-khan, Girej’s Sohn, nördlich und nordöstlich
vom Aralsee, Qasim-khan, Dschani-bek’s Sohn, aber im westlichen
Mogholistan (hinter dem Baikasch) auf. Qasim vertrieb seinen Vetter
Baranduk, der in Samarkand starb, und schlug seine Zelte im Ulu-
tau, nordöstlich vom Aralsee auf. Unter seinen Nachfolgern, den
Söhnen seines Bruders Jadik, nahm die Macht der Qazaq ab, wuchs
*) IbarfcAOBaHie o KacHMOBCKiixT> napaxi» w uapeBunaxb, Theil l*bis III. Aus den
TpyAM BocTOHHaro Or/vfc.ieHiH llxnep. Apxeo^ioniHecKaro OömecTüa (Arbeiten der
orientalischen Section der Kaiserl. Archaeologischen Gesellschaft in St. Petersburg)
Bd. IX, X und XI, 1563—66. Das Werk wird erst im vierten Bande seinen Abschluss
finden und soll auch deutsch erscheinen.
**) Russisch unter dem Titel: H<rropii4ecKiH ll3Bl;CTia o Kuprua-h-KakcaKaxT. h cho-
uieiiiHX'b Pocciw Cb CpeAHew Asieio (1748—1765)^ d. i. historische Nachrichten über die
Kirgis-Kaissaken und die Beziehuugen Russlands zu Central-Asien (1748 — 1765),
Bd. I. (131 SS. i6°.) mit Beilage (48 SS- 16 0 .) und Bd. II. Heft I (64 SS. 16 0 .) Ufa
1853-1855.
***) St. Petersburg 1832 in dreiTheilen. Die französische Uebersetzung erschien 1840.
t) MaTepia-ibi aah Peorpa*bin h CTaTncTHKH Pocciw. KwprH3CKaji CTenb Open6ypr-
exaro B-feAOMCTBa. CocTa.Bw.i'b A Mettepi». C.-rin6. 1865. 8° TV-|-ni-t-87-(-288 SS.
Mit Tabellen, Plänen und einer Karte.
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aber wieder unter Schigai, dem jüngsten Sohne Jadik’s, welcher am
Ende des XVI. Jahrhunderts sehr mächtig war und von Abdullah¬
khan von Buchara für geleistete Dienste Khodschend als Lehen er¬
hielt. Seine Söhne herrschten in den Städten Turkestan und
Taschkend und den umliegenden Gegenden, die der Hauptsitz der
Mittleren Horde wurden. Unter ihnen zeichneten sich Ischim,
später sein Sohn Dschehangir und des letzteren Sohn Tjawka durch
ihre Kämpfe mit den Kalmüken aus. Diese Kämpfe schwächten
aber sehr das Volk der Qazaq. So geschah es denn, dass Tjawka
kurz vor seinem Tode, welcher 1718 erfolgte, eine Stütze an Russ¬
land suchte .und Peter dem Grossen seinen Wunsch zu erkennen gab,
sich Russland zu unterwerfen. 1723 waren die Qazaq genöthigt,
Turkestan und Taschkend aufzugeben und sich nördlich und westlich
zu ziehen, wodurch sie einerseits einen Theil der Kalmüken und die
Baschkiren westwärts drängten, andererseits sich selbst noch mehr
dem russischen Gebiete näherten. Die Grosse Horde kam unter
die Botmässigkeit der Dzungaren und Abu-l-kh&ir, Khan der Kleinen
Horde, erkannte im Jahre 1731 die russische Herrschaft an. Wohl
wurde schon im Jahre 1734 dem von der Regierung in St. Peters¬
burg an den Ural beorderten Staatsrath Kirilow der Auftrag
zu Theil, darauf bedacht zu sein, auf dem Aral armirte Fahr¬
zeuge zu bauen und dort einen Hafen auszusuchen, dooh dieser
Gedanke sollte erst ein Jahrhundert später zur Ausführung kommen.
Abul-kheir-khan versprach erstens, die russische Grenze, soweit sic
mit dem Wandergebiete seines Volkes Zusammenfalle, gefahrlos zu
halten, zweitens Handelskarawanen, wenn sie seine Steppen passirten,
zu beschützen, und drittens, wenn es sich als nothwendig erweisen
sollte, ein Hülfscorps zu stellen. Auch von Tribut war die Rede,
aber zu dem kam es nicht vor dem jetzigen Jahrhundert. Dafür
sollte von unserer Seite die Khans-Würde seinen Nachkommen ge¬
sichert sein und zu seinem Schutze an der Mündung des Or in den
Ural eine Festung erbaut werden.
Abul-kheir-khan war aber ,nicht der Mann, der sein Ansehen beim
Volke zu erhalten gewusst hätte. Ueberhaupt hatte man sich dadurch,
dass man seiner Familie die Khans-Würde zugesichert hatte, in eine
schiefe Stellung den Qazaq gegenüber gebracht. Denn hätten Abul-
kheir-khan und seine Nachkommen es verstanden, ihre Autorität in
der Horde zu bewahfen, darin hätten die von ihm eingegangenen
Bedingungen von ihm auch gehalten werden ünd von nachhaltigen
Folgen sein können. So befand sich aber unsere Administration in
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Orenburg) in der unangenehmen Lage, eine zur Häuptlingswürde
wenig geeignete Familie nicht allein wider den Willen des Volkes,
sondern auch den eigenen Interessen entgegen zu stützen. Daher
war der Einfluss der Administration auf die Qazaq ein geringer.
Auf den Linien kamen häufig Räubereien von ihrer Seite vor und
aus den russischen Grenzansiedelungen wurden oft Leute in die Ge¬
fangenschaft abgeführt. Es konnte also auf die Kleine Horde, eben
so wie auf die Mittlere Horde der Qazaq, nicht eher ein nachhaltiger
Einfluss ausgeübt werden, als bis im XIX. Jahrhundert in der letzteren
russische Ansiedelungen und in der ersteren Festungen angelegt
wurden. Obgleich der Khan der Mittleren Horde, Ablai, welcher
bis .zum Jahre 1781 lebte, sich oft geneigt zeigte, die russische Ober¬
hoheit anzuerkennen, zugleich aber dem Kaiser von China gegen¬
über' sich als Unterthan zu erkennen gab, so unterwarf sich dem
Russischen Scepter doch erst sein Sohn Wali-khan, der Grossvater
des in unserer Zeit als russischen Reisenden bekannt geworderien
talentvollen Tschokan-Walikhanow. Während eine Urkunde der
Kaiserin Catharina II. den Wali-khan als Khan der Mittleren Horde
anerkannte, wurde zugleich angeordnet, für die „Kirgis-Kaissaken“
an der Linie Moscheen zu bauen — ein Missgriff, der nicht gemacht
worden wäre, wenn unsere damalige Administration mit dem Volks¬
leben der Qazaq vertrauter gewesen wäre. Hier rächte sich, wie
auch oft später, der ausschliessliche Gebrauch der Dolmetscher im
Verkehr mit den Nationalitäten fremden Stammes, die man zu
regieren hatte. Die Kenntniss der Sprache der Nationalität, welche
zu administriren ist, ist eine conditio sine qua non für den Erfolg der
administrativen Thätigkeit. Denn den Weg zur Erkenntniss des
geistigen Lebens eines Volkes, mag dasselbe auf einer hohen oder
niederen Stufe der Civilisation sich befinden, ebnet nur die Kenntniss
seiner Sprache. Wo schriftliche Aufzeichnungen über die Ver¬
gangenheit eines Volkes fehlen, gewährt auch das Studium seiner
Sprache die einzige Möglichkeit, ijch über seine Vergangenheit
einige Aufklärung zu verschaffen. Um ein Beispiel in gegebenem
Falle anzuführen, hätte das Wort „ Kudai u für „Gott“ in der Sprache
der Qazaq an die allgemeine Verbreitung des Muhammedanismus
bei ihnen zweifeln lassen müssen. Dies Wort ist auf einen Stamm
*) Orenburg war anfangs, wie angeführt, am Ausfluss des Or in den. Ural angelegt,
wo jetzt Orsk ist, 1740 aber 184 Werst unterhalb auf der Krasnaja-Gora, von wo es
1742 von Neuem in di$ Nähe des Ausflusses der Sakmara verlegt wurde.
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zurückzuführen, von dem das neupersische Khudä ,,Gott 1 ‘herkommt,
und ist von Iraniern entlehnt, als diese den Islam noch nicht kannten.
1785 wurde ein Ukas hcrausgegeben, welcher die Versorgung ver¬
schiedener Qazaq-Gcschlechter mit muhammedanischen Geistlichen
(Mulla) anordnetc. Auch ausserdem machte die Correspondenz der
Orenburgischen und Sibirischen Behörden mit den Khanen und
Aeltcsten des Volkes in tatarischer Sprache den Aufenthalt tatarischer
Schriftkundiger, die wiederum Mulla waren, bei ihnen unum¬
gänglich, und auf diese Weise beförderte denn unsere Administration
die Verbreitung des ihren Zielen durchaus nicht günstigen Muham-
medanismus bei den Qazaq.
Erst am Ende der fünfziger Jahre dieses Jahrhunderts, wo an der
Spitze der Verwaltung der Qazaq* der transurälischen Steppe ein
wissenschaftlich gebildeter Orientalist stand (der gegenwärtige Pro¬
fessor der Geschichte des Orients an der St. Petersburger Univer¬
sität, W. W. Grigorjevv), wurden die Circulare und die Erlasse an die
Qazaq in ihrer eigenen, und nicht in der tatarischen Sprache abgefasst.
Damals war ein anderer Orientalist, der bekannte Herausgeber der
Memoiren Baber’s, Professor Ilminski, einer der Beamten der Oren¬
burgischen Steppenverwaltung. Er hatte sich gleich bei seiner
Uebersiedelung nach Orenburg angelegen sein lassen, die Kenntniss
des Idioms der Qazaq, welches bedeutend von dem der Orenburgi¬
schen und Käzanischen Tataren abweicht und fast gar keine arabi¬
schen Elemente in sich aufgenommen hat, sich anzueignen. Als
aber Ilminski und sein aufgeklärter Chef Orenburg verliessen, blühte
wieder das Tatarische in dem officiellen Verkehr mit den Qazaq
auf. Die von West-Sibirien aus verwalteten Qazaq haben von den
sie regierenden Beamten immer nur Erlasse erhalten, welche in der
ihnen fremden tatarischen Schriftsprache abgefasst wurden und die
bei ihnen sich aufhaltenden tatarischen Mulla ihnen unentbehrlich
machten. , % •
Nach dieser kurzen Abschweifung kehren wir wieder zur Ge¬
schichte der Qazaq zurück. Im Jahre 1801 bat sich ein Theil der
KleinenHorde unterBukei-Sultan dieErlaubniss aus, in die Gegenden
zwischen Ural und Wolga ziehen- zu dürfen, wo er seitdem unter
dem Namen der Innern Kirgisen-Horde lebt. Der Umstand, dass
diese Qazaq in den Kreis der festen Grenzen des Reiches zogen, hat
der Regierung ihre Administration bedeutend erleichtert und sie
nicht allein friedliebend, sondern auch wohlhabend gemacht. Die
Herrschaft über die übrigen Qazaq der Kleinen Horde und über die
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Mittlere Horde konnte nicht eher eine feste Grundlage gewinnen,
als bis vom Jahre 1824 an in dem Wandergebiete der letzteren von
West-Sibirien aus russische Colonien angelegt und zugleich äussere
Districte; organisirt, in dem Gebiete der Kleinen Horde aber
Festungen angelegt wurden. Die zuerst eröffneten Districte waren
der Karkaralinsche und der Koktschetausche (im Jahre 1824). Die
in diesen sowie in den andern, später eröffneten Districten lebenden
Qazaq hatten eine Steuer zu zahlen, welche nach der Zahl des in
ihrem Besitz befindlichen Viehes erhoben wurde. Im Jahre 1835
wurde von der Steppe zwischen Ural und Uj ein neu et Rayon abge¬
schnitten und nach aussen durch vier Festurigen befestigt, welche
die sogenannte „Neue Linie“ bildeten. Als 1837 zehn Districte im
südlichen Theile von West-Sibfrien eröffnet waren, erstand in der
Person eines Volkshelden ein Vorkämpfer für die Unabhängigkeit
der Qazaq. Diese Insurrection fand ihr Ende, nachdem ihr Leiter
seinen Tod bei den Berg-Qirghizen gefunden hatte. Nach einer
derartigen Erfahrung schritt man zur Anlage von Festungen. Eine
wurde am Turghai, eine andere am Irghiz angelegt. Man nannte
sie „Orenburgskoje“ und „Uralskoje Ukreplenije“.*) Später wurde
noch das Fort Qara-butagh angelegt. 1847 wurde die Grosse
Horde der Qazaq in den russischen Unterthanenverband aufge¬
nommen. Zu ihrem Schutze legte man die Festung Kopal an und
1854 Wernoje. Gleichzeitig mit der Anlage der Festung Kopal
wurde am Ausfluss des Sir-Darja Position genommen, um die unserer
*) Dieser Name, „Uralskoje Ukreplenije“, hat einen Berichterstatter der Zeit¬
schrift „Das Ausland“ sehr irre geführt. Bei den Nachrichten über die Unruhen,
welche 1869 unter den Qazaq der Kleinen Horde, in Folge der Einführung eines neuen
Verwaltungs-Reglements, ausbrachen, geschah in russischen Tagesblättern auch dieser
Befestigung Erwähnung. Herr Friedrich von Hellwald, der sonst in der Geographie
Central-Asiens ziemlich gut unterrichtet ist, hat dieses „Ural^koje Ukreplenije“ am
Irghiz mit der Stadt Uralsk am Ural verwechselt und aus den Unruhen der Qazaq eine
von den „Donischen (!) Kosaken“ ausgegangene Bewegung, die sich den „nördlichen
Kirgisen“ mittheilte, gemacht. Wenn wir die Verwechslung der Uralischen Befesti¬
gung mit der Stadt Uralsk uns noch erklären können, so begreifen wir nicht, -aie die
Donischen Kosaken an den Ural kommen, und eben so wenig die Anmerkung, wo der
Verfasser für nothwendig hält zu bemerken, „dass die Donischen Kosaken wie die
Kälmüken und Kirgisen niemals übermässig treue Unterthanen Russlands gewesen sind
und schon wiederholt — zumal unter Pugatschew — blutige Aufstände und Kriege
hervorgerufen haben“. (Siehe „Ausland 4, 1872. S. 244.) Wir begnügen uns mit der
kurzen Bemerkung, dass Pugatschew, obgleich am Don geboren, im Donischen Kosa¬
kenheere keinen Anhang hatte.
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123
Regierung Tribut zählenden. Qazaq gegen die Streifzüge, welche
von khokandischem und khiwaschem Gebiete aus unternommen
wurden, zu schützen. Die erste Abgabe von den Qazaq der Kleinen
Horde war 1837, und zwar von 15,506 Zelten eingesammelt worden.
Im Jahre 1846 ward die Abgabe (1 V2 Rubel vom Zelt) von 67,280
Zelten gezahlt worden. 1847 wurde die Festung Rahim (später
Aralsk genannt) am Sir angelegt und zugleich das erste Fahrzeug
der jetzigen Arals-Flottille in den Sir gebracht. Damals wurde auch
die topographische Aufnahme der Ufer des Aralsees und seine Ver¬
messung unternommen — desselben Sees, von dessen Existenz ,das
westliche’Europa erst von Russland aus (zu Peter’s des Grossen Zeit)
Kunde erhalten hatte, wie Karl von Baer in seiner Schrift über die
Verdienste Peter’s um die Geographie nachweist.
Die hier erwähnten Maassregeln jenseits des Ural waren um so
nothwendiger, als Khiwa seit dem Anfänge des Jahrhunderts Be¬
festigungen angelegt hatte und sich erlaubte, von unsern am Sir im
Winter sich auf haltenden Qazaq, welche im Sommer am Turghai
ihre Heerden weiden lassen, sowie von den aus Buchara nach Oren-
burg uhd Troitzk ziehenden Karawanen Steuern zu erheben. Im
Jahre 1847 wagten sich Schaaren aus Khiwa bis in die Nähe der
Festung am Irghiz. Als nun die Khiwaer ihre Züge zur Niederung
des Sir einstellten, versuchten daselbst die Khokander ihr Glück.
Obgleich sie vom Forst Aralsk aus in den Jahren 1850—1852 häufig
mit Erfolg zurückgeschlagen wurden, musste doch an die Beseitigung
ihrer Festungen am untern Lauf des Sir gedacht werden. Daher
wurde die bekannte Expedition des Generals Perowski gegen Aq-
Mesdschid, wo der jetzige Beherrscher von Kaschgar (Jaqub^Beg)
als khokandischer Befehlshaber sass, unternommen. Nachdem die¬
selbe glücklich vollendet worden, ging man an die Anlage einer
Reihe von Festungen längs dem untern Lauf des Sir. Das Fort
Aralsk wurde an die Stelle des jetzigen Kazalinsk übergeführt und
erhielt die Benennung Fort No. 1. An der Stelle von Aq-Mesdschid
wurde das Fort Perowski, zwischen ihm und Fort No. I, wo die
beiden Arme des Sir Dschaman-Darja und Qara-Uezäk, sich ver¬
einigen, wurde Fort No. 2, am Kuwan-Darja Fort No. 3 (aber bald
aufgehoben) angelegt. Diese Reihe schloss im Jahre 1861 mit dem
Fort Dschulek. Die Hauptvenvaltung der Qazaq am Sir wurde in
das Fort Perowski verlegt.
Waren nun die Khokander aus den Niederungen des Sir bis
Dschulek verscheucht, so traten sie jetzt mit um so grösserem
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Nachdruck im Osten gegen die Qazaq der Grossen Horde am Ili auf.
Auch die Chinesen rückten hier mit ihren Piketen vor. Unterdessen
waren die Qirghiz-Stämme Boghu und Saribaghisch zwischen den
Jahren 1855 und 1860 russische Unterthancn geworden. Zu ihrem
Schutz wurde am südöstlichen Winkel des Isi-kul die Feste Aq-
su angelegt. Ausserdem war auch die russische Colonisation in die
Nähe des Isi-kul vorgedrungen.
Auf diese Weise hatten denn unsere Bemühungen, die sich
anfänglich darauf beschränkten, unsere Grenze zwischen Ural und .
Irtisch gegen dieQazaqzu schützen, uns, nachdem wir diese imLaufe
eines Jahrhunderts factisch unterworfen, auch die Verpflichtung
auferlegt, sie selbst gegen die Uebergriffe der üzbekischen Khanate
zu schützen. Um diesen Schutz auf die Dauer auch gewähren zu
können, erwies sich als strategische Nothwendigkeit, die von Osten
und Westen vorgeschobenen Vorposten zu vereinigen. Das geschah
in Jahre 1864 durch die Einnahme im Westen der Städte Turkestan
und Tschemkend, im Osten der befestigten Punkte Toqmaq, Merke
und Aulie-Ata. Da nun dieKhokander nach allen ihren Verlusten ihre
Feindseligkeiten gegen uns nicht unterlassen und später der Emir
von Buchara, der bei diesen Angelegenheiten gar nicht betheiligt
war, unbefugter Maassen sich einmischte, sah man sich genöthigt,
nicht allein bis Taschkend vorzudringen, sondern auch im Süden des
mittleren Sir sich festzusetzen. Khudayär-khan, der, Dank unserm
Vordringen, wieder auf den Thron von Khokand, von dem er zwei¬
mal vertrieben worden war, zurückkehren konnte, stand nach der
unsererseits erfolgten Einnahme der Städte Khodschend, Ura-tepe,
Zamin und Dizakh von weiteren Feindseligkeiten ab. Dagegen hatte
aber der Emir vonBuchara aus den Ereignissen der letzten Jahre nichts
gelernt. Während ein Gesandter von ihm in Orenburg sich aufhielt
und mit dem dortigen General-Gouverneur Friedensbedingungen
stipulirte, schickte er Räuberbanden an unsere Grenzen aus und
behielt die ihm zugefiihrten einzelnen Gefangenen. Im Jahre 1868
glaubte er sich stark genug, um offene Feindseligkeiten eröffnen zu
können. Bekanntlich hat er seinen unbesonnenen Uebermuth bitter
büssen müssen.
. •
Während die erwähnten Ereignisse am mittlern Sir-Darja sich ab¬
wickelten, hatten die Verhältnisse im Süden des Thian-Schan eine
Veränderung erlitten, welche für das uns benachbarte China die
, nachhaltigsten Folgen haben müssen und auch auf unsere eigenen
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Beziehungen zu diesem Nachbarn nicht ohne Einfluss bleiben dürften.
Es erlitt nämlich damals die Macht der Chinesen, die sich bis zum
Anfang der sechziger Jahre bis an die Grenzen Khokands erstreckte,
eine Niederlage, die von Seiten eines Feindes kam, der im Herzen
Chinas selbst schon seit langer Zeit die Stützen der gegenwärtigen
Dynastie des Landes untergräbt. Wir meinen die Insurrection der
muhammedanischen Dunganen*) in Ost-Turkestan und zugleich im
Ili-Gebiet.
Wir setzen als unsern Lesern bekahnt voraus, dass im Anfang der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts (1758) die Chinesen, nachdem
sie die Familie der Khodscha’s, welche unter der Oberhoheit der von
ihnen besiegten Dzungaren in Ost-Turkestan geherrscht hatten, aus
dem Lande .getrieben, von demselben Besitz nahmen und in die
Festungen ihre Garnisonen brachten. Die Khodscha’s flüchteten nach
Badakhschan, wo sie vom Fürsten des Landes umgebracht wurden.
Einer von ihren Söhnen soll aber nach Buchara entkommen und ein
Enkel desselben am Ende des ersten Viertels dieses Jahrhunderts,
nachdem Emir Haider, der Vater Nasr-ullah’s, gestorben war, nach
Khokand gezogen sein. Zur Zeit Muhammed-Ali-khan’s von Kho-
kand finden wir dort schon einige Glieder aus der erwähnten Familie
der Khodscha’s. Sie unternehmen von Zeit zu Zeit Einfälle nach
Kaschgar, die vom Khan von Khokand unterstützt werden. Da sie
einen bedeutenden Anhang unter den Turkestanern hatten, ent¬
schloss sich die chinesische Regierung, dem Khan von Khokand die
Handelssteuern von den turkestanischen Städten zu überlassen,
wpfiir er sich verpflichtete, die Familie der Khodscha’s zu interniren.
Von 1832 bis 1846 erfreuten sich die Städte von Ost-Turkestan der
Ruhe. Als aber mit der Thrqnbesteigung des 14jährigen Khudayär-
khan, des Nachfolgers Muhammed-Ali-khans, Unruhen in Khokand
ausbrachen, wussten einzelne Glieder der Familie der Khodscha’s
von Neuem ihren Einfluss in Kaschgar geltend zu machen. 1857
rat der bekannte Mörder Robert Schlagintweit’s auf. Von seinem
•^R. Schaw, in seinen „Visits to High Tartary“ etc. glaubt den Namen Dungdnen
oder Tungdnen auf ein chinesisches Compositum „tun-jdn“ (tun-dschdn), welches so
viel als „Militärcolonisten“ bedeuten soll, zurückführen zu können. Professor Wassil-
jew, der in chinesischen Dingen als Autorität zu betrachten ist, ist geneigt, in Tungan
eine Umstellung von Tangun, dem Singular von Tangut, zu suchen. S. dessen Auf¬
satz über die muhammedanische Bewegung in China. S. 14.
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grausamen Blutdurst entwerfen Walikhanow*) und R.Schaw (in seinen
„Visits to High Tartary“) ein, jeden Menschenfreund mit Grauen er¬
füllendes Bild. Bei dem Anmarsche einer chinesischen Armee sah
Wali-khan-türä sich genöthigt zu fliehen. Er zog sich nach Derwäz
ini obern Stromgebiete des Amu zurück und wurde von dem dortigen
Herrscher nach Khokand ausgeliefert. Khudayär-khan hatte An¬
fangs die Absicht, Wali-khan für das Vcrgiessen des Blutes so vieler
Rechtgläubigen zu strafen, musste aber davon abstehen, da er die
Sejide zu fürchten hatte, welche für den Khodscha eintraten. Den
Chinesen in Kaschgar spiegelte er vor, dass er den Wali-khodscha
in Ketten in eklem Gefängnisse halte.
Wir können hier nicht auf die ausführliche Darstellung der durch
die Khodscha’s in Kaschgar bis zum Jahre 1858 veranlassten Wirren
eingehen, die bei Walikhanow umständlich geschildert sind. Ueber
die Begebenheiten daselbst seit 1863 finden wir Mittheilungen in
dem Reiseberichte von Robert Schaw. In Aq-su und Kutsche
revoltirten um diese Zeit die Dunganen gegen die Autorität der
chinesischen Regierung, eben so in Järkend und Khotan. In Kasch¬
gar war der Amban, der Chef der dortigen chinesischen Garnison,
dem gleichen Vorhaben der dortigen Dunganen dadurch zuvorge¬
kommen, dass er sie bei einem von ihm veranstalteten Feste nieder¬
metzeln Hess. Die Qirghiz aus den umliegenden Berglandschaften
benutzten die Unruhen im Lande, um ihrer Raubgier Genüge zu
leisten und griffen Kaschgar an. Ein Jahr und vier Monate ver¬
teidigten sich die Chinesen und die Einwohner von Kaschgar.
Endlich durch Hunger decimirt, mussten sie die Stadt den Qirghiz
überlassen, welche auf die grausamste Weise die Einwohner be¬
handelten. Nur die chinesische Festung, welche fünf englische
Meilen südlich von der Stadt liegt, behauptete sich. Alle diese
Wirren lockten wieder einen Repräsentanten der Familie der
Khodscha’s aus Khokand. Dieses Mal war es Buzurg-khan, der Sohn
Dschehangir-khans, welcher in den Jahren 1827—1828 einen Einfall
in Turke^tan gemacht hatte. Wäre Buzurg-khan nicht von dem
energischen und tapfern Jaqub-beg, der die Seele dieser Unterneh-
*) Siehe dessen Aufsatz: „<J coctorhui A.iTuuiapa hau ineertt boctohhuxi» ropOAO^i.
KHTattcKoft npoBHHuin HaHb-.iy (Majiott Byxapiu) vu 1858—59 roay“, d. i „Ueber den
Zustand von Altyschar oder der sechs Städte der chinesischen Provinz Nan-lu oder der
kleinen Bucharei im Jahre 1858— 59 u , im 3. Hefte der Denkschriften der Kaiserl. Kuss
Geogr. Gesellschaft für 1^861. Abth. II. S. 1 —76.
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mimg war, begleitet gewesen, so wäre dieselbe wohl schwerlich von
Erfolg gewesen. Mit einer kleinen Schaar waren sie aus der kho-
kandischen Provinz Andidschan in Ost-Turkestan eingefallen, wo sie
bald einen Anhang fanden. Später erhielten sie noch Verstärkung
aus Khokand. Zunächst wandten sich Buzurg-khan und Jaqub-beg
gegen die chinesische Festung von Kaschgar. Vor derselben blieb
der Erstere mit einem Theil der Truppen liegen, während Jaqub-beg
mit den übrigen gegen Jangi-Hisar und Järkend zog. Jangi-Hisär
wurde von ihm genommen, Jarkend aber behaupteten die Dungänen
eine Zeit lang, und erst im Frühjahr 1865 gelang es ihm, diese Stadt
zu nehmen, nachdem er im vorhergehenden Winter die Festung
von Kaschgar überwältigt hatte. Jaqub-beg wusste sich bei den
Truppen, die für den Khodscha Buzurg-khan kämpften, durch
Grossmuth bei der Vertheilung der Beute beliebt zu machen, wie
auch seine persönliche Tapferkeit ihnen imponirte, so dass der
Khodscha, der einem wüsten Leben sich ergab, bald durch seinen
Feldherm in den Schatten gestellt und zuletzt von ihm gezwungen
wurde, eine Wallfahrt nach Mekka zu unternehmen, von der er
nach Andidschan zurückkehrte. Andere Mitglieder der Khodscha-
Familie hat Jaqub-beg zu Vezieren ernannt, den Mörder Schlagint-
weit’s, der sich auch auf den Schauplatz der eben erwähnten Be¬
gebenheiten gewagt hatte, liess er aber tödten. Nachdem Jaqub-
beg im Laufe zweier Jahre seine Macht befestigt hatte, war er
darauf bedacht, sie nach Osten hin auszudehnen. Zuerst bemäch¬
tigte er sich durch List Khot^ns. Später nahm er Aqsu, Kutsche,
Päi, Kharaschar, Usch-Turfan und Urumtsi. Sein Ansehen ist,
Dank seiner Energie und der Umsicht, mit der er die ihm unter¬
worfenen Landschaften zu beherrschen weiss, bedeutend gestiegen.
Der Emir von Buchara, welcher in Central-Asien als das geistige
Oberhaupt der Muslim gilt, verlieh ihm den Titel Ataliq-Ghäzi
(Vater der Bekämpfer der Ungläubigen;. Sich den Titel eines
Khans beizulegen, dazu ist Jaqub-beg viel zu vorsichtig. Auch nach
Westen hin hat er seine Macht geltend gemacht, indem er einen
glücklichen Feldzug gegen Sari-kul unternahm, von wo er zahlreiche
Gefangene mitbrachte.
Da die Herrschaft der Chinesen im Ili-Gebiet gleichzeitig mjt
ihrem Sturz in Ost-Turkestan beseitigt worden ist, wäre es Jaqub-
beg gewiss auch gelungen, seine Macht auf Kuldsha auszudehnen,
wenn wir unsererseits gleichgültige Zuschauer der dortigen Bege¬
benheiten geblieben wären; das konnten wir aber nicht, da ausser
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unsern Handelsinteressen auch die Ruhe unseres eigenen, an Kuld-
sha stossenden, Gebietes gefährdet war.
Jaqub-beg ist eine derjenigen Persönlichkeiten, welche befähigt
sind, über den centralasiatischen Muslim grossenEinfluss zu gewinnen.
Ohne bei der Wahl der Mittel, die zur Macht fuhren, sich von irgend
welchen Regungen eines zarten Gewissens beschränken zu lassen,
vermeidet er jedoch jeden Akt der Grausamkeit, der nicht zur un¬
mittelbaren Befestigung seiner Macht nothwendig ist. Dabei ist er
persönlich tapfer, einfach in seiner Lebensweise, streng bei der
Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung wie in der Beobachtung
der Vorschriften seiner Religion und dabei freigebig gegen die,
welche ihm ergeben sind. So ist es ihm denn gelungen, nicht allein
einen bedeutenden Ländercomplex zusammen zu bringen, sondern
auch die Ruhe in demselben herzustellen. Doch schwerlich wird
diese Ruhe andauern, sobald die Persönlichkeit, deren Wille sie
aufrecht erhält, durch den Tod von ihrem Schauplatz abgerufen
werden sollte. Dann werden gewiss die früheren anarchischen Zu¬
stände wieder eintreten. Die Herrschaft der Mandschu wird aber
schwerlich sich in Ost-Turkestan wieder befestigen können, denn
selbst im Innern des Reiches ist sie durch das beständige Wachsen
der Zahl der Bekenner des Islams in Frage gestellt. Nicht allein in
den nordwestlichen Provinzen Chinas, auch im Süden, namentlich in
der Provinz Jün-nan macht der Islam Fortschritte, die für den Be¬
stand der Mandschu-Dynastie sehr bedenklich sind. Der jüngste
Berichterstatter T. T. Cooper, lässt sic^i in seiner Reisebeschreibung
(Travels of a Pioneer of Commerce etc.) in folgender Weise über'
die muhammedanische Bewegung in China aus:
„In Folge der Toleranz der Chinesen gegen jede Religion* durch
welche die fundamentalen Grundsätze ihrer Staatskunst nicht gefähr¬
det werden,und deren Verbreitung im Reiche keine Fremdherrschaft
befürchten lässt* blieb der Erfolg des Islam, dessen Bekenner jetzt
in China nach Millionen zählen, unbeachtet. Es giebt kaum eine Stadt
von Bedeutung, welche nichtMuhammedaner,Choi-tsü, wie die Chine¬
sen sie nennen, aufzuweisen hätte. Die grossen Mittelpunkte der mu-
hammedanischen Chinesen sind beständig Jün-nan und die nordwest¬
lichen Provinzen von Kan-su und Schen-si gewesen: hier findet man
auch die Schauplätze der gegenwärtigen Insurrectionen. Besonders
im westlichen Theile der ersten Provinz bildeten die chinesischen
Muhammedaner um das Jahr 1850 die Hälfte der Bevölkerung und
zeichneten sich hier durch ihren Wohlstand und ihre Energie aus.
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Es muss übrigens bemerkt werden, dass, obgleich Einige von ihnen
auf eine arabische Abstammung Anspruch erheben, die Mehrzahl
der Muhammedaner chinesischer Abkunft ist, und, die Religion aus¬
genommen , sich in Nichts von ihren übrigen Landsleuten unter¬
scheidet. Eis scheint zwischen ihnen und den Chinesen anderer Re-
ligioi) kein Zerwürfniss stattgefunden zu haben, auch haben sie
nicht aus'religiösen Gründen eine Bedrückung erlitten; eben so
wenig war zu einer Insurrection der muhammedanischen Bevöl¬
kerung mehr Grund vorhanden, als zu einer von Seiten der buddhi¬
stischen. Wohl schreibt ein vom General Fytche der asiatischen
Gesellschaft in Bengalen im Jahre 1867 mitgetheilter Artikel den
ersten Ausbruch der muhammedanischen Insurrection den Arbeitern
in den Silberminen vonLu-sun-fu zu, die, durch ungerechte Behandlung
zur Verzweiflung gebracht, zur Gewalt gegriffen und jeden chine¬
sischen Beamten, der ihnen in den Weg kam, ermordet hätten.
Dieser Bericht stammt aus birmanischen Quellen und ist wahr¬
scheinlich nicht ganz unbegründet. General Fytche bedauert aber
selbst, dass seine Nachrichten unbestimmt und unvollständig sind.“
Cooper ist geneigt, den Informationen, die er dem katholischen Bi¬
schof Chaveau. verdankt, mehr Vertrauen zu schenken, da er die¬
selben von verschiedenen intelligenten Muhammedanern bestätigt
fand. Nach Chaveaus Bericht standen einige Jahre vor dem Aus¬
bruch der Insurrection die Muhammedaner injün-nan, welche den
wohlhabendsten und einflussreichsten Theil der Bevölkerung aus¬
machten, unter zwölf Aeltesten, die in den wichtigsten Städten
wohnten. Diese-Männer, welche nicht wegen ihrer Gelehrsamkeit,
sondern wegen ihres Einflusses gewählt waren, wirkten als die Re¬
präsentanten und Wächter der religiösen Interessen der Gläubigen.
Entweder von der Religion angezogen, oder von dem GedanÄen ge¬
leitet, den Einfluss der muhammedanischen Gemeinden in seinem ei¬
genen Interesse zu verwenden, ward der Gouverneur von Jün-nan,
welcher in Jün-nan-fu residirt, veranlasst, die Religion Muhammeds
anzunehmen, und das Beispiel eines so angesehenen Proselyten
wurde zahlreich befolgt. Er wünschte jedoch einige der bestehenden
religiösen Gebräuche *) nach seinen Ansichten modificirt zu sehen,
*) Professor Wassiljew hat als Anhang zu seinem Aufsatze über die muhammedanische
Bewegung in China dieProclamation eines chinesischen Muhammedaners im chinesischen
Original mit russischer Uebersetzung veröffentlicht. Die vierzehn Paragraphen dieser
Proclamation beziehen sich auf die bei der Eheschliessung, bei Beerdigungen und bei
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wodurch er seine Glaubensgenossen nicht wenig verletzte. Einer der
Zwölf Aeltesten, welcher in Li-kian-fu wohnte, erklärte das Betragen
des Gouverneurs als unverträglich mit der Freiheit ihres Glaubens.
Dieser Protest, dem sich die übrigen Aeltesten anschlossen, ward
von dem hohen Würdenträger nicht beachtet, und so brach denn
die Krisis aus. Im Jahre 1855 rief der Aelteste von Li-kian-fu die
Gläubigen zu den Waffen. Diesen Aufruf unterstützten die übrigen
Aeltesten und bald hatte sich die Insurrection über das ganze west¬
liche Jün-nan, die wohlhabende Stadt Teli-fu nicht ausgenommen,
verbreitet, und zuletzt wurde die Hauptstadt der Provinz,. Jün-nan-fu,
von muhammedanischen Truppen eingeschlossen. Der Aelteste von
,Teli-fu war zum Befehlshaber der muhammedanischen Truppen
erwählt
Unterdessen hatte der Gouverneur in Jün-nan-fu beständig Be¬
richte über Siege, die er über die Rebellen erfochten haben wollte,
nach Peking gesandt. Er wurde in die Kaiserliche Hauptstadt be¬
rufen und an seine Stelle wurde ein anderer Mandarin ernannt. Er
weigerte sich aber, dem erhaltenen Befehle Folge zu leisten, indem
Cr vorgab, dass er eben im Begriff sei, der Insurrection den letzten
Schlag beizubringen und in solch kritischem Momente seinen Posten
nicht verlassen könne. Wiederholte Befehle aus Peking blieben von
ihm unbeachtet und die Mandarine, welche geschickt wurden, ihn
zu ersetzen, machten — entweder zufrieden, sich der Verantwortung,
eine im vollen Aufstande begriffene Provinz zu verwalten, entzogen
zu sehen, oder durch gewichtige Bestechungen erkauft — keine An¬
stalten, den Gouverneur abzusetzen. So weit waren die Sachen ge¬
diehen, als Dau-win-schian, der erwähnte Aelteste von Teli-fu, vor
den Thoren von Jün-nan-fu stand.
Der/Gouverneur liess sich in Unterhandlungen mit den Rebellen
ein und schloss mit Dau-win-schian einen Vertrag ab, laut welchem
er ihm das westliche Jün-nän von der birmanischen Grenze bis 30
(engl.) Meilen vor Jün-nan-fu überliess. Das Haupt der Insurgenten
zog sich nach Teli-fu zurück und der Gouverneur in Jün-nan-fu be¬
richtete nach Peking, dass der Aufstand unterdrückt sei. Es folgten
ein oder zwei Jahre der Ruhe, welche die Muhammedaner benutzten,
Gebeten zu beobachtenden Gebräuche, verbieten den Gebrauch von Tabak und
Wein, den Umgang mit Freudenmädchen, das Spiel, den Wucher, und beziehen sich
auf das Einsammeln der Armensteuer, die Errichtung von Schulen, die Erhaltung der
Moscheen und das Schlachten des Viehs.
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ihr Regiment zu befestigen und die gestörten Verhältnisse zu ordnen.
Die geschickte Regierung in Teli«fu heilte bald die Schäden,, die
der Krieg verursacht hatte und der Handel zwischen dem west¬
lichen Jün-nan und den benachbarten kaiserlichen Provinzen blühte
wieder auf.
Als die Regierung in Peking von dem wirklichen Thatbestande
unterrichtet war, schickte sie einen Mandarin ab. um den verräte¬
rischen Gouverneur abzusetzen. Doch auch diese iCtaassregel blieb
ohne Erfolg und der Mandarin, welcher mehrere Monate von dem
Gouverneur in sehr gastfreundlicher Weise unterhalten wurde, rieth
bei seiner Rückkehr nach Peking, den Gouverneur an seiner Stelle
zu lassen«. Jetzt schloss dieser mit Dau-win-schian, den er als Kaiser
des westlichen Jün-nan anerkannte, ein Trutz- und Schutzbündniss
ab. Der Gouverneur in^Jün-nan-fu erhielt von dem Machthaber in
Teli-fu Geld, um alle Beamten und Truppen, die der Hof in Peking
schicken könnte, zu erkaufen. Bis zur Zeit, wo Cooper reiste (1868),
war nichts weiter geschehen, als dass aus einer benachbarten Provinz
eine unbedeutende Truppenabtheilung geschickt wurde, um die
Macht der Muhammedaner zu stürzen. .
Die hier mitgetheilten Thatsachen sind ein deutlicher Beweis für
die Schwäche der Regierung der gegenwärtigen Mandschu-Dynästie
und die Demoralisation ihrer höchsten Beamten. Cooper erwähnt
auch eines Abd-ul-Dschafar, der das Haupt der muhammedanischen
Bewegung in der nordwestlichen Provinz Kan-su ist und meint,
wenn sich die hiesigen Muhammedaner mit denen in Teli-fu ver¬
einigen, dürfte die mittlere Provinz Sze-tschuan in ihre Gewalt
gelangen:
Ueber die Vorgänge im Ili-Gebiete vor der russischen Occupa-
tion giebt uns ein sehr anschauliches Bild der Bericht eines chine¬
sischen Augenzeugen, den Professor Wassiljew, nebst einem andern
Berichte aus derselben Feder über die Einnahme von Kuldscha durch
unsere Truppen, aus dem Chinesischen übersetzt und iÄi „Russischen
Boten“ veröffentlicht hat. Der verehrte Gelehrte hat der Ueber-
setzung dieser beiden chinesischen Denkschriften, welche für die
chinesische Regierung bestimmt waren, jetzt aber in dein Asiati-
schen Museum der hiesigen Akademie der Wissenschaften deponirt
sind, eine Einleitung vorausgeschickt, welche unsere Beziehungen
zu China seit dem Vertrag von Nertschinsk am Ende des XVII. Jahr¬
hunderts bespricht.
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Der chinesische Berichterstatter, Lü-tsun-han, aus Schen-si ge¬
bürtig, war 1857 nach Ili (gewöhnlich Kuldscha genannt) gekommen,
beschäftigte sich dort bis 1858 mit dem Unterrichte mandschurischer
und chinesischer Knaben, kaufte sich dort einen Rang und, als die
Unruhen in Ili ausbrachen, ward er in den chinesischen Staatsdienst
aufgenommen.
Im Jahre 1863, berichtet Lü-tsun-han, begannen die. Unruhen
unter den chinesischen Muhammedanern um Khorgos (60 Werst
n. w. von Ili), doch der chinesische Oberbefehlshaber in Ili, der
Dzan-dsün Tschan, ergriff Maassregeln zu ihrer Beruhigung, die
nicht ohne Erfolg blieben. Im Stillen aber dauerte die Gährung
fort. Im fünften (chinesischen) Monate des Jahres 1864 kam aus
Kutsche (südlich von Thian-schan) die Nachricht, dass die dortigen
chinesischen Muslim mit den Turkestanefh sich vereinigt und revol-
tirt hatten. Tschan schickte Leute dorthin ab, um genauere Erkun¬
digungen einzuziehen, rüstete auch Truppen zur Absendung nach
Kutsche aus, musste aber letzteres Vorhaben aufgeben, da die Nach¬
richt einlief, dass die Brücke im Bergpass zerstört* sei. Zur selben
Zeit rührten sich wieder die muhammedanischen Chinesen in Ili,
wurden aber vom Generalgouverneur zur Ruhe gebracht. Im sechsten
Monat desselben Jahres kam aus Urumtsi die Nachricht von dem
Aufstande der dortigen chinesischen Muhammedaner, welche sich
der chinesischen Festung daselbst bemächtigt haben sollten. Aus
Ili wurden einige Tausend Mann Truppen, aus Mandschuren, Chi¬
nesen, Sibo Solonen und einigen Freiwilligen von den Ackerbauern
bestehend, abgesandt. Als sie mit der kleinen Schaar.der Insur¬
genten zusammenstiessen, Hessen sie sich mit ihnen in Unterhand¬
lungen ein, welche jenen Zeit gaben, neue Verstärkungen aus Urumtsi
zu erhalten und die Regierungstruppen zu schlagen.
Da erhob die Insurrection auch in Ili ihr Haupt. Am Abend des 12.
des zehnten Monats, um 9 Uhr, fingen die Dunganen im Verein ftiit
den Tarantschi (Turkestancr nennt sie der Bericht; im eigentlichen
Kuldscha welches 45; Werst südöstlich von Ili oder dem soge¬
nannten Kuldscha .liegt) zu morden und zu brennen an. Um zwei
Uhr in der Nacht hatten die muhammedanisöhen ^Chinesen in Ili
bereits davon Nachricht und vereinigten sich auch hier, mit den Tur-
kestanem. Auf dem Kameel-Markt im westlichem Theile der nörd¬
lichen Vorstadt bildeten sie ein Lager. Am 13. beorderte der Dzan-
dsün den Tschocharen-Amban Siratu mit mandschurischen und chi¬
nesischen Truppen zur Vernichtung der Insurgenten. Die Truppen
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wollten lange sich nicht schlagen, und als sic sich schlugen, konnten
sie mit den Insurgenten nicht fertig werden.
Am 24. wurden Truppen aus allen Orten zusammengezogen, doch
nur die Solonen traten ins Gefecht Es gelang ihnen, den Insur¬
genten eine Niederlage beizubringen. Statt diesen Vortheil auszu-
beuten und den Kampf fortzusetzen, wurde den Truppen Ruhe ge¬
währt Die Insurgenten benutzten es, sich in Kuldscha mit den Tur-
kestanern aus verschiedenen Ortschaften zu vereinigen* und in einem
befestigten Lager 30 Li von Ili Position zu nehmen.
Nach vier Tagen wurde wieder ein Angriff gemacht,' wobei aber
500 Mann' den Insurgenten in die Hände fielen. Die im Süden und
Nord-Westen von Ili stationirten Sibo und Solonen wurden gegen
>den Feind beordert; als sie aber von der letzten unglücklichen Affaire
hörten, kehrten sie zurück.
Am 26. des.elften Monats wurde auf Befehl des* Bogdochans
Tschan abgesetzt und an seine Stelle trat der Amban Min. Dieser
Hess den folgenden Tag die mandschurischen, chinesischen, Sibo-
und Solon-Truppen sowie ‘die Bürger-Miliz gegen die Insurgenten
ausrücken. Beim ersten Zusammentreffen war der Vortheil auf
Seiten der Regierungstruppen, die Insurgenten machten aber einen
zweiten Angriff und blichen Sieger. Die Regieningstfuppen hatten
mehr als tausend Mann, verloren.
Darauf' wurde ein neuer Befehlshaber der Truppen ernannt, der
im vierten Monat des folgender! Jahres (1865) krankheitshalber von
dem Amban Tschan ersetzt wurde.
Unterdessen war die Stadt Bäjandai (35 Werst nordöstlich von Ili)
in die Hände der Insurgenten gelangt, auch der Ort, wo der Gencral-
stab der Regierungstruppen sich befand, ward von ihnen umzingelt.
Mit einem Verlust von mehr als tausend. Mann mussten sie sich
aber zurückziehen. Zu Anfang des fünften Monats .wurden 17,000
Mann, in drei Corps getheilt, gegen die Insurgenten geschickt. Das
erste Corps, aus 6000 Mann bestehend, wurde von ihnen zurückge¬
schlagen und, selbst in Unordnung gerathen, brachte es auch die
anderen Corps in Verwirrung.
Im sechsten Monate, kamen von jenseits des Thian-schan aus
Kharaschar und Dun-schan Kalmüken zur Hülfe. Ehe sie bis Ili
gelangten, erlitten sie viele Verluste durch die Insurgenten. Plötzlich
aber kehrten sie wieder um.
Die Insurgenten erlangten allmählich verschiedene Vortheile in den
Wohnplätzen der Sibo, wo das zweite, sechste und achte Banner
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>34
I
(Sumul) mit den Insurgenten Frieden schlossen. Am Ende des
Jahres traten diese auch in Unterhandlungen mit dem Gouverneur
in Hi, das sie schon zu belagern und zu unterminiren anfingen.
Nachdem sie am 19. des ersten Monats des Jahres 1866 zwei Bastionen
in die Luft gesprengt hatten, wurde am 22. das Stadtthor gestürmt
und die Stadt von ihnen geplündert, wobei von den Mandschuren
und Chinesen, Männern und Weibern, Erwachsenen und Kindern,
von zehn Menschen einer am Leben blieb. Im vierten Monat wurde
Khorgos genommen. Hier fand dasselbe Blutbad und dieselbe
Plünderung statt.
Im siebenten Monat zogen Kalmüken aus den östlichen Bergen
gegen die Insurgenten. Diese zwangen zweihundert Sibo gegen jene
zu ziehen. Die Kalmüken wurden geschlagen. ;
Auch die Sumul der Solonen schlossen mit den Insurgenten Frie¬
den, aber am Ende des zwölften Monats fielen die Muhammedaner
über sie her, erschlugen sie und plünderten, ihre Wohnstätten. Von
je zehn Mann retteten sich drei oder vier.
* ' t
Im Anfänge des Jahres 1867 begannen die Uneinigkeiten zwischen
den chinesischen und turkestanischen Muhammedanern, also zwischen .
Dunganen und Tarantschi- Diese waren jenen an Zahl überlegen.
Am 19. und 20. des dritten Monats entspann sich der Kampf, wobei
die Dunganen unterlagen und sich zerstreuten. Im vierte» Monat
vereinigten sich die Dunganen von Ili mit denen vor Urumtsi, die
Tarantschi mit den Sibo, dem chinesischen Lager, den. Mongolen
und den Einwohnern verschiedener Orte. Jener waren 10,000, dieser
7—8000. Anfangs waren die Dunganen die Sieger, schliesslich
wurden es die Tarantschi, welche bis zur russischen Occupation die
Herren im Lande blieben. -
Der Bericht Lü-tsun-han’s über die russische Expedition ist sehr
karg. Er kann sich dabei nicht genug wundem über die Schnellig¬
keit, mit der unsere Truppen Herren des Landes wurden. Noch
grösser ist seine Verwunderung über die russische Disciplin. Keinem
(von den friedlichen Einwohnern), sagt er, wurde ein Leid gethan;
nicht einmal einem Grashalm, einem Bäumchen, einem Huhn oder
einem Hunde! Am Schluss sagt er: „Ein fremder Miniatur-Staat
(so nennt er Russland!) hat das Volk von Feuer und Wasser erlöst,
hat alle vier Weltgegenden ohne den geringsten Schaden- befestigt,
so dass die Kinder sich nicht mehr furchten und das Volk voll
Freude und Enthusiasmus sich unterworfen* hat.“
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Freilich ist der Verfasser so naiv zu glauben, dass die Unterwer¬
fung des Ili-Gebietes nur deshalb unternommen sei, um dasselbe
wieder den Händen der Regierung seines Bogdochans zu überlassen!
Dann dürfte es nicht allzulange dauern, dass der russische -Miniatur-
Staat von Neuem Lü-tsun-han’s Bewunderung erregt.
Nach den letzten Nachrichten ist der Kampf zwischen Dunganen
und Turkestanem noch nicht ausgefochten imö concentrirte sich im
Frühjahr um Urumtsi. Die chinesische Regierung scheint ein
völlig gleichgültiger Zuschauer dieser Vorgänge bleiben zu wollen.
Die Mission, die Russland in Central-Asien zu erfüllen hat, ist
eine nicht unbedeutende und ist ihm durch seine geographische
Lage auferlegt. Doch wird es sich mit der Herstellung geordneter
Verhältnisse bei seinen Grenznachbarn daselbst nicht übereilen, denn
die Interessen des eigenen Volkes stehen ihm höher als die fremder.
Wenn die ungeordneten Staatenverhältnisse Central-Asiens von uns
bisher grosse Opfer an Mitteln verlangt haben, so ist zu wünschen,
dass unser nunmehr befestigtes Ansehen in jenen Gegenden dazu
benutzt werde, die socialen Verhältnisse unserer Nachbarn auf fried¬
lichem Wege kennen zu lernen. In diesen Tagen brachten die
Tagesblätter die Nachricht, Jaqub-beg in Kaschgar habe sich dazu’
verstanden, mit dem General-Gouverneur von Turkestan einen Han-
delstractat abzuschliessen, obgleich er sich noch vor Kurzem allen
näheren Handelsverbindungen mit uns widersetzt hat. Steht das
östliche Turkestan ebenso wie seit einiger Zeit Khokand-und Buchara
wissenschaftlichen Reisenden offen, dann wird unsere turkestanische
Grenzverwaltung in nicht allzuferner Zeit über mehr Mittel als bisher
verfugen, um ihren Einfluss in jenenXändern geltend zu machen.
Je besser sie unterrichtet sein wird, desto mehr wird sie ihrer Auf¬
gabe gewachsen sein. IJs ist ein alter Erfahrungssatz, dass Wissen
Macht verleiht.
P. LERCH.
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Zur Statistik dar Flussschifffahrt in Russland
CraTHCTit'iecitii BpeueHHuxi» Pocciftcuoft Hmii. Haa.-HeHTp. Ctut, Koht. II* sun. 2 .
1872 : MaTepia-ibi aji * ctutucthku pbnHaro cyAoxoACTua. Co6p. h o6pa6oTano
pcAaiTopoMT» U,eHTp. Ct. K. B. 3b1>pmhckhmi>. Statistisches Jahrbuch, heraus¬
gegeben vom Central-Statistischen Comit£. II. Jahrgang. 2. Band: Materialien
zur Statistik der Flussschifffahrt im Europäischen Russland/ Gesammelt und
bearbeitet von W. Swerinsky, Beamter im Statistischen Central-Comitö.
Bei der grossen Ausdehnung des Russischen Reichs und seiner
dünnen und zerstreut lebenden Bevölkerung verdienen seine Ver¬
kehrsmittel, und unter diesen vor Allem seine Wasserstrassen, eine
besondere Beachtung. — Die rasche Entwickelung der Eisen¬
bahnen im letzten Jahrzehnt hat die Bedeutung der Flüsse nicht
im Geringsten vermindert Entziehen auch die Eisenbahnen den
Was^erstrassen die kostbaren, schweren und wenig voluminösen
Handelsartikel, so werden doch die in grossen Massen zur Versen¬
dung gelangenden und weniger theuren Producte, wie Getreide,
Holz u. dgl. immer die Wasserwege vorziehen, selbst auch dort, wo
diese viel länger und zeitraubender sind. — Der eine oder andere
Fluss, oder auch einzelne Hafenplätze können in Betreff ihres
Handels durch die Eisenbahnen an Bedeutung verlieren, nicht aber
die Wasserstrassen im Allgemeinen; im Gegenteile wird durch
die gegenseitige Einwirkung beider Verkehrsmittel — der Eisen¬
bahnen und der Flüsse — nur der Verkehr auf beiden gehoben.
Hieraus ergiebt sich, dass für Russland, dessen Haupt-Handels¬
artikel Producte des Ackerbaues und der Landwirtschaft sind, die
Wasserverbindungen des Innern mit den Handelsplätzen von der
grössten Bedeutung sein müssen.
Diesem Gegenstände ist das oben genannte Buch gewidmet. —
Es bietet in seinem I. Theile (der II. Theil, der die eigentliche
Statistik des Fluss- und Schifffahrtsverkehrs enthalten soll, ist noch
im Druck und wird in der nächsten Zeit erscheinen), gleichsam als
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i37
. /
Einleitung, eine interessante Uebersicht der Flüsse, der durch¬
schnittlichen Dauer der Schifffahrt auf denselben und des Schiffs¬
baus an den einzelnen Flüssen des Reichs, und ist um so schätzens- » «
weither, als es uns zum ersten Male, möglichst vollständig zu-
sammengestellt, einen Ueberblick über die Schifffahrt und die
Eisenbahnen, als Verkehrsmittel im Innern des Reiches gewährt.
Nach den fünf Meeren, die Russland begrenzen, und den Flüssen,
die in dieselben münden und durch welche das Reich mit allen
übrigen Staaten in directem Schiffsverkehr steht, kann das ganze
Reich (d. h. das europäische Russland, mit Ausnahme von Finnland
und Polen) in fünf Wassersysteme getheilt werden: das System des
Weissen Meeres mit der (nördlichen) Dwina, das des Schwarzen
Meeres mit dem Dnjepr und DnjestV, das des Kaspischen Meeres
mit der Wolga, das des Asowschen Meeres mit dem Don und das
des Baltischen Meeres mit dem Bug, Niemen, der (westlichen Dwina),
Düna und dem Ladoga, Onega und Ilmen-See.
Nach Ausschluss aller Flüsse, auf denen nur geflösst wird, so
wie auch der entsprechenden Theile der schiffbaren Flüsse, beträgt
die Länge sämmtlicher Wasserstrassen im Innern des Reichs
32,353 Werst; davon kommen nach den Annahmen des Verfassers
auf die Wassersysteme:
des Weissen Meeres •.
4657
Werst oder
14,i pCt.
„ Kaspischen ,, .
13375
( tf
4 M »
„ Asowschen „ .
3125
n
9>7 »
„ Schwarzen „ .
5727
ff
17.7
„ Baltischen „ .
4877
ff
1 5 jö >»
auf die verschiedenen Verbindungs-
Systeme .
592
tf
M »
Nehmen wir (nach dem Statistischen Jahrbuch 1871. I. Band) die
Oberfläche des europäischen Russlands zu 4,151,584 Quadrat-Werst
an und die Einwohnerzahl zu 63,658,934 Personen beiderlei Ge¬
schlechts, so kommt eine Werst der schiffbaren Wasserstrassen auf
128,3 Quadrat-Werst Flächeninhalt und auf 1,967,6 Einwohner. —
Hierbei ist jedoch noch zu bemerken, dass bei der Berechnung der
Wasserwege nach den einz^nen Gouvernements eine bedeutend
grössere Werstzahl sich ergeben muss, indem mehrere Flüsse als
Grenzscheide zweier oder mehrerer Gouvernements bei einem jeden
derselben als selbstständige Wasserst^isse in Betracht gezogen
werden müssen.
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. 13 «
-•>;? • \
Das Wassersystem des Kaspischen Meeres ist durch den Kanal
des Herzogs Alexander von Würtemberg (zwischen den Flüssen
* * Scheksna und Porosowiza) verbunden mit dem des Weissen Meeres
und vermittelst des Marien- (Scheksna, Kowscha und Wytegra), des
Tichwinschen- (Mologa und Tichwinka), und des Wyschne-Woloz-
kischen (Twerza und Msta) Canalsystems mit dem des Baltischen
Meeres; das System des Schwarzen Meeres steht mit dem des Balti¬
schen in Verbindung durch den Beresinaschen- (Beresina und Düna),
den Ogynskyschen- (Jasselda und Niemen) und den Dnjep^-Bugsch’en
Kanal (Pina und Muchawetz); ausserdem ist der Niemen mit der
Weichsel durch den Augustow-Canal verbunden, der aber schon im
Königreich Polen liegt. Das System des Baltischen Meeres ist in
ununterbrochener Verbindung mit dem System des Weissen Meeres
vermittelst des Canalsystems des Herzogs Alexander von Würtem¬
berg. — Mithin stehen das Kaspische und das Weisse Meer in keiner
directen Verbindung mit dem Schwarzen Meere, während das A9öw-
sche Meer eine ganz isolirte Stellung einnimmt. — Man kann daher
das ganze schiffbare Netz des Europäischen Russlands in zwei Haupt*
gruppen theilen: in die nordöstliche und grössere Gruppe, welche
die Wassersysteme des Weissen, des Kaspischen und des nördlichen
Theiles des Baltischen Meeres (Finnischer Meerbusen) umfasst und
eine Länge von 20,216 Werst hat, und in die südwestliche mit den
Wassersystemen des Schwarzen Meeres und des südlichen Theiles
des Baltischen mit einer Länge von 8895 Werst.
In der ersten dieser beiden Gruppen liegen die beiden Hauptstädte
des Reichs, 21 Gouvernementsstädte und der in Betreff des Binnen¬
handels so wichtige Ort Rybinsk, in der andern bloss 10 Gouver¬
nementsstädte ; mit der letzteren stehen ausserdem die Städte
Warschau, Danzig und, Tilsit in Verbindung. Als Centrum der
ersten Gruppe kann die Stadt Nishny-Nowgorod angesehen werden,
indem diese von dem nördlichsten Punkte der ganzen Gruppe —
der Stadt Archangelsk — 2072 Werst, und von dem südlichsten
Punkte —der Stadt Astrachan — 2165 Werst entfernt ist. Nach
Westen erstreckt sich das System dieser Gruppe bis zur Stadt
Orelauf 1330 Werst, und nach Osten bis nach Perm auf 1242 Werst.
Das Centrum der zweiten Gruppe bildet die Stadt Kijew; hier sind
die Ausdehnungen der schiffbaren Flüsse bei Weitem nicht so gross
als in der ersten Gruppe.
Zur besseren Uebersicht* der Verkehrswege des Reiches, der
Wasserstrassen und der Eisenbahnen, und zur Vergleichung der-
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selben untereinander und mit dem Flächeninhalte und der Einwohner¬
zahl, für jedes Gouvernement geordnet, dient umstehende Tabelle.
Aus dieser Tabelle ersieht man, dass die Länge der Eisenbahnen
und der schiffbaren Flüsse im Europäischen Russland (mit Aus¬
schluss des Grossfürstenthums Finnland und des Königreichs Polen)
48,264 Werst beträgt; davon kommen 75,39 pCt. auf die Wasser¬
strassen und 24,61 pCt. auf die Eisenbahnen.
Nur ein einziges Gouvernement, das Kursksche, hat keine Wasser¬
strassen (freilich befindet sich dort der Fluss Sejin, der vor Zeiten
als schiffbar galt; gegenwärtig wird derselbe jedoch nicht mehr
befahren), während Eisenbahnen noch in 14 Gouvernements fehlen,
nämlich in den Gouvernements Archangelsk, Astrachan, Wologda,
Wjatka, Kasan, Kaluga, Olonez, Orenburg, Pensa, Perm, Ssamara,
Ssimbirsk, Taurien und Ufa.*)
' Durchschnittlich kommt eine Werst Wasserstrasse auf 114,1
Quadrat-Werst Oberfläche und auf 1749,5 Einwohner; eine Werst
Eisenbahn auf 349,5 Quadrat-Werst Oberfläche und 5359,0 Ein¬
wohner, und eine Werst Wasserstrasse und Eisenbahn zusammen
auf 86,0 Quadrat-Werst Oberfläche und 1319 Einwohner. Doch ist
die Vertheilung dieses Verhältnisses auf die einzelnen Gouver¬
nements eine sehr ungleiche. Am Günstigsten sind in Betreff der
Verkehrswege die Gouvernements Archangelsk, Wologda, das Land
der Donischen Kosaken, Grocjno, Minsk, Moskau, Nowgorod, Orel,
Perm, St. Petersburg, Chersson, Tambow und Estland gestellt. Von
diesen haben die Gouvernements Archangelsk, Wologda und Perm
nur Wasserstrassen, welche bloss einen Theil des Jahres hindurch —
5 bis 6 Monate lang — zu gebrauchen sind; in den Gouvernements
Moskau, Orel, Tambow, Chersson und Estland bilden die Eisen¬
bahnen das hauptsächlichste Verkehrsmittel, und nur in den Gou¬
vernements St. Petersburg, Nowgorod und dem Lande der Doni¬
schen Kosaken sind beide Arten Wege von gleicher Bedeutung.
In der ungünstigsten Lage befinden sich die Gouvernements Taurien" ,
Pensa und vor Allem Orenburg, in welchem eine Werst Wasserweg
und Eisenbahn zusammen auf 2104,7 Quadrat-Werst Oberfläche und
auf 10.5*08,8 Einwohner kommt.
In einigen von diesen Gouvernements werden gegenwärtig Eisenbahnen gebaut;
für den Verkehr sind sie aber noch nicht eröffnet.
**) Offenbar würde sich hier das Verhältniss wesentlich anders gestalten, wenn die
angrenzenden Meere als Verkehrsmittel mit in Rechnung getragen wären.
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Zum besseren Verstäfidniss der volkswirtschaftlichen Bedeutung
der Flüssq und Eisenbahnen.für die^ einzelnen Gegenden - des Reichs
wäre eins genaue Beschreibung der Landstriche oder wenigstens
der Ortschaften höthig, durch welche diese Verkehrswege fuhren.
Leider aber war die genaue Angabe der Einwohnerzahl und der
Ortschaften im Rayon der Eisenbahnen und Flüsse gegenwärtig
noch nicht möglich, und ist diese Arbeit für eine spätere Zeit Vor¬
behalten..
Obgleich die Untersuchung über den Auf- und Zugang der Flüsse
nicht Sache der Flussschifffahrtsstatistik ist. so dürfte sie doch nicht
0 •
übergangen werden, wenn man genauer die commercielle Bedeu¬
tung der Flüsse für das Land ermessen will, da von dem Auf- und
Zugänge der Flüsse die Dauer der Navigation in jedem Jahr ab¬
hängt. Die mittlere Dauer der Schifffahrt für Russland ergiebt sich
aus dieser Untersuchung zu 239 Tagen oder 7 1 /« bis 8 Monaten;
im nördlichen Theile des Reiches sind es 6 .bis 6 x /% Monate, im
südlichen 8 bis 10 Monate. Die südwestliche Gruppe — die Wasser-
systeme $es Schwarzen und des südlichen Theils des Baltischen
Meeres — hat eine längere Navigationsdauer als die nordöstliche
Gruppe, denn während in ersterer Gruppe nach dem fünfjährigen
Mittel die- kleinste Navigationsdauer 238 Tage, und die grösste 299
Tage beträgt, dauert in der letzteren die Navigationszeit resp. nur
180 und 263 Tage; ausserdem sind in letzterer Gruppe die Kanäle
bedeutend längere Zeit mit Eis bedeckt, als die Flüsse, welche sie
verbinden, so dass der allgemeine Verkehr auf diesen Wasser¬
systemen kaum ein halbes Jahr hindurch währt.
Die Allgaben über den Schiffsbau können nur als annähernd
richtige angesehen werden; sie leiden augenscheinlich an vielen
Lücken, sind aber insofern von Interesse, als sie uns eine, wenn
auch unvollkommene, Vorstellung über die Verbreitung und Ver¬
keilung «äes Schiffsbaus in Russland gewähren. — Die folgenden
Angaben .können als Minimum der den Schiffsbau ^ darstellenden
Zahlen angesehen werden. ...
In der fünfjährigen Periode von 1865-^1869 wurden 53,6*8
Fahrzeuge im Werthe von 23,388,571 Rbl gebaut, mithin durch¬
schnittlich jedes Jahr 10,724 Fahrzeuge im Werthe von 4,677,714
Rbl. — Auf die verschiedenen Wassersysteme vertheilen sich diese
Fahrzeuge in folgender Weise:
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Es wurden gebaut im System des
Weissen Meeres 3455 Fahrzeuge für 492,744 Rbl. oder 6,4 pCt.
Fahrzeuge für 2,1 pCt Rbl.
Ka,spischenMeeres36,i9oFahrzeuge für 16,619,276Rbl. oder67,7 pGit.
Fahrzeuge für 71,0 pCt. Rbl.
Asowschen Meeres 2337 Fahrzeuge für 3,083,790 Rbl. odelr 4 ,4 pCt.
Fahrzeuge für 13,2 pCt RbL
Schwarzen Meeres 1626 Fahrzeuge für 839,160 Rbl. oder 3,<r pCf.
Fahrzeuge für 3^ pCt. Rbl.
Baltischen Meeres 10,010Fahrzeuge für 2,353,601 Rbl. oder 18,5 pCt.
Fahrzeuge für 10,1 pCt. Rbl.
Mithin ist der Schiffsbau am meisten entwickelt im Wasser¬
systeme des Kaspischen Meeres, und zwar hauptsächlich längs der
Wolga und ihren Nebenflüssen oberhalb der Stadt Nishnij-Nowgorod,
in den Gouvernements Nishnij-Nowgorod, Kostroma, Jaroslaw, Twer
und Nowgorod; unterhalb Nishnij-Nowgorod findet nur im Gou¬
vernement Kasan und an den Ufern der Kama im Permschen Gou¬
vernement ein bedeutender Schiffsbau stätt; in den Gouvernements
Ssamara, Ssaratow und Astrachan werden fast gar keine Schiffe ge¬
baut. In den anderen Wassersystemen verdient nur der Schiffsbau
an den Zuflüssen des Ilm^n-Sees ini Gouvernement Pskow erwähnt
zu werden.
Zuletzt giebt der Verfasser in seiner Einleitung eine Skizze der
Entwickelung der Dampfschifffahrt in Russland und eine ausführ¬
lichere Behandlung der vier hierauf bezüglichen Tabellen. — Das
erste russische Dampfschiff wurde schon 1813 in St. Petersburg ge¬
baut. Aber lange noch waren es nur wenige Dampfschiffe, welche *
die Newa und Wolga befuhren. Erst gegen Ende der vierziger
und im Anfang der fünfziger Jahre verbreiteten sich die Dampfschiffe
auf die meisten andern Flüsse; aber nun vermehrten sie sich auch
in rascher Progression, die übrigen Fahrzeuge verdrängend. — Wäh¬
rend im Jahre 1852 Russland bloss 83 Dampfschiffe mit 7229 Pferde.-
kraft hatte, waren es 1869 schon 623 mit 45,131 Pferdekraft;
es hatte sich also die Zahl der Schiffe siebeneinhalbmal vergrössert.
Die 623 Dampfschiffe des Jahres 1869 vertheilen sich folgender-
maassen auf die einzelnen Wassersysteme:
Auf das System des
Weissen Meeres kommen 10 Dampfschiffe mit 570 Pferdekr.
Kaspischen „ „ 423 „ „ 33 > 7 2 5 »
Asowschen „ „ 25 „ „ 1,338
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144
Schwarzen Meeres kommen 47 Dampfschiffe mit 2,735 Pferdekr.
Baltischen „ „ 118 „ „ 6,763 „
Es bewährt sich also auch in dieser Beziehung das System des
Kaspischen Meeres mit seinen grossen Flüssen — der Wolga, Oka
und Kama als die Haupt-Verkehrsarterie im Reich.
An die Einleitung, der wir Vorstehendes entnommen haben,
schliessen sich in zehn Tabellen die näheren Angaben an, welche
das Material zu den angeführten Zusammenstellungen boten. Der
Inhalt dieser Tabellen bietet folgende Data:
Tabelle h Kurze Uebersicht der schiff- und flössbaren Flüsse des
Europäischen Russlands. (126 Seiten.)
„ II: Uebersicht der schiffbaren Seen. (6 Seiten.)
„ -III: Die Systeme der Verbindungskanäle. (19 Seiten.)
„ IV: Auf- und Zugang der Flüsse in den Jahren 1865 bis
1869. (23 Seiten.)
„ V: Verschiedene Schiffsgattungen, welche die Flüsse des
Europäischen Russlands befahren. (24 Seiten.)
„ VI: Der Schiffsbau an den Flüssen des Europäischen Russ¬
lands in den Jahreh 1865—1869. (35 Seiten.)
„ VII: Uebersicht der Dampfschiffe, welche in den Jahren
1852—1869 Binnengewässer des Europäischen Russ¬
lands befuhren, nebst ihrer Vertheilung nach Bestim¬
mung der Pferdekraft. (18 Seiten.)
„ VIII: Zusammenstellung dieser Dampfschiffe nach der Zeit,
wo sie gebaut wurden. (4 Seiten.)
„ IX. Eingehende Uebersicht der Dampfschiffe, welche die
Binnengewässer des Europäischen Russlands in den
Jahren 1852—1869 befuhren. (42 Seiten.)
„ X: Die verschiedenen Dampfschiffs-Compagnien und Ge¬
sellschaften. (7 Seiten.)
Bei den verschiedenartigen und theils unüberwindlichen Schwie¬
rigkeiten, die sich in Russland dem Sammler statistischer Angaben
entgegenstellen, kann man in unserer Zeit noch nicht erwarten, dass
ein statistisches Werk, welches das ganze Reich umfassen seil, seinen
Gegenstand erschöpfte. Mit Rcöht hat daher der Verfasser seinem
Buche den Titel „Materialien“ gegeben; wie viel Fleiss, Umsicht und
Ausdauer auch auf das Sammeln derselben verwendet sein mag — ein
vollkommenes und strenges Bild des Gegenstandes konnte gegen¬
wärtig noch nicht erreicht werden. S.
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Die polytechnische Ausstellung in Moskau
vom Jahre 1872.
(Fortsetzung und Schluss.)
Der technischen Abtheilung, welche ich bereits im ersten Hefte
der „Russischen Revue“ behandelt habe, folgt die mcdicinischc und
Veterinär-Abtheilung.> So interessant beide Abtheilungen für den
Specialisten auch sind, so viel Belehrendes und theilweisc Neues sie
auch bieten mögen, so würde ich doch meine Aufgabe überschreiten,
wollte ich in das Detail dieser Abtheilungen eingehen, abgesehen
davon, dass es nur Sache eines Fachmannes sein kann, über eine
Ausstellung zu referiren, welche den gegenwärtigen Standpunkt der
medicinischen Wissenschaft darlegen, und mit den Fortschritten, so
wie mit den neuesten Hülfsmitteln derselben bekannt machen soll.
Ich will nur erwähnen, dass die medicinische Abtheilung in sieben
verschiedenen Pavillons etc. untergebracht ist und in die chirurgische,
therapeutische und pharmaceutische Unterabtheilung zerfällt. Das
In- wie das Ausland hatten sich betheiligt, um diesen wichtigen
Theil der Ausstellung möglichst vollständig auszustatten. Nur auf
ein neueres Präparat der letztgenannten Unterabtheilung möchte ich,
weil unter den gegenwärtigen Verhältnissen von ganz besonderer
Wichtigkeit, hinweisen: auf das von Liider & Leidloff in Dresden
ausgestellte „Desinfectionspulver“, das während der Cholcraepidemie
im Jahre 1866 seine Wirksamkeit so vielseitig bewährt hat und seit
dieser Zeit fast in ganz Deutschland die weiteste Verbreitung und
Anerkennung gefunden hat. Nicht nur die leichte und bequeme
Anwendbarkeit dieses Pulvers, sondern auch dessen grosse Wirk¬
samkeit sind durch die Praxis anerkannt worden, und der ausser¬
ordentlich billige Preis des Präparates, 2V2 Thaler per Ccntncr,
ist so bemerkenswerth, dass dessen allgemeine Einführung wohl
nur noch eine Frage der Zeit sein kann. Die Hygieine hat die
Desinfection schon längst als eines der geeignetsten Hülfsmittel zur
, 10
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146
Unterdrückung von Epidemien aller Art anerkannt und auch die
russischen Sanitätsbehörden arbeiten darauf hin, dass dieselbe eine
immer allgemeinere Anwendung finde. Bisher stand der verhältniss-
mässig hohe Preis der wirklich wirksamen Desinfectionspräparate
derselben entgegen. Dieser hindernde Umstand scheint durch
das Dresdener Pulver gehoben zu sein.
Von mehr allgemeinerem Interesse ist die forsftvirtlischaftlichc
AbtheUung , welcher der grosse Pavillon No. 40 eingeräumt ist und
zu deren Vervollständigung nicht nur, wenn auch vorzugsweise, die
Petrowskier Forstakademie, sondern auch verschiedene Staats¬
behörden, ausländische Akademien, Vereine, sowie in- und ausländi¬
sche Private Anstrengungen in verschiedenen Richtungen gemacht
haben.
Für Russland ist die Entwickelung des Forstwesens yon ausser
ordentlicher Bedeutung, da der seltene Waldreichthum, dessen es
sich auch heute noch erfreut, nicht nur eine der wichtigsten Grund¬
lagen seines ganzen wirtschaftlichen, namentlich industriellen
Lebens bildet, sondern auch zu einer erheblichen Einnahmequelle
des ganzen Landes geworden ist. Nach den Erläuterungen zum
landwirthschaftlich-statistischen Atlas des europäischen Russlands,
hcrausgegeben vom Kaiserlich Russischen Domänenministerium,
welchem das Forstwesen Russlands untersteht (St. Petersburg 1869),
besitzt allein das europäische Russland einen Waldbestand im Aus-
maasse von 172,418,000 Dessjätinen; mit andern Worten: 43,3 pCt.
seiner gesammten Bodenfläche besteht aus Waldland. Ein annähernd
gleiches Verhältniss haben nur Norwegen (39 pCt.) und Schweden
(35 pCt.) aufzuweisen, während von den übrigen Staaten Europas
das Waldland
in Oesterreich . nur 27,1 pCt. v. d. gesammt. Bodenfläche einnimmt.
„ Preussen . . „ 21,« „ „ „ „
„ Frankreich*) , ,, 16,2 ,, „ ' „ „
„ Italien'*) . . „ 15,2 „
„ Grossbritannien ,, 7,« „
Die russischen Waldungen umfassen eine Gesammtfläche von
1,655,3 r 9 Quadrat-Werst oder von 34,212 Quadrat-Meilen, d. i. um
2000 Quadrat-Meilen mehr, als die Gesammtgrösse Frankreichs,
Oesterreichs, Preussens und Grossbritanniens ausmachen würde.
Jncl. der jetzigen Deutschen Reichslande Eisass u. Lothringen, aber exel Savoyens.
*’) Incl. Sav.oyens,
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147
So reich nun auch Russland nach den angeführten allgemeinen
Zahlen an Waldboden sein mag, so ist dieser letztere doch keines¬
wegs gleichmässig über das ganze Land vcrtheilt, und macht sich
daher in vielen Gegenden, namentlich in den südlichen Gouver¬
nements; ein sehr empfindlicher Holzmangel fühlbar, während
wiederum in anderen Theilcn, so im Norden, ein solcher Holzüber¬
fluss herrscht, dass eine halbwegs entsprechende Verwerthung des¬
selben kaum möglich ist, und zwar um so weniger, als man im
Laufe der Zeit die den Ausfuhrhäfen zunächst liegenden Gebiete,
die einen lebhaften Exporthandel mit Holz trieben, ihrer Ilolzbcstände
beraubt hat, ohne in gleichem Verhältnisse für Wiederaufforstungen
Sorge zu tragen.
Aus der nachfolgenden Zusammenstellung, nach den Erläuterun¬
gen zum oben erwähnten landwirthschaftlich-statistischen Atlas ent¬
worfen, ist die Vcrtheilung des russischen Waldlandes im Gesammt-
gebiete des europäischen Russlands zu ersehen und gleichzeitig
auch die Zonen oder Gruppen, in welche nach ihrer territorialen
Lage die russischen Waldungen officicll cingctheilt werden:
Dcss'ätinen pCt. der Gc- pCt. der Ge-
Zonen oder Gruppen. ss ^ sainmtfl. der sarmntllaclie
Waldland. Gou vernein. Russlands.
I. Nördliche Gouvernements:
(Archangel, Olonez, Wologda) .
73,402,000
85.v
42 , 6
II. Ocstlichc Gouvernements:
(Perm, Orenburg, Wjatka) . . .
40,636,000
64,5
III. Nordwestliche Gouvernements
(Nowgorod, St.Petersburg, Pskow)
O
|
55 .«
6,1
IV. Baltische Gouvernements:
(Estland, Livland, Kurland) . . .
3,197,000
37 .«
1,7
V. Westliche Gouvernements:
r
(Witebsk, Mohilew, Minsk, Grodno,
Wilna, Kowno)..
9,480,000
34,1
5 ,*
VI. Siidivestlichc Gouvernements:
(Wolhynien, Podolien, Kijew) .
4,477,000
2,5
VII. Gouvernements an der
mittleren Wolga:
(Kostroma, Nishnij-Nowgorod,
48,4
Ssimbirsk, Pensa).
12 , 355 . 0 °°
7 .i
io*
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Zonen oder Gruppen.
148
Dessjätinen
Waldland.
pCt. der Ge-
saramtfl. der
Gouvcrnem
VIII. Central-Goirvernnnents:
(Wladimir, Moskau, Ssmolcnsk,
Jaroslaw, Twer, Kaluga, Orel,
Rjäsan, Tula).10,834,000 30,5
IX. Kleinrussische und Steppen -
Gouvernements ;
(Tschernigow, Poltawa, Charkow,
Kursk, Tambow, Woroncsh,
Ssaratow, Ssamara). 6,419,000 12,2
X. Südliche Gouvernements:
(Bessarabien, Chersson, Jekatcri-
nosslaw, Tauricn, Land d. Don-
schcn Kosaken, Astrachan) . . 1,218,000 2,1
pCt. der Ge-
sammt fläche
Russlands.
6,9
3,7
0,7
172,418,000 od. 40,3 lOO
Von den südlichen Gouvernements ist Bessarabien noch ver-
hältnissmässig am meisten bewaldet (288,000 Dessjätinen), indem
seine Waldbestände noch 9 pCt. seines Gesammtareals umfassen,
dann folgt Taurien (291,000 Dessjätinen mit 5,2 pCt.; das Land
der Donschcn Kosaken (321,000 Dessjätinen) mit 2,2 pCt.; Jekateri-
nosslaw (291,000 Dessjätinen) mit 1,4 pCt.; Chersson (91,000 Dess¬
jätinen) mit 1,3 pCt.; endlich Astrachan (140,000 Dessjätinen) mit
0,9 pCt. Man hat zwar mannigfache Anstrengungen gemacht, und
die Regierung hat es in dieser Beziehung nicht an Anregungen fehlen
lassen, die hier zuletzt genannten Gouvernements auf künstlichem
Wege zu bewalden, und aufgeklärte Männer haben auch in richtiger*
Weise den Weg hierzu gezeigt; alle Anstrengungen blieben aber
zum grössten Theil resultatlos und scheiterten nicht minder an der
Indolenz der Landwirthe, wie auch zum Theil an der Ungunst der
klimatischen Verhältnisse. Dass eine künstliche Bewaldung auch
des Südens möglich ist, beweisen viele deutsche Colonicn in Taurien
und im Jekaterinosslawschen Gouvernement, darunter namentlich
die Mennoniten-Colonien, denen es gelungen ist, trotz der Ungunst
des südlichen Klimas Waldungen anzulegcn und zu erhalten. Die
w.eisse Akacie (Robinia pseudo acacia) dürfte der geeignetste Cultur-
baum für den Süden Russlands sein, da er nicht nur unter den
dortigen klimatischen Verhältnissen trefflich gedeiht, sondern auch
rasch wächst und sein Holz die vielseitigste Verwendung gestattet.
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149
Von den russischen Waldungen sind 55 pCt. oder 94,774,600
Dessjätinen Kronswaldungen. Die russische Regierung hat dem¬
nach vollen Grund, alle Anstrengungen zu machen, um die Wald-
cultur'und Forstwissenschaft mit allen ihr zu Gebote stehenden
Mitteln zu fördern. Wenn es auch hieran in keiner Weise geman¬
gelt hat, und die Kronswaldungen in Wirklichkeit auch schon ratio¬
neller und wirtschaftlicher behandelt werden, wie in früheren
Zeiten, so bleibt doch immer, selbst bei den Kronswaldungen, noch
viel zu wünschen übrig, wahrend der bei weitem grösste Theil der
Privatwaldungcn in der unwirtschaftlichsten Weise behandelt wird.
Die Devastirung russischer Privatwaldungen, namentlich in den
C^mtral-Gouvernements Twer, Moskau, Orcl, Tambow etc., steht an
der Tagesordnung, und der erweiterte Bau von Eisenbahnen und
deren Betrieb haben das Ihrige dazu beigetragen, das Uebel noch
zu vergrössern. In Folge dieser Verhältnisse steht Russland in
vielen Gouvcyiemcnts vor der Calamitat einer kaum zu beherr¬
schenden Holztheuerung, die in Moskau und den benachbarten Gou¬
vernements bereits ihren Anfang genommen hat. So bezahlt man
in der Stadt Moskau den Faden (7 Fuss) 12 Werschok langes
Kiefern- und Tannenholz mit 9 bis 11 Rubel und man fürchtet noch
ein Steigen der Preise. Die einzige Hoffnung bleibt unter solchen
Umständen die volle und energische Exploitirung der russischen
Kohlenlager und die Einführung der Torf-Industrie, der sich leider
noch sehr wenig Interesse zuwendet und der sich das grössere Capital,
aus altem Vorurtheile und in Folge einzelner verunglückter Ver¬
suche, fast vollständig verschliesst. Unter den hier dargelegtcn
Verhältnissen ist die forstwirtschaftliche Abtheilung der Moskauer
Ausstellung von doppeltem Interesse, denn auf ihr begegnet man
allen Hülfsmitteln, welche Wissenschaft und Praxis der Forstcultur
zurVerfügung gestellt haben, um“ letztere in rationeller und nutzbrin¬
gender Weise betreibenzu können. Die forstwirtschaftliche Ausstel¬
lung enthält folgende Abteilungen: 1) die Forst-Geschichte, 2) die
Forst-Geographie und Statistik , 3) die russische (Forst-) Baum¬
kunde, a ) Herbarien, b) Holzmuster aus 27 Gouvernements und dem
Grossfürstenthum Finnland, aus Krons- und einigen hervorragenden
Privatforsten; 4) die 'Waldanlage . d) die Samenkunde (Waldsamen,
deren Reinigung und Aufbewahrung), b) die Aussaat und das
Pflanzen der Waldbäume (forstwirtschaftliche Culturwerkzcuge und
Geräte), c) die Arten der Forstwirtschaft und die Mittel zur Auf¬
forstung, d) der Waldbau in den Ncurussischen Steppen, e) der
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Waldbau im Flugsandes 5) die eigentliche Forstcultur\ a) die Schlag-
wirthschaft, h) der Baumschnitt, e) die Trockenlegung des Wald¬
bodens; 6) der Waldschutz (Hilfsmittel gegen die Waldschäden,
welche durch den Einfluss des Klimas, durch Schmarotzerpflanzen,
Thierc und Menschen verursacht werden — Holzkrankheiten);
7) Forsf^eoddsie (Instrumente, Forstpläne und Karten); 8) Forst-
Uxxation und Forstrechnung (Instrumente und Tabellen dazu); 9) Wald-
exploitation: d) Haupt-Revenuen des Waldes, hervorgehend aus Ver¬
kauf von Holz und Rinde — Brennholz, Constructionsholz — Nutz¬
holz, Schiffsbauholz, Gerberrinde etc.; b) Nebennutzung des Waldes;
10) chemische Bearbeitung der Höher: a) Fabrication von Holz¬
kohlen, von Holzessig, von Harz und Terpentin, von Pech, Kolo¬
phonium und Theer, b) der Zersetzungsprocess des Holzes bei nicht
vollständigem Luftabschluss: Russbrennerei, c) Zersetzung des Holzes
bei vollem Luftzutritt: Pottaschefabrication; n) chemische Bearbei¬
tung der Nadeln-. Wald wolle; 12) Iransport der Hölzer; 13) Forst¬
botanik, Anatomie und Physiologie; 14) Häuscrmodelle (Förstereien),
Photographien etc.
Vorstehende kurze Aufzählung dessen, was die Ausstellung der
Forstabtheilung bietet, wird genügen, um auf die Reichhaltigkeit der¬
selben hinzuweisen. Material in grosser Mannigfaltigkeit und reicher
Fülle wird hier für das Studium geboten, und es ist nur zu wünschen,
dass es in der gleichen Fülle, wie es vorhanden, auch benutzt
werden möchte, namentlich von den zahlreichen Privatbesitzern,
deren oft bedeutende Waldbestände eine rationelle Bewirtschaft
tung so sehr bedürfen. Namentlich auf die grossen Vortheile der
forstwirtschaftlichen Nebennutzungen und auf die industrielle
Verwertung der Baumstümpfe auf entholzten Strecken, des Bruch-
und andern Holzes, dessen directer Verkauf unausführbar ist, zu
Holzkohlen, Theer, Pottasche etc., können die Waldbesitzer nicht
dringend genug aufmerksam gemacht werden, da der Betrieb der¬
artiger Industriezweige nicht nur ein sehr lohnender ist, sondern
auch weil gerade diese Industriezweige in Russland einen sehr gesun¬
den und lebenskräftigen Boden unter sich haben. Bevor ich zu einer
andern Abtheilung übergehe, muss ich noch, wenigstens flüchtig,
der wunderbaren Schiffsbauhölzer des Herrn A. Kaufmann in St.
Petersburg gedenken, die ein in die Augen springendes Beispiel des
ausserordentlichen und ungewöhnlichen Reichthums Russlands an
solchen Hölzern bieten. Schon die Schiffsbauhölzer, welche der¬
selbe auf der letzten St. Petersburger Manufactur-Ausstellung
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exponirt hatte, erregten ihrer grossen Dimensionen wegen allge¬
meine Verwunderung; seine Moskauer Ausstellung ist aber noch
mannigfaltiger und zeichnen sich diese Schiffsbauhölzer sämmtlich
durch Reinheit, Naturwüchsigkeit und Gesundheit, sowie durch
Dichtigkeit des Kernholzes und Risselosigkeit der Wandoberflächen
aus. Diese Schiffsbauhölzer stammen aus verschiedenen Gouver¬
nements, namentlich aber aus Twer und Bessarabien. Wäre die
hissische Waldwirtschaft so, wie sie sein sollte, so könnte Russland
noch heute ganz Europa mit Schiffsbauhölzern versorgen. Der
Werth der im Jahre 1870 aus Russland exportirten Bau- und Nutz¬
hölzer berechnet sich nach den pfficiellen Ausfuhrtafeln auf
13,132,403 Rubel.
Der forstwirtschaftlichen Abtheilung schliesst sich in sachge-
mässer Folge die landwirthschaftlichc Abtheilung an. Die Land¬
wirtschaft ist in Russland die Basis der gesammten wirtschaftli¬
chen Volksthätigkeit. Russland ist Agriculturstaat, und zwar Agri -
culturstaat ersten Ranges-, es ist die Kornkammer Europas und sein
Reichtum an Cerealien aller Art hat schon mehr als einmal die¬
ses letztere vor ernsten Kalamitäten und Katastrophen bewahrt.
Unter solchen Umständen ist es erklärlich, wenn man auf einer
Ausstellung, welche doch zunächst die Culturentwickelung Russlands
und den Einfluss der Naturwissenschaften auf die menschliche
Thätigkeit zur Anschauung bringen soll, der Landwirtschaft ei¬
nen hervorragenden Platz eingeräumt hat. Und doch lässt ge¬
rade diese Abteilung der Ausstellung den Beschauer ziemlich kalt.
Wir begegnen •ztirar hier ganzen Remisen von landwirtschaftli¬
chen Gerätschaften und Maschinen aller Art; sie stammen aber"
zum allergeringsten Theil aus russischen Werkstätten, sind viel¬
mehr von den Agenten grossentheils englischer Häuser ausge¬
stellt, welche die jetzige Gelegenheit nicht unbenutzt vorüberge¬
hen lassen wollen, um Reclame für die Fabrikate ihrer Häuser
zu machen und dabei auf zahlreicheBestellungen hoffen. Ich furchte
aber, diese Herren geben sich argen Täuschungen hin, denn
einmal habe ich diese landwirtschaftliche Abteilung bei wie¬
derholter Besichtigung fast immer leer von Besuchern getroffen,
und dann ist es bereits Erfahrungssache geworden, dass die grosse
Mehrzahl der russischen Landwirthe wenig Neigung zeigt, ihrer
Ansicht nach complicirte landwirtschaftlich^ Gerätschaften in
der Praxis zu verwenden. Die Bearbeitung des Gutslandes durch
die Bauern, welche sich bei dieser Gelegenheit auch ihrer eignen
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152
landwirthschaflichen Geräthschaften bedienen, steht noch immer *
auf der Tagesordnung und bevor es die Gutsbesitzer nicht* in ih¬
rem Vortheile erachten, diesen Gebrauch zu beseitigen, wird auch
die Anwendung verbesserter landwirtschaftlicher Geräthschaften und
Maschinen iii Russland eine äusserst geringfügige sein und keines¬
wegs im Verhältnisse zur Ausdehnung der Landwirtschaft selbst
stehen. Eine durchschnittliche Mittelemte von 4V2 Korn der Aus- *
saat genügt noch Russland vollkommen, und bleibt selbst bd
dieser geringen Ernte ein Ueberschuss an Getreide von über 35
Millionen Tschetwert, den Russland, nach vollständiger Deckung sei¬
nes innern Consums von 184,128,000 Tschetwert, für seinen aus¬
wärtigen Handel und zur Deckung seiner Vorräte zur Disposi¬
tion behält. In diesem grossen Ueberflusse an Körnerfrüchten
verschiedener Art liegt zum Theil mit eine Ursache, dass der land¬
wirtschaftliche Fortschritt in Russland im Allgemeinen nicht so
rasch Boden gewinnt, wie anderswo. Trotz dem fehlt es auch
in dieser Beziehung nicht an aufmunternden Beispielen, mögen die¬
selben auch immer noch sehr vereinzelt auftreten. Es giebt in
Russland Güter — ich nenne beispielsweise die Ihrer Kaiserl. Hoheit
der Frau Grossfürstin Helene Pawlowna (Gut Karlowka im Pol-
tawaschen Gouvernement), des Fürsten Victor Wassiltschikow (Gut
Trubetschina im Tulaschen Gouvernement), der Grafen Bobrinsky
(Gut Smelja im Kijewschen Gouvernement) etc. — auf welchen
sich vollständig eingerichtete mechanische Werkstätten für den
landwirthschaftlichen Maschinenbau befinden. Auch einzelne Pri¬
vatfabriken giebt es, wie z. B. die S. J. Malzow’sche im Gou¬
vernement Orel, die von N. Westberg in Charkow u. A., welche
sich vorzugsweise mit dem Baue landwirtschaftlicher Maschinen
und Geräthschaften befassen. Wäre aber ihre Zahl noch zehnfach
grösser, so dürften diese Fabriken noch immer nicht für ein Land
wie Russland genügen, wenn sich hier eben nicht ein beklagens¬
werter Stillstand auf dem Gebiete der Landwirtschaft fühlbar
machte, der auffallend erweise noch immer anhält, trotzdem in
Folge der Ausdehnung des russischen Eisenbahnnetzes in den
letzteren Jahren die Güterpreise sehr bedeutend, in einzelnen
Gouvernements und in der Nähe der Eisenbahnen um 100 °/o ge¬
stiegen sind. Nur im Süden Russlands macht sich ein regeres
landwirtschaftliches Leben bemerkbar,, welches zum Theil seinen
Grund in der Speculation, zum Theil in dem Umstande findet,
dass hier vermögende russische Kaufleute Güter gekauft haben,
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*53
* die sie unter Anwendung genügender pecuniärer Mittel zu ei¬
nem höheren Ertrag zu bringen suchen. Im Allgemeinen
aber, und dies gilt von allen Gouvernements ohne Ausnahme,
steht die Landwirtschaft Russlands noch nicht entfernt auf der
Höhe unserer Zeit, und wenn nicht ganz unerwartete Anstrengun¬
gen seitens der russischen Landwirthe gemacht werden, Anstren¬
gungen, die kaum in Aussicht stehen, wird es Russland nicht
sobald gelingen, seine Landwirtschaft nur auf annähernd gleichem
Niveau wie die des Auslandes zu heben.
Unter so bewandten Umständen durfte man von Hause aus an die
landwirtschaftliche Abteilung der Moskauer Ausstellung keine
überspannten Forderungen stellen, um so mehr, als dem belehren¬
den Character der ganzen Ausstellung auch hier Rechnung getra¬
gen werden musste, daher für den practischen Landwirt die Be¬
schickung der Ausstellung unter allen Umständen erschwert wur¬
de. Eine landwirtschaftliche Ausstellung in grossen Verhältnis¬
sen, wie wir solche von den Specialausstellungen her gewohnt sind,
machte sich ohnedem ja unmöglich, und wenn auch in mancher
Beziehung mehr geboten werden konnte, als es in der That
der Fall war, so entsprach doch das wirklich Gebotene dem Cha¬
racter der ganzen Ausstellung. Die landwirtschaftliche Abtei¬
lung vertrat in drei Hauptgruppen: r) die Lehre vom Boden (Bo¬
denkunde), 2) die Bearbeitung des Bodens und 3) die Cultur
der Pflanzen. Die Lehre vom Boden war durch Apparate,
Tabellen und die verschiedenen Hülfsmittcl, welche der modernen
Landwirtschaft zur Untersuchung und Analyse des Bodens zur
Verfügung stehen, ferner durch Collectionen verschiedener Bo¬
denarten etc. in ziemlich detaillirter Weise dem Beschauer vor ’
Augen geführt, und hatte man mit Gewissenhaftigkeit Alles gesammelt
und in systematischer Ordnung ausgestellt, um diesen wichtigen
Theil der Landwirthschaftslehre würdig zu repräsentiren.
In der zweiten Unterabtheilung (Bearbeitung des Bodens) fin¬
den sich reiche Modcllsammlungen aller möglichen älteren und
neueren Werkzeuge und Gerätschaften, welche zur Bearbeitung
des Bodens benutzt werden, Pläne und Zeichnungen verschiede¬
ner Art, die Theorie des Pfhigens etc. darstellend. Die Cultur
der Pflanzen war in ähnlicher, mehr theoretischer .Weise, und
zwar wiederum durch Modelle, Zeichnungen ;etc. dem Beschauer
vor Augen geführt, wobei namentlich die Erntearbeiten und das
landesübliche Dörren des Getreides die eingehendste Vertre-
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154
tung gefunden hatten. Mehr practisches Interesse boten die in *
Natur ausgestellten Erzeugnisse des russischen Feld-und Garten¬
baues, die ein sprechendes Beispiel von der Mannigfaltigkeit der
landwirtschaftlichen Production Russlands liefern. Russland ist
eben im Stande, Alles allein zu produciren, was in den übrigen
Ländern Europas zusammen producirt wird, denn sein Gebiet
dehnt sich über alle Breitegrade unseres Weltteiles aus und
liefert in gleicher Fülle und reicher Abwechselung sowohl die
Producte des hohen Nordens, wie die des heissen Südens. Es
hält schwer, eine landwirtschaftliche Culturpflanze aufzuzählen,
welche nicht auch in Russland ihre Productionsstätte und ihre
Vertretung fände. Die landwirtschaftliche Viehzucht ist, wenn
auch sehr systematisch, doch weniger vollständig vertreten wie
der Feldbau, und auch hier sind es vorzugsweise Modelle und
Zeichnungen, welche die einzelnen Branchen dieser Viehzucht dar¬
stellen.
Die wirklich in der Praxis verwendbaren landwirtschaftli¬
chen Geräte und grösseren Maschinen sind in besonderen, teils
an den landwirtschaftlichen Pavillon angebauten, teils denselben
umgebenden Abtheilungen und Räumlichkeiten ausgestellt. Na¬
mentlich begegnen wir fast sämmtlichen grossen englischen
Fabriken, ohne jedoch wesentlich Neues zu finden. Von beson¬
derem Interesse sind die von Schweden ausgestellten landwirt¬
schaftlichen Gerätschaften und Culturinstrumente, welche sich
durch verhältnissmässig billige Preise und durch solide Arbeit
auszeichnen.
Hinter dem landwirtschaftlichen Pavillon, im zweiten Kremlgar-
* ten, fand die ländliche Baukunst ihren Platz. Hoch oben an der
Kremlböschung treten wir in eine ländliche griechische Kirche,
ausgestattet mit Allem, was der orthodoxe Ritus fordert. Wir be¬
gegnen ferner einem beinahe luxuriös aus gestatteten ländlichen
Wohnhause, einem Bauernhause, einer Dorfschule, einem ländli¬
chen Krankenhause, einer Apotheke etc. Die Ausführung all die¬
ser verschiedenen Bauten ist ganz zweckentsprechend, trägt zur
Abwechslung bei und ist auch gewiss recht lehrreich. Es bleibt
nur zu wünschen, dass sie recht zahlreich auch im practischen
Leben zur Ausführung kommen möchten.
Im zweiten Kremlgarten sind die Abtheilungen für das Post -
und Telcgraphenwcscn untergebracht, und sind dieselben um so
interessanter, als sie nicht nur einen allgemeinen Ueberblick über
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T 55
die Entwickelung und die gegenwärtige Gestaltung dieser wich¬
tigen Verkchrsinstitutionen in Russland, wie in den übrigen Cul-
turländern, sondern auch einen specielleren Einblick in den Orga¬
nismus derselben gestatten. Zu diesem Zwecke hat das Ausstcl-
lungs-Comit6 durch Vermittelung der russischen, österreichischen,
deutschen' und anderer Regierungen ziemlich vollständige Samm¬
lungen von allen Hülfsmitteln, welcher sich die verschiedenen
Postinstitutionen bedienen, zusammengebracht und dem Beschauer
in systematischer Ordnung vorgeführt. Im historisch-statistischen
Theile begegnen wir zunächst den Postkarten, den Wegzeigern
und den auf das Postwesen bezughabenden Verordnungen Russ¬
lands aus 72 Nummern bestehend; darunter zwei Postkarten aus
der Zeit Peter’s des Grossen und Katharina II. Bereits in den
letzten Jahren des vorigen Jahrhunderts fing man in Russland an,
schon mehr Werth auf solche Karten zu legen. Aus dem Jahre
1786 begegnen wir auf der Ausstellung einer Postkarte Klcin-
russlands, vom Jahre 1796 einer solchen des Kaukasus und 1799
erschienen sowohl eine allgemeine Postkarte, als auch eine solche
des Russischen Reiches. Im Laufe unseres Jahrhunderts hat sich
die Zahl der Postkarten, auch die einzelner Gouvernements (Wla¬
dimir, Wologda, Kursk, Moskau, Minsk, Jaroslaw) sehr gemehrt.
Die neueste Postkarte Russlands stammt aus dem laufenden Jahre.
Ausser Russland haben noch Oesterreich und das Deutsche Reich
diese historisch-statistische Abtheilung durch eine reiche Sammlung
von Postkarten, Postverordnungen etc. beschickt. Die Hülfsmittel,
welcher sich das moderne Postwesen zur Sammlung,' Versendung
und Stempelung etc. der Briefe, Packcte und Postsendungen be¬
dient, sind als besondere Unterabtheilung zusammengestellt und
werden theils in natura, thcils in Modellen und Zeichnungen dem
Beschauer vorgeführt. Besonders Oesterreich und das Deutsche
Reich haben eine möglichst vollständige Sammlung dieser postualen
Hülfsmittel eingesandt. Die verschiedenen Poststempel und Pet¬
schafte spielen unter diesen letzteren eine Hauptrolle und hat auch
Schweden die seinigen vorgeführt. Briefsammelkastcn, Brief-Koffer,
-Säcke, -Beutel, -Taschen etc., verschiedener Form und Ursprunges,
finden wir hier ausgestellt.
Eine besondere Unterabtheilung umfassten wiederum die Post-
(franco) Marken und gestempelten (frankirten) Bricfcouvcrts der
verschiedenen Staaten und finden wir hier u. A. eine sehr interes¬
sante Sammlung von Briefmarken aller Herren Länder, vom ersten
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Entstehen der Francomarken an bis auf den heutigen Tag. Die
Postequipagen, welche in Russland (St. Petersburg, Moskau, War¬
schau, im Kaukasus und Jekaterinoslaw), in Oesterreich und im Deut¬
schen Reiche; üblich, sind, theils in Zeichnungen, theils durch Mo¬
delle dargestellt. Darunter fehlen auch die Postkähne nicht, welche
zum Uebersetzen der Post über den Fluss Ob im Tobolskschen Gou¬
vernement benutzt werden. Nicht minder begegnen wir einer Aus¬
stellung der gegenwärtig in Russland, Oesterreich und im Deutschen
Reiche cingeführten Postuniformen, sowohl die der Postbeamten,
wie der Briefträger und Postillone, so wie der photographischen
Abbildungen von 22 kaiserlich russischen und 7 ausländischen Post¬
gebäuden etc.
Ausser der bildlichen Darstellung der Postverbindungen über
verschiedene Flüsse Russlands und Sibiriens, über die Berge des
Kaukasus und in den asiatischen Provinzen, sind noch von beson¬
derem Interesse zwei lebensgrosse Gruppen aus den Schneeregionen
des hohen Nordens, die eine die Hunde-, die andere die Rennthier-
Post darstellend. Menschen wie Thiere sind mit grosser Naturtreue
nachgebildet, und man glaubt sich während deren Beschauung
wirklich mitten in jene unwirthlichen Gegenden versetzt, deren
Hauptproduct das Rennthiermoos bildet und deren sommerliche Ve¬
getationszeit sich nur auf Wochen reducirt. Die Postabtheilung ver¬
dient mit Recht das Interesse, welches ihr allgemein entgegen ge¬
tragen wird, und in der That bietet das Postwesen eines Staates
nirgend so viele Eigenthümlichkeitcn wie in Russland, weil es nir¬
gendwo Völkerschaften zu dienen hat, welche auf so ungleicher Cul-
turstufe stehen,, weil kein einziger Staat über so ausgedehnte und
so ganz verschiedenartige Territorien gebietet wie Russland, dessen
asiatische und europäische Provinzen so gewaltige Gegensätze
bilden.
Dem Telegraphenwesen ist ebenfalls ein besonderer Pavillon
eingeräumt, und schon der Umstand, dass dies gleich dem der
Postabtheilung ein Pavillon von ziemlich bedeutender Grösse ist,
deutet darauf hin, dass wir es hier mit einer sehr eingehenden
Ausstellung zu thun haben. Diese Abtheilung soll nicht nur die
Fortschritte versinnlichen, welche auf dem Gebiete des Telegra¬
phenwesens bis auf den heutigen Tag gemacht worden sind, son¬
dern sie soll auch dem Besucher die verschiedenartigen Hülfs-
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l
mittel vor Augen führen, welche dem Telegraphen wesen zur Ver¬
fügung stehen. Die längst abgethanenen optischen Telegraphen
sind durch Modelle vertreten, dagegen können wir die Verbesse¬
rungen des electrischen Telegraphen Schritt vor Schritt verfolgen.
Es entrollt sich vor unseren Augen das ganze, weite Gebiet des
Telegraphenwesens und nicht nur die Regierungen von Russland,
Deutschland und Oesterreich haben mit einander gewetteifert, dem
Besucher der Moskauer Ausstellung einen offnen und weiten
Blick in das ganze innere Getriebe ihres Staatstelegraphenwesens
thun zu lassen, sondern auch Private haben sich mit Eifer die¬
sem Streben angeschlossen und reiche Sammlungen von Appa¬
raten, Modellen und sonstigen Telegraphenutensilien der Ausstel¬
lung zur Verfügung gestellt. Namentlich ist eine derartige
Sammlung der berühmten Telegraphen-Bau-Anstalt von Sie¬
mens & Halske in Berlin der höchsten Beachtung werth und äus-
serst instructiv.. Sie versinnlicht die Fortschritte, welche das Te¬
legraphenwesen hinsichtlich der Anwendung der verschiedenartigen
Apparate bis auf den heutigen Tag gemacht hat. Diese bekannte
Firma hatte auch die beste Gelegenheit, eine derartige Sammlung
zu liefern, da wenig Telegraphenlinien in Russland und selbst im
übrigen Europa im Betriebe stehen werden, welche nicht Ap¬
parate oder sonstige Hülfsinstrumente aufzuweisen haben dürften,
die nicht im Siemens & Halske’schen Etablissement in Berlin
oder in den Filialen desselben ihren Ursprung gefunden hätten.
Auch die österreichische und deutsche Telegraphen-Verwaltung ha¬
ben sich bemüht, ausserordentlich belehrendes Material für diese
Abtheilung zu liefern.
Im Jahre 1852 betrug die Ausdehnung des russischen Telegraphen¬
netzes 1446 Werst, und zwar
1126 Werst optischer Telegraphen ) und
320 „ electrischer Telegraphen für den Eisenbahndienst.
Im Jahre 1862 J>etrug die Ausdehnung des russischen Telegra¬
phennetzes (electrischer Telegraph)
22765 Werst (mit 158 Stationen) Regierungs- und Corre-
spondenzlinien und
2467 „ (mit 219 Stationen) Eisenbahnlinien.
*) 1854 wurde der optische Telegraph vollständig durch den etectrischen ersetzt.
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i 5 8
Im Jahre 1872 betrug die Ausdehnung des Telegraphennetzes
46709 Werst (mit 576 Stationen) Staatstelegraphen für den
Correspondenzverkehr.
?3335 » (mit 844 Stationen) für den Eisenbahndienst.
Die wirkliche Draht oder Leitungslänge der sämmtlichen rus¬
sischen Telcgraphenlinien beträgt dagegen nach officieller Mitthei¬
lung 121,580 Werst, von denen 29,850 Werst auf die Eisen¬
bahnlinien entfallen.
. Da über die Telegraphen-Abtheilung jedenfalls noch. Specialbe¬
richte auch in deutscher Sprache erscheinen werden, so kann ich
wohl mein Referat über diese Abtheilung mit der Bemerkung
schliessen, dass sie in ihrer Ausführung vollständig der zu Grunde
liegenden Idee entsprach, dass sie keine, wenigstens keine störenden
Lücken zeigte, und dass sic auch übersichtlich und vollständig
systematisch geordnet war.
Gleiches Lob, wie der vorhergehenden, lässt sich der physikalischen
Abtheilung (Pavillon No. 42) nicht spenden, und schien dieselbe be¬
stimmt zu sein, Manches aufzunehmen, was sich eben nicht gut in
eine andere Abtheilung unterbringen» liess. Des Interessanten, na¬
mentlich rein physikalischen Characters, wurde zwar viel geboten, und
erscheinen besonders beachtenswerth die optischen Instrumente aus
Paris, Berlin, Wien etc., die meteorologischen Instrumente vonGreiner
in Berlin und Kappler in Wien, eine Collection electrischcr
Apparate und Maschinen von Siemens & Halske (s. o.), physikali¬
sche Maschinen von Richter in St. Petersburg, electrische Apparate
von Rumkorf in Paris, die metrischen und russischen Maasse von
Romanenko und a. m. Daneben finden wir aber Uhren zwei¬
felhaften Werthes, Lampen, Waagen verschiedener Systeme,
dann wieder musikalische Instrumente aller Art, als Fortepianos,
Blasinstrumente aus Holz und Blech, Harmonikas und dergleichen.
Ein Londoner hatte sogar seine Verkaufsstättc mit physikalischem
• Kinderspielzeug hier aufgestcllt und schien anz glcidliche Ge¬
schäfte mit seiner Waare zu machen. Obgleich sich gerade in
dieser Branche Wissenschaft und Industrie die Hand reichen müs¬
sen, so scheint doch der gegenseitige Vermischungsprocess hier
etwas zu weit getrieben zu sein. Uebrigens waren auch neuere
Erfindungen von Interesse vertreten. So erinnere ich an einen
Apparat zur Ueberführung ätzender Säuren aus einem Gefässe
in das andere, # in Batterien etc. aus Odessa, der seiner Einfach¬
heit und practischen Einrichtung wegen der Beachtung werth ist.
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159
Auch eine Collection von demonstrativen Apparaten aus dem physi¬
kalischen Cabinet des Lyceums des Thronfolgers Nicolai (Arbei¬
ten des Herrn Ssimonow), ein . Apparat von Galibert, welcher
bestimmt ist, das freie Athmen in einer erstickenden Atmosphäre
(z. B. während einer Feuersbrunst) zu gestatten, gehören
hierher. Dem Leuchtgase und seinem Gebrauche zur Beleuch¬
tung und Beheizung ist eine besondere kleine Abtheilung einge¬
räumt, in welcher Versuche mit verschiedenen Gassorten an¬
gestellt werden und auch die neue Klingerfussische Metho¬
de zum gleichzeitigen Anzünden aller Laternen einer Stadt,
so wie ein Regulator der Gasausströmung von Giron gezeigt
wird. Erwähnenswerth ist noch ein kleiner Gasapparat zur
Erzeugung von Gas aus Naphtharückständen nach denf Systeme
des Prof. Hirzel. Unter Mitwirkung des Akademikers Wild ist
ein kleiner meteorologischer Pavillon errichtet * worden, in welchem
sich eine Collection sellbst wirkender meteorologischer Apparate
befindet. Man ersieht hieraus, dass im Ganzen viel geboten wor¬
den ist, und dass, wenn auch neben manchem nicht Dahinge*
hörigem und Nebensächlichem, des wirklich Lehrreichen ebenfalls
genug ausgestellt war.
Die Herstellung physikalischer Apparate und mathematischer
Instrumente überlässt Russland noch grösstentheils dem Auslande.
Ich sage: grösstentheils, weil es auch in Russland bereits Eta¬
blissements giebt, welche die durch sie verkauften Instrumente etc.
in ihren Werkstätten auch wirklich fabriciren lassen. Das Schleifen
optischer Gläser ist jedoch lediglich Sache des Auslandes, und da
diese Gläser zollfrei, oder, wenn verzollt, mit einem verhältnissmässig
sehr geringen Zoll belastet, nach Russland eingeführt werden, so
lohnt auch kaum die Einführung einer Industrie, in welcher man
voraussichtlich immer dem Auslande nachstehen würde. Der Sitz
der hervorragendsten Etablissements zur Herstellung physikalischer,
optischer und mathematischer Instrumente befindet sich in den Uni-
versitätsstädtenRusslands, vorzugsweise in St. Petersburg, Moskau und
Warschau; unter diesen Etablissements giebt es viele, welche 20 —
30 Arbeiter regelmässig beschäftigen. Die Vielseitigkeit der Pro¬
duction einzelner Etablissements ist deren Schwäche und trägt die
Schuld, dass sich die Kräfte zersplittern und wenig wirklich Her¬
vorragendes geleistet wird. In neuerer Zeit scheint man dies eiiv
zusehen und mit Ernst diesen auf die Wissenschaft nicht einflusslosen
Uebelstand beseitigen zu wollen. Russland hat es in der That schon
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dahin gebracht, seine Specialisten aufvveisen zu können» So gilt
Herr Georg Brauer , früher Mechaniker der Pulkowaer Sternwarte,
als einer der bedeutendsten Specialisten für astronomische Instru¬
mente, nicht nur in Russland, sondern in ganz Europa. Wäre er
nicht für die wissenschaftlichen Institute Russlands der Art in An¬
spruch genommen, wie es wirklich der Fall- ist, so würden seine
trefflichen Fabricate allenthalben die weiteste Verbreitung finden.
F. Mielck in St. Petersburg ist wiederum Specialist in Augengläsern,
namentlich zur Heilung kranker Augen;* Karl Votkey stellt haupt¬
sächlich nur optische Instrumente, namentlich grössere und kleinere
Ferngläser, Operngläser etc. her, die mit Ausnahme der Gläser
selbst • in allen ihren Theilen vollständig aus dem Etablissement des
genannten Herrn hervorgehen. W. F. Beilstein (Firma A. Sperling
et W. Beilstein) in St. Petersburg ist wiederum Spccialist in geodä¬
tischen Instrumenten, während J. IV. Woronzow- Weljaminow in
Warschau sich die Anfertigung aller Gattungen von Waagen (Balan¬
cewaagen wie Decimalwaagen) zum speciellen Feld seiner Thätigkeit
gewählt hat Die St. Petersburger Filiale des bekannten Berliner Hau¬
ses Siemens & Halskc arbeitet ganz allein nur für das Telegraphen¬
fach. Der Leistungen des Herrn F. Schwabe in Moskau, Geriith-
schaften flir Operationen und andere medicinische Zwecke, grössere
physikalische Apparate und Modelle für industrielle Etablisse¬
ments, wurde bei früheren Gelegenheiten schon gedacht. In wissen¬
schaftlicher wie technischer Beziehung ist der hier erwähnte Indu*
striezweig von hoher Bedeutung, und dass sich derselbe in Russland
so entwickeln und ausbilden kann, wie es factisch geschieht, darf
unbedingt als Zeichen des Fortschrittes nicht nur auf industriellem,
sondern auch auf wissenschaftlichem Gebiete angesehen werden.
Wenn dennoch für mehr als für 600,000 Rbl. physikalische, optische,
mathematische und denen verwandte Apparate und Instrumente und
Instrumententheile nach Russland importirt werden, so thut dies dem
nachgewiesenen Fortschritt keinen Eintrag, sondern beweist nur,
dass die heimathlichen Kräfte nicht ausreichen, den sich immer stei¬
genderen Bedarf, welcher speciell auch als Beweis der Steigerung des
Fortschritts auf wissenschaftlichem Gebiete angesehen werden kann,
zu decken.
Die in Moskau ausgestellten musikalischen Instrumente, namentlich
Fortepianos , geben uns auch durchaus kein richtiges Bild der Fort¬
schritte, welche diese Industriebranche in den letzten Jahren in Russland
gemacht hat. Es soll damit durchaus nicht angedeutet werden. dass
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die dort ausgestellt gewesenen Flügel und Fortepianos nicht den
Erwartungen entsprochen hätten. Ich habe schon früher darauf hin¬
gewiesen, dass dieMoskauer Ausstellung nicht den Zweck verfolgte,
ein Bild der gesammten russischen Industrie zu bieten. In der mu¬
sikalischen Abtheilung fehlten die Erzeugnisse der hervorragendsten
Etablissements Russlands.
Dass die Fortepiano-Fabrication in Russland bedeutende Fort¬
schritte gemacht hat, beweist schon der Umstand, dass trotz des
sehr, gesteigerten innern Bedarfs der Import ausländischer In¬
strumente durchaus nicht im gleichen Verhältnisse wächst, wie der
allgemeine Verbrauch derselben. So wurden im Jahre 1870 nur 1312
ausländische Fortepianos nach Russland importirt, was wohl eine
selbst nicht unbedeutende Steigerung im* Vergleich zu den Vor¬
jahren zeigt, nicht aber eine solche, wenn man in frühere Perioden
zurückgreift Russland besitzt nicht nur sehr leistungsfähige Eta¬
blissements, sondern auch solche, aus denen ganz vorzügliche Instru¬
mente hervorgehen. Die Becke /sehen Flügel sind z. B. weit und
breit bekannt. Das Schröder s che Etablissement in St. Petersburg
baut jährlich 2 50—270Instrumente im Verkaufspreise von ioo,oooRbl.
und beschäftigt 90 Arbeiter. Seine Fortepianos sind in ganz Russ¬
land beliebt und haben auch bereits im Auslande Anerkennung ge¬
funden. Ich könnte noch eine ganze Reihe trefflicher Meister in
St. Petersburg, Moskau und Warschau anführen, doch dürfte das An¬
geführte genügen, um den Beweis festzustellen, dass Russland in
dieser Industriebranche sich mit Erfolg und ziemlich selbstständig
entwickelt hat. Weit weniger ist dies hinsichtlich der Fabrication
von Blasinstrumenten der Fall, für welche das Ausland noch immer
ein sehr weites Absatzgebiet in Russland finden, wird. Die hier er¬
zeugten derartigen Instrumente, obgleich sehr solid und von gutem,
haltbarem Ton, stellen sich in ihren Preisen so hoch, dass das weit
billigere und kaum schlechtere ausländische Fabricat immerhin einen
sehr umfassenden Absatz nach Russland finden wird.
Von' den Pavillons, welche sich im zweiten Kremlgarten be¬
finden, verdienen nur noch der photographische und typographische
spccielle Erwähnung. Ersterer enthält, obgleich mit einer besondern
obern Galerie umgeben, im Ganzen der Quantität nach weniger,
als man bei der Unmasse photographischer Anstalten in Russland
erwarten durfte, dagegen entschädigte die Qualität. Von beson¬
derem Interesse sind die lebensgrossen photographischen Por-
traits von J. R. Metschkowsky in Warschau. Wie bedeutend das pho-
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tographische Institut des genannten Herrn ist, geht schon daraus
hervor, dass derselbe jährlich für 40000 Rbl. Photographien liefert
und 28 Hülfsarbeiter beschäftigt. Auch die Moskauer Photographen
zeigten in ihren ausgestellten Portraits aller Grössen treffliche Lei¬
stungen. — Ein vollständig eingerichtetes photographisches »Atelier,
ausgestattet mit allen nothwendigeii Hülfsapparaten und Präparaten,
bildete den instructiven Theil dieser Abtheilung.
Auch die typographische Abtheilung enthält recht interessante Würz¬
burger Schnellpressen mit dem vollständigen Apparat von Setzern,
Druckern und Hülfsarbeitern, eine Schriftgiesserei, Hannoversche
Druckfarben mit ihren guten und schlechten Eigenschaften, Berliner
und Wiener Oelfarbendruck etc. etc. und sehr verschiedenartige Er¬
zeugnisse der Buchdruckörkunst. Höchst interessant ist die schon von
der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung her bekannte Vi¬
trine der Expedition zur Anfertigung der StaaUpapiere , deren Inhalt
mit den hervorragenden Leistungen dieses Etablissements in den ver¬
schiedenen Branchen des Kunstdruckes und der galvanoplastischen
Herstellung von Formen und llautreliefs vollkommen harmonirt.
Diese Expedition zur Anfertigung von Staatspapieren in St. Peters¬
burg ist nicht nur das bedeutendste Etablissement seiner Art in
Russland, sondern auch in Europa, und hat es unter der umsichtigen
und thätigen Leitung seines Directors, des wirklichen Staatsraths
von Winbcrg, bereits im Gebiete des Kunstdruckes zu ganz unge¬
wöhnlichen Leistungen gebracht. Keinem andern ähnlichen Institute
stehen aber auch so bedeutende Mittel zur Disposition, wie dem ge¬
nannten. Es ist mit einer Papierfabrik zur Anfertigung von Staats¬
und Dokumentenpapieren verbunden, deren innere Einrichtung so
vollständig ist, dass man hier nicht die unbedeutendste Maschine ver¬
missen wird, welche die Technik im Interesse der Papierfabrication
erfunden hat, obgleich ein grosser Theil des Papieres, namentlich
das zu den Creditpapieren, noch mit der Hand gearbeitet wird. Bei¬
spielsweise will ich nur anflihren, dass, namentlich zur Anferti¬
gung von Stempelpapicr und dergleichen, zwei Papiermaschinen
grösster Dimension in fortwährendem Betriebe stehen. Diese Pa¬
piermaschinen, von denen die eine das Maschinenpapier auch
sofort leimt, geben auch zugleich das Wasserzeichen und stammen
,wie die meisten andern Maschinen aus Rochedale in England. Die
Expedition zur Anfertigung von Staatspapieren ist auch selbstver¬
ständlich mit einer gleich grossartig eingerichteten lithographischen
Anstalt verbunden, deren Leistungen, wie gesagt, vollständig auf der
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Höhe unserer Zeit stehen. Die Einrichtungskosten dieses ganzen
Etablissements sind allerdings sehr erheblich und sollen sich auf 5 bis
6 Millionen Rub. belaufen. Wenn diese Anstalt eben nicht einen ganz
besondern, ohne grosse Opfer nicht zu erreichenden Zweck ver¬
folgte, würde die jährliche Production von 80 bis 120 Millionen Bo¬
gen div. Papieres kaum mit diesen enormen Einrichtungskosten im
Verhältnisse stehen. Andererseits ist aber auch hervorzuheben, dass
dieses Etablissement gewissermaassen zu einer Pflanzschule der rusj
sischen Papicrfabrication geworden ist, indem sich dessen Directiori
eifrig bemüht hat, alles Neue im Gebiete der Papicrfabrication zu
prüfen, und dasselbe, wenn es sich bewährt hat, zum Gemeingute
zu machen.
Die Schriftgiesserei gehört zu denjenigen Industriezweigen Russ¬
lands, welche noch am wenigsten entwickelt sind, und welche den
sich von Jahr zu Jahr erweiternden Consum an Lettern noch nicht
zu decken im Stande sind, so dass noch grosse Quantitäten dieser
letzteren aus dem Auslande bezogen werden müsspn. Das „Jahr¬
buch des Finanzministeriums“ führt für ganz Russland nur 10 Schrift-
giessereien auf, von denen 7 mit 125 Arbeitern und einer Produc¬
tion im Werthe von 69080 Rub. auf St. Petersburg und 3 mit
33 Arbeitern und für 20400 Rub. Productionswerth auf Warschau
entfallen. Wenn auch diese .Angaben als veraltet heute keine vol¬
le Gültigkeit mehr l\aben mögen, indem neue Etablissements ent¬
standen sind,* andere ihren Betrieb erweitert haben, so weisen die¬
selben doch immerhin auf die Unzulänglichkeit der russischen
Schriftgiesserei hin. Eine der bedeutendsten, und was Selbst¬
ständigkeit der innern Einrichtung anbelangt, wohl die erste
Schriftgiesserei Russlands ist die im Jahre 1854 gegründete und
auch auf der Moskauer Ausstellung vertretene von 0 . Lehmann in
St. Petersburg. Diese Giesserei, die. heute einen Umsatz von ca.
50000 Rub. erzielt, hat sich vorzugsweise auf die Herstellung
russischer und überhaupt slavischer Schriften gelegt und besitzt
vielleicht eine der vollständigsten Sammlungen davon. Sie
producirt jährlich 4000 Pud' verschiedener Schriften, und. ste¬
hen bei ihr 16 Gussmaschinen in Verwendung. Mit einigen grös¬
seren Buchdruckereien z.B.der Akademie der Wissenschaften, des Se¬
nats, des Kriegsministeriums, des Ministeriums des Innern und der
„Gesellschaft zum allgemeinen Nutzen* stehen kleinere Schriftgies-
sereien in Verbindung. Ein recht bedeutendes Etablissement die¬
ser Art ist die Schrift-und Stereotypengiesserei derDruckerei der
. n*
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II. Abtheilung der Eignen Kanzlei Sr. Majestät .des Kaisers. Die
älteste Schriftgiesserei Russlands ist die der Synodal-Druckerei
in Moskau, welche namentlich für slaviscbe Schriften noch heute
nicht ohne Bedeutung ist. Die übrigen Moskauer Schriftgies-'
sereien sind gleich den Warschauern von geringer Leistungsfähig¬
keit.
In keinem Lande giebt es wohl so viele Regierungsdruckereien
wie in Russland. Nicht nur, dass fast jedes Ministerium und an¬
dere höhere Staatsinstitutionen ihre eigenen Druckereien besitzen,
es befindet sich auch bei jeder Gouvernementsregierung noch eine
solche. In früheren Zeiten, als sich die Privatindustrie noch
nicht in so umfassender Weise dieses Industriezweiges bemächtigt
hatte, fanden diese zahlreichen Regierungsdruckereien ihre Berech¬
tigung; heute sind sie aber nicht nur zum grossen. Theil schon
ganz überflüssig geworden, sondern sie üben auch einen nach¬
theiligen Einfluss auf die Privatindustrie aus, ohne dass sie, mit
wenigen Ausnahmen, der Regierung einen reellen Nutzen schaffen.
Im Gegentheil würde diese letztere auf weit billigerem Wege
zum Ziele kommen, wenn sie die erforderlichen Druckarbeiten der
Privatindustrie überliesse. Neuerdings sind' daher auch schon
einige Kronsbuchdruckereien, wiez.B. die des Finanzministeriums, an
Private übergegangen. Als eigentliche und zu ihrer Existenz
vollkommen berechtigte Staatsdruckerei ist. die oben erwähnte
Druckerei der 2. Abtheilung der Eignen Kanzlei Sr. Majestät des
Kaisers anzusehen, in welcher nicht nur alle Reichsgesetze und
die Reichsgesetzsammlung, sondern auch noch alle sonstigen Ver¬
ordnungen, welche von dieser hohen Stelle ausgehen, und der
allgemeine Codex der Reichsgesetzq in officieller Weise gedruckt
werden. Wie bedeutend dieses Etablissement ist, geht daraus
hervor, dass ihm 16000 Pud Lettern zur Verfügung stehen, dass
es auf 14 Schnell- und 16 Handpressen arbeitet, ausserdem
eine Lithographie und Chromolithographie besitzt, seine eigene
Buchbinderei, Schlosserei, Schmiede und Tischlerei unterhält, die
Pressen durch 3 Dampfmaschinen von 12 Pferdekraft in Bewe¬
gung gesetzt werden und an 300 Arbeiter regelmässige Be¬
schäftigung finden. Eine andere grosse St. Petersburger Drucke¬
rei von hervorragender Leistung ist die schon im Jahre 1711
gegründete Typographie der Akademie der Wissenschaften, wel¬
che ebenfalls mit Dampf betrieben wird, auf 8 Schnell-und 12
Handpressen arbeitet und 200 Setzer, Drucker und sonstige Ar-
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i6$
beiter beschäftigt. Ünter den kartographischen Instituten Russ¬
lands ist neben dem der kriegstopographischen Abtheilung desK. Ge¬
neralstabes das auf der Moskauer Ausstellung ebenfalls ver¬
tretene Institut von A. A. Iljin in St. Petersburg hervorzuheben.
Die Arbeiten des ersteren sind von ganz vortrefflicher Leistung;
die von der kriegstopographischen Abtheilung ausgestellte neue Spe¬
cialkarte von Russland gehört zu den besten Producten der ganzen
neueren (nicht bloss russischen) Kartographie. — Ohne mich in wei¬
tere Details einzulassen, will ich nur noch erwähnen, dass die erste
Druckerpresse Russlands im Jahre 1553 in Moskau aufgestellt wurde
und dass die* älteste der jetzt in Russland bestehenden Druckereien die
des heiligen Synod in Moskau ist. Nach dem „Regierungs-An¬
zeiger“ gab es im Jahre 1869 im .ganzen russischen Reiche 363
Buchdruckereien, 327 Lithographien, 413 Buchhandlungen und 221
Lesecabinette und Leihbibliotheken. Davon entfielen auf St. Pe¬
tersburg 77 Druckereien, 93 Lithographien, 85 Buchhandlungen
und 14 Leihbibliotheken; auf Moskau 57 Drukereien, 82 Litho¬
graphien, 90 Buchhandlungen und 16 Leihbibliothecken. Von den
Provincialstädten hatten Warschau, Wilna, Shitomir, Jaroslaw,
Kijew, Charkow, Riga etc. etc. die meisten derartigen Etablisse¬
ments aufzuweisen.
Der dritte Kremlgarten enthält die hydraulische Abtheilung, drei
Pavillons (No. 54—56), welche der Architectur und den ihr dienen¬
den Gewerbszweigen eingeräumt sind, und den historischen Pavillon,
mit verschiedenen Portraits Peter’s des Grossen, seinem Wagen,
Schlitten, Stuhl, Kleidern, Orden etc.; ferner mit Modellen, an wel¬
chen der grosse Reformator theils selbst gearbeitet hat, oder die
wenigstens aus seiner Zeit stammen und mit andern Seltenheiten,
welche sich auf seine Person und seine Geschichte beziehen. So
hohes Interesse dieser Pavillon an und für sich auch bittet, so glaube
ich doch mich um so mehr mit diesen flüchtigen Andeutungen be¬
gnügen zu können, als ich bei Besprechung der Moskauer Aus¬
stellung vorwiegend das wirthschaftliche Leben der Gegenwart im
Auge habe, und daher jene Momente in den Vordergrund stellen
muss, welche dieses Leben beeinflussen und ihm gewissermaassen
eine bestimmte Richtung vorschreiben.
Die obenerwähnte hydraulische Abtheilung bietet nicht nur eine
reiche Sammlung yon Pumpen verschiedener Art und anderen
Wasserhebungsmaschinen und Apparaten, sondern namentlich auch
eine noch weit reichere Sammlung von Feuerlöschgeräthschäften
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aller Art. Veranlassung hierzu boten die von mehreren russischen
Feuerassecuranz-Gesellschaften und vom Ministerium des Innern
ausgeschriebenen Preise für solche Geräthschaften eine Anregung,
welche ihre Wirkung auch dieses Mal nicht versagte. Von Moskauer
Fabrikanten sind es vorzugsweise die Herren G. List und Froom
& Co. (letztere Firma wohl nur als Exponent und nicht als Fabrikant),
welche in allen Branchen des Feuerlöschwesens in hervorragender
/ Weise sich betheiligt hatten, während aus St. Petersburg das städti¬
sche Feuerlöschdepot die Ausstellung mit einer recht vollständigen
Collection selbst fabricirter Feuerlöschgeräthschaften, welche von
solider und gediegener Arbeit zeugen, beschickt hatte. -Die Dampf¬
spritze in verschiedenen Constructioncn (Aussteller die Herrei}
Kraft, Kuksch, List), sowie die grossen leistungsfähigen Centri-
fugalspritzen englischen und amerikanischen Systems waren nicht
minder zahlreich vertreten, wie die verschiedensten gewöhnlichen
Hand- und Hebelspritzen. Auch andere in das Feuerlöschfach ein¬
schlagende Fabrikate (namentlich Spritzenschläuche aus Gummi,
Flachsgespinnst, Kopfbedeckungen fürFeuerlöschmannschaften etc.)
waren vom In- wie Auslande in grösserer Anzahl ausgestellt worden,
so dass diese Abtheilung zu einer der umfangreichsten und voll¬
ständigsten der Ausstellung zählt.
Jedenfalls muss es als ein Zeichen des Fortschrittes und der Cul-
turentwickclung angesehen werden, dass Russland dem Feuerlösch¬
wesen mehr Aufmerksamkeit zuwendet, als zeither, und dass cs
Etablissements von Bedeutung besitzt (wie z. B. das oben genannte
von G. List, das der Gebrüder Butenop in Moskau u. A.), welche
den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit in die Erzeugung von Feuer¬
löschapparaten legen. Wenn auch in den Hauptstädten des Lan¬
des, namentlich in St. Petersburg, neuerer Zeit auch in Moskau,
Odessa und Riga, die Feuerwehren recht gut und zeitgemäss orga-
nisirt und mit Hülfsmitteln der verschiedensten Art, selbst mit
Dampfspritzen versehen sind, so steht es doch in dieser Beziehung
im Innern des Landes noch sehr schlecht, und es giebt selbst Städte
(von Dörfern gar nicht zu reden), welche nur Caricaturen eines ge¬
ordneten und zeitgemässen Feuerlöschwesens aufzuweisen haben.
Das Institut der ,freiwilligen Feuerwehren“, welches allenthalben
schon so grosse practischc Bedeutung erlangt hat und dessen Nutzen,
bei richtiger Organisation, über jedem Zweifel erhaben ist, hat sich in
Russland noch nicht eingebürgert und ist kaum dem Namen nach
bekannt. Eine Ausnahme hiervon machen die Ostseeprovinzen,
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welche bereits vieler Orten ihre freiwilligen Feuerwehren besitzen,
die sich auch dort schon trefflich bewährt haben. Ja es sind bereits
Fälle vorgekommen, dass diese Feuerwehren ausserhalb ihrer Gou¬
vernements mit Erfolg thätig waren, so z. B. beim letzten grossen
Brande in Dünaburg, zu dessen Bekämpfung man die Rigaer frei¬
willige Feuerwehr requirirt hatte. Das in dieser Beziehung gegebene
gute Beispiel der Ostseeprovinzen scheint neuerer Zeit doch auf
guten Boden gefallen zu sein und Nachahmung zu finden, denn in
der Stadt Pskow (Pleskau) hat sich jüngst ebenfalls eine freiwillig^
Feuerwehr gebildet, was unbedingt dem Einflüsse der benachbarten
Östseeprovinzen zu danken ist. Im Allgemeinen steht es aber
namentlich auf dem Lande noch ungemein schlecht mit dem Feuer¬
löschwesen, und das Ministerium des Innern folgt nur einem Ge¬
bote dringender Nothwendigkeit, wenn es Anstrengungen macht,
diese Verhältnisse zu bessern. So rasch wird das allerdings nicht
möglich sein, da einerseits die Indolenz der Gemeindeverwaltungen,
andererseits die landesübliche Bauart der Plolzhäuser, welche jedem
ausbrechenden Feuer immer neue Nahrung bieten, die anerkennens-
werthen Bestrebungen in dieser Richtung wenig unterstützen. Es
dürfte sehr gerathen sein, dass für die Folge den Ziegelbauten mehr
Eingang verschafft werde, wie bisher.
Dass es Russland keineswegs an treulichen Baumaterialien fehlt,
das zeigt die architektonische Abtheilung der Ausstellung. Vom be¬
hauenen und künstlich geschliffenen Marmor und Granit bis hinab
zum gewöhnlichen Mauerziegel, dem Kalk und Cement finden wir
mit Ausnahme der Bauhölzer, welche in der Abtheilung für Forst-
cultur ihren Platz gefunden haben (s. o.), alle Baumaterialien ver¬
treten, deren verchiedene Arten in Russland Vorkommen.
Marmorbrüche finden sich im Gouvernement Moskau selbst und
zwar unweit des Dorfes Paganka, bei der Stadt Podolsk, und der
Eigenthümer derselben, M. J. Filatjew, liefert jährlich für 30,000
Rubel Marmorfabrikate als Tischplatten, Treppenstufen u. s. .w.
Auch im Kaukasus, in Polen und in andern Theilen Russlands giebt
es noch Marmorbrüche, während Finnland den schönen Granit lie¬
fert, der namentlich zum Baue der herrlichen St. Petersburger
Quais, der Isaakskirche und anderer hervorragender Gebäude be¬
nutzt worden ist und der sich durch den feinen Schliff und die halt¬
bare Politur auszeichnet, die er annimmt. Kalk und Ziegel sind in
den letzten Jahren sehr im Preise gestiegen, so z. B. Kalk von 30
auf soRbl. perKubik-Faden, Ziegel auf ca. 18—20Rbl. perTausend.
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Eigenthümlich haben sich in dieser Beziehung die Verhältnisse in
Moskau gestaltet: Obgleich Russland nach dem „Jahrbuche des
Finanzministeriums“ 2127 Ziegeleien für Mauersteine und 39 Dach¬
ziegel- und Thonröhrenfabriken besitzt, so zeigte doch die Umge¬
bung Moskaus einen grossen Mangel an Ziegeleien, so. dass in dieser
Stadt die Mauerziegelpreise bis auf 40 Rubel pro Tausend stiegen.
Dies hatte einerseits die Baulust sehr geschwächt, andererseits aber
die Speculation so rege gemacht, dass plötzlich in der Nähe von
Moskau eine grosse Anzahl x Ziegelbrennereien errichtet wurden,
welche ihr Fabrikat nach Moskau sandten. Die Folge davon wy,
dass die Ziegelpreise wiederum von 40 Rbl. auf 20 Rbl. fielen,
ohne deshalb Abnehmer zu finden, da Bauuntemehmungen eine
längere Vorbereitungszeit erfordern und nicht so rasch wieder
aufgenommen werden konnten, als wie dies die billigeren Ziegel¬
preise gestattet hätten. Ueberhaupt liegt die Ziegelbrennerei in
Russland noch sehr im Argen, und ist mit einem ganz unverhält-
nissmässigcn Aufwand von Menschenhänden und Brennmaterial ver¬
bunden. Ziegelbrennereien mit Dampfbetrieb giebt es nur in der
Umgebung von Warschau, wo auch bereits, wenigstens vereinzelt,
die Hofmann’schen Rundöfen eingeführt sind. Diese Warschauer
Ziegclbrcnnereien erzielen in Folge dieser Neuerungen bei gleichem
Productionswerth ein Erspamiss an menschlicher Arbeitskraft um
40 pCt., was bei rien gegenwärtigen auch in Russland hohen Ar¬
beitspreisen von grosser Bedeutung ist. Es wäre Zeit, dass sich
Russland bestrebte, Erneuerungen einzuführen, die sich im Aus¬
lande bewährt haben, und daselbst die allerweiteste Verbreitung
finden.
Mehr entwickelt hat sich in den letzten Jahren in Russland die
Cementfabrication, welche immermehr Boden gewinnt. Das „Jahr¬
buch des Finanzministeriums“ vom Jahre 1869 führt nur drei Ce-
mentfabriken an, welche 260 Arbeiter beschäftigen und eine jähr^
liehe Production im Wertlie von 121,200 Rbl. liefern sollen.
Dagegen waren auf der letzten St. Petersburger Manufactur-Aus-
stellung neun Cementfabriken vertreten, welche jährlich ca. i 1 /«
Millionen Pud Cement im Werthe von 381,000 Rbl. producirten und
dabei 7 22 Arbeiter beschäftigten. Die grössten Cementfabriken
giebt es in der Nähe von St. Petersburg und von Riga, in der Krim
(Kertsch), in Polen (Gouvernement Piotrkow) und in Finnland
(Gouvernement Njuland). Auch im Kaukasus steht eine Cement-
fabrik im Betriebe, die ein recht gutes Fabrikat liefert. Russland,
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i 6 g
vielmehr Polen, fängt bereits an Cement zu exportiren, obgleich
dieser Export (rund 187,000* Pud im Werthe von 65,000 Rbl.) gar
nicht im Verhältniss zum Import (über 1,200,000 Pud im Werthe
von 600,000 Rbl.) steht. Man ersieht aber hieraus, dass Russland
in allen Naturreichen Hülfsquellen besitzt, welche nur der Erschlies¬
sungharren, um belebend und fördernd auf die industriellen und com-
merciellen Verhältnisse des Landes zu wirken.
Die architektonische Abtheilung enthält aber nicht nur Collec-
tionen von Bau- und andern zum Aufbau von Häusern etc. erforder¬
lichen Materialien, sondern 1 auch Gegenstände, welche zur innern
Ausschmückung derselben gehören, namentlich Holzschnitzereien,
Möblements, Broncefabrikate u. dgl. mehr. Die von russischen
Meistern ausgestellten Möbel sind recht gut und solid, und man
würde sie vielleicht in ihrer Holzarbeit sogar für ausgezeichnet
eracht.en, begegneten sie nicht auf der Ausstellung der Concurrenz
des Leipziger Hauses Franz Schneider das als Etablissement für
Holzschnitzkunst sich eines europäischen Rufes erfreut und dessen
Chef zu den bedeutendsten Vertretern in Sachen innern Kirchenbaues
und in Beziehung auf Charactermöblirung von Schlössern und Villen
gehört.
Nächst Tischler- und. Bildhauer^rbeiten sind es vorzugsweise
Broncefabrikate , welche diesen Theil der Ausstellung schmücken.*
Obgleich von russischen Fabriken, so viel mir erinnerlich, nur die
F. Chopin sehe (St. Petersburg) vertreten war, so konnten doch selbst
die ausländischen Fabrikate den Erzeugnissen der genannten Fabrik
gegenüber nicht aufkommen, so wähl was Kunst wie Technik anbe¬
langt. Die von derselben ausgestellten Leuchter, Lüster, Kande¬
laber, Büsten etc. in Goldbronce und Antique sind inderThat Meister¬
werke von nicht gewöhnlichem Werthe. Es muss hier noch hervor¬
gehoben werden, dass die St. Petersburger Broncefabrikation auf
einen hoch entwickelten Standpunkt gelangt ist und der Pariser und
Wiener Broncefabrikation ebenbürtig zur Seite gestellt werden kann.
St. Petersburg besitzt Etablissements für diesen Industriezweig von
hervorragender Bedeutung. Ausser der oben genannten Chopin-
schen Fabrik sind es die Broncefabriken von Nicholls & Plincke (jetzt
Colquhon — englisches Magazin), Moran, N. Stange, Hössrich
u. a. Etablissements, welche der russischen Industrie zur hohen
Ehre gereichen. Obgleich die Fabrik von Nicholls & Plincke sich
auch mit der Fabrikation von Gebrauchsgegenständen befasst und
eine der ersten war, welche die broncenen Schreibtischgarnituren
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170
auf dem Continente fabricirte, so ist sie nicht minder tüchtig im
Gusse von Monumenten, Statuen etc. Das Nowgoroder Monument
zur Erinnerung des tausendjährigen Bestehens des russischen Reiches
stammt aus diesem Etablissement. Ebenso beschäftigen sich Chopin
und Moran vorzugsweise mit der Erzeugung grösserer Stücke,
Büsten etc., während N. Stange, Hössrich u. A. sich vorzugsweise
auf die Fabrikation von Gebrauchsgegenständen, ajs Leuchter; Kande¬
laber, Lampen etc. gefegt und es in dieser Branche zu ganz aus¬
gezeichneten Leistungen gebracht haben. Die Moskauer Bronce-
fabrikation steht der St. Petersburger bedeutend nach und auch die
Warschauer kommt der letzteren nicht gleich. Im Ganzen besitzt
Russland 17 Broncefabriken, welche zusammen eine jährliche Pro¬
duction im Werthe von ca. 1 */* Millionen Rubel liefern. Von diesen
17 Fabriken fallen 11 auf St. Petersburg.
Die vierte und letzte Ilauptabtheilung der Ausstellung befindet
sich in demjenigen Thcil des Kremlgartens, der sich längs des Ufers
der Moskwa hin zieht und umfasst die Marineabtheilung\ die Eisen -
bahnabtheilung und die / Insstellung des Kriegsminisleriums , welche
letztere sowohl in dem genannten Garten, als auf dem Kreml selbst
untergebracht ist. Gewissermaassen als ein Anschluss an die Kriegs¬
abtheilung kann die Ssewastoppler Ausstellung gelten, welche sich
• durch hübsche Decorirung besonders auszeichnet, und deren Aus¬
stellungsobjecte sich mehr oder weniger auf die Zeit der denkwür¬
digen Belagerung Ssewastopols beziehen. Namentlich die militäri¬
sche Krankenpflege ist reich vertreten, und nimmt ein ganzes
Seitenschiff ein. Das gegenüberliegende enthält in natürlicher
Grösse Modelle des Schanzen- und Minenbaues, wie solche während
der Belagerung seitens der russischen Armee ausgeführt wurden.
Eine Reihe Oelgemälde zeigt Darstellungen der bedeutendsten
Schlachten des Krimkrieges und Ansichten von Ssewastopol selbst
während und nach der Belagerung. Das grosse Mittelschiff endlich
ist in ein Auditorium umgewandelt und zeiöhnet sich nicht nur durch
die lebensgrossen Portraits des jetzigen Kaisers und der Kaiserin,
und des Kaisers Nikolai I. nebst Gemahlin, sondern auch durch die
Büsten und lebensgrossen Photographien aller Generale und Ober-
officiere aus, welche in Ssewastopol während der Belagerung kom-
mandirten oder die sich durch ihre militärischen Leistungen während
dieser für ganz Europa denkwürdigen Zeit ausgezeichnet hatten.
Das ganze. Arrangement entspricht dem Zwecke und findet mit
Recht allgemeine Anerkennung. Das für den Besuch dieser
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Abtheilung gezahlte Extra-Entree fliesst der „Gesellschaft zur Pflege
verwundeter Krieger“ zu.*
Die Abtheilung des Kriegsministeriums bietet ebenfalls des In¬
teressanten viel und ist mit grosser Sorgfalt geordnet. Die im
untern Kremlgarten liegenden Räumlichkeiten werden grossentheils
von der Militärintendantur und der Artilleriedirection in Anspruch
genommen und sind bestimmt, die Anfertigung der Militärkleidungs¬
stücke practisch zu zeigen. Vom Weben der Leinwand angefangen,
wird hier Alles gezeigt, was zur Herstellung der Körper- und Fuss-
bekleidung des russischen Soldaten erforderlich ist. Maschinen,
nicht nur Näh- und Zuschneidemaschinen, sondern auch solche zur
Fabrikation des Schuhwerkes, stehen in vielseitiger Verwendung.
In einem andern Theile dieser Abtheilung wird das Bohren und
Abdrehen der Kanonenrohre, in einer dritten die Anfertigung von
Munition etc. gezeigt. Der Hauptpavillon der obern Abtheilung
(auf dem Kreml selbst; enthält dagegen eine historische Darlegung
der Entwickelung des ganzen Militärwesens von den ältesten Zeiten
bis auf den heutigen Tag. Von besonderem Interesse sind die
Verbesserungen und neuen Erfindungen im Gebiete der Militär¬
bewaffnung Und des Artilleriewesens, wie sie sich im Laufe der Zeit
herausgebildet haben. Nicht nur für den Militär, sondern auch für
jeden Gebildeten ist diese Abtheilung in hohem Grade belehrend,
und vielleicht noch nirgends hat man eine derartige Zusammenstel¬
lung in so grossem Maassstabe und so vollständig angetroffen, wie
gerade hier. So sind von der alten Feldschlange an bis zur Mitrail-
leuse unserer Tage alle Kanonengattungen in natura vorgeführt,
deren man sich im Laufe der Zeit in der Armee bedient hat. Das¬
selbe gilt vom Infanteriegewehr. Ebenso wird die Uniformirung der
russischen Armee seit Gründung stehender Heere bis auf den heu¬
tigen Tag durch lebensgrosse Modelle gezeigt, wie denn die ganze
Abtheilung reich ist an historischen Erinnerungen der verschieden¬
sten Art. In Nebenpavillons und in Zelten sind die Einrichtungen
von Militär- und Feldlazarethen, Feldkapellen, I^zarethwagen etc.
ausgestellt.
Der Marineabtheilung ist ein besonders grosser und schön ange
legter Glaspavillon eingeräumt worden, der nach Schluss der Aus¬
stellung auch an seinem jetzigen Platz stehen bleiben und zur Auf¬
nahme eines Kunstmuseums bestimmt werden wird. Vor dem Ein¬
gänge in diesen Pavillon befindet sich der Vordertheil eines grossen
' Handelsschiffes, hinter dem Ausgange der Mitteltheil einer Kriegs-
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corvette, beide mit vollständiger Einrichtung und Takelage, Kajüten
und sonstigem Schiffszubehör. Der Centralpavillon selbst zeigt,
namentlich durch Modelle, die ganze Entwickelung nicht nur der
russischen, sondern auch der ganzen modernen Seeschifffahrt, ins¬
besondere aber die der russischen Kriegsmarine. Hier befindet sich
auch das berühmte Boot Peters des Grossen ausgestellt, das von
St. Petersburg zur Ausstellung nach Moskau geschafft wurde. Es
wird von zwei Marinesoldaten bewacht. Wenn die russische Kriegs¬
flotte Peter dem Grossen ihr Entstehen zu danken hat, so hat sie
dem Kaiser Alexander II. ihre vollständige Umwandlung und Wehr-
haftmachung zu danken und in der Geschichte Russlands wird diese
letztere von eben so grosser Bedeutung sein, wie das Werk Peters
des Grossen. Russland wird wohl nich* den Anspruch erheben, zu
den ersten Seemächten der Welt zu zählen, aoer das, was in den
letzten Jahren für die Entwickelung und Reorganisation seiner
Marine geschehen ist und auch jetzt noch geschieht,, macht es be¬
reits factisch zu einer sehr bedeutenden Seemacht. Die zahlreiche
Panzerflotte, über welche Russland heute gebietet, ist das Resultat
der Anstrengungen, welche die russische Regierung seit Beendigung
des Krimkrieges gemacht hat, ein Resultat, das Russland voll¬
ständig befriedigen kann. Kein zweites Land hat in dieser Bezie¬
hung bessere Erfolge aufzuweisen.
Weit weniger günstig stellt sich das Verhältniss in Bezug auf die
russische Handelsflotte. Dieses grosse, von drei Meeren umspülte
Land, hat es, trotz aller Anläufe, welche man hierzu genommen,
noch nicht zu einer nationalen Handelsflotte gebracht, mindestens
nicht zu einer solchen, die im Verhältniss zur Entwickelung seines
Seehandels steht. Diesem Umstande ist es auch wohl hauptsächlich
zuzuschreiben, dass sich dieser letztere durchaus nicht in dem Ver¬
hältnisse entwickelt, wie der durch den Ausbau des russischen Eisen¬
bahnnetzes immer mehr begünstigte Landhandel. Während letzterer
sich im Jahre 1860 noch zum Seehandel wie 1:472 verhielt, hat sich
heute das Verhqjtniss ungefähr wie 1 : 1 7 * gestellt. Bei dieser
Sachlage ist es erklärlich, dass von den verschiedensten Seiten An¬
strengungen gemacht werden, um die Gründung einer nationalen,
den commerciellen Verhältnissen Russlands entsprechenden
Handelsflotte anzubahnen, Anstrengungen, die aber bis jetzt wenig¬
stens ohne jeden weittragenderen Erfolg geblieben sind. Dies
muss um so mehr auflallen, als Russland das trefflichste Schiffsbau-
material in jeder Beziehung zur Disposition steht und als sich das
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Bedürfniss einer nationalen Handelsflotte in allen Kreisen fühlbar ge¬
macht l^at.
Ausser Schiffsmodellen jeglichster Art, sowie zahlreichen Modellen
von Häfen, Docks und anderen ähnlichen Etablissements und Hülfs-
quellen der Seeschifffahrt zeigt die Marineabtheilung alle sonstigen
Einrichtungsstücke von Kriegs- und Handelsschiffen. Sehr vollständig
ist die Artillerieabtheilung vertreten, welche Schiffsgeschütze jeder
Gattung und jeden Kalibers aufweist, darunter namentlich die neuen
Hinterlader-Stahlkanonen, welche zum grossen Theil aus der renom-
mirten Obuchow’schen Gussstahlfabrik in St. Petersburg, einem
Etablissement von grosser Bedeutung und Leistungsfähigkeit, her-
vorgegangen sind. Auch die Ishoraer Eisen- und Metallfabrik des
Marineministeriums'hat eine reiche Collection ihrer Fabrikate aus¬
gestellt, welche sämfntlich die Bestimmung haben, dem Schiffsbau
in irgend einer Weise zu dienen. Bemerkenswerth sind namentlich
die dicken Eisenplatten zur Schiffspanzerung, welche den englischen
Fabrikaten gleichberechtigt zur Seite gestellt werden können.
. Nicht minder hat die Kronstädter Fabrik für Dampfschiffsbau
(KpoHiuTa^TCKitt napoxoAHbift 3aBo;u>) mit einer reichen Sammlung
ihrer Fabrikate die Ausstellung beschickt, namentlich mit Dampf¬
maschinen, Schiffskompassen, Dampfventilatoren, Schiffssamovars
etc., wie denn mit einem Worte alle Maschinen, Apparate und
sonstigen Einrichtungsstücke von Kriegsschiffen in grosser Vollstän¬
digkeit vertreten waren. Schliesslich sei noch erwähnt, dass das
See-Medicinal- und Lazarethwesen, sowie auch die Einrichtung von
Rettungsstationen für auf der See Verunglückte in der Marineabthei¬
lung' ihre Vertretung gefunden haben und dass diese Abtheilung im
Allgemeinen zu den interessantesten Theilen der Ausstellung zählt.
Die Schlussabtheilung bildet die dem Eisenbahnwesen eingeräumte.
Bei der rapiden Entwickelung, welche das russische Eisenbahnwesen
in den letzten sechs bis sieben Jahren aufzuweisen hat, darf es nicht
Wunder nehmen, dass die in Rede stehende Abtheilung sowohl vom
Auslande wie vom Inlande reich beschickt worden ist. Letzteres
war namentlich seitens solcher Etablissements der Fall, welche sich
mit der Beschaffung von Eisenbahnbetriebsmitteln, als Locomotiven
und Waggons verschiedener Art und Klassen beschäftigen. Da ich
noch Gelegenheit finden werde, in meinen detaillirteren Berichten
auf die Eisenbahnabtheilung zurückzukommen, so begnüge ich mich
heute mit diesen allgemeinen Bemerkungen und füge denselben nur
noch hinzu, dass sich ein erheblicher Fortschritt im russischen
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174
Loqomotiven- und Waggonbau bemerkbar gemacht hat, was nament¬
lich auch von einigen Fabriken im Innern Russlands gilt, deren Lei¬
stungen auf der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung nicht
gerade in einem sehr hoffnungsreichen Lichte erschienen. Dieser
Fortschritt ist um so bemerkenswerther, als kaum zwei Jahre seit der
letzterwähnten Ausstellung verstrichen sind.
In Vorstehendem habe ich versucht, den Lesern ein übersicht¬
liches Bild, wenn auch nur in flüchtiger Skizzirung, von der Mos¬
kauer polytechnischen Ausstellung zu entwerfen. Wo sich mir
Gelegenheit dazu bot, habe ich zugleich auch die weitern ein¬
schlägigen Culturverhältnisse Russlands besprochen, in so fern
es sich nicht um Zweige des wirthschaftlicheu und industriellen
Lebens Russlands handelte, deren Wichtigkeit ein noch näheres
Eingehen in die specicllen Verhältnisse derselben erheischt. Letzteres
zu thun, behalte ich mir namentlich in Bezug auf die Manufactur-
branche und die Metallindustrie Russlands vor, nachdem ich in den
nächsten Heften der „Russischen Revue“ die wirtschaftlichen und
industriellen, überhaupt die Productionsverhältnisse des Kaukasus
und des turkestanischcn Gebietes einer eingehenderen Besprechung
unterzogen haben werde.
Das bisher über die Ausstellung Mitgetheilte dürfte genügen, um
auch Diejenigen, welchen es versagt war, Moskau zu besuchen, auf
die hohe Culturbedeutung der dortigen Ausstellung aufmerksam zu
machen. Mag diese letztere auch von mancher Seite weniger günstig
beurtheilt worden sein, mögen sich namentlich in Russland selbst ein¬
zelne Stimmen haben vernehmen lassen, welche die ganze Ausstellung
als verfehlt bezeichneten, so steht es doch auf der andern Seite fest,
dass die dem ganzen Unternehmen zu Grunde liegende Idee eine
erhabene und die zukünftige Culturentwickelung Russlands beein¬
flussende war, und dass diese Idee.durch die Ausstellung selbst im
Grossen und Ganzen zur Ausführung gekommen ist. Wer die russi¬
schen Verhältnisse sowie die Schwierigkeiten kennt, auf welche diese
Ausführung nothwendig in der Praxis stossen musste, kann der
Ausdauer, Umsicht und dem unermüdlichen Eifer des Ausstellungs-
comites nur die vollste Anerkennung zollen. Mag auch der materielle
Erfolg den gehegten Erwartungen nicht entsprochen haben, so wird
die diesjährige polytechnische Ausstellung in Moskau doch immer
in der Culturgeschichte Russlands sich einen ehrenden Platz bewahren.
F. Matthäi.
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Mittheil unwert über den nenen Stadtgarten anf dem
Admiralität^- nnd Petersplatze
in St. Peters bürg.
Gegenwärtig beschäftigt die öffentliche Meinung in St. Petersburg
die Anlage eines Stadtgartens auf dem Admiralitäts- und Peters¬
platze. Während London, Paris, Wien und andere grosse Städte
Europas in der neueren Zeit, neben der Verschönerung durch
mannigfache Bauten, auch im Innern der Städte soviel als möglich
durch Anlagen von Gärten fiir die Annehmlichkeit und Gesundheit
der Bewohner gesorgt haben, hatte die stolze Kaiserstadt an der
Newa bis vor nicht langer Zeit ausser dem, im regelmässigen Style
angelegten Sommergarten, kaum andere nennenswerthe Localitäten
in ihrem Innern aufzuweisen, welche dem Publikum im Sommer zum
angenehmen Aufenthalte dienen konnten. Wohl waren schon vor
langer Zeit die reizenden Newa-Inseln Kamennoi-Ostrow und Jelagin
und auf der Südseite der Stadt Katharinenhof zu schönen Parks um¬
gewandelt worden, aber diese kamen, wie der Park des Forstcorps,
der Park des Grafen Schuwalow in Pargolowo, die Kaiserlichen und
Grossfürstlichen Parks in Strelna, Peterhof, Oranienbaum, Zarskoje-
Sselo und Pawlowsk, nur dem nicht an die Stadt gefesselten Theil
des Publikums zu Gute, welcher seinen Sommeraufenthalt in deren
Nähe beziehen konnte.
Das Gleiche gilt vom Botanischen Garten, dem Park des Ministe¬
riums des Innern und dem Gräflich Borch’schen Garten auf der Apo¬
theker-Insel, sowie dem Stroganow’schen Park in Tschernaja-
Retschka und anderen zahlreichen grösseren Gärten in der weitern
Umgebung St. Petersburgs, welche in der liberalsten Weise von den
Besitzern dem Publikum geöffnet sind.. Bedeutenderes leistete die
Stadtverwaltung vor etwas mehr als 20 Jahren durch die Anlage des
Alexander-Parks auf der Petersburger Seite und des an Wassili-Ostrow
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anstossenden Parkes von Petrowsky für die iii jenen Stadtgegenden
wohnende Bevölkerung. In den letzten Jahren endlich wurden theils
durch Stiftung von Privatleuten, theils durch die Stadtverwaltung
mehrere öffentliche Plätze von kleineren Dimensionen im Innern der
Stadt zu Squares umgewandelt, die denn auch im Laufe des
Sommers von Erwachsenen und Kindern fleissig besucht wurden. —
Die bedeutendste Leistung der Art von Seite der Stadtverwaltung*
zum Wohle des den Sommer hindurch in der Stadt bleibenden
Publikums, ist aber die gerade jetzt m Angriff genommene Anlage
des Admiralitäts- und Petersplatzes Zu einem grossen im Centrum
der Stadt liegenden Garten.
Die Idee dazu lebte wohl schon längere Zeit in manchem, für den
Gesundheitszustand der Stadt besorgten Manne, — die Anregung
zu dem jetzt zur Ausführung kommenden Unternehmen geht aber
von dem Präsidenten des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins zu
St. Petersburg aus, der an Allem, was den Gartenbau betrifft, den
lebhaftesten Antheil nimmt und der auch das Interesse für diesen
neuen Park überall zu wecken wusste.
Schon im Frühlinge des Jahres 1871 brachte derselbe die wün-
schenswerthe Umwandlung der beiden betreffenden Plätze in einer
Sitzung des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins zur Sprache und
der letztere setzte Preise für detaillitt ausgearbeitete Projecte zu
diesem Zwecke aus. Das Interesse und der Wunsch zur baldigen
Ausführung der Anlage dieses Gartens mussten bei der Zweckmässig¬
keit dieses Vorschlages schnell wachsen und so gelangte denn schon
zu Anfang dieses Jahres, ein unter der Begutachtung des Präsidenten
und des Vorstandes des Kaiserl. Russischen Gartenbauvereins in
St. Petersburg vom Vicepräsidenten des gedachten Vereins ausge¬
arbeiteter Plan, zur Vorstellung und Allerhöchster Genehmigung.'
Von den später eingehenden Concurrenzplänen ward der von dem
Hofgärtner Ihrer Kaiserl. Hoheit der Grossfürstin Helene in Oranien-
baum entworfene gekrönt. — Von Seiten der Stadtverwaltung
sind gegenwärtig dje für die Anlage des Gartens nothwendigen
Summen dem Kaiserlich Russischen Gartenbauverein zur Disposition
gestellt worden, da dieser letztere die Ausführung des Gartens,
mit Ausschluss aller Baulichkeiten, übernommen hat. Die Aus¬
führung der letzteren wird von dem Präsidenten der Bau-Abtheilung
der Stadt und den daselbst beschäftigten Ingenieuren durchgeführt.
Alle, die Anlage des Gartens betreffenden Gegenstände werden
von dem Vorstande des Kaiserl. Russischen Gaitenbauvereina
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entschieden, der zu seinem Bevollmächtigten für Beaufsichtigung
und Leitung der Anlage des Gartens den Vicepräsidentert des Ver¬
eins ernannt hat '
Der Flächenraum der beiden Plätze, die jetzt in einen Garten
verwandelt werden sollen, beträgt 17,300 Quadrat-Faden (der Faden
ä 7 Fuss engl.). Der Plan sollte die Aufgabe lösen, den vor der
Admiralität liegenden, sehr langen aber verhältnissmässig schmalen
Platz und den mehr quadratisch sich ausdehnenden Petersplatz, in
Berücksichtigung der umgebenden grossartigen Baulichkeiten, und
unter Schonung der vor der Admiralität liegenden Boulevards,
ungefähr im Sinne der Pariser Champs Elysees, der Buttes de Chau-
mont etc., in einen reizenden Stadtgarten zu verwandeln. Der lange
und schmale Admiralitätsplatz erforderte wegen der Nähe der Ge¬
bäude eine gewisse Regelmässigkeit, die bei seiner geringen Breite
aber schwierig herzustellen war. Gerade Wege und Alleen würden
entweder eine grosse Einförmigkeit oder eine Menge Ecken und
Spitzen im Geleite gehabt haben, die sich zur Bewegung grösserer
Menschenmassen nicht eignen. Es ist in Folge dessen für den
Admiralitätsplatz ein gemischter Styl, d. h. die Anlehnung von
gleichartigen Partien von unregelmässiger Gestalt, an drei regel?
massige Bassins mit Springbrunnen gewählt worden. Die letzteren
liegen den drei Portalen des Admiralitätsgebäudes gegenüber und
sollen durch ihre, 4—6 Faden hohen Wasserstrahlen das Ganze be¬
leben und angenehme Kühle in den heissen Sommertagen verbreiten.
Auf dem Petersplatze wird gegenüber dem grossartigsten Gebäude
der Stadt, der Isaakskirche, ein mächtiger, nur mit niedrigen Ge¬
wächsen undBlumenparterres geschmückterregelmässigerRasenplatz
liegen, der die volle Ansicht jenes herrlichen Bauwerks gestattet.
Daran wird sich bis zum Quai des Newastromes ein Garten in gross¬
artigem, natürlichem Style anschliessen, der auch das Petersdenkmal
umfassen und auf der. nordöstlichen Ecke zu einem Hügel an¬
schwellen wird. Der ganze Garten auf dem Isaaks- und Petersplatze
wird durch keinen Fahrweg, wohl aber durch geschlungene Wege
durchzogen, welche, um dem Publikum genügend Platz zu gewähren,
eine Breite von drei Faden erhalten sollen. Die Oberfläche des
Bodens wird zur Hebung des Effektes so viel als möglich wellig be¬
wegt Für reizende Durchblicke nach der Alexander-Säule, nach
dem in seiner einfachen Grösse majestätischen Denkmale Peter’s
des Grossen, nach der Isaakskirche, sowie vom Garten aus nach
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17 »
dem Newastrome, wird die Bepflanzung dem Plane gemäss Sorge
tragen.
Die Bepflanzung selbst wird sich, um den Staub der Stadt abzu¬
halten, in dichterem Bestände rings um den Platz herumziehen. Die
Wege werden theils durch die Gebüsche der Umpflanzung als
kühle schattige Promenaden hindurch führen, theils werden sie als
sonnige Promenaden fiir die kühlem Tage desFrühlings undHerbstes,
über grüne Rasenplätze, bepflanzt mit einzelnen Exemplaren von
Bäumen und Sträuchem, hinlaufen, immer wieder andere Perspectiven
und Gruppirungen dem Auge bietend. Einzelne grössere schattige
Sitzplätze werden als Sammelpunkte zum Spielen für Kinder dienen,
und Bänke sollen in allen Theilen des Gartens den Müden zur Ruhe
einladen. Der Garten soll aber nicht blöss aesthetisch schön und
den Anforderungen der Gartenkunst gemäss eingerichtet werden,
sondern er soll auch dem Gartenfreund zur Belehrung dienen. Es
werden daher in demselben nicht nur alle im Klima St. Petersburgs
noch ausdauernden Bäume und Sträucher, sondern auch die schönen
perennirendcn Stauden zweckmässig dem Auge präsentirt und mit
ihren Namen versehen werden. Um die speciellen Eigentümlich¬
keiten der für alle Gartenanlagc wichtigsten Holzgewächse mehr
hervorzuheben, sollen dieselben entweder artenweise zu Gruppen
vereinigt, oder einzeln auf den Rasenplätzen angepflanzt werden.
Dabei soll es versucht werden, einzelne characteristische Partien zu
bilden, wie z. B. eine Abtheilung des Gartens durch Anpflanzung der
bei uns noch ausdauernden Nadelhölzer zu einem immergrünen
Garten verwandelt werden soll, während in einer andern Partie die
niedrigen Gebirgssträucher zusammengestellt werden u. s. f.
Der Ausländer ist geneigt zu glauben, dass bei der hohen nordi¬
schen Lage St. Petersburgs unser Baumwuchs ein dürftiger sei und
ist erstaunt, wenn er die alten hohen Bäume in der Umgebung der
nordischen Metropole erblickt. Es ist nun eine längst bekannteThat-
sache, dass die Physiognomie ganzer Florengebiete, sowie der
Gärten, wesentlich durch die höheren Bäume bedingt wird. Aller¬
dings ist gerade die Zahl der Bäume, die in unserem Klima noch
überdauern, eine viel geringere, als in dem westlichen Europa: die
Buche, die Wintereiche, die italienische Pappel, die Trauerweide, die
Edeltanne Europas und'die des Kaukasus, die Scheinakazie und viele
andere ausgezeichnete Baum’förmen, überdauern in unserem Klima
gar nicht oder doch nur in krüppelhaftem Zustande. Dennoch ist
die Zahl der im St. Petersburger Klima noch gut gedeihenden
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179 •
Bäume doch weit bedeutender, als dies ein flüchtiger Einblick in die
meisten unserer Gärten voraussetzen lässt. Deshalb gerade dürfte
der neue Stadtgarten, wo alle bei uns aushaltenden Holzgewächse
dem Gartenfreunde vorgeführt werden sollen, auch eine vortheil-
hafte Einwirkung auf die Physiognomie der Gärten Russlands aus¬
üben. Eine kurze Anführung der allerdings nicht zahlreichen Bäume
von mehr als 20 Fuss Höhe, welche im St. Petersburger Klima noch
gut aushalten, dürfte daher auch für weitere Kreise Interesse haben
und lassen wir eine Aufzählung derselben am Schlüsse dieses Artikels
folgen.
Als grösste Schwierigkeit traten der Anlage des Gartens die
Bodenverhältnisse entgegen, indem der ganze, seit einer langen
Reihe von Jahren gepflasterte Platz mit einer festen 1—2 Fuss hohen
steinfesten Lage von Sand und Schutt überdeckt ist. Diese zu
brechen und wieder zweckmässig anzulegcn oder mit dem Unter¬
grund zu vermischen, und das Anfahren von ungefähr 3000 Kubik-
faden guter Erde, ferner deren Ablagerung in verschiedener Höhe
je nach Baumgruppen und Rasenplätzen, sowie endlich die Anlage
der Wege — alles Das muss der Anpflanzung vorausgetien. Es
wird daher im günstigsten Falle die Anlage des Gartens erst im
nächsten Frühjahre vollendet werden können. In den St. Peters¬
burger Tagesblättem berichteten einzelne Stimmen, dass man schon
im nächsten Sommer im Schatten der zu pflanzenden Bäume werde
wandeln können.
Wohl werden alle Maassregeln getroffen werden, damit die Pflan¬
zungen so gut als möglich gedeihen, wohl wird man auch eine An¬
zahl grösserer alter Bäume zur Pflanzung verwenden, aber es dürfte
doch wohl einige Jahre dauern, bis man im Schatten der heuen
Anlage wird wandeln können. Deshalb besonders mussten die
schon bestehenden, um das Admiralitätsgebäude führenden Boule¬
vards geschont werden, deren Mittelallee zu einem Reitweg ver¬
wandelt werden soll, an dem es im Centrum der Stadt bis jetzt ganz
gefehlt hat. Da endlich Bäume und-Sräucher erst anwachsen
fnüssen, bis der projectirte Garten seinem Zwecke vollständig ent¬
sprechen wird, so bildet auch die Anlage des Gartens selbst den
ersten Theil der zu lösenden Aufgabe, der jetzt in Angriff ge¬
nommen wird: — der Bau einer zweckdienlichen, passenden Um¬
zäunung, die Construction der Fontainen etc. wird folgen, sobald
die Administration der Stadt die zu diesem Zwecke erforderlichen *
Summen der städtischen Bauabtheilung anweist.
12*
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i8o
/
Die Baumpflanzungen werden in diesem Herbste beginnen und
den ganzen Winter hindurch durch Pflanzung grosser Bäume mit
Frostballen fortgesetzt. Diese letztere Art der Verpflanzung grösserer
Bäume im Laufe des Winters passt besonders gut für unsere klimati¬
schen Verhältnisse und ist z. B. in dem Kaiserlichen Park von
Zarskoje-Sselo schon seit einer Reihe von Jahren mit dein besten
Erfolge angewendet worden.
Aufzählung der im St. Petersburger Klima noch ausdauernden Bäume von
20 bis 80 Fuss Hübe.
Fichten . Die gemeine Fichte (Picea excelsa Lk.), die sibirische
Fichte (Picea obovataLedb.), die nordamerikanische schwarze Fichte
(Pinus nigra Lk.), die nordamerikanische weisse Fichte (Picea alba
Lk.), die nordamerikanische Rothfichte (Picea rubraLk.). — Tannen .
Die nordamerikanische Balsamtanne (Abies balsamea Mill), die sibi¬
rische Tanne oder die Pichte (Abies sibirica Ledb.) und Frasers
Tanrfe aus Nordamerika (Abies Fraseri Lindl.) — Fahren. Die
gemeine Föhre, welche mit der Fichte zusammen unsere Nadel¬
waldungen bildet (Pinus sylvestris L.), die Zirbelnuss oder sibirische
Ceder (Pinus Cembra L.), die Weymuthskiefer Nordamerikas (Pinus
Strobius L.). — Lärchen . Die gemeine Lärche (Larix decidna Mill)
mit ihren zahlreichen Formen mit aufrechten und hängenden Aesten,
welche als sibirische Lärche, europäische Lärche, Hängelärche be¬
kannt sind; die dahurische Lärche (Larix dahurica Turcz). — Birken.
Die Birken sind die wichtigsten Bäume des Nordens und wirklich
gedeiht auch die Birke bei uns zu ausserordentlicher Schönheit, wird
aber in unsern Garten-Anlagen in zu grosser Menge gepflanzt, wes¬
halb sie in der Mehrzahl unserer Gärten nicht den schönen Effect her¬
vorbringt, den sie bei verständigerer beschränkterer Verwendung her¬
vorbringen würde. Die gemeine Birke (Bietula^ alba L.) ist gleich
der gemeinen Lärche in vielen schönenFormen bekannt; die Formen
mit den lang überhängenden Zweigen (B. alba pendula) und die
mit geschlitztem Lapbe (B. alba dalecarlica) sind besonders
schön. Die Papier-Birke (B. alba papyracea) und die pappelblättrige
Birke (B. alba populifolia) sind Formen Nordamerikas, von denen
die letztere unser Klima aber nicht erträgt. Andere bei uns noch
ausdauernde baumartige Birken sind die dahurische Birke (Betula
dahurica Pall.) und die hainbuchenblättrige Birke (B. lentaWllld.).—
Erlen. Die gemeine Erle (A. glutinosa Willd.) und die graue Erle
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(Ainus incana W.). Beide Arten sind auch in schlitzblättrigen
Abarten verbreitet, welche schöner als die Stammarten sind. — Eichen.
Von den zahlreichen Eichen-Arten Europas dauert nur die Sommer¬
eiche (Quercus pedunculata Wilid.) aus, welche bei uns noch grosse
mächtige Bäume bildet. Von den Eichen Nordamerikas sind nur
die rothe Eiche (Quercus rubra L.) und die Scharlacheiche (Q. coc-
cinea Wangh.) halbhart, und erfrieren in kalten Wintern. — Wall -
nussbäume. Der Wallnussbaum Europas hält nicht mehr aus, dagegen
gedeihen noch zwei Arten Nordamerikas, nämlich der graugrüne
Wallnussbaüm (Iuglans cinerea L.) und der schwarze Wallnussbaum
(I. nigra L.). — Weiden . Die Baumweiden gehören zu den schönsten
Bäumen der St. Petersburger Gärten und sind auch in zahlreichen,
in Europa heimischen Arten vertreten. Die schönsten derselben
sind die Lorbeerweide (Salix pentandraL.), die mandelblättrige Weide
(S. amygdalina L.) nebst Abarten, die Bruchweide (S. fragilis L.),
•die spitzblättrige Weide (S. acutifolia Wilid.), welche als Hänge-
• weide sehr zu empfehlen ist, Rüssels Weide (S. Russeliana Sm.), die
Silberweide (S. albk L.), von der vorzugsweise die Form mit silber-
weiss glänzenden Blättern zu empfehlen ist. Weniger schön ist die
, Saalweide (S. Caprea L.), doch besitzt dieselbe eine Abart mit her-
unterhängendjeo Aesten, welche als harte Trauerweide dient. Von
* den «Strauchweiden dient die Purpurweide (S. purpurea L.), hoch¬
stämmig gezogen, gleichfalls als Trauerweide. — Pappeln. Die
Silberpappel (Populus alba L.) bildet mächtige Bäume mit unter¬
halb silberfarben glänzendem Laub, die Schwarzpappel (P. nigra L.)
bildet bis 80 Fuss hohe Baumriesen, die sibirische Balsampappel
(P. suaveoleus Fisch.), die lorbeerblättrige Pappel Sibiriens (P. lauri-
folia Ledb.), die amerikanische Balsampappel (P. balsamifera L.),
die dunkelgrüne Pappel (P. tristis Fisch.), die grossblättrige ameri¬
kanische Pappel (P. candicans Ait.), die Zitterpappel (P. tremula L.),
von der eine Abart mit hängenden Zweigen als einer der besten
unserer Trauerbäume zu empfehlen ist Alle diese Pappeln bilden
schöne grosse mächtige Bäume. Die canadische Pappel (Populus
canadensis Desf.) und die kantige Pappel (P. angulata Ait.), beide äus
Amerika, erfrieren in kalten Wintern. — Rüstern oder Ulmen. Die
gemeine Ulme (Ulmus campestris L.) und derTraubenrüster (Ulm. effusa
Wilid.)erwachsen beide mit ihren zahlreichen Abarten zu hohenStäm-
men in unserm Klima. In ausnahmsweise ungünstigen Jahren leiden
sie aber durch den Frost. — Eschen. Die gemeine Esche (Fraxinus
excelslor L.). Dieselbe bildet hohe Bäume, leidet aber, trotzdem
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sie noch um St. Petersburg wild wächst, in ausnahmsweise harten
Wintern vom Frost. Die Form mit hängenden Zweigen, welche
als Traueresche bekannt ist, hält nur auf besonders geschützten
Orten aus. Die amerikanische Esche (F. americana L.) bildet etwas
weniger hohe, aber schöne breite Bäume und ist noch unempfind¬
licher als die gemeine Esche gegen unsere Winterkälte. — Apfel¬
bäume. Der pflaumenblättrige Apfelbaum (Pyrus prunifolia Willd.)
und der sibirische Beerenapfel (Pyrus baccata L.), beide aus Mittel¬
asien stammende Arten, sind, als im Frühjahr reich und vollblühend
und im Herbst mit kleinen apfelartigen oder kirschenähnlichen rothen
Früchten geschmückt, die reizendsten Zierden unserer Gärten. —
Die Eberesche (Pyrus aucuparia Gaertn.), welche noch in den Wal¬
dungen um St. Petersburg wild wächst, ist gleichfalls durch Blüthen-
schmuck und die rothen Beeren im Herbste ausgezeichnet. Beson¬
ders schön ist die Form mit hängenden Zweigen (P. aucuparia pen¬
dula). Pyrus Aria L. und die verwandten Arten bleiben bei uns.
strauchartig. — Vom Dornstrauch wachsen einige Arten baumartig,
so der sibirische Dorn (Crataegus sanguinea Pall.), der Scharlach¬
dorn Nordamerikas (Cr. coccinea L.). — Pftaumenbmirtf. Sauer¬
kirsche (Prunus Cerasus L.) nebst deren Abart mit gefüllten Blumen,
die Traubenkirsche oder Faulbaum (Pr. Padus L.),- die virginische
Traubenkirsche (Pr. virginiana L.), die spätblühende Traubenkirsche
Amerikas (Pr. serotina Ehrh.) gehören gleichfalls in die Reihe
unserer schönsten Bliithenbäume. — Akorrie. Der Bergahorn
(Acer^platanoides L.), in ganz Europa heimisch, ist einer unserer
schönsten Laubbäume und leidet nur auf freien Standorten in aus¬
nahmsweise harten Wintern, während der verwandte A. Pseudo-
platanus nicht mehr aushält. Der weisse Ahorn Nordamerikas
(Acer dasycarpum Ehrh.) bildet prächtige grosse Bäume, die auch
in den härtesten Wintern nicht leiden. Der tatarische Ahorn (Acer
tatarium L.) bildet harte halbhohe Bäume, der Zuckerahorn (A.
saccharinum L.) und rothe Ahorn (A. rubrum L.) Nordamerikas
leiden in harten Wintern. — Linden. Die Linden sind unsere
geschätztesten Bäume zur Bildung von Alleen. Die verbrei¬
tetste Art ist unsere europäische Steinlinde (Tilia parvifolia Ehrh.),
der sich die holländische Linde (T. platyphyllos Scop.) mit ihren
zahlreichen Abarten und die amerikanische grossblättrige Linde
(T. americana L.) anschliessen. — Rosskastanien. Diese gehören
bei"uns zur Reihe der schönen Blüthenbäume, welche eine Reihe
von Jahren auf geeignetem Standorte gut aushalten, oft zu grossen
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i»3
schönen Bäumen erwachsen, dann aber einem ausnahmsweise harten
Winter zum Opfer fallen, so die gemeine, aus Mittelasien stammende
Rosskastanie (Aesculus Hippocastarium L.), sowie drei aus Nord¬
amerika stammende Arten mit gelben und röthlichen Blumen.
(A. glabra Willd., A. lutea Wangh. und A. Pavia L.)
Indem wir hiermit die Reihe der in St. Petersburg noch in unsern
Gärten ausdauernden Bäume schliessen, bemerkeawir, dass wir
deren Zahl noch bedeutend hätten vermehren können, wenn wir
die vielen als Arten beschriebenen Formen von Linden, Weiden,
Lärchen etc. als Arten hätten aufführen wollen. Immerhin giebt
aber die obige Liste den Nachweis, dass auch ein Garten unterm
6o° n. Br. noch eine grosse Mannigfaltigkeit von Baumformen bergen
kann, zu denen eine vielmal grössere Zahl der mannigfachsten
Blüthensträucher hinzutreten.
Ausser deir halbharten Rosskastanien und anderen als zuweilen
ganz abfrierend genannten Bäumen, bleiben in St. Petersburg 5z Arten
harter Bäume, zu denen eine noch grössere Zahl von Formen der¬
selben treten. Dazu kommen noch ungefähr 3 50 Sorten niedriger und
hoher Strauchgewächse, so dass im Ganzeh im St. Petersburger
Klima noch 400 gute Arten von Holzgewächsen, nebst zahlreichen
Formen derselben in den Gärten angepflanzt werden können, welche
allgemeiner bekannt zu machen, eine schöne und wichtige Aufgabe
des neuen Stadtgartens ist.
E. Regel.
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Der internationale statistische Congress zu
St. Petersburg.
Den auf dem internationalen statistischen Congresse im Haag 1869
geäusserten Wünschen entsprechend, hatte Seine Majestät der Kaiser
Alexander IL alsbald seine Genehmigung dazu ertheilt, dass die
achte Session des Congresses in St. Petersburg stattfinde. Und
wenn die politischen Verhältnisse Europas auch nicht gestatteten,
dieselbe, dem herrschenden Usus gemäss, bereits zwei Jahre spater
zu eröffnen, so wurde doch unter Allerhöchster Autorisation mit dem
grössten Eifer dahin gestrebt, den Termin so kurze Zeit als nur
eben möglich hinauszuschieben. Eine Vorbereitungs-Commission
wurde gebildet, um das Programm für die bevorstehende Session
zu entwerfen, und eine Organisations-Commission, um darauf nach
dem Beispiele der früheren Sessionen alle sonst . erforderlichen
Maassregeln zu treffen.
„Um einen besonderen Beweis seiner Theilnahme für die Arbeiten
des internationalen statistischen Congresses zu geben“, ernannte
Se. Maj. der Kaiser Se. K. H. den Grossfürsten Konstantin Nikola-
jewitsch , Präsidenten des Reichsraths und der Kaiserl. russischen
geographischen und russischen archaeologischen Gesellschaften zum
Ehrenpräsidenten der achten Session und den Minister des Innern,
Generaladjutanten Timaschew zum wirklichen Präsidenten der Orga¬
nisations-Commission wie des Congresses, sowie zu Vicepräsidenten
die Herren Staatssecretär Lobanow-Rostowski , Vorsitzender des
statistischen Conseils und Gehülfe des Ministers des Innern, Gene¬
raladjutant Greigh, Vorsitzender des Manufactur-Conseils und Ge-
hülfe-des Finanzministers und Wirkl. Staatsrath P. Ssetnenow, Director
des statistischen Central-Comitös.
Der Letztere wurde auch zum Präsidenten der Vorbereitungs-
Commission ernannt, in welche die Wirkl. Staatsräthe Buschen ,
Wemadski , Weschnjakow und v. Thoemer; die Staatsräthe Wreden
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und Kubmsin , der 'Collegienrath Wilson, der Geheimrath Wesse -
lowski, ordentliches Mitglied und Secretär derKaiserl. Akademie der
Wissenschaften und der Wirkl. Staatsrath Artemjew, Mitglied
des statistischen Conseils im Ministerium des Innern als Mitglieder
berufen wurden. Diese Commission entwarf das Programm der
Fragen, welche einerseits dem aus den officiellen Delegirten der
einzelnen Länder zu bildenden Vorcongress, andererseits den fünf
Sectionen des allgemeinen Congresses vorgelegt werden sollten.
Die schliessliche Feststellung desselben vollzog die Organisations-
Commission. Dieselbe bestand aus 58 Mitgliedern und lud ausser¬
dem noch 31 andere Fachmänner zur Theilnahme an ihren Arbeiten
ein. Das Bureau bildeten, ausser den genannten Präsidenten und
Vicepräsidenten, folgende Herren: Generalmajor Forsch, Chef des
topographischen Bureaus des Generalstabs; Generalmajor Maksche-
jew, Professor der Statistik an der Akademie des Generalstabs, Beide
Vicepräsidenten der ersten Section — Präsident war Herr Ssetne-
now — ; Staatssecretäre Hagemeister, Senator, Präsident der zweiten
Section; v. Buschen, Vorsitzender der statistischen Section der
Kaiserl. geographischen Gesellschaft und Chef der statistischen
Arbeiten im Finanzministerium; Dr. Johnson , Professor der Statistik
an der Kaiserl. Universität zu St. Petersburg, Vicepräsidenten der
zweiten Section; Weschnjakow, Vicedirector des Ackerbau-Depar¬
tements, Präsident der dritten Section; Generalmajor Jossa, Präsi¬
dent des Bergwerks-Conseils; Bergwerks-Ingenieur Dr. Chodnew,
Mitglied der wissenschaftlichen Comit^s bei den Ministerien des
öffentlichen Unterrichts und der Domänen, Secretär der Kaiserl.
ökonomischen Gesellschaft, Beide Vicepräsidenten der dritten Sek¬
tion; Lamanski , erster Director der Reichsbank, Präsident der vierten
Section; General-Lieutenant Shurawski, Vicepräsident des Verwal¬
tungsraths der grossen Gesellschaft der russischen Eisenbahnen;
Ingenieur »der Wegecommunication v . Thoemer , Mitglied des statisti¬
schen Conseils und des Conseils des Finanzministers, Beide Vice¬
präsidenten der vierten Section; Senator Stojanowski, Präsident der
Gerichtskammer des Cassationshofes, Präsident der fünften Section;
Dr. Tagantzew , Professor der Rechte an der Kaiserl. Universität
zu St. Petersburg, Vicepräsident der fünften Section; Maikow,
Rajewski, Bock, Beamte im statistischen Central-Comitö, Secretäre.
Die erste Section beschäftigte sich mit den Vorlagen betreffend
die Organisation des Congresses, die Methodologie der Statistik,
die Volkszählung und die medicinische Statistik; die zweite in
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i8 6
gleicher Weise mit den Bevölkerungsregistem und der Bevölke-
rungsbewegung; die dritte mit der Statistik der Industrie und der
Bergwerke; die vierte mit der Statistik des Handels und der Post;
die fünfte mit den Vorlagen über Criminalstatistik. Genau dem
entsprechend wurden auch die Aufgaben für die fünf Sectionen des
Congresses selbst, bestimmt i
Aus dem emsigen Zusammenwirken aller Commissionsmitglieder
ging das grossartige Werk des Programms für die achte Session
des internationalen statistischen Congresses hervor, dem eine lange
Reihe von bezüglichen Abhandlungen inländischer und auswärtiger
Congressmitglieder angehängt ist Dieses Werk, in Grossquart¬
format, enthält 74 Bogen Druck und 3 Bogen graphische Darstel¬
lungen. Ausserdem wurde auf Anordnung des Ministers des Innern
unter der Dircction Ssemaiozus noch ein „allgemeiner Rechenschafts¬
bericht über die Arbeiten des internationalen statistischen Con¬
gresses während der Sessionen von Brüssel 1853, Paris 1855, Wien
1857, London 1860, Berlin 1863, Florenz 1867 und vomHaag 1869“
abgefasst Dieses Werk umfasst bei gleichem Format 34 Bogen.
Nach solchen eingehenden und gewissenhaften Vorarbeiten konnte
die Organisations-Commission, konnte Russland getrost der achten
Session des Congresses entgegensehen, welche inzwischen auf die
Zeit vom 7. (19.) bis zum 18. (30.) August 1872 festgesetzt wor¬
den war.
Aber auch in gesellschaftlicher Beziehung war die stets bewährte
russische Gastfreundschaft bereit den Gästen den Aufenthalt nach
Kräften zu einem so angenehmen wie möglich zu machen. Nicht
nur der Kaiserliche Hof, sondern auch die beiden Hauptstädte des
Reiches, Behörden und Privatgesellschaften wollten das Ihrige thun,
urti ihre Sympathien für das grosse wissenschaftliche Unternehmen
an den Tag .zu legen, das so ganz besonders geeignet ist, das Wohl
der Menschheit practisch zu fördern.
Andererseits durfte, als der Eröffnungstermin näher rückte, auf
eine ziemlich bedeutende Betheiligung wie des In- so auch des Aus¬
landes gezählt werden. Am 6. (18.) August war bereits eine grosse
Anzahl auswärtiger Congressmitgliedjer eingetroffen, die übrigen
folgten im Laufe der Woche. Die Herren, welchen von der Grenze
Waggons I. Classe zur freien Herfahrt zur Verfügung gestellt
waren, wurden auf dem Bahnhofe von Mitgliedern der Organisations-
Commission empfangen und in bestimmten Equipagen in ihre Quar¬
tiere geleitet, welche die Stadtverwaltung ihnen in den ersten Hotels
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bereitet hatte. Eine Anzahl von Wagen stand hier auch während
der ganzen Dauer des Congresses durch die Sorge der Organisations-
Commission den Gästen zur beliebigen Disposition.
Die Gcsammtzahl der Congressmitglieder belief sich schliesslich
auf 636, so dass also die achte Session die besuchteste nächst der
Florentiner ist, an der sich 751 Mitglieder, darunter 14 Russen,
betheiligten, während in Brüssel nur 153, m Paris 311, in Wien 542
Mitglieder versammelt waren, darunter, zum ersten Male, 3 Russen,
in London 586 und in Berlin 477 mit je 13, im Haag endlich 488
Mitglieder mit 10 Russen. .Die 636 Mitglieder des achten Con¬
gresses repräsentirten 32 Staaten und Länder aller Erdtheile mit
Ausnahme Australiens und 17 Sprachen, und zwar kommen auf
Russland 51 o Mitglieder.
Deutschland 23 „
Deutsches Reich I Mitglied.— 'Dx.Meitzen, Geheimrath im Kaiserl.
Statist Amt des Deutschen Reiches. *)
Prcussen 9 Mitgl. — Dr. Engel , Geheimrath, Director des Königl.
preuss. statist. Bureaus.
Hamburg 3 Mitgl. — Dr. Vcrsmann, Senator.
Mecklenburg-Schwerin 3 Mitgl.— Boccias, Obersteuerrath, Mitglied
des statist. Bureaus; Faull\ Kanzleirath; Koehler> General
Königreich Sachsen 3 Mitgl.
Sachsen-Weimar 1 Mitgl.
Sachsen-Coburg-Gotha 1 Mitgl.
Baierni Mitgl.—Dr. Mayr, Prof., Chef des Königl. statist. Bureaus.
Würtemberg 1 Mitgl.
Dessau 1 Mitgl. — Dr. Engel.
Grossbritannien 17 Mitgl. — Farr, Chef des statist. Departements
für das Generalregister der«Geburten, Ehen und Todesfälle in
England, Präsident der slatist. Gesellschaft zu London; Ham -
mick , Secretär des Bureaus für das Generalregister, Mitglied
der engl. Volkszählungs-Commission und Schatzmeister der
statist. Gesellschaft zu London; Reader-Lack , Chef des statist.
Bureaus im Handelsministerium.
Oesterreich 15 Mitgl. — Dr. A. Ficker , Hofrath, Rath im Ministerium
des öfifentl. Unterrichts; Weikard, Oberstlieutenant im öster¬
reichischen Generalstab.
*) Die hier namentlich aufgeführten Mitglieder sind die offtcidlcn Ddegirten der
resp. Staaten.
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Amerika (Vereinigte Staaten) io Mitgl. — Barnes, ehern. Depar-
temets-Chef im Staate New-York; Snow, Chef des Registers
' der Geburten, Ehen und Todesfälle, Oberintendant der Volks¬
zählung im Staate ,Rhode-Island; Young, Chef des .Statist.
Bureaus im Finanzministerium. *
Italien io Mitgl. — Bodio , Professor; Dr. Castiglioni, Professor;
Correnii, Parlamentsmitglied.
Japan 9 Mitgl.
Ungarn 7 Mitgl. — Hunfalvy, Prof, an der Universität Pest; Keleti,
Chef des Statist. Bureaus.
Belgien 6 Mitgl. — Quetelet , Präsident d. Statist. Central-Commission,
Director des Königl. Observatoriums; Sauveur , Secretär der
statist. Central-Comm., Director im Ministerium d. Innern, Chef
des Cabinets des Ministers.
Frankreich 5 Mitgl. — Block , Mitglied d. staats-ökonom'. Gesell¬
schaft; Caignon, Chef d. Handelsarchive im Finanzministerium;
Levasseur , Mitgl. d. Instituts., Prof, im College de France;
Worms , Prof, in d. Rechtsfacultät; Yvemes, Chef des statist.
Bureaus im Ministerium der Justiz und der Culte.
Niederlande 4 Mitgl. — Dr. v . Baumhauer, Chef der allg. statist.
Abtheilung im Ministerium d. Innern; Dr. Vissering, Prof. d.
- Staats-Oeconomie u. d. Statistik an d. Universität Leyden.
Rumänien 3 Mitgl. — Lahovari, Abgeordneter in der gesetzgeb.
Versammlung: Pencovitz, Chef d. statist. Centralamts, Mitglied
und Secretär d. statist. Central-Comites.
Schweden 3 Mitgl. — Dr. Berg , Chef d. statist. Central-Bureaus;
Dr. Printzsköld, Revisions-Assistent im statist. Central-Bureau;
Schweiz 3 Mitgl. — Bodenheimer, Staatsrath d. Canton Bern, Präs,
d. schweizerischen statist. Gesellschaft; ‘Max Wirth, Director
d. statist. Bundes-Bureaus der Schweiz; Dr. Muralt, Prof, zu
Lausanne.
Spanien 3 Mitgl. — Pascual de Villamar, Präs. d. Forst-Conseils,
Mitglied d. statist. Conseils d. spanischen Akademie.
Aegypten 2 Mitgl. — de Regny, Chef d. statist. Cehtral-Bureaus in *
Aegypten; Ismail Bey, Director d. Observatoriums in Cairo.
Brasilien I Mitgl. — v. Vamhagen, brasil. Gesandter in Wien, Depu-
tirter d. brasil. Gouvernements.
Dänemark 1 Mitgl. — Scharling, Prof. d. Statistik an d. Universität
Kopenhagen,
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Griechenland 1 Mitgl. — Mansolas , Director d. Statist. Bureaus in
Griechenland.
Norwegen 1 Mitgl. — Kiaer , Chef d. Statist. Bureaus in Norwegen.
Portugal 1 Mitgl. — Vicomte de Figa?iilre, äusserordentl. Gesandter
und bevollm. Minister in St. Petersburg.
Serbien 1 Mitgl; — Jakschitch , Chef d. Statist. Abtheil, im Mini¬
sterium d. Finanzen.
Costa-Rica 1 Mitgl. — Dr. Engel .
Der aus diesen officiellen Delegirten und den. zum Bureau der
Organisationscommission gehörigen Herren bestehende Vorcongress
wurde Montag den 7. (19.) August um I Uhr im Ministerium des
Innern von Herrn Ssemenow mit einer Anrede eröffnet, in welcher
derselbe zunächst die Gäste im Namen der Russischen Regierung
‘ bewillkommnete,ihnen für ihr Erscheinen dankte und die freudigste,
in der uralten Sitte der Russen begründete Gastfreundschaft ver-
hiess. Das für die Sitzungen des Vorcongresses von der Organi¬
sationscommission Vorgelegte Programm bestand aus folgenden
Punkten: 1) Feststellung der während der*Session des Congresses
zu beobachtenden Ordnung; 2) Prüfung des Berichts über den Aus¬
führungsmodus der vom Congress unternommenen international¬
statistischen Arbeit und überhaupt der wichtigsten auf diese Publi-
cation bezüglichen Fragen; 3) Vorgängige Prüfung des Berichts über
die.Organisation des Congresses; 4) Prüfung der verschiedenen Vor¬
schläge der Herren Mitglieder des Vorcongresses, welche sich auf
die Arbeiten der achten Session beziehen.
Bei der Bildung des Bureaus für den Vorcongress wurden auf den .
Vorschlag des Herrn Ssemenow Herr Quetelet zum Ehrenpräsi¬
denten, die Herrn Engel und Farr zu thatsächlichen Präsidenten
resp. Vicepräsidenten erwählt; auf Antrag der Gewählten wurde je¬
doch Herr Ssemenow in die Zahl der Präsidenten aufgenommen und
ihm der wirkliche Vorsitz übertragen. Das Secretariat wurde aus
den Herren Block, Dr. Mayr , Hammick und ' Wilson zusammen¬
gesetzt.
Aus den Berathungen über das vorgeschlägene Reglement für
die 8. Session ist der auf Antrag des Herrn Engel gefasste Beschluss
hervörzuheben, dass nicht dife französische und die russische Sprache,
wie Artikel 5 proponirte, die einzigen seien, deren die Mitglieder des
. Congresses sich zu bedienen das Recht hätten, sondern dass die
Redner die deutsche, die englische oder jede andere Sprache ge¬
brauchen könnten. Thatsächlich ist nachher in den geschäftlichen
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Verhandlungen fast immer die französische Sprache aiigewendet,
bei der Berichterstattung in den Plenarversammlungen für die rus¬
sischen Mitglieder jedoch der Bericht mehrfach ausserdem noch in
russischer Sprache wiederholt worden. Im Uebrigen wurde die für
die Session seitens der Organisationscommission vorgeschlagene Ge¬
schäftsordnung angenommen, nur dass auf Antrag des Herrn Engel
die Frage vom Namenregister der Gewerbe in den Volkszählungs¬
listen aus der i. in die 3. Section verwiesen wurde.
Ausser an diesem Tage hielt der Vorcongress resp. die Ver¬
sammlung der officiellen Delegirten noch am 8. (20.), 9, (21.), 11.
(23.) und 12. (24.) Sitzung. Unter den Vorlagen, welche der allge¬
meinen Versammlung zu machen beschlossen wurde, ragen dieje¬
nigen hervor, nach denen einerseits die Collectivarbeiten der statis-
'tischen Bureaus zum Zwecke einer internationalen Statistik fortzu¬
führen seien, und andererseits die Einsetzung einer permanenten Com¬
mission als nothwendig bezeichnet wurde.
Inzwischen fand am 10. (22.) die feierliche Eröffnungssitzung des
Congresses unter dem Vorsitze Sr. K. H. des Grossfürsten Ko?i -
stantin Nikolajeivitsch in dem Saale der Adelsversammlung statt.
Dieser prächtige, monumentale Raum war auf das Angemessenste
eingerichtet und auf die geschmackvollste Weise ausge'schmückt.
Am Architrav waren zwischen den korinthischen Säulenkapitälen
die Namensschilder und Nationalfahnen aller Länder, von den rus¬
sischen .Fahnen eingcrahmt, in alphabetischer Reihenfolge ange¬
bracht. Die hintere Breitseite des Saales, die Wand hinter dem Prä¬
sidententisch, war ebenfalls mit einer internationalen Fahnen-Deco-
ration geziert, auf deren bannerartigem rothem Mittelgrund die
Worte standen: „Congres international destatistique. VTIIe session,“
während über den Portalen rechts und links davon die acht Sessionen
einzeln chronologisch auf grossen Schildern verzeichnet waren.
Die Kaiserliche Loge prangte in reichem Pflanzenschmuck. Der
Fond des Saales war von den Congrcssmitgliedern, welche in Gala
erschienen waren, in buntem Gemisch erfüllt. Die Galerien hatte
ein zahlreiches auserlesenes Herren- * und Damenpublicum ein¬
genommen.
Um 11 Uhr'erschien Se. K. H. der Grossfürst, gefolgt von
den Mitgliedern des Bureaus der Organisationscommission und
nahm, unter gegenseitiger Begrüssung, auf dem Präsidentensessel
Platz, um die Eröffnungsrede zu verlesen, welcher langanhaltender,
einmüthiger Beifall folgte.
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Mit einem Hinweis auf die verschiedenartigen Grenzbestimmungen
und Definitionen der Statistik, die zwar noch neuen Ursprungs, sich
aber doch bereits das Bürgerrecht unter den selbstständigen Gruppen
des menschlichen Wissens erworben habe, und auf die auseinan¬
dergehenden Ansichten über dieselbe beginnend, fuhr Se. K. H. fort:
„Es fällt nicht mir zu, meine Herren, diese verschiedenen An¬
sichten vor Ihnen zu discutiren und Ihnen die meinige als eine
Lösung zu geben; es sei mir aber gestattet, Ihre Aufmerksamkeit
auf unbestreitbare Thatsachen zu lenken. Die Beobachtungen,
welche sich auf den Zustand und die Bewegung der Bevölkerung
beziehen; die Gesetze, unter denen Geburten, Todesfälle und das
durchschnittliche Lebensalter stehen, vom Gesichtspunkte des Ein-'
flusses, den sie auf die verschiedenen Bedingungen des politischen
Lebens ausüben, betrachtet; die Ebbe und Fluth im öconomischen
Wohlergehen, von demselben Gesichtspunkte angesehen; das Stu¬
dium der moralischen Phänomene, die sich inmitten der menschlichen
Gesellschaft kundgeben — alle diese Fragen und noch viele andere,
bilden sie nicht eine Sphäre der Forschung und des speciellen Stu¬
diums, die vollständig unabhängig von der Domäne des Physio¬
logen, des Oeconomisten, des Psychologen und des Historikers ist?^
Wenn die Statistik noch nicht die Entdeckung eines grossen uni¬
versellen Gesetzes gemacht hat, wie z. B. die Astronomie oder die
Physik, so darf man ihr daraus einen Vorwurf nicht machen; mehr
als eine Wissenschaft würde ihn mit ihr theilen. Ihre Untersuchungen
sind noch zu neu, die Mittel der Forschung, über welche sie gebietet,
sind weit entfernt, die ganze erwünschte Vollkommenheit zu bieten;
das Feld ihrer Studien endlich hat nur sehr eng gezogene Grenzen
und dehnt sich nur auf einen wenig beträchtlichen Theil der be¬
wohnten Welt aus. Vielleicht wird die Statistik in der Zukunft ihre
Untersuchungen auf neue Phänomene des politischen und socialen
Lebens ausdehnen, die bis jetzt noch von der wissenschaftlichen
Prüfung unberührt geblieben sind; vielleicht — und man darf kaum
daran zweifeln — wird die Statistik durch die Fülle der in andern
Sphären des Wissens gesammelten Thatsachen und Gesetze belebt
werden, und, Dank diesen Beziehungen, wird sie sich in eine Wissen¬
schaft verwandeln, deren Grenzen und Tragweite vorherzusehen
heute noch unmöglich ist; doch darüber wird die Zukunft ent¬
scheiden; für jetzt hat die Statistik noch ein weites Gebiet urbar
zu machen.
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„Sei die Statistik aber eine Wissenschaft, eine Kunst, oder nur
eine Methode, unbestreitbar ist es, dass sie zumWohle der Menschheit
besteht. Welches ist ihr Ziel?* Worauf sind die Anstrengungen Der¬
jenigen, die ihr ihre Kräfte gewidmet haben, gfrichtet? Herauszu¬
finden, unter welchen Gesetzen und Institutionen, unter welchen phy¬
sischen und ökonomischen Bedingungen das Wohl der Menschheit
das vollständigste ist, die Quelle des Uebels zu ermitteln, welches
die Menschheit in ihrem Fortschritt aufhält. Die Lehre des Weisen
aus dem Alterthume: „Erkenne Dich selbst“ wird jetzt an die
ganze Gesellschaft gerichtet. Aber noch mehr. Da der Mensch seine
vollständige Entwickelung nur in einer organisirten Gesellschaft ge*
winnen kann, zeigt sich die Statistik als der unerlässliche Bundes¬
genosse jedes Organs des politischen und socialen Lebens. Ich
spreche nicht aus theoretischer Ueberzeugung, meine Herren, son¬
dern aus meiner persönlichen, durchaus practischen Erfahrung,
welche ich als Präsident des Reichsrathes gemacht habe. Meine
Eigenschaft als Seemann bietet mir hier einen Vergleich: den zwi¬
schen den Unterweisungen, welche uns die Statistik giebt, und den
Leuchtthürmen. Wie könnte der Steuermann die Untiefen, die Klippen,
den Schiffbruch vermeiden, ohne diese rettenden Feuer, welche
Vom Ufer aus ihren schützenden Schein ihm zuwerfen? Freilich haben
diese Leuchtthürme der Wissenschaft lange Zeit der Menschheit nur
schwankend und unsicher geleuchtet. Indess hier, wie überall sonst,
offenbart sich ein bestimmter Fortschritt: in diesem Augenblicke
haben alle Regierungen den Werth der Statistik erkannt und scheuen
nicht mehr die Mittel, die statistischen Einrichtungen zu verbessern,
die Sphäre der Untersuchungen dieser Wissenschaft zu erweitern.“...
„Die russische Regierung, die Ehre vollwürdigend, welche ihr durch
den Empfang so vieler berühmter Repräsentanten der statistischen
Wissenschaft und Praxis aus allen civilisirten Ländern der Welt zu
Theil wird, betrachtet die gegenwärtige Session als ein Unterpfand
für den zukünftigen Fortschritt der statistischen Wissenschaft in un-
serm Lande. Der mündliche Austausch der durch die Erfahrung ge¬
sammelten Gedanken und Beobachtungen, das Band, welches
die statistischen Institutionen des Auslandes mit denen Russlands
sicher vereinen wird, die moralische Verpflichtung, die Beschlüsse
des Congresses in Ausführung zu bringen — alles Dies kann in un¬
serem Lande nur der Sache der Statistik dienen und zu ihrer Ent¬
wickelung beitragen.“...
„Erlauben Sie mir, meine Herren, die Hoffnung auszusprechen,
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dass der Fortschritt der Statistik in Russland zugleich der der statis¬
tischen’ Wissenschaft im Allgemeinen sein wird. Die geographische
Lage Russlands, die grosse Ausdehnung seines Gebietes, die Zahl
seiner Bevölkerung geben den statistischen Untersuchungen in un¬
serem Lande ein besonderes Interesse. Die Bedingungen des poli¬
tischen und socialen Lebens in Russland bieten im Vergleich mit
denen, die in anderen Ländern obwalten, mehr als eine Besonderheit
dar. Diese Verschiedenheiten rühren theils von den geographischen
Verhältnissen Russlands, theils von der kurzen Dauer seines politi¬
schen Lebens, theils endlich von den Eigenthümlichkeiten des Na-
tionalcharacters her.
Einerseits gewähren die durch die Statistik erforschten Phäno¬
mene in * keinem andern Lande Europas eine weniger complicirte
Form als in Russland. Ein ausgedehnter Theil des Reiches ist von
einer und derselben Race bevölkert, die sich zu derselben Religion
bekennt; ganze Territorien, beinahe ganz der Städte entbehrend,
werden von einer Landbevölkerung bewohnt, die in ihren Sitten und
Beschäftigungen ganz gleichförmig ist; Regionen mit einer und der¬
selben Industrie, einer und derselben Arbeit, erstrecken sich über
eine Menge Breiten- und Längengraden.^Dieselben characteristi¬
schen Merkmale können von den Wäldern des Nordens bis zu den
Steppen des Südens getroffen werden. Es ist klar, dass statistische
Nachweise, die unter diesen Bedingungen und in einem so grossen
Maassstabe gewonnen werden, leicht zu analysiren sind, und dass es
nicht schwer fällt, die beständigen und wechselnden Ursachen,
welche den erforschten Thatsachen zu Grunde liegen, zu entdecken.
Andererseits entbehren, die Erscheinungen des politischen und so¬
cialen Lebens in Russland keineswegs einer gewissen Mannigfal¬
tigkeit, die oft sogar sehr bedeutend wird. Da es innerhalb seiner
Grenzen alle Kliniatc, alle Bodenformen in sich birgt, Ebenen'und
Gebirge, Wälder und Steppen , eine Menge von Stämmen verschie¬
dener Racen, Glaubensbekenntnisse und Bildungsstufen, bietet Russ¬
land ein Forschungsfeld voll Interesse für den Demographen sowohl,
wie für den Statistiker und Nationalökonomen. Der Erstere wird
ein tiefes Interesse beim Studium des Einflusses finden, welchen die
physischen Bedingungen der Racen auf die Gesetze der Bewegung*
und der Zunahme der Bevölkerung, und die verschiedenen Grade
der geistigen Entwickelung auf die Kundgebungen der moralischen
Natur der Menschen ausüben. Ein nicht minder grosses Interesse
wird dem an der Hand der Statistik forschenden Nationalöconomen
*3
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durch die Ungleichheit des Verhältnisses der Bevölkerung zum
Boden, zwischen einer Bevölkerungsdichtigkeit, wie sie nur in ei¬
nigen Centraltheilen Europas gefunden wird, und dem äussersten
Minimum schwankend, und durch die verschiedenen Arten mensch¬
licher Thätigkeit, .von der Viehzucht der Nomaden im Südosten
und der Vogelstellerei und Jagd im höchsten Norden bis zur
höchsten Kundgebung intellectueller und technischer Thätigkeit ge¬
boten werden.
Die Regelmässigkeit, die systematische Ordnung und die Gleich¬
förmigkeit der statistischen Beobachtungen, die im ganzen Umfange
Russlands und bei einer Volksmasse von 80 Millionen gesammelt
werden, werden der Wissenschaft ohne Zweifel reiche und kostbare
Materialien liefern und dazu beitragen, die Schlussfolgerungen der
Statistik aufzuhellen und mehr als eine bestrittene und zweifelhafte
Thatsache klar zu stellen.
Indem ich mich diesen Betrachtungen hingebe, und fest überzeugt
bin, dass Ihre Arbeiten zum Wohle der Wissenschaft und meines
Vaterlandes beitragen müssen,* habe ich die Ehre, meine Herren,
Sie im Namen der Regierung Meines erhabenen Bruders will¬
kommen zu heissen und die Session des Congresses für eröffnet
zu erklären.“
Nachdem darauf das russischerseits gebildete provisorische Bu¬
reau einstimmig definitiv anerkannt worden, wurden der herrschenden
Sitte gemäss aus der Zahl der officiellen Delegirten der hauptsäch¬
lichsten Länder noch folgende Herren zu Ehren-Vicepräsidenten ge¬
wählt: de Regny (Aegypten), Young (Amerika), Mayr (Baiem),
Quetelet (Belgien), von Vamhagen (Brasilien), Scharling (Däne¬
mark), Meitzen (Deutschland), Levasseur (Frankreich), Farr (Gross-
Britannien), Mansolas (Griechenland), Versmann (Hamburg), Correnti
+ (Italien) Baumhauer und Vissering (Niederlande), Kiaer (Norwegen),
A. Ficker (Oesterreich), Vicomte de Fiqanüre (Portugal), Engel
(Preussen), Lahovari (Rumänien), 'Jakschitch (Serbien), Pascual
de Villamar (Spanien), Berg (Schweden), Max Wirth (Schweiz),
Keleti (Ungarn). Jeder einzelne dieser Namen wurde von dem üblich
gewordenen Beifallklatschen der Versammlung begleitet, insonder¬
heit der des würdigen Nestors der Statistik, des Herrn Quetelet, der
trotz seiner 77 Jahre die weite Reise nach St. Petersburg nicht ge¬
scheut hat, und die der Herren Engel, Farr und Max Wirth.
Nachdem die Herren Farr, Levasseur und Engel, jeder in seiner
Muttersprache, Sr. K. H. dem Grossfürsten Konstantin im Namen
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der Versammlung ihren Dank für die Uebemahme des Ehrenpräsi¬
diums und ihre dadurch begründeten Erwartungen von der weit¬
gehenden Bedeutung dieser Session ausgesprochen hatten, schritt
man zu der Erfüllung einer andern schönen Sitte des Congresses,
nämlich der inzwischen verstorbenen Fachgenossen gemeinsam zu
gedenken. Die Namen, denen diese collegialische Erinnerung ge¬
widmet wurde, sind Maestri aus Italien, Troinitzki aus Russland,
Springer , Friedrich Stein und Valentin Strefleur aus Oesterreich,
Sudemann aus Dänemark, Babbage aus England, Jules Licval und
Schnitzler aus Frankreich und Ashenwald aus Deutschland.
Nachdem Schluss der Sitzung um 12 V* Uhr hatten die auswär¬
tigen Congressmitglieder die Ehre, Sr. K. H. dem Grossfürsten per¬
sönlich vorgestellt zu werden. Unmittelbar darauf constituirten sich
die einzelnen Sectionen in ihren Sitzungsräumen im Ministerium des
Innern und bildeten ihre Bureaus, indem die provisorischen Präsi¬
denten und Vicepräsidenten bestätigt und ausseräem noch zu Ehren¬
präsidenten resp. Vicepräsidenten gewählt wurden in der i. Section
die Herren Quetelet, Ficker und Kiaer , in der 2. die Herren Levassenr ,
Berg, Baumhauer, in der 3. die Herren Engel, Max Wirth , Ficker,
Keleti, in der 4. die Herren Vissering y Block, Meitzen, Versma?in }
Barnes und Hendricks (England), in der 5. Baumhauer , Yvembs
und Mayr .
Nachmittags versammelten sich die Congressmitglieder, zum Theil
mit ihren Familien, — denn mehrere der auswärtigen- Herren hatten
auch ihre Damen nach der nordischen Metropole mitgebracht —
am Newa-Quai vor dem Marmorpalais zur ersten gemeinsamen
Excursion. Es war die Einladung Ihrer Kaiserlichen Hoheit der
die Kunst und Wissenschaft in so hervorragender Weise fördernden
Grossfürstin Helene Pawlowna , welche sie Alle vereinte. Schon am
Abend vorher hatte eine allgemeine Reunion im Michaelpalais statt¬
gefunden, dessen Gärten und Salons I. K. Hoheit allen Mitgliedern
des Congresses und ihren Damen für vier Abende gastfrei zu
öffnen die Liebenswürdigkeit hatte, nämlich für den 9. (21.),
11. (23.), 12. (24.) und 16. (28.) August. Heute führte die Ein¬
ladung I. K. Hoheit nach ihrem Sommerpalais auf Kamenny-Ostrow.
Vorher landeten die drei kaiserlichen Dampfer noch bei der Apo¬
theker-Insel, um dem botanischen Garten einen Besuch abzustatten.
Von dem Oberbotaniker desselben, Herrn Dr. Regel, geleitet, nahm
man mit allgemeinem Interesse von der Grossartigkeit und Mannig¬
faltigkeit dieses* berühmten Institutes Kenntriiss. Darauf folgte
* * 3 #
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bis zum Eintreten der Dunkelheit eine längere Fahrt auf dem aus- c
gedehnten Netz der Mündungsarme des herrlichen Newa-Stromes.
Als man dann vor dem Palais anlangte, prangte der Garten des¬
selben in prächtiger Beleuchtung; Festmusik empfing die Gäste.
Nachdem an den in deft Sälen aufgestellten Buffets dem Magen sein
Recht gegönnt war, wogte die Menge in den Gartenanlagen noch
lange bei prächtiger Möndscheinnächt zwangslos gemüthlich umher,
um schliesslich unter den angenehmsten Eindrücken die Rückfahrt
nach der Stadt anzutreten.
In gleicher Weise wechselten während der weiteren Dauer der
Session Arbeit und Erholung ab. Am Tage fanden die Sitzungen
statt, — bis zum 15. (27.) nur in den Sectioncn, dann am 16. (28.),
17. (29,) und 18. (30.) ausserdem noch im Plenum und in der
Delegirten-Versammlung —; Nachmittags und Abends war man
gemüthlich vereinigt. Nur der Sonntag 13. (25.) und der Dienstag
15. (27.) als russischer Feiertag waren officielle Ruhetage* und ganz
zur Erholung bestimmt. Und diese Verpflichtung zur Unterbrechung
der Arbeit war sehr heilsam, denn dieselbe ist im Uebrigen mit dem
angestrengtesten Eifer betrieben worden, um die Aufgabe der Session
zu erfüllen. Hielten doch selbst an den Reunions-Abenden am
Michaelpalais einzelne Commissionen in abgelegenen Salons ihre
Berathungen, und so manche Stunde der Nacht hat dem Tagewerk
zu Hülfe kommen müssen.
Für den Sonntag erwies Se. Majestät der Kaiser den Mitgliedern
des Congresses die Ehre, sie mit ihren Familien zum Diner im
Kaiserlichen Schlösse von Zarskoje-Sselo einzuladen. Um I V2 Uhr
Mittags fand die Abfahrt per Extrazug statt. Auf dem Bahnhofe in-
Zarskoje-Sselo bestieg man . die bereit stehenden Kaiserlichen
Equipagen, welche die 300 Personen zählende Gesellschaft in un¬
absehbaren Schlangenlinien durch den weit ausgedehnten Ort in
den Park führte, wo zunächst das Arsenal besichtigt würde. Die
Reichhaltigkeit dieser historisch-wcrthvollen Sammlung, ihre syste¬
matische Ordnung und geschmackvolle architektonische Einrichtung
fanden die allgemeine Bewunderung, welche ihr in äcr That auch
der Fachmann nicht versagen kann. Ein zweites Mal wur.de dann
Half gemacht, um in den Räumen der künstlichen Ruine de/i Dann-
eckerschen Christus in Augenschein zu nehmen. Nach einer längeren
Fahrt durch die schönen Anlagen des # riesigen Parks traf man
gegen 4*2 Uhr bei dem Schlosse ein. . Bald darauf nahm das
Diner seinen Anfang, dem in Vertretung Sr. Maj. des Kaisers, der
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sich im Kreise seiner hohen Familie in der Krim befand, Sc. K. H.
der Grossfiirst Konstantin Nikolajeuitsch präsidirte. Die ausgewähltc
Versammlung, in d*em glanzvollen Raume des grossen Saales an
drei langen Tafeln sitzend, gewährte einen prächtigen Anblick. Der
erste Toast, von Sr. K. Hoheit ausgebracht,. galt Sr. Majestät dem
Kaiser Alexander II. Nachdem die Kapelle die Nationalhymne
gespielt hatte, erhob sich Se. K. Hoheit abermals, um ein Hoch den
Souveränen und Chefs aller auf dem Congrcss vertretenen Länder
zu widmen. Darauf erhob Herr Farr sein Glas auf das Wohl Sr. K.
Hoheit des Ehrenpräsidenten des Congresses, und zum Schluss er¬
widerte Se. K. Hoheit mit einem Hoch auf diesen selbst. Nach Auf¬
hebung der Tafel verweilte der Grossfürst noch längere Zeit im
liebenswürdigen Gespräch mit einzelnen Mitgliedern, während die
Andern in der langen Reihe der Säle oder im Schlossgarten auf
und ab wogten. Für die Damen war in einem besonderen Saale
servirt worden. Um 6 l /2 Uhr brachten die Wagen die Gesellschaft
nach-Pawlowsk, wo in den kunstgeschmückten Sälen des Palais der
Thee eingenommen wurde. Nach einem schliesslichen Besuch des
festlich illuminirten Vauxhalls, wo sich bei der Musik heute ein
noch zahlreicheres Publikum als gewöhnlich eingefunden hatte, fuhr
man um 8 3 /i Uhr wiederum mit einem Separatzuge in heiterer
zufriedenster Stimmung heim.
Ein gleich schöner Tag war der Dienstag, den das Programm
zu einer Excursion nach Kronstadt und Peterhof bestimmt hatte.
Um IO Uhr Vormittags steuerte man mit den beiden Kaiserlichen *
Dampfern „Newa“ und „ünega“ stromabwärts. Bei Kronstadt ange¬
langt, kam ein anderer Dampfer und eine Bootflotille. unter Salut
entgegen und brachte die Gäste an das Land. Hier wurden ihnen
die Werfte und Docks gezeigt. Grosses Interesse erregte nament¬
lich die darauf folgende Umschiftung der imposanten Forts, welche
den Eingang in die Newa schützen. Von hier aus wurde Curs
nach Peterliof genommen, wo die Kaiserlichen Equipagen bereit
standen, um die Gesellschaft in die Palais und in den Park zu den
Wasserkünsten zu geleiten, deren Fähigkeit, mit den Versaillern an
Mannigfaltigkeit zu rivalisircn, anerkannt ward. Um 8 Uhr Abends
war man in St. Petersburg zurück. Frühstück und Mittagsmahl
^ waren auf den Dampfern servirt worden.
Diejenigen Mitglieder, welche diese Tour nicht mitmachten,
folgten der Einladung,, der feierlichen Ceremonie beizuwohnen, unter
der in Gegenwart Sr, K. H. des Grossfürsten Konstantin um i Uhr
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der neue Monitor „Peter der Grosse“ vom Stapel gelassen wurde,
ein zweithürmiges Fahrzeug mit Brustwehren, mit vier elfzölligen
gezogenen Geschützen armirt.
Montag den 14. (26.) Abends hatte der Yacht-Club dem Con-
gresse ein anziehendes Fest bereitet. Als sich mit Sonnenunter¬
gang der Dampfer „Newa“, auf dem sich die Gäste mit ihren
Damen befanden, dem im reichsten Flaggenschmuck prangenden
Etablissement des Clubs näherte, kamen ihnen die Mitglieder des¬
selben in ihren mannigfaltigen Fahrzeugen entgegengerudert, um
sie, nach seemännischer Begrüssung, zur Landungsbrücke zu gelei¬
ten, wo sie seitens der zahlreich versammelten Damen und Herren
mit Tücherschwenken und Hurrahrufen bewillkommt wurden. Nach
Besichtigung der reich ausgestatteten Docks des Clubs fesselte das
interessante Schauspiel einer dreifachen Ruderwettfahrt bis zum Ein¬
tritt der Dunkelheit. Das Einziehen der Flaggen unter den Klängen
des Zapfenstreichs und Abendgebetes signalisirte das Ende des
Tagewerks. Während man in den innern Räumlichkeiten den Thee
einnahm, entfaltete sich an den Gebäuden, im Garten und auf den
Schiffen eine glänzende Illumination. Froher Tanz in den Sälen,
gemüthlicher Verkehr im Freien hielt die heitere Gesellschaft bis
spät in die Nacht zusammen, bis ein prächtiges Feuerwerk in später
Stunde den Beschluss des hübschen, gastlichen Festes machte.
Während die Mitglieder des Bureaus, die Präsidenten und Vice-
Präsidenten am Mittwoch den 16. (28.) von Sr. K. H. dem Gross-
fursten Konstantin im Marmorpalais zur Tafel gezogen waren, wurden
die Anderen von der Gesellschaft der Newsky-Eisengiesserei festlich
aufgenommen. Die mit drei Kaiserlichen Schraubendampfern ein¬
treffenden Gäste wurden vor der Fabrik von dem Directorium
empfangen und sodann durch die zahlreichen Räume'derselben ge¬
führt, in denen die emsige Arbeit in ihren verschiedenartigen, gross¬
artigen Erscheinungen nicht verfehlte, die Aufmerksamkeit Aller
auf sich zu ziehen. Nach dem offerirte die Gesellschaft ein ungemein
luxuriöses Diner in einer besonderen Festhalle, bei welchem der
Harmonie zwischen Wissenschaft und Industrie manch guter Toast
gewidmet und der Dank der Gäste der reichen Gastfreundschaft
St. Petersburgs gegenüber in aufrichtigen Worten und in allen
Sprachen, selbst in der eigenthümlichen japanesischen Sangweise,
ausgesprochen wurde. Am Abend war die letzte Reunion mit musi¬
kalischen Vorträgen im Michael-Palais. -
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Donnerstag den 17. {29.) gaben die russischen Congressmitglieder
den auswärtigen ein ’solonnes Mittagsmahl im Saale der Adelsver-
sammlung. In herzlichen Reden wurde bei dieser Gelegenheit der
Freude über die gegenseitige Annäherung-und den Freündschafts-
bund Ausdruck gegeben, welche auf dem gemeinsamen Gebiete der
Wissenschaft durch die Arbeiten der achten Session des Congresses
und in gesellschaftlicher Beziehung durch die liebenswürdigste
gastlichste Aufnahme, die Russland dem Auslande geboten, ge¬
schaffen seien. v
In der sonst noch bleibenden freien Zeit verfehlten die Sehens¬
würdigkeiten der Residenz nicht, ihre Anziehungskraft auszuüben:
die Kirchen, Paläste und öffentlichen Institute, wie die Eremitage,
die Kaiserliche Bibliothek, das Museum der Akademie der Künste,
das anatomische, zoologische und mineralogische Museum der
Akademie der Wissenschaften, das der Berg-Akademie, das land-
wirthscKaftliche Museum des Ministeriums der Reichsdomänen, das
Irrenhaus u. a. Die betreffenden Behörden hatten den Zutritt, der
dem allgemeinen Publikum um diese Zeit zum Theil nicht freizu¬
stehen pflegt, auf das Entgegenkommendste geöffnet. Der Ober-
* polizeimeister General Trepow veranstaltete auch lauf dem Mars¬
felde ein Manöver der Feuerwehr —einer seiner vielen Schöpfungen,
durch die er sich um das Wohl der Hauptstadt so sehr verdient ge¬
macht hat.
In den drei allgemeinen Sitzungen am 16: (28.), 17. (29.) und
18. (30.) statteten die Delegirten-Versammlung, die Sectionen und
Commissionen ihre Berichte ab. Die einzelnen Anträge wurden
fast alle, hier und da mit einigen Modificationen, angenommen.
Neben dem Beschlüsse, die Collectivarbeit der statistischen Bureaus
behufs,einer internationalen Statistik fortzuführen, ist die Einsetzung
einer .permanenten Commission von ganz besonderer Wichtigkeit.
Diese Commission wird aus den Mitgliedern gebildet, welche«mit der
Vorarbeit für den Plan einer internationalen Statistik betraut sind.
Die Länder, welche bei der Vertheilung der Arbeit für die inter¬
nationale Statistik nicht vertreten sind, haben das Recht, ihre Dele¬
girten für die permanente Commission zu ernennen. Präsident der
Commission ist, von einem Congress bis zum andern, der Organisator
der letzten Session; der Präsident ernennt seinen Secretär.. Die
permanente Commission vereinigt sich wenigstens ein Mal zwischen
zwei allgemeinen Sessionen des Congresses. % Sie hat die Aufgabe:
a) Nachrichten über die Ausführung der Beschlüsse und derWünsche
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des Congresses in den verschiedenen Ländern und über die Schwie¬
rigkeiten zu erbitten, welche die Verwirklichung dieser Beschlüsse
und dieser Wünsche bietet — zu prüfen, ob diese Schwierigkeiten
nicht eine Revision der angenommenen Beschlüsse begründen;
b) die Gleichartigkeit der statistischen Veröffentlichungen in den
verschiedenen Ländern zu betreiben, soweit es für die Gestaltung
der internationalen Statistik nöthig ist; c) die Aufmerksamkeit der
Organisations-Commission auf die Fragen zu leriken, welche in der
folgenden Session zu besprechen sind, und an dem Programm dieser
Session mitzuarbeiten; d) internationale.Untersuchungen auszuführen,
um der Organisations-Commission der nächsten allgemeinen Session
Berichte über den allseitigen Stand der Zweige der Statistik vorzu^
legen, auf welche sich die vorgeschlagencn Fragen beziehen; jeder
Berichterstattung an die allgemeine Versammlung des Congresses
über irgend eine Frage muss künftig eine internationale Unter¬
suchung vorhergehen; e) die internationalen Coliectivarbeiten in der
Art derjenigen auszuführen, welche auf dem Congresse im Haag
unternommen worden ist, und die Fragen zu entscheiden, welche
sich auf die Ausführung dieser Arbeiten beziehen, sowie die Pro¬
gramme derselben festzustellen; /) die Redaction der Congressbe- #
Schlüsse zu revidiren.
„Diese Commission“, sagte Herr Levasseur in der Schluss¬
sitzung unter lauter Zustimmung, „wird in Zukunft den Arbeiten
des Congresses einen Zusammenhang, eine Ordnung, eine Methode
Verleihen, welche denselben bis jetzt fehlten. Durch die Vorarbeit
dieser permanenten Commission werden die Fragen, welche Sie zu
studiren haben werden, vielleicht immer klarer, immer weniger
zahlreich vorgelegt werden, und wir werden vielleicht auch dahin
gelangen, sie vollständiger zu erläutern.“ • ,
Mit Bezug auf den Beschluss, die „internationale Statistik“ be¬
treffen^ fuhr der Redner fort: „In zehn oder zwölf Jahren wird in
diesen Ländern eines der grössten Denkmäler bestehen, welche uns
mit einer noch nicht erreichten Sicherheit den Vergleich zwischen
den productiven Kräften der Völker vorlegen werden, welche die
Congresse der Wissenschaft errichtet haben werden. Ich wieder¬
hole es, dieses Werk wird ein durch den statistischen Congress der
Wissenschaft errichtetes Denkmal sein, und der statistische Con¬
gress allein konnte es versuchen, dieses Denkmal zu errichten;
keiner konnte .ihm Biesen Ruhm streitig machen, denn Keiner
konnte das Werk unternehmen, das er unternommen Jbat“ (*
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Den Vorschlägen der ersten Section entsprechend, wurde zunächst
die Frage. der Volkszählung (Berichterstatter Herr Bodenheinter) er¬
ledigt und beschlossen, dass die allgemeinen Volkszählungen nament¬
liche sein und sich nur auf die „ortsanwesende Bevölkerung“
erstrecken sollen, d. h. auf die Gesammtheit der Personen, welche
am Orte der Zählung im Augenblick derselben anwesend sind, aber
weder auf die „Wohnbevölkerung“, noch auf die „wohnsitz- oder
heimathsberechtigte Bevölkerung“. Die Zählungen sollen wenigstens
ein Mal alle zehn Jahre vorgenommen werden, und zwar in dem
Jahre, . dessen Zahl mit einer Null endigt. Die individuellen
Bulletins müssen folgende Rubriken enthalten: Namen und Vor¬
namen des Individuums;.Geschlecht; Alter; Beziehung zum Haupte
der Familie oder des Hauswesens; Civil- oder Ehestand; Geschäft
oder Condition; Religion; Sprache; Kenntniss des Lesens und
Schreibens; Abstammung, Geburtsort und Nationalität; gewöhnlicher
Wohnsitz und Character des Aufenthaltes am Orte der Zählung;
Blindheit* Taubstummheit, Blödsinn und Cretinismus, Wahnsinn.
In Bezug auf Methodologie der Statistik wurde erklärt (Bericht¬
erstatter Dr. Schwade- Berlin): „Die Chefs der Bureaus und die
Specialisten sind aüfgefordert, sobald als möglich der permanenten
Commission des Congresses Diagramme und Kartogramme mit
Auseinandersetzungen über das Verfahren vorzulegen, nach welchem
sie entworfen sind. Die permanente Commission wird es auf sich
nehmen, auf jedem Congresse eine Ausstellung von Diagrammen
und Kartogrammen zu veranstalten, diese Proben zu prüfen und die
Methoden zu empfehlen, welche sie als die besten erkennen wird.“
Von den Propositionen der Subsection für hygieinische unc( medi -
cinische Fragen (Präsident Herr Dr. Middendorff) wurden die auf die
physische Entwickelung des Menschen bezüglichen nach den Er¬
läuterungen d$s Herrn Dr. Bredow angenommen, dagegen ging
man über den Bericht, betreffend eine Statistik der Cholera und
Syphilis (Berichterstatter Herr Dr. Benezet) zur motivirten Tages¬
ordnung über, indem man erklärte: „Angesichts der zu geringen
Zahl aus dem Auslände erschienener Aerzte spricht der Congress,
ohne in eine gründliche Erörterung des von der Sanitäts-Commis¬
sion ausgearbeiteten Programms einzutreten, den Wunsch aus: i) die
Aerzte und Statistiker, welche sich mit der Registrirung der Cholera-
und Syphilisfälle beschäftigen, möchten so viel wie möglich das
vorgeschlagene Programm zur Richtschnur nehmen und besonders
möchten die russischen Aerzte 'die Anwendung desselben bei den
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203
in Russland so häufigen Choleraepidemien versuchen < und dem
nächsten C«ngress einen Bericht vorlegen, welcher erklärt, bis zu
welchem Punkt ihr Programm zur Ausführung gebracht werden
kann; 2) auf dem nächsten Congress möchte sich eine grössere An¬
zahl von Aerzten der verschiedenen Länder vereinigen, um eine
besondere Section für medicinische Statistik bilden zu können/*
Auf den Bericht des Herrn Ssemenow gelangte endlich ein Anr
trag der Herren tyuetelet und Maury zur Annahme, welcher für jedes
Land die Errichtung einer bestimmten Zahl meteorologischer Stationen
als wünschenswerth bezeichnet, um dem bereits zu Wasser befolgten
Verfahren entsprechend, auch zu Lande in ausgedehnter Weise die
bezüglichen Beobachtungen anstellen zu können.
Auf den Antrag der zweiten Section wurde (Berichterstatter Herr
Jahnson ) beschlossen, die Regierungen aufzufordern, überall wo es
noch nicht existirt, ein Civilregister der auf die Bevölkerungsbewe¬
gung bezüglichen Thatsachen, ohne Unterschied der Confessionen,
einzurichten und die betreffenden Erhebungen in bestimmter Form
officiell zu veröffentlichen. Im Anschluss daran wurde ein durch
Herrn Dr. Hüppe- Berlin vorgelegtes Specialregister adoptirt und
ferner in Cönsequenz eines Berichtes des Herrn Körösi- Pest der
Wunsch ausgedrückt, für die grossen Städte, wo eine ärztliche Be¬
sichtigung der Todten existirt, Daten über die Lage des Quartiers,
die Dichtheit der Wohnung und den Grad des Wohlstandes zu sam¬
meln, unter Anwendung der Fragerubriken, welche von der Stadt
Pest eingeführt sind.
Die dritte Section hatte sich mit der Statistik der Industrie und
der Bergwerke beschäftigt. In ersterer Beziehung (Berichterstatter
Herr Dr. Engel ) ward für gut befunden, dass die grossen Unter¬
suchungen über den technischen, öconomischen (und socialen) Stand
der Industrie wenigstens alle zehn Jahre und zwar in allen Ländern
gleichzeitig zu wiederholen seien. Ausserdem müssten noch jähr¬
liche Erhebungen stattfinden, indess nur über die Zahl und die Art
der industriellen Etablissements (Name der Eigenthümer, die Zahl
der beschäftigten Arbeiter mit Angabe des Geschlechts und des
Alters, Kinder unter und Erwachsene über 14 Jahren.) Die Erhe¬
bungsresultate seien regelmässig zu veröffentlichen, nachdem sie
einer vorgängigen Prüfung der in den technischen Wissenschaften
bewanderten Persönlichkeiten unterbreitet worden. Die Schlussreso¬
lution des Berichtes lautet: „Die Section, in dem Bewusstsein, dass
die Statistik der Industrie auf das Programm des gegenwärtigen
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Congresses gesetzt worden ist, um den Arbeiten dieses Zweiges
einen neuen und mächtigen Impuls zu geben und die.Arbeit der
internationalen und vergleichenden Statistik der Industrie zu fördern,
wünscht keineswegs die Vertagung dieser Arbeit, bis die beob¬
achteten Thatsachen gemäss den heutigen Resolutionen veröffent¬
licht werden. Im Gegentheil, sie jst der Meinung, dass diese Arbeit
selbst mit den mehr oder weniger vollkommenen Materialien begonnen
oder fortgesetzt werden müsste, welche schon vorhanden sind, und
sie ist überzeugt, dass dieselbe allein durch dasFactum ihrer Existenz
beständig vervollkommnet werden wird.“
Die Classification der Industrien wurde nach dem von Herrn An -
drejew ausgearbeiteten Modell fixirt, und soll dasselbe der Jury
der Wiener Ausstellung im Jahre 1873 zur Begutachtung vorgelegt
werden.
Hinsichtlich der Bergwerke stimmte man der seitens der betref¬
fenden Subcommission ausgesprochenen Ueberzeugung (Berichter¬
statter Herr Skalkowski , Kaiserlich russischer Bergwerksingenieur)
bei, wonach die Bildung einer Statistik der Berg-Hütten und Salz¬
werke als eines Zweiges der industriellen Statistik nicht nur nicht dem
Studium der allgemeinen Statistik der Industrie schade, sondern
dass Specialuntersuchungen selbst für die Statistiken der andern
grossen Zweige zu wünschen wären, welche sich besonders in tech¬
nischer Beziehung durch ihre Verwaltung und ihre speciellen Auf¬
lagen, so wie durch die sociale Lage der Bevölkerung unterscheiden,
welche sich diesen Industrien widmet; es verstehe sich von selbst,
dass der allgemeine Plan dieser Untersuchungen auf harmonischen
Grundsätzen basirt sein müsse. Eine besondere Förderung dieses
Zweiges der Statistik durch alljährliche genaue Berichte sei von
Gross-Britannien zu erwarten, während für die Veröffentlichungen
einiger spanisch-amerikanischen Republiken und Colonien eine
grössere Regelmässigkeit zu wünschen wäre.
Die auf das ’ Genaueste specialisirten verbesserten Programme,
welche die vierte Section nach den Vorschlägen der Organisations¬
commission aufgestellt hatte, fanden ebenfalls unveränderte An¬
nahme, sowohl das fiir die Statistik des auswärtigen Handels (Be¬
richterstatter Herr Thoemer ), wie das fiir eine Classification der
Waaren (Berichterstatter Herr Caignon),' wie endlich dasjenige einer
Statistik der Posten (Berichterstatter Herr Poggenpohl , Sectionschef
im russischen Postdepartement). Die Frage der Eisenbahnstaüstik
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wurde auf Antrag des Herrn Vissenng der besonderen Aufmerk¬
samkeit der Organisationscommission für die neunte Session des
Congresses empfohlen.
Den Vorschlägen der fünften Section gemäss wurde die Frage der
Criminalstatistik erledigt, und zwar zunächst die allseitige Einfüh¬
rung einer regelmässigen und übereinstimmenden Registrirung der
bezüglichen Daten, am besten einer namentlichen, als unerlässlich
bezeichnet. Dabei seien besondere Berichte über jede Angelegenheit,
für alle Uebertretungsfälle und mit Bezug auf alle Phasen des Pro-
cesses, zu liefern, sowie namentliche Berichte über, die characteristi-
schen .Merkmale der in wichtigen Fällen angeklagten Personen.
Der Bericht des Herrn Yvernes über das System der französischen
„casiers judiciaires“ hatte zur Folge, dass die durchgängige Einrich¬
tung derselben oder auf Grund der Constatirung des Rückfalls ge¬
druckter, periodischer Register als wünschenswerth erachtet wurde,
dergestalt, dass das Studiurii des Rückfalls in seinen Beziehungen zu
dem Besscrungsregime möglich werde. Die Frage dieser Beziehungen
selbst wurde der nächsten Session Vorbehalten. Schliesslich wurde
das Namenregister der Verbrechen festgestellt (Berichterstatter
Herr v. Sterlich- Neapel — und Herr Dr. Tagantzi
In der Schlusssitzung, welcher wieder am 16. (28.) der Fürst Lo*
banow-Rostowski präsidirte, während in der am 17. (29.) der General
Greigh den Vorsitz führte, wurde noch der Argentinischen Repu¬
blik die Genugthuung des Congresses über ihre Fortschritte in der
Statistik und allen grossen amerikanischen Republiken gegenüber
der Wunsch ausgesprochen, sie an den zukünftigen Sessionen theil-
nehmen zu sehen. Ebenso wurde Japan und den anwesenden Japa¬
nesen; welche sich bemühen wollen, die Statistik in ihrem fernen
Lande einzuführen, eine öffentliche Aufmunterung zu Theil. Ferner
wurden noch einige um die Statistik hochverdiente Männer gefeiert:
Sc/nviegam (Christiania), David, Legoyt , Moreau de Jonncs (Frank¬
reich) und v. Viebahn (Deutschland).
Ueber den Versammlungsort des nächsten Congresses wird die
Organisationscommission entscheiden. Officielle Einladungen er¬
folgten nach Ofen-Pest, nach den Vereinigten Staaten und nach
der Schweiz.
Die Hcrrrn Levasseur, Dr.- Engel, harr, Dr.- Meitzen und Correnti ,
ein Jeder in seiner Muttersprache, beleuchteten die Arbeiten der
achten Session in ihrer hervorragenden Bedeutung und sprachen ins¬
besondere Sr. K. H. dem Grossfürsten Konstantin Nikolajewitsch
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_ 205
und der Örganisationscommission im Namen der Versammlung ihren
Dank aus für die werthvolle Förderung der gemeinsamen Sache.
„Niemals“, sagte Herr Farr, „ist eine Session des Congresses mit
so viel Intelligenz und Tact geleitet worden, als di£ von St. Pe¬
tersburg; im Allgemeinen gaben sich die Mitglieder der Commis¬
sionen keine Rechenschaft von den Schwierigkeiten, welche sie zu
überwinden hatten, noch von dem Umfang ihrer Arbeiten, welche
nicht auf die Vorbereitung des Programmes beschränkt sind, son¬
dern auch persönliche Fragen der zartesten Natur umfassen. Die Ver¬
sammlung hat die Pflicht, diese ThatSachen anzuerkennen und der
russischen Commission herzlich zu danken.“... „DerCongress schuldet
ferner besondern Dank dem Fürsten Lobanow-Rostowski, dem Ge¬
neral Greigh und Herrn Ssemenow, welche sich an dem Gedanken
Sr. K. H. defs Ehrenpräsidenten inspirirt haben.“ (Anhaltender, rau¬
schender Beifall.)
Die bedeutungsvollen Worte des Herrn Dr. Engel lauten*.
„Es ist mir zugefallen, am Schlüsse unseres Congresses unseren
aufrichtigen Dank auszusprechen. Ich sage nicht — officiellen Dank.
Alle Regungen des Herzens sind individuell; ich spreche also meinen
individuellen und warmen Dank, der direct aus dem Herzen kommt,
dem Lande aus, welches uns eine so gastfreundschaftliche Aufnahme
bereitet, uns eine Reihe von Männern, die tief in unsere Wissen¬
schaft eingeweiht sind, vorgeführt, ausgezeichnete Arbeiten vorge-
legt und uns unsere Aufgabe erleichtert hat. Wenn Sie diese Ar¬
beiten geprüft haben werden, werden Sie sehen, dass sie Ergebnisse
umfassender Studien sind.
Wir glaubten, dass die Statistik in diesem Lande wenig cultivirt
werde — ich spreche von uns Deutschen — und wir haben eine
neue Welt entdeckt. Wir glaubten, dass die Cultur in Russland noch
nicht so weit fortgeschritten sei,- und wir sind erstaunt über die
grossen intellectuellcn Kräfte, welche wir hier finden. (Beifall.)
Ich mache mir selbst den Vorwurf, dieses Land so wenig gekannt
zu haben, und ich mache allen Deutschen den Vorwurf, dass sie
sich nicht mit dem Studium der russischen Sprache beschäftigen,
und dass sie sich der Möglichkeit berauben, das, was hier gross und
vorzüglich ist, kennen zu lernen. (Beifall.)
Dieser Congress ist der erste, an welchem nach einem grossen
Kriege Personen der beiden Unlängst im Kampfe begriffenen Natio¬
nen Theil nehmen. Ich will den Franzosen meine tiefe Erkenntlichkeit
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für ihre Liebenswürdigkeit und für die Sympathien jeder Art, die sie
mir erwiesen, aussprechen. (Beifall)
Sie haben so bewiesen, dass - die Wissenschaft eines und nicht
durch Nationalitäten gespalten ist.
Ich drücke meinen wärmsten Dank Russland und den hier anwe¬
senden Russen aus und ich werde für immer das Andenken an diesen
Congress bewahren.“ (Beifall.)
Zum Schluss nahm Se. K. H. der Grossfürst Constantin das Wort
und sagte:
„Meine Herrenl Sie haben ihre Aufgabe beendigt. Sie haben die
von der Organisationscommission formulirten Vorschläge einer ver¬
ständigen und lichtvollen Kritik unterworfen und denselben, nach¬
dem sie mehr oder weniger modificirt worden, Ihre endgültige Sanc-
tion gegeben.
Ich bin Ihren Arbeiten mit der Aufmerksamkeit und dem Interesse
gefolgt, welche sie verdienen, und ich hoffe, dass Ihre Beschlüsse,
die auf der Höhe der Wissenschaft stehen und auf einem practischen
Boden ruhen, auf kein Hinderniss in ihrer Anwendung stossen wer¬
den. Die Aufgaben der internationalen Statistik nähern sich mit
jedem Tage mehr ihrer Lösung, und ich spreche die aufrichtigsten
Wünsche für die schleunige Realisirung des Werkes des Con-
gresses aus.
Indem ich Ihnen Lebewohl sage, meine Herren, muss ich Ihnen
für die Sympathien danken, die im Namen des Congresses in so be¬
redten Worten von den geehrten Herren Levasseur, Engel, Farr,
Meitzen und Correnti ausgesprochen worden sind, und ich bitte
Sie, in meiner Mitwirkung einen Beweis nicht nur für meine persön¬
liche Achtung, sondern auch für die meines erhabenen Bruders und
Souveräns und seines Volkes für die Wissenschaft und deren Ver¬
treter zu sehen.
Congresse wie der, dessen Sitzungen heute geschlossen werden,
bilden einen der chaijacteristischsten und leuchtendsten Züge Unserer
Epoche. Männer von Wissen und Erfahrung, Männer von verschie¬
denen Ansichten in der Sphäre des practischen Lebens kommen
aus den entferntesten Enden der civilisirten Welt, um sich auf dem
neutralen Gebiete der Wissenschaft zu vereinigen und die gegen¬
seitige Achtung zu befestigen; sie übertragen diese Achtung von
den Individuen auf die Nationen, deren Repräsentanten sie sind,
und wirken so dazu mit, die Bande zwischen den Völkern zu
befestigen.
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Indem die Männer der Wissenschaft in diesem Gefühl eine neue
Kraft schöpfen und gewissermaassen von den Arbeiten ihres täglichen
Lebens ausruhen, tragen sie durch diese Vereinigungen zur Ver¬
breitung positiver Kenntnisse bei und dienen somit noch mehr ihrem
Zwecke, welcher in der Ermittelung der Wahrheit und in dem Fort¬
schritte der Menschheit besteht
.Indem ich Ihnen, meine Herren, den Ausdruck meiner lebhaftesten
Dankbarkeit wiederhole, erkläre ich die achte Session des interna¬
tionalen statistischen Congresses für geschlossen.“ *
Die Worte Seiner Hoheit wurden mit anhaltendem einstimmigem
Beifall aufgenommen.
Am 17. (29.) hielten nach der allgemeinen Versammlung noch die
officiellen Delegirten eine Sitzung, welche nach den vorhergegan¬
genen Beschlüssen fast den Character einer Sitzung der perma¬
nenten Commission hatte. Es handelte sich um die officiellen statis¬
tischen Arbeiten, welche von den einzelnen Ländern auszuführen,
zum Theil schon ausgeführt sind. Die Vertheilung ist nachstehende:
Sterblichkeitslisten — Belgien, Grundbesitz—Frankreich undBaiern,
Ackerbau und Viehzucht—Frankreich, Weinbau—Ungarn, Forst-
cultur und Jagd — Baden, Minen- und Hüttenwerke — Russland,
Industrie — Deutschland, Export und Importhandel — England,
Schifffahrt und Transporte auf Flüssen und Kanälen — Russland und
Amerika, Transporte, Posten und Telegraphen — Dänemark, Lebens¬
versicherung — bisher Preussen und Thüringen, jetzt Amerika, Ver¬
sicherung gegen Feuersgefahr — Baiern, Feldversicherung — Ru¬
mänien, Transportversicherung — Hamburg, Creditanstalten und
Volksbanken — Schweiz, Spar- und Unterstützungscassen — Italien,
Cassen zur gegenseitigen Unterstützung — Herren Engel und Bo-
denheimer, Redaction der Statistik der Grossstädte — Herren Schwabe
undKörösi.
Am 19. (31.) Abends um 8 ! /4 Uhr fuhren die Mitglieder des Con¬
gresses mit einem Separat zu g nach Moskau, denn auch die Munici-
palität der zweiten Residenz des Reiches wollte ihnen ihre Gefühle
der Sympathie und Achtung bezeugen und hatte sie daher zu einem
Besuche der Stadt und der polytechnischen Ausstellung eingeladen.
In den besten Hotels waren die Quartiere eingerichtet, in welche die
Gäste geleitet wurden. Equipagen standen ebenfalls zur Verfügung.
Während mehrerer Tage hat die Gastfreundschaft Moskaus ihnen
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20 $
den Aufenthalt so angenehm als möglich zu machen gesucht. Am
21. August (2. September) gab der Generalgouvemeur ein glanz¬
volles Fest mit musikalischen Vorträgen und Ball, wozu auch die
Vertreter der Moskauer Gesellschaft geladen waren. Einzelne Gruppen
besuchten auch Nishny-Nowgoroä. Für die Rückkehr in die Hei-
math, welche die Meisten am 23. August (4. September) antreten
wollten, ist Allen freie Eisenbahnfahrt bis zu den verschiedenen
Grenzstationen offerirt wordten. Die über Warschau hinausreisenden
Mitglieder würden auf dem dortigen Bahnhofe von dem Curator des
Lehrbezirks, Herrn Witte, im Namen des in Berlin weilendefi Statt¬
halters von Polen, Grafen Berg, empfangen. Im „Hotel d*Europe“
wurden ihnen nicht nur Zimmer angewiesen, sondern auch noch ein
festliches Abschiedsdiner gegeben. Dieser neue, völlig unerwartete
Beweis der russischen Gastlichkeit machte abermals den wohlthu-
endsten Eindruck auf die Gäste. Die russischen Mitglieder und die
russische Gesellschaft überhaupt, welche die Scheidenden mit dem
freundschaftlichsten Lebewohl begleitete, darf das freudige Bewusst¬
sein hegen, dass Alle auch ihrerseits Russland eine freundliche Er¬
innerung bewahren werden.
Dr. G. W. Emil Schmidt.
o
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Kleine Mittheilungen.
(Zur Bevölkerungsstatistik Russlands.) Die Bevölkerung
des 'Europäischen Russlands mit Ausnahme von Polen und dem
Grossfiirstenthum Finnland betrug nach der Zählung vom Jahre
1867 laut dem vom statistischen Central-Comite herausgegebenen
Jahrbuche II. Bd. I. Thl. aus 63,658,934 Individuen beiderlei
Geschlechts.
Dem Religionsbekenntnisse nach Den Ständen nach:
zählte man:
Griechisch-Orthodoxe 53,139,247 Erblicher Adel . . . . 533,691
Raskolniki. 922,070 Persönl.Adelu.Beamte 303,781
Armenisch-Gregorian. 37,136 Geistlichkeit ..... 624,383
Römisch-Katholische 2,882,991 Stadtbewohner .... 5,743,880
Protestanten. 2,234,121 Landbewohner .... 52,253,697
Juden. 1,829,100 Militär. 3,669,739
Muhammedaner . . . 2,358,766 Ausländer. 108,929
Meiden ......... 255,503. Einwohner, d.zu keiner
"—"TT- d. genannten* Kate-
3 > 65 < ‘>934 gorien gehören % . . 420,834
63 > 65 S ,934
In Polen betrug die Bevölkerung 5,705,607 Individuen, darunter
dem Religionsbekenntnisse nach: den Ständen nach:
Griechisch-Orthodoxe 29,932 Erblicher Adel .... 57,575
Raskolniki. 4,552 Persönl. Adel u.Beamte 23,983
Griechisch-Unirte (dar- Geistlichkeit. 8,802
unter 37,136 Arme- Stadtbewohne# .... 1,163,191
nisch-Gregorian.) . . 229,260 Landbewohner.4,016,844
Römisch-Katholische . 4,326,473 Militär. 73,619
Protestanten. 331,223 Ausländer. 39,196
Juden. 733,079 Einwohner, d. zu keiner
Muhammedaner .... * ( 606 d. genannten Katego-
Heiden. ' 472 rien gehören. 33 2 ,397
5,705,607 5,7054507
Das Grossfiirstenthum.Finnland hatte nach officiellen Mittheilungen
vom Jahre 1865 — 1,843,253 Einwohner! Spcciellc statistische
Notizen über diese Anzahl fehlen noch einstweilen. *
*4
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210
Im Asiatischen Russland betrug die Bevölkerung im Jahre 1870
■— 10,537,513 Individuen beiderlei Geschlechts.
Dem Religio ns bekenn?ii$se nach
im Kaukasus
in Sibirien
in Mittelasien
Griechisch-Orthodoxe.
1,929,905
2,875,533
131,459
Raskolniki.
58,876
65,505
42,604
Armenisch-Gregorianische . . .
560,675
9
—
Römisch-Katholische.
28,863
24,754
489
Protestanten.
10.575
5,722
40
Juden .
23,247
11,400
210
Muhammedaner.
1,960,580
61,083
1,245,983
Heiden.
10,915
283,621
i,i 9 8
Zusammen . . .
4,583,640
3,327,627
1,421,983
Bevölkerung des Syr-Darja und Turgay-Gebietes, über
welche Special-Angaben des Religionsbekenntnisses.
fehlen.
.
1,204,263
2,626,246
Den Ständen nach, soweit die
Angaben reichen:
im Kaukasus
in Sibirien
in Mittelasien
Erblicher Adel.
26,839
3,977
726
Persönlicher Adel und Beamte
16,960
11,115
2,019
Geistlichkeit.
21,474
17,980
1,204
Stadtbewohner.
139,953
114,432
9> I 54
Landbewohner.
1,382,504
2,730,256
1 , 237,875
Militär.
498,605
337,188
167,512
Ausländer ..
Einwohner, die zu keiner der
1,859
• 517
1,722
angeführten Kategorien ge¬
hören .
4,717
112,162
2,771
(Ueber die bevorstehende Publieation der Ergebnisse
von A. P. Fedtsehenko’s Reisen in Turkestan)
liegt ein vom Conseil der Kaiserlichen Gesellschaft der Freunde
der Naturkunde, # Anthropologie und Ethnographie in Moskau
herausgegebener Prospect vor. Das Reisewerk, dessen Druck
in diesem Herbst beginnt, wird unter folgendem Titel erscheinen:
llymciuecmeie os Typicecmam , coBepmeHHoe no nopyuemio Hm-
nepaTopcKaro OöiuecTBa JlioÖHTejieö EcTecT03HaHiü, AHTpo-
nojiorin h 3THorpa<i>iH n TypicecTaHCKaro reHepajn>-ry6epHaTopa,
'ijieHOMi» OömecTßa A . //. 0edHenKo . M3AaHie npe^npHUHToe 06-
mecTBOMi» ct> Bbiconafliuaro con3Bo.ieHLH, d. i. Reise nach Turkestan ,
unternommen im Aufträge der Kaiserlichen Gesellschaft der Freunde
der Naturkunde, Anthropologie und Ethnographie und des General-
Gouverneurs von Turkestan, vom Mitgliede der Gesellschaft
A . P. Fedtschenko . Herausgegeben mit Allerhöchster Genehmigung.
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211
Das Reisewerk wird in vier Bänden veröffentlicht werden:
Bernd / wird enthalten: die Beschreibung des Verlaufs der Expe¬
dition, ihrer Mittel und der von ihr besuchten Gegenden. Hier werden
auch Nachrichten über Denkmäler des Alterthums, Beobachtungen
über die Lebensweise und die Beschäftigungen der’ Einwohner
mitgetheilt, so wie ein anschauliches Bild der Fauna und Flora nach
ihren characteristischen Repräsentanten »versucht werden.
Band II wird der speciellen Beschreibung; der einzelnen Thiere der
Fauna Turkestans gewidmet sein. Mehrere Specialisten haben die
Bearbeitung der einzelnen Theile dieser Fauna übernommen. Es
sollen nicht nur nackte Verzeichnisse der gefundenen Thiere und Be¬
schreibungen der neuen Formen, sondern vielmehr eine Reihe von
Monographien über die einzelnen Abtheilungen der Fauna Turke¬
stans geliefert werden. Bei solcher Behandlungswcise werden die
Eigentümlichkeiten der turkestanischen Fauna besonders relief
hervortreten. Die Diagnosen neuer oder wenig bekannter Formen
werden in lateinischer Sprache gegeben-werden, wodurch dieser
Theil des Reisewerks auch Gelehrten des Auslands zugänglich sein
wird. Abbildungen und Detailzeichnungen werden zur Erläuterung
des Textes dienen.
Band III, der Flora gewidmet, wird durch Beschreibung und Zeich¬
nungen die Pflanzenwelt Turkestans dem Leser vorführen.
Band IV wird meteorologische, hypsometrische, kraniologische
und geologische Beobachtungen enthalten, so wie auch einen erläu¬
ternden Text zur Karte von Turkestan, welche dem Werke bei¬
gelegt werden wird.
Die Bearbeitung der einzelnen Theile der Fauna ist bereits von
Specialisten übernommen:
Die Reptilien und Amphibien bearbeitet Akademiker^. A.
Strauch in St. Petersburg.
Die Fische — Professor K. F. Kessler in St. Petersburg.
Die Orthopteren — H. de Saussure in Genf.
Die Neuropteren — MLachlan in Lfbndon.
Die Caleopteren — S. M. Sohkij in St. Petersburg.
Die Hymenopteren — H. de Saussurc in Genf, 0 . P. Radosch •
kowski , E. K. Freimuth und A. P. Fedtschenko.
Die Dipteren — Dr. L&w in Guben und A. P. Fedtschenko.
Die Lepidopteren — N. G. Jerschoiv in St Petersburg.
, Die Hemipteren — W. F. Oschanin.
Die Arochnoiden — A. J. Kroneberg .
Die Crustaceeri — W. N. Uljanin und A. P. Fedtschenko.
Die Würme, die freilebenden und die Parasiten — A. P.
Fedtschenko .
Die Mollusken — Dr. Martens in Berlin.
Die Bearbeitung des Herbariums, welches während der Reisen
von Frau Olga Alexandrowna Fedtschenko zusammengestellt ist
und gegen 1700 Arten enthält, haben Dr. Regel und Dr. Herder
14*
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212
in St. Petersburg und Dr. A. Bunge in Dorpat übernommen. Die
Redaction dieses Bandes wird Herr E. L . Regel leiten. Die Bear¬
beitung des botanischen Theiles wird sich nicht auf das Verzeichnen
der gefundenen Formen und das Beschreiben der neuen unter ihnen
beschränken: in ihm werden alle bisher zugänglich gewordenen
Daten über die Flora Turkestans zusammengestellt werden und die
Herren Bearbeiter werden.auf die Pflanzen, welche Herr % J.
Krause im Khanat Khokand und den Umgegenden Taschkents ge¬
sammelt und der Gesellschaft als Geschenk dargebracht hat, Rück¬
sicht nehmen. Der Umfang der Flora, welche eine Synopsis aller
bisher bekannten Pflanzenarten aus Turkestan enthalten wird, ist auf
80 Bogen berechnet.
Die Bearbeitung des anthropologischen Materials hat Herr Pro¬
fessor A. P. Bogdanoiv , die des palaeontologischen A. 0 . Mila¬
schewitsch übernommen.
Die ganze Ausgabe wird gegen 300 Bogen Text und gegen 200
Tafeln enthalten. Uebcr die Subscriptionsbedingungen wird bald
eine weitere Ankündigung erscheinen.
(Ein© Gesellschaft zur Förderung der Handelsinter¬
essen Russlands auf den Meeren) ist in Moskau aus Anlass
der Feier des Jubiläums Peters des Grossen in der Bildung begriffen.
Diese Gesellschaft soll ungefähr in der Weise wirken, wie der jetzige
neutrale nautische Verein in Deutschland, der alle früheren localen
(etwa 20) nautischen Vereine zu einem Ganzen verbunden hat und in
speciell nautischen Fragen auch der deutschen Reichsregierung
gegenüber sein Gutachten abgiebt, das gewöhnlich sowohl im Reichs¬
tage als auch im Bundeskanzler-Amte Beachtung und mög¬
lichste Berücksichtigung findet. Aufgabe des russischen Vereins
soll in erster Linie die Schaffung von Sceschulen an allen Seeküsten
Russlands auf Grundlage des Gesetzes vom 27. Juni 1867 sein. Dies
Gesetz giebt nämlich jeder 4 beliebigen vaterländischen Gesellschaft
das Recht zur Errichtung und Verwaltung der vom Staate gutge¬
heissenen Seeschulen und stellt eine genügende jährliche Unter¬
stützung des Staats für jede dieser Schulen in Aussicht; trotzdem ist
die Errichtung dieser für Russland äusserst wichtigen und für utiser
Seewesen den grössten Erfolg verheissenden Schulen nur langsam
vor sich gegangen. Die älteste derselben, 1864 in Livland im Dorfe
Hainasch bei Salis gegründet, hat bereits glänzende Resultate aufzu¬
weisen; trotzdem bestehen jetzt, ausser im Dorfe Hainasch, nur in
Kurland vier, im St. Petersburger Gouvernement (an ungeeigneter
Stelle) eine und amWeissen Meere ebenfalls eine dieser Schulen; am
Schwarzen,. Asowschen und Kaspischen Meere giebt es gar keine
derartige Schulen, obwohl Russland in diesen Gewässern die ausser¬
ordentliche Summe von 40 bis 50 Millionen Rubeln jährlich für
Frachten zu zahlen hat. — Die zu bildende Gesellschaft soll nun
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213
namentlich im Süden die Begründung der Seeschulcn ermöglichen;
sic soll im Geiste Peter’s des Grossen die Binnenbevölkerung auf die
öconomischen Vortheile des Besitzes einer vaterländischen Flotte
aufmerksam machen, die Mängel unserer nautischen Einrichtungen
beseitigen helfen, genaue statistische und öconomische Daten über
unser Seewesen sammeln, den wenig gebildeten Küstenfahrern in
jeder Art Beistand und Stütze leisten und zu diesem Behufe an allen
unsern Küsten Zweigvercine gründen. In Moskau haben sich bereits
das Stadthaupt, der Adelsmarschall und viele andere angesehene
Personen, bei der Gründung der Gesellschaft betheiligt und aus St.
Petersburg und andern Küstenstädten steht der Beitritt vieler bedeu¬
tender Namen in baldiger Aussicht. Lebendige Anregung erhält die
Sache wesentlich dadurch, dass die beim Beginn der polytechnischen
Ausstellung in Moskau tagende zweite Versammlung russischer In¬
dustrieller durch einstimmigen Beschluss die Gründung dieser Gesell¬
schaft als sehr wichtig und die Schaffung populärer Seeschulcn als
unerlässlich für Hebung unseres Seewesens bezeichnete.
Literaturbericht,
H. CmopoofceuKo . npeAcaBHTejin IHeKciinpT>. 3 mi 30 /U> H3i> hcto-
pin aHrjiiflcKoft ÄpaMbi bt> enoxy EjiH3aBCTbi. Tomt» I. Jlu.i.tn
u Mapjio, C.-IIeTepöypnj. 1872.
Storoshenko , N ’ Die Vorgänger Shakespeare’s. Ein Abschnitt aus
der Geschichte des englischen Drama zur Zeit Elisabeth’s.
Band I: Lilly und “Marlow. St. Petersburg 1872. II -f 293 4-
72 SS. 8°.
Das vorliegende Buch ist, wie der Verfasser in dgr Vorrede an-
giebt, dem Wunsche entsprungen, den Gang der Entwickelung des
englischen Drama bis zum Auftreten Shakespeare’s sich selbst klar
zu machen. Die werthvollen Arbeiten von Collier , Ulrici , Gewinns
u. A., obgleich sie über die Geschichte des altenglischen Theaters ,
viel Licht verbreiten, hätten bei Weitem nicht alle auf diesen Ge¬
genstand bezüglichen Fragen gelöst. Das Werk Colliers, welches
durch seinen Reichthum an Material Erstaunen errege, dürfte, nach
des Verfassers Ansicht, für den Nicht-Specialisten kaum von erhebli¬
chem Nutzen sein, weil in ihm eine Masse von Facta, ohne allgemei¬
nen leitenden Gedanken, in äusserer chronologischer Weise lose an ein¬
andergereiht seien. Die Werke von Ulriciund Gervinus litten an dem
entgegengesetzten Fehler — an der Sucht zu systematisiren, indem
nicht streng kritisch untersuchteThatsachen einer im Voraus gebilde¬
ten Ansicht angepasst würden. Wie ebenmiissig und logisch er¬
scheint nach Ulrici’s Darstellung die Entwickelung der Ilauptmo-
mente des englischen Drama, als ob sie der Ausfluss eines ihr inne-
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214
wohnenden Gesetzes wäre, und wie verworren und unorganisch er¬
weist sie sich in der That! Das Gefährliche solch künstlicher Con-
structionen läge darin, dass sie durch ihre logische Gliederung die
Energie des Forschers einschläfern, ihn daran gewöhnen, sich bei
den einmal gewonnenen Ergebnissen zu beruhigen und schliesslich
einen selbstgefälligen gelehrten Quietismus erzeugen. Bei so be-
wandten Umständen, wo selbst die reiche westeuropäische Litera¬
tur, die im Besitze so vieler einschlagender spccieller Arbeiten ist,
kein einziges völlig zuverlässiges Handbuch für das Studium des en¬
glischen Drama vor Shakespeare aufweisen könne, schien es dem
Verfasser, müsste jede neue Arbeit, die ohne vorgefasste Meinung
die 'tatsächliche Seite des Gegenstandes behandele und dabei
theils die früheren Thesen kritisch beleuchte, thcils die vorhandenen
Lücken mit neuen Thatsachen ausfülle, nicht ganz fruchtlos bleiben
für die junge russische Wissenschaft, welche eben erst beginne, sich
zu den Erzeugnissen der westeuropäischen Gelehrtenwelt auf kriti¬
schen Fuss zu stellen.
Das Buch des Herrn Storoshenko ist auf zwei Bände angelegt.
In dem jetzt vorliegenden ersten Bande ist die Darstellung der Ent¬
wickelung des englischen Drama bis zu dem Zeitpunkte fortgeführt,
wo es unter der Hand Marlow’s eine kunstvolle Gestaltung erhält.
Der zweite Band, den der Verfasser in nächster Zeit erscheinen las¬
sen zu können hofft, wird der Uebcrsicht der Erzeugnisse der unter¬
geordneten Dramaturgen gewidmet sein, welche unter Marlow’s Ein¬
fluss sich entwickelten und gewissermaassen als die Verbindungs¬
glieder zwischen ihm und Shakespeare dastehen. Hier beabsich¬
tigt der Verfasser, der Technik des Drama vor Shakespeare und ih¬
rem Verhältniss zur Technik der Erzeugnisse des Letzteren eine be¬
sondere Aufmerksamkeit zu widmen, wie auch auf Grundlage von
auf dem Wege comparativer Methode gewonnenen Thatsachen in
Shakespcare’s dramatischem Stile. Das, was ihm persönlich eigen,
von dem, was gerechter Weise als unbestreitbares Eigenthum seiner
Vorgänger anzuerkennen ist, zu scheiden.
Der erste Band umfasst vier Capitel. Das I. behandelt die Anfän¬
ge des englischen Theaters und schlicsst mit den „Intcrludes” von
Hayiuood* Ipi II. wird die Ucbcrgangs-Epoche geschildert, nach¬
gewiesen, wie die durch die Reformation hervorgerufene religiöse
Controversc im Drama nachklingt, dasselbe einen historischen
Character annimmt, wie ferner seine Form von den literarischen
Traditionen aus dem classischen Alterthum beeinflusst wird, eine
classische und eine volkstümliche Schule sich hcranbilden, der •ita¬
lienische Einfluss sich geltend macht und dann mit Lilly die
Reihe der unmittelbaren Vorgänger Shakespeare’s anhebt. Capi¬
tel III ist der Betrachtung des Verhältnisses der Gesellschaft zum
Theater beim Beginn der Regierung Elisabeth’s gewidmet, wobei
das Verhalten der Regierung zu den religiösen Parteien und der
Volksfreiheit, der innere Zustand der englischen Gesellschaft, ihre
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215
öconomische Lage, die Erfolge in der Wissenschaft und Literatur be¬
rücksichtigt, wie die Errichtung fester Bühnen und deren erste
Schicksale besprochen werden, welche sich in dem Kampfe der
Schauspiele mit dem Londoner Stadtrathe und den Puritanern und
endlich in der Ernennung Seitens der Regierung eines Master of
Revcls (Magister Revelorum) abwickeln.
Das IV. und letzte Capitel hat zu seinem Gegenstände den
dramatischen Dichter Marloiv und seine Schriften und schliesst mit
einer Schätzung seiner Verdienste um das englische Drama.
Russische Bibliographie.
MNHHH1», B. CMepUH HJIH TpOMÖLI. <l>H3HHeCKaa MOHOrpa<l>UI H Teo-
pia RBjieHia. MocKBa. in-8°, 44 exp. h 1 xaöji. (Minin, W. Die Wasser¬
hose. Physische Monographie und Theorie dieser Erscheinung.
Moskau. 8°. 44 S. u. 1 Tafel).
P03eH6jiaTi>, 0eOA O H'kKoxopbix'b coeAHHemaxi» 30 Aoxa. Cn6.
in-8°, 21 cTp. (Rosenblatt, Th. Ueber einige Verbindungen des Goldes.
St. Petersburg. 8°. 21 S.).
P03eH(Sepn>, B. O nepepoacAemH h npeHMymecxBeHHo o B03poac-
AeHin nonepeHHo-nojiocaTbixi» MumeuHbixt boaokoh7> npu öpioiu-
homt> TH<r>'jb. MocKBa. in-8°, 2 + 75 CTp. h 2 ji. pnc. (Rosenberg, B,.,
über d. Wiedergeburt u. vorzüglich über das Wiederaufleben der
quer-gestreiften Muskelfaser beim Typhus des Unterleibes. Moskau.
8°, 2 -f 75 S. u. 2 Tafeln Abbildungen).
ypaHOCCOBl», Tpar. MaxepiaAbi kt> yueHiio o pa3BHxiH kocxh Hai*
xpama. MocKBa. m-8“, 66 CTp. h 3 a. (Uranossow, G- Materialien zur
Lehre von der Entwickelung des Knochens aus dem Knorpel.
Moskau. 8°. 66 S. u. 3 Tafeln Abbildungen).
HHMefiep'b, O. 'IacTHaa naxajioria n xepania. IlepeB. cxyAeuxbi
^ HHBepcuxera Cb. BjiaAHMipa iioat» peA. E. A<i>aHacbeBa. Bbin. I.
Kieß-b. in-8°, 287 exp. (Niemeyer, F. Specielle Pathologie und Therapie.
Uebers. von Ben Studirendcn der KijewerUniversität unter Redaction
von E. Afanasjew. Lief. I. Kijew. 8°, 287 S.)
npeoäpameHCltiti, n. M. IIcxopmiecKiit oucpK-b pa3Bnria nieAKO-
BOACXBa bt> MocKB'h h K>ro-3anaAHbix-b ox'b nea ryöepHiax-b h A'fcfl-
cxßitt KowHxexa UlejiKoBOAcxBa. MocKBa. in-8°, 416 exp. n 1 nopx.
(Preobraschensky, P. M. Historischer Umriss der» Entwickelung der
Seidfenzucht in Moskau und in den davon südwestlich gelegenen
Gouvernements, so wie auch der Thätigkeit des Comites für Seiden¬
zucht. Moskau. 8°. 416 S. mit 1 Portrait).
1 Bacwiberb, fl. H Agha» h ücKOBCKaa ryöepHia. ückobi». in-8°,
224 exp. h 1 Kapxa. (Wassiljew, P. J. Der Flachs und das Pskowsche
Gouvernement. Pskow. 8°. 224 S. und 1 Karte).
%
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216
npoTOKOJibi h cTeHorpa^HHecicie oT^eTbi sacfeAaHift nepßaro ßce-
pocciöcKaro c'b'fcsAa <t>a6pnKaHTOBT>, 3aB04HHK0Bi> h jihh,t>, HHTepe-
cyiomHxcH OTeMecTBeHHOK) npoMbTimieHHOCTbio. 1870 r. Cn6. in-8°,
475 exp. (Protokolle und stenographische Berichte der Sitzungen der
ersten Versammlung russischerFabrikanten und der sich für die vater¬
ländische Industrie Interessirenden. 1870. St. Petersburg. 8°. 475 S.)
Aiviacb npoMbiniJieHHocTH Mockobckoü ryöepHiH. MocKBa. iooji.
(Industrieller Atlas des Moskauschen Gouvernements. 8°. 100 Blatt.)
EtJiflBCKtif, H. AoHCKia rnpjia. rHaporpa<i>HHecKoe H3CJrfeA. OAecca.
in-8°, 192 cip. h 5 ji. nepT. (Beljawsky, N. Die Don-Mündungen. Eine
Hydrographische Untersuchung. Odessa. 8°, 192 S. u. 5 Tafeln
Abbildungen.)
Maurb, Kau. 3 anaAHbiö Cy^am*. IlyTeinecTBie. Ci> put. Cn6. in-8°,
352 CTp. u 1 KapTa. (Mage, Cap. Das westliche Sudan. Reisebeschrei¬
bung. Mit Abbild. St. Petersburg 8°. 352 S. u. 1 Karte).
HaB'hcTia M. PyccKaro ApxeoJiorHuecicaro OömecTBa. T. VII.,
Bbin. 3-fl C116. in-4 0 , 233 — 382 cTOJi6u.au 1 Taöji. (Nachrichten der
Kaiserlich-Russischen Archaeologischen Gesellschaft. BandVII, Lief. 3.
St. Petersburg. 4 0 . S. 233—382 und 1 Tabelle).
TeHHepi, K. <D. BoeHHO-xnpypriiHecKia HaöJiioAeHbi bo BpeM«
4>paHKo-repMaHCKoö BoflHbi 1870 r. Ob 27 iiojihthti. Cn6. in-8°,
255 CTp. (Genner, K. F., Kriegs-chirurgische Beobachtungen während
des französischen Feldzuges im Jahre 1870. Mit 27 Holzschnitten.
St. Petersburg. 8°. 255 S.).
<t>pHAOüWTb, fleipb. O JiHM^aTimecKHXT, cocyAaxii öepeMCHHofl
jvjarKii. Cn6. in-8 n , 31 crp. u i ji. pwc. (Fridolin, P. Ueber Lymph-
Gefässe der schwangeren Gebärmutter. St. Petersburg. 8°. 31 S.
und 1 Tafel).
TyHHepi ((JjOHb), fl. ropH 03 auoACKaa iipoMbiuuieHHocTb Pocciii u
BT> OCOÖeHHOCTH C 5 i >Kejrb3HOe IipOM3BOACTBO. C116. in-8°, XVI + 246
CTp. n 4 ji. ncpT. (von Tunner, P. Die Montan-Industrie Russlands und
insbesondere seine .Eisen-Industrie. St. Petersburg. 8°. XVI 4 ~ 246 S.
und 4 Tafeln Abbildungen).
3 e/ieHbiH, A. M. IIcTopHuecKitt oHepia> UlTypMaHCKaro ynmiHiua
1798—1871. KpoHiUTaATi>. in-8°, 179 CTp. (Seleny, A. J. Historischer
Umriss der Steuermannsschule von 1798 — 1871. Cronstadt. 8".
179 S.) . ,
Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttoer.
Ao3iio.ieiio ueH3ypoio. 6-ro ceiiTflrtpx 1S72 ro^a.
liuchdruckerci von Rottc.kr & Schneider, Newsky-Prospcct No. 5.
#
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Ueber eine
tan Raphael ntgesehriebane Mamorgruppe:
»Ein todter Knabe, getragen von einem Delphin.“
Von
S. v. Quedeonow,
Director der Kaiserlichen Eremitage.
(Mit Genehmigung des Verfassers nach dem in der Sitzung der Akademie der
Wissenschaften vom 22. August 1872 gelesenen und im Hu.letin der Akademie T. XVIII
veröffentlichten Original übersetzt.)
Was man bisher von der genannten, dem Raphael zugeschrie¬
benen Statue wüsste, welche einen tödtlich verwundeten, von einem
Delphin getragenen, Knaben darstellt, sagt uns Passavant in seinem
Werke: „Raphael d’Urbin etc.“ ed. frang. 1860. T 1 " 6 Il mo p. 375:
„Nach der Stelle in dem Briefe des Grafen Castiglione, welchen
wir in der Geschichte Raphaels 1 ) publicirt haben, ist cs nicht erlaubt
daran zu zweifeln, dass Raphael sich in der Kunst der Bildnerei in
Marmor versucht, -und dass er selbst eine Kindergestalt in statuari¬
scher Form ausgeführt habe.
Cavapeppi (Raccolta dantiefoe statue, Roma, 1768, Bd. I, Taf. 44)
bietet uns cten Kupferstich eines tödtlich verwundeten Knaben, wel¬
cher auf dem Rücken eines Delphins liegt und Von demselben durch
die Wellen getragen wird. Die folgende Notiz ist dem Stich beige¬
fugt: „Delphin, welcher einen Knaben an das Ufer zurückbringt,
*) Ebendaselbst Bd. I, pp. 205, 206. „Ausserdem wünsche ich zu wissen, ob
er (Giulio Romano) noch jenpn Knaben von Marmor von der Hand des Raphael hat und
welches der letzte Freiest, fiir welchen er ihn verkaufen wird.“ — Dieser Brief ist da-
tirt aus Mantua vom 8. Mai 1523 und gerichtet von ,Baldassar Castiglione a messer An¬
drea Piperario 4 , seinen Intendanten zu Rom. (LetL Pitt. Bd. V, pag. 245.) Die Heraus¬
geber des Vasari (Firenze, Fel. le Monnier 1852,Bd. VIII. pag 47, Note 1,) fugen hin-
„In Bezug äuf diese Sculptur haben wir auch das Zeugniäs des Anonymus, welchen
molli gedruckt hat: Er arbeitete qpch als Bildhauer, indem er einige Statuen verfer-
ie, und eine davon, welche einen. Knaben darstellt, habe ich in den Händen des
/mlio Pißi gesehen/ 4 Aber man rousinicht vergessen, dass die Authenticitat des Ano-,
njrmus durch Passavant (l. c. Bd. L pag. 2, 3^) sehr stark in Frage gestellt worden isU
f
15
igitiz^i by L^ooQle
218
nachdem erdenseiben, während er ihn zurBelustigung durch das Meer
trug, unfreiwillig durch eine seiner Flossfedern tödtlich verwundet
hat 2 ). Werk des Raphael, ausgeführt vonLorenzettö und gegenwärtig
im Besitz S. Exc. das Herrn Comthur von Breteuil, Gesandter des
Malteser-Ordens beim Heiligen Stuhl 8 )“.
Ein Abguss dieser Gruppe findet sich unter den MengsschenGyps-
abgüssen zu Dresden (Nr. 82) und mit Hülfe desselben können wir
feststellen, dass dieses wirklich die in dem Briefe des Grafen Castigli-
one erwähnte Statue eines Knaben ist. In dem beschreibenden Ver¬
zeichnisse der Gypsabgüsse, welche von den Erben desR.Mengs 4 ) für
das Dresdener Museum erworben wurden, ist diese Gruppe aufge¬
führt als: Putto morto di S. A. R. di Parma (ein todter Knabe
S. K. H. von Parma 5 ). Nach diesem Verzeichnisse sollte sich da«
Original der Gruppe in Neapel 6 ) befinden, wo wir es aber nicht an¬
getroffen haben. Man hat auch ohne jeglichen Grund gesagt, dass
es sich in Turin befinde 1 ). Es ist anzunehmen, dass diese Statue der
erste Versuch Raphael’s in der Bildhauerkunst war, denn in der Ge¬
stalt des Knaben sind durchaus nicht alle Partien von gleicher Aus¬
führung, unter andern die Extremitäten; an einigen Stellen hat auch
der schlecht geführte Meissei zu viel Marmor fortgenommen, z. B.
an der Brust des Knaben, die zwar sehr gut modellirt, deren rechte
Seite aber kleiner geworden ist, als die linke. Es ist zweifelhaft, ob der
Delphin, der in der Bewegung etwas übertrieben ist, genau nach der
Zeichnung Raphael’s ausgeführt worden sei; vielleicht überliess der
*) Passavant (Bd. I. pag. 206) nimmt an, dass der Graf Castiglione selbst dem Ra¬
phael diesen, dem Aelian entnommenen Vorwurf empfohlen habe. Bei Aelian nämlich
liest man, da'ss die Delphine dem Menschen sehr ergeben sind, und dass eines dieser
dem Meere angehörenden Wesen einen todten Knaben an’s Ufer getragen habe. — Ste¬
phani (Compte-Rendu pour l’annee 1864, pag. 207) fuhrt nach einigen Classikern des
Alterthums noch andere Erzählung^p dieser Art an.
3 ) Clarac, Bd. IV, Taf. 647, reproducirt .nach dem Stich von Cavacftppi diese
Gruppe, welche er für eine Antike gehalten zu haben scheint. Clarac’» Text erwähnt
nichts darüber. ^
4 ) Starb 1779.
5 ) Das älteste Verzeichniss der Mengs’schen Sammlung zu Dresden ist vom J. 1783.
Bei No. 82 desselben heisst es: „Ein todter Knabe auf einem Delphin von S. K. H.
von Parma. u * .
•) Das Herzogthum Parma wurde von 1545—1802 durch Fürsten , aus dem Ifaus<
Farnese regiert. Darauf gründet sich wahrscheinlich die Vermuthung Passavant’s.
. T ) S. den alten Catalog der Gypsabgüsse von R. Mengs zu Dresden, redtgirt von
J..G. Matthaei, 1831. .
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219
Letztere diese nebensächliche Partie dem Lorenzetto, welcher in
ihrer Behandlung seiner Phantasie, aber nicht dem so reinen und so
erhabenen Geschmadc des grossen Meisters folgte. J£in anderer
Umstand scheint diese Vermuthung noch zu bestätigen: nämlich,
dass die Ausführung des Delphins in allen ihren Theilen gl^ichmässig
ist, während bei dem Kinde, wie wir schon sagten, die Extremitäten
sehr vernachlässigt sind. Es ist möglich, dass Lorenzetto nicht
wagte, die Hand an diejenigen Theile des Werkes zu legen, die von
Raphael gearbeitet worden waren.
Eine Wiederholung dieser Gruppe in Marmor wurde von dem ver¬
storbenen Gjafen von Bristol, Bischof von Derry, erworben, der sie in
seiner Sammlung zuDown-Hill, in Irland, aufstellen liessj das „Penny-
Magazine 1 ‘ hat eine Abbildung davon mit dem Namen Raphaefs ver¬
öffentlicht. Aber w'ährend sich diese Gruppe im Jahre 1857 auf der
Ausstellung in Manchester befand, wohin sie ihr gegenwärtiger Be¬
sitzer, Sir Henry Bruce gesandt hatte, bewies Herr Professor'Hettner,
Conservator der Mengs’schen Gypsabgüsse in Dresden, dass dies
nur eine Copie sei 8 ). Nicht nur gewahren wir am Marmor nicht die
am Original existirenden beschädigten Stellen, welche man am Dres¬
dener Gypsabguss erkennt, sondern der letztere ist auch von einem
grösseren Maassstab als die Marmorgruppe, welche wir in Man¬
chester gesehen haben 8a ).< < '
Soweit Passavant.
Sehr wichtige Gründe veranlassen uns nun zu glauben, dass sich
Raphaefs verschollenes Werk seit dem Ende des verflossenen Jahr¬
hundert in St/ Petersburg befindet.
Ich hatte bei Dallaway (Anecdots of the arts in England. London
1800, Bd. I, pag. 389) gelesen, dass ein gewisser Herr Lyde Browne,
der zu Wimbledon eine Sammlung antiker Sculpturen besass, die¬
selbe gegen das Jahr 1787 einem Agenten der Kaiserin von Russ¬
land (Catharina II.) für die Summe von 23,000 Pf. Sterl. verkauft habe
und überdies, dass ein im Jahre 1787 gedrucktes Verzeichniss dieser
Sammlung existire.,. *
.•) S. Catalog des K. Museums der Gypsabgüsse zu Dresden. II. Aufl. 1861. pag. 13.
— Ueber die Gruppe zu Manchester sagt W. lÜirger, Tresors d’art, Paris 1865. pag.
^46, 447 : „Und was den durch das Meer getragenen Knaben zu Manchester betrifft, so
,*t es nicht einmal ein sehr schönes Werk; die Zeichnung ist zu kurz und die Ausführung
rund und weich.“
*») Der grösseren Genauigkeit wegen geben wir am Schlüsse der Abhandlung diese
Stelle aus Passavant mit den Noten im Originaltext. f 1
*5*
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220
Gestützt auf diese Angaben (denn es war mir damals hoch nicht
gelungen, das Lyde Browne’sche Verzeichniss aufzufindqn),.sagte ich
in der Vorrede zu meinem Cataloge der antikeir Sculpturen der Ere¬
mitage 1865, 2. AiftL pag. IV, V: „Diese Nachrichten sind sehr
werthvoll j # es geht daraus hervor, dass, mit nur wenigen Ausnah¬
men, sämmtliche antiken Sculpturen, welche früher im Palais von
Zarskoje-Sselo, im Taurischen Palais etc. zerstreut und dann im
Jahr 1850 in dä$ Museum der Eremitage übergeführt waren, aus der,
gegen das Ende des verflossenen Jahrhunderts dufch Herrn'Lyde
Browne in Rom gebildeten Sammlung herstammen. Demnach dürfen
wir auch alle diejenigen antiken Sculpturen des Kaiserlichen Museums,
über deren Herkunft unser Catalog keine Auskunft giebt, auf diese
Sammlung zurückführen. “
Später, im Jahre 1867, war ich so glücklich, in der Bibliothek des
Britischen Museums in London nicht nur einen, sondern sogär zwei
Cataloge der Sammlung Lyde Browne zu finden, welche folgende Titel
tragen:
I. Catalogus veteris aevi varii generis monumentorum quae Cimelli-
archio Lyde Browne Arm. Ant, soc. soc. apud Wimbledon asser-
vantur. 1768. #
II. Catalogo dei piü scelti e preziosi marmi, che si conservano nella
Galleria del Sig r Lyde Browne Cavaliere Inglese a Wimbledon nella
Contea di Surryj raccolti con gran spesa ncl corso di trent* anni,
molti dei quali si ammiravano prima nellc piü celebri gallerie di Roma.
In Londra. 1779. Presso Carlo Rivington.
Von den 260 Nummern, welche der vollständigere italienische
Catalog vom Jahre 1779 enthält, sind bis heute im Museum der Ere¬
mitage, in den Kaiserlichen Palais in Pawlowsk und Gatschina und in
der Akademie der Künste 165 wieder aufgefunden worden 9 ).
Bei Nummer 40, Seite 31 dieses Catalogs, findet sich folgende Be¬
merkung: „Gruppe eines todten Knaben auf dem Rücken eines Del¬
phins, der dessen Haare mit dem Munde erfasst hat. Werk des
Lorenzettö von Bologna, nach einer Zeichnung von Raphael von Ur-
bino, welches zu den besten modernen Sculptur-Werken gehört, da
es von einer staunenswerthen Schönheit ist; früher im Besitz des
Barons von Breteuil, Gesandter des Malteser-Ordens in Rom. Diese
1 •) S. Stephani: Die Antiken*Sammlung von Pawlowsk, 187a, und Parerga archaeol
Bulletin He l’Acacl, des sc. tome XVII. No. 4. pag. 500—512.
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221
Gruppe stellt ein Ereigniss dar, dessen der jüngere Plinius in seinen
Werken gedenkt l0 .“
^Dieselbe Gruppe ist es, welche in dem für dieSculpturen-Abtheilung
der Eremitage bestimmten Reserve-Raum unter folgenden Umstän¬
den wieder aufgefunden wurde:
Als im Jahre 1861 nahe an 80 antike Sculpturwerke aus der Samm¬
lung Campana zu Rom für die Eremitage erworben worden waren,
wurde es nothwendig, der Abtheilung für classische Alterthümer im
Kaiserlichen Museum eine grössere Ausdehnung zu geben. Ich er¬
hielt in Folge dessen die Autorisation, eine bestimmte Anzahl von
antiken und anderen Sculpturen, welche sich seit einer Reihe von
Jahren in dem unbewohnten Taurischen Palais befanden und, aus
mir unbekannten Gründen, der im Iahre 1850 in der neuen Eremitage
gebildeten Sculpturen-Abtheilung nicht einverleibt worden waren, in
die Eremitage überzuführen. Die schönsten dieser, fast alle der
Sammlung Lyde Browne angehörenden Stücke wurden in die neun
Säle der antiken Sculptüren vertheift, die übrigen, — darunter auch die
Gruppe ,,der Knabe auf dem Delphin“, — wurden provisorisch und
bis zu näherer Untersuchung in dem Reserve-Raum der Sculpturen-
• Abtheilung der Eremitage aufbewahrt. Dort hat nun Herr v. Ste¬
phani, Conservator der antiken Abtheilung am Kaiserlichen Museum,
mit Hülfe der in dem italienischen Cataloge von Lyde Browne ent¬
haltenen Angabe die, unter No. 40 dieses Catalogs verzeichnete,
Gruppe wieder aufgefunden.
Aus den von uns angeführten Thatsachen und Beweisstücken er-
giebt fleh:
1) dass die von Cavaceppi in seinem Werke „Raccolta“ etc. er¬
wähnte, und die von Lyde Browne in deih Cataloge von 1779 ver¬
zeichnete Marmorgruppe: „Ein todter Knabe, getragen von einem
Delphin“ eine und dieselbe ist, und dass sowohl Cavaceppi als Lyde
Browne angeben, dass sie von Lorenzetto nach einer Zeichnung von
Raphael gearbeitet worden sei; n )
2) dass diese Gruppe im Iahre 1768 oder vorher von Cavaceppi
restaurirt worden ist. Diese Behauptung stützt sich auf folgende
,0 ) Der in lateinischer Sprache abgefasste und 1768 gedruckte Catalog d6r Sammlung
Lyde Browne erwähnt dieses Werk nicht, ein Beweis dafür, dass es von Lyde Browne
zwischen 1768 und 1^79 erworben wurde.
n ) Es ist wahrscheinlich, dass weder der Eine noch der Andere den Brief des Grafen
Castiglione gekannt hat, welcher den sehr wesentlichen für Raphael in Anspruch
zu nehmenden Antheil an der Ausführung dieses Werkes feststellt.
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222
Beweise: a) das Werk Cavaceppi’s, dessen erster Band die Jahres¬
zahl 1768 trägt, ist betitelt: „Raccolta dantiche statue, busti, bassi
rilievi ed altre sculture rcstaurate da Bartolomeo Cavaceppi, scultore
romano; (Sammlung von- antiken Statuen, Büsten, Basreliefs und an¬
dern Sculpturen, rcstaurirt von Bartolomeo Cavaceppi, Bildhauer zu
Rom.)“ Es folgt hieraus, dass, da dieses Werk nur die.von Cava¬
ceppi restaurirten Sculpturen durch den Stich wieder giebt, von un¬
serer Gruppe dasselbe gilt, wie vo.n den übrigen; b) an der Lyde
Browne’schen, gegenwärtig in der Eremitage befindlichen Gruppe,
hat in der That eine alte Restauration der Extremitäten stattgefun¬
den. (Siehe weiter unten.)
3) dass in demselben Iahre 1768 diese Gruppe aus dem Atelier
Cavaceppi’s in den Besitz des Baron von Breteuil, Comthur des
Malteserordens und dessen Repräsentant beim Heiligen Stuhl über¬
gegangen, oder an ihn zurückgelangt war, da Cavaceppi wörtlich
sagt: , J>rcscntemente posseduta da Sua Ecc. il Sig. Bali de Breteuil
etc. (gegenwärtig im Besitz von Sr. Exc. dem Herrn Comthur von
Breteuil“ 12 );
4) dass in der Zeit zwischen 1768 (in welchem Jahre der erste
Band des Werkes von Cavaceppi gedruckt wurde) und 1779 (welche *
Jahreszahl der italienische Catalog von Lyde Browne trägt), Lyde
Browne von dem Baron Breteuil die Gruppe von Raphael-Lorenzetto
erworben hatte, was aus den Worten des Catalogs hervorgeht: it gia
nel possesso del Barone di Breteuil etc (früher im Besitz des Baron v.
Breteuil etc.)“;
5) dass sich diese Gruppe im Jahre 1779, wie cs der Catc^og be¬
stätigt, in der Sammlung Lyde Browne zu Wimbledon befahd;
6) . dass dieselbe gegen das Iahr 1787 mit der Sammlung Lyde
Browne von der Kaiserin Catharina II angekauft und nach St. Pe¬
tersburg gebracht wurde (S. Dallaway Bd. I., pag. 389).
Alles Dieses in Verbindung mit dem bedeutungsvollen Umstande,
dass die, hinsichtlich der Wiederauffindung des Originals der Raphac-
lischen Marmorgruppc angestellten, sorgfältigsten Nachforschungen
bis Jetzt resultatlos geblieben sind, scheint mehr als genugsam zu be¬
weisen, dass dieses Original wirklich im Kaiserlichen Museum zu St.
Petersburg wieder aufgefunden worden ist. Aber ausser den von unsan-
,? ) Passavant (Bd I, pag. 206) sagt ohne irgend welchen Grund,,^dass Cavaceppi
diese Statue besass (posseda) und an Ilm v Breteuil verkaufte (vendit). Er hat sie nur
restaurirt.
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223
geführten Thatsachen bleibt noch die genaue Uebereinstimmung unse¬
rer Gruppe mit dem Gypsabguss von R. Mengs nachzuweisen, welche
ein Beweismittel von grösstem Werthe für uns ist. Denn wenn
wir einestheils durchaus keinen Grund haben, die Aufrichtigkeit und
die künstlerischen Kenntnisse Cavaceppi’s und Lyde Browne’s in
Zweifel zu ziehen, so steht es anderenteils fest, dass Mengs in seine
Sammlung von Gypsabgüssen nur einen Abguss aufnehmen konnte,
welcher n^ch der von ihm, unzweifelhaft atis guten Gründen, für das
Originalwerk des grossen Meisters gehaltenen Gruppe hergestellt
worden war. »
Diese Uebereinstimmung, beeilen wir uns es zu sagen, ist so
vollständig, wie nur möglich.
Es ist mir vergönnt, in dieser Beziehung den Ausspruch des Herrn
Hofrath Dr. v. Zahn in Dresden anzuführen, welchem Herr v. Ste¬
phani vor Kurzem, als Herr v. Zahn St. Petersburg und die Eremi¬
tage besuchte, unsere Gruppe mit der Bitte zeigte: er möchte der
Eremitage über das Verhältniss, welches nothwendig zwischen der
Gruppe von Lyde Browne und dem Gypsabguss von R. Mengs statt¬
finden müsse, genaue Mittheilung machen.
„Bei meiner Rückkehr — (schreibt Herr Dr. v. Zahn in seinem
Briefe an Herrn v. Stephani d. d. Dresden, den 12. Juni 1872) — fand
ch, dass ich den Abguss des Knaben auf dem Delphin nach Raphael
doch nicht so sicher im Gedächtniss hatte, als ich bei der Be¬
trachtung des Marmors in St. Petersburg geglaubt hatte! Die mir
dort erinnerlichen Abweichungen konnte ich hier doch nicht constati-
ren, ufd ich glaubein derThat, dass unser hiesiger Abguss von Ihrem
Marmor genommen sein wird. Die Differenz in der Behandlung der
Oberfläche erklärt sich daraus, dass wir hier nicht den ersten Abguss
aus einer, über den Marmor gemachten Keilform, sondern den Ab¬
guss eines älteren Gypsabgusses besitzen, dessen Näthe neben denen
der Mengs’schen Form noch deutlich erkennbar sind. Ich füge die
kürzlich aufgenommene Photographie bei, und bemerke, dass die
Maasse unseres Abgusses die nachstehenden sind: von der Zehen¬
spitze auf die Höhe des Knies 0,33 ; von da zur Nasenspitze 0,525;
jedesmqj in gerader Linie gemessen. “ 13 )
Es stimmen nicht nur die von Herrn Dr. v. Zahn angegebenen Maasse
la ) In der neuesten Auflage des Catalogs der Gypsabgüsse im Königl- Museum zu
Dresden (HI. Aufl. 1872), welchen Dr. Hettncr kürzlich veröffentlichte, heisst es schon
(pag. 125, No. 13) : „Delphin, ein verwundetes Kind an das Ufer tragend. Statue von
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mit denen unserer Gruppeauf das Genaueste überein, sondern, wenn
man die Dres“dener Photographie mit derjenigen unserer Marmor¬
gruppe vergleicht, so sieht man, bis zu welchem Grade die Linien
beider Gruppen identisch sind; und überdies sind Zahl und Lage
der Schuppen des Delphins auf der Photographie des Dresdener
Gypsabgusses genau dieselben, wie auf der Marmorgruppe der Ere¬
mitage. u )
Der in so ausserordentlicher Weise hervortretende R^phaeiische
Styl derComposition, die fast antike Schönheit der Linien, die Weich¬
heit des Fleisches, die Feinheit der Modellirung in den Details lassen
dieses Werk als das würdige Gegenstück des „Jonas“ erscheinen, der
von Raphael für die Capelle Agostino Chigi in Santa Maria del
Popolo in Marmor gearbeitet wurde, und lassen Passavants Aus-
sprych (Band I, pag. 206) über den Gypsabdruck zu Dresden durch¬
aus berechtigt erscheinen, wenn er sagt: „Die so natürliche Stellung
des Knaben, der Styl des Kopfes und der Haare, die Form des
Kopfes vom Delphin, welche in jeder Beziehung an die Delphine des
Gemäldes der Galathea erinnern — Alles veranlasst uns zu glauben,
dass dieser Knabe derselbe ist, von dem Castiglione spricht.
Ebenso erkennen wir vollständig die vollkommene Richtigkeit der
Bemerkung Passavants an in Betreff des verfehlten Meisselschlags,
welcher an der rechten Seite der Brust des Knaben zu viel Marmor
fortgenommen habe; das ist ein bei unserer Gruppe sehr sichtbarer
Raphael. Vgl. Vasari VIII, pag. 47, Anm. 1. Lern. Das Original, das lange verschollen
war, befindet sich in der Eremitage zu St. Petersburg; dorthin kam es aus England
durch den Ankauf der Lyde Browne’schen Sammlung. u £
'*) Ein anderer Abguss derselben Gruppe befindet sich zu Rom. Herr v. Nefl; Con-
servator der Gemälde-Abtheilung der Eremitage, theilte mir, gestützt auf das, was er
selbst vor ungefähr fünfzehn Jahren zu Rom erfahren hatte, darüber mit: dass dieser
Gypsabguss A.ngelika Kaufmann zugehört habe, die aber nicht wusste, woher derselbe
stammte, und ihn bei ihrem Tode testamentarisch an Kestner vermachte, welcher später
hannoverscher Gesandter beim Heil. Stuhle war. Nach dem Tode Kestners sei auch
dieser Abguss eine Zeitlang verloren gewesen, dann von Hm. Lotsch, einem deutschen
Bildhauer, wieder gefunden und Vür 6 Scudi käuflich erworben worden. Bei diesem sah
Herr v. Neff den Abguss zum ersten Male i. J. 1857. Erstaunt über die ausserordent¬
liche Schönheit dieses Werkes (obgleich der Gypsabguss an mehreren Stellen beschädigt
und zerbrochen war), liessHr. v. Neff im J. 1860 durch Lotsch darnach eineCopie in Mar¬
mor ausführen. Diese letztere* befindet sich gegenwärtig (im Palais zu Oranienbaum)
im Besitz I. K. H. der Grossfürstin Cathärina Michailowna lind stimmt vollständig mit
unserer Marmorgruppe überein, mit Ausnahme einiger sehr geringfügiger Abweichungen
in den Maassen und in der Zahl der Schuppen des Delphins, was sich leicht durch die
Ausbesserungen erklärt, die bei uem Gypsabguss.zu Rom bewerkstelligt werden mussten,
ehe derselbe dem Bildhauer als Modell dielten konnte.
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Lapsus scalpri . Dagegen gestatten wir uns, unser Bedenken über das
auszusprechen, was derselbe über die nach seiner Meinung sehr ver¬
nachlässigte Ausführung der Extremitäten sagt. Passavant hat sich*
über den sehr wichtigen Umstand nicht Rechenschaft gegeben, dass
die Original-Gruppe des Knaben und des Delphins durch Cavaccppi
gegen das Jahr 1768 restaurirt wurde. Es lässt dies natürlich voraus¬
setzen, dass zu der Zeit, aus welcher der Gypsabguss von R. Mengs
stammt und welche vor das Jahr 1768 zu setzen ist, weil damals das
Original noch einem Herzog oder einer Herzogin von Parma an¬
gehörte, dass zu dieser Zeit die Gruppe an einigen Stellen schon so
beschädigt war, dass eine Restauration (und aller Wahrscheinlichkeit
nach eine zweite Restauration) nothwendig würde. Cavaccppi giebt •
die restaurirten Stellen nicht an; aber ein Blick auf die Gruppe reicht
hin, um die Ueberzeugung zu gewähren, dass es gerade die Extremi¬
täten sind, welche durch ihre isolirte Lage der Verletzung am meisten
ausgesetzt waren: eine Folgerung, welche durch die bei unserer Gruppe
an den Händen und Füssen des Knaben ausgefiihrtc Restauration be¬
stätigt wird. (S. weiter unten.) Heute aber kann es im Hinblick darauf,
dass der Gypsabguss zu Dresden eine schlechte, derjenigen des
Cavaccppi vorhergehende Restauration wiedergiebt, oder dass der
Verfertiger des Gypsabgusscs in Stuck dasjenige ergänzte, was dem
Raphael’schen Original in Marmor etwa fehlte, nicht auffällig er¬
scheinen, dass die so ergänzten Partien des Werkes schwächer ge¬
arbeitet erscheinen, als die übrigen.
Die gegenwärtig im Kaiserlichen Museum der Eremitage befind¬
liche Gruppe: „ein todter Knabe, getragen von einem Delphin,“
ist in Carrarischem Marmor ausgeführt und nach demjenigen Ver¬
fahren polirt, welches in Italien von der Zeit der Renaissance bis zum
Anfang des 19. Jahrhunderts angewandt wurde.
Die Gestalt des Knaben zeigt etwas mehr als natürliche Grösse 15 ).
Die Länge der Gruppe, gemessen von der Spitze der grossen Zehe
am linken Fusse des Knaben bis zum äussersten Ende des Kopfes
vom Delphin beträgt 1,045 M. Von den Restaurationen Cavaceppi’s
sind erhalten: eine Partie des Handgelenkes und der Daumen der
linken Hand, sowie die Mittel-Zehe des rechten Fusses. Die relatif
neuere Verstümmelung der Extremitäten hat eine neue Restauration
der unteren Hälfte des linken Fusses, der grossen Zehe des rechten
,5 ) Passavant Il 3 d. II, pag. 375) schreibt mit Unrecht: „Marmorgruppe in natürlicher
Grösse.“
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Fusses, der vier Finger der linken Hand und des Daumens der rech*
ten Hand nothwendig gemacht. Diese Restaurationen sind durch
Herrn Kusnezow, Bildhauer der Kaiserlichen Eremitage, ausgeführt
worden.
Die Gruppe der Eremitage ist mittelst eines drehbaren Stifts aus
Kupfer aufeinem runden Piedestal aus grauem Marmor aufgestellt. Die
in vergoldeter Bronce ausgeführten Ornamente des Piedestäls, welche
sich schon sehr beschädigt zeigten, sind durch neue, nach demselben
Muster ausgeführte, ersetzt worden. Es ist nicht unwahrscheinlich
dass dieses Piedestal von Anfang an zu der Gruppe gehörte.
Die oben am Eingänge dieses Artikels in Uebersetzung angeführte
Stelle Passavant’s (S. Seite 217, Not. 8.) lautet im Original mit den
Noten wie folgt:
„D’apres le passage de la lettre du Comte Castiglione, que nous
avons publik dans fhistoire de Raphael '), il n’est pas permis de
doutef que Raphael se soit essay£ dans Tart de tailler le marbre et
quil ait execute lui-meme une figure cfenfant en ronde-bosse. Ca-
vaceppi (Raccolta dantiche statue, Roma, 1768, t. ier f pl. 44)
nous donne la gravure d’un enfant blesse ä mort, couche sur le dos
d’un dauphin, qui le porte ä travers les flots. La notice suivante est
ajoutee ä la gravure: „Delfino che riconduce al lido il fanciullo da
lui involontariamente ucciso con una delle sue spine nel condurlo a
solazzo per mare 2 ). Opera di Raflf^ello, eseguita di Lorenzetto, e
presentemente posseduta di Sua Ecc. il sig. Ball de Breteuil, Ambasc.
della sacra religiöne Gerosolimitana presso la Santa Sede“ *). Le
moulage de ce groupe se trouve parmi les platres de Mengs, ä
') Ibid. I pp. 205, 206 — „Desideroancora saperc, s’egli(GiulioRomano) ha piu quel
puttino di marmo di mano di RafTaello, e par quanto si dnria all* ultimo. u Cettc lettre
est dät£e de Mantoue du 8 mai I 523 et adressec par Baldassar Castiglione a messer An¬
drea Piperario. son intendant a Rome (I^ett. Pittor. V, 245). Les 6diteurs de Vasari
(Firenze, Fel. Le Monnier, I852, VIII, 47 No 1) ajoutent: ,,Intorno alla quäle scultura
abbiamo la testimonianza anchc dell’ autore anonimo stampato dal Comolli: L&vordan-
cora in scultura, havendo fatto qualche statua: et una ne ho io veduta in mano di Giulio
Pipi, che rappresenta un putto (ediz del 1790, pag. 76, 77 ). n Mais il lie faut pas
oublier que l’authenticit£ de Tanonyme a 6 t 6 mise tres fortement en question par Passa-
vant , I, 2—3
*) Passavant (I. 206) pense que c’est le Comte Castiglione lui meme qui aurait con-
seill6 a Raphael ce sujet tir6 du livre d’Aelian, oü on lit que les dauphins sont tri*s d6-
vou6s a Phomme, et qu’un de ces 6tres marins porta vers la rive un enfant mort — Ste¬
phani C. R. pour 1864 p. 207 eite encore d’autres hisloires de ce genre, d’apres quel¬
ques auteurs de l’antiquit^.
*) Clarac, Planches IV, pl. 647, donne, d’apr^s la gravure de Cavaceppi, une repro-
duction de ce groupe, qu’il paratt avoir pris pour une sculpture antique- Le texte de Clarac
n’en fait pas mention.
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227
Dresde (No. 82) et, dapres cctte cprcuve, nous pouvons constater
que c’est bien la statuc d’cnfant citee dans la lettre du Comte Castig-
•lione. Dans Tinventairc descriptif des platrcs qui furent acquis des
heritiers de R. Mengs 4 ) pour lc Musee de Dresde, cc groupe cst
decrit de la Sorte: Putto morto de S. A. R. di Parma 5 ). Dapres cet
inventaire, le groupe original devrait se trouver ä Naples 6 ), oü nous
ne l’avons pas rencontrc. On a dit aussi, sans aucun fondement, qu’il
etait VTurin 7 ). On doit supposer gue cette statuc fut le premier
essai de Raphael dans la sculpturc, car toutes les parties de la figure
ne sont point d’une cxccution egale, entre autres les extremites;
dans quelques endroits aüssi, le ciseau, mal dirige, a cnleve trop de
marbre, comme ä la poitrine de Tenfant, trüs bien modelee d’ailleurs,
mais dont le cote droit est devenu plus petit que le gauche. II est
douteux que le dauphin, qui cst d’un mouvement exagere, ait ete
execute exactement d’apres le dessin de Raphael; cclui-ci aurait
abandonne cette partie accessoire ä Lorenzetto, qui la traita suivarit
sa fantaisie, mais non pas selon le goüt si pur et si eleve du grand
maitrc. Une autre circonstancc semble encore confirmer cctte sup-,
Position, c’est que Texecution du dauphin cst egale dans toutes ses
parties, tandis que chez l’enfant, comme nous l’avons dit, les extre¬
mites sont tres negligees. II est possible que Lorenzetto n ait pas.
ose mettre la main aux portions # de l’oeuvre qui avaient ete taillees
par Raphael.
Une röpdtition en marbre de ce groupe fut acquise par feu le
Comte de Bristol, eveque de Derry, qui Tavait fait placer dans sa
collection de Down Hill, cn Irlande. Le Penny Magazine en a publiö
la gravure avec le nom de Raphael. Mais ce groupe ayant figure ä
Texhibition de Manchester en 1857, oü l’avait cnvoyc son proprie-
taire actuel, Sir Henry Bruce, M. le professcur Hettner, conser-
vatcur des plätres de Mengs, k Dresde, a prouve que cc n’etait
qu’une copie 8 ). Non seulemcnt le marbre n’offrc pas les parties en*
dommagees qui existent dans Toriginal, comme on. lc voit dans le
platrc qui est a Dresde, mais encore cc dernier cst d’une dimension
plus grande que le marbre que nous avons vu ä Manchester.“
4 ) Mort en 1779.
6 ) Le plus ancien inventaire de la collection Mengs a Dresde est de l’annec 1783.
L’Indication du No 82 porte: Putto morto sul tfelfino di S. A. R. di I’hrma.
6 ) De 1545 a 1802 le duclie de Parme fut gouverne par des princcs de la maison Far¬
nese. De la, pr.obablement. la su]>position de Passavant.
7 ) V. Pancien cataloguc des plätres deR. Mengs a Dresde. redige par J. G. Matthaei
cn 1831.
•) V. Catalog des K. Museum’s der Gypsabgiisse zu Dresden. II. Aufl. 1861. S. 13.
— A propOs du groupe de Manchester, on lit dansW. Bürger, Tresors d’art, Paris, 1865.
p. 446, 447: „Et quant a l’Enfant marin de Manchester, ce n’est .memc pas une
tres-belle oeuvre; le dessin en est court et l’exöcution ronde et nudle.^
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Die polytechnische Ausstellung in Moshaü
im Jahre 1872.
{Die Kaukasische und die Türkestanische Abtheilung.)
A. I. Die Productionsverhaltnigse des Kaukasus.
Erst seit der vollständigen Besiegung der einheimischen Berg¬
völker durch die russischen Waffen erlangte der Kaukasus seine
gegenwärtige hohe Culturbedeutung nicht nur • für Russland,
sondern auch für Europa. Diese hohe Culturbedeutung aber war
es, welche man in den aufgeklärten und fernsehenden Regierungs¬
kreisen Russlands schon seit Menschenaltem richtig erfasst hatte,
sie war es, welche die russischen Herrscher zu jener bewunderns-
werthen Ausdauer in der Führung jener jahrelangen und beschwer¬
lichen Kriege stählte, welche nothwendig der vollständigen Einver¬
leibung dieser altasiatischen Ländergebiete vorausgehen mussten. Dass
Russland selbst schon während dieser Kriege, ja zum Theil schon
vor der letzten Periode derselben seiner Culturaufgabc gedachte und
letztere zur Geltung zu bringen bestrebt war, beweisen viele Institu¬
tionen, welche noch heute bestehen, und deren Anfänge in die ersten
Decennien unseres Jahrhunderts zurück zu.datiren sind.
Zu diesen Institutionen sind, als einflussübend auf die heutigen
Culturverhältnisse, besonders die 16 deutschen Colonien zu ver¬
zeichnen, deren Gründung theilweise noch in die Regierungs^eit des
* Kaisers Alexander I. zurückreicht, obgleich solche Colonien auch
noch während der Regierung des Kaisers Nikolai I. gegründet
wurden, und sich selbst in den letzten Jahren durch Ansiedelung ein¬
wanderungslustiger Czechen das Bestreben der russischen Regie¬
rung kundgiebt, für das kaukasische Ländergebiet immer neue Cul-
turkräfte zu gewinnen. Und in der Herbeiziehung solcher Cultur-
kräfte liegt in der That die nächste und die dringendste Aufgabe der
russischen Regierung, eine Aufgabe, deren Lösung ihr durch die
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229
reiche^ Naturschätze der kaukasischen Lande erleichtert wird.
Die russische Regierung fördert diese Herbeiziehung durch Ver¬
leihung von culturfähigem Land und durch anderweitige Unter¬
stützung, welche sie den Ansiedlern angedeihen lässt; und wenn auch
heute das „Verschenken“ des Landes weniger an der Tagesordnung
steht, wie in früheren Zeiten, so fehlt es keineswegs an Grund und
Boden, dessen Beschaffenheit und Lage einen lucrativen landwirt¬
schaftlichen Betrieb in Aussicht stellt, und dessen Preis auch heute
noch im Allgemeinen so niedrig steht, dass es möglich wird, sich
mit einem sehr geringen Capitale durch den Betrieb des Landbaues
eine sorgenfreie Zukunft zu sichern. In der Nähe von Tiflis und
anderen grösseren Städten sin.dallerdings die Bodenpreise vetkältniss -
ntässig hoch gestiegen, erscheinen abdr im Vergleiche zu den Prei¬
sen des Bodens in andern Gegenden Russlands noch immer niedrig
genug. Obgleich die von mir erwähnten deutschen Colonien in den
Ersten Decenmen ihres Bestehens mit Widerwärtigkeiten aller Art
zu kämpfen und die ersten Ansiedlergenerationen ein schweres und
opferreiches Leben zu führen hatten, *) so erfreuen sich doch jetzt
diese Colonien eines gesicherten Wohlstandes, und sind in keinem
Falle ohne Einfluss auf die Entwickelung der landwirtschaft¬
lichen und industriellen Verhältnisse des Kaukasus geblieben. In
letzterer Beziehung erinnere ich an die Colonie Tiflis selbst, deren
Bewohner schon zur Zeit ihrer Gründung grösstentheils aus Hand¬
werkern und Gärtnern bestanden, und deren Nachkommen heute
vorzugsweise als die Träger des industriellen Lebens der kaukasischen
Hauptstadt anzusehen sind. Bei Besprechung der Culturverhältnisse
dieses Landes werde ich hoch mehrfach Gelegenheit haben, auf die
Leistungen einzelner dieser ^ Colonien zurück zu kommen und kann
mich daher an diesfer Stelle mit diesen allgemeinen Andeutungen
begnügen. *
Wie im zweiten Hefte der „Russischen Revue“ mitgetheilt
wurde, betrug im Jahre 1870 die Bevölkerung des Kaukasus4,583,640
Individuen beiderlei Geschlechtes, und ist daher die Bevölkerungs¬
zahl im letzten Decennium um ca. V2 Mill. Einwohner oder um beinahe
13 pCt. gestiegen, welche ansehnliche Steigerung eben dem Um¬
stande zuzüschreiben ist, dass im Laufe der letzten Jahre sowohl
aus Russland, als t auch aus dem Auslande eine lebhafte Einwande-
*) Siehe F. Matthäi: Die deutschen Ansiedelungen in Russland. Leipzig 1866
Verlag von Hermann Fries.
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2 30
rung nach dem Kaukasus stattgeftmden hat. Trotz dem gehört
dieses Ländergebiet, wenn von Sibirien abgesehen wird, zu den am
schwächsten bevölkerten Theilen des Russischen Reiches und er¬
reicht die Bevölkerungszähl noch keineswegs die durchschnittliche
des europäischen Russlands, indem letztere 706 Individuen auf die.
□Meile aufweist, während im Kaukasus die durchschnittliche Bevöl¬
kerung nur 577 Individuen per ÜMeile beträgt. Wenn auch dem
Umstande Rechnung getragen werden muss, dass der gebirgige
Character des Kaukasus an und'für sich schon eine geringere Bevöl¬
kerungszahl bedingt, so ist doch, andererseits dieses Land so reich
an noch ungehobenen Naturschätzen aller Art, dass selbst eine dop¬
pelte und dreifache Bevölkerungszahl noch eine vollständig gesicherte
Existenz finden würde und inA Stande sein könnte, selbst mit äusserat
geringen Mitteln in verhältnissmässig kurzer Zeit zu einem nicht ge¬
wöhnlichen Wohlstand sich empor zu arbeiten. Gerade in diesem Um¬
stande liegt ein Theil der von mir oben hervorgehobenen Culturbe-
deutung des Kaukasus, und steht daher auch wohl zu erwarten, dass
die russische Regierung nicht ermüden werde, durch erneuerte Her¬
beiziehung von Culturkräften den Kaukäsus in nicht zu ferner Zeit
in ein blühendes Culturland zu verwandeln.
Schon die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung im Jahre I87o
wies in ihrer kaukasischen Abtheilung eine reiche Sammlung kauka¬
sischer Naturproducte und Industrie-Erzeugnisse auf, Diese Samm¬
lung wurde durch die Moskauer polytechnische Ausstellung noch ver¬
vollständigt. Die nachstehenden Mittheilungen sind das Resultat des
Studiums beider Ausstellungen, deren eine gewissermaassen zur Er¬
gänzung der andern diente. * •
Der ganze Character des Kaukasus deutet darauf hin, dass wir es*
hier mit einem Lande zu thun haben, dessen Bewohner im Grossen
und Ganzen ihre Lebensaufgabe darin zu suchen haben,, die sich
ihnen in reicher Fülle bietenden natürlichen Hülfsquellcn desselben
auszubeuten. Der Kaukasus ist in jeder Beziehung das Land einer
zwar reichen und vielseitigen, doch einer seinem ganzen Culturstande
entsprechenden primitiven Urprodfuction. Auch das industrielle Leben,
soweit sich letzteres überhaupt entwickeln konnte, muss sich diesen Ver¬
hältnissen anschmiegen, sich dieser Urproduction dienstbar machen
und sich nothwendig von dieser letzteren beeinflussen lassen. Nur
wenige und keineswegs ausgedehnte Industriezweige machen hier¬
von eine Ausnahme. Die Grossindustrie, wie wir einer solchen in
so ausgedehnter Weise in Russland begegnen; findet im Kaukasus
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noch keinen Boden, und wenn sich nicht etwa künstliche Einflüsse
geltend machen sollten, was kaum zu erwarten steht und auch nicht
zu wünschen wäre, wird die kaukasische Industrie auch für spätere
Zeiten der Urproduction nachstehen und lediglich in dieser letzteren
ihre Basis finden. Es liegt mir sehr fern, der Industrie des Kaukasus
die Zukunft abzusprechen, im Gegentheil steht zu erwarten, dass ein¬
zelne Zweige derselben zu einer ungewöhnlichen Blüthe gelangen
dürften, immer aber werden sie* und das bleibt in ihrem Interesse
auch zu wünschen, dem Character des Landes treU bleiben, dem. sie
•entsprossen.
Ueber das äusserliche Arrangement der kaukasischen Abtheilung
auf der Moskauer polytechnischen Ausstellung darf ich wohl mit
Stillschweigen hinweggehen und will nur erwähnen, dass sich der
Director des Tifliser Museums, Herr Dr . Radde , der mühevollen Ar¬
beit des Arrangements unterzogen und sein Möglichstes gethan hat,
die ihm gestellte, bei der Ungunst der localen Verhältnisse äusserst
schwierige Aufgabe mit Erfolg zu lösen. Ebensö liegt es mir fern,
in meinem heutigen Berichte die Leser mit allen kleinen Details,
Curiositäten und Specialitäten einzelner Ausstellungsgegenstände
bekannt zu machen. Ich beabsichtige Vielmehr, auf Grundlage des
auf den Ausstellungen von St. Petersburg und Moskau Gebotenen
die allgemeinen Productionsverhältnisse des Kaukasus zü erörtern,
den Reichthum seiner Naturproducte und wirthschaftlichen Hülfs-
quellen darzulegen und schliesslich ein flüchtiges Bild der sich auf
diese letzteren basirenden Industrieverhältnisse zu entwerfen. Ich
werde daher gewissermaassen nur die Elemente des wirthschaft¬
lichen Lebens dieses, seiner geographischenLage nach zwar asiatischen,
in seinem übrigen Character aber schon mehr und mehr europäisir-
ten Gebietes des grossen russischen Reiches in objectiver Weise zu,
schildern suchen, in so weit dies auf Grundlage des von mir oben
erwähnten Materials möglich erscheint.
Man ist gewiss in vollenf Rechte, wenn man den Kaukasus, wie
dies auch schon so vielseitig geschieht, das Land der Zukunft nennt;
denn dass derselbe in mehr denfT einer Beziehung eine grosse
Zukunft hat, ist nicht in Abrede zu stellen und darf um so we¬
niger bezweifelt werden, als auch: schon sein gegenwärtiger Zustand
auf eine ungewöhnlich rasche »Entwickelung hinweist. Die geord¬
nete Administration des Landes, welche von Jahr zu Jahr immer mehr
an Boden gewinnt, und welche das Bestreben kennzeichnet, ihren Ein¬
fluss auch zu Gunsten, der ..productiven Gewerbe zur Geltung zu
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2p
bringen, ist bereits zu einem mächtigen Hebel dieser letzteren ge¬
worden, indem sie ihnen hinsichtlich' ihrer gesicherten Existenz Ga¬
rantien bietet, die über jedem Zweifel erhaben sind. Was dem Kau¬
kasus noch eine besondere Bedeutung giebt, ist der Umstand, dass
er nicht nur in mehr denn einer Beziehung als ein altes Culturland
angesehen werden muss, sondern dass er gegenwärtig, wenn wir von
der Türkei absehen, den fast einzigen neutralen Boden bildet, auf
welchem sich Asien und Europa die Hand reichen und mit einander
wetteifern in der Ausbeutung eines Landes, das, überreich an Na-
turproducten, eine fast unerschöpfliche Quelle werdenden Reich¬
thums in sich verschliesst. Neben dem eingeborenen Bergbewoh¬
ner und den zahlreichen russischen Beamten, Militairs, Kaufleuten,
industriellen und Gutsbesitzern finden wir den deutschen Colonisten,
den französischen Industriellen, den englischen Ingenieur und über-
dem Kaufleute und Unternehmer aller Länder und Zungen und Alle
arbeiten gemeinsam an der Zukunft dieses durch Lage, Klima und
Bodenreichthum so bevorzugten Landes. v
Wenden wir uns zunächst dem Landbaue zu, so finden, wir, dass
derselbe im Kaukasus über grosse Hülfsmittel gebietet, über weit
grössere als andere Theile des ausgedehnten russischen Reiches
und dass unter diesen Hülfsmitteln die grosse Mannigfaltigkeit der
Producte des Land- und Gartenbaues besonders gewichtig in die
Waagschaale fällt. Wir begegnen hier nicht nur allen unseren ge¬
wöhnlichen europäischen Getreidearten, Hülsenfrüchten und Erdge¬
wächsen, wie verschiedenen Gattungen von Weizen, Roggen, Gerste,
Hafer, Bohnen, Erbsen, Linsen, Hirse, Kartoffeln etc., sondern auch
jenen Culturpfianzen, die vorzugsweise nur in südlichen oder ganz
besonders durch Klima- und Bodenreichthum begünstigten Län¬
dern in grösseren Verhältnissen gebaut werden können, wie Kuku¬
ruz (Mais), Reis, Tabak, Krapp (Marena), Sesam etc. Nach den
auf der Moskauer Ausstellung exponirt gewesenen Mustern scheint
der Mais ganz vortrefflich im Kaukasus %u gedeihen, und zeigen die
einzelnen Fruchtkolben eine ganz ausserordentliche Körnerfülle.
Unter diesen Umständen wäre es wünschenswerth, seinen Anbau
noch weiter ausgedehnt zu sehen, als es gegenwärtig der Fall
ist oder vielleicht in Folge der schwachen Landbevölkerung
nur der Fall sein kann. Von gleich grosser, und für die Zukunft
vielleicht von noch grösserer Bedeutung ist der kaukasische Reisbau ,
dessen sich auch bereits, wenn auch nur in beschränktem Verhält¬
nisse, die deutschen Colonisten bemächtigt haben. —Eine sorgfältig
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angelegte und durch nachträgliche Einzeichnungen immer mit der
Zeit fortschreitende Karte der verschiedenartigen Bodenculturen des
Kaukasus nach den Angaben des Directors des Tifliser Acclimatisa-
tionsgartens, Herrn Sitowski, belehrt uns, dass der Reisbau in der
Nähe von Kutaiss und Eriwan sich wohl Bahn gebrochen, seinen
Hauptmittelpunkt aber doch in der Nähe von Schemacha im Lenko-
ranschen Kreise findet. Rothen Reis, wie wir ihn als Spielart eben¬
falls auf der Ausstellung sahen, bauen hauptsächlich deutsche Colo-
nisten in jener Gegend; auch jene Reisart, welche den Namen
Dalai-Lama trägt und deren Anbau ein Minimum von Wasser ver¬
langt, war auf der Ausstellung vertreten.
Von Oelpflanzen werden ausser Flachs, Hanf und Mohn noch be¬
sonders Sesam und Ricinus cultivirt 4 und finden sich letztere auch
wildwachsend im Kaukasus vor, sodass Gelegenheit geboten wird,
sowohl mit Ricinus- als mit Sesamöl einen nicht ganz unbedeutenden •
Exporthandel zu. treiben.
Als Fabrikpflanzen nehmen besonders der Tabak, der für die Fär¬
berei so geschätzte Krapp (Marena) und die Baumwolle unsere volle
Aufmerksamkeit in Anspruch. Der Kaukasische Tabak verdient die
vollste Beachtung und kommt an Qualität dem türkischen sehr nahe,
der auch vorzugsweise hier cultivirt wird. Unter den einheimischen
'Tabakssorten ist es besonders der mingrelische Tabak, der ziemlich
verbreitet und beliebt ist; von türkischen Tabaken wird beson-
ders der trapezuntsche cultivirt. Am Eifrigsten wird der Tabaksbau
im Gouvernement Tiflis, in Kutaiss und in der Umgegend von Dage¬
stan betrieben. In Tiflis, Kutaiss u. a. O. giebt es Tabaksfabriken
welche vorzugsweise einheimischen Tabak zu Rauchtabak, Papiros
(Cigaretten) und Cigarren verarbeiten.
Der Kaukasische Krapp ist seiner intensiven Färbung und seines
reichen Gehaltes an Farbestoff wegen berühmt; die vorzüglichste
Sorte desselben ist unter dem Namen „Marena“ bekannt und bildet
einen sehr bedeutenden Handelsartikel, indem diese Marena nach
Russland (grösstentheils Moskau) und von hier aus selbst, in’s Aus¬
land verkauft wird. Ein Theil dieses kaukasischen Krapps wird
allerdings auch in den russischen Fabriken verarbeitet, und ist es
namentlich die grosse Farbewaarenfabrik von P. Maljutin Söhne
(Moskauer Gouvernement), welche grosse Quantitäten dieser kau¬
kasischen Marena verarbeitet. Die berühmteste Marena wird in der
Nähe von Derbent (Dagestan’sches Gebiet), dann auch im Gouverne¬
ment Tiflis und in der Umgegend von Kuba (Bakuer Gouverne-
16 '
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ment) gewonnen. Besonders die letztere wird ihrer intensiven Fär¬
bung wegen berühmt und geschätzt.
Es unterliegt keinem Zweifel, dass sowohl die kaukasische Tabak¬
ais Krappcultur einer grossen Zukunft entgegengehen, da Klima wie
Bodenverhältnisse beiden landwirtschaftlichen Culturzweigen ausser¬
ordentlich Zusagen. Freilich bedingen auch beide einen grossen
Aufwand an menschlichen Arbeitskräften, welche sich jedoch reich¬
lich durch die hohen Verkaufspreise sowohl des Krapps als des
Tabaks bezahlt machen. So hatte u. A. auf der letzten St. Peters¬
burger Manufactur-Ausstellung ein Fürst llja Abaschidse (Tifliser
Gouvernement) Blättertabak aus trapezuntschen Samen ausgestellt,
den er mit 6—8 Rubel per Pud verkauft, demnach zu einem Preise,
wie solche selbst für die besten bessarabischen Tabake nur in sel¬
tenen Fällen erzielt wird. Es wäre wohl zu wünschen, dass sich den
genannten beiden Culturzweigen recht tüchtige und zahlreiche Ar¬
beitskräfte zuwenden möchten; denn letztere dürften einerseits ihre
gute Rechnung dabei finden, und andererseits würde sich dadurch die
Zahl der exportfähigen Producte Russlands ansehnlich steigern.
Auch an die Einführung der Baun\ivollencultur knüpft man im Kau¬
kasus vielseitige Hoffnungen und sind in der That auf den zwischen den
Flüssen Kur und Arax liegenden Ländereien und im Gouvernement
Kutaiss schon recht gelungene Versuche mit cfer Anlage von Baum¬
wollenplantagen gemacht worden. Es erscheint demnach die Hofl-
nung gerechtfertigt, auch diesem Culturzweige eine weitere Ausdeh-
/ nung zu geben, wenn auch das bisher Geleistete trotz aller Aner¬
kennung, die es verdient, kaum aus dem Bereiche eines grösseren
- Versuches herausgetreten sein dürfte. Unter den kaukasischen
Baumwollenproducenten nimmt Herr J\ N. Morosow eine hervor¬
ragende Stellung ein. Die Pflanzung dieses Herrn*) wurde im Jahre
1867 gegründet und’nahiQ bereits zwei Jahre später einen Flächen¬
raum von 30 Dessjätinen (1277« preuss. Morgen) ein. Sie liegt
im Gouvernement Baku zwischen den Flüssen Kur und Arax. Die
hier gewonnene Baumwolle liefert einen unzweideutigen Beweis
von dem Gedeihen der Baumwollenstaude im Kaukasus,und berech¬
tigt zu der Erwartung, dass es hier gelingen werde, mindestens eine
Baumwolle zu erzielen, welche der indischen an Qualität gleich kommt.
Freilich wird man erst noch gründlichere Erfahrungen sammeln
müssen, als es bis jetzt noch der Fall war, um zu eineip positiven
*) S. Matthäi: Die Industrie Russlands, I, Bd. Leipzig 1872 H. Fries.
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Urtheil in dieser Beziehung zu gelangen. Die Morosow’sche Plan¬
tage beweist mindestens, dass das kaukasische KTima so wie die dor¬
tigen Bodenverhältnisse kein Hinderniss bilden, um ein vollkommen
brauchbares Product zu erzielen. Die 30 Dessjätinen lieferten einen
Ertrag von 300 Pud gereinigter Baumwolle im Werthe von 4500
Rubel. Im Jahre 1870 wurde diese Baumwollenplantage auf 100 Dessjä¬
tinen (425 preuss. Morgen) erweitert. Neben Herrn Morosow sind
als Baumwollenproducenten noch.die Herren J. & A. Ana?ioiu im
Gouvernement Kutai'ss zu nennen, welche ihre Plantage bereits im
Jahre 1860 anlegten und es heute schon zu einem jährlichen Ertrag
von über 1000 Pud Baumwolle gebracht haben. Wenn die Plantagen
der genannten Herrn auch immer noch als Versuch angesehen wer¬
den müssen, so sind diese Versuche doch in grossem ^Rlaassstabe
ausgeführt und lassen erwarten, dass sie bald ein bestimmtes Resul¬
tat hinsichtlich der Möglichkeit, die Baumwollencultur in noch
grösseren Verhältnissen im Kaukasus einzuführen, liefern werden. Im
Interesse der so gross entwickelten russischen Baumwollenindustrie
wäre letzteres jedenfalls zu wünschen, um so mehr, als der Trans¬
port des gewonnenen Productes nach den Centralpunkten dieser
Industrie auf weit geringere Schwierigkeiten stösst und mit weit we¬
niger Unkosten verbunden ist, als z. B. der der bucharischen Baum¬
wolle, welche trotzdem in der russischen Industrie eine vielseitige
Verwendung findet.
Den gleichen Reichthum, den der Kaukasus an Feldproducten
zeigt, zeigt er auch an Gartenproducten und Obst. Alle Gemüse,
welche in den europäischen Gärten cultivirt werden, gedeihen auch
im Kaukasus und treten hierzu noch Melonen und Arbusen, welche
in grossen Massen nicht blos in den Gärten, sondern auch auf den
Feldern gebaut werden. Von Früchten sind es besonders die Pfir¬
siche, Mandeln, Feigen und feineren Birnensorten, welche neben den
gewöhnlichen Fruchtsorten im Kaukasus cultivirt werden. Der Wein-
reicktkum dieses Landes ist besonders beachtenswerth und war der¬
selbe vorzugsweise die Veranlassung, dass die ersten deutschen Co-
lonisten hier ängesiedeit wurden. Nach den Erläuterungen zum land-
wirthschaftlich-statistischen Atlas des europäischen Russland, her¬
ausgegeben vom Kaiserlich russischen Domänenministerium, be¬
ziffert sich die Gesammtprodüetion Russlands an Traubenwein auf
circa 17 Millionen Wedro 1 *), wovon acht Millionen auf das euro-
*) 1 Wedro= 10 Krushki =: 10 Stoof ist gleich: 0,08484 bremer Ohm = '0,08486
frankf. Ohm — 0,04215 engl. Hogshead 1 - 0,12298 franz, Hectoliter =10,08468 hamb.
16*
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päische Russland, neun Millionen Wedro aber auf den Kaukasus ent¬
fallen. Im nördlichen Theile des Kaukasus wächst der beste Wein an
den Ufern de£ Terek und des Kuban, und hat der zwischen den
Städten Kissljar und Mosdok producirte- (circa 3,300,000 Wedro)
einen besonderen Ruf. An und für sich ist der kaukasische Wein von
ganz guter Qualität und könnte auch als Handelsartikel von Bedeu¬
tung sein, würde er einer besseren Kellerwirthschaft unterzogen,
und benutzten die dortigen Weinproducenten anstatt der Weinfässer
nicht Ochsenhäute (Burdjuks) zur Aufbewahrung ihrer Weine, wo¬
durch diese letzteren einen faden und widerlichen Geschmack er¬
halten. Hin und wieder werden diese Burdjuks durch grosse Thonge-
fässe oder Vasen ersetzt; nach den Exemplaren dieser Gefässe,
welche sicfPauf der Moskauer Ausstellung befanden, zu schliessen,
können aber auch sie unmöglich im Stande sein, das anderswo all¬
gemein übliche Weinfass zu ersetzen. Gerade in den Weinbau treiben¬
den Gegenden fehlt es an geeignetem Fassholze; dies ist wohl auch
die Hauptursache, dass man zu den erwähnten Auskunftsmitteln seine
Zuflucht genommen hat. Ehe dieser UebelstancUaber nicht beseitigt
wird, kann kaum daran gedacht werden, für die kaukasischen Weine
ein erweitertes Absatzgebiet zu gewinnen. In Folge desMangels dieses
letzteren sind diese Weine auch sehr billig und werden per Wedro
mit 1 — 3 Rub. bezahlt. Man cultivirt im Kaukasus sehr verschie¬
dene Weinsorten und giebt ihnen auch verschiedene Namen.
Auf der Moskauer Ausstellung war die kaukasische Wein-
cultur durch 40 Exponenten vertreten, und wurden Besonders
die Sulchanow’schen Weine ihres angenehmen Geschmackes
wegen gerühmt. Auf der letzten St. Petersburger Ausstellung
hatten mehrere Colonisten aus der Colonie Helenendorf weisse und
rothe, und aus der Tifliser Colonie ebensolche, ausserdem aber noch
isabellenfarbige, Muscat- und ♦Madeira-Weine etc. ausgestellt. Im
Allgemeinen herrscht der weisse Wein vor. Es unterliegt gar keinem
Zweifel, dass die kaukasische Weinproduction nicht nur hinsichtlich
der Quantität von Bedeutung ist, sondern auch in Bezug auf die Qua¬
lität der Weine Beachtung verdient; bei der gegenwärtigen Keller¬
wirthschaft aber wird sie immer nur eine locale Bedeutung behalten
und an einen weitergehenden Export wird trotz der Billigkeit der
kaukasischem Weine nicht zu denken sein, solange die Weinpro-
duccnten nicht den landesüblichen Burdjuk durch das Weinfass er-
Ohm, =: 0,05635 lübecker Oxhoft — 0,17901 preuss. Eimer = 0,21515 wiener
Eimer.
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setzen. Es sollten daher in dieser Beziehung alle Anstrengungen ge¬
macht werden, denn die Weincultur kann für die Bewohner des Kau¬
kasus eine reich fliessende Quelle des Wohlstandes werden. Bis jetzt
werden kaukasische .Weiae nur höchstens bis Moskau%versendet,
und auch dies nur in kaum nennenswerthem Verhältnisse. .
Obgleich, wie ich eben nachgewiesen habe, der Kaukasus an ei¬
nigen Nutzhölzern, namentlich an solchen, welche sich zur Anfer¬
tigung von Fassdauben verwenden lassen, entschiedenen Mangel lei¬
det, so rangirt dieses Land doch keineswegs unter die holzarmen,
ja es kann sogar, wenigsten^ in Bezug auf einige Districte, als sehr
waldreich bezeichnet werden. Insbesondere sind es die Gebirgs¬
gegenden, welche auch heute noch ausgedehnte Waldungen aufzu- ^
weisen haben, trotz dem, dass im Allgemeinen auch im Kaukasus die
Wälder in einerWeise devastirt werden, dass cs dringend nöthig
erscheint, durch die Gesetzgebung dieser Waldverwüstung Ein¬
halt zu thun. Die Wälder werden meistcntheils noch als herrenloses
Gemeingut angesehen, in welchen Jeder nach Belieben das schlagen
kann, wonach er Verlangen trägt. Der freie Bergbewohner kennt und
liebt in dieser Beziehung keine Einschränkung. Trotz dem ist diese
letztere dringend geboten und dem Vernehmen nach wird auch in
neuester Zeit der Forstschutz mit mehr Strenge und Energie gehand-
habt werden als früher, da man noch den Waldreichthum für uner¬
schöpflich hielt.
Mögen nun auch hinsichtlich der genügenden Quantität von Bau-
undNutzholzZweifel herrschen, so steht es andererseits dochfest, dass
die Qualität der vorhandenen Hölzer, namentlich der sogenannten
Nutzhölzer, eine vortreffliche ist, und dass der Kaukasus auch in
dieser Beziehung noch grosse Reichthümer birgt. Die Mannigfal¬
tigkeit der verschiedenen Waldbäume ist eine ausserordentliche und
namentlich die Moskauer polytechnische Ausstellung war reich an
Mustern der verschiedensten Holzarten. Mögen auch im Allgemeinen
in einzelnen Gegenden verschiedene Buchcnartep dominiren, so be¬
gegnen wir doch im Kaukasus ausser ihnen noch einer grossen Fülle
andererHolzgattungen: von den leichtesten bis zu den schwersten, von
den porösesten bis zu den dichtesten. Die trefflichen kaukasischen
Nussbaumhölzer bilden schon jetzt einen umfassenden Exportar- x
tikel nach den Hafenstädten des Adriatischen und Mittelländischen
Meeres, und die climatischen- und Boden-Verhältnisse des Kau¬
kasus scheinen es zu gestatten, den Nussbaum selbst als Waldbaum
zu benutzen. Bei dem massenhaften Verbrauch, welchen gegenwärtig
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das Nussbaumholz, namentlich in der Tischlerei so wie in der Ge-
wchrfabrication, findet, dürfte die Anlegung von Nussbaumwaldungen-
auch heute noch zu den lucrativsten Unternehmungen gehören. Die
kaukasischen Nussbäume zeichnen sich nicht immer durch gerade
Schäftung aus, im Gegenthcil zeigen einzelne Bäume colossale Aus¬
wüchse oder Knorren, welche jedoch ihrer reichen Äderung und vor¬
züglichen Härte wegen von den Drechslern gesucht und geschätzt
sind. Welche Dimensionen diese Auswüchse annehmen können, das
zeigten einige Exemplare auf der Moskauer Ausstellung. Es fanden
sich dort solche Prachtexemplare im Gewichte von über 3000 Pfund
(38 Pud und 42 Pud), zu welchen man in Europa wohl schwerlich
Seitenstücke finden wird. Uebcrhaupt muss die Vegetationskraft des
kaukasischen Bodens eine ausserordentliche sein, denn auch der
Buchsbaum nimmt hier ganz ungewöhnliche Dimensionen an, und
die Ausstellung zeigte u. A. auch eine man:v; dicke Weinrebe. Unter
den harten Hölzern ist besonders das der Parrotia persica, als eines
der härtesten, zu bezeichnen. Bei einer solchen Mannigfaltigkeit und
einem solchen Reichthum an trefflichen und seltenen Nutzhölzern
erscheint eine rationelle Forstcultur doppelt am Platze zu sein. Der
Kaukasus könnte Europa mit Nutzhölzern versorgen, wie sich solche
vielleicht nur noch in den amerikanischen und australischen Urwäl¬
dern vorfinden. In dieser Beziehung liegt noch eine grosse und
weite Aufgabe vor: Schonung des Vorhandenen, des von dem Forst¬
meister „Natur“ Grossgezogenen und neue, rationelle Cultur, um
die Lücken wieder auszufüllen, welche der sich immer erweiternde
Consuin gerissen hat. Die Lösung dieser Aufgabe im Kaukasus steht
Russland für die nächste Zeit bevor, will es seine Culturmissiön nach
allen Richtungen hin erfüllen.
In einem Gebirgs- und Waldlande, wie der Kaukasus ein solches
ist, findet natürlich auch das Thierreich seine zahlreiche und man¬
nigfache Vertretung. In Ländern, welche nach allen Richtungen
hin der Cultur erschlossen sind, zeigt sich, wenn nicht ganz unge¬
wöhnliche Verhältnisse vorherrschen, eine rasche Abnahme der
Wildbestände, namentlich von Raub wild. Der Kaukasus gehört aber
noch keineswegs zu denCulturländern. Schon aus diesem Grunde ist
es daher erklärlich, dass er noch einen grossen Reichthum an wilden
Thieren aufzuweisen hat Sowohl die St. Petersburger, als die Mos¬
kauer Ausstellung waren daher auch reich an ausgestopften einhei¬
mischen Thieren der verschiedensten Art und an Fellen derselben
vertreten. Die ausgestellt gewesenen Hirsch- und Rehgeweihe be-
•
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weisen, dass die kaukasischen Jäger an diesem edlen Wild noch
eine reiche Ausbeute finden und selbst der Steinbock ist .im kauka¬
sischen Tur mit seinen colossalen Hörnern, wenn auch nicht ge¬
rade zahlreich, doch immerhin noch in den kaukasischen Bergen
vertreten. Auch an wirklichen Raubthieren, Wölfen, Bären, Füchsen
ist der Kaukasus reich, und selbst Tiger und Panther gehören da¬
selbst nicht zu den Seltenheiten. Auf der St. Petersburger Ausstellung
waren nachstehende Felle von PelztTiieren ausgestellt, die aus Eriwan
und Tiflis stammten, daher voraussichtlich Thieren angehörten, v
welche in dem kaukasischen Gebiete erlegt worden waren. Der Eri-
wansche Kriegsgouvemeur hatte ausgestellt: Felle von Mardern,
Füchsen, Wölfen, Fischottern und Panthern; die kaukasische land¬
wirtschaftliche Gesellschaft: solche von Panthern, Tigern, des Tur,
von Hirschen, Fischottern und Füchsen verschiedener Farbe, ausser¬
dem noch Bälge von Schwänen, Pelicanen und Tauchenten. Auch
auf der Moskauer Ausstellung fanden sich dieselben Pelzthiere,
theils in ausgestopften Exemplaren, theils in blossen Fellen vertreten.
Wichtiger als diese wilden Thiere, die nur im negativen Sinne als
Gradmesser der Cultur angesehen werden können, sind die land¬
wirtschaftlichen Haustiere, deren Entwickelung und Veredlung
Hand in Handmiit der Entwickelung der Cultur selbst geht.
Die kaukasische Pferdezucht hat gewissermaassen nur eine locale
Bedeutung. Das kaukasische Pferd ist trotz seiner Gewandtheit und
Ausdauer zu klein, als dass es ausserhalb dieses Landes seine Ver¬
wendung finden könnte. Es ist der Typus des Gebirgspferdes und
als solches unübertrefflich. Seine stählernen Muskeln tragen es eben
so leicht über Bergklüfte und steile Abhänge, wie durch reissende
Gebirgswässer. Jedes andere Pferd Wäre für den Kaukasus nutzlos,
aber ebensowenig entspricht das kaukasische Pferd einer Verwendung
ausserhalb dieses Landes, wenn es sich eben nicht um ein dem Kau¬
kasus ähnliches Gebirgsland handelt. Durch eine ausgewähltc und
rationelle Zucht Hesse sich wohl die Körpergrösso des kaukasischen
Pferdes steigern, es stellt aber zu befürchten, dass dies auf Kosten
seiner sonstigen guten Eigenschaften geschehen würde.
Die Rindviehzucht fängt an, im Kaukasus eine schon mehr hervor¬
ragende Rolle zu spielen und eine gewisse Culturbedeutung zu er¬
langen. Das kaukasische Bergland bietet treffliche, den Alpenweiden
ähnliche Weideplätze und diesen Umstand haben thätige und fern¬
sehende Landwirthe benutzt, um eine Art Schweizer-Alpenwirth-
schaft im Kaukasus einzuführen. Die dortigen Bergweiden sind
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reich an aromatischen Kräutern und bieten ein treffliches Futter für
Milchkühe, welche bei längerem Verweilen auf diesen Weiden nicht
nur eine grosse Menge Milch, sondern auch solche von ganz vor¬
züglicher Qualität geben. Auf diese Verhältnisse haben nun nicht
nur einzelne Landwirthe, sondern auch ganze Gemeinden den Betrieb
ihrer Rindviehzucht basirt und sind in Folge davon zu recht gün¬
stigen und hoffnungsreichen Resultaten gelangt. Die Butter- und
Käsefabrication wird daher im' Kaukasus bereits in einigen Ge¬
genden in grösserem Umfange betrieben. Unter den dortigen Land-
wirthen scheint cs besonders der Baron Kutschenbach gewesen zu
sein, der zuerst den von mir bezeichnetcn Weg betreten, denn er
errichtete schon im Jahre 1865 zu Mamutly im Tifliser Gouvernement
eine Ferme oderMustcrmilchwirthschaft, in welcher er die bedeutende
Zahl von 300 Kühen unterhält, deren Milch er zu Käse verarbeiten
lässt Nach den Angaben des Cataloges der letzten St Petersburger
Manufactur-Ausstellung wurden auf der Baron Kutsche nbach’schen
Ferme im Jahre 1869 bereits 900 Pud Schweizer- und 70 Pud Lim*
burger Käse producirt und ersterer per Pud im Preise von 14 Rbl.,
letzterer im Preise von 16 Rbl. verkauft.—In der deutschen Colonie
Alexanderhilf hat sich eine Käsereigcsellschaft gebildet, welche vor¬
zugsweise Schweizerkäse zu erzeugen .scheint und solchen zu 12 —
13 Rbl. per Pud in St. Petersburg ausgestellt hatte. Auch auf der
Moskauer Ausstellung waren sowohl Baron Kutschenbach als auch
die Gescllschaftskäscrci Alexanderhilf vertreten, und zeichnet sich
der von letzterer ausgestellte Käse, nach dem. Urtheile von
Fachleuten, durch besondern Wohlgeschmack aus. Diese
Käserei hat es bereits ebenfalls zu einer jährlichen Production
von 1000 Pud Käse gebracht. In Moskau war auch Ossetinscher
und Daghestanischer Käse vertreten; letzterer ist eine Nachahmung
des Parmesankäses. — Alles deutet darauf hin, dass die Rindvieh¬
zucht und, auf Grundlage dieser letzteren, die Milchwirtschaft, durch
die climatischen und landwirtschaftlichen Verhältnisse des Kau¬
kasus ausserordentlich begünstigt wird, ui&l cs bleibt daher nur zu
wünschen, dass die hier angeführten Beispiele bald eine recht allge¬
meine Nachahmung finden möchten.
Die Schafzucht wird ebenfalls durch climatische wie Bodenver¬
hältnisse begünstigt. Die trockenen, weit ausgedehnten Bergweiden
eignen sich vorzüglich als Schaftriften und gestatten selbst die Hal¬
tung von Merinoschafen. Leider scheinen diese letzteren noch kei¬
neswegs so verbreitet zu sein, wie sie es verdienen, denn dort, wo
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Schafe gehalten werden, dominirt das Landschaf. Es giebt daselbst
eine Gattung schwarzwolliger Schafe, deren Felle theils als Pelzfutter,
vorzugsweise aber zur Herstellung der landesüblichen Pelzmützen
benutzt werden. Besonders die Lammfelle sind hierzu geschätzt.
Von dieser einen Nutzung abgesehen* welche vom Culturstandpunkte
aus durchaus nicht als ein grosser Vortheil angesehen werden kann,
indem der Benutzung des Felles die Tödtung des Schafes vofaus-
gehen muss, bringt die Haltung der Landschafe wenig Nutzen, indem
Wolle und Fleisch dieser Thiere so billig sind, dass sie die Winter¬
fütterung kaum bezahlt machen. Da trotz* dem die Schafzücht in ver-
hältnissmässig ausgedehnter Weise betrieben wird, namentlich sei¬
tens der deutschen Colonisten und der grösseren Gutsbesitzer, so
würde es sich jedenfalls lohnen, nur solche Schafe zu halten, deren
Wolle zu besseren Preisen verkauft werden kann, wie die der Land¬
schafe. Einen solchen Vortheil.bietet die Merinoschafzucht, welche,
wie gesagt, auch durch die climatischen und Bodenverhältnisse des
. Kaukasus begünstigt wird. Die dortigen Landwirthe könnten sich
daher durch den Betrieb derselben eine sichere und lohnende Rente
schaffen.
Von ausserordentlich grosser Bedeutung ist die kaukasische Sei¬
denraupenzucht. Der Kaukasus zählt zu den reichsten Seidenproduc-
tionsländern der Wel^, und nicht blos seine Rohseiden, sondern auch
. die Grains der Seidenraupen (die Eier des Seidenfalters) finden be¬
reits Absatz nach Deutschland, Italien und Frankreich. Von der für
die Seidenproduction so gefährlichen Seidenraupenkrankheit sind die
kaukasischen Seidenraupen bis jetzt noch glücklicherweise verschont
geblieben, und dies mag wohl die Hauptursache sein, dass die Grains
der dortigen Seidenzuchten im südlichen und westlichen Europa so
geschätzt sind. Die kaukasische Rohseide zeichnet sich durch Glanz,
Elasticität und Festigkeit des Fadens sehr vortheilhaft aus, ohne
durch diese letzte Eigenschaft an Weichheit zu verlieren und bietet
in Folge dessen der Scidcrrindustrie einen ganz vorzüglichen und ge¬
schätzten Rohstoff. Leider harmoniren mit diesen trefflichen na¬
türlichen Eigenschaften der Rohseide keineswegs die kaukasischen
Abhaspelanstalten und Spinnereien, und bedürfen dieselben daher,
um die kaukasische Seidencultur zur vollen Tragweite gelangen zu
lassen, einer eingehenden und umfassenden Verbesserung. In den
letzten Jahren sind einige derartige Etablissements entstanden, die
- derHoffnungRaum geben, dass sich auch hinsichtlich derSeidenabhas-
pelung ein wesentlicher Fortschritt anbahnen werde. So unterhalten die
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Gebrüder Nusnussow im Dorfe Nishnija-Akulisy des Ordubadschen
Kreises (Gouvernement Eriwan) eine schon recht bedeutende Abhas-
pelanstallt, in welcher sie auf 80 Stühlen arbeiten, 120 Arbeiter be¬
schäftigen und 1500 Pud Cocons zu 100—180 Pud Seide im Werthe
von 90,000 Rbl. verarbeiten. Eine in grossem Maassstabe von den
Herren W. Alexejew& Gebrüder Woronin angelegte ähnliche Fabrik,
in welcher auf 440 Stühlen gearbeitet wurde und die 886 Menschen
beschäftigte, brannte ab, und ist seitdem nicht wieder aufgebaut
worden. Im Allgemeinen fehlt es im Kaukasus keineswegs an
solchen Abhaspelanstalterf und Seidenspinnereien, wenn sie auch
sämmtlich mehr oder Weniger nur von sehr geringer Leistungsfä¬
higkeit sind. Das „Jahrbuch des Finanzministeriums“ (Jahrgang 1869)
führt für ganz Russland 137 solcher Abhaspelanstalten auf, von de-
denen 133 auf den Kaukasus und vier auf Podolien entfallen. Das
Gouvernement Tiflis allein zählt 59 solcher Anstalten. Den Werth
der von diesen Etablissements erzielten Fabricate berechnet das
Jahrbuch auf 694,250 Rbl., eine Annahme, die wegen der inzwischen
ansehnlich gesteigerten Rohseidenpreise heute nicht mehr zu¬
treffend ist.
Transkaukasien schliesst alle Bedingungen einer gedeihlichen
Cultur der Seidenraupe in sich. Man findet den Maulbeerbaum hier
fast überall, ja sogar auf bedeutenden Flächen wild wachsend in
den Wäldern Talüschs, Guriens und Imeritiens, so wie an den Ufern
des Kur, im Kreise Schekin. Die Bewohner* Kaukasiens beschäftigen
sich daher sehr vielseitig und mit Vorliebe mit der Zucht der Sei¬
denraupen, da diese Beschäftigung ihren sonstigen Gewohnheiten
zusagt. Man kann die Seidenproduction im Kaukasus auf 30 —
34,000 Pud jährlich schätzen, von welcher Production ungefähr 2/3
ins Ausland, namentlich nach Italien und Frankreich Absatz finden,
während ‘/s in den russischen Fabriken verarbeitet wird. Die Preise
für die Rohseide sind sehr verschieden, selbst in ein und demselben
Jahre. Auf der St. Petersburger Ausstellung vom Jahre 1870 waren
z. B. die Preise von Rohseide mit 180 — 200 Rbl. per Pud notirt,
stiegen jedoch bei einigen Ausstellern bis auf 400 Rbl. Man kann
hieraus die Bedeutung der Seidenraupenzucht für den Kaukasus
ermessen.
Die „Moskauer deutsche Zeitung“ macht in ihren Ausstellungs¬
berichten einige interessante Mittheilungen in Betreff der kauka¬
sischen Seidenzucht. Sie schreibt: „Von grossem Interesse ist, dass
man seit ciroa 10 Jahren im Kaukasus eine neue Art von Seidenraupe,
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nicht bombyx mori, sonderndie Ailanthusraupe, bombyx cynthia, ein¬
geführt hat, welche ausser dem gar nicht hoch genug zu veran¬
schlagenden Vortheile, dass auch sie bis jetzt von der (oben er¬
wähnten) SeidenraupenkraQkheit nicht betroffen wurde, noch den
wesentlichen Vorzug genicsst, dass sie im Freien gezogen werden
kann, sich im Freien verpuppt und dass die Larvenhülle von dem
ausbrechenden Schmetterlinge nicht zerstört wird, sondern dass sich
derselbe durch eine kleine Oeffnung am untern Ende des Cocons
einen Ausweg in der Weise bahnt, dass der zurückbleibende Cocon
zur Gewinnung von Seide noch benutzt werden kann. Zum Futter
dient dieser Raupe auch nicht der gewöhnliche Maulbeerbaum,
dessen Cultur jederzeit mit grösseren oder geringeren Schwierig¬
keiten verknüpft ist, sondern vorzüglich die chinesische Esche,
Ailanthus glandulosa, in beschränkter Anzahl auch Ricinus com¬
munis, Syringa etc. Man hat dabei als einzige Vorsichtsmaassregel
nur die Krone dieser Bäume mit einem Netze zu bedecken, damit
die Seidenraupen nicht von den Vögeln, Bienen, Wespen etc. ange-
fallcn und vernichtet werdetf. Da grosse Anpflanzungen des Ailan-
thusbaumes sich daher im Kaukasus sehr empfehlen würden, knüpft
die „Moskauer Deutsche Zeitung“ an ihre Mittheilungen denWunsch,
die Regierung möge ohne Weiteres Jedem, welchem eine grössere
oder kleinere Strecke Landes zum Anbaue überlassen werde, die •
Bedingung stellen, dass ein bestimmter Theil davon der Cultur des
• Ailanthus und damit der Hebung der Seidencultur gewidmet werde.
Dieser Vorschlag ist jedenfalls im Interesse der kaukasischen Cultur-
verhältnisse sehr gerechtfertigt, und die strenge Ausführung des
selben dürfte wesentlich zur Kräftigung eines der hoffnungsreichsten
Industriezweige jenes Landes beitragen.
Ueberhaupt muss man bedauern, dass in neuerer Zeit seitens der
russischen Regierung im Allgemeinen so wenig für die Hebung der
Seidenraupenzucht geschieht. Doch steht wohl z,u erwarten, dass bei
den organischen Veränderungen, welche im Domänenministerium
bevorstehen, diesem wichtigen und für die Wohlfahrt des Landes
so bedeutungsvollen Culturzweige wieder die volle Aufmerksamkeit
der Regierungskreise sich zuwenden werde. — Ein specielles Ver¬
dienst um die Hebung der Seidenraupenzucht im Kaukasus hat sich
seit einer Reihe von Jahren der oben erwähnte Director des Acclima-
.tisationsgartens in Tiflis, Herr Sitowski, erworben und es an Opfern
und Anstrengungen in dieser Beziehung nicht fehlen lassen.
0
. *
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Was nun die Producte des Mineralreiches anbelangt, so ist auch
an solchen der Kaukasus keineswegs arm. Verschiedenartige Erze und
Mineralien finden sich hier in solchen Quantitäten vor, dass sie einer
theilweise recht schwunghaften Industrie, als Grundlage dienen kön¬
nen. Am wenigsten reich kommen bis jetzt die Eisenerze vor, ob¬
gleich nicht daran zu zweifeln ist, dass sich durch emsige Forschung
neue Eisenerzlager entdecken lassen werden. Auf der Moskauer
Ausstellung begegneten wir Eisenerzen und Schmelzproductert aus
diesen letzteren von dem Eisenhüttenwerke „Tschatak“, welches übri¬
gens das einzige jetzt in Betrieb stehende zu sein scheint, und das
in den letzten Jahren wohl erst wiederum, einer Bearbeitung unter¬
zögen worden ist, da es Skalkowsky in seinen „Tableaux statistiques
de findustrie des mines enRussie en 1868“ als ausser Betrieb stehend
anführt. Heute macht sich das Bedürfniss nach Eisen im Kau¬
kasus noch wenig fühlbar, einmal, weil die Eisenindustrie daselbst,
namentlich der Maschinenbau, noch nicht entwickelt ist, dann aber
auch, weil man mit Leichtigkeit seinen geringen Bedarf an Eisen aus
den südrussischen Hüttenwerken deckön kann. Sollte sich das Be¬
dürfniss steigern, so steht wohl zu erwarten, dass man auch neue, ex¬
ploitationsfähige Eisenlager auffinden wird.
Sehr bedeutend dagegen ist der Reichthum dieses Landes an
, Kupfererzen , die von zum Theil ganz vorzüglicher Qualität sind.
Nach Skalkowsky giebt es im Kaukasus bereits 14 Kupferwerke,
von denen allerdings .drei ausser Betrieb .standen, welche im Jahre
1868 das nicht unbedeutende Quantum von 450,550 Pud Roherz
lieferten, aus welchen 22,314 Pud reines Kupfer (en lingots) und
2i38PudFabricate (en utensiles) gewonnen wurden, so dass demnach
das Roherz.durchschnittlich 5,4°/o reines Kupfer lieferte. Die reich¬
sten Kupferwerke daselbst sind die zu Kedabeksky (10%), zu Ka-
wartsky (8 1 2%), zu Kalarsky (8 l /*°/o) und zu Ssitsimadansky (7 1 2%
reine Kupferausbeutc). Wie sehr sich diese letztere, so wie überhaupt
die Production des Kupferbergbaucs in den letzten Jahren gesteigert
hat, geht daraus hervor, dass im Jahre 1871 aus den Kupferhütten
der Gebrüder Siemens allein (s. u.) 50,000 Pud reines Kupfer in
Broden zum Verkauf nach Nishnij-Nowgorod zur Messe gebracht
worden waren. Auf der polytechnischen Ausstellung zu Moskau
waren Kupferproben der Kupferhütten von Kedobeg und Karebagh
ausgestellt, von denen sich namentlich die der Gebrüder Siemens
durch einen hohen Grad von Reinheit auszeichneten. Nach einer in
Berlin angestellten chemischen Analyse enthalten die Siemens’schen
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Kupfefbrode über gg°/o reines Kupfer. Dieses Kupfer hat sich nicht
nur zum Guss und zu Legirungen ausserordentlich brauchbar er¬
wiesen, sondern auch zur Blechfabrication. Hiervon lieferte ein gleich¬
zeitig ausgestellter Kessel aus Kupferblech einen unzweideutigen
Beweis. Das Siemens’sche Kupfer geht neuerdings grossentheils von
Tiflis aus direct nach England zum Verkauf und nur ein kleiner
Theil wird nach Nishnij-Nowgorod und nach St. Petersburg geliefert.
Das berühmte alte Silberwerk Alagir hatte Proben von Silber und
Blei ausgestellt. Dieses Werk ist das einzige im Kaukasus in Be¬
triebe stehende Silberwerk, und wenn auch seine jährliche Ausbeute
an Silber keine sehr erhebliche ist — im Jahre 1868 bestand die Aus¬
beute aus 262,425 Pud Mineral, aus welchem 12 Pud 15 Pfd. 18 Solot.
reines Silber geschmolzen wurden — so gewinnt sie doch der gleich¬
zeitigen Bleiausbeute wegen an Bedeutung. Im Jahre 1868 betrug
diese letztere 3140 Pud. — Auch Gold wird im Kaukasus gefunden,
doch sind die dortigen Goldseifen sehr wenig reichhaltig, zum Theil
aber auch noch gar nicht genügend erforscht und erprobt. Die kau¬
kasische Goldausbeute bleibt daher vor -der Hand nur eine Anwei¬
sung auf die Zukunft. — Sehr beachtenswerth dagegen ist das kau¬
kasische Kobaltwerk Daschkessansky mit einer jährlichen Ausbeute
von gegen 2 500 Pud reinem Kobalt.
Von grosser Wichtigkeit Ist das kaukasische Steinsalz , welches in
den SteinsalzwerkqnKulpinsky undNachitschewansky gewonnen wird
und nach den.auf der Ausstellung vertreten gewesenen Proben dem
besten Steinsalze an Qualität gleichkommt. Skalkowsky giebt den
Ertrag des erstgenannten Werkes (für 1868) mit 805,697 Pud, den
des letztgenannten mit 468,597 Pud an, so dass demnach über l /s der
Gcsammtausbeute Russlands an Steinsalz (3,727,839 Pud) auf die ge¬
nannten beiden Salzwerke fällt.
An sonstigen nutzbaren Mineralien findet sich im Kaukasus weisser,
grauer, röthlicher und schwarzer Marmor, Alabaster, Jaspis, Achat
und Obsidian, welche Mineralien sämmtlich einen beachtenswerthen
technischen Werth haben, indem sie einen feinen und faltbaren
Schliff annehmen und in Folge dessen auch zur Herstellung von
Vasen, kleinen Schmuckgegenständen und anderen Steinschleifar¬
beiten benutzt werden. In der Nähe vonKutaiss, im Dorfe Okriby, be¬
schäftigen sich z. B. die dortigen Bauern mit der Herstellung solcher
Schleifwaaren, namentlich von Achatgegenständen, und verkaufen die¬
selben zu auffallend billigen Preisen. In Tiflis hat sich ein Herr Perem-
kin dieses Industriezweiges mit Erfolg bemächtigt. Von grosser
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volkswirtschaftlicher Bedeutung sind die kaukasischen Steinkohlen -
lager , von welchen Skalkowsky zwei anfuhrt: die Kubanschen Stein¬
kohlenwerke und die von Karadakhsky. Wenn sich auch dir den
Moment noch kein so grosser Mangel an Holz im Kaukasus fühlbar
macht, dass die Benutzung von Steinkohlen eine unerlässliche Exi¬
stenzbedingung wäre, so dürfte doch auch dort^ die Zeit nicht fern
sein, in welcher^man den Werth der Steinkohlen schätzen wird.
Der Reichthum des Kaukasus an Naphthaquellen ist bekannt. Im
Jahre 1870 standen nach den von dem wissenschaftlichen Comit6
des Bergressorts zusammengestellten Nachweisen in Russland 772
Naphthaquellen im Betriebe und lieferten einen Ertrag von 1,704,455
Pud Naphtha. Wenn auch in neuerer Zeit in einzelnen Wolgagouver¬
nements Na^hthaquellen entdeckt worden sein sollen, so darf
man gleichwohl annehmen, dass die oben angeführte Anzahl
der Quellen dem Kaukasus zugehört. In fünf kaukasischen Ter¬
ritorien und Gouvernements hat man Naphthaquellen entdeckt,
darunter solche von grosser Mächtigkeit. Alle Jahre kommen
noch neu entdeckte hinzu, so dass die Naphthaindustrie ein
sehr bedeutungsvoller Zweig der kaukasischen Production werden
dürfte, wenn sich ihr erst die erforderlichen intellectuellen
Kräfte in genügendem Maasse zuwenden. Am Reichsten zeigen sich
die Quellen im Kubanischen Territorium, wo in Kubako allein im
Jahre 1868 — 975,000 PudNaphtha gewonnen wurden. Diesem Terri¬
torium zunächst steht das Gouvernement Baku, mit einer Production
(1868) von 715,764 Pud, dann folgt das Gebiet Terek mit 26,853
Pud, das Gouvernement Tiflis mit 20000 Pud und endlich das Dag-
hestanscheGebiet mit 15,717 Pud, welche sich auf 6Fundorte verthei¬
len. Das Nephgil, eine Art festes, wachsähnliches Naphtha (Naphtha¬
pech) wird hauptsächlich in der Nähe von Baku auf der Insel Tsche-
golin gegraben, war früher fast werthlos, wird aber in neuerer Zeit
für das Ausland, zur Fabrication von Ceresiri (künstlichem Wachs)
gesucht und ist, wahrscheinlich in Folge hiervon und auch mög¬
licherweise in Folge eingetretenen Arbeitermangels, so theuer ge¬
worden, dass sich sein Export kaum mehr verlohnt. Aehnliches
Nephgil findet sich in Galizien, das bekanntlich ebenfalls reich an
Naphthäquellen ist. Im Ganzen betrug die kaukasische Naphthapro-
duction im Jahre 1868 nach Skalkowsky 1,753,984 Pud, hatte daher
nach den neuesten Erhebungen keine Fortschritte gemacht, indem
1870 gegen 50000 Pud weniger producirt worden sind, was aller¬
dings sehr auffallend erscheinen muss und schwer (wenn nicht mit
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247
dem eingetretenen Arbeitermangel) zu erklären ist. Auf der Moskauer
polytechnischen Ausstellung war dieser Industrie- oder vielmehr Pro-
ductionszweig vorzugsweise durch Naphthaproben der Herrn Ko -
korewMirssojew und der Gebrüder Siemens vertreten, welche letz¬
teren aus ihren dortigen von der Regierung gepachteten Naphtha¬
quellen auch Paraffin erzeugen, und auf diese Weise auch in Russ¬
land eine neue Verwendungsart dieses wichtigen -Naturstoffes ,an¬
bahnen. Die bedeutendsten Industrieetablissements zum Behufe der
Naphthagewinnung sind wohl die von W. A . Kokorew , welche im Jahre
1 857 gegründet, heute eine jährliche Production von 150,000 Pud
Photonephgil im Werthe von 660,000 Rbl. liefern. Auch die A . J.
'Nowossilzoiv sehen Naphthaquellen im kubanschen Gebiete (Taman)
• werden in grossen Maassstabe ausgebeutet und sind von grosser
Wichtigkeit.
Es ist vielfach darüber gestritten worden, ob »der kaukasischen
Naphthaindustrie eine Bedeutung beizulegen sei, an welche sich
grosse Erwartungen für die Zukunft knüpfen. JDass die Naphthain¬
dustrie des Kaukasus eine sehr grosse Zukunft hat, daran ist wohl
nicht zu zweifeln, ebenso wenig daran, dass siph die gegenwärtige
Naphthaausbeute noch bedeutend steigern lässt, da vermuthlich nur
erst ein geringer Theil der kaukasischen Naphthaquellen erschlossen
worden ist. Um diese Zukunft aber anzubahnen, sind grosse Capi¬
talien erforderlich, die sich jedoch bis jetzt diesem Industriezweige
noch nicht in dem Maasse, wie dies wünschenswerth, ja nothwendig
wäre, zugewandt haben. Es ist abzuwarten, wie sich die Zukunft in
dieser Beziehung gestaltet, und ob sie nachholt, was die Gegenwart
versäumt hat. Jedenfalls sind bis auf diase eine , alle Grundbedin¬
gungen vorhanden, um aus der kaukasischen Naphthagewinnung
einen der bedeutungsvollsten Productions- und Industriezweige
Russlands zu machen.
Bevor ich die Aufzählung der Naturerzeugnisse, welche der Kau¬
kasus in so verschwenderischer Fülle bietet, schliesse, muss ich nQch
der dortigen Mineralquellen flüchtig gedenke^, welche ihrer heil¬
kräftigen Wirkung wegen alle Jahre mehr an Bedeutung gewinnen.
Ihre Wasser sind denen von Ems und Kreuznach ähnlich, nur dass
sie noch reicher an Jodverbindungen sind.
Wenden wir uns jetzt dem industriellen Leben des Kaukasus zu,
so ist dieses letztere schon theilweise berührt worden, indem der
Bergbau, die Exploitirung der Naphthaquellen etc. schon zum Be¬
reiche des ersteren gehört. Ein Länd, welches im Allgemeinen noch
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auf einer so niedern (Kulturstufe steht, wie der Kaukasus, wird man
selbstverständlich, auch in Bezug auf die Industrie nicht mit dem
gleichen Maassstabe messen können, mit welchem man Länder von
vorgerückterer wirtschaftlicher Entwickelung misst. Der Kaukasus
ist aber noch ein Land der Urproduction, und je mehr und eifriger
man sich dieser letzteren hingiebt, je weniger wird sich das Be¬
dürfnis geltend machen, seine Kräfte dadurch zu zersplittern, dass
man sie zur Exploitirung von Industriezweigen verwendet, in welchen
letzteren mah unter den obwaltenden Verhältnissen doch nie das
leisten wird, was unter anderen, günstigeren Verhältnissen geleistet
werden kann. Von einer Grossindustrie kann im Allgemeinen nicht
die Rede sein und wenn einige Industriezweige, wie z. B/
die Seidenindustrie, die Gerberei etc. in etwas grösseren Di- #
mensionen betrieben werden, so wird dies durch locale Um¬
stände' bedingt. Dagegen macht die gewerbmässig betriebene
Kleinindustrie, im Gegensätze zur fabrikmässig betriebenen Gross¬
industrie, immerhin, bemerkenswerthe Fortschritte, was wohl
seine Ursache in der verhältnissmässig raschen Bevölkerungs-
zunähme des Kaukasus, so wie darin findet, dass dieses Land zu ei¬
nem Anziehungspunkt auch für Gewerbtreibende verschiedener Art
geworden ist. Die im Kaukasus einheimische und demselben eigen-
thümliche Industrie, welche in mancher Beziehung schon mehr das
allgemeine Interesse fesselt, trägt einen ausgesprochen orientalischen
Character, der sich in Form und Muster der Fabrikate kennzeichnet,
und eben dieser Character dürfte es vorzugsweise sein, welcher den
kaukasischen Industrieerzeugnissen eine gewisse Originalität verleiht
und dieselben in manchen Kreisen gesucht macht.
In Bezug auf die Besprechung der Industrieverhältnisse darf ich
mich daher wohl im Allgemeinen kurz fassen. Ich folge hierbei der
übersichtlichen Einthcilung des Cataloges der St. Petersburger Ma-
nufactur-Ausstellung vom Jahre 187O, und werde mich fragmenta¬
rischer Kürze befleissigen.
Flachs - und Hanfindustrie: Herstellung einfacherGewebe und Hand-
gespinnste. Leinwand in gröberen Gattungen. Industrielle grossen-
theils Russen. Der Hauptsitz die Gouvernements Tiflis, Eriwan und
Jelissawetpol. Hanf: Kutaiss.
Baumwollenindustrie: Ebenfalls ohne Bedeutung. Spinnereien von
geringer Leistungsfähigkeit. Im Jahre 1869 hat G. M. Mirsojew in
Tiflis eine, wie es scheint, grössere Fabrik zur Erzeugung von Baum-
wollenfabricaten verschiedener Art errichtet, deren Fabricate sich
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aber noch keineswegs mit denen russischer Fabriken messen
können. In anderen kleineren Etablissements derselben Stadt werden
baumwollene Tisch- und Handtücher erzeugt. Industrielle: Russen
und Einheimische.
• Die SchafzvoUemndustrie: Dieselbe ist weit mehr entwickelt, *ds
die vorgenannten Industriezweige. Es werden hier wollene Kleider¬
stoffe verschiedener Art, so wie Tuche, letztere selbst theilweise
von ziemlicher Feinheit, fabricirt. Der Sitz dieser Industrie, an
welcher sich Einheimische und Russen betheiligen, ist in Tiflis, Eri¬
wan und Nowobajaset (Eriwan.). Besonders ausgebildet, als einhei¬
mischer, dem Kaukasus speciell angehüriger Industriezweig von Be¬
deutung ist die Teppich fahrication , die in der That, was Muster- und
Farbenzusammenstellung anbelangt, sich als schon weit-mehr ent¬
wickelt zeigt wie andere Zweige des Maiuifacturwcsens. Den
orientalische Character dieser kaukasischen Teppiche hat ihnen einen
gewissen Ruf* verschafft. Das Gebiet von Baku ist der Hauptsitz
dieser Industrie, nicht nur diese Stadt selbst, sondern auch Kuban
und Schuschtscha. Auch in Eriwan giebt es Teppichwebereien von
Bedeutung. Ihre Inhaber sind grossentheils, wenn nicht ausschliesslich,
Träger einheimischer Namen.
Von gleicher Bedeutung ist die Seidciiindiistrit und um so
bedeutungsvoller, als sich in ihr schon ein Uebergang zur
Grossindustrie documentirt. Der grosse Reichthum des Kau¬
kasus an Rohseide bildet Tür die Seidenweberei eine so gesicherte
Grundlage und eine so naturgemässe Basis, dass es in der That
eine kaum zu rechtfertigende Vernachlässigung des eigenen Inte¬
resses sein würde, wenn wir hier nicht wenigstens dem Bestreben
begegneten , einen Industriezweig einzubürgern, der in so ausge¬
sprochener Weise dem Character des Landes entspricht. Der Haupt¬
sitz der Seidenweberei ist die Stadt Schemacha, im Gouvernement
Baku, und hier treffen wir bereits Fabriken, welche sich doch schon
eines Umsatzes bis zu 20,000 Rbl. jährlich erfreuen. Gcgenüberden
russischen Fabriken in Moskau und St. Petersburg ist dies allerdings
ein sehr geringer, unter Zugrundelegung der kaukasischen Ver :
hältnisse aber, ein recht bedeutender Umsatz. Die Hauptfabriken
sind die der. Gebrüder Tarojew, des Herrn Scharajew, und die Fabrik
des einheimischen Industriellen Aga-Mahomet-Ali-hadshi. Sämmt-
liche Fabriken arbeiten nur auf Handstühlen und ihre Eabricatc,
besonders die des letzteren, tragen einen ausgesprochen asiatischen
Character. Der gestreifte persische Canaus ist vorherrschend, besonders
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schön sind aber die seidenen Möbelstoffe im Preise von 1 Rbl. 20^-
I Rbl. 40 Kop. per Arschine, welche sich durch Schwere und Far¬
benfrische auszeichnen. Der letztgenannte Industrielle hatte auf der
St. Petersburger Ausstellung einen Seidenstoff unter dem Namen
Mgw (mobt>) ausgestellt,' und den Preis zu 84V13 Kop. per Arschine*
angegeben. Ueberhaupt stellen sich die Preise für kaukasische Seiden¬
stoffe (auch heute noch) sehr niedrig, und auf der Moskauer Aus¬
stellung fanden sich recht hübsche, waschbare, kleingestreifte Seiden¬
stoffe (Kanaus) zu 1 Rbl. per Arschine. Solche niedrige Preise machen
selbst den Export möglich. Es wäre daher im Interesse des Kau¬
kasus zu wünschen, dass die dortige Seidenindustrie mehr Ausdeh¬
nung gewinnen und bald zur wirklichen Grossindustrie sich heraus¬
bilden möchte.
Posamentierarbeiten werden in den meisten grösseren Städten des
Kaukasus erzeugt, ebenso verschiedene Seiden- und Goldstickereien
auf Tuch und Seidenstoff. Mit der Stickerei, einer Lieblingsbe¬
schäftigung des Orientalen, beschäftigen sich ausschliesslich nur
Einheimische.
Der Producic aus dem Innern des Bodens wurde schon in der ersten
Hälfte dieses Berichtes gedacht, ebenso der Industriezweige, welche
durch erstere hervorgerufen sind. Ich will nur noch der Vollstän¬
digkeit wegen envähnen, dass Ziegelbrennereien in nahezu entspre¬
chendem Verhältnisse in Betrieb stehen,# dass Sandsteinbrüche an¬
deres brauchbares Baumaterial den Baulustigen zur Verfügung
stellen, und dass die Bachmetjew’schc Ccmentfabrik bei Poti einen
söhr brauchbaren Ccment liefert, der, wie die Moskauer Ausstellung
zeigte, zu sehr vielen und verschiedenartigen Cementarbeitcn benutzt
wird. Auch Torf wird im Kaukasus gegraben und als Feuerungs¬
material benutzt.
Die Thomvaarenfabricalion hat einen ziemlich bedeutenden Umfang
gewonnen. Es zeigt das Fabricat nebst originellen, orientalischen
Formen eine gut ausgebrannte Masse . und eine feine, s]?rungfreie
Glasur. Obgleich man sich kaum eines besseren Materials als des
gewöhnlichen Töpferthones zur Herstellung dieser Erzeugnisse be¬
dient, so versteht man es doch, letztere in grosser Mannigfaltigkeit
und von ungewöhnlichem Umfange zu fabriciren. So zeigte die Mos¬
kauer Ausstellung eine Thonvase zur Aufbewahrung von Wein, die
80 Wedro fasste. Der Hauptsitz dieses Industriezweiges scheint Tiflis
und Cutaiss zu sein.
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Holzgeräthschaften werden in vielen Gegenden von den Bauern er¬
zeugt. Die Drechslerei wird stark in Tiflis, Achalzyk und Kutaiss be¬
trieben, und benutzt man die schönen, harten kaukasischen Hölzer
zurHerstellung vonallerhand kleinen Gebrauchsgegenständen, nament¬
lich von Patronenhülsen, Cigarrenspitzen, Pfeifen, der landes¬
üblichen Weinflaschen (Kula) und anderen ähnlichen Erzeugnissen.
Die Fabrication chemischer Präparate und Farbezvaaren liegt noch
darnieder. Man beschränkt sich vielmehr darauf, der russischen In¬
dustrie die Grundstoffe zu liefern. Erwähnung verdient die Alaun¬
fabrik von Sanglinxk, welche ihre Fabricate in Moskau ausgestellt
hatte. Mit der Fabrication von kaukasischem oder persischem Insec-
tenpulver befassen sich die Herren Crist. Reysch, Bichold und Larg£
inTiflis, also nur Ausländer, die voraussichtlich das Renomm£, welches
dieses Pulver im Auslande geniesst, veranlasst hat, die Herstellung des¬
selben zu einem nutzbringenden Gewerbe zu machen. — Apotheker-
waaren, welche speciell der Kaukasus in ziemlicher Mannigfaltigkeit lie¬
fert, hatte in St.Petersburg Herr Kiser aus Tiflis ausgestellt. Auf der Mos¬
kauer Ausstellung begegneten wir einer Collection von 35 verschie¬
denen kaukasischen Arzneipflanzen, deren Aussteller die TifliserKaiserl.
kaukasische medicinische Gesellschaft war. Für die Industrie ist die
Wurzel der kaukasischen Kermek (Stacia latifolia) von Bedeutung,
welche vielseitig in der Gerberei angewandt wird und die 60—70
Gerbstoff enthält.
Die Scifcnfabrication erhebt sich noch nicht zu einem so hervorra¬
genden Industriezweig wie in Russland. Die grössten Seifensiedereien
giebt es in Tiflis. Ebendaselbst befindet sich eine Stcarinkerzenfabri\
des Herrn TamamscheW, die ein recht gutes Fabricat liefert. Die
Fabrication von Wachskerzen scheint, wie in Russland, so auch im
Kaukasus zu den Einnahmen der Eparchieen zu gehören. Die kauka¬
sische Bienenzucht, und in Folge dessen die Wachsproduction ist nicht
ganz ohne Bedeutung.
Ein Industriezweig, der sich rasch entwickelt und schon grössere
Dimensionen angenommen hat, ist di z Leder fabrication. Einheimische
Industrielle befassen sich vorzugsweise mit Fabrication buntfarbiger
Saffians, russische mit der von Juchten und Sohlenleder. Erstere
wird vorzugsweise in Schemacha (Baku), letztere in Alexandropol
(Eriwan) in grösseren Verhältnissen betrieben. Alif der Moskauer
Ausstellung hatten die Herren Gambarow & Comp, in Gori (Gouv.
Tiflis), Karganow & Comp. aus. Wladikawkas und S. Tadastanow
aus Achalzyk treffliches Leder ausgestellt. Das des ersten Expo-
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nenten zeichnete sich durch Weichheit und hohe Qualität aus; das
des letztgenannten wird in grösseren Quantitäten nach derTürkei cx-
portirt. Lamm- und Ziegenleder wird ebenfalls stark verarbeitet,
ebenso solche Felle zum Bchufe der Kürschnerei, zur Anfertigung
von Kleidungsstückeü und grusinischen hohen Mützen. Das Kürsch¬
nerhandwerk wird durch das reichliche Vorhandensein werthvoller
Pelzthiere günstig beeinflusst. Andere Lederarbgitcn, wie: Sättel,
Geschirre u. s. w. werden besonders gut in Tiflis hergestellt, theil-
weise zu sehr billigen Freisen.
Stahl - und liiscnwaaren , namentlich die hierher gehörende Fabri-
cation von blanken Waffen, Säbeln und Dolchklingen iind von Ge¬
wehren verschiedener, Art, insbesondere von langen kaukasischen
Flinten, wie sich solcher die Bergbewohner bedienen, wird im Kau¬
kasus von Alters her stark betrieben, da der Kaukasier stets bewaff¬
net ausgeht. Beide Ausstellungen, sowohl die von St. Petersburg als
die von Moskau, besonders aber die letztere, zeigten daher auch reiche
Sammlungen von Schiesswaffen und blanken Waffen, unter welchen
der kaukasische Knischall, jener lange, halb säbelartige Dolch, oft
mit reicher Silbcreinlage und im Preise zwischen 3 und 60 Rbl. vari-
irend, eine Hauptrolle spielt. Der Hauptsitz dieser Industrie scheint
sich in Tiflis, Achalzyk und Daghestan zu conccntrircn, wo sic nicht
in grossen Fabriken, sondern von einzelnen Meistern ausgeübt wird.
Die kaukasischenDolch- und Säbelklingen zeichnen sich durch Härte,
Klasticität und grosse Widerstandsfähigkeit aus und haben eine ge¬
wisse Berühmtheit erlangt. Die Erzeugung anderer Eisenfabricate,
namentlich zu wirtschaftlichem Gebrauche, scheint vcrhältnissmäs-
sig weit weniger entwickelt zu sein. Dagegen ist die Fabrication
von Mttallge fassen verschiedener Art, insbesondere solcher aus Kupfer ,
ziemlich entwickelt, und namentlich ist das Dorf Laidslii bei Schemacha
der von dort herstammenden Kupfergefässc wegen berühmt. Diese
Gefässe: Kannen, Vasen, Krüge, Platten u. s. w. sind sowohl in-wie
auswendig verzinnt und auf der Verzinnung gravirt, so dass sie auf
dem beinahe silberglänzenden Fond hübsche Darstellungen von Or¬
namenten in einem röthlichen (Kupfer-) Ton zeigen. Die Gefässe
sind sämmtlich im streng orientalischen Character gehalten, und viele
sigd den eleganten altpersischen Formen nachgebildet.
Auf solche Gefässe haben die Museen von Berlin und Stockholm,
sowie auch englische Museen ansehnliche Bestellungen gemaclft. Ich
verweise daher nochmals auf den Ilauptort der Production, auf das
Dorf Laidslii bei Schemacha, Gouvernement Baku. — \C. üIaiiA>KH,
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IlIeMaxHHctaro ydba/ja.) — Ausserdem werden auch noch in Achal-
zyk und in Tiflis ähnliche Kupfergefässe hergestellt.
Die Goldschmiedekunst und Silberwaarenfahricaüon ist, wie in
den meisten orientalischen,Ländern, auch im Kaukasus durch eine.
Menge kleiner Meister und selbst durch schon hervorragendere
Etablissements vertreten. Besonders sind es die Silberfiligranarbeiten
aus Achalzyk von Mctrtiros Nagapetow , Jakob Tuschukow , Chadshi
Kework Basucku. A ., welche sowohl auf der St. Petersburger, als neuer-
, dings auch auf der Moskauer Ausstellung die Aufmerksamkeit der
Besucher durch die Feinheit und Gediegenheit ihrer Ausführung
auf sich lenkten. Emaillirter Goldschmuck, ebenfalls in orientalischer
Form, wird vorzugsweise in Tiflis erzeugt und kann für diese Art
von Schmuck das Etablissement von Grigor Belibekow namhaft ge¬
macht werden. Aber auch die moderne Juwelierkunst, die mit
orientalischem Geschmack nichts zu thun hat, sondern sich mit be¬
sonderer Vorliebe an Pariser Modelle hält, ist im Kaukasus, nament¬
lich in Tiflis, vertreten.
Von musikalischen Instrumenten besitzt der Kaukasus in ein¬
fachen und doppelten Trommeln, Pfeifen und dergl. einige
Eigenarten und hatte die kaukasische öconomische Gesellschaft eine
ganze Sammlung derartiger Specialitäten ausgestellt.
Auf die Fabrication von Genussmitieln übergehend, muss ich zu¬
nächst der Müllerei gedenken, welche sich nicht nur mit der Fabri¬
cation von Mehl, sondern auch mit der von Graupen verschie¬
dener Art und mit der Reisentkörnung befasst. Ein Etablissement
der letztem Art befindet sich u< a. in Lenkoran, in dessen Umgebung
sich, wie Eingangs nachgewiesen, das Centrum des kaukasischen
Reisbaues befindet Makaroni und Wermischel werden in Tiflis
fabricirt. i
Die Fabrication verschiedener Zuckerwaaren, in Zucker eingesottener
Früchte , von Fruchtpastillen und getrockneten Früchten gehört zu den
Specialitäten Kaukasiens. Was diese letzteren anbelangt,so liefertenSul-
chonow inGori, dessen Traubenweine ebenfalls Erwähnung verdienen,
und die deutsche Colonie Hellendorf wohl das Beste in diesem Genre.
Nusskerne, an einem Faden angereiht und durch einen Teig aus Mehl
und Wein gezogen, Tschurtschelli genannt, ist ein kaukasischer
Leckerbissen. Eingekochte Säfte verschiedener Beeren und Früchte,
welche in einer dicken, zähen Masse von trübrother Farbe zum
Verkaufe kommen, aber eben, weil vielerlei Früchte und Beeren da-
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bei zur Verwendung kommen, keinen ausgeprägten Geschmack und
Character haben, kommen unter dem Namen „Tldapi“ zu massen¬
haftem Verbrauche.
Der Weinproduction habe ich unter den Naturproducten bereits
Erwähnung gethan, ebenso der Producte der Milchwirtschaft und der
Tabakfabricate. Ich will schliesslich nur noch hervorheben, dass
auch die Branntweinbrennerei bereits im Kaukasus Boden gewonnen
hat und dass dieser Industriezweig ganz lucrative Resultate in Aus¬
sicht stellen soll.
Werfen wir einen kurzen Rückblick auf die Productionsverhältnisse
des Kaukasus, so muss zunächst die überwiegende Bedeutung der
Rohproduction wiederholt constatirt werden. Mit sehr wenig Aus¬
nahmen (diese werden durch einen kleinen Theil der Metallindustrie
— Waffen- und Goldschmiedekunst — repräsentirt) existirt im Kau¬
kasus kein nur halbwegs entwickelter Industriezweig, der nicht seine
Basis in dieser Urproduction des Landes fände. Dies ist unbedingt
als ein wirtschaftlich sehr gesunder Zustand zu bezeichnen und es
bleibt nur zu wünschen, dass sich nicht auch im Kaukasus dieselben
Einflüsse geltend machen möchten, welche die Basis der russischen In¬
dustrie verdreht und ihr in Folge davon in vielen Zweigen eine falsche
und ihre Existenz schliesslich gefährdende Richtung gegeben haben.
Man überlasse den Kaukasus in wirtschaftlicher Beziehung seiner
natürlichen Entwickelung; es wird sich dann von selbst herausbilden,
was sich zur Geltendmachung der wirtschaftlichen Bedeutung dieses
Latides herausbildert muss. Man hüte sich vor Allem, auf künstlichem
Wege eine Industrie einbürgern zu wollen und sorge dafür, dass der
Kaukasus seinen« Character als Land einer reichen Urproduction be¬
hält. Die Hebung derselben ist das nächste Ziel, welches man im
Auge behalten muss; alles Andere kann man sich selbst und den wirt¬
schaftlichen Kräften überlassen, welche das Land selbst erzeugt oder
welche ihm von Aussen Zuströmen. Dass einZuströmen neuer Cultur-
kräfte erfolgen wird, selbst ohne directeEinflussnahme der russischen
Regierung, steht wohl ausser Zweifel, <ilenn der Kaukasus ist ein
Land der Zukunft, wie es wenige giebt. Jede Unterstützung, welche
man der Landwirtschaft und dem Bergbaue angedeihen lässt, wird
auf einen gesunden Boden fallen und reiche Früchte tragen. Man
hüte sich aber, in die Entwickelung der Industrie einzugreifen oder
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gar derselben eine bestimmte Richtung vorschreiben zu wollen. Sind
erst die natürlichen Hülfsquellen dieses reichen Landes erschlossen,
dann wird sich schon von selbst eine Industrie herausbilden, welche
dem Character des Landes entspricht. In diese greife man nicht
ein; die ganze staatliche Hülfe muss sich auf die Hebung der Ur-
production beschränken und concentriren.
Speciell ist es die Landwirtschaft, welcher die unausgesetzte Auf¬
merksamkeit der Regierung zugewandt werden muss. Vor einigen
Jahren schienen sich in dieser Beziehung Pläne von grosser Tragweite
realisiren zu wollen. Heute ist es weit stiller hiervon geworden und *
beinahe scheint es, als ob das allgemeine Interesse, welches sich eine
Zeit lang dem Kaukasus zugewandt hatte, geringer geworden wäre.
Eine Gesellschaft — so hiess es — sollte sich im Einvernehmen mit
dem Domänenministerium, und gewissermaassen unter dessen Schutz,
bilden, deren Thätigkeit sich vorzugsweise darauf erstrecken sollte, den
Kaukasus in landwirtschaftlicher Beziehung 'äuszubeuten. Man
wollte Ländereien von grösserem Umfange kaufen, auf denselben
Gütercomplexe von geringerer Ausdehnung einrichten und diese
letzteren an Private unter günstigen Zahlungsbedingungen verkaufen.
Wäre diese Idee wirklich zur Ausführung gelangt, so hätte viel
Gutes geschafft und die Landwirtschaft im Kaukasus in der That
gefördert werden können. Diese Gesellschaft würde bei tüchtiger
Leitung im Stande gewesen sein, die Regierung in ihren, auf Beför¬
derung der Landescultur gerichteten Bestrebungen zu unterstützen
und ihr einen Theil jener Arbeit abzunehmen, deren Ausführung ihr
jetzt wohl allein obliegt. Leider kam diese Gesellschaft, wie es
scheint, in Folge der Nichtbetheilgung der finanziellen Kreise nicht
zur Ausführung. Vielleicht wird noch eine Zeit eintreten, welche
derartigen Unternehmungen günstiger ist; bis dahin wird es Sache
der Regierung bleiben, alle Mittel, über welche sie verfugen kann,
zur Ausführung zu bringen, um die Culturentwickelung des Kaukasus
in energischer und nachhaltiger Weise anzubahnen.
In letzterer Beziehung ist schon Vieles geschehen, das für diesen
Zweck von dauerndem Einfluss bleiben wird. So wurden im Jahre 1865
aufKosten der russischen Regierung vonenglischenlngenieuren grosse
Bewässerungsarbeiten begonnen und im Jahre 1868 beendet. Die¬
selben bestehen in einem am Flusse Kur, 25 Werst südlich von Tiflis^
ausgehenden, 18* Werst langen Bewässerungscanal, der in einen von
ihm gebildeten, am Fusse der die Steppe im Norden begrenzenden
Berge liegenden See von 5 Werst Länge und 2 Werst Breite, mündet.
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Von hier aus soll nun die zweite Abtheilung dieses Canals anfangen, s
welche sich zum Fusse der den niedrigsten Theil der Steppe ein-
schliessenden Berge wenden wird. Der ganze Canal wird über 40
Werst lang sein und bewässert 27,000 Dessjätinen Land. Die tech¬
nischen Schwierigkeiten bei der Erbauung der ersten Hälfte waren
nach dem „Kawkas“ nicht unbedeutend; besonders mussten die Ufer
des Kur, wo der Canal abging, befestigt und die Oeffnung selbst
mit 24 eisernen, ebenso leicht zu öffnenden, wie zu schliessenden
Schleusen versehen werden. Die Breite des Canals wechselt von
4! bis 5 Faden, die Tiefe von 2—3 Arschinen; die in jeder Secunde
gelieferte Wassermenge beträgt i ' 2 Cubikfaden = 1183 Wedro. Da
für die Secunde ein Wedro 22 Dessjätinen Ackerland und Wiesen
bewässern kann, so reichen 1185 Wedro hin, dies mit 26,070 Dess¬
jätinen zu thun. Das mittlere Gefälle des Canals beträgt auf die
ersten 15 Werst ungefähr 4 Zoll per Werst; auf der 16. Werst ist
ein zwei Faden hoher Wasserfall eingerichtet. Zur Vertheilung des
Wassers wurden 16 Vertheilungscanäle angelegt, und ihnen parallel,
zur Aufnahme des überflüssigen und des von den berieselten
Feldern abströmenden Wassers, Abzugscanäle. Die Ablassung des
Wassers in diese Vertheilungscanäle besorgen 6 Schleusen. Die
Ges^mmtanlage des Canals kostet 374,000 Rubel, jede Werst des
Hauptcanals 7000, der Nebencanäle 600, ungerechnet der techni¬
schen Aufsichtskosten, die sich auf 30 S der Gesammtarbeitsunkosten
belaufen. Dieses Factum beweist, dass es die Regierung keineswegs
an Anstrengungen und Opfern fehlen lässt, um dem Kaukasus die
Grundbedingungen einer gedeihlichen landwirtschaftlichen Cultur
zu schaffen. *
Hierzu treten noch umfangreiche Chaussee- und selbst Eisenbahn¬
bauten. Wenn erstere auch hauptsächlich den Zweck haben, als
Militärstrassen zu dienen und letztere die Communication überhaupt
und insbesondere den Handel zu fördern, so kommen doch beide
gleichzeitig auch der Landwirtschaft zu Gute, indem sie wesentlich
dazu beitragen, den Verkauf landwirtschaftlicher Erzeugnisse zu
erleichtern.
Jedenfalls stehen der Regierung zur Förderung der Bodencultur
noch andere Mittel zur Verfügung urtd es ist nicht daran zu zweifeln;
dass der beste Wille vorherrscht, sie in Anwendung zu bringen.
Allein in der Anwendung dieser Mittel ist ebenfalls Vprsicht not¬
wendig, denn nuch die Landwirtschaft .soll dem Character
Landes treu bleiben, und sich, diesem entsprechend, nach und nach
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entwickeln. Zwei Dinge sind es besonders, welche Noth thun:
die Beschaffung besserer Culturgeräthschaften und die Veredlung
der kaukasischen Viehzucht, welche in den natürlichen Verhältnissen
des Landes schon jetzt eine recht gesicherte Basis findet. Die
Werkzeuge, welcher sich die einheimischen Landwirthe zur Bear¬
beitung ihrer Felder bedienen, sind noch von der primitivsten Art
und daher auch von ässerst geringer Leistungsfähigkeit. Durch
Anwendung besserer Ackergeräthschaften könnte der Boden zu
einem ungleich höheren Ertrag gebracht werden. Ebenso bringt
die Haltung des einheimischen Viehes in landwirthschaftlicher Be¬
ziehung noch nicht den Vortheil, den solches Vieh zu bieten im
Stande wäre. Man muss daher bessere und nutzbringendere Vieh-
racen dort einzubürgern suchen. In neuerer Zeit fängt man an, der
Viehzucht eine grössere Aufmerksamkeit zuzuwenden, und es kann
als ein erfreulicher Beweis des Fortschrittes angesehen werden, dass
sich z. B. in allerneuester Zeit wiederum eine grössere Käsereige¬
sellschaft gebildet hat, welche sich eine umfassende Käsefabri-
cation zur Aufgabe ihrer Thätigkeit stellt. Ueberhaupt wäre zu
wünschen, dass sich die Association in stärkerer Weise, als es
bisher geschehen ist, der Ausbeutung der landwirtschaftlichen
Hülfsquellen zu bemächtigen bemüht wäre. Die russische Regie¬
rung würde jedenfalls im Culturinteresse des Kaukasus handeln,
wenn sie derartige Unternehmungen nach Kräften förderte und das
Inslebentreten derselben begünstigte. Nicht im Handel, nicht in
der Industrie liegt die Zukunft des Kaukasus, sondern vorzugsweise
in dessen Landwirtschaft und Bergbau. Alles, was zur Förderung
dipser beiden letzteren beiträgt, wird dem ganzen Kaukasus zu Gute
kommen. Concentrirt sich die Thätigkeit der Regierung und der
Privaten auf diese Punkte, dann wird in der That der Kaukasus zu
einem wirtschaftlichen Gehiete von der allergrössten Bedeutung
und zu einem wahren Schatz für Russland werden. *)
7 %
F. Matthäi.
*) Erfreulich ist die soeben hier uin St. Petersburg eintreffende Nachricht des
yKawkas“, dass die baldige Vollendung der Kaukasusbahnen den Unternehmungsgeist
von Neuem angefacht hat. Es sei bereits in Tiflis eine Actiengesellschaft in der Bil¬
dung begriffen, welche den Mineralreichthum des lindes auszubeuten beabsichtige
und hatten auch ausländische Capitalisten den Wunsch ausgesprochen, dahin bezüg¬
liche Nachforschungen anzustöHen, damit man sodann zur sofortigen Verwirklichung
-As ; Unternehmens schreiten kobrtt:
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Das Gouvernement Olonez und seine
Volks-Rhapsoden.
Von
A. Hilferding. )
(Aus dem „ Europäischen Boten“. Jahrgang VH, Buch 3. März 1872.)
Schon längst hegte ich den Wunsch, unseren Norden zu besuchen,
um mir einen Begriff zu verschaffen von seiner Bevölkerung, welche
noch in einem Stadium primitiven Kampfes mit einer rauhen un-
wirthlichen Natur lebt. Besonders lockte mich in das Gouvernement
Olonez das Verlangen, wenigstens einen jener bemerkenswerthen
Rhapsoden zu hören, welche P. N. Rybnikow **) hier gefunden hatte.
Letzterer selbst hatte mich aufgemuntert, diese Reise zu unterneh¬
men und mir Hoffnung gemacht, dass auch nach seinen Arbeiten
eine solche Reise nicht erfolglos bleiben dürfte. In der verbindlich¬
sten Weise hatte er mir practische Rathschläge ertheilt, die auf eine
während eines zehnjährigen Aufenthaltes im Gouvernement Olonez
gesammelte Erfahrung sich stützten. Da ich diesen Sommer über
zwei freie Monate zu verfügen hatte, richtete ich meine Reise so ein,
dass ich diejenigen Oertlichkeiten besuchen konnte, welche mir von
Herrn Rybnikow als die Aufenthaltsorte der besten „Skasitdi“ (Er¬
zähler, Sänger) bezeichnet waren, namentlich die „Setmaja-Guba“
*) Der Verfasser ist io diesem Sommer, als er zum zweiten Male das Gouvernement
Olonez besuchte, in der Stadt fi^argopol am Nervenfieber gestorben. Er gehört zu den
bekanntesten russischen Slawisten. Im J. 1853 erschienen von ihm zwei Bücher: „Ueber
die Beziehungen der slawischen Sprachen zu den verwandten“ und „Die Verwandt¬
schaft der slawischen Sprache mit dem Sanskrit 16 . 1855 erschien die „Geschichte der
baltischen Slawen“, 1856—59 — „Briefe über die Geschichte der Serben und Bul¬
garen'* 1 ’, in zwei Heften, 1859 — die Ergebnisse einer Reise unter dem Titel: ,,Bosnien,
die Herzegowina und das alte Serbien“, 1862 —r , Die Ueberreste der Slawen am süd¬
lichen Ufer des baltischen Meeres“, 1868 — eine Ausgabe seiner Gesammelten Schrif-,
ten, 1870 — „Din allgemeines slawisches Alphabet“ und 1870 „Huss. Sein Verhältnis»
zur rechtgläubigen Kirche.“ v
P. N. Rybnikow hat seinen mehrjährigen Aufenthalt daselbst bis zum Jahre 1567
als Mitglied der Gouvernements-Verwaltung in Petrosawodsk benutzt, * um episene,
und andere Volkslieder zu sammeln, die er 1864 — 67 in vier Bändeil unter dem Tite!“:
„n-fecHH * herausgab.
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%
■ ^59
(Heubucht) und Kishi am unteren Ende der Onega-Halbinscl, Tolwui
auf ihrer nördlichen Seite, das Pudosh'sehe Uferland am Nordost- -
Ufer des Onega-Sees, Ken-Osero im nordöstlichen Winkel des Kreises.
Piidosh und das sogenannte Moschen sehe Gebiet im nordöstlichen
Winkel des Kreises KargopoL Ausserdem, ehe ich in die Sennaja-
Guba hinüberfuhr, machte ich von Petrosawodsk aus einen Abstecher
nach dem Gorskij-Pogost und der Melkaja- Guba; darauf fuhr ich aus
Tolwui nach Powenez und unternahm von dort eine Excursion über
Masselga zum Wyg-Osero und nach Danilaw; zum Ken-Osero fuhr ich
nicht auf dem geraden Wege von Pudosh, sondern über Ssum-Osero
und Wodl-Osero . Diesen langen im Zickzack beschriebenen Weg,
welchen ich in Petrosawodsk am 30. Juni antrat, beendigte ich in
Welsk (im Gouvernement Wologda) am 27. August.
Ich werde mit einiger Ausführlichkeit die Resultate meiner Reise
mittheilen, insofern sie einen Gegenstand berühren, welcher mich
speciell beschäftigt hat — ich meine die epische Volkspoesie. Da
aber das Gouvernement Olonez und insbesondere sein nordöstlicher
Theil überhaupt wenig bekannt sind, so will ich diesen speciellen Be¬
merkungen einige Worte vorausschicken, welche den allgemeinen
Eindruck, den dieses Land auf mich machte, wiedergeben sollen.
Der allgemeine Eindruck — ist ein niederdrückender und zugleich
ein erfreulicher. Erfreulich ist es, den nordrussischen Bauer dieser
Gegend — andere kenne ich nicht und rede von ihnen auch nicht —
zu sehen, ihn selbst für sich; niederdrückend ist aber der Anblick
seiner Lage, in welche ihn die Natur versetzt hat; noch betrübender
ist die Situation, in welcher er sich in Folge einer Reihe von Miss¬
verständnissen befindet. Ich habe kein Volk gesehen, welches gut-
müthiger, ehrlicher und mit mehr natürlichem Verstände und mehr
Lebensweisheit ausgestattet wäre. Der Reisende ist eben so sehr
von seinem freundlichen Entgegenkommen und vonseiner Gastfreund¬
schaft, als von der Abwesenheit jedes Eigennutzes bei ihm in Er¬
staunen gesetzt Selbst der ärmste Bauer, bei dem das Brod zum
Lebensunterhalt nicht ausreicht, selbst der empfängt den Lohn für
einen geleisteten Dienst, welcher oft mit schwerer Mühe und Zeit¬
verlust verbunden ist, als Etwas,« was er nicht erwartet hat und nicht
beansprucht Er setzt sich als Ruderer ins Boot, arbeitet mit dem
Kuder fünfzehn Stunden lang, ohne bis zum Ende seinen guten Hu-
jncfrr oder seine angeborene Neigung zum Scherz zu verlieren. Von
der Mehrzahl des örtlichen Beamtenthums an eine äusserst uncere-
irtonielle (ich wähle einen milden Ausdruck) Behandlung gewöhnt,
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2Ö0
verhält er sich zu derselben mit staunenswerter Herzensgüte und es “
ist an ihm nicht der leiseste Schatten des Misstrauens oder der Miss- ^
gunst gegen unser eins, den Menschen der privilegirten Classe zu k
bemerken, obgleich er es nur mit den am wenigsten anziehenden. a
Exemplaren derselben zu thun hat. Beim ersten Anzeichen einer &
humanen Behandlung, die man ihm angedeihen lässt, blüht er, so zu
sagen, auf, wird freundschaftlich und ist bereit, jeden Dienst zu er-
weisen, ohne dabei jemals in jenen unerträglichen Ton einer ungc- ^
schliffenen, tactlosen Familiarität zu verfallen, von welcher im Westen
der Mann aus dem Volke sich nicht freihalten kann, wenn ein Mensch • 1
aus der gebildeten Schicht der Gesellschaft sich ihm nähern will. ^
Was die materielle öconomische Lage des nordrussischen Bauern be- x.
trifft, so würden zu ihrer Beurtheilung Studien ganz anderer Art er- x
forderlich sein, als diejenigen es waren, denen ich die Zeit während ,t
meiner Reise widmete. Ich beschränke mich daher auf die allge- x,
meinsten Bemerkungen. •
Die materielle Lage des nord-russischen Bauern ist am Onega-See ^
einigermaassen erträglich, weil er hier über ein grosses Wasserbassin
verfügt, das sich in unmittelbarer Verbindung mit dem St. Petersburger
Hafen befindet; mehr dem Norden und Osten zu aber sieht man nur
Wald, Wald und Sumpf und wieder Wald. Die Seen, die in dieser
Gegend ausgestreut sind, dienen nur zum Verkehr der umliegenden
Dörfer. Das Klima ist der Art, dass die Natur hier diejenigen Dinge
versagt, ohne welche wir uns das Leben des russischen Bauern schwer
denken können: er hat weder Kohl noch Buchweizen, weder Gur¬
ken noch Zwiebeln. Hafer, auf die mannigfaltigste Art zubereitet,
macht den hauptsächlichsten Bestandteil seiner Nahrung aus. Hier
fehlt auch das bekannte Vehikel des russischen Volkes — die Telcga • \ I
Auf den sumpfigen Wegen kann dieses Fahrzeug hier nicht fort-
kommen. Die Telega erscheint nur 35 Werst südlich von Ken-
Osero, in der Oschewenschen Wolost, wo der trocknere und frucht¬
barere Theil des Kargopolschen Kreises beginnt. Nördlicher, um
Ken-Osero,Wodl-Osero,Wyg-Osero und im Transonega-Gebiet ( Sa -
oneshje ) wird, was zu transportiren ist, auch im Sommer auf Schlitten
oder auf Schleifen gefahren. Letztere bestehen aus zwei Stangen, deren
vordere Enden am Kummet befestigt werden, während die hinteren
auf der Erde schleifen. Auf diesen beiden Stangen wird hinter dem
Pferde ein Brett befestigt, auf welches man das Gepäck bindet. Die.
Menschen reiten dort, wo sie zu Boote sich nicht bewegen können.
Zum Einfuhren des Getreides von den, den Dörfern nähergelegenen
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Feldern werden zweirädrige Karren gebraucht, welche ungeschickt
zusammengefügte, eher vieleckige als runde hölzerne Räder ohne
Kisenbeschlag haben. Im Vergleich mit diesen Karren erscheint der
in unserem (Petersburger) Gouvernement gebräuchliche finnische
Buuernkarren (Tarätaika) als ein vervollkommnetes Fahrzeug/)
Man kann sich leicht vorstellen, aber schwer in Worten Wieder¬
sehen, welche mühevolle Arbeit die nordische Natur von dem Men¬
schen verlangt. Die Haupt- und einzig lohnenden Arbeiten: Das
Pflügen der Rodeäcker ( der „AVaj“, d. i. Felder, welche auf ausge¬
rodeten Waldstellen angelegt und nach dreijähriger Bestellung un¬
genutzt bleiben) und der Fischfang zur Iierbstzeit sind mit unglaub¬
licher physischer Anstrengung verknüpft. Um aber sein Leben
fristen zu können, muss der Bauer auch nach allen möglichen ander¬
weitigen Erwerbsquellen sich umsehcii: daher beschränkt sich Nie¬
mand allein auf Ackerbau und Fischfang. Der Eine treibt in der
freien Zeit irgend ein Bauernhandwerk, der Andere geht im Winter
als Fuhrmann an das Weisse Meer, im Sommer als Burlak'*) zum Ka¬
nal, der Dritte geht in den Wald Wild schiessen oder fangen u s. w.
Die Frauen und Mädchen sind genöthigt, eben so viel zu arbeiten
wie die Männer. Der Bauer dieser Gegend ist froh und zufrieden,
wenn er bei gemeinschaftlicher Anstrengung aller Mitglieder der Fa¬
milie irgend wie die Abgaben erschwingen kann, ohne dabei Hungers'
zu sterben. So lebt das Volk hier in beständiger Mühsal.
O .
Besonders betrübend ist es, überall einstimmig zu hören und zu¬
gleich die sicheren Anzeichen dafür zu haben, dass das dortige Volk
verarmt, dass seine Lage gegen früher sich verschlimmert. Im Inter¬
esse des Staates begann man unserer nordichen Wälder gegen die
Bauern, welche in ihnen ihre ,,Niwy“ pflügen, zu schützen. Die
*) Es sind niclu allein die Sümpfe, welche den Gebrauch von Rädern an Fahrzeugen in
vielen Gegenden des nördlichen Theiles des Gouvernements Oloncz unmöglich machen,
sondern auch der mit Rollsteinen häufig dicht bedeckte Diluvialhodcn. Wagen mit
regelrechten Rädern sieht man hier nur auf der I.andürasse. Abseits yoii ihr sind die
Räder hier in der Th»t von sehr primitiver Construction. Wir hatten Gelegenheit, an
ihnen zwei Constructionsweisen zu beobachten: die eine bestand in einer, aus einem
Stücke gefertigten Scheibe und repräsentirte also die erste Stufe des Rades. Die zweite
Stufe in der Entwickelung desselben, das ist eine aus zwei oder mehreren Stücken zu-
sammengefügic Scheibe — das Zusammenfugen giebt der Scheibe mehr Dauerhaftigkeit
— haben wir in den erw ähnten Gegenden nicht beobachtet. Wohl aber die dritte Stufe,
wo das Rad aus drei Stücken bestand, die aber nicht eine geschlossene Scheibe bildeten
bei -1er die Speichen jedoch noch fehlten. Anmerkung Jjs Urbcrseizcrs.
’ s *) ..Iturlak“ heisst derjenige, welcher am Ufer gehend vermittelst eines Strickes die
auf dem Kanal befindliche Barke vorwärtszieht. j
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Rodewirthschaft ward als eine unregelmässige, räuberische, barba¬
rische betrachtet Leider hatte man nur vergessen, dass man ohne
dieselbe dort nicht existiren könne, dass nur der frische
Waldboden in jenem Klima eine Ernte giebt, welche die Arbeit belohnt;
dass ferner nur solche Stellen beackert werden, auf denen ein niedriger
Birken- oder Erlenwald wächst, der sonst zu nichts tauglich ist und
dass der werthvolle Wald unberührt bleibt, und zwar aus dem ein¬
fachen Grunde, weil der Boden, auf welchem Föhren und Lärchen
wachsen, zur Aussaat nicht geeignet ist, dass die Waldstellen, welche
die Bauern im Stande sind zu pflügen, eine mikroskopische Grösse
der dortigen unendlichen Waldeseinöden, welche die Dorfschaften in
unserem Norden von einander trennen, ausmachen. Das Staats¬
interessegehe über Alles und das Staatsinteresse verlange den Schutz
der Wälder, hiess es. So wurde denn die Rodewirthschaft der
Bauern in der Weise beschränkt, dass bei der an Ort und Stelle er¬
folgten gewissenhaften und ,,nicht ermüdenden“ Ausführung der ge¬
gebenen Vorschriften die Bevölkerung ganzer Woloste plötzlich ihr
hauptsächliches Existenzmittel sich entzogen sah, und die Bauern
segneten ihr Schicksal, wenn der Vollstrecker der Vorschriften sich
„ermüden“ lies.
Bekanntlich zählen alle Bauern der nördlichen Kreise des Gouver¬
nements Olonez zu den Reichs-Bauern Welche Ordnung bei ihnen
früher war, weiss ich nicht; mit der Einrichtung des Mini¬
steriums der Reichs-Domänen aber kamen sie unter die unmittel¬
bare Vormundschaft der Beamten. Obgleich ihnen alle Formen der
auf Wahl gegründeten Gemeinde-Selbstverwaltung gewährt waren,
so war doch thatsächlich alle Gewalt in die Hände des Bezirks-Chefs
gelegt und die wählbaren Aeltesten und Communalverwaltungen waren
nichts mehr, als die Vollstrecker seiner Befehle. Dadurch sind die
dortigen Bauern in dem Maasse entwöhnt worden, sich um ihre Ge¬
meindeverwaltung zu kümmern, dass sie selbst jetzt, wo die Bevor¬
mundung aüfgehört hat, sich mit zu grossem Misstrauen zu den ihnen
verliehenen Rechten verhalten, den Friedensvermittler wie den
früheren Bezirks-Chef betrachten und ungern Gemeindeämter über¬
nehmen, da sie von denselben nur Plackereien und Verantwortlich¬
keit erwarten. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird eine gan?e Ge¬
neration nothwendig sein, um diese tödtenden Spuren der früheren
Bevormundung zu verwischen.
Kaum giebt es ein Land, wo das Leben dem Menschen mehr ver¬
bittert wäre, wie am Wyg-See: hier versagt ihm dieErde jeden Lohn
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für ihre Bearbeitung; die Saaten erfrieren, der Fische giebt es wenig,
auch eignen sie sich nicht zum Export, das Holz des Waldes kann
nicht geflösst werden, der Ertrag der Jagd kann die Bevölkerung
nicht ernähren, weil dieselbe im Verhältnisse zu ihm zu dicht ist.
Mit einem Worte: hier gilt es, sich unablässig, aber erfolglos, mühen,
um nur die karge Nahrung zu erschwingen. Welcher Trost bleibt
nun dem Menschen bei solchem Leben? Der einzige Trost ist —
die Religion, und in der That zeichnet sich das hiesige Volk durch
besondere Religiosität aus. Was bietet sich aber unserem Blicke?
Kommr man in ein Dorf, so wird inmitten der säubern, hübschen
Häuser der Blick von einer traurigen Ruine betroffen. Im Vorüber¬
gehen entblösseA die Bauern, welche den Reisenden begleiten, ihr
Haupt und kreuzigen sich. — Was ist das für eine Ruine? „Ja, das
war unsere Kapelle, aber es sind zwanzig Jahre zurück, da kam ein
Befehl aus St. Petersburg; es kam auch ein Beamter aus der Gouver¬
nementsstadt, der nahm die Heiligenbilder, versiegelte die Kapelle,
nahm von ihr das Kreuz ab und verbot uns, sie zu berühren.“ — Wo
haltet ihr denn jetzt den Gottesdienst? — „Ja nirgend, Väterchen,
weil jede „Aeusserung“ verboten ist.“ — Ein anderer Bauer, ein
Rechtgläubiger, erläutert, dass in dem Dorfe nur Sektirer leben und
die Obrigkeit strenge darüber wache, dass bei ihnen kein Gottesdienst
gehalten werde.
Ich beschränke mich auf die Wiedergabe dieser allgemeinen Ein¬
drücke und gehe zu dem über, was mich hauptsächlich im Gouver¬
nement Olonez beschäftigte, das ist: zu den Ueberresten der epi¬
schen V olkspoesie. •
Nach einem Besuch jener Provinz, namentlich ihres nördlichen
und östlichen Theiles, ist es nicht schwer, die Ursachen sich zu er¬
klären, welche die Erhaltung der epischen Poesie im Gedächtniss
des Volkes ermöglichten. Dieser Ursachen giebt es zwei und es be¬
durfte ihrer Zusammenwirkung, um die uns vorliegende Thatsache
hervorzurufen: es sind — die Freiheit und die Einöde .
Hier ist das Volk immer frei von der Leibeigenschaft geblieben*.
Sich als freien Menschen fühlend, hat der Bauer des Transonega-
Gebietes sein Gefühl für die in den alten Rhapsodien besungenen
Ideale der freien Kraft nicht eingebüsst. Denn in der That, was hätte
auch von dem Typus des epischen Helden dem Menschen bleiben
können, der sich als Sclaven fühlte?
Ausserdem lebte der freie Bauer des Transonega-Gebietes in einer
Einöde, die ihn vor jenen Einflüssen bewahrte, welche geeignet sind,
•
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diu ursprüngliche epische Poesie zu zersetzen und zu tödten: zu ihm
drang weder die Einquartierung, noch die Fabrikindustrie, auch nicht
die neue Mode; ihn berührte auch kaum die Konntniss der
Schrift *), so« dass sogar jetzt ein Mensch, der lesen und schreiben
kann, unter den Bauern dieses Landes eine sehr seltene Ausnahme
bildet. Auf diese Weise konnten sich hier in voller Kraft jene Ele¬
mente erhalten, welche eine nothwendige Bedingung für die Er¬
haltung der#epischen Poesie sind: die Anhänglichkeit am Alten und
der Glaube an das Wunderbare. Die erstcre ist der Art, dass sic
sogar solche Neuerungen verhindert, deren Nutzen augenscheinlich
ist und die in ganz Russland Eingang gefunden haben. So wird das
Gras nicht mit Sensen, sondern mit „Gorbusclu“ '*) gemäht, nicht
nur dort, wo es bequemer ist, mit ihnen zu mähen, wie zwischen
Bäumen und auf Mooren, sondern auch auf ganz ebenen und guten
Wiesen, obgleich das Mähen mit dieser Art Sense mehr Kraftan¬
strengung und Zeit verlangt. Die mehr entwickelten Bauern ge¬
stehen wohl die Unzweckmässigkeit dieses Verfahrens ein, meinen
aber, es wäre einmal nicht anders möglich, denn,„unsere Grossvätcr
und Väter haben mit der Gorbusclia gemäht,“ — ein Satz-, gegen
welchen der Bauer im Transonega-Gcbiete keinen Einwand gelten,
lässt. Dieselbe Pietät für das Althergebrachte erhält noch die An¬
wendung von Holzschlitten im Sommer, selbst an solchen Orten,
wo de'r IväcTerwagen benutzt werden könnte. Wie es die Vorfahren
thaten, so muss es auch jetzt gethan werden. Die Aufrechtcrhaltung
der alten Sitte ist, wie leicht zu begreifen, eine für die Erhaltung der
alten Ueberlieferungen und Gesänge sehr günstige Bedingung.
Ausserdem halten die Verhältnisse, welche das Leben diese s Volkes
gestalten, in ihrer Gesammtheit jeden solchen Einfluss fern, durch
welchen bei ihm die Naivctät der überlieferten Anschauungen ge¬
schwächt werden könnte. Ohne Glauben an das Wunderbare ist für
die epische Poesie ein natürliches, unmittelbares Leben nicht möglich.
Sobald ein Mensch einen Zweifel darüber hegen kann, dass ein Boga-
Si ) Die Kcnntniss des Lesens und Schreibens fanden wir im nöidlichcn Theile mein
als wir erwarteten, namentlich in den von Seclirem bewohnten Dorhchaften Die Be¬
merkung des Verfassers ist gewiss zutreffend fUr die ru ssificirten Karclen. Anmerkung
des Vebcrsctzers.'
**) Sie haben die Form eines £ ; ihr Stock ist auch kürzer als bei der gewöhnlichen
Sense. Der Mäher bückt sich bei jedem Schlage, indem er rasch hintereinander nach
rechts und nach links ausliult. Die ..Gorbu>chi k * sind auch im \\ olugdascheu uudArchaii-
gelschcn Gouvernement gebräuchlich und eignen sich für den unebnen Boden. Ucb.
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tyr*) (Held)reine Keule von vierzigPud Gewicht zu tragen, oder allein
dn ganzes Heer zu vernichten im Stande sd, — dann ist die epische
Poesie in ihm ertödtet. Eine Menge von Anzeichen hat mich über¬
zeugt, dass der Bauer des russischen Nordens, welcher „Byliny“
singt, sowie die Mehrzahl seiner Zuhörer unbedingt an die Wahrheit
der Wunder glauben, welche in den „Byliny“ geschildert werden. Ich
kann mich auch lebhaft meiner Ueberfahrt vom Sum-Osero zum
Wodf-Osero erinnern: mich begleitete der'schon Herrn Rybnikow
bekannte Rhapsode (Skasitel) Andrej Ssqrokiri, welcher vor langer
Weile die umfassende Bylina von den einundvierzig „Kaliki“(Pilgrime,
Vaganten) zu singen begann. Zwischen ihm und mir ritt der Eigen¬
tümer des von mir bestiegenen Pferdes, welcher niemals jenen Ge-
sang gehört hatte. Er begleitete denselben beständig mit seinen Beirier-
kungen. „Ach, dieses schändliche Weib“ wiederholte er mehrmals,
als er hörte, wie die Fürstin Opraksija den Anführer der Kaliki zur
Sünde lockt. „Welch ein Missgeschick!“ rief er aus, als beim An¬
führer in der Sacktasche die von der rachsüchtigen Fürstin dahin ge¬
legte fürstliche Silberschale sich vorfand und der Anführer sich selbst
zum grausamen Tode verurtheilen musste. „Das ist ja prächtig,
in der That!“ schloss er, als der Sänger davon sang, wie der heilige
Nikola von Moshaisk dem Anführer „die raschen Beine und die
weissen Hände anlegt, die klaren Augen und die Zunge einlegt,
und in die weisse Brust den Athem einhaucht.“
Mit einem Worte, mein Begleiter hörte die ganze Bylina mit
vollem Glauben an di t Wirklichkeit des in ihr Erzählten an, als han¬
dele es sich um ein Ereigniss des gestrigen Tages, welches wohl
ausserordentlich und Erstaunen erregend, dennoch aber vollständig
glaubwürdig sei. Zu derselben Beobachtung bot sich mir wiederholt
Gelegenheit. Zuweilen lässt selbst der Sänger der Bylina, wenn man
ihn dieselbe, des Nachschreibens wegen, mit Pausen singen
heisst, seinen Commentar einfliessen, und diese Erläuterungen
zeigen davon, dass er mit seinen Gedanken ganz in der von ihm
besungenen Welt lebt. So, zum Beispiel, begleitete Nikifor Pro-
*} Das Wort ,,bogatyr u — tioraTbipb tritt, wie der Präsident der hiesigen Philologi¬
schen Gesellschaft in einer ihrer Sitzungen einmal nachwies, in russischen Schriftdenk¬
mälern nicht vor der Mongolenzeit auf. Es ist unzweifelhaft asiatischen Ursprungs.
Obgleich es bei den Mongolen und Türken vorkommt, scheint es doch eher arischen
Ursprungs zu sein. Vor Kurzem hat ein hiesiger Gelehrter gesprächsweise geäussert
es könnte auf ein ,,Bagha-puthra u , Göttersohn, zurückzuführen sein, Anmerkung
des Uebersetzers.
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chorow die Ereignisse, welche von ihm in der Bylina von Michailo
Pötyk beschrieben wurden, piit Bemerkungen, als: „wie dünkt es
Euch, Brüder, drei Monate unter der Erde zu leben!“ oder „seb
mal Einer die unreine Schlange, sie denkt noch an List,“ oder: „kann
man sich vorstellen, dass ein Weib so verschmitzt ist“ u. s. w. Wenn
Von Seiten eines Anwesenden, der ein Schriftkundiger ist, ein Zweifel
an der Wahrhaftigkeit des in der Bylina Besungenen geäussert wird,
dann hilft sich der Rhapsode mit der sehr einfachen Erklärung: „vor
Alters waren ja die'Leute ganz anders als jetzt“ Nur von zwei
Rhapsoden hörte ich Aeusserungen eines gewissen Unglaubens.
Beide sind nicht bloss schriftkundig, sondern auch Vorleser in der
Kirche? der Eine von ihnen hat das Sectenwesen verlassen» der An¬
dere ist unlängst „Altgläubiger“ geworden. Beide sagten mir, es falle
ihnen schwer zu glauben, dass die „Bogatyri“ in Wirklichkeit die
Kraft besessen hätten, welche ihnen in den Byliny zugeschrieben
wird, als ob z. B. Ilja von Murom mit einem Male vierzig Tausend
Räuber hätte erschlagen können, dass sie das nur deshalb sängen
weil sie es vön ihren Vätern gehört. Doch diese Skeptiker sind nur
seltene Ausnahmen.
Die grosseMehrzahl lebt noch vollständig unter derHerrschaft der epi¬
schen Weltanschauung.^ Daher ist es nicht auffallend, dass an vielen
Orten dieses Landes die epische Poesie noch als reiche Quelle fliesst.
Ich hatte durchaus nicht erwartet, in dieser Beziehung eine so
reiche Ernte zu halten. In Anbetracht dessen, dass die Sammlung
des Herrn Rybnikow die Frücht eines vieljährigen Aufenthaltes im
Lande war, rechnete ich, da ich nur über zwei Monate zu verfugen
hatte, Anfangs gar nicht darauf, diese Sammlung wesentlich ver¬
vollständigen zu können, und beabsichtigte bloss, mein Interesse an
unserer epischen Volkspoesie durch persönliche Bekanntschaft mit
einigen Rhapsoden zu befriedigen. Indessen sah ich mich, jn Folge
günstiger Umstände, bald genöthigt, aus einem Touristen einSammler
zu werden. In Petrosawodsk hatte man mir einen blinden greisen,
Bauern, der, um Einkäufe zu machen, dorthin gekommen war, vor¬
geführt. Anfangs gestand er ungern* dass er irgend welche alte Ge-.
sänge (Stariny) kenne, weil aber sein Weg nach Hause in dieselbe
Gegend fiihfrte, wohin ich mich begab, so willigte er ein, sich zu
mir ins Boot su setzen. Unterwegs Hess er sich von mir erbitten,
seine Stariny zu singen, und der alte Ijew Jeremejew begann die
schöne Bylina von der Verwandlung des Dobrynja unter dem Zauber
unserer russischen Circe, Marjanka*.
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Otaa CTajia — to ÄoöpMHKuiiKy oöBepTMBaTn:
06aepHyjia — to ÄoöpuHio aa copoKoio,
OÖBepHyjia — to ÄoöpwHio Aa BopoHoio,
OöaepHyjia — to ÄoöpbiHio CBHHbeio,
OöBepHyjia — to ^oöpbimouacy rH^AUMT» TypoMi»:
Poäjüi y Typa Aa bi> soaoth,
Hoäjcel y Typa 4a wh cepeöpn,
IIIepcTb na Typ^ Aa pbiÄa öapxaTy *).
Eine andere Redaction dieser Bylina, die eben so vollständig und
deren Ausdrucksweise ebenso archaistisch wäre, habe ich nicht Gele¬
genheit gehabt zu hören, und.der Eindruck, unter.dem ich mich
beim Anhören derselben befand, wurde noch erhöht, als ich gleich
darauf aus dem Gespräche Jeremejew’s mit anderen Bauern erfuhr,
dass er ein hart gesottener Raskolnik sei.
Indessen war ich, auf Grundlage der Sammlung Rybnikows und
seiner Erläuterungen”), überzeugt gewesen, dass bei denRaskolniken
gar keine Ueberreste des Volksepos zu finden wären, und auch der
Meinung, dass es für mich nur ein Zeitverlust wäre, die Oertlich-
keiten zu besuchen, wo die Anhänger des alten Ritus # in der Mehr¬
zahl vertreten sind. So musste denn die entschieden heidnisch ge¬
färbte Bylina, welche von* einem Menschen gesungen worden, der
wegen seiner ketzerischen Ueberzeugung bekannt war, .meine Vor-
*) Das heisst: „Sie begann nun den Dobrynjuschka zu verwandeln:
Verwandelte den Dobrynja in eine Elster,
Verwandelte den Dobrynja in einen Raben,
Verwandelte den Dobrynja in ein Schwein,
Verwandelte den Dobrynjuschka in einen rothen Wisent:
Die Hörnchen beim Wisent sind in Gold,
Die Fiisschen beim Wisent sind in Silber,
Das Fell auf dem Wisent ist rother Sammet. u
. **) Siehe seine ,,Bemerkuhg u im III. Bande, Seite IX, wo es heisst: „Die Einge¬
borenen von Schunga (im Centrum der grossen Halbinsel im Westen des Onega)
blickten auf das Alterthum nicht ganz wohlwollend. Sie hatten nur fiir die religiöse
Seite desselben Interesse, und hier bestätigte sich bei ihnen die von mir noch im Gou¬
vernement Tschemigow gemachte Beobachtung: wo sich die Anhänglichkeit an den
alten Ritus stark entwickelt, da interessirt aich das Volk fUr die Denkmäler der Poesie
und der Kunst überhaupt nur insofern, als sie ins Gebiet der Religion hinübergreifen
und soweit sie yon der Sitte, welche seit 4em XVIL Jahrhundert erstarkte, gestützt wer¬
den. Zu den weltlichen Gesängen verhalten sich die eifrigen Altgläubigen grössten-
theils noch mit der Stimmung, welche bei den Asketen des alten Russlands das Verbot
veranlasste, „vom Teufel herrührende Lieder nicht zu singen und die Kinder der Welt
nicht zu verfuhren. 4; Daher hßrt man im Kreise Powenez r kaum von zwei, drei
Rhapsoden. u
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aussetzungen gänzlich umstossen und sogar meinen Reiseplan ver¬
ändern. Ich fing an zu vermuthen, und später überzeugte ich mich
vollkommen davon, dass Herr Rybnikow bei seiner persönlichen
Stellung, als Mitglied der Administration des Gouvernements, bei
den Altritualisten nichts hatte finden können, dass aber die Byliny
auch von den Raskolniken gesungen werden. Anstatt die von den
Altgläubigen bewohnten Oertlichkeiten zu meiden, entschloss ich mich
nun, das Centrum dieser Bevölkerung, die Umgebung des Wyg-
Osero, zu besuchen. Ich hatte mir für die Begegnung mit den Alt¬
ritualisten ein Programm zurecht gelegt: höfliche Behandlungs¬
weise, Vermeidung jedes Ausdrucks«, welcher ihr religiöses Gefühl
verletzen könnte, Fernhalten jedes Streites über Religiort; w^nn aber
das Gespräch auf dieselbe führen sollte, Einhalten jenes Tones der
Achtung, in welchem es in gebildeter Gesellschaft angenommen ist,
mit den Andersgläubigen von ihren religiösen Überzeugungen zu
reden. Dieses Programm, an und für sich einfach, war dort, so viel
ich bemerken konnte, etwas Neues. Ich weiss nicht, ob ich es ihm
zuschreiben darf, dass Das, was man mir prophezeit hatte, dass ich
nämlich von Se.iten der Raskolniken auf einen groben Empfang mich
gefasst zu machen habe und dass sie mir Nichts mittheilen würden,
nirgend in Erfüllung ging. Freilich erlaubte ich mir keine, in
irgend einer Weise kitzliche Fragen; doch Byliny recitirten sie
überall gern und erlaubten mir, sie nachzuschreiben. Bei einer Ge¬
legenheit war ein solches Zutrauen sogar nicht zu erwarten. Mir
war der Name eines Bauern aus dem Kreise Kargopol bekannt,
welcher ein ausgezeichneter Rhapsode sein sollte. Als ich in die Ge¬
gend gekommen war, wo er wohnte, wollte ich einen Expressen
abschicken, um ihn zu mir einzuladen. „Das ist vollkommen unnütz“,
antwortete mir der Hauswirth, bei dem ich eingekehrt war: „das
Geld, welches Sie dem Boten zahlen — man musste vierzig Werst '
weit auf sehr schlechtem Wege reiten — wird weggeworfen sein.
Dieser Mensch ist erst vor drei Jahren altgläubig geworden (d. h. ist
vom orthodoxen Glauben zum Raskol übergegangen) und fürchtet
dafür zur Verantwortung gezogen zu werden; jedenfalls wird er.nicht
zu Ihnen kommen.“ Dessen ungeachtet bestand ich auf der Ab¬
sendung des Boten, welcher andern Tages zurückkehrte und die
höchst unbestimmte Antwort brachte, dass Jener „sich noch
besinnen wolle, dass er sich unwohl fühle“, u. s. w. — „Nun,
das habe ich ja gewusst“, sagte mir der Hausherr; nein, er
kommt sicher nicht.“ — „Wenn ich aber zu ihm hinfahre, wird er
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mir dann seine Byliny herrecitiren?“ «— „Freilich wird er es, dem
Gast kann er es nicht abschlagen.“ Ich hatte schön angefangen, mich
zur Fahrt zu rüsten, als der zum alten Glauben übergegangene Ska-
sitel angeritten kam, und in derThat durch seine Byliny den Wunsch,
ihn zu hören, vollkommen rechtfertigte. Später erfuhr ich, dass er
unterwegs bei einer „'Lehrerin“ die den dortigen Raskolniken,,als Pope
dient“, eingekehrt wäre, und dass sie ihm erlaubt hätte, zu mir zu
kommen und die alten Gesänge bei mir zu recitiren.
Nicht weniger günstig war für mein Einsammeln von Byliny auch
eine andere, gleichfalls ganz zufällige Begegnung, und zwar gleich im
Anfänge meiner Reise. •
Noch auf dem Dampfer, auf welchem ich von St. Petersburg *)
fortfuhr, hatte ich auf dem Vorderdeck mit einigen Bauern aus dem
Transonega-Gebiet ein Gespräch angeknüpft, frug sie über die Ska-
siteli aus, welche mir aus dem Buche von Rybnikow her bekannt
waren, und erfuhr unter Anderem, dass man über einen von ihnen, der
Abrarn Jewtiqhijew, (Abraham, des Eutychius Sohn) hiess, in
Petrosawodsk Erkundigungen einziehen könnte, weil dort sein Sohn
wohne. Es erwies sich, dass der Alte beim Sohne zum Besuch war,
und gleich am Tage meiner Ankunft hatte ich das Vergnügen, seine
schönen Byliny zu hören. Wir wurden so gute Freunde, dass er
gerne einwilligte, mich durch das ganze Transonega-Gebiet zu be¬
gleiten, selbst bis nach Kargopol hin, wodurch er mir sehr nützlich
wurde. Da er seinem Handwerke nach ein Dorfschneider ist, so war*-
dert er den ganzen Herbst und Winter in den Dorfschafteu des Trans-
onega-Gebietes umher, und verweilt dort, wo man seiner Arbeit
bedarf. Auf diese Weise fehlt es ihm* nicht an Bekannten in allep
Winkeln der erwähnten Gegend, und ihm hatte ich es zu verdanken,
dass ich auf meiner Fahrt nicht mit -jenem Misstrauen empfangen
wurde, welches die Bauern gegen jeden Ankömmling aus St Pe¬
tersburg, hegen. Ich bemühte mich, in solchen Dörfern zu verweilen,
wo man sicher darauf rechnen konnte, Byliny zu hören. Während ich
sie dort nachschrieb, wanderte Abram Jewtichijew in der Umgegend
umher, manchmal recht weit, in einer Entfernung von 40 oder 50
Wörst, „um Skasiteli zu holen“, wie er sich ausdrückte. Von ihm da-
*) Zwischen St Petersburg und Petrosawodsk finden im Sommer zweimal in der
Woche Fahrten von Dampfböten statt Sie gehen die Newa hinauf bis Schlüsselburg,
dann über den Ladoga-See in den Swir und aus demselben in den Onega-See, an dessen
westlichem Ufer Petrosawodsk liegt. Die Reise: dauert zwei Tage, Anmerkung des
Uebcrsetzers . . /
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rüber versichert, dass sie belohnt würden, kamen die Bauern sehr
gerne, um ihre Byfiny herzusagen. Später führte das Gerücht, dass
das Recitiren der Gesänge belohnt werde, uns auch Solche zu, von
denen wir nichts gewusst hatten. Es kam sogar vor; dass Einige Tage
lang zu.warten hatten, bis die Reihe an sie kam, wobei ich Byliny
bis zur völligen physischen Erschöpfung nachschrieb. Auf diese
Weise gelang es mir, in der kurzen Zeit von zwei Monaten 70 Perso¬
nen, Männer und Weiber, welche Byliny kannten, aufzufinden/Ich muss
bemerken, dass aus dieser Zahl 16 Personen Herrn Rybnikow theils
persönlich, theils durch Vermittelung Anderer bekannt waren, dass
ferner fünf Personen, denen er Byliny nachgeschrieben, seit der Zeit
gestorben sind, und . dass endlich sieben Personen, die in seiner
Sammlung erwähnt werden, entweder abseits von meiner Reiseroute
geblieben sind oder zufällig von mir nicht aufgesucht werden konnten.
Bei der Bekanntschaft mit den Sängern und Sängerinnen bemühte
ich mich, über ihre persönlichen Verhältnisse mich zu unterrichten,
um mir den Einfluss der Persönlichkeit des Skasitels auf denCharacter
der Rhapsodien selbst klar zu machen. In der von mir veranstalteten
Sammlung werden die Leser biographische Nachrichten über jeden
Sänger und jede Sängerin finden. Hier erlaube ich mir, einige all¬
gemeine Bemerkungen mitzutheilen, die sich auf die Bekanntschaft
mit diesen siebenzig Persönlichkeiten stützen.
Vor Allem ist zu berücksichtigen, dass sich die Byliny nur im
Kreise der Bauern erhalten haben; ich werde später der einzigen Aus¬
nahme, die-ich gefunden, erwähnen; sie ist übrigens von ganz zu¬
fälliger Art. Man verwies mich auf einen Kirchendiener (Ponamar),
ein anderes Mal auf einen Altardiener (Djatschok), welche „alte Ge¬
sänge“ kennen sollten; man machte mir sogar Hoffnung, ich würde
,,alte Gesänge“ von einem der*sogenannten „Obelnyje Wotschinniki“
{Freihöfler) in Tscholmushi hören. Es erwies sich aber, dass der
Kirchendiener nur Märchen zu erzählen wusste , dass der Djatschok
Anecdotenerzähler war, der Freihöfler aber die Urkunde, laut welcher
sein Vorfahr vom Zaaren Michail Feodorowitsch von den Abgaben
befreit worden war, auswendig kannte.
Zweitens sind fast alle unsere Rhapsoden des Lesens und Schrei¬
bens nicht kundig. Ich fand nur fünf Schriftkundige unter den 70
Sängern und Sängerinnen von Byliny.
Drittens werden die Byliny von Orthodoxen und Altgläubigen
ganz gleichmässig, ohne das geringste Anzeichen einer Veränderung
unter dem Einflüsse ihrer religiösen Ideen gesungen.
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Viertens hat sich das Singen der Byliny in unserem Norden nicht
zur Profession ausgebildet, wie es im alten Griechenland der Fall
war, im Mittelalter im Westen und wie wir es noch jetzt in Kleinruss¬
land sehen, ist dagegen ein Gegenstand häuslicher Müsse bei Leuten,
deneil Gedächtniss und Stimme erlauben, die ,,alten Gesänge“ sich
anzueignen. Einen professionellen Character hat das Singen von
geistlichen Liedern, welches eine Einnahmequelle für die bettelnden
„Kaliki“auf den Jahrmärkten und an den Kirchweihfesten ausmacht;
doch die Kaliki kennen fast nicht Volks-Byliny. Ich traf einen sol¬
chen Sänger von Profession — es war Iwan Fenopow, der aus der'
Sammlung von Rybnikow her unter dem Namen des blinden Iwan
bekannt ist — welcher ausser geistlichen Liedern auch Byliny kennt.
Letztere betrachtet er aber als etwas Untergeordnetes und Unwesent¬
liches für seine Profession. Dafür kennen aber fast alle Bauern und
Bäuerinnen, welche Byliny singen, ausserdem auch geistliche Lieder,
namentlich von Alexis, dem Manne Gottes, dem tapfern Georg, dem
Krieger Anika, dem Könige Salomon und die ,,Golubinaja Kniga“
(„Tauben-Buch“). Ich vermuthe, dass diese Verse von ihnen
höher gestellt und häufiger gesungen werden, als die Volksepen.
Unter den Rhapsoden, denen ich begegnet bin, konnte ich nur bei
Einem zum Theil bemerken, dass er gewissermaassen der Kenntniss
von Byliny einen practischen^erth beilege und sich für einen pro¬
fessionellen Sänger von Byliny halte; es war der aus der Sammlung
von Rybnikow her bekannte Kusma Romanow. Als ich in seiner
Nachbarschaft angekommen war und ihn auflfordern liess, zu mir zu
. kommen, weigerte er sich anfangs, meiner Einladung Folge zu
leisten, weil kurz zuvor ein vornehmer Herr ihn einige Byliny
hatte Gingen lassen und ihm dafür nui* zehn Kopeken gegeben hatte
Eine solche niercantile Anschauung habe ich fast bei keinem einzigen
der Sänger von Byliny bemerkt; im Gegenteil, sie wunderten sich
meist, dass ich ihnen für ihr Recitiren zahlte, uhd einer von den be-
# merkenswertesten Skasiteli, ein junger Bursche am Wyg-Osero, nach¬
dem er für das Singen einiger Byliny mehrerhaften hatte, alser in dersel¬
ben Zeit durch Feldarbeit hätte verdienen können, erklärte darauf aller
Welt, dass von nun an er keine Byliny an seinemOhre vorübergehen las¬
sen werde, ohne sie zumemoriren, weil er jetzt einsehe, dass auch dieses
WissenseinenWerthhabe. WasaberdenKusmaRomanowanbetriflft,so
hat s^inBlick äuf das Singen vonByliny als auf seine Profession, wie es
scheint, sich erst vor Kurzem ausgebildet und zwarinFolgedesNutzens,
welchen ihm sein Wissen gebracht hat. Als blinder und, hülfloser
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Greis erhielt er, Dank Herrn Rybnikow, eine lebenslängliche Unter¬
stützung (von 6 Rubeln im Jahr) und hat auch die Ehre gehabt, vor
dem verstorbenen Cesarewitsch> als Seine Hoheit das Gouvernement
Olonez besuchte, Byliny zu recitiren, eine Thatsache, welche den
Romanow, als Sänger von Byliny, in den Augen der Ortseinwohner
und in seinen eigenen unermesslich hoch erhoben hat
Der Leser sieht, dass die Verhältnisse für Romanow sich ganz
ausnahmsweise gestaltet haben, um seinemSingen eine practische
Bedeutung zü verleihen; ich wiederhole aber, das ist der einzige Fall
der Art.
Ausserdem ist.es höchst bemerkenswert!!, dass das Singen der
Byliny gewissermaassen ein Privilegium des am Meisten ordentlichen
Theiles der Landbevölkerung ausmacht. Ausnahmen bilden (ausser
einigen wenigen Personen, die ich in Folge von Brandschäden oder
anhaltendem Nervenfieber ruinirt fand) nur die Blinden (Kusma Ro¬
manow, Iwan Fenopow, Semen Komilow und Peter Prochorow),
welche durch ihre physischen Gebrechen in eine hülflose Lage ger
bracht sind; übrigens habe ich auch unter den blinden Skasiteli einen
Menschen gefunden; namentlich den vorher erwähnten Ijew Jereme-
jew, welcher, nachdem er in seiner Kindheit als blinde arme Waise
zurückgeblieben war, Dank seiner staunenswerthen Energie und
seinen Fähigkeiten, durch seine Arbeit sich selbst einen ordentlichen
Hausstand gegründet hat. Die besten Sänger sind zugleich als gute
und verhältnissmässig wohlhabende Hauswirthe bekannt: ich nenne
Rjabinin undKassjanow in Kishi, Andrej Timofejewin Tolwuj, Abrain
Jewtichijew und Peter Kalikin auf dem Pudosh-Berge, Nikifor Pro-
chorow in Kusnetsk, Potap Antonow in Schala, Ssorokin am Ssum-
Osero, Nikitin, Feodor Sacharow und Alexej Wissarionow am Wyg-
Osero, Iwan Sacharow, den besten Skasitel und den Reichsten Man*
am Wodl-Osero, Iwan Ssiwzow Pöromskij, den ersten Skasitel und
einen der wohlhabendsten Bauern am Ken-Osero, ausserdem die
Skasiteli aus derselben Gegend, Peter Woinow und Michail Iwanow,
endlich Nicolai Schwezow an der Moscha und Andere. Augen-'
sch einlich finden die Byliny nur in solchen Köpfen Platz, welche aa-
gebornen Verstand und Gedächtniss mit Ordnungssinn, der auch für'
den practischen Erfolg im J^eben nothwendig ist, vereinen. Wie
oft wurde mir gesagt, dass ich in dem und dem Dorfe den nnd den
Bettler oder den und den Schenkenbesucher finden würde, welche
im Stande wären, verschiedene „Historien“ zu singen; aber die Bett¬
ler von Profession, wie ich früher bemerkte, kannten nur geistfiche
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I
_273_
Verse, und die dem Fusel huldigenden Weisen erschienen mit einem
Vorrath an Liedern, die mehr oder weniger lüderlich, oder an Anec-
doten, die mehr oder weniger geistreich waren, aber Keiner von
ihnen erwies sich als epischer Rhapsode. Unter den Bauern, von
# welchen man Byliny hören kann, trinken Viele gar keinen Brannt¬
wein; einen berüchtigten Säufer habe ich unter ihnen gar nicht an-
getroffen.
Nachdem ich diese Bauern über ihre Lebensverhältnisse befragt
habe, kann ich den Schluss ziehen, dass der Erhaltung der Byliny
besonders einige Handwerke günstig waren. So wird beim Durch¬
sehen der biographischen Nachrichten über die Rhapsoden, denen
ich Byliny nachgeschrieben, der Leser bemerken, dass viele vor*
ihnen und namentlich die, welche mehr als die übrigen in ihrem Ge*?
dächtnisse aufßewahren, entweder selbst mit dem Schneider- oder
Schusterhandwerk oder dem Anfertigen von Fischernetzen sich be¬
schäftigen, oder ihre Byliny von Personen haben, welche diese Hand¬
werke betreiben. Die Bauern selbst haben, mir zir wiederholten
Malen gesagt, dass, wenn sie Stunden lang auf einem Flecke bei der
einförmigen Arbeit des Nähens oder Strickens sitzen, ihnen die Lust
ankomme, „alte Gesänge“'(Stariny) zu singen, und dass diese dann
leicht sich aneignen Hessen; dagegen Hesse die Beschäftigung mit
Feldarbeit und anderen schweren Arbeiten nicht nur keine Zeit dazu,
sondern erstickte im Gedächtniss sogar das früher Gekannte und
Gesungene, . Uehrigens möge der Leser im Auge behalten, dass die
Handwerke, deren ich erwähnte, durchaus nicht die ausschliessliche
Beschäftigung eines ,der Sänger von Byliny ausmachen; Jeder von
ihnen ist zu gleicher Zeit Feldbauer und arbeitet im Sommer in seiner
Bauemwirthschaft. Der Unterschied besteht allein darin, dass Ejnige
sich in der freien \Vinterzeit out einem Handwerk beschäftigen, das
dem Erhalten der epischen Gesänge förderlich ist, während die Be¬
schäftigungen der. Anderen, zum Beispiel die Jagd, Waldarbeiten,
Fuhrmannsdienst u. d. m., für Rhapsodien keine Müsse gewähren.
Ehe ich diese allgemeinen Bemerkungen über unsere Voiks-Rhapr
soden schliesse und zu mehr Speciellem übergehe, will ich noch bei
zwei Thatsachen verweilen, auf welche Herr Rybnikow hinweist.
Erstens sagt er, dass „die Weiber ihre eigenen Weibcr-Stariny hätten,
die von ihnen mit besonderer Liebe, von den Männern aber nicht sq
gern gesungen.würden;“ zweitens schildert er die epische Poesie
als Etwas, das im Aussterben begriffen wäre: „die Mehrzahl der
SkasiteH^ sagt er, wird schwerlich ihre Nachfolger finden und, in
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zwanzig, dreissig Jahren,, nach dem Tode der besten Reprisentante
der gegenwärtigen Generation der Sänger, werden %ie Byliny auch
im Gouvernement Olönez kn Gedächtnis nur sehr Weniger *a»s,
der Landbevölkerung sich erhalten habend* Das ist voUkonunect
zutreffend für die Gegend, mit welcher Herr Rybnikow persönlich
bekannt geworden ist, nämlich die Uferlandschaften des Onsga-Sees,
hier ist in der That die epische Poesie dem Aussterben nahe, die By¬
liny werden hier hauptsächlich von Greisen gesungen und für diese
greisen Rhapsoden sind in der That keine Nachfolger unter dem
, jungen Geschlecht zu haben; hier kennen auch die Weiber selten
andere Byliny als die von Stawr, Iwan Godinowitsch und Tschurilo
Plenkowitsch, welche, wie es scheint, sie deshalb interessiren, weil im
diesen die handelnden Hauptpersonen — Frauen sind. Anders ver*
hält es sich aber mit den Gegenden weiter im Norden und Osten
am Wyg-Osero, am Wodt-Osero,am Ken-Osero: hier hat che epische
Poesie ein gleich kräftiges Leben- unter dem alten wie unter dem
jungen Geschlechte; hier ist auch gar kein Unterschied wahrzuaeh»
men zwischen den Liedern, welche die Männer, und zwischen.deden,
welche die Weiber singen. In dieser Beziehung ist hauptsächlich der
Ken-Osero bemerkenswerth. Die Ufer dieses See’s, in welchen von
allen Seiten Landzungen hineinragen, * so dass der See, ungeachtet
seiner bedeutenden Ausdehnung, von aHeji Functen aus die Aussicht
auf Fjorde und Belte bietet, —- die Ufer des Ken-Osero bilden ge-
wissermaassen eine abgesonderte, ziemlich fruchtbare, mit Dörfern
bestreute Oase inmitten einer grossen Einöde von Mooren und Wäl¬
dern, und in dieser Oase blüht gegenwärtig die epische Poesie. Die
Bauern und Bäuerinnen, welche hier Byliny singen, können hier nach
Zedern aufgezählt werden, Byliny singt hier Alt und Jung. Man
kann hier eine und dieselbe VariaiÄe von fünf, sechs Personen hören,
Männern und Weibern, die in verschiedenen Dörfern leben; zugleich
kann man hier drei Brüder antrefferi, die in efem Hause leben und
von denen jeder seine besonderen Byliny kennt; man findet hier
eine Familie, wo Mann und Frau gerne Byliny singen und dennoch
verschiedene recitireru Die Weiber besingen hier dieselben Helden,
welche von den Männern besungen werden; doch der specielle „Held
der Weiber“ des Onega^Gebietes, Stawr, dem die listige Frau aus
der Gewalt des Fürsten Wladimir befreit, ist den Anwofinerimten des
Ken-Osero vollkommen unbekannt. Dort wurde mir auch mitge*
theilt, dass die Frau de^ Ortsgeistlichen, des Ierej Jeorgijewski, By-
Kny kenne. Das setzte mich in nicht geringes Erstaunen weil ich
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275
# bisher nicht das geringste Anzeichen vorgefunden hatte, dass Byliny
ausserhalb der bäuerlichen Sphäre gesungen würden, und mein erster
Gedanke dabei war, ob die Sängerin nicht aus dieser Sphäre stamme.
Es erwies sich aber das Gegentheil. Frau Georgijewski — die Tochter
des früheren Geistlichen am Ken-Osero ist im Vaterhause geboren
und erzogen und lebt auch als Gattin in demselben Hause. Während
sie mir gestattete, die Byliny, die ihr Gedäehtniss noch bewahrt
hatte (früher kannte sie deren mehr, ehe die Wirthschafta- und Er¬
ziehungssorgen ihre ganze Müsse in Anspruch genommen hatten),
ihr nachzuschreiben, erzählte mir die verehrte Frau, dass ily Vater,
der sich durch ausserste Strenge auszeichnete, seinen Töchtern ver¬
boten hätte, Weihnachtslieder, Chor* und dergleichen Gesänge zu
singen, welche den gewöhnlichen Zeitvertreib junger Mädchen aus¬
machen, da er sie für sündhaft hielt; so blieb denn den Töchtern des
strengen Ierej, um die lange Weile zu vertreiben, nichts weiter übrig
als die Byliny zu lernen und zu singen, welche sie von einem alten
Bauern, der jeden Winter bei ihnen im Hause als Schneider arbeitete,
hörten.
Eine andere Thatsache ist nicht weniger bemerkenswerth. Ich
schrieb der Bäuerin Matrena Mehschikowa Byliny nach, unter an¬
dern auch die von Ilja von Murom, wie er nach Kijew als Kalika
kam und die „Lumpen in den Schenkhäusern“ (rojieft xabauainxi»)
mit Branntwein zu bewirthen anfing, schrieb auch die Variante einer
seltenen und nur am Ken-Osero von mir gehörten Bylina vom
Schtschelkan Dudentjewitsch nach, als plötzlich die Menschikowa
sagte, sie kenne noch fein gutes altes Lied und folgende Versa-an¬
stimmte:
„Ebuih lOHBie Obo h jrhByinica Mapa,
ÄBoe erb rpex-b BMpocräJin,
Oähok) B04*meft yMMBajmcb“ u. s. w. *).
d. h. sie sang von Anfang bis zu Ende das ganze lange serbische
Lied von Iowo und Mara, nach der Uebersetzung von Schtscherbina.
, Von wem hast du“, fragte ich, „dieses alte Lied erlernt?“—„Von
unsem alten Leuten habe ich es gehört, der Vater und andere Greise
sangen es“. Diese Antwort zeigte, dass die Sängerin das-Lied von
bwo und Mara nicht von andern alten Liedern, die sie von den,
*) Es waren zwei Kinder, Owo und das Mädchen Mara,
Beide wuchsen seit ihrem dritten Jahre zusammen auf,
"Wuschen sich mit demselben Wasser, u, s w.
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• 2 7 6 _
Eltern? gelernt hatte, unterschied. Darauf erfuhr ich au$ dem Ge* •
spräche mit ihr, dass ihr Mann schriftkundig sei und ihr Sohn, der
ebenfalls schriftkundig, mehrmals St. Petersburg besucht habe.
Auf diese Weise war es nicht schwer zu errathen, dass zu ihnen ins
Haus ein Exemplar von Schtscherbina’s „Biene“ gekommen war und J
dass der Mann oder der Sohn in Matrena’s Beisein die Uebersetzung ü
von Iowo und Mara vorgelesen hatte. Merkwürdig bleibt aber die 11
Thatsache, dass eine der Schrift unkundige Bäuerin vom Ken- E
Osero sich dieSfes Poem, ungeachtet des dem russischen Ohr fremden '•
Versmajsses, ferner ungeachtet der unverständlichen Worte, mit b
denen es angefiillt ist, angeeignet hatte. Ungeachtet alles dessen
war sie im Stande, das ganze serbische Gedicht eben so fliessend und
ohne zu stocken, wie jede heimathliche Bylina, zu singen *). Sie
passte den serbischen Vers unserm epischen SHbenmaasse an, indem *
sie das choreische Ende desselben dehnte, so dass er das Tempus ^
eines Dactylen erhielt, sprach Worte wie „TaMÖypa“, „ropHas BHJia“,
„poaHMan MaftKa“ u. a. vollkommen richtig aus. Zeigen nicht diese
Thatsachen, dass dort, am Ken-Osero, die Luft so zu sagen" noch vom
Geiste der epischen Poesie geschwängert ist, dass diese Poesie dort
nicht allein, nicht ausstirbt, sondern sogar nach neuen Stoffen sich ‘
umsieht? Dasselbe kann auch vom Wodl-Osero gesagt werden, wo 1
die Byliny erst anfangen, Boden zu gewinnen. Von sieben Personen, ^
die man mir dort als Kenner von Byliny nachgewiesen, hatte nur
Einer sie vom Vater sich angeeignet; alle Uebrigen hatten sie ;
auswärts erlernt und wenn nicht bei sich zu Hause* so von durch- ,
reisenden Bauern. Besonders chäracteristisch ist folgender Fall. Ein ,
Bauer aus dem Dorfe Tschujala am Wodl-Osero, Namens Matwej j
Nigoserkin sang in vollem Zusammenhänge die Byliny von Djuk (
Stepanotyitsch und von der verunglückten Freie des Alescha Popo- j
witsch um die Frau des Dobrynja, sang auch den Anfang der By- [
lina von den drei Fahrten des Ilja von Murom. Als ich, meiner Ge¬
wohnheit nach, anfing, ihn darüber auszufragen, wo er sich die j
Kenntniss dieser Gesänge ' erworben, erzählte Nigoserkin, dass •.
er sie sich erst im vorigen Jahr angeeignet (es muss bemerkt I
werden, da$s er bereitsein Vierziger), «lass er bis dahin nie Byliny j
gesungen habe und dass im vorigen Herbst bei ihm einmal ein Greis t
*) Der Verfasser führt in einer Note den Anfang des Liedes nach der Redaction der
Menscbikowa und nach dem gedruckten Text von Schtscberbina an- ä. Ucb %
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277
aus der Gegend von Ken-Osero zür Nacht emgekehrt sei. Dieser
habe ihm und den damals bei ihm in der Hütte anwesenden Gästen
die Bylina von Djuk Stepanowitsoh vorgesungen imd sie habe ih*
dermaassen gefallen, dass er den Alten gebeten, sie ihm ein zweites
und drittes Mal zu singen. So habe er sie denn „begriffen“. So
drückte sich Nigoserkin aus. Am andern Tage sei der Alte abge¬
zogen, auf dem Rückwege aber wieder zur Nacht bei ihm eingekehrt.
Da habe er von ihm die Bylina von Dobrynja und Alescha erlernt;
von der von Ilja von * Murom hätte er aber nur den Anfang
behalten.
So eignet man sich am Wodl-Osero die epische Poesie an. Ich.
weiss nicht, ob die Lust an den Byliny hier nicht vielleicht im Zu¬
sammenhänge mit f der Veränderung der hiesigen öconomisdien Ver¬
hältnisse steht: früher waren die Bewohner des Sees Ackerbauer, in
Folge des Eifers der Administration aber, die ihnen verbot, den Wald,
der sie auf weiten Strecken umgiebt, auszuroden, waren sie dem
Hungertode preisgegeben, und um dem zu entgehen, fingen sie an,
Netze von einer gewisseh vervollkommneten Art zu stricken und
Fische aus dem Wodl-Osero zu fangen. Das Netzstricken aber, wie
wir oben sahen, ist eine Beschäftigung, welche der Poesie der Byliny
besonders günstig ist. 4
Wie dem auch sei, es unterliegt keinem Zweifel, dass am Ken*
Qsero und Wodl-Osero das Leben unseres nationalen Epos noch in
vollen Schlägen pulsirt und auch noch lange sich dort erhalten wird,
wenn in diese Einöde nicht die Industrie und die Schule dringen,
kn Vergleich mit den beiden genannten Seen sind die Ufer des
Onega-Sees, der durch eine Wasserstrasse mit St. Petersburg ver¬
bunden ist, viel mehr den Einflüssen, die im Volke auf die epische
Poesie zerstörend einwirken, ausgesetzt. Daher ist es kein Wunder,
dass sich hier schon Anzeichen ihres Aussterbens bemerken lassen.
Zu diesen Anzeichen rechne ich auch die schon von Rybnikow
bemerkte Thats^che von dem Vorhandensein gewisser beliebter
Byliny bei den Frauen« Die Bewohner des Ken-Osero haben uns den
Beweis geliefert, dass diese Thatsache keine allgemein verbreitete
ist. Am Onega werden die bei den Frauen beliebten Byliny von Stawr,
Iwan Godinowitsch, Tschurila auch von den Männern gesungen,
dafür aber ist selten eine Frau anzutreffen, die, so zu' sagen, ernstere
Gesänge kennen würde, wie z. B. von Ilja von Murom, Sadka
Wolga u. s. w. Mir scheint, dass auch hier derselbe Kreis von Byliny
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bei Männern und Frauen hn Umlauf war, dass aber m dem Maasse,
als sich der Geschmack an der epischen Poesie verminderte, die
Weiber aufhörten. Alles das zu singen, was fiir sie kein besonderes
Interesse bot, und ihr Gedächtniss daher nur die piquanten Ge¬
sänge von Stawr, Tschariluschka, Chotenka Bludow. und ähnliche
bewahrte.
(Schluss folgt.)
Die rassische Staatsbank im Jahre 1871.
Als im Jahre 1859 der Finanzminister Knjäshewitsch seinen jähr :
liehen Bericht im Conseil der Staats-Creditinstitutionen erstattete,
erklärte ör folgender Maassen die mit jenem Jahre angefangenen
Reformen der russischen Staatsbank-Institutionen: „Die Ursachen
dieser Reformen bestanden darin, dass von den Bank-Institutionen
Vorschüsse auf längere Termine gemacht worden waren durch
Gelder, die als kurzfällige Depositen in die Banken eingelegt waren,
und die also plötzlich gekündigt werden konnten. In einem solchen
Falle waren dann die Gassen mit völliger Geldlosigkeit bedroht,
wenn die Vortheile, welche die Banken den Einlegern gewährten
geringer sein würden als diejenigen, die ihnen eine anderweitige
Verwendung der Gelder darbieten könnte. Und in der That trat ein
solcher Fall kurz darauf ein, als im Juli 1857 die Zinsen für Depo¬
siten von 4 pCt. auf 3 pCt. herabgesetzt wurden. Diese Maassregel
begünstigte ausserordentlich die Ausbildung von Actiengesellschaf-
ten und wurde die Veranlassung, dass das flüssige Capital sich mehr
defi Werthpapieren zuwandte. Die Kündigung der Bankdepositen
nahm nun fortwährend zu. Von % August 1857 an überstieg die
Summe der ausgezahlten Gelder diejenige der eingezahlten in 22
Monaten um 143 Millionen Rubel. Der Baarbestand der Banken,
dqr noch im Juni 1857 über 150 Millionen betrug, sank im Juni 1859
bis auf 20 Millionen Rubel herab, wobei noch eine fernere Kündi¬
gung von 50 Millionen Rubel mehr als wahrscheinlich galt. Der
ganze Betrag der zurückzuforderndenGelder blieb jedoch dabei noch
etliche 700 Millionen gross.“ •
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m
Die Batik-Reform bestand also dann, sich von den Pjrindpiem iosr
zusagen, die dem Staate mir Risiko und Unbequemlichkeiten zuzo¬
gen, ohne einen entsprechenden Nutzen für die Volks wirthschaft zu
gewähren. Die .positive Seite der Reform bestand darin, für das
rassische Bankwesen ehre solche Grundlage zu gewinnen, welche
sowohl Erfahrung als,Wissenschaft als die einzig mögliche Basis für
eine normale Entwickelung des Privat-Credits anerkannten. Die
grosse Bedeutung der neuen Statuten der im Juli i$(x> eröffneten
russischen Staatsbank lag und liegt also darin, dass dieselben zum
ersten Male die fundamentalen Principien eines gesunden Bank¬
wesens klar anzustreben suchten. Die seit jener Zeit stattgefundene
Entwickelung des Bankwesens bildet eine höchst folgenreiche Epi¬
sode in der voDcswirthschaftlichen Geschichte Russlands während
der letzten 12 Jahre. Der Staatsbank gebührt dabei das grosse Ver¬
dienst, die ersten Bausteine zu demjenigen Netz der Banken gelegt
zu haben, das seit jener Zeit sich allmählich über das ganze Russin
sehe Reich verbreitete. Wie enorm die Thätigkeit der Staatsbank
seit ihrer Gründung bis zum Schluss des vorigen Jahres gewesen, ist
aus folgenden Daten leicht zu ersehen:
Jahre
Total-Umsatz
Für Rechnung des
Staats
Für Privat-Rechnung.
1860
1 1816,567,678
801,536,144
1.015,031,534
1861
3.872,059,972
1.423,184,148
2.448,875,824
1862
3.131,661,468
500,599,474
2.631,061,994
1863
3.568,040,980
490,549.368
3.077,491,612
1864
4.320,264,208
504,101,916
3.816,162,292
1865
5.407,489,716
455,225,562
4.952,264,154
1866
7.636,794,772
317,448,166
7 - 3 19,346,666
1867
8.350.463.052
359,191,31°
7.991,27 1 ,742
1868
9.100,004,608
385,208,086
8.714,796,522
1869
10.625,914,298
268,220,968
10.357,693,330
1870
12.160,632,767’
289,954,128
11.870,678,639'
1871
12.970,560,677
311,208,251 j
1^-659,352,426
82.960,454,196
6.106,427,461
76.854,026,735 '
Die Liquidation der älteren Staatsbank-Institute war für die Staats¬
bank eine der wichtigsten Aufgaben, besonders in den ersten Jahren.
'Daher finden wir in unserer Tabelle, dass im. Jahre 1861 die Umsatz¬
ziffer der Operationen, welche die Bank für Rechnung des Staates
\
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ausführte, bis auf 1423 Millionen anwuchs. Von dem Totalumsatze
entfielen somit 38 pCt. auf che Operationen für Rechnung des Staates,
und nur 62 pCt. auf die Privatoperationen; dagegen kamen im Jahre
1871 auf die erstgenannten Operationen nicht einmal a’/gpCt.,
während den letzteren über 97V2 pCt. zufieien. Von 2448 Millionen
Rubel im Jahre 1861 erhoben sich diese bis auf 12,659 Millionen im
Jahre 1871.
Wenden wir uns zur Frage, aus welcher Quelle die Bank die Mittel
zu ihren Operationen schöpft, so ergiebt sich, dass es die Depositen
sind, Welche dieselben ausschliesslich bilden, und somit die russische
Staatsbank als eine der grössten, wenn nicht die älfergrösste, unter
den Depositenbanken erscheinen lassen. Das Notenemissions-Ge¬
schäft wird vorder Bank nur in so fern in den Bereich ihrer Thätig-
keit hineingezogen, als sie diese für Rechnung des Staates ausübt.
Am Schlüsse unserer Darstellung werden wir noch Gelegenheit
haben, Daten über diejenigen Operationen der Staatsbank anzufiihren,
welche in einer besondern Verbindung mit der Circulation des russi¬
schen Papiergeldes stehen.
Folgende Tabelle stellt den Umfang derjenigen Mittel dar, die der
Bank aus verschiedenen Arten der Depositen zufliessen:
Depositen auf be¬
stimmte Zeit ....
Rest am
I.Januar 1871
Eingang
während
in Millionen
Ausgang
des Jahres
Rubel Silber .
Rest am
I. Januar 1872
38,17
45 .»
88,6
33,*1
Stets kündbare Depo¬
siten .
77.“
41»#*
. 46,17
73,**
Verzinste Girocapi-
talien.
56,1s
696,51t
698,49
54,20
Unverzinste Girocapi-
talien.
3 6 »«i
*5
OO
703.5«
51,1®
Total ....
208,87
1461,04
1457,0«
212,84
Transfertdepositen .
465,85
4 6 5 ,ai
30,62
X.
239,52 1926,39 1922,27 242,96
Ziehen wir von dem Eingang ad 1926 Millionen Rubel diejenigen
Capitalien ab, die der Bank im Jahre 1871 für Transferte an ver¬
schiedene Orte zugingen, so ergiebt sich hiernach als Betrag der aus
den Depositen und Girocapitalien der Bank zugeflossenen Gelder die
Summe von 1461 Millionen Rubel.
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2$t
In der vorstehenden Tabelle erscheinen alle ultimo 1871 verblie¬
benen Reste der Einlagen kleiner, als die ultimo 1870 vorhandenen.
Diese Erscheinung ist indessen nichts weniger als zufällig, sie er¬
klärt sich aus der Concurrenz, die die Staatsbank von den Privat¬
banken bei der Heranziehung von verschiedenen Depositengeldern
sich gefallen lassen muss.
Den Beweis hierfür liefert uns die folgende Tabelle:
Depositen
B e w e £11 n g. I Stand am 31. December*
<L> ,
. v-
rC
ct
*—>
Eingang |
Bank i Filialen |
_
Ausgang j
Bank | Filialen |
Millionen A
Auf bestimmte Zeit. |
Bank | Filialen
u b c l Silber.
Stets fällig
Bank | Filialen
1860
29,98
4,*8
2,17
0,04
8,77
—
19,0*
4,17
1861
66,52
39,75
l8,72
6,61
25,94
12,67
49,66
24,64
1862
43,n
28,90
20,74
1 2,6 3
32,99
20,40
65,57
32,27
1863
27.75
20,77
26,23
I 5,60
34,90
23,83
65,18
34,07
1864
43,i«
35,«1
"46,30
27,76
34,44
25,54 '
62,51
38,15
1865
19,71
25,0*
27,50
21,64
33,ö4
27,50
56,12
39,77
1866
22,16
30,10
34,62
26,80
28,57
28,94
48,12
41,39
1867
IS,B6
28,98
33,14
28,48
20, r, 2
27,94
38,80
42,84
1868
I 1,69
32,28
*20,12
29,34
18,U
26,53
32,85
47,19
1869
12,23
i 35,8i
15,73
36,9«
l6,25
2 5,08
I 31,25.
48,13
1870
14,78
34,2« j
19,04
35,1?
13,65
24,51
29,59
47,84
1871
12,16
34,3i
I7,n
j 37,92
11,70
22,11
1 20,60
1
46,63
1
Wie aus vorstehenden Zahlen .zu ersehen ist, verminderten sich
die, besonders der St. Petersburger Bank zufliessenden, Gelder
schon im Jahre 1864, da seit diesem Jahre die Summe der ausgehen¬
den Gelder stets die der cingegangenen übersteigt, während die Bank
in den ersten 1 1 /2 Jahren (1860/61) ihrer Thätigkcit beinahe 140V2
Millionen Rubel an sich zog, ohne mehr als 27 ! / a Millionen veraus¬
gaben zu müssen, und also in dieser Zeit somit baar an 113 Millionen
Rubel disponibel behielt. Wenn die Bank am Schlüsse des vorigen
Jahres (1871) noch einen aus den verschiedenen Depositen stammen¬
den Rest disponiblen Capitals von 107 Millionen Rubel besass, so
war es nur dem Umstande zu verdanken, dass die Privatconcurrenz
in der Provinz die Thätigkeit der Bank-Filialen weit weniger hemmte,
als in St. Petersburg selbst. Erst seit dem Jahre 186g gewann auch
bei den Filialen der Ausgang der Depositen-Gelder üb£r deren Ein¬
gang die Oberhand.
f 9
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28a
Was die Bewegung der verzinslichen Girocapitalien anbetrifft, so
drückt sie sich in fortwährend steigenden Zahlen aus bis zum Jahre
1869. Belief sich im Jahre ,1865 die Zahl derselben noch auf 256
Millionen, so erhob sich die Zahl der eingegangenen Girocapitalien
im Jahre 1866 bis auf 354 Millionen, im Jahre 1867 bis auf 400
Millionen, im Jahre 1868 bis auf 600 Millionen, um endlich im
Jahre 1869 ihren Culminationspunkt in der Zahl von 825 2 /» Millionen
zu gewinnen. In den Jahren 1870 und 71 fing die Zahl der ein¬
gegangenen verzinslichen Girocapitalien allmählich an abzunehmeli; im
Jahre 1870 sank sie bis auf 756 Millionen, um im Jahre 1871 den
niedrigem Stand von 696 Millionen zu erreichen. Begreiflicher „
Weise wird die sich hier manifestirende Wirkung d$x ConcujTenz
auch in dem Ausgange der Girocapitalien zum Vorschein kommen.
Und wirklich zeigen die Daten, dass schon im Jahre 1870 dem Ein¬
gänge dieser Gelder im Betrage von 756 Millionen ein Äusgang,von
778 Millionen Rubel entgegenstand. — Ebenso steht im Jahre 1871
dem Eingänge von 696 Millionen ein Ausgang von 698 Millionen
Rubel gegenüber.
Das Portefeuille der von der Bank discontirten Wechsel zeigt am
Anfänge des Jahres 1871 in St. Petersburg den Betrag von 4,369,000
Rubel und bei den Filialen die Summe von 50,119,000 Rubel, zu¬
sammen also 54,488,000 Rubel. Im Laufe des Jahres discontirte die
Bank in St Petersburg Wechsel für den Betrag von 17,636,000
Rubel und durch die Filialen für den Betrag von 106,182,000 Rubel.
Am Schluss des Jahres betrug der Bestand der discontirten Wechsel
bei der St. Petersburger Bank 3,560,000 und bei den Filialen
26,256,000 Rubel. Der mittlere Betrageines von der Bank und ihren
Filialen discontirten* Wechsels belief sich im Jahre 1871 auf-1761
Rubel, im Jahre 1870 auf 2333 Rubel. Diese Zahlen deuten darauf
hin, dass die russische Staatsbank vorzugsweise mit der Gross¬
industrie und dem Grosshandel zu thun hat.
Die Vorschüsse auf Waaren haben bei der # Staatsbank einen bei
Weitem kleineren Umfang; sie beliefen sich im Jahre 1871 auf
3,000,000 Rubel. Wichtiger erscheinen die Vorschüsse auf Werth¬
papiere . Beim Beginn des Jahres 1871 betrugen die Vorschüsse der .
Bank auf Staatspapiere 24,825,000 Rubel. Im Laufe des Jahres wur¬
den neue 51,697,000 Rubel vorgesqhpssen. Zum Ultimo des Jahres
blieb der Betrag der auf Staatspapierc vorgeschossenen Gelder
17,932,000 Rubel gleich. Der Vorschuss auf Werthpapiere von
Actien-Gesellschaften belief sich im Anfänge des Jahres 1871 bis auf
#
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283
8,084,000 Rubel. Nachdem im Laufe des Jahres nicht über
18,774^000 neu vorgeschossen waren, endigte das Jahr mit
10,549,000 Rbl.
Ausser den artgeführten Summen müssen wir noch den Betrag
von 98,227,000 Rubel erwähnen, für welchen Conti*Current-Credite
verschiedenen Personen und Actien-Gesellschaften von der Bank
eröffnet wurden. Somit belief sich der Betrag aller von der Bank
und ihren Filialen in Credit verausgabten Gelder auf 295,433,000
Rubel.
Eine der wichtigsten Operationen der russischen Staatsbank
machen die Transfert-Operationen aus. Die Summe der in die Bank
und ihre Filialen im Jahre 1871 für diesen Zweck eingezahlten Gelder
belief sich auf 465,347,000 Rubel. Von dieser Summe kommen
auf telegraphische Bank-Anweisungen 204,997,000 Rubel, d. h. bei¬
nahe 45 pCt. Im Jahre 1865 belief sich der Betrag der für Trans-
ferte der Bank zugeflossenen Gelder nur auf 80 2 /s Millionen, während
er im Jahre 1862 nicht einmal 20 Millionen erreichte. Diese Zahlen
zeigen deutlich, welchen bedeutenden Aufschwung diese Operation
bei der russischen Staatsbank in den letzten Jahren gewonnen hat.
Schliesslich theilen wir noch die von der Bank in ihrem letzten
Berichte zum ersten Male veröffentlichten Daten über diejenigen
Operationen mit, vermittelst welcher die Bank eine Herstellung
der Valuta herbeizuführen beabsichtigt:
Von der Bank ange¬
kauftes Gold
t n
tausenden Rubel .
1867
vom
1. Aug.
\
1868
j -1869
| 1870
1871
Total.
In Barrren.
• 37
4,214
1
1
4,25»
in russischer Münze
5,451
23,882
9,290
3,256
16,908
58,787
in französis. „
13,2981
26,718
3,567
2,443
11,864
57,891
in anderer „
239
86
4
1
—
330
Zusammen . . .
Silber
19,026
54 , 90 »
12,861
i
5,670
28,772
121,269
in Barren.
3,361
3,705
— . 1
1 —
—
7,066
in russischer Münze
89
592
UI !
9
8
809
in anderer „
3
■ 23
2
—
! —
28
Zusammen . . .
3,4531
4,320
M 3
9
7,903
H. K.
\
r * 9 *
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Die dritte Ausstellung russischer Pferde in Moskau.
September 1872.
Die diesjährige Ausstellung wurde am iö. September eröffnet Die
Bedingungen für die Zulassung zu derselben waren folgende: i) Es
konnten nur russische Pferde ausgestellt werden. 2) Die Ausstellung
umfasste drei Abtheilungen: a. Reitpferde, darunter besonders
Vollblutpferde, schwere und leichte Reitpferde, b. Wagenpferde,
darunter besonders: Traber, schwere Wagenpferde und Pferde für
leichten Anspann und c. Arbeitspferde, darunter besonders: Last¬
pferde. Die trächtigen Zucht-Stuten, sowie die mit Saugfiillen, waren
in allen Abtheilungen zur Preisbewegung zugelassen. 3) Diejenigen '
local-typischen Racen russischer Pferde, als: Karabachsche, Karba-
dinskysche, Donsche, Klepper, Finnische, Schmudische, Baschkirische
oder Kirgisische, Obwinsche, Kasansche, Sibirische und Mesensche
Pferde, welche in den obengenannten drei Abtheilungen nicht unter¬
gebracht wurden, bildeten eine besondere Gruppe. 4) Da in Bezug
auf Schnelligkeit, Feuer und Kraft für Pferde, Traber und Last¬
pferde besondere Preise ausgesetzt waren, so wurden auf der allge¬
meinen Ausstellung nur Reit-, Wagen- und Arbeits-Pferde in Hinsicht
auf den besten Wuchs prämiirt. Die zugelassenen Hengste und
Stuten durften nicht jünger als vier und nicht älter als acht Jahre sein.
5) Das niedrigste Maass für Reitpferde betrug 2 Arschin 2 Werschok,
für Wagenpferde 2 Arschin 3 Werschok und für Arbeitspferde 1 Ar¬
schin 14 Werschok. 6) Alle Pferde mussten Attestate über ihre Ab¬
stammung beibringen. 7) Diejenigen Pferde, welche auf der Aus¬
stellung von 1869 Geldprämien erhalten hatten, wurden zum Concurs
auf neue Prämien nicht zugelassen; diejenigen, welche 2te oder 3te
Prämien, Medaillen oder Belobigungen davon getragen hatten, wur¬
den zur Preisbewerbung aufs Neue zugelassen. Pferde, welche keine
Geldprämien erhielten, konnten mit Medaillen und Belobigungen prä¬
miirt werden.
Im Ganzen waren ausgestellt 224 Pferde und zwar: 1) Abthlg.:
Reitpferde: a) Vollbluthengste 14, Voflblutstuten 3; b) schwere Reit¬
pferde: Hengste 13, Stuten 4; c) leichte Reitpferde: Hengste 23,
Stuten 7. 2) Abthlg.: Wagenpferde^ a) Traber: Hengste 80, Stuten
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285
22 ;.b) schwere Wagenpferde: Hengste 11; c) Pferde für den leichten
Anspann: Hengste 3, Stuten 2. 3) Abthlg.: Arbeitspferde: a) Last¬
pferde: Hengste 8, Stuten 12; b) locale (typische) Racenpferde 5.
Der Zahl nach hatten ausgestellt: S. K. H. der Grossfürst Nikolai
Nikolajewitsch der Aeltere (Gestüte im Gouvernement Woronesh) 17,
Fürst Sanguschko' (Gouvernem. Wolhynien) 8, Offrossimow (Gouv.
Orel) 8, Petrowski 7, Kusnezow (Gouvernem. Charkow) 6, Masaraki
(Gouvernem. Poltawa) 5, Stankewitsch (Gouvernem. Woronesh) 5,
Molostwow (Gouvernem. Kasan) 5, Fürst Chilkow (Gouvernem. Tula)
4, Neronow (Gouvernem. Twer) 4, Kolessow (Gouvernem. Moskau) 4,
Lehmann 4; 16 Exponenten hatten je 3, 32 Exponenten je 2 und 35
Exponenten je 1 Pferd ausgestellt. Im Ganzen waren 95 Aussteller
vertreten.
Es wurden 45 Geldprämien von 700 bis 100 Rubel vertheilt, ferner
8 goldene Medaillen für die Züchter solcher Pferde, welche erste
Prämien erhalten hatten, dann 69 Broncemedaillen und 31 Belobi¬
gungen.
Im Ganzen wurden 154 Pferde^ prämiirt; es ist diese Zahl ein
Beweis für die Güte der ausgestellten Pferde.
Der Reihenfolge der Abtheilungen nach gehörten die besten der
ausgestellten Pferde folgenden Züchtern an: A. A. Mossolow, Fürst
Sanguschko, S. K. H. Grossfürst Nikolai Nikolajewitsch, Stanke-
witsch, Masaraki, Kolubakin, Ochotnikow, Neronow, Pa\ylow, Koro-
bynin, Masurin und Tulinow; dann die Pferde der moskowischen
Kaufleute und endlich, der Bauern aus den Gouvernements Tambow,
Woronesh, Kasan, Tula und besonders derjenigen aus Shukawka.
Wir entnehmen diese Nachrichten einem Circular Sr. Exc. des
Oberdirigirenden der Hauptverwaltung der Reichsgestüte, General-
Adjutant von Grünwaldt, und lassen denselben noch einen Auszug aus
der Einleitung zu jenem Circular folgen, in welcher sich General-Adju¬
tant von Grünwaldt über die Ausstellung im Allgemeinen ausspricht:
„Die dritte allgemeine Ausstellung russischer Pferde hat gezeigt,
dass die Pferdezucht in Russland bedeutende Fortschritte gemacht
hat; der beste Beweis dafür liegt in der Thatsache, dass diejenigen
Pferde, welche im Jahre 1869 ausgestellt und jetzt im Jahre 1872
zum zweiten Male vorgeflihrt waren, im Vergleich mit den neuer¬
schienenen Pferden nicht mehr so günstig wie früher beurtheilt
wurden.
Den bedeutendsten Fortschritt zeigte die Abtheilung der Arbeits¬
pferde, welche besonders stark von moskowischen Züchtern beschickt
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286
war, obgleich auch sehr entfernte Gegenden Arbeitspferde aus¬
gestellt hatten, die vollständig allen Anforderungen entsprachen.
Es muss aber hierbei hervorgehoben werden, dass sich als die besten
Pferde diejenigen erwiesen, welche von Hengsten aus den Reichsge¬
stüten abstamrfiten und die sich besonders durch ihr Blut auszeich- 9
neten; und wenn man auch den Bauern desDorfesShukawka (Gouver¬
nement Tambow), die bei ihrer Pferdezucht nicht die Hengste aus den
Reichsgestüten verwenden, alles verdiente Lob gern zugesteht, so muss
man doch sagen, dass ihre Pferde, so vortheilhaft sie auch auf den gou-
vcrnementalen Ausstellungen hervortraten, doch in Moskau die Con-
currenz mit den Pferden edlerer Race nicht aushalten konnten. Die
Zuchtstuten in der Section der Arbeitspferde waren sehr bemerkens-
werth und nach den Ankäufen zu urtheilen, die von unseren intel¬
ligenten Züchtern gemacht wurden, scheinen diese Letzteren ihre be¬
sondere Aufmerksamkeit gerade dieser Gattung Pferde zuzuwenden,
und sie haben vollkommen Recht, in der Veredlung der Race den
bessern Erfolg zu suchen. Ueberdies bewahren die groben Bauern¬
pferde ihre Breite, ihre Festigkeit, ifire starken Knochen in ihren kur¬
zen Beinen—Eigenschaften,[die sie zu aller Art Zucht geeignet machen.
Es ist augenscheinlich, dass die Gouvernements-Ausstellungen über¬
haupt vortreffliche Resultate geliefert haben und von unbestreitbarem
Nutzen gewesen sind.
In den zwanziger Jahren machte sich bei uns das Bedürfniss
nach besseren Reit- und Luxuspferden geltend; die Garde-
Officicre zahlten die höchsten Preise, wenn sie nur gute Pferde
erhalten konnten. Im Vergleich mit den Ausstellungen von
1866 und 1869 hat die diesjährige Ausstellüng auch hier einen
bedeutenden Fortschritt gezeigt, sowohl in der Quantität als
in der Qualität der ausgestellten Reitpferde. Die Ansprüche ha¬
ben sich in den letzten Jahren geändert, man verlangt Pferde von
breiter Gangart, mit einem starken Rücken, starken Beinen, muthige
und kräftige Pferde, die im Stande sind, alle möglichen Hindernisse
zu überspringen; ein kleiner Kopf, ein schön getragener Schweif
haben, wenn auch angenehm für’s Auge, doch ihren Werth ver¬
loren. Wenn unsere Pferdezüchter nach dem Beispiele des Fürsten
Sangusckko ihre Pferde als Reitpferde ausstellen könnten, so würde
das für sie nicht bloss direct, sondern indirect auch beim Verkauf von
grossem Nutzen sein. Es ist nicht zu verkennen, dass die Lösung
dieser Aufgabe viele Schwierigkeiten darbietet, sie ist aber zur Zeit *•
eine Nothwendigkeit geworden. In allen Ländern Europas'geht man
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287
von der Ansicht aus, dass die ausgestellten Pferde als Reitpferde zu
beurtheilen sind.
Die grossen Reitpferde, die zugleich auch Luxuspferde sind, wer¬
den ausserordentlich stark gesucht, um so mehr, als sie sich mehr
zum allgemeinen Gebrauch eignen, wie die kleinen Pferde.
Leider waren in der Abtheilung der Reitpferde, sowie in der der
grossen und kleinen Wagenpferde die Stuten nur wenig vertreten;
auch die Zahl der Vollblutpferde war nicht gross. Die Herren Mosso-
low und Fürst Sanguschko haben auch diesmal als Aussteller ihren
alteh Ruf aufs Neue bewährt. Das Uebergewicht der Race hat be¬
sonders die Aufmerksamkeit unserer Züchter auf sich gezogen.
Unsere Vollblutpferde haben sehr in ihrem Aeusseren gewonnen und
entsprechen damit mehr den Forderungen, welche der Reiter an sie
stellt. Die hübschen Araber, die leider nicht gross von Wuchs
waren, und die Halbblutaraber erster Kreuzung bieten für die An¬
forderungen unserer Zeit hinsichtlich der Züchtung nicht genügende
Garantie. Auch die in diesem Jahre veranstalteten Rennen um die
von der Kaiserlichen Familie gestellten Preise haben zur Genüge die
Eigenschaften und den Werth der Halbblutpferde dargelegt. Alle
von Sr. Majestät dem Kaiser für die Rennen mit Hindernissen zu
Krassnoje und Zarskoje ausgesetzten Preise wurden durch 6 Pferde
gewannen, die von dem Vollbluthengst Valeria abstammen, (der sei¬
nerseits von Van-Tromp und Philippa abstammt), welcher drei Jahre
lang im Gestüte zuTambow verwandt wurde und sich nun augenblick¬
lich in dem von Janow befindet.
Unter den Trabern übertrafen auf der Ausstellung die Zuchtstuten
sogar noch die Hengste dieser Race. Unter den Stuten herrschte die
graue Farbe vor und die kleine Zahl grauer Hengste war ausgezeichnet.
Die Traber sind im Allgemeinen sehniger geworden und ausser
anderen anerkennenswerthen Eigenschaften ist das Hintertheil bei
ihnen vortrefflich entwickelt. Aber unsere Traber werden erst dann
ihren wahren Werth erreichen, wenn man sie nicht durch vorzeitiges
Einfahren ermüdet und sie sich mehr allmählich entwickeln lässt.
Man würde dann bei ihnen jm vorgerückten Altereine grössere Schnel¬
ligkeit erzielen, was ja in Amerika positiv nachgewiesen ist und zu
erreichen für uns sehr wichtig wäre.
Die Reichsgestüte haben keine Pferde zur Ausstellung gesandt,
denn ein grosser Theil der Züchter hat die Reichsgestüte besucht und
. kennt sie Hinreichend. Die Billigkeit verlangt es aber zu erwäh¬
nen, dass diese Reichsgestüte den in den Privatgestüten gezüchteten
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288
Pferden niemals Concurrcnz machen weder auf den Ausstellungen,,
noch bei den.Renncn, noch beim Verkauf, und dass sie den Interessen
der Züchter nirgendwo zu nahe getreten sind. Ebenso muss noch be¬
merkt werden, dass eine grosse Anzahl der ausgestellten Pferde in
directer oder indirecter Linie von Zuchthengsten depReichsgestütc
abstammt. Die Hauptaufgabe der letzteren besteht in der Auf¬
besserung des Gestütswesens im Allgemeinen. Die Verwaltung för¬
dert diese Aufbesserung und die Vermehrung der verschiedenen
Species durch Racenpferde, indem sie den Privat-Züchtern ihre ge¬
züchteten Pferde überlässt. Wenn man diejenigen Preise, zu wel¬
chen den Züchtern Pferde aus den Reichsgestüten überlassen wer¬
den, mit denjenigen vergleicht, welche gewöhnlich von Privatpersonen
bezahlt werden, so wird man finden, wie sehr die russische Regierung
die Pferdezucht unterstützt. Wenn man hoffen könnte, dass die
regelrecht organisirten und mit Erfolg geführten Privatgestüte immer
in denselben Händen bleiben, dass die eingefuhrten Systeme keine Ver¬
änderung erleiden und die Zuchthengste nicht verkauft würden; wenn der
Erbe eines Gestüts nicht mehr dem Beispiel seines Vorgängers zu folgen
gewillt ist: dann könnte natürlich die Pferdezucht auch ohne Hülfe
der Reichsgestüte auf dem Wege des Fortschritts gut gedeihen.
Vorläufig aber wird diese Unterstützung noch nicht zu entbehren
sein und wenn die Hauptverwaltung der Reichsgestüte auch weit d& von
entfernt ist, für unfehlbar gelten zu wollen, so berechtigen doch
einerseits die Nachfragen nach zeitweiser Ueberlassung von Zucht¬
hengsten und andererseits die grosse Anzahl der den Reichsgestüten
zum Belegen zugeführten Stuten zu dem Schlüsse, dass die von der
Hauptverwaltung der Reichsgestüte ergriffenen Maassregeln nicht
ohne Erfolg gewesen sind.
Se. Majestät der Kaiser verwendet ausschliesslich nur russische
Pferde zu seinem Gebrauche, sowohl zum Reiten als zum Fahren,
und während zehn Jahren sind, einige wenige Ausnahmen abge¬
rechnet, für den Kaiserlichen Hof keine Pferde aus dem Auslande
bezogen worden. Das ist-wohl der beste Beweis für den befriedi¬
genden Zustand der Pferdezucht in Russland.
Es ist wohl wünschenswerth, dass die Gestütbcsitzer anständige
Preise für die von ihnen gezüchteten guten Pferde erhalten, aber es
scheint die Vermuthung begründet, dass die Abwesenheit auslän¬
discher Käufer wesentlich dem Umstande zuzuschreiben ist, dass
man so unverhältnissmäsig hohe Preise verlangt, und umsomehr, als
die Ausländer ja nicht gegen die graue Farbe eingenommen sind, die
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289
4r
bei uns noch so vielfach gezüchtet wird, obgleich auch dieses-
mal wieder die Meinung gerechtfertigt ist, dass in der grauen
Farbe noch am meisten die Eigenschaften der alt-arabischen Vor¬
fahren vereinigt sind, welchen nicht bloss Russland, sondern auch die
anderen Länder Europa’s die Besserung ihrer Pferde-Racen ver*
danken. “
Kleine Mittheilungen.
(Russland in Centralasien. ‘Widerlegung der Pall-
Mall-Gazette.) Der „Regierungs-Anzeiger*“ bringt in No. 237
folgende Mittheilung: „Die englische „Pall-Mall-Gazcttc“ vom 18.
September theilt ihren Lesern die in unseren Zeitungen -veröffent¬
lichte Nachricht über den zwischen Russland und dem Herrscher von
Kaschgar abgeschlossenen Handelsvertrag mit und fügt ihrerseits
einige gänzlich unrichtige Mittheilungen hinzu.
■ Nach den Worten der genannten Zeitung wäre ein Artikel dieses
Vertrages, der sich auf den freien Durchzug nicht bloss russischer
Kaufleute und Karawanen, sondern auch russischer Truppen bezieht,
anfangs von Jakub-Bek zurückgewiesen worden, welcher Letztere den
Vertrag nur unter dem Einfluss von Drohungen unterzeichnet habe,
nachdem russische Truppen ah die Grenze vorgerückt seien.
Diese Nachricht ist falsch.
Die Verhandlungen des Turkestanschen General-Gouverneurs mit
Jakub-Bek hatten einen ganz freundschaftlichen und friedlichen Cha-
racter. Ihr einziges Ziel war die Herstellung guter nachbarlicher
Beziehungen und eines regelmässigen Handelsverkehrs. Das bestä¬
tigt die „Pall-Mall-Gazette“ selbst, indem sie sagt, der Turkestanschc
General-Gouverneur habe dem Abgesandten Jakub-Bek’s formell er¬
klärt, „dass Russland keine Eroberungen suche, dass es aber be¬
müht sei, in Centralasien bürgerliche Ordnung und Freiheit einzu¬
führen/'
Ist aber eine solche, mit den Ansichten der Kaiserlichen Regierung
vollkommen übereinstimmende Erklärung wohl vereinbar mit der'
P'orderung des Durchzugs von Truppen oder mit der Drohung der
Gewalt der Wafien?
Was nun die Versicherung betrifft, die Jakub-Bek an den Baron
Kaulbars gegeben hat: „dass er die Freundschaft des Grossen Zaren
der Freundschaft Englands vorziehe und dass er alle Vorschläge der
indischen Regierung zurückgewiesen habe,“ so ist das einer jener
asiatischen Kniffe, denen Niemand eine ernste Bedeutung beilegt.
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290
Jakub-Bck wird keine Bedenken tragen, sich mit gleichen Versiche¬
rungen auch an die englischen Agenten zu wenden, mit denen er
Verhandlungen zu führen hat.
Eine Achtung gegenseitiger internationaler Verpflichtungen hat in
den Sitten der Asiaten noch keine Wurzel gefasst. Eine Aenderung
kann man in dieser Hinsicht nur von der Zeit erwarten, mehr aber
noch von dem wohlthätigen Beispiel zweier grossen Mächte, die den
gemeinsamen Beruf haben, die Civilisation in Central-Asien zu ver¬
breiten.
So lange England und Russland, jedes in seiner Sphäre, im Ein¬
verständnis mit einander handeln und die frühere, jetzt jeder Bedeu¬
tung entbehrende Nebenbuhlerschaft bei Seite setzen, werden keine
Ränke asiatischer Politik im Stande sein, dieses Einverständnis zu
stören. Eine Verbindung Englands mit Russland, welche dahin ge¬
richtet ist, in jenen Ländern eine bessere Ordnung der Dinge her¬
beizuführen, wird unzweifelhaft der Menschheit, wie den beiden
Staaten, zwischen welchen nur ein Wetteifer in der Ausbreitung
der Civilisation und des Handels bestehen kann, Nutzen bringen.“
(Zur Statistik der periodischen Presse in Russland.)
Nach dem von derOber-Pressverwaltung herausgegebenen,,Anzeiger
für Pressangelegenheiten“ erscheinen zur Zeit in Russland und Polen
mit Ausschluss von Finnland 377 periodische Schriften (Zeitungen,
Wochen-, Monats- und Vierteljahrsschriften etc.); davon kommen
auf St. Petersburg 109, auf Moskau 30, die übrigen vertheilen sich
auf verschiedene Städte des Reichs. In russischer Sprache erscheinen
286; in polnischer Sprache 41; in französischer Sprache 6; in deut¬
scher Sprache 30; in lettischer Sprache 4; in estnischer Sprache 5;
in finnischer Sprache 2; in hebräischer Sprache 3. Von französischen
Zeitschriften erscheinen 4 in St. Petersburg, 1 in Moskau und 1 m
Odessa; zwei derselben: „Horae societatis entomologicae Rossiae“
und die ,,Memoires de facademie de St. Petersbourg“ geben ihre
Mittheilungen theils in französischer, theilsin deutscherSprache. Von
den in deutscher Sprache publicirten Zeitschriften kommen auf:
St. Petersburg 7, Moskau 1, Riga 11, Odessa 2, Dorpat 6, Reval 1,
Libau 1, Narva 1, Pernau 1.
(Eisenbahnen). Ueber die Entwickelung des russischen Eisen¬
bahnnetzes finden wir in der von L. Perl herausgegebenen Schrift:
,,Die russischen Eisenbahnen im Jahre 1870/71“ *) folgende Daten:
Die erste Eisenbahn, welche in Russland gebaut wurde, war die von
St. Petersburg nach Zarskoje-Sselo, welche im Jahre 1838 eröffnet
*) „Die russischen Eisenbahnen im Jahre 1870 71.. Von L. Perl. Oberbeamter der
Grossen Russischen Eisenbahngesellschaft. Mit einer Uebersichtskarte der russischen
Eisenbahnen St, Petersburg 1872.“
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291
wurde und eine Länge von 25 Werst hat (7 Werst— 1 deutsche Meile).
Ende 1870 betrug die Länge des ganzen russischen Eisenbahn¬
netzes 10,531,4 Werst, (von denen 1093 Werst auf Staatsbahnen,
und 9438,4 auf Privatbahnen kommen). Davon entfallen auf die erste
zehnjährige Periode (1838 — 1847) 343 Werst, auf die zweite
(1848 — 1857) 749 Werst, auf die dritte (1858—1867) 3698 Werst
und auf die Jahre 1868/70—5736,3 Werst. Die drei letzten Jahre über¬
steigen hiernach mit beinahe 1000 Werst den Bestand sämmtlicher
Vorjahre; in den zehn Jahren von 1861/70 wurden gebaut 9040,7
Werst, während die Jahre (1838 — 1860) 1490,7 Werst aufweisen.
' (Di© Ein- und Ausfuhr des Russischen Reiches) vom
1. Januar bis 31. Juli der Jahre 1871 und 1872 ist nach der vom
„Anzeiger des Finanzministeriums“ gegebenen vergleichenden Darstel¬
lung folgende:
Eimfahr:
Rohzucker, Pud ..
Raffinade, Candiszucker in Broden und in
Stücken etc. ... .
Thee (von Canton).
Caffee .•.
Oel. . . ..
Wein..
Wein in Flaschen ..
Champagner in Flaschen.* .
Salz, Pud.
Tabak in Blättern.
Rolltabak und Cigarren.
Baumwolle, rohe...
Baumwollengarn.
Farbholz.
Indigo.
Oele, flüchtige, zur Beleuchtung ..
Gusseisen, unbearbeitet.. .
Eisen: in Barren, geformtes und altes Eisen
Eisenblech für Kessel u. Blendwerke, Eisefl-
blechtafeln.
Eisen zu Eisenbahnschienen . ..
Blei ...
Wolle, rohe.. . ...
do. ungesponnene .............
do. künstliche ..
do. und Haargespinnste . ..
Seide..
Soda.
Steinkohlen..
Locomotiven, Locomobilen, Maschinenteile
u. Maschinen-Zubehör...
1871
1872
792
399,203
8
3,089
•369,467
444 , 3 H
294,828
, 242,843
768,484
852,321
589,021
636,176
154,287
208,093
603,096
694,421
7,334,282
7 , 353 , 7°6
97,280
118,305
2,019
2,296
3,030,380
2,249,166
162,241
178,058
282,878
358,758
46,729
45,957
559,213
638,557
1,458,428
904,653
2,661,946
1,897,086
668,368
751,704
4 , 071,356
2,043,767
334,540
429,145
81,354
96,041
2,104
4,494
24,236
16,286
141,602
99,032
8,730
• 10,240
560,939
520,456
37,586,404
36,030,706
938,216
1,220, 103
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292
Baumwollgewebe 57,945
Wollgewebc. 75,527
Seidengewebe . . . .. 5,312
Leinengewebe. 1,629,189
Ausfuhr: 1871
Weizen, Tschetwert . .. 5,784,842
Roggen. 2,477,743
Gerste. 982,647
Mais.' 343,225
Erbsen. 100,211
Hafer. 3>923>743
Mehl .. t . 196,632
Andere Feldfrüchte . .. 152,182
Gesammtsumme der Fcldfrüchte .... 13,961,225
Leinen- und Hanfsamen .. LQ95 $77
Leinen- und Hanföl. 1,465
Butter. 74,904
Sp iritus und Branntwein. 404,799
Honig und Zuckersyrup. 6,624
Tabak . T. 44,651
Hornvieh. 25,7s 1
Hammeln und Schafe. 246,565
Pferde. 7,233
Talg. 149*631
Flachs.;. 5*570,726
Flachswerg. •...■• . 485,6153
Hanf. 1,734,425
Hanfwerg... 47,603
Flachs-und Hanfleinwand.- 128,193
Leder, ungegerbtes. 104,162
60. gegerbtes und Juchtenleder. 12,321
Knochen. 356,116
Wolle, rohe. 399,499
Schweineborsten . . . . t. 57,414
Pferdehaare. 11,814
Pottasche .. 98,541
Ei§en. 166,414
Kupfer. 70
Lumpen. 421,308
Seile, Taue. 110,052
Brabant und Scgclleinwand. 6,654
do. in Stücken. 4,388,390
Grobe Leinwand. 4,484
Gewebe.. 5 5,915
Holz, Rubel. 6,974,429
Pclzwaareri, Pud .. 24,638
Digitized by
Google
70,37°
80,076
7>5°9
1,496,052
1872
5,170,876
1,685,127
502,456
269,406
38,035
54o,i39
563-113
106,356
8,875,508
887,243
8,338
27,986
249,382
14
106,278
29-453
343,56o
8,564
184,017
3-875-386
5°4,394
2,363,928
56,384
326,945
158,004
20,983
• 500,850
633,857
55,5i5
20,202
53,352
80,306
39,870
413,630
161,936
6,013
1,851,096
9,854
206,395
12,998,421
58,159
*93
(Die Thätigkeit der St. Petersburger Naturforscher-
Gesellschaft.) Als Quelle für die nachfolgenden Mittheilungen be¬
nutzen wir die in den Jahren 1870 — 71 erschienenen zwei Bände der
Arbeiten genannter Gesellschaft (Tpyjzbi C.-IIeTepöyprcKaro 06 -
mecTBa EcTecTBOHcnnTaTe;iett, hecausgegeben vom Professor A.
Beketoiv , Conseilsmitgliede der Gesellschaft), welche ihre erste all¬
gemeine Sitzung am 28. December 1868 — dem Tage der Eröffnung
des ersten Congresses russischer Naturforscher —» hatte. Am 2. Fe¬
bruar 1870 wurde der erste Jahresbericht verlesen. \ Die Gesellschaft
zerfällt in drei Scctionen: für Zoologie, für Botanik und für Mine¬
ralogie und Geologie. Im ersten Jahre ihres Bestehens (1869) rüstete*
sie eine Expedition zum Weisscn Meere aus, welche aus vier Mitglie¬
dern bestand: den Herren Jarshinski und Iversen für zoologische ,
Untersuchungen, Herrn Inostrantzcw für georgische und Herrn Sokoloiv
für botanische. Herrn Jarshinski s Ausbeute aus dem Eismeere, dem
Weissen Meere und den grossen Seen, die er auf seiner Rückreise
berührte, umfasst 292 Arten aus den Classen der Araneiden, Stachel¬
häutigen, Mollusken, Ringwürmer, Eingeweidewürmer und Protozoen.
Unter ihnen ist eine bedeutende Anzahl ganz neuer oder wenigstens
in unserer Fauna bisher unbekannter Arten. Besonders bemerkens-
werth ist ein ungewöhnlich grosser Pyknogonid (Seespinne),' der die
ungewöhnliche Grösse von 9(2 Zoll erreicht. Er ist von Herrn Jar-
shinskf einer neuen, von ihm-bestimmten Gattung zugezählt. Auf
Grund thermometrischer Beobachtungen war es clemselben Forscher
möglich, deutliche Beweise zu Gunsten der Ansicht, dass an der
Murmanischen Küste ein verhältnissmässig warmer Strahl des Golf-
stromes vorüber gehe, zu liefern; diese Ansicht wird auch durch den
Umstand bestätigt, dass in dieser Gegend Thiere Vorkommen, die
dem Atlantischen Ocean eigen sind. Auch über das Thierleben in
den verschiedenen Meercstiefen hat Heh* Jarshinski Beobachtungen
angestellt. Sein Mitarbeiter, Herr Iversen, beschäftigte sich haupt¬
sächlich mit ornitholqgischen Studien und die von ihm veranstaltete
Sammlung enthält hauptsächlich Vögel, ihre Eier und Nester.
Herr Sokolow , der die Küste des Weissen Meeres von Archangelsk
bis zur Kern und die,Ufer des Onega-Flusscs in der Nähe der Mün¬
dung für seine botanischen Zwecke untersuchte, hat 325 Arten
Phanerogamcn und viele Flechten und Seealgen mitgebracht. Seine
dendrologische Sammlung umfasst 23 Muster, bei deren Zusam¬
menstellung er auf die Bedingungen des Wachsthums der Bäume, die
ihm Muster lieferten, achtete.
'Dem Geologen der Expedition, Herrn Inostrantzew , gelang es,
die in geologischer Beziehung fast unbekannten Küsten des Weissen
Meeres, von der Mündung des Onega-Flusses bis zu der der Ssuma,
und die Ufer des ersteren zu besuchen. Er hat eine vollständige geo¬
logische Sammlung aus den von ihm untersuchten Gegenden mit¬
gebracht, und ein höchst lehrreiches und wichtigesMoment aus den
Resultaten seinerRciseist die Thatsache, dass der Onega-Fluss nirgend
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294
von devonischen Schichten durchschnitten wird, wie bisher auf den
geologischen Karten Russlands angemerkt war. Ein nicht geringes
wissenschaftliches Interesse bieten auch seine Beobachtungen über
die erratischen Anhäufungen, die sich von den Küsten des Weissen
Meeres nach Süden und Süd-Westen ziehen und die er vom Flecken
Ssuma bis zur Stadt Powenez verfolgen konnte.
In den 9 Sitzungen der zoologischen Section im Jahre 1869 sind
20 wissenschaftliche Mittheilungen gemacht worden, die sich alle auf
specielle Untersuchungen stützten und von denen einige ein all-
gemein-wissenschaftliches Interesse boten, andere auf die russische
'Fauna oder die Anwendung wissenschaftlicher Resultate für die
Praxis sich bezogen. Von ersteren wird im Jahresberichte Pro¬
fessor Zions Mittheilung über das negative Schwanken des
Nerven-Stromes erwähnt, ferner: ein Bericht desselben Gelehrten
über die unter seiner Mitwirkung ausgeführte Arbeit des Herrn Usti-
nowiisch , welche die Innervatio der Kehlmuskeln betrifft; die Unter¬
suchungen Herrn Oscar Grimnis über den Bau d$r halbkreisförmigen
häutigen Kanäle des Katzenohrs und über die Entwickelung der Eier¬
stocke und des Eis der Chironomen; die Untersuchungen Herrn Jar-
shinskius über den anatomischen Bau der Echinorhynchen; Herrn
Dedjulms Untersuchungen über den hemmenden Einfluss von N. ac -
cessorii Willisii auf N. laryngaeus superior; die Untersuchungen
Professor Metschnikow s über die Entwickelung von GyrodactÜus eie -
gans 9 die Entwickelung der Axoloten und das Nervensystem der See¬
igel; Herrn E> Brandt's Untersuchungen überdas Blutsystem der Vi-
pera berus und über den Bau des Nerven-Systems von Lepas ana -
tifera .
Von den anderen Referaten erwähnen wir Professor Kesslefs Mit>
theilungen über die häringsartigen Fische in der Wolga ,• Herrn Mik-
lucho-Mßklay s Untersuchungen über die Spougien des nördlichen
und nordwestlichen Asien, welche von E. v. Baer, Al. Middendorff und
Wosnessenski mitgebracht sind. Diese Untersuchungen bieten
daher ein allgemeines Interesse, weil sie die Veränderlichkeit der
Schwämme unter dem Einflüsse verschiedener Bedingungen *
nachweisen. .
Die botanische Section hatte acht Versammlungen. Von den in
ihnen gemachten Mittheilungen erwähnen wir von Herrn Borodin:
über Erscheinungen der Motion des Chlorophyls unter dem abwech¬
selnden Einflüsse von Licht und Finsterniss bei Lemna trisulca,
Callitriche vema und Stellaria media , von Professor Faminzin über
Erscheinungen der Bildung von stärkeartigen Kalkkörpem, von
Herrn Batalin Untersuchungen über den Einfluss des Lichts auf die
Theilung der Zellen der höheren Pflanzen und auf die Bildung ihrer
Gefässbündel, von Herrn Wororan Mycologische Untersuchungen\
welche in russischer und deutscher Sprache (1869 — 1870) veröffent*.
licht sind, so wie Baranetzkis Untersuchungen über Diffusion .
In der Section für Mineralogie und Geologie fanden fünf Sitzungen
statt. Die in denselben von den Herren' Wenetski v Inostrantzew ,
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295
Pusyrewski , Eickwald u. A. gemachten Mittheilungen bezogen sich
sämmtlichauf mineralogische und geologische Verhältnisse Russlands.
Während des zweiten Jahres ihres Bestehens erlitt die junge
St. Petersburger Naturforscher-Gesellschaft schmerzliche Verluste.
Sie verlor durch den Tod zwei Ehrenmitglieder, den Akademiker
F. Ruprecht , den Moskauer Professor N. Kaufmann und das
Wirkliche Mitglied 6*. M. Rosanow , Botaniker am Kaiserlichen Bo¬
tanischen Garten.
Im Jahre 1870 waren mehrere Mitglieder der botanischen Sec-
lion für die Verbreitung naturwissenschaftlicher Kenntnisse thätig,
indem sie öffentliche Excursionen in den Umgegenden von St Pe¬
tersburg leiteten. Solcher Excursionen 1 fanden im Jahre 1870
30 statt und sie werden jeden Sommer fortgesetzt. Wir haben fol¬
gender von der Gesellschaft in diesem Jahre ausgerüsteten Expe¬
ditionen zu erwähnen: Herr Jarshlnski setzte seine Untersuchungen
der Fauna des Eismeers und des Weissen Meeres fort. Am 20. Mai
verliess er auf der Corvette Warjag Kronstadt, umschiffte die Skan¬
dinavische Halbinsel und kehrte zu Lande am Ende des November,
mit sehr reicher Beute nach St. Petersburg zurück. Von der bota¬
nischen Section wurde der Studiosus (jetzt Candidat) J. Schmal¬
hausen mit der Ausbeutung der Flora des Karelischen Isthmus des
St. Petersburger Gouvernements betraut. Er entledigte sich seines
Auftrages mit grösster Genauigkeit und hat mehr als 600 Arten
heimgebracht, unter ihnen auch einige in der St. Petersburger Flora
bisher unbekannte. Herr Inostrantzexv untersuchte in mineralogisch-
geologischer Hinsicht die Gegenden zwischen dem Onega-See und
dem Weissen Meere. Von den vielen interessanten Resultaten seiner
Reise sei hier eins erwähnt. Es gelang ihm thatsächlich, die Er¬
hebung der Ssolowetschen Inseln nachzuweisen und sogar eine appro¬
ximative Berechnung darüber anzustellen, nach welcher diese Inseln
sich um ungefähr 3V2 Fuss während eines Jahrhunderts erheben.
Es ist noch anzufiihren, dass im Jahre 1870 von der zoologischen
• Section ein Preis von 150 Rubeln für eine Beschreibung der Vögel
des St. Petersburger Guberniums, oder eines Theils desselben, aus¬
geschrieben worden ist.
Die von der Gesellschaft bisher herausgegebenen zwei Bände ihrer
Arbeiten sind jeder in zwei Lieferungen erschienen. Der I. Bd. um¬
fasst 321 S. 80. mit 4 (Kupfer-) Tafejn Abbildungen, der zweite
CXV 1 I — 220 S. 80. mit zwei colorirten Kupfertafeln. Ausser den
Protocollen mit den Referaten über die Vorträge finden wir hier die
Jahresberichte, Reiseberichte und Abhandlungen abgedruckt. Von
letzteren erwähnen wir aus dem 4 . Bd. Professor K ’ F. Kesslers Ab¬
handlung über die Neunauge der Wolga Petramyzon Wagneri n. sp.
(Bd. I, S. 207—214. Desselben Abh. über die ideologische Wolga-
Faune (S. 236 — 310) und seine Beschreibung einer neuen Art
aus der Familie der Cyprinoidei ( Schirotku rax Pelzatm, nova species
S. 320— 323), Ch Grimnis Beschreibung zweier neuen Arten von
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296
Echinorhynchm { ibid. S. 214— 223), des verstorbenen O. Rosancnv
Bemerkung über den Bau des Schwimmorgans von Dcsmanthus na -
. tans Willd (S. 226 — 236), Professor A. Beketoiv s Bemerkung über
das Wachsen der Saamen von Triglockin polustre L und Schench-
zeria plalustris L (S. 311 — 315)- Desselben Blick auf den Stand
der Forschungen über die St. Petersburger Vegetation (S. 183—207)
und des Candidaten J. Schmalhansen Abhandlung über die Reihen¬
folge in der Bildung der Blüthen an den Zeilen der Gramineen
(S. 161 —187).
Der II. Band enthält die Abhandlungen von Ä . Inostrantzezv. Geo¬
logische Skizze der Gegend zwischen dem Weissen Meere und dem
Onega-See (S. 1 —.83), A . Batalin : Einfluss des Lichts auf die
Blattentwickelung (S. 112 — 131), N. Shelesnow: Bildung der
Knospen am Stengel von Schizostylis coccinea, M. Woronin : Unter¬
suchungen über den Pilz Puccinia Hc/ianthi, den Schmarotzer von
Helianthus annuus (Sonnenblume) (S. 157 — 189), Osc. Grimm :
Materialien zur Faune der Würmer des St. Petersburger Gubemiums,
A . Brandt: Ueber die Zahl der Nervenfasern bei grossen und
kleinen Thieren (S. 291 — 206), N. Zdckauer: Ueber das Fischgift
(S. 206 — 220).
Die Thätigkeit der Naturforscher-Gesellschaft in
(Charkow). Uns liegt das letzte Heft der Protocolle dieser am 24.
Mai 1869 vom Minister der Volksaufklärung bestätigten Gesellschaft
vor. — IIpoTOKOJibi 3ac r kAaHifi OömecTBa HcnMTaxeJieö npnpoAw
npn Hm nepaxopcKOMt XapbKOBCKOMi* yHHBepcirreT r b bo BTopoe
nojiyroÄie 1871 roita. Ausser den Protocollen für das zweite Se¬
mester des vorigen Jahres enthält es auch den Bericht über die Thä¬
tigkeit der Gesellschaft im erwähnten Jahre. Wir entnehmen demselben
Folgendes: Die Gesellschaft zählte am 1. Januar 1872 —28 wirkliche,
drei Ehren-Mitglieder und 40 Mitarbeiter. Es ist von ihr ein Preis
im Werthe von 250 Rubeln für die beste, bis zum I. December
1872 einzureichende Monographie über die in einer der Gegenden
des Cliarkowschen Lehrbezirkes vorkommenden Arten der Arancina
ausgeschrieben. Von ihren Schriften erschienen im Jahrei 871: die
Protocolle für das zweite Semester von 1870 und für das erste von
1871, ferner Band III und IV der Abhandlungen, die unter dem Titel
,,Tpy;ti>i“ erscheinen. (Im Laufe dieses •Herbstes ist der V. Band,
162 SS. in 4 0 mit einer Tafel, verschickt worden).
Im Sommer 1871 sind auf Kosten der Gesellschaft mehrere geo¬
logische Untersuchungen ausgeführt worden, und zwar von A. W.
(tiirow im Gouvernement Woronesh, im Lande der Donischen
Kosaken, und im Starobel’schen Kreise des Gouvernements Charkow;
von L . A. Ckitrozvo in. den östlichen Kreisen des Gouvernements
Kursk, und von J. 7 h. Lewakmvski in den westlichen Kreisen des¬
selben Gouvernements und des Charkowschen. ln Folge einer an die
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Gesellschaft von der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesell¬
schaft eingegangenen Aufforderung hat das wirkliche Mitglied J. y.
Morosow sich bereit erklärt, Beobachtungen an Gewittern, den atmo¬
sphärischen Niederschlägen und über das Zufrieren der Flüsse und
Aehnliches anzustellen und Mittheilungen darüber einzusenden. Im
Laufe des Jahres wurden in den Sitzungen folgende Mittheilungen
gemacht: P. Iwanow legte ein von ihm (im Verein mit A . Tsckemai)
angefertigtes Verzeichniss der in der Stadt Knpjansk und ihren Um¬
gegenden vorkommenden Wanzenarten Hemiptera-Heteroptera Latr.
(gedruckt im IV Bande der Abhandlungen S. 69 —76; er gab auch
einige Bemerkungen über dieselben Insecten, so wie einen Beitrag
zur Frage von den schädlichen Insecten. P. Stepanow las über den
Parasitismus der Najaden-Embryonen (gedr. im IV Bd. S. 1 — 14).
J. Lewakowski lieferte Materalien zum Studium des Tschernozem
(gedr. im IV. Bd. S. 15 — 68 ), welche auf des verstorbenen Akade¬
mikers F. Ruprecht geo-botanische Untersuchungen über diesen Ge¬
genstand Rücksicht nehmen, und las auch über Kreide-Sedimente
zwischen Nagolnaja und Aidar. Gomitski theilte einen Conspectus
der von ihm bei der Stadt Walki (Gouvernement Charkow) gesam¬
melten Pflanzen mit (gedr. imV. Bd.S. 71—97, enthält 673 Nummern).
• G. Radkewitsch gab eine Notiz über Macrobiotus Macronyx Duj.
(gedr. mit einer Tafel im IV. Bd. S. 163 — 170), so wie einen Be¬
richt über eine von ihm ausgeführtc Excursion. J. Delame legte die
anatomischenEigenthümlichkeiten desStempels der Aristolochiaceae dar
(gedr. im IV. Bd. S. 103 — 162, mit 3 Tafeln). H. Morosow theilte
seine Beobachtungen über die Bewegung des Wassers im Don mit.
Der Gymnasiallehrer N. F. Kranisakozu lieferte ein Verzeichniss von
Pflanzen, die er im Lande der Donischen Kosaken, hauptsächlich in
den Umgebungen von Nowotscherkask und Taganrog gesammelt
hat (gedr. im IV. Bd. S. 77 —94), L . Reinhardt eine Monographie
über die Charac\eae des mittlern und südlichen Russlands (gedr. im
V.Bde. S. 11 3— 145 mit einer Tafel). Frau Perejaslowcwa machte Mit¬
theilungen über die Schuppenflügler des Gouvernements Woronesh
(gedr. im IV. Bd. S. 95 — 102 und Bd. V. S. 65 — 69), so wie über
einzelne Arten von Infusorien, die in den Gegenden von Charkow
Vorkommen.
Es dürfte für ausländische Naturforscher gewiss von Interesse
sein zu erfahren, welches die übrigen oben nicht erwähnten Abhand¬
lungen und Aufsätze sind. Wir stellen sie in Folgendem nach den
Materien zusammen.
Ueber ihre Reisen berichteten: L. Reinhardt und G . Sperck über
botanische Excursionen, die sie im Smijew’schen und Isjumschen
Kreise machten (Bd. I, 18 SS., Bd. II, 13 SS.) und A. Gurow über die
Resultate einer geologischen Excursion im Pawlograder Kreise des
Gouvernemets Jekaterinoslaw (Bd. I, 4 SS.).
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20
298
Zur Zoologie lieferten Beiträge: G. Radkewitsch über Parasiten
auf dem Euchytracus vemnicidaris (Bd. I, 5 SS. mit I Tafel); 2) über
die parasitische Amoeba (im Darm von Blatta germanica ) (Bd. H,
5 SS. mit 1 Tafel); 3) zur Entwickelungsgeschichte der Nematoden
(Bd. III, 14 SS. mit 1 Tafel); A. Isckernai — überSüsswasser-Thiere
in ihrer Beziehung zu See- und Landthieren (Bd. II, 16 SS.) und —
über Stacheln an Spongien, die sich im Schlamm zweier Seen
des SmijewschenKreises finden (Bd. I, 4 SS. mit 1 Tafel); P. Stepa-
now —Beschreibung der in den Umgebungen Charkow’s gefundenen
Weichthiere von den Gattungen Anodonia und JJnio (Bd. II, 7 SS.);
K. Pencho — über die Gattungs- und Arts-Kennzeichen von Pelias
(Vipera Daud.) berus , Merrem\ nach zwei Varietäten (Bd. II, 26 SS.
mit 1 Tafel); W. Reinhardt — Bemerkung über Distoma cirrigherum
Baer (8 SS. mit 1 Tafel); W. Jaroschewski — Bemerkung über Pyr-
rhocoris apterus Liifn(Bd. I, 5 SS. mit Zeichnungen).
Zur Botanik: J. Ssorokin — Geschichte der Entwickelung von He-
lycostylum muscae, sp. nova (Bd. I, 7 SS. mit 1 Tafel), ferner —
über die Fortpflanzungsorgane von Erysiplie (ibid. 24 SS. mit 4 Ta¬
feln) und Mycologische Studien (Bd. III, III 4- 48 SS. mit 4 Tafeln),
A. Pitra — Zur Kenntniss von Sphaerobolus stellatus (Bd. I, 17 SS V
mit 1- Tafel); G. Sperk *) — Ueber verschiedene Vorgänge bei der
Befruchtung der Blüthen im Allgemeinen und über die Dichogamie
im Besondern, im Zusammenhänge mit der Organisation der Blüthen
(Bd. II, 24 SS.); Delarue — Zur Entwickelungsgeschichte von Sora -
strum Kg (Bd. II, 5 SS.) und J. Rusnesow — Ueber die Elemente
des Saamens von Oniscus murarius ibfd. mit Zeichnungen); und —
Histologische Untersuchungen über die Markhülle einiger Nadel¬
hölzer (Bd. III, 14 SS.) und L . Reinhardt —Bemerkungen über Farn¬
kräuter in Abchasien (Bd. I, 5 SS.).
Zur Mineralogie, Geologie und physikalischen Geographie’gaben
Beiträge: A. Briot — Untersuchungen über die Eisenerze aus dem
Dorfe Markowka, im Starobjelskischen Kreise (Bd. I, 2 SS.), Che¬
misch-mineralogische Untersuchungen einiger Repräsentanten kry-
staflinischer Gesteine am Dnjepr (Bd. V, S. i — 55) und—Chemische
Untersuchungen des Granits vonKaidak, am Dnjepr (ibid. S. 57—63);
der Berg-Ingenieur Nossow I. — eine Beschreibung des von ihm er¬
fundenen russischen Bergcompasses und Neigifngsmessers (Bd. II,
16 SS. mit 1 Tafel); dessen Bruder, Nossow II. — Eine Beschrei¬
bung der Steinkohlenlager von Lissischansk, Uspensk und Gorodi-
schtsche im Gouvernement Jekaterinoslaw (Bd. II, 46SS. mit I Tafel);
Ueber Anfertigqng von Schichten-Karten für die Berg-Industrie
(Bd. V, S. 99 — 112); Bemerkungen zu diesem Aufsatze gab J.
Lezvako'ivski (ibid. S. 147 —r 162); derselbe, machte auch Mitthei¬
lungen — Ueber die Salzseen von Slawjansk. (Bd. I, 10 SS.), Ueber
*) Einen Nachruf widmet diesem talentvollen, leider jung verstorbenen Botaniker
Pitra im III. Bande der Schriften der Gesellschaft.
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das Anstehen krystallinischen Gesteins am Dnjepr (Bd. III, 12 SS.)
und — Ueber die Ursachen der ungleichen Form bei den Abhängen
der Flussthäler (Bd. III, 38 SS.) und W. Kuprijanow — Ueber die
Horizont-Veränderungen des Dnjepr-Flusses während des Zeitraums
von 1859 ““ 1869 (Bd. II, 2 SS. mit 1 Tafel).
Literaturbericht.
K. Eeemyxceet-PioMuHS. Pyccieaa HcTopia. I. Cn6. 1871. 8° - •
Konstantin) Bestushew-Rjuinin. Russische Geschichte. Band I. St. Petersburg 1872.
m+IV+246+480 SS. 8°.
Die Handbücher der Russischen Geschichte, welche bisher
Vorlagen, sind zum Theil antiquirt, zum Theil entsprechen sie
nicht den Anforderungen, die ein Studirender an ein Handbuch
stellt. Ssolowjew’s Russisches Geschichtswerk, das seit 1851 erscheint
und mit dem 22. Bande noch nicht beendet ist, dürfte für ein Hand¬
buch, ohne Zweifel, zu umfassend sein. Auch hat, Dank den in dem
letzten Jahrzehnt reichlich veröffentlichten Quellen und vielen neuen
Einzeluntersuchungen, denen auf dem Gebiete der vaterländischen
Geschichts- und Alterthumskunde bei uns immer mehr neue Kräfte
sich zuwenden) der gegenwärtige Bearbeiter der russischen Geschichte
viel Neues zu verzeichnen, wovon seine Vorgänger noch schweigen
durften. Da ein Quellenanzeiger für die russische Geschichte, ein rus¬
sischer Potthast, noch ‘fehlt, ebenso ein bibliographisches Handbuch
für die russische historische Forschung 4 , so wird das oben genannte
Buch, weil es die erwähnten Lücken, soweit es in einem Geschichts¬
handbuche möglich, auszufüllen den Zweck hat, nicht allein der aka¬
demischen Jugend, sondern auch Jedem, der sich einem eingehenden
Studium der russischen Geschichte widmen will, gewiss sehr will¬
kommen sein. Der Verfasser selbst spricht sich in seiner Vorrede
*) Wir dürfen hier nicht unerwähnt lassen, dass die hiesige Akademie der Wissen¬
schaften seit 1855 eine russische historische Bibliographie (PyccKaa Hc-ropuHecKa«
Bu&niorpactU) in Jahrgängen herausgiebt. Bis jetzt sind acht Bände, für die Jahre J855
bis 1862, erschienen und sind in denselben in • möglichster Vollständigkeit die auf
Geschichte (nicht allein russische) und ihre Hiilfswissenschaften bezüglichen Erschei¬
nungen der russischen Literatur in den erwähnten Jahren, mit Einschluss der Auf¬
sätze in periodischen Schriften, genau verzeichnet. Diese verdienstvolle Arbeit wurde
unter derLeituilg, zuerst des Akademikers E.Kunik, später des leider zu früh verstorbenen
Akademikers P, Pekarski, von den Bibliothekaren der russisch-slawischen Bibliothek der
hiesigen Akademie der Wissenschaften, den Brüdern P. und B. Lambin, ausgeführt.
Die Anregung zu dem höchst nützlichen Unternehmen ist vom Akademiker Kunik aus¬
gegangen. '
20*
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_3<x>_
über den Zweck seines Unternehmens folgendermaasseh aus: „Mit
vorliegendem Buche wird beabsichtigt, die von der russischen histo¬
rischen Wissenschaft während der anderthalb Jahrhunderte ihrer Ent¬
wickelung gewonnenen Ergebnisse darzulegen, auf die Pfade hinzu¬
weisen, auf denen sie gesucht worden, oder jetzt noch gesucht wer¬
den, und endlich den Leser in den Kreis der, der Forschung zugäng¬
lichen Quellen einzuführen. Der Verfasser ist der Ansicht, dass ein
Versuch, wie der von ihm in Angriff genommene, ungeachtet seiner
nicht zu vermeidenden Unvollkommenheit, die nicht immer nur von
der Unzulänglichkeit der der Ausführung gewidmeten Kräfte bedingt
ist, nicht ohne Nutzen für Diejenigen sein dürfte, welche sich einem
selbstständigen Studium der vaterländischen Geschichte zuwenden
und nicht geneigt sind: jurare in verba magistri. Von diesem Gedan¬
ken ausgehend, hat der Verfasser in seinen Universitätsvorlesungen
— aus ihnen ist allmählich dieses Buch entstanden — beständig viel
Zeit der Würdigung der Quellen und Hilfsmittel, sowie der kritischen
Auseinandersetzung der in der Wissenschaft vertretenen Ansichten
gewidmet. Er erinnert sich noch, welchen Nutzen ihm selbst die Vor¬
lesungen seinesLehrers S. M.Ssolowojew brachten, in denen derselbe
die Entwickelung des historischen Wissens in Russland behandelte.
Der Verfasser ist der Ueberzeugung, dass der Universitätslehrer sich
zu dieser oder jener Ansicht über eine gegebene Frage bekennen
müsse; doch bei dem gegenwärtigen Stande unserer Wissenschaft
dürfte er selten vollkommen überzeugt sein, dass seine Ansicht — die
richtigste sei. In solchen Fällen ist der beste Ausweg nichteine dog¬
matische, sondern eine critische Darstellungsweise. Wird diese ein¬
gehalten — dann wird dem Zuhörer oder Leser nicht die einseitige
Ansicht dieses oder jenes Forschers, vielmehr die ganze Mannigfal¬
tigkeit der in der Literatur repräsentirten Ansichten geboten.“
„In der Darstellung bemühte ich mich, die staatlichen und socialen
Verhältnisse, die Anschauungen und die geistige Entwickelung jeder
einzelnen Epoche in den Vordergrund zu stellen, während ich die
Begebenheiten in gedrängter Uebersicht behandelte. Diese Darstel¬
lungsweise ist durch meine in der Einleitung dargelegte Ansicht von
der Geschichte, sowie durch den Umfang des Buches, den ich einzu¬
halten hatte, bedingt.“
Ursprünglich war es des Verfassers Absicht, sein Buch 'auf zwei
Bände zu beschränken, doch bei aller Bemühung, sich kurz zu fassen,
sah er sich endlich genöthigt, es in drei Bänden anzulegen. So ist
denn, obgleich der vorliegende Band bis zur zweiten Hälfte des XV.
Jahrhunderts reicht, das Capitel über Lithauen im XIV. und XV.
Jahrhundert für den nächsten Band Vorbehalten worden. Diese Er¬
weiterung des ursprünglichen Planes war um so jmehr nöthig, als der
Verfasser, um dem Leser die Möglichkeit zu geben, sich ein eigenes
Urtheil zu bilden, ihm hinreichendes Material dazu bieten musste,
auch mit den Hinweisungen auf die Quellen * nicht kargen durfte.
Er bedauert, dass der Druck des Bandes langsam fortschritt,
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3oi
weil er dadurch verhindert wurde, bei der Uebersicht der Quellen
und Hilfsmittel alles Das zu berücksichtigen, was während des
Druckes noch erschienen ist. Zum Theil hat er die neuesten Er¬
scheinungen bei seiner Darstellung schon benutzt, die nothwendigen
Nachträge werden aber im letzten Bande gegeben werden.
In der ziemlich umfassenden Einleitung (246 SS.) giebt der Ver¬
fasser seine Ansicht von Geschichte und historischer Kritik, handelt
dann von den Quellen und Hilfsmitteln zum Studium der russischen
Geschichte, und schliesst mit einer historischen Uebersicht der
russischen Geschichtsforschung (S. 208—246), -die erst seit
Peter’s des Grossen Zeit beginnt. Unsere wissenschaftliche Literatur
ist zum Theil, und das.mehr als irgend eine andere, in verschiedenen
periodischen Schriften zerstreut; selbst Zeitschriften, welche für
den grösseren Theil des gebildeten Publicums berechnet sind, brin¬
gen fast injedem Monatsheft wissenschaftliche Abhandlungen, unter
denen die auf die russische Geschichte bezüglichen seit Karamsin’s
Zeiten die häufigsten sind. Daher sind die bibliographischen Nach¬
weise in der Einleitung zu Herrn Bestushew-Rjumin’s Handbuch
von besonderem Werthe für die Einführung ins Studium der russi¬
schen Geschichte. Seine ausserordentliche Belesenheit hat ihn dabei
aufs Beste unterstützt, wenn auch die Anlage seines Buches ihm
einige Beschränkungen auferlegen musste. ’
Der vorliegende Band umfasst, wie erwähnt, den Zeitraum von der
Gründung des russischen Staates bis zur zweiten Hälfte des XV.
Jahrhunderts (mit Ausnahme der Geschichte Lithauens im XIV. und
XV. Jahrhundert), welcher in sieben Capiteln behandelt ist. Das erste
Capitel(S. 1—87) ist ethnographischenlnhalts und schildert dasLeben
der alten Slawen, namentlich der östlichen, in ihren religiösen An¬
schauungen, Sitten, Gebräuchen, socialen und öconomischen Ver¬
hältnissen, und handelt von den fremden Stämmen des alten kuss¬
land (Finnen, Türken und Lithauern). Das zweite Capitel beschäf¬
tigt sich zuerst mit der Frage von der Abstammung der Waräger,
schildert dann die Thätigkeit der alten Fürsten und den Zustand
Russlands unter ihnen und endlich den 'Einfluss des Christenthums
und der Byzantiner. Im dritten Capitel characterisirt der Verfasser,
nachdem er eine geographische Skizze hat vorhergehen lassen, die
Periode der Theilfürstenthümer und giebt die Geschichte des Kijew-
schen Grossfürstenthums, sowie der Fürstenthümer von Perejaslaw,
Tschernigow, Ssmolensk, Polotsk, Turow, Wolhynien, Galitsch,
Susdal und Rjäsan. Das folgende Capitel ist den polit sehen, socialen,
kirchlichen, geistigen und öconomischen Verhältnissen dieser Periode
gewidmet.. Das fünfte Capitel beginnt mit der tatarischen Invasion,
schildert die tatarische Herrschaft, die Begebenheiten in Susdal und
Galitsch und schliesst mit den Begebenheiten in den Ostseeländern
und Lithauen bis zum Anfang des XIV. Jahrhunderts. Capitel VI
ist*den Republiken Nowgorod, Pskow und Wjätka gewidmet; Capi¬
tel VII behandelt das Wachsen der Macht der Fürsten von Moskau
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302
bis zum Tode Wassilij Wassiljewitsch’s, die Geschichte der Fürsten-
thümer Twcr, Ssusdal, Rjäsan und Ssmolensk und wirft einen Rück¬
blick auf die politischen, socialen und kirchlichen Zustände des öst¬
lichen Russlands während dieser Periode.
Wenn auch Ref. nicht die Absicht haben konnte, hier eine ein¬
gehende kritische Würdigung des angezeigten Buches zu geben, so
glaubt er doch diesem zeitgemässen Unternehmen den glücklichsten
Erfolg Vorhersagen zu dürfen, weit über die Kreise der akademi¬
schen Jugend hinaus, für die es zunächst bestimmt ist.
0. fl. &opmnHcKaio . THTMap-b Mep3e6yprcKik h ero XpOHHKa. C.-rieTep6yprb
1872. 8°.
Th. J. Fortinski. Ditmar von Merseburg und seine Chronik. St. Petersburg 1872.
IV-|-20i SS. in 8 °.
Zweck des Verfassers war, einerseits den gegenwärtigen Zustand
des Textes von Ditmar’s Chronik darzulegen, andererseits nach
Möglichkeit die Bedeutung ihres Inhalts für den Geschichtsforscher
nachzuweisen. In seiner Einleitung (S. 1—26) bespricht er die vor¬
handenen Handschriften, Ausgaben und Uebersetzungen der in Rede
stehenden historischen Quelle, die für den Slawisten wie Germanisten
gleich hohes Interesse bietet. Zu seinem eigenen Bedauern hat er
die Brüsseler Handschrift, welche Leibnitz bei seiner Ausgabe be¬
nutzt hat, nicht einsehen können, dagegen mit der in Dresden aufbe¬
wahrten sich in eingehender Weise bekannt gemacht. Auf den der letz¬
tengewidmeten Seiten werden besonders die Umstände hervorgehöben,
welche für ihre Originalität sprechen. Wo er von den älteren Aus-
gabei} der Chronik handelt, hebt der Verfasserim Einzelnen hervor, in
wi'efern ihre Benutzung durch die neuste Ausgabe Lappenberg’s (in den
„Monumenta Germaniae Historica“, Bd. III. 1839) noch nicht über¬
flüssig gemacht sei. Die zwei ersten Capitel'der vorliegenden Schrift
sind den Lebensverhältnissen Ditmar s (S. 27—47) und der Ermitte¬
lung des Umfanges seiner Bildung (47—56^ gewidmet. Darauf wird
fcur Betrachtung der Sprache der Chronik (Cap. III, S. 56—62), zur
Bestimmung ihrer Abfassungszeit (Cap. IV, S. 62—69) übergegan¬
gen, dann ihre Anlage (Cap. V, S. 69—72) und fhre Bestandteile
(Cap. VI, S. 73—142) besprochen und (Cap. VII, S. 142—158) die
politische und ethische Anschauungsweise des Merseburger Bischofs
ermittelt. Im letzten Capitel, nächst dem sechsten dem umfang¬
reichsten seiner Schrift (S. 158—201), versucht Hr. Fortinski eine
Würdigung der Nachrichten Ditmar’s über die Slawen, welche seiner
Chronik eine so grosse Bedeutung für die Geschichte dieses Volkes
verleihen. Bekanntlich sind es besonders die vier letzten, die Jahre
1002—1018 umfassenden Bücher (das fünfte bis achte), welche, in¬
dem sie sich auf einen Zeitraum der Regierung Heinrich’s II. be¬
ziehen, der mehrentheils dem Kampfe der Sachsen mit Boleslaw dem
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3°3
Tapfern gewidmet war, dem Zeitgenossen dieses Kampfes hinrei¬
chende Veranlassung bieten mussten, in seine Erzählung zahlreiche
Bemerkungen über die beim Kampfe betheiligten slawischen Stämme
sowie über den Schauplatz der Begebenheiten cinfliesscn zu lassen.
Um sich den Werth dieser Bemerkungen deutlich zu machen, hätte
man, nach des Verfassers Meinung, nicht zu vergessen, dass i) Dit-
mar, als Bischof von Merseburg, dessen Eparchie in slawischen?
Lande lag, hinreichend Gelegenheit hatte, persönlich die Slawen
kennen zu lernen, und das um so mehr, als er ihre Sprache kannte;
2) dass er, welcher für die Wiederherstellung der ursprünglichen
Grenzen seines Sprengels stritt, nothwendiger Weise an eine genaue
Bezeichnung der Oertlichkeiten gewohnt war, und dass 3) er /selbst
sich bei einigen Feldzügen gegen Boleslaw betheiligte.“ Dabei hält
der Verfasser es für nothwendig, den Leser darüber aufzuklären,
welche von Ditmar’s Nachrichten über die Slawen dem Kreise seiner
persönlichen Beobachtungen angehören und welche sich auf Hören¬
sagen stützen. Ausser den Elbslawen kennt Dittmar die Polen,
Tschechen und Russen. Von den ersteren — den Elbslawen, kennt
er besonders die sorbischen Lausitzer, obgleich der Name „Sorabi“
ihm unbekannt geblieben ist. Unzureichend sind seine topographi¬
schen Kenntnisse von Böhmen, Mähren und Polen. Von den Nach¬
barn der Russen kennt er die Petschenegen, welche er Pcdinei nennt.
Den Schluss seiner mit vielem Fleiss gearbeiteten Abhandlung
widmet der Verfasser der Characteristik Ditmar’s als Patrioten. Vor
Allem erweist dieser sich ihm als Sachse, der auf seine ITcimath und
seine Heimathsgenossen stolz ist. Als Sachse fühle er sich den Baiern
und Lothringern gegenüber, als Deutscher aber gegenüber Italienern,
Griechen und Slawen.
Die besprochene Abhandlung hat Herr Fortiuski im Mai dieses
Jahres bei seinerPromotionzum Magister der Allgemeinen Geschichte
in der hiesigen Universität öffentlich vertheidigt.
O nepBOHaMa.ibHOMT» OoHTajiMiu^ Ccmutobt., HHflo-EBponcHaeBT» h XaMMTuß-b. Hac.vfe-
.lOBaHi* An H. rapKaeu .
A. J. Harkawy. , Ueber die Urheimath der Semiten, Indoeuropäei*und Chamiten. St. Pe¬
tersburg *872 II -f- 133 SS. in 8° (Separatabdruck aus dem XVI. Bande der Ar¬
beiten (Tpyau) der St. Petersburger Archäologischen Gesellschaft.)
Unter diesem, nicht ganz glücklich gewählten Titel behandelt der
Verfasser*) die Völkertafel (Gen. X) und zwar vorwiegend die drei
Namen Sem, Cham , Japhet. Nachdem er § 1 constatirt hat, dass
unter den Völkern des Alterthums nur die Hebräer es zu einer geogra-
t -,ii __
•) Herr Harkawy hat die russische Literatur unter Anderm auch mit dem ersteh
Bande einer den arabischen Nachrichten über die Slawen und Russen gewidmeten Mo¬
nographie bereichert.
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304
phisch^ethnographischen Eintheilung der ihnen bekannten Völker
gebracht haben, w.endet er (§ 2 und 3) sich zunächst gegen Herrn
Ewald , dessen mythologische Deutung der drei Namen er zu wider¬
legen sucht. § 4 richtet sich gegen die ethnologischen Deutun¬
gen Knobels und Hitzig s. § 5—7 werden anderweitige Erklärungs¬
versuche, welche die drei Namen einzeln behandeln, widerlegt. $ 8
Constatirt, dass die meisten Gelehrten der Völkertafel einen geogra¬
phischen Character beilegen, wie denn sogar Ewald und Knobel zu¬
geben, die Völkertafel theile die bekannte Erde in drei Theile, einer
nördlichen, mittleren und südlichen. Es habe sich aber Niemand
die Mühe gegeben, diese Ansicht zu begründen, was sehr schwierig
sein dürfte, denn in der Völkertafel sei nur die geographische Be¬
deutung der meisten Nachkommen von Noah’s Söhnen ersichtlich,
keineswegs aber sei in ihr die Eintheilung der Erde in die drei Climate
ausgesprochen. Im Allgemeinen zwar werde diese Eintheilung durch
die Untersuchung der geographischen Benennungen, welche als
Nachkommen der Noahiden figuriren, bestätigt; dass aber im Sinne
der Genesis eine solche Eintheilung nicht gelegen ha^be, beweise der
Umstand, dass die chamitischen Kanaanäer und Phönicier nördlich
von vielen semitischen Stämmen sässen, die semitischen Sabaeer da¬
gegen südlich von dem samitischen Egypten. Wenn ferner die drei
NamendfcrEpoche angehörten, in welcher die zuNachkommen der drei
Stammväter gemachten Völker schon dort gesessen, wo die Völker¬
tafel sie hinversetzt, so müssten die Namen die entsprechende (ety¬
mologische) Bedeutung haben, Sem das mittlere, Cham das südliche,
Japhet das nördliche Clima bezeichnen, und wären jedenfalls nicht
so vollständig vergessen worden, dass sie nirgends als in der Völker¬
tafel erwähnt werden (denn Chron. I, 4 sei von Gen. X abhängig).—
Gehörten hingegen die Namen der drei Noahiden der grauen Vorzeit
an, in welcher, nach dem Sinn der Völkertafel, die Stammväter der
drei Menschenracen noch zusammen oder wenigstens nahe bei ein¬
ander hausten, so hätten wir durchaus kein Recht, über die Wohn¬
sitze der Stammväter Schlüsse zu ziehen airf Grund der geographi¬
schen Lage, in welcher die Geschichte ihre Nachkommen findet.
Diese ‘und viele andere Combinationen (die wohl hätten erwähnt
werden können) brachten den Verfasser auf den Gedanken, dass auch
die drei fraglichen Namen rein geographisch zu fasseji seien, wie
die meisten anderen der Völkertafel. Nur so schwänden alle Schwie¬
rigkeiten und die Völkertafel bekäme den einheitlichen Character,
den andere Deutungen ihr nicht zu geben im Stande waren. § 9
bestimmt das Land, wo* denn nun die drei personificirteji geographi¬
schen Namen zu suchen seien, und nennt Armenien , das Urartu der
assyrischen Denkmäler, welches die Genesis meint, wenn sie djß
Arche Noah’s „auf den Bergen Ararat’s“ landen lässt. Den Namen,
Sem findet der Verfasser § 10 in dem Gebirge Sim , einem Zweig der
taurischen Öergkette zwischen dem Van-See und dem Tigris.
Einen Zusammenhang der Namen häbe schon Ewald vermuthet.
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305
Den Namen Cham identificirt er § 11 mit dem Theile des Taurus¬
gebirges, welches heute Almadagh, bei den Classikem 'Äpavog
Amanus heisst, und in den assyrischen Denkmälern in der Form
Chamanu-ni-na sich findet, also südwestlich von dem Gebirge Sim.
Japhet endlich wird § 12 in dem nordöstlich vom Van-See be-
legenen Gebirge Nr^azrjg, Niphates, armenisch Nepat, Nebad, gesucht
und — gefunden. In § 13 resümirt der Verfasser die Ergebnisse der
Untersuchung. Der Sinn der Erzählung der Völkertafel, sagt er, ist
folgender: „Nach der Sintfluth verweilte „die Noahische Mensch¬
heit“ eine Zeit lang in den Gebirgen des Landes Ararat-Nordarme¬
nien. Sodann wanderte diese Menschheit in die Länder der tauri¬
schen Bergkette, und theilte sich in drei Gruppen. Die mittlere
Hess sich in dem Bergland Sim zwischen dem Tigris und dem Van -
See nieder. Südwestlich von ihr lagerte die zweite Gruppe in einem
anderen Zweige des Taurus — Cham, dem Chamanu der Assyrer,
Amanus der Alten. Nordöstlich vom Van-See endlich, nahm die
dritte Gruppe einen dritten Zweig des Taurusgebiets mit Namen
Jefet-Nepat, Niphates ein. Diese geographische Lage jeder der
drei Gruppen . konnte ganz vorzüglich den Ausgangspunkt für die
weitere geographisphe Vorbereitung desselben abgeben, denn die
genannten Zweige des Taurus liegen an der Grenze der Besitzungen
der drei Völkergruppen, deren Wanderungen die VölkertafePdarstellL
— Zugleich aber liegen die drei Bergländer so nahe bei einander,
dass sie vollkommen der geographischen Lage entsprechen, welche
die Vorfahren der Semiten, Chamit'en und Indoeuropäer in jener
grauen Vorzeit einnehmen mussten, welche unmittelbar auf die Ein¬
heit der drei Racen folgte.“
SowenigReferent im Allgemeinen mit den Beweisführungendes Ver¬
fassers und den Resultaten seiner Untersuchung einverstanden ist,
und so wenig er sich in den Ton hineinfinden kann, .den die Pole¬
mik gelegentlich (so namentlich p. 46) anschlägt, um so mehr Hält
er es für seine Pflicht einen Punkt aus der vorliegenden Schrift her¬
vorzuheben. Auf S. 25 erklärt der Verfasser die Form Japetosthe
bei Moses von Chorene als auf falscher Auffassung eines Verses
der Sibyllinischen Bücher (III, 110) beruhend \ da heisst es nämlich
xcu ßccöikvOi KQOvog, xai Tirdv, 'Ianetog re.
Ein besserer Beweis für Abhängigkeit des Moses von Chorene von
nichtbabylonischen, sondern von jüdisch-hellenischen Quellen, dürfte
schwerlich beizubrigen sein. Und wenn auch die Autorität Moses'
von Chorene für die Urgeschichte des Orients von Renan u. A. im
Allgemeinen schon lange nicht mehr anerkannt wird, so werden die #
speciellen Ausführungen unseres Verfassers p. 22—25 (dazu pp. 120
bis 24) hoffentlich dazu beitragen auch' Diejenigen, welche die be¬
treffenden Nachrichten des armenischen Historikers bisher als
glaubwürdige verwerthen zu können geglaubt haben, vom Gegen-
theil zu überzeugen..
V. v. R.
4
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306
A. BeceAoecKaio. Mai» HCTopiw jiHTepaTypHaro o6njeHifl BocroKa h 3anaaa. Cjisbah*
cicla tKa3aHi« o CoVioMOH-fc h KirrOBpacfc h 3anaAnhia aereHAu o MopoAbefc h
M ep-iHHl». Cn6. 1872. 8°.
yf(lexander) IVessdoivski . Zur Geschichte der literärischen Wechselbeziehungen zwi¬
schen dem Orient und Occident. Die slawischen Legenden von Salomo und Kitowras
und die westeuropäischen Legenden von Morolf und Merlin. St. Petersburg. 1872.
XX+350 SS. 8°. .
Die um Salomo sich gruppirenden Legenden und Erzählungen
aus der altrussischen Literatur gehören dem Kreise der apokryphen,
„zurückgelegten“ Schriften an, welche von der Autorität, namentlich
der geistlichen; nicht geduldet, vom Volke aber gern gelesen wurden.
Sie haben meist einen byzantinischen Ursprung und kamen nach
Russland durch Vermittelung der Südslawen (Bulgaren und Serben.)
Die erwähnten Legenden und Erzählungen sind von Nikolai Ticho -
nrcvwow (in den von ihm herausgegebenen JIliToimcn Pyccicott Jlnxe-
paTypw h /IpeBHOCTH, d. i. Annalen der russischen Literatur und
Alterthumskunde. Bd. IV, Moskau, 1862, Abth. II S. 112 — 153, so
wie in dem ebenfalls von ihm edirten IlaMHTHHKH oTpeneHHOÄ pyc-
ckoö JiHxepaTyphi d. i. Denkmäler der apokryphen russischen Li¬
teratur (Band I, Moskau 1863, S. 254—272) und von A . Pypin (in
ifder III. Lieferung der vom Grafen Kuschelew-Besborodko herausge¬
gebenen Denkmäler der altrussischen Literatur — IlaMHTHHKH Cia-
pHHHoft PyccKoö JInTepaTypM — St. Petersburg, 1862, S. 51 — 71)
veröffentlicht worden. Die einen beziehen sich auf die Jugend Sa-
lomo’s und vafiiren das Thema von seiner Weisheit in der mannig¬
faltigsten Weise, die andern bringen ihn mit dem auf dem Titel des
hier angezeigten Buches erwähnten Kitowras zusammen.
Salomo’s Jugend wird in diesen Volksbüchern etwa in folgender
Weise erzählt; (bei unserm kurzen Referate können wir auf die Ab¬
weichungen der Varianten keine Rücksicht nehmen):
Erst neun Wochen alt, giebt Salomo, der Sohn des Königs David
und der von diesem am Meisten unter seinen dreissig Frauen gelieb¬
ten Wirsawija (BupcaBLH — Verwechslung des Namens Bathseba
mit dem Städtenamen Bersaba), seinem Vater ein Räthsel auf, welches
eine Anspielung auf die Untreue der Mutter gegen David enthält.
Diese beschliesst den Sohn zu verderben, lässt sich daher einen Kna¬
ben bringen, der dem Salomo sehr ähnlich ist und trägt dem Er¬
zieher des Letzteren, Atschkilo (A*ikhjio), auf, ihn zu tödten. Letz¬
terer bringt wohl Salomo an ein «warmes Meer* und überlässt ihn
. dort seinem Schicksale, der Mutter aber bringt er das Herz eines
Hundes, das er für das des Salomo ausgiebt. Dieser kommt zu
einem Bauern, dem er sogfeich eine Probe yon seiner Weisheit ab¬
legt. Der Bauer empfiehlt vor seinem Tode seinen drei Söhnen, Sa¬
lomo als ihren Lehrer bei sich zu behalten, der nun auf seinen
Wunsch des Tages das Vieh und die Pferde der drei Brüder weidet,
des Abends aber der König seiner Altersgenossen ist und Recht
spricht. 1 ^
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307
Unterdessen hat David eine Ahnung davon erhalten, dass der bei
ihm erzogene Knabe nicht sein Sohn Salomo sei und schickt daher
den Erzieher Atschkilo aus, seinen Sohn zu suchen. Atschkilo, als
er Salomo findet, erkennt ihn nicht und kehrt ohne ihn zu David
zurück. Als er ihm . aber von dem weisen Schiedssprüche • eines
Knaben,* den er gesehen, erzählt, sendet David ihn mit anderen
Boten zum zweiten Male aus. Sie finden Salomo wieder beim Ur-
theilsprechen und erhalten von ihm die Zusage, in drei Jahren zum
Vater zurück kehren zu wollen. In der That kehrt er aber später
heim, nachdem er manche Abenteuer bestanden. Er begiebt sich
zuerst in das „reiche Indien“ (das Indien des vermeintlichen Briefes
des sagenhaften Presbyters Johannes an den Kaiser von Constantino-
pel Jimanuel Comnenus), zum König Porus. Hief tritt er in ein Lie-
besverhältniss zur Königin, die ihm einen goldenen Ring ihres Ge-'
mahls* schenkt. Hiermit ist die Veranlassung zur Rache, die später
König Porus an Salomo nimmt, gegeben. Sie wird dadurch ausge¬
übt, dass er Salomo’s Gemahlin entführt. Vom König Porus begab
sichSalomo nach Hause. Er kommt nach Jerusalem zu Schiff und giebt
sich David gegenüber für einKind des „reichenIndiens“ aus: er trage
den Namen *,der Verständige“ (Pä3yMHHin>) und wäre gekommen,
seine Waare zu verkaufen und andere in Jerusalem einzukaufen.
Die Königin Wirsawia schickt drei ihrer Kammerfrauen, um seine
Waaren zu besehen und erfährt von ihnen, dass der fremde Kaufmann
im Besitze von drei Edelsteinen sei. Sie lässt ihn zu sich kommen
und verlangt, er solle ihr einen der Edelsteine verkaufen. Als Be-
dingiyig des Verkaufs stellt er die Ruhe einer Nacht bei ihr. Als
sie darin willigt, giebt er sich ihr und später dem Vater zu erkennen.
So schliesst die russische Legende von der Kindheit und Jugend
Salomo’s, die aus dem Volksbuch auch in’s russische Volksmärchen
übergegangen ist. ln dem von uns Mitgetheilten ist nur der Rah¬
men für die Urtheilssprüche und'Räthsel, um die es sich eigentlich
handelt, gegeben.
Mit Kitowras wird Salomo in den russischen Legenden zusammen¬
gebracht, weil er beim Bau des Tempels eines Geheimmittels bedarf,
um die Steine Arne den Gebrauch von Werkzeugen herrichten zu
lassen. Vom Verfasser wird Kitowras mit dem Asmodi der Legen¬
den des Talmud glücklich zusammen gestellt. ,,Kitowras“ ist das¬
selbe dämonische Wesen wie der talmüdische Asipodi, er wird mit
derselben Absicht gesucht wie dieser, fällt in dieselbe Falle, hält
dieselben Reden voll räthselhafter Weisheit auf dem Wege zu Salo-
mon und vor ihm. Endlich rächt er sich an Salomo in derselben
Weise wie Asmodi, nachdem er sich seines Ringes bemächtigt Sa-
-rJomo wird an das Ende des gelobten Landes versteckt, wo ihn seine
n Weisen und Schriftgelehrten finden. Von den romantischen Aben¬
teuern des vertriebenen Salomo ist nach des Verfassers Meinung
desshalb nicht die Rede, weil im alten Russland und im slawischen
Süden, von wo die apokryphe Literaturbei uns ihreü Eingang fand,
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308
eine andere Erzählung mehr Popularität genoss, und zwar die, nach
welcher Kitowras die Frau des Salomo raubt. In späteren Erzäh¬
lungen, vom XVII. Jahrhundert an—die früheren stammen aus Hand¬
schriften des XV. und XVI. Jahrhunderts — in der Literatur wie im
Munde des Volkes, übernimmt die Rolle des Kitowras der König
Porus oder ein namenloser König, oder endlich Wassily Okuljewitsch.
Kitowras erscheint auch in Darstellungen auf Kunstdenkmälern,
so auf der Wassiljewschen Thür der Sophien-Kathedrale in Nowgo¬
rod, als geflügelter Centaure mit einer Krone auf dem Haupte.
Ebenso erscheint er in der Legende nicht nur als dämonisches Wesen,
sondern zugleich als Bruder des Königs Salomo. Auch auf einem
andern kirchlichen Kunstdenkmal kommen geflügelte Centauren mit
einer Krone auf dem Haupte und einem Scepter in der Hand vor.
Der Verfasser stellt Kitowras ebenfalls mit Morolf im deutschen
Gedicht von Salomo und Morolf zusammen, und gewiss mit Recht.
Einen gemeinschaftlichen Ursprung der deutschen Sagen von Sa¬
lomo und Morolf und dem slawischen Legeridencyclus von Salomo
und Kitowras hatte schon A. Pypin in seinem „Umriss der Literatur¬
geschichte der altrussischen Erzählungen und Märchen“, im IV. Bande
der Gelehrten Abhandlungen der II. Abtheilung der Kaiserl. Aka¬
demie der Wiss. St. Petersb. 1858, angenommen. Seiner Genesis
nach erweist sich Kitowras dem Verfasser als der indische Gandarve,
wie Pypin seinen Namen bereits aus d. gr. Kentauros gedeutet hatte.
Ein Gandarve ist der Vater des Vikramadithya, die Gandarven rauben
fremde Frauen oder helfen Andern Frauen rauben. Die Episode von
der Entführung der Frau Salomo’s ist eine der populärsten im Cyclus
der russischen Erzählungen von Salomo. %
Seinen höchst anziehenden und von einer genauen Literaturkenntniss
unterstützten Untersuchungen hat der Verfassen die breiteste Unter¬
lage gegeben, wie es der Gegenstand verlangt. Nachdem wir nun das
Gebiet seiner reichhaltigen Untersuchungen in Kurzem angedeutet —
auf sie näher einzugehen, erlaubt uns nicht der Zweck dieser Zeit¬
schrift, welche ein weites Feld zu übersehen hat und daher mit ihrem
Raum sparsam umgehen muss — geben wir jetzt unseren Lesern die
Ueberschriften der einzelnen Capitel des Buches: 19 Die Erzählungen
von Vikramadithya (S. I—50). II. Die Jugend Salomo’s in den russi¬
schen Erzählungen. Seine Richtersprüche in den Legenden des
Orients und Occjdents (51—104). III. Die Legenden von Salomo im
Talmud und ihr Ursprung. Der Kampf mit dem Dämon und der
Sieg. JDie Bezüge zur Vikramatscharitra: Asmodi-Mara, Die Ver¬
mittelung des Parsismus: Asmodi-Aeshma (105—127). Die Verbrei¬
tung der Legenden vcfti Salomo und Asmodi. Die muselmännischen
Legenden und ihre Quelle. Die Quellen der europäischen Er rT
Zählungen. Die Bedeutung der mittelalterlichen Secten für die Gerri
schichte der Volksliteratur (128—208). V. Die slawischen Sagen von
Salomo und Kitowras (209—244). VI. Salomo und Morolf (245—303),
VIL Merlin (304—340). Dakini und die» Königin von Saba.
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309
Die Sage von Merlin und Arthur, die im Westen Europa’s in natio¬
nalem Gewände als heimathliche uns entgegentritt, betrachtet der
Verf. als den letzten Nachklang’ des salomonischen Apokryphs.
„Fürdiese Ansicht“, sagtHr. Wesselowski in derVorrede, ,,kann man
mich der wissenschaftlichen Ketzerei zeihen, und es werden wohl
nur Wenige sein, die eine solche Last mit mir theilen möchten.
*) Denn die Romane der Tafelrunde, und unter ihnen auch der von
Merlin, sind ja so lange und so nachhaltig für reine Aeusserungen
des keltischen Nationalbewusstseins ausgegeben worden!“ Der Ver¬
fasser rüttelt nun sehr ernstlich an der keltischen Originalität der
Sage von Merlin. Nach ihm beruht auch die Legende vom heiligen
Graal auf einem Apokryph: dem Nekodemischen Evangelium. „So
weit sind wir genöthigt, den Antheil der nationalen Phantasie der
Kelten an dem Schaffen der sogenannten bretonischen Romane zu
beschränken/ 4 heisst es in der Vorrede S. XVIII. Die Quellen einiger
von ihnen erweisen sich dem Verfasser als dem Schriftenthum zuge¬
hörige ; er hält sie nicht einmal für volksthümlich in dem Sinne, als
könnten sie irgend einer der europäischen Nationalitäten angehören.
Sie kamen, seiner Ansicht nach, ebenso aus dem fernen Osten, wie
die Salomo-Legenden, che. bei uns einer Umgestaltung unterworfen
wurden. Es wird vom Verfasser zugleich auf die Umwandlung auf¬
merksam gemacht, welche der Geschmack und die Formen der Lite¬
ratur bei den romanischen und germanischen Völkern im XII. und
XIII. Jahrhundert erfuhren. „Das alte Volksmärchen, die kirchliche
Legende, an welche man so frommen Gemüthes geglaubt hatte —
äussert Wesselowsky — genügten 'nicht mehr den Zwecken der ge¬
sellschaftlichen Satire und jenem realistischen Geiste, durch welchen
das Leben der mittelalterlichen Städte sich auszeichnet. Anderer¬
seits könnte man nicht gut Roland, diesen ungeschlachten Liebhaber
derOde, sanft wie Lancelot seufzen, auch nicht Olivier die nebelhaften
Geheimnisse des Graal suchen lassen. Doch das Alles auszudrücken,
war der Wunsch vorhanden, und so stellte sich denn das Bedürfniss
nach einem neuen Inhalte für die Novelle ein. Je weniger nationale
Eigenthümlichkeit die Stoffe derselben boten, je weniger sie an das
nationale Alterthum sich anlegten, desto willkommener waren sie
und desto freier fohlte man sich ihnen gegenüber. So entstand denn
die Literatur der Fabliaux und Romane von Arthur und Merlin, von
Lancelot und Ginevra. Mit ihnen treten wir in die zweite Hälfte des
Mittelalters ein.“
Es ist selbstverständlich, dass in Untersuchungen, wie die hier be-
*) Schon im Anfang der sechziger Jahre hat Felix Liebrecht in Th. Benfey’s Orient
und Occident (Band I. 1862.) auf die ,, enge Verwandtschaft“ zwischen einer Erzählung
ifi ‘dem altfranzösischen Romane vom Zauberer Merlin und einer anderen in Samadeva’s
Indischem Märchenschatz hingewiesen. Auch von.Benfey ist die indische Abstammung
derselben im J. 1858 angemerkt worden. Der Verfasser, dem die Aufsätze in dem
I. Bande der,Zeitschrift ,,Orient und Occident“ entgangen zu sein scheinen, führt
übrigens den Ausspruch Holtzmlnn’s an: „ Merlin , den man in einem orientalischen
Buche gefunden und tum NationalhriUn adoptirt hatte . •
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3io
sprochenen, die Frage nach den Wegen, auf welchen die erwähnten
Erzählungsstoffe aus Asien in den Osten und Westen Europa’s
drangen, einen nicht geringen Räum beanspruchen darf. Der Verf.
behandelt diese Frage eingehend an zwei Stellen seines Buches und
berührt sie auch in der Vorrede.
In den Salomo-Legenden des Talmud bekundet sich ihm ein Zu¬
sammenhang mit der indischen Vikramatscharitra. Dabei wird die
Vermuthung ausgesprochen, dass, wenn nicht der ganze Inhalt der
Vikramatscharitra in den biblischen Legenden des Talmud aufgegangen
ist, ebenso in letzteren Züge sich erhalten haben können, welche in
den auf uns gekommenen Redactionen der ersteren sich nicht vor¬
finden. Zu den Juden mussten die* Legenden von Vikramaditcha
durch dhe Vermittelung Irans und des Parsismus gelangt sein. Indem
der Verf. die Hypothese von den sehr frühen Berührungen (vom X. bis
VIII. Jahrh. v. Chr. G.) der Iranier mit Semiten, welche von F. Spie¬
gel (in seiner Eranischen Alterthumskunde und auch früher) vertreten
wird, bei Seite lässt, bleibt er bei den späteren Berührungen derselben,
die thatsächlich nachweisbar sind, stehen. Aus dem Talmud haben
die Muselmänner ihre Legenden von biblischen Personen, also auch
die von Salomo: bei ihnen bieten sie sich nur in lebhafteren Farben.
Der Thron Salomo’s erinnert an den Thron Vikramadithyas.
Es fragt sich nun, ob für die russisch-slawischen Erzählungen von
Salomo und Kitowras — bezüglich Porus — und die romanisch-ger¬
manischen von Salomo und Morolf (auch Marcolf) die Qyelle im Tal¬
mud zu suchen sei ?
Als nächste Quelle dieser und jener erweisen sich dem Verf. die
alttestamentlichen Apokryphe. Zu diesen gehört unter andern' das
griechische Testamentum Salomonis. Im J. 496 wird auf dem römi¬
schen Concil in Rom eine Conlradictio (oder Interdictio) Salomönis vom
Papste Gelasius zu den verbotenen Büchern gerechnet. Im X. bis
XI. Jahrhundert wird wieder eines ähnlichen apokryphen Textes von
Notker erwähnt. In Russland scheinen die bezüglichen Apokryphen
schon früh bekannt gewesen zu sein. So verbietet ein Index des XV.
Jahrh.: „Fabeln vom Könige Salomo und vom Kitowras/* Während
der Verf. geneigt ist, den talmudischen Legenden einen gewissen An-
theil an der Verbreitung der Erzählungen von Salomo in Europa zu¬
zuweisen, bemerkt er in letzteren zugleich eine Strömung von Mo¬
tiven, die dem Talmud fremd sind und die er als von den dualistischen
Secten herrührend betrachtet, welche in das mittelalterliche Christen¬
thum religiöse Anschauungen und Legenden des arischen Orients
brachten. Diese neu-manichäischen Secten berührten Byzanz früher, als
das westliche Europa. Ihre dualistischen Lehren gelangten zum Aus¬
drucke in einer Reihe von Apokryphen, die dem Geiste des Dualis¬
mus entsprachen; in denselben fanden sich gleichfalls die Legem;
den, die ausserdem auch einzeln, auf demselben Wege und unter
demselben Einflüsse, nach Europa kamen und in Kurzem Boden ge¬
wannen, sobald sie, wie in Barlaam und Josaphat, in Bezug auf Namen
und Begriffe christliches Gewand anlegtdn.
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3 11
Leider sind wir genöthigt, mit dieser kurzen Andeutung vom
Gange der ausführlichen Untersuchung bei unserm Verfasser uns zu
begnügen. Wir bemerken nur noch, dass er die Verbreitung der
von ihm behandelten Erzählungen und Legenden, sowie ähnlicher
Stoffe auf dem Wege des Schriftenthums vorgegangen sich denkt,
und dass bei uns einige Stimmen sich haben vernehmen lassen,
welche seine Ansicht von dem bedeutenden Antheil der er¬
wähnten religiösen Secten (die unter dem Namen der Bogumilen,
Katharer. Bulgari u. s. w. bekannt sind) an der Verbreitung der orien¬
talischen Erzählungsstoffe im Occident bezweifeln.
Am Ende seiner Vorrede (S. XX) stellt der Verfasser dem gelehr¬
ten Auslande eine Uebersetzung seines inhaltreichen Werkes oder
einen Auszug aus demselben in Aussicht. Wir sind überzeugt, dass
diese neue Arbeit des bewährten Forschers von -/Ölen; die auf seinem
Gebiet tflätig sind, mit nicht geringerem, wenn nicht noch grösserem
Interesse aufgenommen werden wird, wie seine Novelle della figlia
del re di Dacia (Pisa 1866) und sein Werk yy ll Paradiso degli Alberti “
(4 Bde., Bologne 1867—1868). In letzterem hat er die gelehrte Welt
mit einem von ihm in der Riccardiana zu Florenz aufgefundenen Ro¬
man, dessen Iphalt'zum Theil schon in einer im Jahre 1796 erschiene¬
nen Ausgabe von Novellen in mysteriöser Weise ausgebeutet wor¬
den war, bekannt gemacht. Später (1870) veröffentlichte er in Mos¬
kau eine russische Schrift über diesen Roman (unter dem Titel:
Bujuia AjöepTH. — Villa Alberti. Neue Materialien zur Charakteristik
der literarischen und socialen Revolution im Leben Italiens im XIV.
und XV. Jahrh. XVIII und 380 S. 8°).
Prof. Wesselowski, welcher, nach'beendigten Universitätsstudien
1860 in Italien, Frankreich und Spanien, 1862—1868 in Berlin, Prag,
Mailand, Pisa, Bologna, Florenz lebte und jetzt, nachdem er den Som¬
mer in Deutschland zugebracht, wieder in der letzterwähnten Stadt
sich aufhält, kann bereits auf eine fruchtbare literarische Thätigkeit
zurückblicken. Ausser den obenerwähnten grösseren Werken und ein¬
zelnen Correspondenzen in HaupPsZeitschrift für deutsch. Alterthum,
Tichonrawow’s Annalen der russ. Lit. und Alterthtimsk., im St. Peters¬
burgerjournal des Ministeriums der Volksaufklärung, hat er Beiträge
geliefert für die Bibliografia Italiana (1865: Ezzelini, Dante egli
schiavi), die Civilta Ital. (1865: über die Griseldis des Boccaccio), das
Ateneo Italiano (1866: De tradizioni pop. nei poemi d’Antonio Pucci)
und die Rivista Bolognese (i86f: über Mussafia’s Studie über eine
metr. Darst. der Crescentia-Sage). In russischen Zeitschriften hat er
folgende, zum Theil grössere Aufsätze veröffentlicht: im „Boten
Europa’s“ 1866: Dante und seine symbolische Poesie des Katholicis-
mu^ f 1871: Giorgiano Bruni, 1872: über die russischen Vaganten,
„Kfiliki,“ im Journ. d. Min. d. Volksaufkl. 1870: seine Antrittsvor¬
lesung in der hiesigen Universität „über die Methode und die Auf¬
gaben der Geschichte der Literatur als Wissenschaft,“ 1871: Neue
Beiträge zur Legende von Peter und der Fewronia und die Sage von
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$12
Ragnar Lodbrok; in der „Unterhaltung“ („Beci^a“, einer seit zwei
Jahren in Moskau erscheinenden Monats-Revue), 1872: Ein Beitrag
zur Gesch. der Entwickelung der Persönlichkeit. Das Weib und die
alten Liebestheorien. P. L.
Russische Bibliographie.
T paxorb, fl. H^Meitko-pyccKifl HayaHO-TexHHaeacifc cjioßapb. Cn6.
in-8°, XIV + 10^7 CTp. (Grachow, J. Deutsch-russisches wissen¬
schaftlich-technisches Wörterbuch. St. Petersburg. 8°. XVI + 1067 S.
EaÖHMHCKiö, T. BßeaeHie bi» Bbicmyio ÄHHaMHKy. Bapniaßa. in-8°,
VI + 55 CTp. (BabtiChinsky, T. Einleitung in die höhere Dynamik.
Warschau. 8°). VI + §5 S.).
MaxapOBl, H. nojmuft <x>paHuy3CKo-pyccicift cjioßapb. Cn6. in-8°,
385 — 552 CTp. (Makarow, N. Vollständiges französisch-russisches
Wörterbuch, gr. 8°. 552 S.).
P036H*b, BNKTOpi, öapoHi». /IpeBHe-apaßcKaa nossia h ea KpHTHKa.
Cn6. in 8°j IV+ 81 CTp. (Rosen, Baron V. Die alt-arabische Poesie
und ihre Kritik. St. Petersburg. 8 °. IV u. 81 S.).
Medaillen auf die Thaten Peters des Grossen. Bearb. vonj. Iversen.
St. Petersburg in-4 0 , XXVII 66 S. u. 12 Tafeln.
Eomepsuioab, H. Ouepici» paaBHTia ncicyccTBi» bi» Poccin bi» uap-
CTBOBaHie IleTpa Bejimcaro. Cn6. in-8°, 31 CTp. (Bosherjanow J.
Abriss der Entwickelung der Kunst in Russland zur Zeit Peter des
Grossen. St. Petersburg, 8°. 31 S.) •
EotiopbiKMtTb, II. gft. TeaTpajibHoe ncayccTBo. Cn6. in-8°, 366+XXV
CTp. (Boborykin, P. D, Die dramatische Kunst. St. Petersburg. 8°.
366 + XXV S.).
TleBeciarb, I”. M. McTopimecKifi oaepai» ^peBuecKaiUHHaBCKofl
no93in cKajiÄOBi». Kießi». in-8°, 86cTp. (Lewestamm, H. M., historischer
Umriss der altscandinavischen Poesie der Skalden. Kijew 8°. 86 S.)
Ocokmui», H. riepßaa HHKBHanuia h söBoeBame JlaHroAoaa <t>paHuy- *
saMH. Ka3aHi». in-8°, IV + 526 CTp. (Ossokin, fl. Die erste Inquisition
und die Eroberung von Languedoc.durch die Franzosen. Kasan, 8°.
IV+ 526 S.)
"r Ir
Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Röttge^U
^oaBOJieHo neH3ypoio. il-ro oKTaßpa 1872 roAa.
Buchdruckerei von Röttger & ScHNKiDER.'Newsky-Pros^
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1 : • t
• Bas Gouvernement Olonez und seine *
Volks-Rhapsoden.
Von •
A. Hilferding. :
(Schluss.)
Beim Azoren unserer Volks-Rhapsody ißt man bcso^ ( ;i*rs dar
rüber erstaunt ; in Wie hohem Grade von ^Anen Allen ausnahmslos;
die Charactere 4er in den Byliny handelnden Personen treu gehalten
werden. Diese Rhapsoden sind bei Weitem nicht Alle von gleichem,
Werthe; eie bilden eine ganze Stufenleiter, von den grausamen Pfu¬
schern bis, zu den wahren, mit unzweifelhaftem Kunstgefühl be¬
gabten Meistern. . Eine Sammlung ihnen nachgeschriebener By-
Iray kann man. mit einer Bildergalerie^ vergleichen, in welcher die¬
selbe Reihe von Gegenständen in einigen Zehnern von Copien sich
wiederholt, angefangen mit den schönsten Zeichnungen und ge¬
schlossen mit den abscheulichsten Schmierereien. Wie die Zeich¬
nung aber auch sein mag, kunstvoll oder carikut, jede Physio^
gnornie bewahrt in dieser Galerie stets die Züge, welche ihren Typus,
ausmachen. Kein einziges Mal tritt Fürst Wladimir aus der Rolle
eines gutmüthigen, doch nicht immer gerechten Herrschers» welcher,
selbst persönlich vollkommen machtlos ist; nie wird Uja von Murom.dem
Typus einer ruhigen, sich selbst vertrauenden, bescheidenen, aller Affec-
tation und Prahlerei baren» dessen ungeachtet aber Achtung für sich
fordernden Kraft untreu werden; überall wird D % obrypja als die V,er- ;
körperung der Höflichkeit und des Edelrauthes auftreten, Alqschai
Popo witsch als die der Unverschämtheit und niedriger Gesinnung t
und Tschurila als verliebter Geck; stets wird Michailo Pötyk ein
flotter, von jeder Leidenschaft verführter Waghals sein, Stawr der
einfältige Mann einer sehr klugen und treu ergebenen Frau, Wassilij
IgUatjewitsch ein Säufer, der nur iy Augenblick der Gefahr sein
Selbstbewusstsein gewinnt und dann zum Helden wird, Djuk Stepa-,
nowitsqh ein prahlender Ritter, der die Vorzüge einer höhgren Civi^
lisation den Russen gegenüber zur Geltung bringt, u. s, w. Mit; einem
Worte:, das Typische in den Personen unseres Epos ist in,solchen»)
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31
314
Grade ausgebildet, dass jeder dieser Typen ein unveränderliches Ge¬
meingut des Volkes geworden ist. Dem Bauern des russischen
Nordens, dessen Gedächtniss die epischen Dichtungen bewahrt, sind
also nicht nur gewisse allgemeine unbestimmte Vorstellungen von
den Helden dieser Dichtungen gegenwärtig, sondern auch die leben,
digen Züge ihrer Charactere, Sonst würden unsere Byliny, in denen
wir so häufig Entstellungen und äusserste Verwirrung der einzelnen
Umstände de* erzählten Thaten antreffen, auch die Charactere der
handelnden Personen entstellt und verwirrt geben. Dergleichen findet
aber nie statt. Daher scheint es, dass bei der Erhaltung und Ueber-
lieferung der epischen Stoffe, ausser der mechanischen Gedächt-
nissthätiq^eit, im Volke au jh noch ein collectiver — wenn es erlaubt
ist sich so auszudrücken*^ poetischer Tact mitwirkt. Einen weiteren
Antheil hat erst das Gedächtniss. Und in der That, es bedarf einer
bedeutenden Gedächtnisskraft, um Poeme, deren Hersageti zuweilen
zwei bis drei Stunden Zeit erfordert, zu memoriren und ohne Stocken
zu singen. In diesem Umstande birgt sich eine der Ursachen, woher
die epische Poesie nyt der Verallgemeinerung der Kenntniss der
Schrift und der industriellen Bildung im Volke schwinden muss: die
epischen Dichtungen bedürfen eines unbelasteten Gedächtnisses,
sie finden nur in einem Kof>fe Platz, der mit keiner Bücherweisheit
angefiillt und mit keinen, vom Kampfe ums Dasein veranlassten Be¬
rechnungen beschäftigt ist. Das Gedächtniss ist die einzige Kraft,
welche mit Bewusstsein von Seiten der Sänger fiir die Aneignung
und Reproduction ihrer Rhapsodieen thätig ist. Einen Antheil der
individuellen Schöpfungskraft, obgleich er ohne Zweifel vorhanden,
vermuthet keiner der Rhapsoden. Aus dem Gespräch mit dem ersten
besten Skasitel merkt man sogleich, dass ihm jede Autorschaft fremd
ist: er bemüht sich gerade so zu singen, wie sein Vater, seih Gross¬
vater oder Lehrer sang. Ist seinem Gedächtniss etwas entfallen, so
lässt er es entweder aus oder erzählt es in Prosa. Wie ausführlich
ihm auch der Inhalt einer Episode .oder einer ganzen Bylina bekannt
sein mag, er wird, sobald er ein Mal vergessen hat, wie sie gesungen
wird, sich nie entschliessen können, sie rhythmisch wieder herzu¬
stellen, obgleich das bei der Einförmigkeit des epischen Styls ziemlich
leicht scheint. Ich war Zeuge fies lächerlichen Fiasco, weichesein
Bettler vom Wodl-Osero erlitt. Es war der blinde Anissim, der von
Professioi*Sänger geistlicher Lieder ist: er hätte gern von mir Geld
verdient, und als ich ihm sagte, dass ich nicht nach geistlichen Lie¬
dern suche, sondern nach Byliny, fing er ganz kaltblütig vom Uja y
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3*5
von Murom an zu singen; er sang aber lauter ungereimtes Zeug. *)
Darauf gestand er denn, dass er nie Byliny gesungen habe und vom
Hja von Murom nur in Prosa erzählen könne. Ein anderer Bauer,
AmJrei Ssorokin, theilte mir mit, dass er, da er von Kindheit an ein
Freund von Byliny gewesen, zuweilen versucht habe, ein oder’das
andere Märchen in Form einer Bylfha zu singen, dass ihm das aber
nie gelungen sei. Uebrigens weist dieser Versuch bei Ssorokin auf
einen Trieb zu selbstständiger Autorschaft hin, der n^ht ohne Ein¬
fluss auf die von ihm gesungenen Byliny bleiben konnte. Und in der
That habe ich bei Keinem ein so ungezwungenes Verhalten zum
Text der Byliny, wie bei ihm, bemerkt. Als ich einst eine Bylina
nachschrieb, die ich schon früher von Ssorokin gehört fci.tte, be¬
merkte ich ihm bei einer Stelle, *dass er fr&ler diese Episode anders
gesungen habe: „Ach, das ist ja gleichgültig“, antwortete Ssorokin,
„ich kann singen so oder anders, wie es Ihnen gefällig ist.“ Etwas
Aehnliches habe ich nie von andern Skasiteli gehört. Dieser Nei¬
gung zum freien Dichten bei Ssorokin schreibe ich den eigentüm¬
lichen Character zu, durch den sich seine Byliny auszeichnen, so wie
die unendlichen Anhäufungen, durch welche sie so überaus lang¬
weilig sind. **)
Ssorokin ist eine Erscheinung, die einzig in ihrer Art ist Alle
übrigen „Skasiteli“ behaupteten stets, dass das, was in ungebun¬
dener Rede erzählt wird, durchaus nicht im VersmaasS gesungen
werden könne; wenn ich ihnen bemerkte, dass sie Etwas ausgelassen
oder nicht richtig gesungen, so bemühten sich Einige, sich auf diese
Stellen besser zu besinnen, Keinem aber kam es in den Sinn, die
Lücke oder die Ungereimtheit durch eigene Dichtung auszufüllen
oder zu verbessern. Gewöhnlich, wenn auch ein offenbarer Unsinn
*) Der Verfasser führt hier einige Zeilen dieses Unsinns an.
♦*) Herr Rybnikaw hat auf diese Eigentümlichkeit in den Byliny Ssorokin’s aufmerk¬
sam gemacht und dazu folgende Bemerkung gegeben: „Die Detailfülle, eine gewisse
Brette, der Reichthum an Episoden, das Zusammenfassen mehrerer Byliny in eine — weist
beim Sänger vom Ssum-Osero (es ist die Rede von Ssorokin) deutlich auf die Profession eines
Skasitels hin, welcher einen Absteigehof hält; je länger die Byliny dauert, desto mehr
Vortlieil für ihn, denn die gefälligen Zuhörer sind gerne bereit, ihn liegend bis zum
späten Abend anzuhören.“ (Siehe Bd. IV, S. XXXVI der von Rybnikow herausgege-
benen „Pjesni.*‘)Ich sehe mich veranlasst, den Fehler, den der geehrte Sammler, in Folge
eines unwillkürlichen Missverständnisses, hier gemacht hat, zu berichtigen. Andrej Ssoro¬
kin war nieWirth eines Absteigehofea und war sogar sehr erstaunt, als ich ihn darum fragte.
An dem Orte, wo er wohnt, giebt es gar keinen solchen Hof. Das Dorf Ssum-Osero ist aber
21* ,
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nachgewiesen worden war, geschah es, dass der „Skasitel“antwortete:
„so wird es gesungen.“ Ward ein Mal von einer Stelle gesagt, „so
wird gesungen,“ sq galt das für heilig; an einer solchen Stelle durfte
nicht gekrittelt werden. Fand sich in einer Byüna irgend ein unver¬
ständliches Wort, dessen Deutung ich verlangte, so wurde mir dieselbe
auch dann gegeben, wenn das Wort zu den gebräuchlichen Provin¬
zialismen der Gegend gehörte; war aber das Wort dort nicht im Ge*-
brauch, dann erhielt ich immer dieselbe Antwort: „so wird ge¬
sungen,“ oder: ,,so sangen die Alten, was es bedeutet, wissen wir
nicht.“ Mehr als ein Mal geschah es, dass der ,,Skasitel,“ nachdem
er yom Fürsten Wladimir irgend einen Vers, der mit sehr wenig
Achtung seiner gedachte, * gesungen hatte, deshalb um Entschul¬
digung dannhiess es, ,,wir wissen selbst, dass es sich nicht schickt
indieser Weise von einem Heiligen zu reden, was ist aber zu machen?
so sangen die Väter, und so haben wir es von ihnen gelernt.“ Nur.
dem Umstande, dass jeder Rhapsode sich für verpflichtet hält, die
Byüna so zu singen, wie er sie gehört und seinö Zuhörer damit voll¬
ständig zufrieden sind, dass ,,so gesüngen wird“ und weiter keine
Erklärungen verlangen, nur diesem Umstande ist es zuzuschreiben,
dass in den Byliny eine solche Masse von alten, dem Volke unver¬
ständlich gewordenen Wörtern und Wendungen bewahrt werden
konnte; aus derselben Ursache konnten auch die Sittenzüge einer;
anderen Zeit, die nichts mit dem gemein haben, was den Bauern um-
giebt, als wie Einzelheiten einer Bewaffnungs weise, die er nie ge¬
sehen, Naturbilder, die ihm völlig fremd sind, sich erhalten. Man
muss in ünserm Norden gewesen sein, um ganz zu begreifen, wie
ausserordentlich gross die in den Byüny sich äussernde Stetigkeit
der Tradition ist. Wir, die wir unter nicht so hoch zum Norden rei-
das einzige auf der ganzen Strecke von 60 Werst zwischen dem Dorfe Wodl-Osero und der
Stadt Pudosh; daher sind Alle, die diesen Weg fahren, genöthigt, in Ssum-Osero zu
übernachten und geniessen die Gastfreundschaft der Bauern dieses Ortes, unter Andern
auch bei Ssorokin. Daher konnte Herr Rybnikow glauben, dass er einen Absteigehof
halte. Uebrigt.ns ist nicht allein die Aufnahme von Durchreisenden keine Einnahme¬
quelle für Ssorokin, welcher nur vom Ackerbau lebt und mir nicht ohne Stolz die grossen
Strecken von „Niwy“ ( Auen, Felder) zeigte, die er mit seiuen Händen gerodet, sondern
auch der Umstand, dass er in einem an der grossen Landstrasse liegenden Orte lebt,
konnte auf den Styl seiner Byliny keinen Einfluss haben, da er in.das Dorf Ssum-
Osero bereits als volljähriger Knecht (er trat in’s Haus seines spätem Schwiegervaters
ein) kam: geboren und aufgewachsen ist er in dem kleinen Dorfe Zenesliki bei
Pudosh.
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chenden Breitengraden leben, finden nichts Auffallendes an der im
Helden-Epos geschilderten Natur, an diesen „feuchten Eicheri“ am
„Pfriemengras“, an dieser „weiten freien Ebene,“ die die Decoration
zu jeder Scene in einer Bylina liefern. Wir bemerken es nicht, dass die
Erhaltung dieser Scenerie aus der Natur von den Ufern des Dnjepr in
den Byliny der Transonega-Gegend ein eben solches Wunder des
Volksgedächtnisses ist, wie z. B. die Erhaltung der Gestalt des „ro-
then Wisents,“ der längst geschwunden, oder der Züge des Boga-
tyrs mit einem Helm auf dem Haupte, mit einem Köcher aut dem
Rücken, im Panzerhemd und mit der „Schlachtkeule.“ Hat jemals
ein Bauer aus dem Transonega-Gebiet eine Eiche gesehen? Dieser
Baum ist ihm eben so wenig bekannt wie mir und manchem Leser
eine Banane. Weiss er, was Pfriemengras ist? Er hat von ihm
nicht die leiseste Vorstellung. Hat er jemals in seinem Leben eine
freie weite Ebene gesehen? Nein, denn eine freie, für das Auge un¬
übersehbare Ebene, auf welcher ein Reiter sein Pferd tummeln
könnte, ist seiner Vorstellung völlig fremd: die Felder, die er sieht^
sind klein, meist mit Geröll oder Baumstumpfen bedeckt, kleine
Flecken, die für den Ackerbau oder den Heuschlag bestimmt sind;
sieht man irgend wo einen freien ebenen Platz, so ist es kein weites
Feld für den dahinbrausenden Renner, es ist ein Moor, auf das kein
Pferd und kein Mensch sich hinwagt. Der Bauer des Nordens fährt
aber fort, von der freien weiten Ebene zu singen, als lebte er in
der Ukraine.
Jedoch es versteht sich von selbst, dass, ausser dem Vermächtniss
der Tradition, die Byiina des russischen Nordens auch viel örtlich
und persönlich Eigenthümliches in sich trägt. Wenn der „Skasitel“
singt, wie das edle Ross des Bogatyrs „über Moossümpfe sprang,
kleine Seen zwischen den Füssen lies,“ dann schildert er ein Bild,
wie es ihm seine Umgebung geliefert. Solcher Züge finden sich
nicht wenige. Auch darf die besondere Umständlichkeit nicht unbe¬
merkt bleiben, mit welcher in unsern Byliny das Satteln des Rosses
und die Ausrüstung des Schiffes geschildert werden; freilich können
diese Bilder nicht zu den aus der Fremde in die Byliny des Nordens
herübergetragenen gerechnet werden; wenn aber namentlich das
Satteln des Pferdes und die Ausrüstung der Schiffe in ihnen ausführ¬
licher und so zu sagen mit grösserer Vorliebe als andere Vorgänge
in ihnen beschrieben werden, so könnte das seinen Grund
darin £aben, dass von allen den Bogatyri zugeschriebenen Hand¬
lungen der Bauer des russischen Nordens mit dem Satteln des Pfer-
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318
des und der Ausrüstung des Schiffes besonders vertraut ist. Hat er
eine Reise anzutreten, so muss er entweder das Pferd satteln, oder
das Segelboot rüsten. Eben so glaube ich, dass es dem Einfluss der
localen Lebensbedingungen zugeschrieben werden muss, dass im
Olonezer Lande * zugleich mit dem Bogatyr-Manne die Gestalt der
Helden-Frau, der Poljaniza (nojuraima) sich erhalten hat. Diese Vor¬
stellung ist uns so sehr fremd, dass, als in Moskati der erste Band
der von Rybnikow gesammelten Lieder herausgegeben wurde, selbst
dortige Gelehrte nicht begriffen hatten, was Poljaniza bedeutet, wie
die Anmerkung der Herausgeber zu diesem Worte zeigt (S. 27):
„naJieHHU.a, nojieHHi^a, nojunraua: yAajiaa rojioßa, htö pucKaenb no
nojuo paAH noABHroBi> << *) (d. i. „poleniza, poleniza , poljaniza: ein küh¬
ner Mann, der über Ebenen (nojie Ebene) streife, um Abenteuer zu
suchen“). Indessen im nördlichen Theile des Olonezer Gouverne¬
ments, am Wyg-See, am Wodl-See, in den Uferlandschaften von
Powenez und Pudosh wird jeder Bauer Euch bestimmt sagen-, dass
in alter Zeit Heldenthaten eben so vonFrauen wie von Männern ausge¬
führt wurden, und dass, ebenso wie die Männer Bogatyri hiessen, die
Heldenfrauen Poljanizi genannt wurden. Das hörte ich mehr als
zehn Mal. „Was ist das eine Poljaniza?“ fragte ich unter Andern den
Sänger vom Wodl-Osero, Nigoserkin^ voraussetzend, dass ich ihn
durch diese Frage in Verlegenheit bringen würde, da er seit Kurzem
und zufällig einige Byliny seinem Gedächtniss eingeprägt hätte:
„Sehen Sie,“ sagte er, „in früherer Zeit haben auch Frauen gekämpft,
sie zogen in den Krieg eben so wie die Männer, das nennt man bei
uns auf dem Dorfe Poljaniza“ **)
Ich will mich weiter in keine Hypothesen über die Heldenfrauen
in unserm Epos einlassen, und die Frage nicht weiter erörtern, ob
sie mit den Amazonen, von welchen die Schriftsteller unter den
Völkern der Pontus-Gegenden reden, oder mit den kriegerischen
Jungfrauen der czechiscfyen Legenden in irgend einem Zusammen¬
hänge stehen j auf welchem Wege die Gestalt der Heldenfrau sich
*) Eine eben so unrichtige Erklärung findet sich auch in Dahl’s Wörterbuch (B. flajtn
TojikobHÄ Gnosapb »CHBaro BejiHKopyCcKarO gSbixa, d. iVW. DahCs erklärendes Wör¬
terbuch der lebenden grossrussischen Sprache, in 4 Bänden. Moskau 1863 — 1866):
noARnnifa — yaaJibUbi, BaTara wa^yHOBT,, Hai>3AHHKn, paaöotHHKH, nojteuuifa yda -
Ad* — uiaüKa, BOJibHmxa, d. i. poljaniza — verwegene Leute, Horde von Freibeutern,
Raubritter, Räuber, poleniza — Rotte, Freibeuter. Anmerk . d. Verf.
**) Wir unsererseits halten uns durch die Angaben der Olonezer Bauern n^h nicht
für berechtigt, die von Dahl und Andern gegebene Erklärung dieses Wortes, die ihm
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319
auch ausgebildet haben mag, — zu ihrer Erhaltung im lebendigen
Bewusstsein des Volkes haben zweifellos die gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse im nördlichen Theile des Olonezer Gouvernements mitge¬
wirkt. In diesen Gegenden wird von dem Weibe nicht allein dieselbe
Betheiligung an der physischen Arbeit wie vom Manne, sondern auch
dieselbe Unerschrockenheit und Kühnheit verlangt. Hier muss das
Weib im Stande sein beim Sturme zu rudern oder das Boot zu
steuern, hier muss es im herbstlichen Unwetter die Netze ziehen, im ^
winterlichem Schneegestöber als Fuhrmann sich zum Weissen Meere
begeben können. Indem der Bauer dieser Gegenden im Bogatyr
männliche Kraft und Kühnheit verkörperte, konnte er ihn nicht von
dem gleichen weiblichen Heldentypus trennen. Deshalb erhielt sich
hier in so deutlichen Formen der Begriff von der Poljaniza , der in
andern Gegenden Russlands erblasste. Deshalb hört man in Kishi
und am Ken-Osero als Antwort auf die Frage nach der Bedeutung
des Wortes noj 9 Jtuu$fa y entweder: dass es dasselbe was Bogatyr be¬
deute, oder dass damit Kämpfer einer niedrigen Gattung bezeichnet
werden, oder, man erhält endlich zur Antwort: „so wird gesungen —
Poljaniza, was es aber heisst, wissen wir nicht/'
Ausser örtlichen Einflüssen macht sich in der Bylina auch die Per¬
sönlichkeit ihres Sängers geltend. Der Antheil des letzteren an der
Bylina ist sehr bedeutend, viel bedeutender als man vermüthert sollte,
nachdem man von den Rhapsoden gehört, dass sie die Byliny ganz
so sängen, wie sie sie von den Alten überkommen haben. Am Ken-
Ösero traf ich mit zwei sehrbemerkenswerthen,,Skasiteli“ zusammen,
welche ihre Gesänge von einem und demselben Lehrer erhalten hatten*,
das waren Iwan Ssiwzew, genannt der Pörom’sche, der das Singen
von Byliny bei seinem Vater erlernt hatte, und Peter Woinow, der
Schüler desselben Alten aus Pörom, bei dem er als Knecht gedient
hat Vergleicht man die beiden nachgeschriebenen Byliny, sö merkt
man bald, dass die des Einen und des Andern im Inhalte sehr viel
Uebereinstimmendes haben, in der Einzelausfuhrung und in der Aus-
meist einen Collectiv-Begriff xuschreibt, zurück zu weism. Namentlich spricht fiir diesen
die für das fragliche Wort am Nächsten liegende Ableitung von noAftna Feld,\ Ebene:
Die Erklärung, welche dem Verfasser von nordrussischen Bauern gegeben wurde, kann,
obgleich ihm von Mehreren, (übrigens nicht einstimmig, wie später zu sehen) gegeben,
dennoch Unbegründet sein. Sie erkläten das Wor^ so gut sie es konnten, wie sie sich
eben den Sinn des ihnen nur aus den Byliny bekannten, im Leben sonst unbekannten
Wortes deuteten. Äüdem sagt ja der Verfasser selbst, dass der Bauer jener Gegend nie
eine freie, weite Ebene gesehen hat. Anmerk . d. Webers.
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3*o
drucksweise aber sehr von einander abweichen. Dieselbe Verschie¬
denheit ist in den Byliny, die Andrei Gussew singt, welcher eben*
falls am Ken-Osero lebt, von denen seines Sohnes Charlata Gussew,
die desselben Inhalts sind, zu bemerken.
Mankänn sagen, dass in jeder Bylina zweierlei Arten Bestandteile
sind: erstens typische Stellen, die grösstentheils beschreibenden Cha-
racters sind,' oder Reden enthalten, welche den Helden in den Mund
gelegt werden, und zweitens, veränderliche Stellen, welche die typi¬
schen mit einander in Verbindung bringen und die Erzählung des
Ganges .der Begebenheiten bringen. Die ersten von ihnen kennt der
„Skasitel“ wörtlich und singt sie unverändert, so oft er die Bylina
auch singen möge; die veränderlichen werden also nicht meiporirt,
nur ihr allgemeines Gerüst ist dem Gedächtniss des Sängers gegen¬
wärtig, so dass jedes Mal, wo er die Bylina singt, er dieselbe auch
dichtet, indem er bald Zusätze macht, bald Kurzungen vomimmt,
oder die Ordnung der einzelnen Verse, so wie die Ausdrücke sölbslt
ändert. Int Munde der besten „Skasiteli,“ welche oft singen, und so
Zusagen, einen beständigen Text‘sich zurecht gelegt haben, be¬
stehen diese Abweichungen freilich in sehr imwesentlichen Varir
anten;- hat man aber einen „Skasitel“ vor sich, dessen Gedächtniss
weniger treu ist, oder welcher Byliny lange nicht gesungen hat, so
.muss man, ' wenn man ihn zwei Mal hinter einander dieselbe Bylina
hat vortragen lassen, über die grosse Verschiedenheit sich wundem,
welche beide Redactionen, ausser den typischen Stellen, bieten.
Diese letzteren haben bei jedem Sänger ihre Besonderheiten* und
jeder „Skasitel“ gebraucht eine und dieselbe typische Stelle, sobald
nur die Gelegenheit sich dazu bietet, manches Mal sogar nicht am
Platze, indem er sich an dieses oder jenes Wort anhaftet. Daher
bieten alle von einem und demselben „Skasitel“ gesungenen Byliny
eine Menge gleicher und völlig übereinstimmender Stellen, Selbst
wenn die Byliny in Bezug auf den Inhalt mit einander nichts gemein
haben. Auf diese Weise spiegelt sich vorzugsweise in diesen, hief
in Rede stehenden ‘typischen Stellen die Persönlichkeit des „Ska-
sitels“ wieder. Jeder von ihnen greift aus der Masse der fertigen
epischen Bilder einen mehr oder weniger bedeutenden Vorrath
heraus, je nach der Stärke seines Gedächtnisses, und nachdem er ihn
demselben eingeprägt, benutzt erihngleichmässigfuralle seine Byliny.
JBei zwei Rhapsoden, Iwan Fenopow und Potäp Antonow, zeichnen
sich die Bogatyri durch besondere Gottesfurcht aus: sie thun be¬
ständig nichts als: beten; von ihnen ist nun, wie erwähnt worden*
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Fenopöw eift „Kalika^* also ein Sänger geistlicher Lieder von Pro¬
fession, — Antonow aber, obgleich er ein Landbauef, hatte seine
Byliny von einem „Kalika“ von Profession, der jetzt verstorben, ge¬
lernt. Auf diese Weise haben auch ihre Byliny eine gottesfürchtige
Färbung erhalten. .
Die hier mitgetheilten Beobachtungen drängten sich mir von selbst
atif, während ich unsere „Skasiteli“ anhörte und ihre Rhapsodieen
nachschrieb. Dabei gewann ich die Ueberzeugung, dass die gesam¬
melten Byliny, bei der Herausgabe, nicht nach dem Inhalte, sondern
nach den „Skasiteli“ geordnet werden müssen. Freilich hat eine
solche Anordnung manches Missliche, und ich selbst bin bereit an-
zuerkennen, dass bei einer abschliessenden, vollständigen Ausgabe
unserer epischen Lieder, eben so wie bei einer gereinigten Ausgabe
ausgewählter Byliny, die ern Bedürfoiss ist, die Anordnung nach den
Gegenständen gemacht'werden muss, w^ei eine Auswahl von Vari¬
anten zu geben wäre. Doch zu einer vollständigen Ausgabe ist die
Zeit noch nicht gekommen; eine Chrestomathie herauszugeben ist
aber nicht meine Absicht. Ich halte die epischen Lieder, welche sich
bei unserem Volke erhalten haben, in dem Maasse für werthvoll für
die Wissenschaft, dass sie Ausgaben aller Arten verdienen; bei der
Mittheilung des rohen Materials—als solches erweist sich die Samm¬
lung der von mir nachgeschriebenen Byliny — bietet die Anordnung
nach den Rhapsoden dm Vortheil, dass bei ihr die Frage nach den
Beziehungen des persönlichen Schaffens zur Tradition in. den
Byliny leicht aufgehellt werden kann. Von diesem Gesichtspunkte
aus erhält Vieles einen Werth, was sonst einer Beachtung unwerth
erscheinen möchte. So finden sich in meiner Sammlung zwei sehr
schlechte Varianten von der bekannten Bylina von der Abfahrt des
Dobrynja*'Nikititsch und von der erfolglosen Werbung des Alescha
Popowitsch um dessen Frau. In einer dieser Recensionen wird am
Ausführlichsten beschrieben und besonders herausgekehrt die Sorge
Wladimir’s, dass die Dienerschaft keinen Fremden zur Hochzeitsfeier
des Alescha zulasse, so wie die Unterhandlungen Dobrynja’s mit den
Dienern Wegen seines Einlasses, — mit einem Worte: zum Centrum
der Handlung ist die Vorhalle gemacht. In der andern Variante er¬
lässt Wladimir, um Dobrynja’s Frau zur Ehe mit Alescha zu zwingen,
das Gesetz, dass aus Kijew alle Wittwen und Frauen bhne Pass ent¬
fernt werden, und droht der Nastassja mit diesem Gesetz. Kann es
etwas Ungereimteres als diese Varianten geben? Indessen ist die
e^te ! \ron ibheh öhataeterisfisch für die Persönlichkeit des Sänger^;
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es wanetn junger Mann, der als Burlak am Kanal verweilt, dann das
von ihm dort erworbene Geld in St. Petersburg auf dem Heumarkt
durchgebracht hatte, darauf bei einem Kaufmann in den Dienst ge¬
treten und erst unlängst in sein heimathliches Dorf zurückgekehrt
war, wo er nun Landbauer wurde. Aus der Zahl aller mir vorge¬
kommenen Sänger von Byliny hatte dieser sich am Meisten in der
Lakaien-Sphäre bewegt. Daher sind die Helden seiner Bylina auch
Lakaien. Diejenige dagegen, in welcher von den passlosen Wittwendie
Rede ist, giebt ein Zeugniss davon, wie Ereignisse, von denen das
Volk betroffen wurde, ihre Spuren in den Byliny hinterlassen haben.
Diese Variante, die ich nur am Wodl-Osero gehört habe, enthält die
Erinnerung an die in den fünfziger Jahren vorgenommene Austrei¬
bung aller Wittwen und Mädchen aus den Zufluchtsstätten (Sfo’ty)
der Raskolniki in Danilow und an der Leksa (d. i. einige hundert
Werst vom Wodl-Osero), welche dort ohne Pass lebten.
Jede Bylina enthält in sich wie das Erbe der Väter so auch die per¬
sönliche Beisteuer des Sängers; ausserdem trägt sie noch ein locales
Gepräge. So viel ich urtheihsn kann, müssen die Sänger im Olonezer
Gouvernement, nach den Oertlichkeiten, in zwei grosse Gruppen
getheilt werden, von denen jede wieder ihre Unterabtheilungen hat.
Diese beiden Gruppen könnte man in St. Petersburg die Onega - und
die Transonega-Gruppe nennen, weil die erste die Gegenden, welche
am Onega-See liegen, die andere die jenseits desselben, nördlich und
östlich von ihm liegenden umfasst.
Die zweite Bezeichnung würde aber Missverständnisse veranlassen,
weil vom Volke unter Transonega-Gebiet ( 3 aoneo/cae) etwas ver*
standen wird, was dem Sinne, den wir dieser Bezeichnung eben un¬
terlegtön, diametral entgegengesetzt ist. Saoneshje — 3aoueo9Cbe
ward von den Russen, als die Colonisation in diesem Lande in der
Richtung von Osten nach Westen statt fand, die grosse Halbinsel
genannt, welche in den Onega-See von dem diesseitigen (westlichen)
Ufer sich hineinzieht. Wir müssen uns also nach einer andern Be¬
zeichnung umsehen: ich will diese Gruppe in Beziehung zur Onega-
Gruppe die nordöstliche nennen, da sie die Umgegenden von Wyg -
Oseroy Wodl-Osero, Ken-Osero und Moscha umfasst.
Die Onega- Gruppe ist durch den grösseren- Umfang ihrer Byliny
characterisirt, die . nord-östliche hingegen durch deren Gedrängtheit
Beide .Kennzeichen treten wie in der Anlage der Rhapsodieen selbst,
so auch im Bau ihrer Verse uns entgegen. Am Onega zeichnen sich
die Byliny durch eine Eigenschaft aus, welche auch Horaz den epi-
%
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323
sehen Gesängen zuschrieb, nämlich durch die Länge: die age tfngum y
Calliope, rnelos. Dort hört man Byliny von tausend und mehr Versen
und ist eine Neigung der Sänger zu einem langen (sieben-, acht- und
neunfüssigen) Verse wahrzunehmen, ausserdem häufiger Einschub
von Partikeln. Im Nord-Osten dagegen herrscht der kurze, fünf- oder
sechs-fiissige Vers vor, die eingeschobenen [Partikeln wuchern hier
nicht; Wiederholungen, die im Munde der Onega-Sänger so viel zur
Verlängerung ihrer Byliny beitragen, sind hier viel seltener, der
Gang der Erzählung ist lebendiger und weniger durch Einzelheiten
• getrennt, so dass wenige Byliny zu drei- bis vierhundert Versen an--
wachsen. Es versteht sich von selbst, dass es auch am Onega kurze
Byliny giebt und bei den „Skasiteli“ vom Wyg- und Ken-Osero
solche Vorkommen, die sich durch ihre Länge auszeichnen: ich rede
jedoch vom allgemeinen, vorherrschenden Typus, und in dieser
Beziehung, ist die Verschiedenheit beider Gruppen eine sehr
bedeutende.
Ich wende mich jetzt den Unterabtheilungen der Hauptgruppen
zu. Während meines Verweilens auf der, Saoneshje genannten Halb¬
insel hörte ich, dass das Volk dieselbe auf Grund einer alten Tra¬
dition in drei Theile theile: Kishi, Tolwid und Schunga . Kishi ist
der südwestliche Theil der Halbinsel,das heisst unterdieser Benennung
fasst man die Pogoste (Kirchspiele) Ssennogubskij, Kishskij, Weliko-
gubskij, Jandomoserskij Und Kossmoserskij zusammen - r Tohwri ist die
allgemeine Benennung für den östlichen Streifendes Saoneshje, d. i.
die Pogoste Tipenitzkij,Kusarandskij, Wyro*erskij,Tolwuiskij, Foimo-
gubskij; Schunga endlich heisst der nordwestliche Winkel des Sao¬
neshje. Von der letztem Gegend kann ich nichts sagen, da ich dort
nicht gewesen bin und gehört habe, dass daselbst schwerlich Byliny
anzutreffen wären; ich bin aber, sehr erstaunt gewesen, wahrzu¬
nehmen, dass, während Kishi und Tolwui weder durch eine natür¬
liche noch eine administrative Grenze von einander geschieden sind,
sondern nur auf Grund der Tradition von einander getrennt gedacht
werden, die Sänger des einen und des andern Gebietes durch die
Art und Weise, wie sie ihre Byliny geben, sich völlig unterscheiden.
Zugleich ist die Tolwuische Gesangsweise vollkommen übereinstim¬
mend mit der, welche man am gegenüberliegenden, nordöstlichen
Ufer des Onega-Sees, im Kreise Powenez, bis zur Wasserscheide 0
d. i zwischen Onega- und Wyg-See. Anmerk, d, Uebers,
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beimlforfe Masselga bemerkt. Deshalb glaube ich, könnte man die
Onega-Rhapsoden, so zu sagen, nach zwei Schulen unterscheiden —
die Schule von Kishi und die von Tolwui-Powenez. Dass diese Un¬
terscheidung keine ganz willkürliche sei, kann ich mit dem Zeugniss
der Bauern bekräftigen. Im Pogost Pudosh, im Dorfe Gorka, stehen
neben einander die Häuser zweier merkwürdiger Skasiteli: des Abram
Jewtichijew (genannt Butylka), dessen ich früher erwähnte, und des
Peter Lukin Kalinin. Ersterer begleitete mich aus Petrosawodsk, bei
Letzterem kehrten wir als Gäste ein. Als Kalinin eine lange Bylina
*von Dobrynjuschka vortrug, bemerkten der Eigenthümer und die*
Ruderer meines Bootes, welche gewohnt waren, den Abram zu hören:
„wie sonderbar, beide sind zwei so nahe Nachbarn und bringen die
Byliny so verschieden!“ Abram Jewtichijew erklärte uns das gleich
darauf: „Peter Lukin, sagteer, hat die Byliny von seinem Vater,
und ich von dem meinigen; mein Vater ist aber kein Hiesiger, er
stammt aus Kishi, von Kossmosero, und wandert e mit mir auf den
Pudosh’schen Berg, als ich bereits 20 Jahre alt war; daher singe ich
auch die Lieder wie die Einwohner von Kishi, und nicht wie die
hiesigen.“ Worin besteht nun der Unterschied dieser beiden
Schulen? Freilich in sehr feinen Zügen, die aber, so zu sagen, das
Colorit der ganzen Rhapsodie ausmachen, und zwar in den beständig
eingeschobenen Partikeln, die gewissermaassen unserm epischen
Verse als kleine Stützen dienen, ähnlich, den homerischen Partikeln
äga y av , 8$, drj * u. a.
In Kishi dienen als sol<ihe Partikeln — ausser den allgemeinen ge¬
bräuchlichen da (ja), a (und, aber), u (und), xu (ob) — gewöhnlich:
Kam (wie), efbdb (denn), de (halt); bei den Sängern in Tolwui findet
man weder Kam, noch efbdb , noch de als einfaches Einschiebsel ge¬
braucht; sie stützen den Vers mit ,den Partikeln HbtHb oder uyub
(nun), otce (aber), 6uxo (es geschah) und ec mb ode e (ist). Diese letzte
(ecnth , oder das verkürzte e) wird grösstentheils bei dem Präteritum
gebraucht* so dass sie gewissermaassen als Ueberrest einer alten
Form der Präteritum-Bildung erscheint; da aber nun der Sinn dieses
hinzugfefügten „ ecntb “ oder*,,*“ sich verloren hat, so benutzten die
Skasiteli es einfach des Versmaasses wegen.
Von der Powenez-Tolwui’schen Schule, eben so von der von Kishi,
jedoch von der ersten weniger als von der letzten, unterscheiden sich
die Byliny, welche ich auf dem östlichen Ufer des Onega, näher zu
Pudosh hin, gehört habe. Allein in dieser Gegend fanden sich der
,,Skasiteli“ nur vier, von denen ein Jeder seine sehr auffallenden Ei-
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3?5
genthümlichkeiten hatte. Dieser Umstand findet seine Erklärungen der
Verschiedenheit der Quellen ihrer Byliny. Nur bei Einem von ihnen,
bei Ssorokin, sind sie localen Ursprungs; der Andere, Iwan Fe-
ponow, hat die Byliny, die er kennt, am Fluss Onega erlernt; zu dem
Dritten, Potap Antonow, sind sie aus dem Kreise Wytegra gelangt;
endlich werden von Nikifor Prochorow Byliny gesungen, welche
ebenfalls aus einem sehr entfernten Orte eingeführt sind (sein Vater
hat sie erlernt, als er als Hirte bei einem Gutsbesitzer lebte, folglich
stammen sie jedenfalls nicht aus der Nähe von Prochorow’s Geburts-t
ort, weil es dort keine Edelhöfe giebt.) So kann man, diese vier
Sänger, der Oertlichkeit nach, unter einer Gruppe zusammenfassen,
sie aber nicht zu einer Schule rechnen.
Was die nqfdostlicke Haupt-Gruppe betrifft, so habe ich in ihr ei¬
gentlich keine Verschiedenheit im Bau der Byliny je nach den ein¬
zelnen Oertlichkeiten bemerkt. In allen zu dieser Gruppe gehörenden
Gegenden, am Wyg, am Wodl und atg Ken, ist die Manier der
„Skasiteli“ eine und dieselbe, — man findet dieselben kurzen Verse,
dieselbe Gedrängtheit in der Erzählung, dieselbe verhältnissmässige
Genügsamkeit im Gebrauch der Einschiebsel-Partikeln. Nichts dest#
weniger halte ich es für nothwendig die nordöstliche Gruppe in geor,
graphischer Beziehung nach dem Wyg-, dem Wodl- und dem Ken-
Osero zu unterscheiden, denn diese Gegenden bieten Abweichungen,
nicht im Bau der Byliny, sondern ihren Gegenständen nach. Am
Wyg-See werden dieselben Helden besungen wie artf Onega, die all¬
bekannten Ilja von Murom, Dobrynja, Tschurilo u. s. w.; ausserdem
noch Dunai Iwanowitsch, Stawer Godinowitsch, Djuk Stepano-
witsch, der reiche Kaufmann Ssadko. Am Ken-Osero singt man von,
den vier letzten gar nicht; von Stawer und Dunai hat man dort auch
nicht gehört; dafür sind die Sagen von Ilja von Murom und Tschurilo
hier zahlreicher, besonders haben die Lieder vom Ilja bei den „Ska¬
siteli“ vom Ken-Osero eine so überwiegende Bedeutung, wie sie am;
Onega nicht zu bemerken ist; ausserdem werden am Ken einige
Byliny gesungen, die in andern Gegenden gänzlich unbekannt sind.
Die Wodl-Osero-sche Gruppe hat durchaus keine bestimmte ausge¬
prägte Physiognomie, weil, wie oben bemerkt wurde, die epische
Poesie dort erst anfängt heimisch zu werden, indem sie von verschie¬
denen Seiten eingeführt wird. Endlich, in der letzten der Gegenden,
die ich zu der nördlichen Hauptgruppe zähle, — an der Moscha,
giebt es gar zu wenig*Ueberreste der epischen Poesie, als dass man
über ihren Character urtheilen könnte. Grösstentheils sind die Byliny,
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dort A prosaischen Erzählungen in der Form von Märchen, gewor¬
den; an der Moscha ist nur ein bemerkenswerther Sänget geblieben,
das ist Schwezow. Seine Byliny unterscheiden sich ziemlich auffallend
von denen am Ken-Osero, und da die Moscha-Gegend, den Natur¬
verhältnissen nach, zunächst mit dem Kreise Schenkursk des Gou¬
vernements Archangel zusammen hängt, so könnte man voraussetzen,
dass auch in Bezug auf die Poesie der Byliny sie einen Theil der
Gruppe von Schenkursk ausmacht; doch fehlt mir in Betreff der
Kenntniss des letzteren jede Autopsie.
Indessen ist zu bemerken, dass die Ken-Oser’schen und Moscha*-
schen Byliny von allen übrigen sich durch ihren Dialect unter¬
scheiden. Am ganzen Onega, eben so am Wyg und Wodl, herrscht
der nordrussische Dialect vor, in welchem da s,o stetg rein ausge¬
sprochen wird, ohne Uebergang in a und der Genetiv auf a&>, oeo *
wird ausgesprochen, wie wir ihn schreiben; dabei ist die bei denNow-
gorodem gewöhnliche Neigung des n zum /-Laute und des y zum v-
Laute zu bemerken, doch sind die Fälle dieser Abweichungen selten
und nicht durchgehend: gewöhnlich tritt ein Mittel-Laut auf, dessen
Wiedergabe schwierig ist. So wird man sehr selten hören: Suauü
cmme (weisses Licht, Tageslicht), MOJiodeHb (junger Bursche), meist
hört man nicht ganz ötuiuü ceunts f Mojiodenb und auch nicht ganz
G*Abtü centns, MOAodetfs, sondern etwas zwischen beiden Aussprachen
Liegendes *). ^
Von WodhOsero bis Ken-Osero fährt män 90 oder 100 Werst auf
sumpfartigen Flüssen, durch eine vollständig menschenleere Gegend;
in der Mitte dieser Wasserstrasse ist ein „Wolok“ **) von fünfWerst
Länge mit einem Dorfe. Derselbe bildet die Wasserscheide zwischen
dem Baltischen und Weissen Meere. Hat man den„Wolok“ passirt,
bemerkt man gleich eine; gewisse Veränderung der Mundart: y wird
rein ausgesprochen, n nimmt sehr selten die Färbung, des *-
Lautes an, e wird im Genetiv zu <?, namentlich in kurzen Wörtern,
wie moeOy ceeo i neeo u. s. w.
Dieselbe Aussprache ist auch an der Moscha bemerkbar; weiter
auf dem, Wege von dieser zur Stadt Welsk (im Gouvernement Wo-
•) Ueber die dialectischen Verhältnisse inOlonez, sieheLeskien’s Aufsatz im VI. Bande
der Beiträge zur vergleichenden Sprachforschung auf dem Gebiete der Arischen, Cel-
tischen und Slawischen Sprachen, ausgegeben von A. Kuhn. (Berlin 1870), S. 1.52 bis
187. Derselbe ist nach Rybnikow’s Material gearbeitet Anmerk . d Uebers.
## ) ^Wolok' 4 heisst eine Landstrecke die zwischen 2wei Flüssen liegt, also die Un¬
terbrechung einer Wasserstrasse bildet. Anmerk. d. Uebers .
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m
logda) fährt man durch eine ändere sumpfreiche Einöde, welAie die
Gewässer, die dem Onega-Fluss zufliessen, von den Zuflüssen der
nördlichen Dwina scheidet. An diese Wasserscheide knüpft sich
wieder eine Veränderung der Mundart: der Gebrauch des 0-Vo-
cals wird seltener, die Endung aeo wird häufiger zu aeo 9 die Färbung
des n als *-Laut schwindet ganz, und es ist interessant, dass mit
der Veränderung in der Mundart auch eine andere, in den öcono-
mischen Verhältnissen, zusammenfällt. Bis zu dieser Wasserscheide
liegt der Schwerpunct des öconomischen Lebens entweder in St. Pe¬
tersburg oder Archangelsk; zu Moskau ist nicht die geringste Be¬
ziehung, wenn man einige reiche Handelsleute ansnimmt, welche den
Jahrmarkt in Nishnij-Nowgorod zu besuchen pflegen; hinter dem
sumpfreichen „Wolok“, welcher die Moscha-Gegend von der Put¬
schen trennt, erscheint schon Moskau als das dem Volke am Mei¬
sten bekannte öconomische Centrum, während St Petersburg
zurücktritt •
Ich will nun nach dieser Abschweifung wieder zu meinem^eigent-
lichen Gegenstände zurück kehren. Es bleibt mir noch übrig, einige
Beobachtungen über das Versmaass unserer Byliny mitzutheilen.
Diese Beobachtungen boten sich mir gleich beim ersten Zusammen¬
treffen mit Abram Jewtichijew, mit dem ich, wie erwähnt, bei meiner
Ankunft in Petrosawodsk bekannt wurde. Er sang mir seine Byliny,
die mir schon aus der von Rybnikow herausgegebenen Sammlung
* bekannt waren. Während ich ihnen mit dem gedruckten Texte in der
Hand folgte, war ich über die Verschiedenheit beider erstaunt—nicht
in Betreff des Inhalts, sondern des Versmaasses. Im gedruckten
Texte ist der Versbau nur durch den dactylischen Schluss des
Verses ausgedrückt; in der Mitte des Verses giebt es gar kein Vers¬
maass. Während Abram Jewtichijew sang, hörte ich bei ihm deutlich
nicht nur eine musicalische Cadenz, sondern auch ein auf Betonung
gegründetes Versmaass heraus. Ich entschloss mich also die Bylina
von Neuem nachzuschreiben; der „Skasitel“ erbot sich, die Bylina
Wort für Wort vorzusagfen, d. h. ohne Gesang, und bemerkte, er sei
schon gewohnt, seine Byliny „wortweise“ für Diejenigen vorzuträgen,
welche sie „abschreiben.“ Ich fing an mit der Bylina von Michailo
Potyk. Indem ich sie, wie er es nannte, „abschrieb,“ schwand aber
das Versmaass und ich erhielt eine gehackte Prosa, ähnlich derje¬
nigen, in welcher diese Bylina in der „Olonez’schen Zeitung“ (nach der
von P. F. Butjenew besorgten Abschrift) ^gedruckt gewesen ist und
später in die Sammlung von Rybnikow aufgenommen Würde (Bd; I,
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No 3^ IchyeErsujchte^rohr diese gehackte Prosa in ein Versmaass zn
bringen, indem ich den „Skasitel“ veranlässt«*, sie nochmals aü
singen, doch das erwies sich als unausführbar, weil, wie ich oben
auseinandergesetzt habe, die „Skasiteli“ jedes Mal etwas die Rtcen •
sion der Bylina ändern, Wörter und Partikelh umstellen, bald einen
Vers hiftzufügen, bald einen auslassen, oder endlich auch die^Aus-
drücke verändern. Nachdem ich einige Tage die zuerst angetroffenen
„Skasiteli“ angehört und mich vergeblich abgemüht hatte, eine
Bylina völlig treu, mit Beobachtung des Versmaasses, mit dem sie
gesungen wird, nachzuschreiben, versuchte ich, den Rhapsoden*
meinen Reisegefährten, zu gewöhnen* eine Bylina in der Weise zu
singen (aber nicht wiederzusagen), dass es möglich wäre sie nach¬
zuschreiben, indem ich ihn lehrte zwischen jedem Verse eine Pause
zu machen. Es fiel mir nicht schwer, dem Abräm Jewtichijew das
auseinander zu setzen, und ich entschloss mich, seihe Byliny von
Neuem nachzuschreiben. Der Gesang Hess Ihn das Versmaass ein-
halten, ^welcher bei der Wiedergabe der Bylina von Seiten des „Ska¬
sitel“ in Worten sogleich durch das Aufelässen der eingeschobenen
Partikeln wie das Zusammenflüssen zweier Verse in einen schwindet
Auf diese Weise erhielt ich auf dem Papier die Bylina ganz so, wie
sie gesungen worden war. Denselben Handgriff wandte ich später
mit allen andern „Skasiteli“ an und es gelang mir fast jedes MaL
Nur in wenigen Fällen (die ich immer anführen werde) wären meine
Bemühungen vergeblich. So konnten der zu altersschwache und fest
taube Kusma Romanow und die übrigens bemerkenswerthe „Skasi-
telniza“ (Fern, von „Skasitel“) Domna Ssurikowa durchaus nicht sich
auf gesangsweise Wiedergabe einer Bylina einrichten. Wenn sie sie
singend vortrugen, konnten sie nicht einhalten, um nicht auf ein
Mal eine ganze Tirade zu singen, die höchstens ein Stenograph hätte
nachschreiben können; wenn, ich sie nun schweigen liess und sie bat,
dasselbe langsamer zu singen, dann verfielen sie in ein prosaisches
Referat, aus dem der Versbau schwand. ,
Nachdem ich siebenzig Rhapsoden, männlichen wie weiblichen,'
mit der grössten Aufmerksamkeit für das,Versmaass Byliny nach¬
geschrieben, erlaube ich mir einige allgemeine Schlussfolgerungen.
In Bezug auf den Versbau der Byliny kann man die „Skasiteli“ in
drei Gruppen theilen: ,
I* „Skasiteli,“ welfche io jeder Bylina ein richtigds Verspiaass streng
' beobachten; » . f . ,
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♦
2 , „£$kasiteli,“ die wohl ein Versmaass einhalten, doch nicht immer
ein richtiges; und
8 . „Skasiteli,“ die gar kein Versmaass beobachten.
Dass ein richtiger, auf die Betonung gegründeter Versbau eine
ursprüngliche, normale Eigenthümlichkeit der russischen Bylina aüs-
mache, dass die Unregelmässigkeit im Versmaasse ein Zeichen der
Verderbniss und die Abwesenheit jedes Versmaasses — eine weitere
Stufe des Verfalls sei, das braucht dem nicht bewiesen zu werden,
der unsere „Skasitjeli“ gehört hat oder sich die Mühe nehmen will,
Byliny, die nach ihrem Gesänge aufgezeichnet sind, zu lesen* Er wird
einen regelmässigen, auf den Wortton gebauten Vers, namentlich bei
denj enigen,,Skasiteli* * finden, deren Byliny auch in Bezug auf die Anord¬
nung des Inhalts besonders wohlgebaut, am vollständigsten und am
meisten alterthümlich sind; er wird bemerken, dass die Rhapsoden,
die Unregelmässigkeiten im Versbau zulassen, — dennoch gewöhn¬
lich in regelmässigem Rhythmus die sich wiederholenden typischen
Stellen singen, also diejenigen, in denen sich vorzugsweise die alte
Redeweise erhalten hat; endlich wird er wahrhehmen, dass der völlig
zerstörte Vers mit der Zerstörung des Inhalts und des innern Baus
der Byliny Hand in Hand geht
Welches ist nun das Versmaass unseres Volksepos? Es sind ihrer
mehrere, nicht nur eines.
Herr Rybnikow hat bemerkt, dass bei Rjabinin „eine und dieselbe
rasche Weise sehr heiter im Stawer, im Pötyk gedämpfter, im Wölga
und Mikuluschka aber feierlicher sei.“ Herr Rybnikow versteht dar¬
unter eigentlich die Gesangsweise, hinter derselben birgt sich aber—
das Versmaass. Im Stawer ist bei Rjabinin ein Trobhäus mit einem
Dactylus, im Pötyk — ein reiner Trochäus, im Wölga und Mikula—
ein Anapäst. Diese drei Versmaasse umfassen unser ganzes Volksepos,
einige wenige späte Erzeugnisse allein ausgenommen.
Das vorherrschende Versmaass, welches ich das gewöhnliche
epische Metrum nennen will, ist ein reiner Trochäus mit dactylischem
Schluss.
Die Zahl der Füsse ist unbestimmt, so dass der Vers dehnbar er¬
scheint Diese Dehnbarkeit beim regelmässigen Wortton-Metrum
macht eine besondere Eigenthümlichkeit des russischen epischen
Verses aus. Doch darf dabei nicht aus dem Auge gelassen werden,
dass bei guten Sängern das Dehnen des Verses sehr massig auftritt.
Vorherrschend ist der fünf- und sechsfüssige Vers, welcher zu einem
siebenfüssigen anschwellen und zu einem vierfüssigen zusammen-
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schrumpfen kann; Verse, die länger oder kürzer wären, sind nur als
ausnahmsweise Anomalie zulässig. Einen übermässig langen (mehr
als achtfiissigen) Vers wird man selten von einem „Skasitel“ hören;
er müsste denn zur Zahl Derjenigen gehören, bei denen der Versbau'
völlig zerstört ist Wenn wir in gedruckten Ausgaben auf so lange
Verse stossen, so sind sie damit zu erklären, dass die „Skasiteli“
wenn sie eine Bylina in Worten, ohne Gesang, wiedergeben, oft zwei
und drei Verse in einen zusammenziehen. Mann kann auch be¬
merken, dass in einigen Byliny der kürzere Vers vorherrscht, so dass
die meisten Verse vier- und fiinffüssig sind, in andern Byliny da¬
gegen herrschen lange, sechsfüssige Verse vor, mit Beimischung
von siebe'hfiissigen. So sang Kalinin Byliny vom Ilja von Murom
meist in vier- und funffussigen, von Dobrynja Nikititsch in sechs- und
siebpnfussigera Verse. Es wäre voi^ Interesse, den russischen epi¬
schen Vers mit dem epischen Verse bei andern Völkern zu ver¬
gleichen: welche Resultate würde wohl diese Vergleichung ergeben?
Mit dem südslawischen Verse, der auf den Silbenton basirt ist und
nicht ausgedehnt werden kann, haben wir nichts Gemeinschaftliches,
ausgenommen, dass jeder Vers, sowohl der russische wie südsla¬
wische, eine» gewissen, mehr oder weniger ganzen Sinn enthalten
muss, eine ganze Phrase, oder einen bestimmten TheH einer Phrase,
wobei in keinem Falle ein sogenanntes enjambement zugelassen
wird, welches dagegen so beliebt ist im griechischen, deutscherrund
skandinavischen Epos. Um mich von meinem Gegenstände nicht zu
weit zu entferneii, wende ich mich wieder den Metren der Olonezer
„Skasiteli“ zu. Ich beginne damit, das£ ich ein Beispiel von dem
Metrum gebe, welches ich das gewöhnliche epische genannt
habe*):
-- *
•) Wenn der Leser sich die Mühe geben will, diese Zeilen mit den bei Rybnikow,
Bd. I. S! 54 gedruckten yu vergleichen, so wird er bemerken, dass das Versmaass unter
seiner Feder deshalb schwand, weil ey die Bylina, wie sie ihm vorgesprochem wurde,
nachschrieb und diese nach dem Gesänge nur verificirt wurde (siehe die Anmerkung
im m. Bande auf Seite XIX). — Hier ist die entsprechende Stelle bei Rybnikow:
GrapuB KasaEi» lAjihx Mypovum»
rkrbxaJTb na ftodpoirb nOirfe
Mumo Hepuurom» rpajp>:
Ha^t HepHurosbiarb cutymca ^epnum» uepHo,
1 HepHbiMi» uepHo, KaKi> uepHa Bopona.
npHirycnurb oht> kohs öoraTbipcicaro
Ha stj cnjiynncy Bearnryio,
Cnuib Koueirb Tonran» h jseqtti» kojiotb. v
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H3* TOTO JIH TO H3* rOpOAa H3* MypOMJlÄ,
Hai. Toro.ceJia A3 c*&aparopas;i,
Bu-feaacaai» y4«ui«Hbsoft, AopoAHia Aoöpuft moaoacu*,
Öh* ctohji* sayTpeHy bo Mypostna ,. ■
Aln oföAqttK’fcqootrfeTb Jtorfcjr* oh* b* CToJibHefi KieB* rpaA*,
Rz a noAb’txwi» oh* so cjraBBOMy so opoAy m> l IepiraroBy.
y Toro jm,roposa Hepäsrosa ■
HaraaHÖ to ciuyuam Hepmiv* nepHo, *
A a nepHUM*'HQpno xas* «epaia BöpoBä;
Tas* rrbxoToio hhkto Tyrb hc npozaacnaT*,
ÜTifna ^«pHwfl BopoH* ne npojieTHBaT*, 4 • • 1 " ' '
Ha Apfjppu* sohh hhrto Tyn, He npo'feaÄHBari),
Ilnma nepHua Bopoti* ne npojieruBar*, * • '
Gfepua 3B^pb Aa ne npiopucKHaar*, J
Ä noAvfcxajrb icasc* so CHjjynjK’fe seAHKoeü, .
Oh* Kaue* ct«ui* to 3Ty cHAymky BeAHKyio,
CTaAb sonbeM* TOüTaTb Aa CTaAi sonbeM* soAOTb,
A a ho€ha* otn> 3Ty cAaBy Bcio BeAHKyio. a /
Eh* troA*itxaA*-To hoa* cjiaBHMB hoa* HepnaroB* rpaA*. ’
d.L •
Aus jener Stadt so da Murom (heisst) ist.
Aus jenem Dorfe so da Karatscbirow ist,
Ritt ein kühner, wohlgestalteter edler Jüngling.
Er stand die Frühmesse in Murom . ‘
Und zum Mittags-Gottesdienst wollte er in der Residenzstadt
Kijew sein.
IIoTOHTaji'fc x noKoxojn» *axf v% cxopoiK* epexaux*
H noAb'fcx&jn» oht» ko ropoAy ko HepmiroBy.
Wii> geben, Vie hier itf der Aumerkung, so auch oben nur die ersten der vom Ver¬
fasser axgeführttn Vefrpe, und fügen Urnen eint wörtliche Übersetzung, so weit sie
möglich, bek Anneri . ä f Udert ..
Der alte Kasak Hja Muromez
Ritt auf edlem Ross ' / r
Vorüber an der Stadt Tschemigow: *
Um Teehrmigow, die Stadt (stand) (Streit-) Kraft, dass es ganz schwarz war,
Ganz schwarz* wie ehr schwarzer Rabe.
Er kam mit dem Heldejproas
An diese grosse (Streife) Kraft,
Ring an mit dem Rosse zu’treten und mit dei* Lanze zu stechen,
Trat (sie) nieder und stach (sie) nieder in kurzer Zelt,
Und rittheran an die Stadt Tschemigow.
♦ 21 »
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!< n .1 u ( )
’.u :S A
Und er ritt an die berühmte Stadt Tschernigow heran.
Bei jener Stadt Tschernigow v i r < ’ ' J •»« Mr r J ,n **
War eine (Streit-) Kraft zusammettgetriebeii, dass gärtfc’^fchWirie
_ ä j. :(j r. , ,.|i r.'v^, Hvi'r, 1 l:a
So ganz schwarz wie ein schwarzer Rabe, *
Dass Niemand mit Fussvolkhier vorüberg^heri konnte, ‘ ‘
Auf ec^eiW Ro 5S| Niemand;hier vorüber rerten* konhte, a ,i; ° 11 a J ^ *
Und ein schwarzer Vogel Rabe nichtvorübqr'diegertldohfttfc, 101
Ein graues Thier (ein Wolf) nichtvoilifoersfrdfert^&^ * il u ^ * *
Und als er zur grossen (Streit*) Kraft herattgerÄtEti Wätt^A 5 f: ^
Fing er an diese grosse ,(Streit«)fIfiraft/ ‘ (<l 111 ,l 1 ^
Fing an (sie)'mit dem Rosse tarn treten amd <mgttt¥ste'ttyfc der Lallte
. o<;’i •>**. i /* a u ^ gtethen;' J ' *
UncLschlug diese ganze grosse (Streit-) Kraft i 1111 ’ tc i A> ;:;lu ^
Und er kam an die berühmte Stadt herangeritt&ti •‘* I M ^
^ J ,/*" mi Ki’y /L.r -* ' a .♦ ■>' a «i».'* ' i *i > 'A
In diesem Versmaass singen auch die besten ^ßl^asiteJi^^ wjej^jji-
binin/Jeremejew* Kalinin, eine Bylina von mehrmals tau,s^djVjer^ep,
ohne im Versmaass zu irren. Wenn bei ihnen untrer, ^lypd^fr 1 ^ v A n
Versen ein unregelmässiger ein mal unterläuft, ( s<} , yjjü da§ fbqn
nicht vi 61 ‘sägen"' Doch 1 die ^efirzaiil äcr „Skasiteli“ erjaubt sich
beim trochaeischen Metrum zwei Freiheiten,^ie^bri^ens^beim Singen
von Byliny wenig bemerkbar* feind, jund zwar folgende* im Anfänge
des Verses gestatten sie sich deh Vdrsatz oder .^ie \Veglassung ehi^r
Silbe, wodurch der Trdchaeus zum Jambus WirdJ, und in |der Mittje
des VerSes gebrauchen sie statt des 1 Trö<&aeus zuwei lei einen i)a<j-
tyluä ; da aber lm > litzteten Falle die zwei'kurzen Silben des Dac-
tylus in der Aussprache zusammenfallen, so wird der choraeische
Tonfall dadurch nicht aufgehoben. (Der Verfasser bringt hier ein Bei¬
spiel aus einer dem Abram Jewiichijfiü mackgeschriebenen Bylina.)
, ■ ” t ' ... II 1 i _ /
Aus deip angeführten Beispiel ersieht man* /dass von - 5 2 Versen42 bin
vollkommen regelmässiges choraeiscfaes Metrum haben; in Vier Versen
der Choraeus in einen Jambus verwandelt ist und in sechs Vprseip
statt des Choraeus ein Dactylus auftritt. Man kann behaupten, das?
bei den Olonezer „Skasiteli, “ mit Ausnahme f einiger der .besten,
welche es wissen, ihr*Metrum durchgängig »einzuhaiten^ gegenwärtig
ein solcher vom Verderbniss .etwas angenagtei*>ohoraeieehef Vets
vorwaltet. Ebenfalls sind auszunehmen diejenige'd£fdh Vtts£, wip
bei Schtschegolenok, Ssorokin, Ssarafanöw,' das Metrum jollig
eingebüsst haben. ! ,J 11 '
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Das «zweite: Metrum Irt; Unsöteh Byltoy feänü man das spielende 1
(nrpai^ft) herinen, - sowohl dem Töhe hach als auch deshalb* dass
in diesem Metrum« die dem Inhalte liäcH 7 weniger erlisten Byiijiyi wie ;
die vom Ssolowej Budimirow, Tschurlla PfenköWitsbli; Staw^r', zu-
weHenVonl Dimaj'fwandwrtsch ■ abgefaist sihd; eben sc/die I^yliny‘
vom Ueberfatt«Kli/ews * dtiteh 1 Bafyeiherh EreigriisS, welchem Idas 1
VoHcsepos^eln scherzendes Colorft Verliehen "hat. Dieses Metrum* /
zeichnet r sich dadurch*'aüs,' 1 däSs bhoi^aeiöiWe Sttöphdft nijt dactytj-
scheu *abwechsefii. ^Letztere werddfi’Hiebt, hri’refh-epischen Me-- J
trum,Kisainmengefzogen,sondern deiitliSdh^uSgespi^ödheh, Esist dabei. ^ .
zu bemericeny daSs eine Byliha hie gähzfieh atu^ 1 s8löh6n Versen b'e- ^
steht-*-*fwaS' für das Gehör sehr ehnüdehef Wäre'sondern sie
wechseln mit reih choi^eisöhen Versen 'hb. \Hikrjbtgi ein ßeispiet). ' '
Es ist bemerkensWerth, n dass am Sdilüss der ftyliny vom Dupäj '
und^Tschnrila/^wehn lhl* ichehzdndei 4 Tön vo^ Ücr tragischen’ Kata- f {
Strophe zürüek-tritt, die Dadtyfen' $ch\Wndeh : hrid 1 das Metrufn?un| ^
, reinen Choraeus wird. . , - t - f i
Bei ekligeil ,jSkasiteli #l Ähdfcfa Wir eihe hbsbnde r re Art des ^icty- -
lischen Metrutns, die- dariH besteht, dass der letzte iniss verlängert
wird dnd der,Vers nichthllt einem Däctyliis schllesst, sondern mit
einemvier^ oderfiinfsilbigen Pusse, mit getikdet der Stjmme [
auf dej: letzte» Silbe.- r 0ädhrdH geWindt dä^MetrbiH no.e^h piöjir kn
Leichtigheiti Deel^Smfd Stilöhb Vei^ Hur dariri^zulässi^,Veim si^ mit
gewöhnlichdn abwbchädhil 1 [Pdlgtetn &eii£ti?t.) 1 [ u )JlJ
Da» dritte Versfnkkss 1 , der Xnkpaest, zerchiiet sich ^dadurch äus^
dass die ganze Schwere des Verses auf dem letzten verSfusse ruht, N
in weldhim’Wih fwdl Bettfhüftgeh hört, ‘'bind f ^anZ ''schürfe' auf der/'
letzten Silbe;* ^die ändert’ auf der f dHtt- ‘oddr 'VieVtletileh ^llÜe; (
einem Skaditel^(WisBariohöW) Waren ziiwbilbir auf deft beiden letftenj ^
Silbe» sogar iWei Betömftlge^hihte^etnandefhörhkr, von denen* die
letztCilänger^hrte, Wödubdh dfer* Vei^ geWf^drtnaaSsen tespnders
schleppend und fefchwerfalli^ Wird! liaS anapabidsihe Vdrsmaass ent-
spricht demi, r Was -fieft* ItybrtikdWefte’ ^fbWlifchfe* 1 ' Gesängsweise
nennt, hndiwwd in'sehrWen^ert^lihya hgelroÄeh, hnä Zwai 4 ihäehen'/ 1
von W 61 ga^ f iMikulk lind KofyWkii. ^Ifi ^ dömsel^bert , Vbrsmaass wird , /
wahrscheinlich ecrieh die Byliha Von dbh jiigbhd des iljä Von Murom * *.
gesungen, doch Aereinfti^eSkäötöl,Sicher sre noöh kenht, Schtsche-'
golenok," gehört zu denen,' Welche an die Beöbafchfutig‘ des Vers-
maasses nicht ihehir gewöhnt Sind; wuS hür öinZelhe Versb erinnerten
bei ihm an den Anapaest. Die Byliny von Wolga und von Mikula
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334
Sseljanin gehören zur Zahl derjenigen, welche für das Volk am we¬
nigsten. Interesse bieten uBd sogar von denjenigen selten gesungen 1
werden, die sie noch kennen- Deshalb erscheint auch dies Vcss*
maass überall als mehr oder weniger zerstört im innem Bau des
Verses (Hier folgen zwei Beispiele ). /
Diese drei Versmaasse: das gewöhnliche trochaeische, da» trochae-
ische und das anapaestische schüessen, wie ich schon bemerkt habe,
unser ganzes Volksepos in sich; ich verstehe darunter den Cyclua
der Byliny, welche den, Hauptinhalt der epischen Sagen unseres
Nordens enthalten, die sogenannten „Kijewer und Nowgoroder“
Byliny, so wie die Rhapsodieen, die im Volke auch unter dem Naciea
' Byliny gehen und in denen, so zu sagen, namenlose Begebenheiten,
besungen werden, z. B. die von den Räuber-Brüdern, vom Kummer,
vom eifersüchtigen Manne u. s. w. Doch damit ist die Entwickelung
des gross-russischen Epos nicht abgeschlossen, und in den andern
seiner Erzeugnisse treten andere Metra auf. Ich will auf. diejenigen
Hinweisen, welche ich im Gouvernement Olonez verbreitet • ge¬
fundenhabe.
Ersten» besteht ein Typus, welcher mit dem zweiten der ange¬
führten Metra (dem Troch&eus mit dactylischem Schluss) überein¬
stimmt, von demselben sich jedoch dadurch unterscheidet, dass die
Verse aus einer kleinen Zahl von Füssen bestehen, dreien oder vieren
statt fünf, sechs oder sieben. In diesem Versmaasse werden ge¬
sungen die Bylina vom Scbtschelkan Dudentjewitsch und eine ge¬
wisse scherzhafte Bylina. vom Fürsten Romodanowskij und seinem
grossen Stiere. (Rolgtein Beispiel , welches der Matrenai MenSehi*
kowa nachgeschrieben ist.)
Zweitens giebt es Byliny, die augenscheinlich dem XVIL Jahr¬
hundert angehören, die in demselben Versmaass auftreten wie die
für Richard James zur Zeit der Pseudo-Deraetiien aufgezeichneten
Lieder, Es sind fünf- und sechsfüssige Trochaeen (die zuweilen^ unre¬
gelmässiger Weise, in einen Jambus oder Dactylus übergehen) mit
einem trochaeischeo, aber nicht dactylischen Schlüsse. Die in diesen»
Versmaasse abgefassten Gedichte sind schon nicht „Byliny" zu
nennen, eher kann man sie als historische Lieder bezeichnen. Sie
sind des heroischen C^haracters baar. Umkleidete aber der Singer des
XVII Jahrhunderts Begebenheiten mit dem Glanze des Wunder¬
baren, selbst wenn sie der Zeit nach ihm nahe standen, darin besang
er sie im epischen Versmaass der Byliny des Kijewer oder Nowgo-
' roder Cyclus, Vergleicht man die Byliny, in deinen als Held Nikita
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335
Romanowitsch mit allen Attributen eines epischen Bogatyrs auftritt,
mit ebn historischen Liedern, die für Richard James im Jahre 1619
aufge:eichnet wurden otfer mit der hier mitgetheilten Bylina vom
Zaren Alexej Michailowitsch, so überzeugt man sich, dass die ; Ver**
schiecenheit im Metrum mit der Verschiedenheit im Tone und so zu r
sager der Beleuchtung der poetischen Erzählung zusammen fällt:
riocpe^Ä Jib 6mjio MOCKOBCKaro uapcTBa
Cpe^H ßbiJio poccificKa rocy^apcTBa,
Kaio> y cß'hTa y ApxaHrejia MiixafLia,
y HßaHa y Bejmicaro bt> coöopi»,
3a3BOHHJIH BO ÖOJIblHOÖ BO KÖJIOKOJIT»,
BcHX 1> KHH3efl — ÖOHp-b Kh o6'fc£H , fe C03bIBaJIH,
TaMT> cjiyÄHJiH cBüTbiH MO^e6eHT>.
BbixoAHJi-b Haina Ha^exca rocy^apb — napb
AjieKcfcfi cy^apb MHxaft;ioBiiHT> mqckobckoä,
Ha Bcyfc CTopoHw oht> hoiuiohh^cä h t. ' ;
d. f.:
Es wir in der Mitte des Moskowischen Zarthums,
Mitten war es im Russischen Reiche,
Als ii der Frühe in (der Kathedrale) des Erzengels Michael,
In der Kathedrale des Iwan Welikij,
Man iie grosse Glocke anschlug.
Alle Fürsten uhd Bojaren rief man zur Messe,
Dort wurde ein heiliges Gebet gehalten.
Tritt heraus unsere Hoffnung, (unser) Herr der Zar,
Der Herr Michailowitsch von Moskau, ‘
Nach allin Seiten verbeugte er sich, u. s. w.
' (nach Iwan Kassjanow).
In demselben Metrum ist auch die sehr verbreitete Bylina von
den Vögeln und Thieren abgefasst. (Folgt der Anfang derselben nach
Iwan Feponow).
Endlich habe ich noch die dritte Gattung von Byliny zu erwähnen,
die nran ebefffalls in unserm Norden hört, obgleich sie dorthin zu¬
fällig verschleppt sind, — der Wolga- oder Kasaken-Byliny. Man
muss sie an Ort und Stelle hören, um über ihre Anlage und ihr
Metrum zu urtheilen. So viel ich bemerken konnte, bilden sie den
Uebergang von den epischen zu den lyrischen Liedern. Es sind die
einzigen Lieder, die mit einer Cäsur in der Mitte des Verses so wie
mit Wiederholung der Silben und^Wurter gesungen werden, z. B.:
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336
Kaia» cönpa^HCb Ka3aien II — Ha Kpyrb 6epe»coia»,
‘ Axt> äohbckh rpeöeHbCKH II — aanopoMccKin,
3anop»ccKH Ka3aKn || — h Bce 6biJin hhu,kui.
Ax*b aTaMam> öbun» y äoh II — cKnx*b y KaSaicoBi»
Oft H3i> raxaro JXouy EpMaxi» || — 6bijn> TiiMoeeeBHHi»,
A ecay;rb 6bun> y äoh II — ckhxt» y Ka3aK0B*b
Ax*b CO ÄBHHM OcTa || - - <freft JlaBpeHTbeiiHHT,.
Kaicb ca^HJincb Ka3aKH || — Ha ^erna erpyxcKH,
Aft Ha JierKH cTpyxcKH || —- cfcjiH Ha mcjikh näß03KH
Eaxi» rpÄHyjiH pa3MaxHy || — jm bhh 3T> no Bojirn p'feKH h. t. j.
d. i.
Als sich versammelten die Kasaken auf dem steilen Ufer,
Die donischen, grebneschen, saporosh’schen,
Die saporosh’schen Kasaken, und waren auch vom Jaik.
Ataman war bei den donischen Kasaken
Vom stillen Don Jermak Timofejewitsch,
Und Jessaül war bei den donischen Kasaken
Von der Dwina Ostofei Lawrentijewitsch.
Als sich setzten die Kasaken auf die leichten Strusen,
Auf die leichten Strusen, setzten sich auf die kleinen Fahrzeuge,
Schossen sie den Fluss Wolga hinab u. s. w.
(Der Verfasser führt noch zwei Beispiele an).
In der grossen Masse der Byliny des Gouvernements Olone:,
welche theils in trochaeischem Vermaass mit dactylischem Schluss,
theils in trochaeischem, mit Dactylen gemischten Vermaass
abgefasst sind, bilden übrigens alle diese letzt angeführten Gat¬
tungen von Liedern eine seltene Ausnahme. Indem ich die By¬
liny anhörte und den „Skasiteli“ nachschrieb, gewann ich # dij
volle Ueberzeugung, dass die auf Betonung gegründete Vers-
bildung in unsem Gedichten nicht eine Erfindung Lomonossow’*,
sondern des russischen Volkes selbst, sein angestammtes Gut ist.
Wenn auch Lomonossow unter dem Einflüsse deutscher Vorbilder
diese Versbildung auf unsere Kunstpoesie angewandt hat, so ist
damit noch nicht gesagt/ dass er es allein aus Nachahmung that
Wie er selbst schreibt, liess er sich von dem Grundsätze leiten, „dass
man russische Verse nach der angestammten Eigenthümlichkeit un¬
serer Sprache abfassen müsse/ 4 und wenn Lomonossow von Hause
aus im Verse die angestammte Eigenthümlichkeit unserer Sprache
erkannte, so ist es nicht unmöglich,. dass in seinem Ohre noch die
Volks-Byliny, die er wohl gehört haben wird, nachklangcn. Noch
1
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jetzt weiss man am Wyg-Osero sich z$l erinnern,i dass die Byliny
dorthin vom Ufer des Wcisscn Meeres gekommen sind. Auch darf
nicht ausser Acht gelassen werden, dass Lomonossow in seiner
„Versificatio* 4 den so von ihm genannten „dreilautigen“ Rhythmen,
d. h. dem Dactylus einen Ehrenplatz anweist' und den Dactylus am
Ende des Verses konnte er freilich nicht in seinen deutschen Vor¬
bildern finden.
Möge es der Leser entschuldigen, dass ich meiner Absicht: nur
im Kreise factischer Beobachtungen, ohne AbschweifeA ins Gebiet
der persönlichen Vermuthungen und Deutungen, mich zu bewegen,
nicht treu geblieben bin. Bei uns hat man leider mehr mit dem
Studium des Volks-Epos, als mit dem Sammeln seiner Ueberreste
sich beschäftigt. Ich hofle, man wird mir nicht denselben Vorwurf
machen, wenn ich am Schlüsse meines langen Aufsatzes auch mei¬
nerseits eine kleine Hypothese über den Ursprung eines der Boga-
tyri unserer Byliny, nämlich Swjatogors vorbringe. JEin Jeder wird
freilich herausfühlen, dass dieser Name ein künstlicher ist, der auf
Grund der Sage von dem Leben des Swjatogor in gewissen heiligen
Bergen — davon wird in allen Byliny, die von ihm handeln, ge j
sungen—gebildet ist, und dass hinter diesem Namen etwas Anderes
sich birgt. Einer der besten Skasiteli, der blonde Iwan Fenopow
sang in der Bylina von dem Ueberfalle des Baty auf Kijew:
A no rp'fexy jih to Tor^a aa yuHHbijioce,
A ft ööraTbipefl bo Kieß'fe He cjiymuioce :
v CenmonojiKs GoraTbipb Ha CBHTbiXT> to ropaxi>,,
A ft MOJIOÄOft ÄaßpbtHJI BO HHCTOM1» IIOJIH,
A Ajiemtca IIonoBmrb Bb öoroMOJibHoft cropoHbi,
A CaMCOHT» A 2 L Ma bH y chhh y Mopa.
Zum Unglück geschah es damals,
Dass in Kijew keine Bogatyri anwesend:
Swjtapolk der Bogatyr (war) auf den Heiligen Bergen,
Und der junge Dobrynja im freien Felde,
. Und Aleschka Popowitsch im Lande der Wallfahrer,
Und Ssamson und IIja am blauen Meere.
An dieser Stelle singen andere Skasiteli „CBATorop-b öoraTbipb
Ha CßÄTbiXT> Ha ropax*b, u d. i. „Swjatogor der Bogatyr auf den Hei¬
ligen Bergen Anfangs glaubte ich mich verhört zu haben oder, dass
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' 338 '
Fenopow sich geirrt, und Hess ihn daher wohl fünf Mal dieselben
Verse wiederholen; er blieb aber bei seinem ,,Swjatopolk der Bo-
* gatyr auf den Heiligen Bergen,“ und versicherte mich dabei, dass
so gesungen werde. Zuerst schie’n mir dieser Name Swjatopolk
sonderbar, jetzt glaube ich aj^er, dass er eine Bedeutung hat. Man
vergesse nicht, dass Swjatogor der einzige den russischen befreun¬
dete Bogatyr ist, jedoch nicht russischer Abstammung, ein Boga-
tyr, welcher „nicht in’s Heilige Russland kam,“ zu dem hingegen
die russischen Bogatyri fahren, um iKm, als dem ältesten und stärk¬
sten, ihre Ehrfurcht zu bezeugen; ferner ist nicht zu vergessen, dass
er in den Bergen wohnt, dass er geheimnissvoll verschwindet. Alle
diese Züge erhalten nur dann einen Sinn, wenn man sie anwendet
auf Swjatopolk von Gross-Mähren, diesen ältesten Repräsentanten
slawischer Macht, diesen legendenhaften Hetos, der bereits bei
Kosma von Prag in den Bergen verschwindet und dort ein geheim¬
nisvolles Ende findet
Möge der Leser über die Wahrscheinlichkeit dieser Hypothese
selbst ürtheilen. Sollte sie sich bestätigen, dann erhält die Per¬
sönlichkeit des Swjatogor eine Bedeutung, als Mittelglied zwi¬
schen unserem Volks-Epos und dem Alterthum anderer slawischer
Völker.
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Die polytechnische Ausstellung in Moskau
im Jahre 1872.
ni.
Die Productiv* und Industrie-Verh<niase Turkestans/
Die Bedeutung Russlands als asiatische Macht datirt nicht aus
neuer Zeit, obgleich seine neuesten Besitzergreifungen in Mittel¬
asien die Cufturmtssion Russlands in der Richtung nach Osten fh
ein neues Licht gestellt, und selbst wohl auch Diejenigen in unzwei¬
deutiger Weise von dieser Mission überzeugt haben, welche an der
Erfüllung des Berufes Russlands, in Asien ajs der Träger der euro¬
päischen Civilisation aufzutreten, zweifelten. Die jahrelangen
Kämpfe'Russlands im Kaukasus boten in dieser Beziehung weit
weniger Sichere Anhaltspunkte, als der kurte Krieg, welcher das
unter dem Gesamhttbegriff TurkeStan zusammengefasste Länder¬
gebiet der russischen Botmässigkeit unterwarf. Diese bereits zu
Centralasieh gehörenden, oder in gewisser Beziehung als Schlüssel
zu demselben anzusehenden Länder, boten für Russland wenig Ver¬
lockendes, und letzteres musste sich sagen, dass es mit dem ersten
Schritte, den es in diese Gebiete that, sich eine Culturaufgabe auf¬
bürde, deren Lösung durch Menschenalter hindurch seine Kräfte in
Anspruch nehmen und ihm eine ganze Reihe noch unabsehbarer
Opfer der militärischen Thätigkelt auferlcgen werde.
TurkeStan hat für Russland eine ganz andere Bedeutung als
Sibirien oder der Kaukasus. Diese beiden letztgenannten Gebiete
bilden ein jedes ein für sich abgeschlossenes Ganzes, über dessen
Grenzen hinaus Russland keine weitere Aufgabe zu lösen hat; sie
sind bereits Zu integrirenden Theilen des Gesammtreiches geworden,
mit einer mehr individuellen, gleich ihren Grenzen abgeschlossenen
Bedeutung. Russland war sowohl durch den Besitz Sibiriens als
durch den Kaukasiens zu einer asiatischen Macht geworden und doch
stempelte dieser Besitz Russland keineswegs zum Vollstrecker einer
asiatischen Mission, welche ihm heute doch selbst seine; politischen
Gegner zuerketmen. Der Schwerpunkt Russlands in Bezug auf
diese Mission liegt daher weder im Norden noch im Süden des be¬
nachbarten Welttheiles, sondern lediglich im Centrum, und deshalb
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34 °
war cs auch eine politische Nothwendigkeit für Russland, wollte es
die ihm von der Vorsehung ^jjjpwip,s^ne ^ssjpjnie^^lW\»,jn.^iefem
Centrum 'A ! Sienk* Fu. 4 V ztf fässenj von dem heutigen Turkestan Be¬
sitz zu ergreifen. Turkestan.» WlfdaäüfflAnge* Zeit für Russland eine
Etappe bilden, von welcher aus es njft Erfolg seine Mission im Osten
ausführen und die europäische Civjlisation in,die übrigemLänder
Centräfe^rerii'tragen kihfi; • ' ^ lij
Russland konnte aus der Einverleibung Turkestans auf keine
u.
materiellen Erfolge rephq^n. r Es ist sfch vpp ^Japsp aus diese$iUm-i
stahdes freWlisst gewesen' und hat sich f jn cJieserjiBe^ielfifng^inei;; )M
Täuschütig r hihgegetieir. Was gönnte, auch eip J^eiclt von der Aus¬
dehnung Rüsslaiids, das Qlinedem schon .in^erhajb feiner. Qrpnzen -
Ländergebiete zahlt, deren schwaphe Bevölkerung, kpin ^eqi^v^leni, t ,
für die ftfiirierhiii bedeutenden V^rwaltupg^ost^n J^ii^t^, ßfa iputßr, A
riellö’Erfölge Vori’ der Erwerbung eines Landes er^fU^R, j
grossen *fheil nocl} Von ^omaden-Sjtämqien bpwp^nJ:, ^ichts^i^t»; ; A
was im Vefhältriiss zu. denÖpfern steht, dje.^ei^ Bphuuptung und ^
Cultifiruhg Rü’ssländ\i6thwendigauferiegpn- müsspR^, ps,der
mateHdleSe^ihngeweseh/äerRussiand ^u^piny^rLeiJpfungT.ijirk^tans
getriebeh llätte. er wäre niqht werth, ein^fJVIa^. pu !t o,pferfl, j: ^neni
Rubel fcü verschwenden. Als ErpberungsojDjej:^,^ u<
Russland •fast werthlos/‘als Mittel zym Zy/cc^, und y lifchtj,. u ,j
politischen Sondern" auch zum Civilisatioi|szvvgcls| es,
Russiküd V'bn det äl^ergfosstenJBedeutqng^ ^eipe; jp^^qrg^eit. md
fung"ist didVö^edingung afjer künftigen f £rfo}g£ f ,y flrbgdMVp. r i /.
gung ; äer‘L6sdiig aer Mission Russlands • ps^^., /;j ^j^i*a i chtqt' lj < >
man die Eroberun g Tü^ kes täns aus .diesem ^QsicJiJ^spqn^t^ so , ev r " L
scheint sfö'hiCkt nur 1 als^eine, J politisch NQ^Ja^^ig^ci^, fph;i hri
bereit^' 1 öbdrf^hdcutete^ /sondern, sie ,hat pvifh {i gl<pijcjizeitig M pji)p>! t ;,j
grosse*''^vIHkätdriScne ‘tiedpu^ung ? ^sie i^t? yonj^glpichejm^^i^F^ 8 ^ "i>
für Eürdjiä Wie für ^ussländ selbst, ^deijn ( ^hd.^i^de^ 7 ^ 1 % \, .
Turk£stäti zürii Vd'rbmdungsgliede .der..beiden, bona<^^ ♦
theile* Wiächeii,‘ und J zwar in einer. kichtung, in Wjejplicr sjch '
die GiVilKätiön* keinen \$eg Bahnen ; konnte^;ir^ .dpf,Rictjtqi^g fl Y9n$
Centi'ütti'Eürbpas'iu’!^ Zentrum^Xsiens^^.j ^
RüSslähd arbeitet'nicht für Tmorgen^ ,-auclv njcjijl; Ju^ieüi- j,
Decihniehj es 5 hat: J eine Arbeij: jür Menschenal^pr, ja i( vjeUekht für .
Jahrhrihdertc'begonnen, 4 Asien, von f den| die^yltjq^ ^psgjng^fist^
im Läufe^diV f )ährtäusende der Uncultur verfallen, allein lg99 J£r<pis-M u ,>*
lauf derDihgk'übt 11 seine Gewalt, die Cultur wird nach Asien zu-
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rückgetragen werden, und^ Russland; ist das, Werkzeug* w^lches^ 4fe se
Züfiildktragujig^der‘iÜjaltür ^us^ufuhrpn h^t.j , , 7 , ,, ,, , ,, n .,;,
Ö^leich grp^s an Aps^^nyn&fupd; rqichirait Hülfsquelienl aller
Äj^t ausgpstattet,; ^llei^ ttptz» sebiqj*) ßp t AIiUionen Bewohnte «huri so
/ schwach bevöjkert,.ps^e^en n^h 1 4er AusbeutungeindsTheiles
seines Gfund^u^ B 0 ^? 18 if e W e rW^ r ^ s Ph^ftUbbe Aufgabe erblicken
Jppnnte, h .\\jar n .Russlapd a}s I .;CpJtw'staat%Jnnteriden^andern Cültür-
s^aaten Euro^as^rd^qn^. Hjpj^efland,; ,-es (bildete^^zurückgeblieben.
t Allein ^ seine ,^ns^rpugijngei> , ^uJf k yolks^rtbsohaftlidieitr Gebiete,
. \yel^h^ se^ j^etpr 4$n_ deP/hwtigöivTagivoii alten
„ Regierungen fartgesefc*-/ wwdtel, littugfemiHre
Ijrüphte, ^enn ^^en f fti*pjvj fipäforeiften, t zu:spät; um <den
ändern Cultur^taaten ^ur^erpa^ p^ph^nkon)iBen #t hiatdr deneh r Russ¬
land zurückgeb^etjp^ jst, pbnp, t d^S? ^ich,Ihm die Aussicht Eröffnet,
aijcli* iiir jilie näph^p \ ;avtf,gan?j gleiches > wirtbscWaftliches
Niveau mitrihnen zu^trp^. jßenn^ena ^ehfRiissländ ihdute noch
so epergi^che ^n^t^engi^gen .i^adät, auch dtetuhrigetf Staaten
stehen f nipljitVjjtilliflif) gleichen* Eifer; woxto&rts* ^\ brm
v iEfie> naturgejba8selF61gd;jdieser; Vethältfri^^e ist, 1 iiäs^ nüf Rü^s-
(lahda NaturproduCte/idie' ihienin tetehereri^ülte und iii grösseren
iQuaritifcäten gewonnfert ^wurden, wie ähdet^wi/ 1 tihd Wfelblie Russland
zurKornkaüiradtEurfopisiniachtenj'ihr^tiWb^’hber «fte europäischen
(Grenzen idesmoiidisehen Reichet fanden;' Alle¥n r auch di&ehi Äbsätz-
(Wege,droht dmxth die knrriermehnwaähfeehd’e 'Goncurrenz Amerikas
Gefahr»! Handelt r man i idcfeh ichon'jetzt äüf den' ^est-dktföpaischcn
Getreidemärkten amerikanischen Weizen neb£n' russischen,
sendet doch'böireitB Atrierika seine .Wollen und Seine Rbhleder nach
England . undbQeutscHlaitd/^ welche 1 J fräheV * vdto^sv^ndSe ^UsSische
Wolle» jconsußiirten^ Sendet -^ 1 doch ; seineh Tilg nibht hur f bis
nahe an',dien Greifen Russlands, äöildetn -tfeuirdln ^ 1 sfelb^t bis
Warschau^v^älitenSd ndes erst er eti^älgfexfpöft sich mehr’ate ühi die
Hälfte spinös .ehemaligen^Talgexportes ^€^110^1^.'' ^t)ie Production
Amerikas,;.denk alle Jahre grosser Mässeri neuer Ctilturicräfte 2 ü-
strötfica, jimsai sich r daherrinijgieidheth'Grade von Jähr W Jahr ver^
rnehrch, i i und; iri ; j gleichem .Verhältnisse rAusS 'sich 1 auch ' Üte : Geföhi*
steigern*?' welche* die Sdhierifeanisöhe^ohcürrtiiz Russland* id WlrtK-
schaftlifcher Beriebung bringt, u <*'•!. v '* : ‘ f ‘ 1 ^ } ' '
t ’ f ' * • • ‘ j « ,I k { |f | i, n i ; J : ? ( 1 1 i; f t .1 ‘'' ''' f < 0. l < y * * ' ‘ • ' • J
Irizulftchert ist Rieses letztere auch nicht, s^ülgestandpn.; \Venu
ilidh rtür tnit'Htltfe und\untfer dem Einflüsse des Schuta?o)|qs, h,£(t
. Litu . /ui». -1-tu J i . "T- . , . W ' - ^
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ogle
342
sich seine Industrie entwickelt und ist zu einer bedeutenden Pro-
ductionsquelle geworden. Namentlich im letzten Decennium hat
sich die industrielle Production Russlands m ganz ausserordentlichem
Verhältnisse gesteigert, und dieses Land entwickelt sich rasch zu
einetn Industriestaate, wenn man auch seiner Industrie den Vorwurf
nicht ersparen kann, dass sie in mehr als einer Beziehung vom
richtigen Wege abgelenkt ist ünd in Folge dessen den gesunden
und urwüchsigen Boden verlassen hat, auf welchem sie gedeihen
und wuchern konnte. Ja, gelänge es ihr noch heiite, ehe es zu spät
wird, diesen Boden wieder zu gewinnen — die russische Industrie
könnte für Europa von grosser Bedeutung werden und theilnehmen
an jener internationalen Arbeitstheilung, welche sich durch die
Macht der Verhältnisse und durch die mehr allgemein gewor¬
dene Befolgung einer klugen und auf einer vorurtheilsfreien-Würdi¬
gung der wirtschaftlichen Kräfte basirten Handelspolitik zwischen
den Culturvölkem der Welt änbahnt. Die russische Industrie, so
grosse Verhältnisse sie auch angenommen haben mag, fühlt heute,
und zwar zu ihrem eigenen Schaden, noch nicht das Bedürfnis, sich
an einer solchen Arbeitstheilung als gleich * berechtigter Fador zu
betheiligen; sie denkt noch nicht daran, für den Export zu arbeiten,
. obgleich ihr in vielen Branchen die Fähigkeit hierzu nicht gebricht.
Ihr genügt es noch vollkommen, das inländische Absatzgebiet aus¬
zubeuten, und der ihr gewährte Schutzzoll bestärkt sie in diesem
Bestreben, indem er die inländischen Consumenten zwingt, ihren
Bedarf an Fabricaten vorzugsweise durch die inländische Industrie
decken zu lassen. « :
Allein die russische Regierung ist fentsichtiger, als diese letztere.
Sie ist es sich bewusst, dass die Aufrechterhaltung des gegenwärti-
• gen Schutzzolles nur noch eine Frage der Zeit, vielleicht einer nur
kurzen Zeit sein kann. Die russische Regierung weiss aber auch,
dass ihre Industrie Schaden leiden würde, webn das Schutzzollsystem
einer liberalen Handelspolitik weichen muss, bevor es gelingt, an die
' Stelle des innern Marktes einen auswärtigen zu setzen, dem die
russischen Fabricate willkommen sind, und zu welchem sich Rus&»
land in einer günstigeren Lage befindet, als die übrigen Industrie¬
staaten Europas. Einen solchen Markt bildet Centralasien. Der
•' russische Handel hat schon seit Jahren einen Absatzweg dahin ge¬
sucht, derselbe wurde ihm aber versperrt, nicht bjos durch den Um.
stand, dass er durch Unwirthbare Gegenden fuhrt, sondern auch
dadurch, dass die russischen Caravanen auf Schritt und Tritt räube-
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rischen Anfällen muhammedanißcherHordenundräubcrischprKirgisen-
stämme ausgesetzt waren, dass die Handelsverträge, welche mit einzel¬
nen der kleineren asiatischen Sultane und Chans abgeschlossen wor¬
den waren, von diesen letzteren nicht respecjtirt wurden, und jnFolge
dessen die russischen Kaufleute fortwährenden Verlusten ausgesetzt
waren, so dass der russische Handel nach Centralasien zu pinpm
Dinge der Unmöglichkeit wurde. Erschwert wurden diese Ver¬
hältnisse noch durch die fortwährenden Fehden, in welchem die
asiatischen Sultane und Völker zu einander standen, und es blieb
Russland kaum eine andere Wahl übrig, als sich entweder selbst
zum Herrn dieser gefahrbringenden und treulosen Völker zu machen
oder seine asiatischen Handelsbestrebungen ganz fallen au lassen.
Da Russland dieses letztere, ohne seine ganze wirtschaftliche Zu¬
kunft und seine Culturmission nach Osten zu beeinträchtige^, preis¬
zugeben auch nicht konnte, ja da es auch nicht Willens, war, seiner
Mission in Centralasien untreu zu werden, so that es das* ersjtere, und
machte sich notgedrungen zum Herrn von Turkestan.
Ich sage notgedrungen* weil es Russland Ueberwindung genug
gekostet, haben mag, sein Ländergebiet nach einPr Richtung hin
auszudehnen, nach welcher zu e9 ohnedem schon Ländergebiete ge¬
nug besitzt, welche einer befruchtenden Cultur harren, ohne dass
sich Russland in der Lage befindet, sie einer solchen zuzufuhren.
Hätte es in der Macht Russlands gelegen, diese seine eignen Gebiete
zu bevölkern und zu cultiviren, so würde es in der Richtung nach
Asien zu einen festen Halt gewonnen haben, und vielleicht noch
von der Einverleibung Turkestans abgestanden sein. Dies war aber
schon deshalb nicht möglich, weil die den Culturbestrebungen Russ¬
lands feindlichen Kirgisenstämme stets Schutz in den benachbarten
asiatischen Chanaten fanden. Erst durch eine vollständige Unter¬
jochung dieser letzteren war es Russland möglich, seinem Handel den
ihm unerlässlichen Schutz angedeihen zu lassen und seine Cultur¬
mission im Osten wieder aufzunehmen. Turkestan bleibt eben für
Russland, wie wir oben sagten, die erste grosse Etappe 'nach dem
Herzen Asiens, und diese muss es in fester Hand halten, soll es ihm
gelingen, durch den russisch-asiatischen Handel die europäische
Cultur und Civilisation nach Asien zif tragen.
Die civilisatorische Mission Russlands hat in Turkestan bereits
schon ihren ersten Erfolg aufzuweisen. Vor wenig Jahren noch
durch innere Fehden zerrissen und durch fortwährende feindliche
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Einfälle ihres Eigenthums beraubt, konnten sich die dortigen Völker
nidht den Arbeiten des Friedens hingeben,- so lange nicht die
Macht Russlands sie vor fremden Angriffen schützte, so lange nicht
durch eine geregelte und unsern europäischen Begriffen nahe¬
stehende Administration ein Zustand von Gesetzlichkeit und innerer
Rühe geschaffen wurde. Erst als letzteres gelungen war, gewinnt
auch Turkestan nicht nur in politischer, sondern auch in wirt¬
schaftlicher Beziehung eine grössere Bedeutung, und nimmt dieses ^
Land ein tim so grösseres Interesse in Anspruch, als die Arbeit,
welche Russland dort geleistet hat und noch leisten muss, nicht
blos eitle Arbeit eignen Interesses, sondern auch gleichzeitig eine
solche der Civilisation und des europäischen Einflusses auf Asien ist.
Eä wird 1 die nächste Aufgabe Russlands in Centralasien sein, ge¬
setzliche und namentlich stabile Zustände dort einzubürgern und
durch Seinen Einfluss aufrecht zu erhalten. Dieser letztere muss
sich auch nothwendig darauf wenden, die jetzigen Nomadenvölker
zu bewegen, nach und nach feste Wohnsitze anzunehmen. Dies '
dürfte das sicherste, Mittel sein, um jene Stämme für eine mehr
europäische Civilisatiojv empfänglich 2u machen und ihre Bedürf¬
nisse zu steigern. Ein fester Wohnsitz wird ihre Wohlstandsver¬
hältnisse bessern, und im gleichen Grade wie dies geschieht, werden
sich auch ihre Bedürfnisse vermehren, und deren Befriedigung von
Russland erwarten. Dadurch bildet sich eine gesunde Basis für die
russischen Handelsbestrebungen, von welchen aus man dann mit der
Ausdehnung des Handels weiter ostwärts schreiten kann. Hand in
Hand hiermit muss freilich noch die 'Eröffnung neuer Handels¬
strassen nach Turkestan gehen, da die jetzigen dem russischen Handel
in keiner Weise genügen können. Ihnen wird, in nicht zu ferner
Zeit, selbst der Bau einer Eisenbahn nachfolgen müssen, welche
wesentlich dazu beitragen wird, die* Stellung Russlands in Central¬
asien schnell zu befestigen. * Es erhebet! sich in der russischen
Presse bereits schon heute Stimmen, welche für den Ausbau dieser
Eisenbahn plaidiren. Man wirft ihnen ein, dass Russland in Bezug
auf den Eisenbahnbau noch näher liegende Aufgaben zu lösen
habe. Dies ist, nicht zu bestreiten, so viel aber steht fest, dass die
Eröffnung einer Eisenbahn ^ath Taschkent die Culturarbeit Russ¬
lands um Decennien abkürzen würde, und dass die Opfer, welche
der Bau einer solchen Eisenbahn auf Jahre, un<J noch auf Jahre nach
deren Inbetriebsetzung hinaus, verursacht, in anderer Weise und
zwar von Osten her reichlich aufgewogen werden dürften.
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345
Durch den im i. und 2.Hefte der „Russischen Revue“ abgedruckten
Artikel überTurkestan haben dieLeserMittheilungen über diegeogra-
phischen, ethnographischen, statistischen und selbst theilweise histo¬
rischen Verhältnisse dieses Ländergebietes aus sachkundigerFederund
von einem Manne erhalten, der Turkestan aus eigener Anschauung
kennt. Wenn der Herr Verfasser jener Artikel die Productions- und
Industrieverhältnisse Turkestans auch flüchtig berührt hat, so lag es
doch nicht innerhalb der Aufgabe, die er sich gestellt hatte, detail-
lirterauf diese Verhältnisse einzugehen. Auch ich würde mich schwer¬
lich an diese Aufgabe wagen, böten nicht die letzte St. Petersburger
Manufacturausstellung vom Jahre 1870 und die diesjährige Moskauer
polytechnische Ausstellung * einige Anhaltspunkte, welche es ge¬
statteten, sich ein Urtheil über die Natur- und Industrieproducte des
in Rede stehenden asiatischen Ländergebietes zu bilden. Auch der
Catalog der letztgenannten Ausstellung giebt, wenn auch in frag¬
mentarischer Kürze, einige schätzenswerthe Andeutungen über dor¬
tige Culturverhältnisse, die um so willkommener sind, je“ sparsamer
die Quellen fliessen, welche uns Nachrichten über die wirtschaft¬
lichen, namentlich productiven Verhältnisse Turkestans bringen.
Man kann nicht sagen, dass letzteres in productiver Beziehung ge¬
radezu arm sei, allein es ist auch nichts weniger als reich, und es
werden noch viele Jahre vergehen müssen, bevor es gelingen wird,
die Productionsverhältnisse jenes Landes zu heben und zu bessern.
Auf der andern Seite ist aber auch nicht zu verkennen, dass die
Bewohner Turkestans, wahrscheinlich durch die harten Lehren bit¬
terer Noth dazu veranlasst, auf den Betrieb namentlich der Land¬
wirtschaft weit mehr Fleiss verwenden, als man dies bei diesen,
theilweise noch nomadisirenden, asiatischen Völkerschaften erwarteji
kann. Missernten sind in jenen Gegenden keine Seltenheiten; bald
wird der eine, bald der andere Gebietsteil davon betroffen, und die
Tolge davon ist eine beinahe unglaubliche Theuerung der Lebens^
bedürfnisse. Characteristisch in dieser Beziehung sind die Mittei¬
lungen, welche in allerneuesterZeit die „Turkestansche Zeitung“ über
den Erfolg der Caravane des Kaufmanns -Kusnezow, die von Tasch¬
kent aus die Dungancn-Stadt Manas besucht hatte, brachte. Zur
Zeit der Anwesenheit der Caravane herrschte in jener Stadt eine
solche Theuerung, dass ein Manas’sches Cho Weizen (circa 40 Pfund
Zollgewicht, 1 Pud 12 Pfd. russisch) mit 4 Rbl., ein Schaf mit 25 Rbl.
bezahlt wurden. Die Stadt Manas liegt nur 350 Werst*vom russischen
Turkestan entfernt. Unter solchen Verhältnissen, von welchen zeit-
23
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weise auch das russische Gebiet heimgesucht wird, haben die noma-
disirenden wie die ansässigen Bewohner jener Gregenden die vollste
Veranlassung, alle ihnen zu Gebote stehenden Mittel zu ergreifen,
um Missernten, die grösstentheils in Folge zu grosser Trockenheit
entstehen, vorzubeugen. Wir sehen daher auch, dass man in vielen
Gebieten zu Canalisirungs- und Bewässerungsbauten seine Zuflucht
genommen hat, und dass die Bewässerung der Felder in der turke-
stanschen Landwirtschaft eine hervorragende Rolle spielt; durch
dieses Mittel wird es den dortigen Landwirten möglich, nicht nur
die Ungunst des Klimas zu besiegen, sondern auch die landwirt¬
schaftlichen Productionsverhältnisse zu erweitern und eine gewisse
Vielseitigkeit in dieselben hineinzubringen. In der That begegneten
wir auch auf den beiden genannten Ausstellungen einer ziemlich
reichen Auswahllandwirtschaftlicher Producte. Unter den Getreide¬
arten werden vorzugsweise Weizen und Wintergerste cultivirt, dann
Hirse, Reis, Kukuruz (Mais), Bohnen und Sorgo. Die zur Ausstellung
gebrachten Exemplare stammten aus dem Gebiete der Sieben Flüsse,
(Ssemiretschenskisches Gebiet) und des Syr-Darja. Unter den Futter¬
pflanzen dominirt die Luzerne (Medicago Sativa), unter den Oelge-
wächsen: Sesam, Saflor, Lein, Hanf, Mohn und die Sonnenblumen;
als Handels- und Fabrikspflanzen sind von Bedeutung: Baumwolle,
Tabak und Krapp. Ausserdem werden sowohl auf denFeldem, wie in
den Gärten Zuckermelonen, Arbusen (Wassermelonen), verschiedene
Arten Kürbisse, Zwiebeln, Möhren, rothe und andere Rüben, Rettige,
Gurken, rother Pfeffer etc. mit grossem Erfolge cultivirt. — Von
Gerste baut man die in Europa ziemlich seltene und den Einflüssen
unseres Klimas schwer widerstehende Wintergerste, und da das
^Vinterklima in Turkestan schwerlich günstiger sein dürfte, als das
europäische und die dort cultivirte Gerste dennoch den Einflüssen
dieses Klimas widersteht, so dürfte es jedenfalls angezeigt sein,
Anbau versuche mit turkestanscher Wintergerste in Europa zu machen.
Ob neben Gerste auch Hafer cultivirt wird, darauf lässt sich von der
Ausstellung aus nicht schliessen, da weder der Ausstellungscataolg
dieser Culturpflanze erwähnt, noch solche Exemplare ausgestellt
waren. Sehr beachtenswerth als Culturpflanzen sind,der Reis, der
Tabak und die Baumwolle. Reis wird in der Umgebung von Tasch¬
kent, Chodschent, Wernoje, Dizak und Kurama cultivirt, und gehören
die genannten Gegenden überhaupt zu denjenigen, in welchen die
Landwirtschaft systematischer und mit grösserem Fleisse betrieben
wird. Der Tabaksbau dagegen concentrirt sich namentlich in der
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Umgegend von Ssamarkand, in welcher ein eigentümlicher Tabak,
der auch den Namen ssamarkandscher Tabak führt, cultivirt ufird.
Ausserdem baut man Tabak in den Kreisen Wemöje, Chodschent
und Taschkent. Hier cultivirt man türkischen und albanesischen Ta¬
bak, so wie die unter dem Namen Djubek bekannte Sorte. Auch mit
amerikanischem Tabak, namentlich mit Mariland, hat man gelungene
Ailbauversuche gemacht, und es war solcher Tabak bereits schon
auf die St. Petersburger Ausstellung geschickt worden. Vielleicht
dürfte, was den Tabaksbau anbelangt, das Turkestansche Gebiet
mit der Zeit, namentlich dann, wenn sich stabile Culturverhältnisse
daselbst äusbilden, von Bedeutung werden.
Weit bedeutungsvoller aber noch als die Tabaks-, ist die Baum-
wollencultur, welche nicht nur schon weit grössere Dimensionen
angenommen hat, als die erstere, sondern deren Product auch be¬
reits von der Industrie Russlands verwendet wird. Die Kreise, in
welchen vorzugsweise die Baumwollencultur von den dort einhei¬
mischen Landwirthen betrieben wird, sind die von Dizak, Buchara,
Ssamarkand, Chodschent, Taschkent, Kopal, Kurama und Tokmak.
Ueber das Productionsverhältniss von Baumwolle selbst und die
Ausdehnung ihrer Cultur entnehme ich einem Artikel des „Russi¬
schen Invaliden“ nachstehende Daten, welche nur bestätigen, dass
die dortige Baumwollencultur keineswegs zu unterschätzen ist. Als
nördliche Grenze der Baumwollenzone in Turkestan wird gewöhnlich
das Thal des Flusses Arys angenommen, doch auch in der Gegend um
Tschemkent herum wird ziemlich viel Baumwolle gebaut, die imOcto-
ber zurReife kommt. In der Umgegend Taschkents sind schon grosse
Strecken der Baumwollencultur gewidmet und die Baumwolle von
hier ist ihrer Qualität nach bedeutend besser als die von Tschemkent.
In diesen Gegenden reift auch die amerikanische Baumwolle, doch
ist die Cultur dieser Sorte noch sehr neu und hat bis jetzt noch keine
sehr glänzenden Resultate geliefert. (In allerneuester Zeit scheint
man allerdings in dieser Beziehung bessere Erfahrungen gemacht
zu haben, und man will aus amerikanischem Samen Bamwolle erzielt
haben, welche der echt amerikanischen an Qualität ziemlich nah£
kommt.) Noch besser als die von Taschkent und Chodschent ist
die bucharische Baumwolle, die bei sorgfältiger Pflege der Plan¬
tagen einigen amerikanischen Sörten qualitativ ebenfalls nahe
kommt. In Khokand ist die Baumwollenproduction sehr entwickelt
und die Ernte reich und von hoher Qualität. Nach Nachrichten, die
von der Commission der turkestanschen Section der Manufactur-
4 2 3 *
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Ausstellung gesammelt sind, werden die grössten Ernten in Chiwa,
die kleinsten in den nördlichen Kreisen des turkestanschen Gebietes
erzielt, wo sie sich übrigens auch über das Arysthal hinaus, z. B. bis
Perowsk und sogar bis Kasalinsk ausdehnen können. Freilich würde
sich die hier gewonnene Baumwolle von der bucharischen durch
ihre bedeutend niedrigere Qualität unterscheiden. — Die Unvoll¬
kommenheit der Reinigungsmethode nimmt übrigens auch der
bucharischen viel von ihrem Werth und erniedrigt ihren Preis. Ein
Pud dieser Baumwolle kostet in Taschkent 3—7 Rubel (im Jahre 1870
5 Rubel 50 Kopeken), in Khokand aber ist sie um 50 Kopeken bis
I Rubel und in Buchara.noch weit billiger. ,
Russland bezieht aus Turkestan, Khokand, Buchara und Chiwa
beinahe ausschliesslich nur Rohbaumwolle, die auf Fabriken bear¬
beitet wird und dann theilweise als Baumwollengewebe wieder nach
Centralasien zurückgeht. Der Import von Rohbaumwolle in Russ¬
land hat sich bis 1870 in den vorangehenden eilf Jahren verneun-
facht, was beweist, wie nothwendig bucharische Baumwolle für die
russischen Fabriken ist; besonders schnell ist die Einfuhrziffer in
den letzten acht Jahren gewachsen. — Ueberhaupt kann ganz Cen¬
tralasien, auch bei dem jetzigen Stande derCultur, mehr als drei Mil¬
lionen Pud Baumwolle produciren und vertheilt sich diese Production
folgendertüaassen auf die einzelnen Chanate: Buchara 2 Millionen,
Chiwa 500,000, Khokand 300,000 und die unabhängigen Gebiete
am Amu 500,000 Pud. Hierzu kommt noch die Baumwolleneinfuhr
aus dem Bezirk des Sarafschan, über deren Quantität man bis jetzt
noch nichts Genaueres erfahren hat; doch lässt sich aus der Abga¬
beziffer (14,255 Rubel) annähernd berechnen, dass im Thale des
Sarafschan jährlich gegen 160,000 Pud producirt werden.
In den letzten Jahren, wenn auch nicht gerade in der letzten Zeit,
hat die bücharische Baumwolle auch in Russland in der indischen
einen starken und nicht ungefährlichen Concurrenten gefunden.
Diese letztere ist nicht nur besser, sondern stellt sich auch seit der
Erleichterung des Transportes durch Eröffnung des Suezkanales
sogar verhältnissmässig noch billiger als die bucharische, welche der
vielen Knoten wegen, die sie enthält, und in Folge ihres kurzen
Stapels nur zu den niedrigsten Nummern von Baumwollengespinnst,
und auch dann nur mit einem verhältnissmässigen Quantum von
amerikanischer Baumwolle gemischt, verwendet werden kann. Bei
einem Preise von 8 Rubel per Pud für die indische Baumwolle
müsste die bucharische in Moskau für 5 V2 bis 6 Rubel verkauft
•
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werden können, wenn sie die Concurrenz bestehen soll, und dies ist
bei dem weiten Landtransport, den die bucharische Baumwolle zu
ertragen hat, nicht möglich. Die Eröffnung einer Eisenbahn nach
Taschkent würde diese Verhältnisse wesentlich und zwar zu Gunsten
der .bucharischen Baumwolle ändern.
Ausser den genannten Culturgewächsen liefert Turkestan ver¬
schiedene Obstsorten; Kirschen, Birnen, Aepfel, Pfirsiche, Pflaumen,
namentlich aber Wein-Trauben, von welchen letzteren schon Herr
P. Lerch in seiner vorerwähnten Arbeit erwähnt, dass sie in Tur¬
kestan billiger wie die Kartoffeln zu kaufen seien. Sie werden vor¬
zugsweise in der Umgegend von Taschkent in Chodschent und in
Ssamarkand cultivirt, und zur Bereitung von Traubenwein benutzt;
es beläuft sich die Production vön diesem letzteren auf 10,000 Wedro
jährlich. Jedenfalls ist dieses Factum von Interesse und berechtigt
zu der Hoffnung, dass sich bei fortschreitender Entwickelung auch
die Weincultur immer weiter ausbreiten werde, obgleich die turke-
stanschen Weine immerhin wohl eine nur locale Bedeutung behalten
werden. Die Möglichkeit, dass der Weinstock in mehreren Gebieten
Turkestans gedeiht und dass aus den Weintrauben selbst ein guter
und trinkbarer Wein gewonnen werden kann, liefert den Beweis, dass
das Klima Turkestans keineswegs ein ungünstiges ist, wie dies denn
auch durch das Gedeihen des Mais, der Melonen und anderer Cul-
turgewächse bestätigt wird, welche an Boden und Klima nicht unge¬
wöhnliche Anforderungen stellen.
Was speciell die Güte des Bodens anbelangt, so scheint dieselbe
allerdings nach den verschiedenen Gegenden, wie dies auch bei der
Grösse und Ausdehnung des Landes nicht anders sein kann, sehr zu
wechseln. Auf der Moskauer polytechnischen Ausstellung fanden
sich verschiedene Proben von Ackererde, welche einen grossen Sand¬
gehalt zeigten und eine nur geringe Fruchtbarkeit vermuthen Hessen
und in der That gilt der turkestansche Boden im Allgemeinen für
sehr porös und leicht, weshalb auch die Bewässerung rfiittelst ein¬
zelner Gräben und Wasserfurchen genügt, ganzen Feldern die ihnen
nothwendige Sommerfeuchtigkeit zuzuführen.
Diese Bodenverhältnisse, so wie das ausserordentlich heisse Klima
während der Sommerzeit, währencj welcher ein befruchtender Regen
Zu den Seltenheiten gehört, sind denn wohl auch die Veranlassung
gewesen, dass man in vielen Gebieten Turkestans zu dem Hülfs-
mittel eines ziemlich ausgedehnten Bewässerungssystems gegriffen
hat. Dies darf um so mehr unsere Aufmerksamkeit erregen, als wir
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derartige Bewässerungsarbeiten in grösserem Maassstabe nur in land¬
wirtschaftlich hoch entwickelten Gegenden,* wie z. B. in Oberitalien,
Belgien etc. antreffen. Dieser Bewässerung einerseits, andererseits ei¬
nem verhältnissmässig lange anhaltenden Sommer ist es wohl zuzu¬
schreiben, dass die dortige Landwirtschaft Resultate aufzuweisen
hat, deren sich selbst unsere europäischen, in landwirtschaftlicher
Beziehung hoch entwickelten Länder nicht immer zu rühmen haben.
Es werden in Turkestan sehr häufig zwei Ernten in einem Jahre von
ein und demselben Felde gewonnen.
Ueber den Betrieb der Landwirtschaft in Turkestan finden sich
in dem Ausstellungscataloge zur Moskauer polytechnischen Aus¬
stellung nachstehende Andeutungen:
Als Wintersaaten werden nur Weizen und Gerste benutzt, fiir Som¬
mersaat hauptsächlich nur Reis und Sorgo, eine Art Zuckermoor¬
hirse. Ausser diesen beiden Hauptpflanzen cultivirt man in den Som¬
merfeldern noch die Baumwollenstaude, Flachs, Melonen und Ar-
busen, Zwiebeln und Möhren. Man ersieht hieraus, dass der Feld¬
gemüsebau, der in Europa nur in dichtbevölkerten Gegenden mög¬
lich ist, in dem wenig bevölkerten Turkestan dennoch eine practische
Anwendung findet. Ein übereinstimmendes Verfahren hinsichtlich
der Wahl derCulturgewächse existirt nicht, wohl aber ist die Aussaat
von Reis, Sorgo und Baumwolle allgemein. —Zum Gedeihen der
turkestanschen Culturpflanzen ist die obenerwähnte Bewässerung
ein unentbehrliches Hülfsmittel. Die Reisfelder werden auch dort
während der ganzen Vegetationszeit dieser Pflanze unter Wasser ge¬
setzt. Einer drei- bis viermaligen mehrstündigen Bewässerung wer¬
den die Luzemefelder ausgesetzt und zur Förderung der Cultur an¬
deren heimischer Pflanzen, z. B. der Melonen, genügt bei dem po¬
rösen und das Wasser leicht fortleitenden Boden ein Durchziehender
Felder mit Wassergraben. Die Wintersaaten bedürfen keiner beson¬
deren Bewässerung. Als Wirtschaftssystem herrscht die Dreifelder¬
wirtschaft vor, und zeigt dieselbe keine principiellen Abweichungen,
indem auch in Turkestan die Winterfrüchte in das Brachfeld gesäet
werden. Nur die mehrere Jahre ausdauernde Luzerne wird in beson¬
dere Fehler gesäet. *
In grossem Widerspruche mit (Jer hier beschriebenen, sicherlich *
schon mehr sorgfältigen Feldcultur stehen die Ackergerätschaften,
welcher man sich zu dieser letzteren bedient. Der dort üblig^ Pflug
verdient kaum diesen Namen, die dort gebräuchlichen Eggen, ein¬
fache Dornengeflechte, sind eben so primitiver Natur, und nur der
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Umstand, dass sie eben nur auf einem sehr leichten Boden Verwen¬
dung finden, erklärt die Möglichkeit ihrer Wirksamkeit. Im Gebiete
der Siebenflüsse bedient man sich einer Art Ssocha, welche
einige Aehnlichkeit mit der in vielen Gegenden Russlands gebräuch¬
lichen aufweist. Die übrigen Handgeräthe, Schaufeln, Spaten,
Karren etc. entsprechen den hier beschriebenen an Einfachheit und
primitiver Gestalt, aber auch an geringer Leistungsfähigkeit Die
Holzgeräthschaften herrschen vor, Eisentheile sind mit grosser Spar¬
samkeit und nur dort, wo es ganz unerlässlich ist, angewendet.
Würde es gelingen die turkestanschen Landwirthe an den Gebrauch
unserer modernen Ackerwerkzeuge, namentlich wirksamerer Pflüge,
zu gewöhnen, so müssten bei den übrigen vorhandenen Grundbe¬
dingungen und bei der Sorgfalt, welche man im Allgemeinen dem
Feldbau angedeihen zu lassen scheint, die landwirtschaftlichen
Leistungen dieses Gebietstheils sehr beachtenswerte sein. Die rus¬
sische Regierung wird daher wohl auch gerade zunächst in dieser
Beziehung ihren Einfluss zur Geltung zu bringen haben. Ein erfolg¬
reicher Betrieb der Landwirtschaft muss nothwendig nicht nur den
Wohlstand der dortigen Bewohner im Allgemeinen heben, sondern
auch in Folge davon stabile Culturverhältnisse begründen, die dem.
turkestanschen Gebiete so Noth thun, und welche die Grundbedin¬
gung der Cultivirung des Landes bilden.
Der teilweise noch jetzt mehr uncultivirte und wilde Character
Turkestans spiegelt sich namentlich in den Producten seines Thier¬
reiches ab. Wir treffen dort neben andern Raubthieren noch Tiger,
Leoparden und Panther. Auch das wilde Schwein findet in Turkestan
seine Heimat, wie auch Wölfe, rothe und dunkelbraune Füchse in
jenen Gegenden sehr verbreitet sind. Dachse, wilde Katzen und Marder
verschiedener Art bevölkern die turkestanschen Wälder, und Fisch¬
ottern dieFlussufer. DieFelle dieser Raub- und Pelztiere, so wie die
der turkestanschen, teilweise noch wildenSchafe und Lämmer werden
in den Städten zu Pelzwerk verarbeitet und dürften mit der Zeit einen
gesuchten Handelsartikel abgeben. Auch die Raubvögel, namentlich
Falken und Geier sind reich vertreten, darunter eine in Europa nicht
vorkommende Art von Condor, der „neue Greif“ (Gyps nivicola
Sev.). Wilde Gänse beleben die Bergseen. An Amphibien verschie¬
dener Art ist in Turkestan kein Mangel; so zeigte die Moskauer
Ausstellung 21 Gattungen von Eidechsen, darunter solche von ganz
ungewöhnlicher Grösse, 6 Gattungen Schlangen, verschiedene
Gattungen Schildkröten, u. s. w. Auch begegnete inan daselbst
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reichen und interessanten Sammlungen von Käfern, Schmet¬
terlingen und andern Insecten, unter denen namentlich die turke-
stansche Heaschrecke, Termiten und Ameisenlöwen Interesse er¬
regten. Von Hausthieren werden Pferde, Rindvieh, Kameele, Schafe,
Ziegen, Schweine, Hunde, Katzen und Hühner gehalten. Die ausge¬
stellten Schafe waren grössentheils braunfarbig, von grober Wolle,
und erinnern an das kirgisische Steppenschaf, mit herabhängenden,
langen Ohren, zu dessen Race sie auch unzweifelhaft gehören. Die
Wolle hat wenig Werth und liefert ein nur ganz grobes Gespinnst.
Auch die Kameelhaare werden zu Gespinnsten benutzt. Die Felle
der Schafe und Lämmer werden vielfach zu Pelzen verarbeitet. Die
Viehzucht steht im Allgemeinen noch auf einer ziemlich niedem
Entwickelungsstufe, obgleich alle Grundlagen zu einer nachhaltigen
Veredlung derselben, namentlich bei den reichen und guten Futter¬
mitteln, welche das Land bietet, vorhanden zu sein scheinen. Ob
man bei Verwendung der einheimischen Viehracen rasch zum Ziele
kommen wird, ist freilich eine andere Frage, welche kaum bejahend
beantwortet werden dürfte. Die turkestanschen Pferde, obgleich kei¬
neswegs von elegantem Aussehen, sind schnellfüssig und Aus¬
dauernd. Jedenfalls wird die russische Regierung auch in Bezug auf
die Hebung der Viehzucht^ nach und nach ihren Einfluss zur Geltung
bringen, und dafür Sorge tragen, dass bessere und nutzbringendere,
d. h. in ihren Producten werthvollere Viehracen in das Land ge¬
bracht werden. Im Verein mit der Einführung besserer Ackergeräth-
schaften dürfte dies das Mittel sein, eine naturgemässe Basis für die
Entwickelung der dortigen Wohlstands Verhältnisse zu bilden.
Von grosser volkswirthschaftlicher Bedeutung ist. in Turkestan
die Zucht der Seidenraupen. Dieses nützliche Insect, welches unter
den dortigen Verhältnissen ganz ausserordentlich zu gedeihen scheint,
liefert eine glänzende, feine, haltbare Seide, welche der kaukasischen
Seide nahesteht. So hatten die Herren A. I. .Chludow aus'Chodschent
und I. A. Perwuschin aus Taschkent auf der St. Petersburger Manu-
facturausstellung (1870) turkestansche Rohseide ausgestellt, welche,
ihrer hervorragenden guten Eigenschaften wegen die Aufmerksam¬
keit aller Sachkenner auf sich lenkte. Die Preise für diese Rohseide
^bei Chludow) varürten zwischen 125 bis 550 Rbl. per Pud, die für
Cocons beliefen sich auf 32 Rbl. per Pud. In . der turkestanschen
Abtheilung derselben Ausstellung begegneten wir Cocons, Rohseide
und abgchaspelter Seide aus Taschkent (Aussteller: Paramonow, Per-
wuschfti '(s.’jc^l^ Denet, PTngas, Schach-Abderassul, Bachim Alimow)
'V
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aus Chodschent (Aussteller Chludow (s.’ o.), Perwuschin, Küschake-
witsch, Pir-Mairafe Ssalpyew, Ustalin), ausDizak(Radhim-Muhamed-
Alim) aus Ssamarkand und Buchara. Man ersieht hierauf, dass sich
der Seidenproduction schon viele Kräfte dienstbar gemacht haben, so¬
wohl russische wie einheimische, und ist so zu hoffen, dass dieser wich¬
tige Productionszweig, begünstigt von klimatischen und Bodenver¬
hältnissen, unter den jetzt mehr geordneten und den stabileren po¬
litischen und socialen Verhältnissen immer mehr an Bedeutung und
Ausdehnung gewinnen werde. Die Seidenraupenzucht scheint auch
von den Eingeborenen mit Lust betrieben zu werden, und dies er¬
höhet noch ihren Werth und ihre BedeutiÄig. Für die russische In¬
dustrie kann sie aber mindestens von gleicher Wichtigkeit werden,
wie die Cultur der bucharischen und turkestanschen Baumwolle,
und schon dies sollte ein Sporn sein, diesen überaus nützlichen und
einflussreichen Industriezweig mit allen zu Gebote stehenden Mitteln,
selbst unter Anwendung von Staatsunterstützung, zu fördern. In
Turkestan ist in dieser Beziehung dem Kaukasus ein Rival entstanden,
der mit ihm wohl weteifern kann.
An Erzen und Mineralien scheint Turkestan nach den bis jetzt
reichenden Nachrichten weniger reich zu sein als die anderen asiati¬
schen Länder Russlands, Sibirien und der Kaukasus. Während die
Ausbeute an Waschgold in Sibirien von Jahr zu Jahr steigt und die
Silber-, Blei- und Kupfer-Ausbeute Kaukasiens von Bedeutung ist,
treten zwar Eisen-, Kupfer- und Bleierze ebenfalls im turkestanschen
Gebiete auf, ohne dass sie aber bisher Veranlassung zum Betriebe
einer lebhaften Metallproduction geworden wären. Es müssen wohl
noch Jahre ruhiger Entwickelung vorübergehen, bevor man in Tur¬
kestan dem hier berührten Betriebszweige seine volle Aufmerksam¬
keit zuwenden wird. Es steht dann aber zu erwarten, dass eine ein¬
gehende Forschung noch neue Fundorte von Erzlagern zu Tage
fördern wird, um so mehr, als die bereits bekannten zu der Ansicht
berechtigen, dass die Erzgänge, mit welchen sie in Verbindung
stehen, sich auf weit bedeutendere Strecken ausdehnen. Wie langsam
es in diesen entfernten und menschenarmen Gegenden mit der Ent¬
wickelung des Hüttenwesens geht, beweisen Sibirien und die Kir¬
gisensteppen, deren Reichthum an edlen Metallen (Gold und Kupfer)
arst in neuerer Zeit derart gewürdigt wurde, dass er die Veranlas¬
sung zu einer energischen Ausbeutung dieser Metalle bot.
Auf der polytechnischen Ausstellung zu Moskau waren Erzproben
von Eisen, Kupfer und Blei ausgestellt, die, wenn auch nicht be-
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sonders reich an Reinmetall, doch immerhin von brauchbarer Qualität
zu sein schienest.
Neben den genannten Erzen werden noch Graphit, Steinsalz und
Steinkohlen gewonnen, welche letzteren man an verschiedenen
Orten der Kreise Taschkent und Chodschent in brauchbarer Qualität
findet. — Einen grossen Holzreichthum scheint Turkestan ohnedem
nicht zu besitzen, denn man klagt allgemein über die Theuerung
von Brennholz, und der Eifer, mit dem man nach Kohlen forscht,
und die Genugthuung, mit welchen dortige Correspondenten über
Auffindung neuer Kohlenlager berichten, deuten darauf hin, dass
auch in Turkestan die Benutzung von Steinkohlen zu einem allge¬
meinen Bedürfnis geworden ist Neuerdings hat man in der Nähe
des Syr-Darja Steinkohlenlager entdeckt, und man hofft, dass sie
von Bedeutung für die dort stationirte russische Flottille werden
sollen. Wir begrüssen daher in den dortigen Kohlenschächten und
deren Bearbeitung die ersten Anfänge eines geordneten Hüttenwe¬
sens. Der in Turkestan auftretende Graphit dürfte, trotz ent¬
sprechender Qualität, kaum von grosser industrieller Bedeutung
sein, da der weite Transport denselben so vertheuert, dass er, vpr
der Hand wenigstens, zur Bleistiftfabrication nicht verwendbar ist.
Dieselbe Erfahrung haben wir mit dem trefflichen sibirischen
Graphit machen müssen, an dessen Ausbeute man seiner Zeit so
grosse Hoffnung knüpfte. Der Name „russischer Graphit“ paradirt
zwar auf vielen, namentlich in Deutschland fabricirten Bleistiften; •
seitdem man aber dort die Erfahrung gemacht hat, wie hoch sich
die Transportkosten dieses russischen oder besser sibirischen Gra¬
phits stellen, wird heute in Deutschland kein Pfund davon mehr ver¬
wendet. Von in Turkestan gewonnenen Mineralien sind die Tür¬
kise, die dort noch in ziemlichen Quantitäten gefunden werden, und
welche sich theilweise durch Grösse und Reinheit auszeichnen, von
Bedeutung.
Von Naturproducten ist schliesslich noch des Torfes zu erwähnen,
von welchem Proben auf der letzten Moskauer Ausstellung zu sehen
waren. Es ist wohl hauptsächlich der Umstand von Interesse, dass
mail in Turkestan anfängt, diesem Brennmaterial die Aufmerksam¬
keit zuzuwenden, die ihm in Gegenden, welche keinen Ueberfluss an
Holz oder Steinkohlen aufweisen, gebührt. Es wäre zu wünschen,
dass man in andern Theilen Russlands, namentlich in St. Petersburg,
diesem Beispiele folgte, da hier die schönsten Torflager, trotz der
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steigenden Holz- und Kohlenpreise, ihrer Ausbeute vergebens
harren. Ueber Naphtha wird weiter unten die Rede sein.
Es . liegt wohl ausser Zweifel, dass das grosse Gebiet von Turkestan
noch andere, und vielleicht noch reichere Naturerzeugnisse hat, als
die hier namhaft gemachten. Die Zeit, seit der vollständigen Besitz¬
ergreifung Turkestans, ist aber verhältnissmässig noch zu kurz, als
dass man schon Müsse gefunden hätte, durch Forschung und gründ¬
liches Studium, an dem es übrigens keineswegs fehlt, zu weiter ge¬
henden Resultaten zu gelangen. Ein thätiger und opferwilliger Mit¬
arbeiter und Forscher in dieser Beziehung ist die Kaiserliche Geo¬
graphische Gesellschaft in St. Petersburg, welche nicht nur in Tasch¬
kent eine besondere Section für Turkestan errichtet hat, sondern
auch durch speciell dorthin entsendete Gelehrte und Expeditionen
ihre Bemühungen hinsichtlich der Erforschung Turkestans unter¬
stützen lässt.
Ein Land wie Turkestan, dessen Bewohner zum grossen TheH
Nomaden sind und dessen Bevölkerung, ihrer Hauptmasse nach, nur
Bedürfnisse kennt, welche über das Niveau des Allergewöhnlichsten
kaum hinausgehen, ein solches Land kann selbstverständlich keine
entwickelten Industrieverhältnisse, aufzuweisen haben. Obgleich
einzelne Industriezweige in umfangreicherer Weise betrieben werden
wie andere, so stehen doch auch sie noch auf einer niederen Stufe,
und erheben sich nicht über den handwerksmässigen Betrieb. Die
Hülfsmaschinen, deren sich diese Gewerbe bedienen, sind von der
allerprimitivsten Art, schwerfällig in ihrem Aeusseren und in ihren
Leistungen, selbst aus Handarbeit entstanden und nur für diese
letztere geeignet. Selbst unsere einfachsten un^ ältesten Hand-
maschinen werden von den dort in Verwendung stehenden nicht
erreicht. Bei derartigen Hülfsmitteln darf es daher auch nicht
Wunder nehmen, wenn die industriellen Leistungen der turkestan-
schen Gewerbtreibenden sehr schwache sind, und dass sich deren
Erzeugnisse selbst mit den einfachsten russischen Fabricaten nicht
messen können. Nichts desto weniger sind die industriellen Lei¬
stungen Turkestans ziemlich vielseitig und von den 43 Industrie-
classen, welche uns die St. Petersburger Manufactur-Ausstellung
vom Jahre 1870 vorführte, waren 23 in der turkestanschen Abthei¬
lung vertreten. Auch beginnt sich der russische Einfluss in Bezug
auf die industriellen Verhältnisse Turkestans fühlbar zu machen. Es
haben sich daselbst schon Gewerbetreibende russischer und anderer
Nationalitäten m nicht allzugeringer Anzahl etablirt und betreiben
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356
hier industrielle Beschäftigungen, wenn sie es auch nur erst aus¬
nahmsweise zu einem fabrikmässigen Betriebe gebracht haben.
- Ich folge bei den nachstehenden eingehenderen Bemerkungen
über die industriellen Industrieverhältnisse der mehr übersichtlich
geordneten Angaben des Cataloges der St. Petersburger Manufactur-
Ausstellung vom Jahre 1870, dieselben durch einzelne Bemerkungen
aus dem Ausstellungs-Catalog der letzten polytechnischen Ausstel¬
lung zu Moskau ergänzend. Hinsichtlich der Beurtheilung der
Qualität derFabricate selbst habe ich mich durch eigene Anschauung
leiten lassen.
Flachs - und Hanf-Industrie, Die beiden genannten Gespinst¬
pflanzen werden vorzugsweise in den der europäischen Grenze zu
nächst liegenden Districten Turkestans, wenn auch in beschränkten
Verhältnissen, cultivirt. Es existirt aber noch eine andere,‘in
mehreren Theilen Turkestans, namentlich im Gebiete der Sieben¬
flüsse wildwachsende Gespinstpflanze, Kendyr (Apocynum sibiri-
cum) genannt, welche vielseitig, und wie es scheint, weit mehr ver¬
sponnen wird, wie Flachs und Hanf. Gespinnste wie Webwaaren
sind von sehr niederer Qualität, und können letztere nicht entfernt
unseren europäischen Leinwänden zur Seite gestellt werden. Man
bedient sich zum Weben dieser Stoffe, wie auch der Baumwollen-,
Wollen- und Ziegenhaarstoffe äusserst primitiver Handwebstühle,
die trotz ihres grossen Umfanges von sehr geringer Leistungsfähig¬
keit sind und eine nur sehr ungleiche Weberei gestatten. Auf
der polytechnischen Ausstellung in Moskau waren derartige Webe¬
stühle in der turkestanschen Abtheilung aufgestellt- und erregten
ihrer monströsen^Formen wegen die Aufmerksamkeit der Ausstel¬
lungsbesucher. Flachsene Taue von der Stanitza Sophia waren auf
der St. Petersburger Manufactur-Ausstellung vertreten.
Baumwollen-Industrie. Ueber die Bedeutung der turkestanschen,
namentlich der bucharischen Baumwolle, als industrieller Rohstoff,
ist schon weiter oben gesprochen worden; an dieser Stelle inter*
essirt uns diese Baumwolle nur in soweit, wie sie der einheimischen
Industrie zur Basis geworden ist. In den russischen Fabriken, die
doch bekanntlich mit- allen möglichen Hülfsmaschinen ausgestattet
sind und denen es auch an materiellen Mitteln nicht gebricht, kann
die bucharische Baumwolle nur dann versponnen werden, wenn ihr
ein, ihrer Qantität entsprechender, Zusatz von amerikanischer Baupi-
wolle gegeben wird. Selbst diejenigen Fabriken,. welche sich vor¬
zugsweise der Verarbeitung centralasiatischer Baumwolle befleissigen
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357
und ihre Einrichtungen hiernach getroffen haben, müssen mindestens
25 pCt. amerikanische Baumwolle gleichzeitig mit der bucharischen
verarbeiten. In Taschkent und den andern Städten Turkestans, in
welchen sich Wollfabriken und Baumwollspinnereien befinden, ist
dies nicht der Fall, indem* die einheimische Baumwolle ohne Zusatz
von amerikanischer versponnen wird. Unter diesen Umständen
kann auch das Fabrikat nur von sehr untergeordneter Qualität sein.
Dagegen werden Baumwollgewebe, trotz der schlechten Beschaffen¬
heit der Garne, in grosser Mannigfaltigkeit erzeugt, ja in jeder Stadt
fast wird ein anderer, eigens bekannter Stoff fabricirt. So waren auf
der St. Petersburger Manufactur-Ausstellung nachbenannte Baum¬
wollenstoffe vertreten*. Kaljama und Alatscha aus Ssamarkand,
Buchara und Urgut; Paripascha aus Chodschent; Sibak ebendaher;
necTpnAb (buntgestreift) aus Dizak; Alatscha ebendaher und aus
Taschkent; Sym-Suma und Astartschit (eine Art Zitz) ebendaher
etc. etc. Als Sitze der Baumwollenweberei sind ausser den genann¬
ten noch folgende Städte zu bezeichnen: Ura-Tjube, Ura-Tepe und
Kaschgar. Die Industriellen, welche sich mit der Baumwollenweberei
befassen, sind ausschliesslich Einheimische. Man ersieht aber aus
dem Mitgetheilten, dass trotz der ungenügenden Qualität der Stoffe
die Baumwollenweberei einen weitausgedehnten Industriezweig bil¬
det, der jedenfalls entwickelungsfähig ist und für jene Gegenden
von Bedeutung werden kann. Zunächst würde man freilich dahin
arbeiten müssen, bessere Reinigungsapparate für die Rohbaumwolle
einzuführen.
Wollen-Industrie. Schafwolle, Ziegen- und Kameelhaar werden in
Turkestan versponnen und zum Wollstoffe verarbeitet. Die Haupt¬
sitze dieser Industrie sind Taschkent, Wemoje, Dizak, Ssamar¬
kand und Kurama. Im Gebiete der Siebenflüsse scheint die Schaf¬
zucht am regsten betrieben zu werden. Aus der Wolle der oben
genannten Thiere werden in den angeführten Städten Game, Zwirn
(aus Kam^el- und Ziegenhaar) — in Dizak, Bänder — in Ssamar¬
kand, Kopal, Wernoje und Taschkent — Zeuge und Teppiche ge¬
webt» Kameel- und Ziegenhaargam wird zu diesem Zweck noch
häufiger verwendet, wie Wollengame, unter denen wiederum die aus
Lammwolle erzeugten den Vorzug zu verdienen scheinen. Auch
Tuche macht man aus Ziegenhaar und Lammwolle, neben solchen
auch aus gewöhnlicher Schafwolle. Der Sitz dieses Industriezweiges
ist vorzugsweise Taschkent und Urä-Tepe. — Wie in allen orientali¬
schen und asiatischen Staaten wird auch in Turkestan die Teppich-
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Weberei, namentlich in den Städten Taschkent, Chodschent, Kopal,
Dizak und Ssamarkand eifrig betrieben, und kann mindestens als
entwickelter bezeichnet werden, als die übrigen Zweige der Wollen¬
industrie. Obgleich diese Teppiche den kaukasischen in jeder Be¬
ziehung weit nachstehen, namentlich was Musterung und Farben¬
reinheit anbelangt, so sind sie doch von gutem Gewebe^ fest und
stark, wie es die dortigen Verhältnisse bedingen und meistentheils
auch von besserer Färbung als die übrigen Wollenstoffe. Sie finden
die umfassendste Verwendung, indem sie in den Frauengemächern
des sartischen Hauses, wie in den öffntlichen Localen und in den
Zelten der Nomaden unentbehrlich sind. Neben der Teppich-
fabrication ist auch die Filzfabrication nicht ohne Bedeutung, nament¬
lich für die Nomadenstämme, welche sich eines dünnen Filzes als
Aussenwände für ihre Zelte bedienen. Im Innern sind dieselben
mit stärkeren Filzen belegt und mit Teppichen bedeckt, wo sich
nur Gelegenheit dazu bietet. Auch mit der Wollenindustrie be¬
schäftigen sich nur einheimische Industrielle, und liegt auch wohl
um so weniger Veranlassung für die Europäer vor, sich dieses In¬
dustriezweiges zu bemächtigen, als das Rohmaterial, welches diesem
letzteren zur Verfügung gestellt ist, nur in ungenügender Qualität
beschafft werden kann.
Was die technischen Leistungen der Seiden-Industrie anbelangt,
so ist dieselbe unbedingt am meisten entwickelt, was wohl haupt¬
sächlich dem trefflichen Rohmaterial zu danken ist, das der¬
selben zur Verfügung steht. Dass sich der Herstellung dieses letz¬
teren bereits europäische Kräfte dienstbar gemacht haben, habe ich
schon bei Besprechung der Naturerzeugnisse Turkestans hervorge¬
hoben. A. I Chludow unterhält in der Stadt Chodschent eine seit
dem Jahre 1867 bestehende Seidenabhaspel-Anstalt, in welcher
jährlich 1500 Pud Cocons zu*2$o Pud Rohseide verarbeitet werden,
welche einem Werthe von 100,000 Rubeln entspricht. In der An¬
stalt stehen 200 Abhaspelstühle in Verwendung und finden 10 er¬
wachsene Arbeiter und 70 Knaben daselbst regelmässige Beschäfti¬
gung. A. I. Chludow hat in y. A . Perwttschin einen unternehmen¬
den Nachahmer gefunden, der in Taschkent im Jahre 1868 ein ähn¬
liches Etablissement gründete, das gegenwärtig schon 150 Arbeiter
beschäftigt, demnach bereits grössere Dimensionen angenommen
zu haben scheint, als das Chludow’sche. Uebrigens besitzt Perewu-
schin äuch in Chodschent eine ähnliche Anstalt, wenigstens führt
ihn der Ausstellungskatalog unter den Ausstellern von Rohseide
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359
aus jener Stadt an. In diesen beiden Etablissements begrüssen wir
datier die ersten Anfänge europäischer Cultur und Fabrik-Industrie
in Qentralasien, und schon in dieser Hinsicht sind dieselben von Inter¬
esse. Letzteres wird noch dadurch gesteigert, dass Herr Chludow
seine Rohseide nach dem Auslande verkauft, wodurch derBeweis ge¬
liefert wird, wie sehr letzteres bereits weiss aus den Erfolgen
der Culturmission Russlands im Osten practischen Nutzen zu ziehen.
Was die Fabrication von Seidenstoffen anbelangt, so steht dieselbe
zwar nicht im Einklänge mit den natürlichen Hülfsquellen dieses
Landes, doch zeigt das Fabricat immerhin eine bessere Arbeit
und eine grössere Gleichmässigkeit des Gewebes, wenn auch
die düsteren unbestimmten Farben der meisten Seidenstoffe
unserem europäischen Geschmacke nicht entsprechen. Es wer¬
den verschiedene Seidenstoffe fabricirt, ja die St. Petersburger
Manufactur - Ausstellung zeigte uns sogar weissen Atlas aus
Buchara, der schon immerhin der Beachtung werth war.
Kanaus, gestreiftes Seidenzeug, wird in Chodschent, Ssamarkand
und Buchara fabricirt — Mannigfaltigere Stoffe noch wie aus reiner
Seide werden aus mit Seide gemischten anderen Stoffen gefertigt.
Derartige Halbseiden führen die Namen Altschimbar, Bikasap,
Adräs, Paripascha etc. (s. Baumwollen-Industrie) und werden vor¬
zugsweise in den Städten Buchara und Chodschent fabricirt. Seiden¬
kleider nach dem landesüblichen Schnitt werden in Taschkent,
Ssamarkand und Buchara gefertigt.
Mit der Anfertigung von Posamentirarbeiten , als Bänder, Schnuren,
Quasten u. s. w. beschäftigen sich viele einheimische Industrielle in
den Städten Taschkent, Chodschent, Ssamarkand und Buchara.
Bettdecken, Tischdecken und gestickte Pferdedecken werden in #
Taschkent und Ssamarkand angefertigt, wie denn überhaupt die
Stickerei in Gold- und Silberfäden und Seide ein in Turkestan sehr
bevorzugter Industriezweig ist, mit welchem sich auch die Männer
beschäftigen. Der zu stickende Stoff wird in einen Rahmen einge¬
spannt und die Stickarbeit mit einer Art Häkelnadel ausgefiihrt. Die
Stickerei besteht grossentheils in kleinen Rosetten und Arabesken,
welche dann ausgeschnitten und auf den eigentlichen Stoff, welcher
verziert werden soll, genäht werden. Diese Arbeit ist sehr mühe¬
voll und erfordert eine wahrhaft orientalische Geduld. Die Stickereien
selbst sind den bekannten persischen Stickereien ähnlich. Auf der
polytechnischen Ausstellung in Moskau war ein sartischer Sticker
beschäftigt und zeigte seine Kunst unermüdet den ihn umlagem-
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36 o
den Ausstellungsbesuchern. Eine Eigentümlichkeit sind die mit
Seide gestickten Handtücher, welche vorzugsweise in Ssergiopol ge¬
fertigt werden.
Das landesübliche Kleidungsstück ist der Chalat, eine Art Schlaf¬
rock aus Baumwollenstoff, Seide und Halbseide, meist in bunten
aber dabei düstern und unreinen, ins Violette spielenden Farben.
Solche Chalats waren auf der St. Petersburger Manufacturausstellung*
in grosser Mannigfaltigkeit von Gewerbtreibenden aus Taschkent,
Chodschent, Wernoje und Ssamarkand ausgestellt; europäische
Kleidungsstücke jedoch nur aus der letztgenannten Stadt, obgleich
sie jetzt auch in Taschkent und in andern grossem Orten angefertigt
werden. Auch die Strumpfwirkerei ist in der letztgenannten Stadt
so wie in Kopal und Ssamarkand nicht unbekannt, wenn auch die
Fabricate noch sehr rohe Arbeit zeigen.—Alle grösseren Ortschaften
haben demnach ihren Gewerbestand aufzuweisen, der reichliches Ver¬
dienst und Beschäftigung in seiner Arbeit für die einheimische Be¬
völkerung findet. Aber auch europäische Gewerbtreibende siedeln
sich nach und nach dort an, und namentlich scheint Taschkent, wie
es auch in der Natur der Verhältnisse liegt, und wie es diese Stadt
als der Sitz der höchsten Behörde auch verdient, der von ihnen aus¬
erwählte Ort zu sein.
Die Tischlerei und Bildhauerei , oder vielmehr Holzschnitzerei schei¬
nen Gewerbe zu sein, welche von den Einheimischen gern und mit .
grosser Kunstfertigkeit betrieben werden. Beide Ausstellungen
brachten in dieser Beziehung treft liehe Muster. Namentlich fanden
sich auf der St. Petersburger Manufacturausstellung aus Taschkent
und Ura-Tepe geschnitzte Fensterrahmen und Thüren, die nicht nur
ihres schönen Materials, sondern auch ihrer kunstvollen Arbeit wegen
mit Recht die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Unsere
modernen Schnitzanstalten und Tischlereien konnten sich an diesen
Kunstwerken, was Reinheit der Arbeit und Reichthum der Zeichnung
anbelangt, ein Vorbild nehmen. Holzarbeiten verschiedener Art:
Chatouillen, Kasten, Löffel, Schüsseln u. s. w. werden nicht nur in
Taschkent, sondern auch in Chodschent gefertigt. Die schönen.ein¬
heimischen Hölzer, als Rüstern, Wachholder, Aepfel-, Nuss-, Oel-,
Aprikosen-, Pfirsich- und Birnbäume, ferner: Platanen, Tappeln und
Birken, bieten der Tischlerei und der Drechslerei ein treffliches Ma¬
terial, und haben dazu beigetragen, dass sich diese Industriezweige
verhältrüssmässig stark entwickelt haben. Auch die Bauart der
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3<5i
Häuser rtiit ihren Säulengängen haben viel dazu beigetragen. Ziegel-
brenriereicn giebt es in den meisten Kreisen, vorzugsweise in Tasch¬
kent und Chodschent. Auch Marmor dient als Baumaterial und findet
sich in der Umgegend von Kurama und Altynodijal. '
Gleich der Zigelbrennerei ist auch die Töpferei ein ziemlich ver¬
breiteter Industriezweig, der sich mit der Anfertigung thönerner Ge¬
schirre, als Tassen, Teller, Schüssel, Wasserkrügen etc. beschäftigt.
Die orientalischen Formen herrschen bei diesen Erzeugnissen vor,
die grösstentheils nur dem practischen Bedürfniss zu entsprechen
haben. Die Geschirre sind gleich unseren gewöhnlichen Töpfer-
waarCn grossentheils von brauner Farbe, zuweilen aber auch mit en
ner weissen oder buntfarbigen Glasur überzogen, selbst in 1 einzelnen
Fällen mit erhabenen und gefärbten Verzierungen versehen. Das
Material, aus welchem sie recht gut gebrannt sind, scheint ein festöl*
und fetter Töpferthon zu sein. Chodschent, Taschkent und Ssamar-
kand liefern viel der hier beschriebenen ähnliche iTöpferwäaren.
Pörcellan- oder, Fayencegeschirr scheint dort nicht gebrannt zu
werden, wenigstens brachten beide Ausstellungen keine Mustek
davon.
Von chemischen Fabriken und dergleichen kann inTurkestan selbst¬
verständlich nicht die Rede sein. Wohl aber giebt es daselbst Pflan¬
zen verschiedener Art,, welche zu medicinischen Zwecken benutzt
werden; ebenso Farbstoffe und Gerbemittel. Zur letzten St. Peters¬
burger Ausstellung war aus Ssamarkand eine Sammlung' pharma-
ceutischer und cosmetisdier Mittel* wie solche in jenen Gegenden!
angewendet werden, so wie auch dortige Farben eingesandt worden,
ein Hdrr Paramanow dagegen hatte verschiedene Ledergerbemittel
eingesandt/ J
Leder. Die; Felle von Wölfen, Pferden, Rindern, Kälbern* Kamee-
len undZiegen werden gegerbt und zu Leder verarbeitet Män fa^
bricirt Sohlen-Leder; Juchten, Sämisch-Leder, Saffian und Leder
zu Schuhwerk. Im Ganzen steht die einheimische Gerberei auf einer
niedem Entwickelungsstufe; einzelne Sorten Saffian scheinen jedoch
von besserer Qualität *zti seih, ebenso das Juchten* und Sbhlen^Leder,
welches' aus russischen* Fabriken stammt. Der obenerwähntd Para*
manow hatte solches aus Taschkent ausgestellt, und scheint -fes: dem¬
nach, daäs russische Industrielle dort bereits Gerbereien > angelegt
haben und betreiben/ Ebenso finden sich unter den Äussfcellerii von
Wernoje» jirtd- fChodschent neben emhdmischen . 1 auch hTussisehe
Namen. * * ' ' • •< ‘t.; ^.f! .. *
*4
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3 ß 2
Was die Verarbeitung des Leders zu Gegenständen der Industrie
anbelangt, so ist selbige aus einem rein handwerksmässigen Betriebe
nicht herausgetreten, ja, es dürften sogar manche Ledfererzeugnisse,
namentlich Schuhwerk, 4 das Product häuslicher Industrien sein. Beide
Ausstellungen brachten aus Taschkent, Chodschent, Wernbje, Kopal
Arasan und Ssamarkand reiche Sammlungen landesüblichen Schuh-
werkes, das an Originalität und theilweise äusserst primitiver Arbeit
wenig zu wünschen übrig lässt. Die Stiefel und Schuhe von unge-
schwärzten gelbem Leder, dessen Aussehen keineswegs einen hohen
Begriff von der turkestanschen Gerberei-giebt, tragen lange Schnäbel,
welche an die chinesische Nachbarschaft erinnern und ganz kleine,
oft winzig kleine Absätze. Die Sohlen sind dicht mit grossen dickköpfig
gen Nägeln beschlagen; das Oberleder einzelner Stiefel war gestickt.
Die "Stickerei selbst kommt aber jener keineswegs gleich, welche
in einzelnen Theilen Russlands zum gleichen Zwecke ausgeführt
wird. In Taschkent und a. O. leben übrigens schon Schuhmacher rus- :
sisefier Nationalität, welche die Ausstellungen mit ihren Fabricaten
beschickt hatten, und steht daher wohl zu erwarten, dass auch die
Einheimischen sich nach dieser Richtung hin mehr und mehr europäi*
siren werden. Die Sattlerei wird ebenfalls allgemein, doch am um¬
fangreichsten in Taschkent und Chodschent. betrieben r aus welch
letztgenannter Stadt ein Herr Kuschakewitsch auch Sättel von guter
Arbeit und europäischer Form nebst sehr vielen andern Industrie*'
erzeugnissen ausgestellt hatte. Mit der Anfertigung von Geschirren'
Riemen etc.'beschäftigen sich auch inländische Industrielle, ohne dass»
sie ts jedoch eben so wenig ,wic ihre Fachgcnosaen in. andern- Ge¬
werben,, zu besonders hervorragenden Leistungen gebracht haben.
Ueber die Pelzthiere und Pelzproducte Turkestans habe ich schon
früher Andeutungen gegeben, und kann nuf ^wiederholen,/ dass die
2urißbihng vortTeUea in besserer Wüise erfolgt, als dies bfei.dem;
90Äst fcö niedern EntwiCkcliufigstand der-asiatische^ Industrie woraus»'
zusetzen ist. ; Viele Pelze «dortiger; Thiere, ^ ver^chiedeniMib^er
Püchse," Marder/. Wilder Katzen, Fischptfcem,nj sindianch für*
die eurbpäläche Industrie von Werth, * und dürften lüit der Zeit gärige
barse Handelsartikel werden. « Auch die in : Eurbpa immer, selteher
werdenden^ Dachte gehören hierzu. Die Stacheln der imTnrkestanT
einheimischen Stachelschweine .dürften ebönfaUs; auch industrieflem
Zweckenidieiietfcar gemacht Werden könmnudlasPelkwerk der wildbnrl
Ziegen und riwiklen Schafe^ welche dort aiiftretenfj diibftq einmeh#
naturgeschichtliches als industrielles Interesse bieten. * m, /
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Schreibpapier , von allerdings sehr untergeordneter Qualität, dick,
gelb, pergamentartig, aber einheimischen Ursprungs, war auf der
St. Petersburger Ausstellung aus Taschkent von Chal-Muhamed
und aus Chodschent von dem oben genannten Kuschakewitsch aus¬
gestellt. Nach dem Moskauer Ausstellungscataloge wird dieses Pa¬
pier aus baumwollenen Lumpen und aus Watte fabricirt. Ausser in
der Stadt Khokahd soll es nach der genannten Quelle noch eine Pa¬
pierfabrik in der Ansiedelung Tscharka geben. Buntfarbiges Papier
wird in Buchara gemacht. *
Mit der Production von eisernen Werkzeugen: als Beilen, Sägen,
Sicheln, Pflugschaaren, Spaten, Zangen verschiedener Art, Messern,
Scheeren, Rasirmessern, Striegeln, Hufeisen, Thürangeln, Riegeln,
Ketten und Nägeln beschäftigen sich zahlreiche eingeborene Hand¬
werker in allen Städten und Ansiedelungen; doch lipfern sämmtliche
einheimische Erzeugnisse den Beweis eines ausserordentlich niedrigen
Entwickelungszustandes auch jener Gewerbe, welche sich mit der
Verarbeitung des Eisens befassen. Nicht nur plumpe ungefällige
Formen, sondern auch grobe undunvollkommene Arbeit der ein¬
zelnen Werkzeuge, machen diese letzteren eben nur geeignet flir
ein Volk, bei welchem noch primitive Culturzustände herrschen.
Gerade die geringe Ausbildung dieses Gewerbszweiges characteri-
sirt die wirtschaftlichen Zustände Turkestans besser, als manches
Andere und kann als Gradmesser seiner Culturentwickelung dienen.
Hauptsächlich sind es einheimische Kräfte, welche sich mit der Er¬
zeugung derartiger Eisengeräthschaften befassen und unter den
zahlreichen Namen aus Taschkent, Khodschent, Dsizak, Ura-Tepe,
Kurama, Wernoje und Ssamarkand, welche die letzte ät. Peters¬
burger Manufacturausstellung mit Eisengeräthschaften beschickt
hatten, begegnete man nur einem nichteinheimischem Namen, den'
des schon mehrgenannten Kuschakewitsch in Chodschent. Grössere
Schmieden und Schlossereien nach europäischen Begriffen scheinen
aber in Taschkent ausser bei den Militärverwaltungen nicht zu be¬
stehen'. Die russische Aralsec-Flotille unterhält z. B. eine solche zif ;
KasäHrisk; und fabricirt dieselbe auch bessere Handgeratnschafteri
für Schlosser und Zrmmerleute. Für die Anfertigung blanker Waffeii ,
(Säbel) giefbt es Werkstädten in Chodschent (Kuschakewitsch und
Asamat-Khodscha).
Gerätschaften aus Kupferblech als Kessel, Theebretter, Ssaino- !
wars, Theekannen, Leuchtet-, Waschschüsseln, Teller, Glocken.
Wasserpfeifen und Trommeln werden sowohl von Russeil als auch
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von Einheimischen namentlich in Taschkent, Chodschent, Ssamar-
kand u. a. Orten gefertigt. Die Erzeugnisse dieser letzteren sind
ziemlich originell ünd tragen meist orientalische Formen, doch stehen
sie den kaukasischen Arbeiten dieser Art bedeutend nach. Auch an
Arbeitern für Gold- und Silberschmuck fehlt es in Taschkent, Chod¬
schent, Dizak, Ssamarkand und Buchara nicht. Wir begegneten
auf den beiden Ausstellungen zu St. Petersburg und Moskau ver¬
schiedenen Arten Kopf- und Halsschmuck für Frauen, Armbänder,
Ringe, Ohren- und Nasens<Jimuck, Gürtel, goldenen Berloks und
dergl., die eine sorgfältigere Arbeit bekundeten und im Geschmaeke
jener Gegenden gearbeitet waren. Auch die turkestanschen Frauen,
gleichviel welcher Nationalität sie angehören, ob Nomaden oder
Ansässige lieben den Goldschmuck und tragen ihn, wo sich ihnen nur
Gelegenheit dazu bietet. Diesem Umstande ist es wohl zuzu¬
schreiben, dass sich dieser Industriezweig mehr entwickelt hat,
wie mancher andere.
Musikalischen Instrumenten begegnen wir in verschiedenen Formen
und in ziemlich reicher Auswahl: Trommeln, Becken, Schalmeien,
Geigen, Flöten, Trompeten, Zittern etc. etc. Viele tragen unüber¬
setzbare Namen. Sie sind sämmtlich höchst einfach und dem Cha-
racter des Landes, dem sie entstammen, entsprechend.
Gehen wir zu jenen Industriezweigen über, welche sich mit der
Herstellung yon Lebensmitteln befassen, so ist zunächst der Mühlen¬
industrie zu gedenken. Auf der Moskauer Ausstellung fanden sich
einige Modelle von Mühlen und zwar von solchen, bei welchen das
Wasser, von oben herabfallend, das Rad treibt, und solchen, wo es
von unten durch die Macht der Strömung in Bewegung gesetzt
wird. Diese einheimischen Mühlen leisten nicht viel und liefern selbst-
* *
verständlich nur wenige Sorten Mehl. Neuerdings sind aber russische
Mühlen in einzelnen Gegenden, namentlich in den Gebieten der
Sieben-Flüsse und des Syr-Darja eingeführt worden, und wird sich
wohl deren Zahl rasch vergrössern. Oehlmii/ilen dagegen giebt es eine
grosse Anzahl, namentlich in der Umgegend von Taschkent, wo
mar> deren über 100 zählt; sie leisten aber ausserordentlich wenig,
indem sie täglich nur einige Pfund Oel pressen. In Taschkent selbst
besitzt ein Herr J/J- Krause eine Oehlmühle von grösserer Leistungs¬
fähigkeit, welche täglich 20 Pud Oel liefert, und bei dieser Leistung
nur 3 Arbeiter beschäftigt. Auf dieser Mühle wird Oel aus Nüssen,
Moos, Sesam, Sonnenblumen, Lein, Kapern {?) und Rübsen ge¬
schlagen ; im Gebiete der Sieben-Flüsse schlägt man aber auch
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solches noch aus Hanf- und Ärbusensaamen. Das Oel selbst wird
sowohl zum Brennen als zu Speisen benutzt.
Zum Schälen des Reises bedient man sich der Wasserstam^fen,
wie solche auch in den gewöhnlichen landesüblichen Mühlen zum
Schälen des Getreides angewendet werden.
Der Weinprodiiction wurde schon bei früherer Gelegenheit Erwäh-
nung gethan. Hier wollen wir nur noch anführen, dass es Taschkent
und Wernoja auch bereits zu Branntweinbrennereien gebracht haberi,
Wie denn auch die „Turkestansche Zeitung“ kürzlich meldete, dass der
Genuss des Branntweins in jenen Gebieten schon so grosse Dimen¬
sionen angenommen habe, dass die Branntweinaccise der Krone be¬
reits sehr bedeutende Erträgnisse abwerfe. Von Interesse ist, dass
der Kaufmann Perwuschin, der in Taschkent eine grössere Brennerei
besitzt, sich als Brenngut des inländischen Reises und der Wein¬
treber bedient.
Noch sind die Seifenfabrication und die Naphthagewinnung zu er¬
wähnen. Die Sarten bereiten ihre Seife aus Schaftalg und einem Al¬
kali, das sie aus einer Mischung von ungereinigter Soda und Kalk
herstellen. Diese ungereinigte Soda wird von dem in den unbe¬
wohnten Steppen wildwachsenden Grase Kyrk-Bugun gewonnen,
das iin Herbste gesammelt und in grossen Haufen verbrannt wird.
Die Asche wird dann später mit Wasser benetzt und getrocknet und
liefert diese Soda, welche nicht nur zum Seifenkochen, sondern auch
zur Gerberei, in der Töpferei und in den Färbereien benutzt wird.
In Wernoje unterhält HeVr Kortenew eine grössere, fabrikmässig
betriebene Seifensiederei.
Naphthaquellen finden sich zu MaYbulak und Maili (so heissen auch
die Quellen) unweit der Stadt Namangan im Khokandschen Chanat.
Obgleich bis jetzt die Naphthagewinnung eine noch sehr beschränkte
ist, so wird doch in dem Naphthaetablissement zu MaYbulak schon
Kerosin raffinirt, der zur Beleuchtung der Strassen in dem von den
Russen bewohnten Theile von Taschkent benutzt wird. In Maili, auf
der Fabrik des Kaufmanns Sacho, wird ebenfalls Kerosin gewonnen,
ausserdem aber noch das rohe Naphtha zur Fabricatiori von Asphalt
benutzt. Von Interesse ist, dass die Eingebornen die Bereitung von
Asphalt längst kannten, das Product aber nur als sogenanntes Schu¬
sterpech bei der Anfertigung von Stiefeln benutzten.
Hiermit glaube ich die Industrie- und überhaupt Productionsver-
hältnisse Turkestans so ausführlich, wie dies das mir zu Gebote ste¬
hende Material gestattet, besprochen zu haben. Es werden sich
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3 66
immer noch genug Lücken finden, und mancher Industriezweig mag
an Ort und Stelle einer anderen Beurtheilung unterzogen werden,
als cHes aus der Ferne und auf Grundlage blosser Muster geschehen
konnte. Meine Aufgabe ging auch nur dahin, das Material zusammen¬
zustellen, welches die letzten Ausstellungen von St. Petersburg und
Moskau in dieser Beziehung boten.
Die Industrie Turkestans beruht auf Handarbeit, und zwar nach
Allem, was wir gesehen haben, auf einer sehr mangelhaftem Von
Fabrikindustrie kann, mit sehr wenig von mir auch berührten Ausnah¬
men, in jenen Gebieten nicht die Rede sein; auch kann es schwerlich
in der Absicht der russischen Regierung liegen, eine europäische
Fabrikindustrie dort cinzuführcn. Dagegen wird dieselbe alle Veran¬
lassung haben, die dort vorhandenen Keime des Geweihewesens zu
entwickeln und nach und nach einen Handwerkerstand ins Leben zu
rufen, der in den Städten der neuen Provinz stabilen Aufenthalt
nimmt, und dessen Erzeugnisse nicht nur den localenBedürfnissen ge¬
nügen, sondern auch nach und nach den Wunsch nach Neuerem und
Besserem Sei der dort einheimischen Bevölkerung wecken. Der rus¬
sische Handel wird dann das Seinige dazu beitragen, diese Bedürf¬
nisse zu steigern und sie auch weiter nach Osten verpflanzen. Wie
schon mehrfach erwähnt, wird die Hauptaufgabe Russlands darin zu
bestehen haben, stabile Verhältnisse zu schaffen und die dortigen
Einwohner damit zu befreunden. Das Nomadisiren muss, wenn nicht
beseitigt, doch mindestens eingeschränkt werden, da Nomaden¬
völker der Cultur nicht zugänglich sind. Jedenfalls wird eine solche
Beschränkung grosse Schwierigkeiten bieten, welche nur mit Geduld
und Wohlwollen von Seiten der russischen Behörden überwunden
werden können, allein sie ist eine Vorbedingung künftiger Erfolge
und. muss durchgeführt werden, wenn Russland seine Aufgabe, die
europäische Civilisation und Cultur nach Osten zu tragen, erfüllen
und dann dem russischen Handel der Weg nach Centralasien geöffnet
und auf die Dauer erhalten werden soll.
F. MathäI.
(Schluss folgt.) '
m
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Das russische Telegraphenwesen im Jahre 1870.
Dem vor Kurzem erschienenen Bericht über das Telegraphen¬
wesen im Jahre 1870 entnehmen wir nachstehende Daten über
diesen wichtigen Zweig des öffentlichen Verkehrswesens. .Einige
summarisch^ Notizen über diesen Gegenstand für den Zeitraum von
1856 bis 1870 schicken wir einleitungsweise unseret Darstellung
voraus.
I.
Die Errichtung electro-magnetischer Telegraphen in Russland be¬
gann im Jahre 1853, Die ersten Linien waren die von St. Peters¬
burg nach Moskau, Kronstadt, Warschau und Königsberg. Mk
Errichtung der letzteren Linie begannen die internationalen tele¬
graphischen Beziehungen Russlands zu den übrigen europäischen
Staaten..
Es muss hervorgehoben werden, dass die Herstellung eines Tele :
graphennetzes in Russland unvergleichlich mehr Schwierigkeiten
darbietet, als im Auslande, wegen der grossen Entfernungen, der
minder günstigen klimatischen und localen Verhältnisse, der geringen
Dichtigkeit der Bevölkerung mancher Gouvernements und der Kost¬
spieligkeit des Transports der erforderlichen Materialien.
Seit 1856 sind in Russland alljährlich im Durchschnitt 2939,5»
Werst Telegraphcnlinien und 5638,33 Werst 7 elegraphendrähte ge¬
legt worden. Den stärksten Fortschritt hat in dieser Hinsicht das
Jahr 1864 aufzuweisen, währenddessen das russische Telegraphen¬
netz sich um 5550 Werst Linie und 11,523 Werst Draht vergrösserte.
Das Jahr 1865 hingegen ergiebt die Minimalziffer in Betreff des Zu¬
wachses der Linien (1612 Werst) und das Jahr 1867 — die der Aus¬
dehnung des Drahtnetzes (1061 Werst).
In umstehender Tabelle bieten w r ir dem Leser eine Zusammen¬
stellung der auf den behandelten Gegenstand bezüglichen Ziffern,
wobei wir gleichfalls die Anzahl der im Laufe eines jeden Jahres ab¬
gefertigten Depeschen und die Summe der alljährlich erzielten Brutto-
Einnahmen hinzufugen.
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3 68
1
Telegraphen- !
Linien.
Werst.
Telegraphep-
Drahte.
Werst.
Anzahl der
Depeschen.
'
Einnahme.
Rubel.
1856
—
—
150,417
312,116
1857
7.325
10,144
170,210
427,637
1858
■9.329
12,148
205,515
473,757
1859
14.316
17,135
301,711.
676,603
1860
16,474
25,356
465,027
972,287
1861
19,532
32,330
627,061
1,240,664
1862
22,765
36,384
714,919
1,441,614
1863
26,352
45,867
816,983
1,624,594
1864
31,902
56,390
927,358
1,944,502
1865
33,514
61,750
1,044,37s
1,991,634
1866 i
34,748
67,019
1,416,351
2,223,699
1867
35,291
68,080
1,589,417
2,592,229
1868
37,436
71,368
2,028,949
2,853,904
1869
40,193
75,981
i 2;399,4IO
2,379,086
Die beförderten Depeschen zerfallen in folgende Categorien:
Inländische Depeschen:
Ausländische Depeschen :
bezahlte.
frfi beförderte.
ausgehend.
eingehend, j
| Transito-
1 Depeschen.
1860
303,008 j
60,109
' 50,330
51,580,
—
■ 1861
433,110
63,509
65,549
64,893
—
1862
512,685
j 62,642
70,903
68,689
—
1863
589,554
74,490
77,857
75,082
—
1864
677,911
81,895
84,514
73,038
—
1865
773,541
88,340
92,314 1
90,180
—
1866
1,034,593
122,711
128,978
129,069
—
1867
1,197,280
89,272
151,743
151,142
—
1868
1,567,807
106,1 IO
174,035
174,129
6,868
1869
1,875,391
1 123,051
1
195,930
197,049
| 7,989
Betrachtet man die Gesammtziffer der expedirten Telegramme, so
bemerkt man einen besonders starken Zuwachs der beförderten
Telegramme im Laufe des Jahres 1860, ein Umstand, auf welchen
die in dem Jahre erfolgte Tarif-Ermässigung nicht ohne Wirkung
geblieben sein wird. Eine fernere, besonders in die Augen sprin¬
gende Steigerung bemerken wir während der Jahre 1866 und 1868,
wo ebenfalls eine Herabsetzung' des Depeschenportos stattgefunden
hatte. — Die starke Zunahme in der Benutzung des Telegr^phemim
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369
Jahre 1869 mag ihre Erklärung in dem Aufschwünge des Handels,
in der Gründung der vielen Banken, sowie überhaupt in der
wachsenden Gewöhnung des Publicums, sich des Telegraphen zu
bedienen, ihre Erklärung finden.
In ziemlich gleichmässiger Weise mit der Zunahme der Anzahl
der expedirten Telegramme ist auch die Brutto-Einnahme der
Telegraphen-Verwaltung gewachsen. Namentlich ist aus den von
uns angeführten Zahlen ersichtlich, dass die Tarifermässi-
gungen eine für den Staat durchaus vorteilhafte Maassregel ge¬
wesen sind, da die Herabsetzung des Portos nicht nur einen ge¬
steigerten Depeschenverkehr, sondern auch eine erhebliche Mehr¬
einnahme des Staates zur Folge gehabt hat.
Der Einnahme gegenüber stellen sich die Ausgaben 'der Tele¬
graphen-Verwaltung in folgender Weise dar:
Au sg
ab eit.
Einnahme *
Herstellung
1 Besoldung
l
1
1
•r , 1 1 des
Telegraphen Per5on .
Diverse *)
Summa.
i
Brutto. | Reine.
kamen.
1
!
1
18S 7
175,762
322,955
498,717
427,637!— 71080
1858
339. 1 76
359-980
599,156
473,757,—125399
1859
616,311
556,688
1-172,999
676,6031—496396
1860
494-974
339.023
489-838
1,323,835
972,287—351548
1861
414,271
429.329
591,287
1,434,887
1,240,664,—194223
1862
322,434
532,562
735-509
1,590,505
1,441,614, — 148891
1863
706,717
666,250
830,875
2,203,842
1,624,594—579248
1864
685,950
768,053
906,183
2,360,186
1,944,502 -415648
1865
1,111,876
804,623
975-679
2,892,178
1,991,634—900544
1866
768,286
925-520
1,123,512
2,817,318
2,223,699—583619
1867
427,050
928,000
1,136,1092,491,159
2,592,2294-101070
1868
240,000
935,186
00
00
vo
5
KJ1
Ni
1
00
2,853,904+789623
1869
304,622
1,133,616
j 1, 02 7-737j 2 -465,97 5
3,379,086+913111
Von einem Reingewinn lässt sich im Grunde während des ganzen
inRede stehenden Zeitraums sprechen, da derselbe doch schon eigent¬
lich in dem Falle als erzielt zu betrachten ist, wenn nach Abzug der
Betriebskosten (Besoldung des Personals, Unterhalt- und Remonte-
Miethe, Heitzung und Beleuchtung der Stationen, Erhaltung der Batterien und
Apparate und Remontekosten. f
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kosten) aus der Summe der Brutto-Einnahme sich ein Ueberschuss
ergiebt. Jedenfalls ist das Resultat der drei letzten in unserer Tabelle
angeführten Jahre als ein durchaus erfreuliches anzusehen; es ist das
um so mehr, als bei jeder weitern Ausbreitung unseres Telegraphen¬
netzes Linien geschaffen werden, die höchst wahrscheinlich unrenta¬
bel sind und die gesammte Reineinnahme der Telegraphen-Admini¬
stration schmälern.
Schliesslich sei uns noch gestattet, einige Angaben über die
Zahl der existirenden Telegraphen-Stationen, der in denselben
arbeitenden Apparate, sowie über die Zahl der bei dem Telegraphen-
wesen beschäftigten Beamten zu bieten.
Stationen
System Morse.
Apparate ,
SystemHughes
Andere
Systeme.
Beamte
1856
33
—
—
_
786-
'1857
79
—
—
—
872
1858
90
—
—
i,i 55
1859
118
—
—
—
1,429
1860
160
326
—
—
1,690
1861
175
531
—
—
' 1,985
1862
217
567
—
—
2,461
1863
362
589
—
— -
1 2,651
1864
399
735
— •
—
2,933
1865
449
786
4
2
i 3.240
1866
463
831
6
2
3 . 3*7
1867
524 .
890
14
2
3,240
1868
566
942
14
2
3.453
1869
649
952
27
! —
, 3,728
II.
Am i. Januar 1870 besass das Russische Reich
40, 193 V 4 Werst Telegraphenhnten
75,981 Werst Telegraphendrahte,
649 Telegraphenstationen,
von denen 445 Stationen des Staatstelegraphen und 204 Eisenbahn¬
stationen, welche Privattelegramme beförderten.
Im Laufe des Jahres 1870 ist eine weitere Ausbreitung des Tele¬
graphennetzes erfolgt, sowohl durch Anlegung neuer Linien als
durch Einrichtung neuer Drähte auf denjenigen bereits existirenden
Linien, bei welchen eine steigende Nachfrage nach Beförderung sei-
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37i
tens des fublicums die Vermehrung der Leitungsdrähte nothwen-
dig gemacht hatte.
So sind 14 eindrähtige Linien mit einer Gesammtlänge von 1 17 ö 3 /4
Werst * **) ) hergestellt worden und eine zweidrälitige Linie — 3141 1 /a
Werst lang. Bei vier bestehenden Linien ist ein Draht hin2ugefiigt
worden (1268 Werst). Endlich sind von der Regierung längs sieben
Eisenbahnlinien Telegraphen gelegt worden, deren Länge 1833 m
Werst erreicht; die Drähte haben eine Ausdehnung vbn 4138 Werst.
Aufgehoben wurden im Laufe von 1870—4 Linien, 1075V4 Werst
lang mit einem Drahte von 199 77 * Werst.
Somit besass Russland am I. Januar 1871—50,705^4 Werst Tele¬
graphenlinien und 99,322 l /t Werst Telegraphendrähte, welche sich
folgendermaassen vertheilen *.
Telegraphen der Eisenbahngesellschaften
Telegraph der Indo-Europäischen Gesell-
Linie.
Draht.
44,094 V*
84,597 V*
3> 2 °4
7,641 7 *
3,407
7,083.
Zu den, Anfang 1870 bestehenden 445 Staatstelegraphenstationen
wurden im Laufe des Jahres 62 neue hinzugefügt und zwar
im Europäischen Russland . r
auf dem Kaukasus.
im Asiatischen Russland ...
;ü (Stadttelegraphenstationen)
22
4
17
3
16
in Moskau
Ferner wurden sechs Eisenbahntelegraphenstationen eröffnet. Auf¬
gehoben wurden sieben Stationen.
Am 1. Januar 1871 gab es somit 210 Eisenbahntelegraphen¬
stationen und 504 Staatstelegraphenstationen. Von letzteren nehmen
318 inländische und ausländische Depeschen an, 181 nur inländische,
fünf endlich nehmen überhaupt keine Telegramme an, sondern sind
blos Controlstationen.
*) Die Länge des Drahtes beträgt 1284 Werst. Der Unterschied zwischen der oben
angegebenen Ziffer ergiebt sich aus den Verbindungsdrähten, durch welche die neu
errichteten Linien mit den bestehenden vereint worden sind.
**) Diese Linie, welche ausschliesslich zur Beförderung der Auglo-Indischen Depe¬
schen dient, geht von der Station Alexandrowo über Warschau, Shitomir, Odessa. Ssim-
feropol, Kertsch. Ssuchum-Kale, Kutaiss und Tiflis, bis nach Dshulfa an der Persisch- 4
Russischen Grenze. Die Stationen dieser Linie nehmen russische Depeschen nicht direct f
vom Publicum, sondern von den Stationen des russischen Staatstelegraphen entgegen.
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37?
Auf den Stationen werdeh 1,170 Morse’sche und 41 Hughes’sche
Apparate benutzt.
Ausser auf den Telegraphenstationen können noch in 186 Post-
comptoiren Telegramme aufgegeben werden.
Das Telegraphen-Personal, welches, wie oben gezeigt, am I. Januar
1870 — 3728 Personen zählte, bestand am 1. Januar 1871 aus 4135,
von denen 344 Frauen.
Betrachten wir nun die Anzahl der im Laufe des Jahres 1870 ab-
gesandten und empfangenen Depeschen, so lässt sich, im Vergleich
mit dem vorhergehenden Jahre, für die innere Correspondenz eine
Steigerung von 12 pCt. und für die auswärtige eine solche von
15 pCt. constatiren. Nachstehende Tabelle giebt über diesen
Gegenstand den ausführlicheren Nachweis.
Inländische Correspondenz .
Abgesandte bezahlte Depeschen
„ frei beförderte „
Empfangene bezahlte „
„ frei beförderte „
Summa . !
Ausländische Correspondenz .
Abgesandte bezahlte Depeschen
,, frei beförderte „
Empfangene bezahlte „
,, frei beförderte „
Summa .
Durchgehende Depeschen . . .
Transitodepeschen ..
Im Ganzen . .
i 1869 1
'
1870 ; Zuwachs ira |
Jahre 1870 |
pCt.
1
1,875,391:2,085,575
210,184;
II
123,051'
146,737
' 23,686'
• 18
1,875,3912,085,575
210,184!
11
123,0511
146,737
23,868
18
3,996,8844,464,624
! 1
467,740
12
191,214
216,104
24,890
*3
4 , 7*6
5,414
698
*3
192,540
226,371
33,831
*7
4,509
5,104
595
11
392,279
452,993
60,014
15
2,073,268
2,643,694
570,426
27
7,989
31,016
23,027
329
6,471,120
7 > 592 , 3 2 7 |i, 121,209
Mit den fremden Staaten ist die Correspondenz gewachsen:
mit Oesterreich um 23 pCt;
„ Grossbritannien „ 20 ,,
„ Italien 26 „
„ Deutschland „ 9 „
wie die nachstehende Tabelle der ausgegangenen Telegramme der
internationalen Correspondenz für die Jahre 1869 und 1870 ergiebt.
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373
Depeschen
aufgegeben nach:
1870
*869
1870 gegen
wenigerj' mehr
1869
Procent
Europäische Staaten :
Baden .
>.637
1,390
—
247+17,7
Baiern . •..
1,513
1,363
—
150+10,7
Belgien.
6,257
5,632
—
625+11,1
Dänemark.
2,390
1,566
—
824 :+5 2.«
Frankreich.
20,830
24,893
4,063
—
—16
Griechenland.
637
418
2191 + 52 ,«
~ ... . London ....
Grossbritanmen
24,105
20,145
—
3 , 960 , + 19,7
andere Städte .
27,908
24,907
—
300if +20,1
Italien.
9,439
7,471
—
.1,968, +26,8
, , Corfu.. * .
Inseln
337
305
. —
32
+10,5
Malta.
356
205
—
151
+ 73 ,«
Luxemburg.
3
__
4 "
Montenegro.
u
1
—
_
*
+—
Niederlande . . . ..
7,038
6,212
826
+13,»
Norwegen, . . , ...
3,190
2,039
. ~
1 , 152 !+56,4
Norddeutscher Bund.
68,368
66,322
—
2,046
+ 9 > ;
Oesterreich., . , .
29,122
23,638
—
5,484' +23,8
Portugal...
213
225
12
—
-5
Römische Staaten.*
271
389
Il8
,-
^ 3 Q
Rumänien . ..
3,913
3,223,
—
690,+ 21,4
Serbien..
87
67
—
20 +29,8-
Schweiz.
3,585
3,005
—
58o.‘ +19,8
Schweden...
6,604
' 5,3971
„_ 1
1,207
+ 22,4
Spanien.
465
; 541
76
— 1— 14
Türkei (Europäische).
4,860
3,355
! —
1,505
+44,8
Würtemberg u. Hohenzollern
929
806:
1
1 ,
123
+ 15,s
Ausser-Europäische Staaten:
!
Asiatische Türkei •
■ 259
107
1
152
Aegypten . ..
. 158
120
—
38
+ 3 «,*
Algier'und Tunis.
19
14
5
+ 3 > 6
Amerika.
161
94
|
67
+ 7«,8
Indien.
28
19
1
9 + 47,4
Persien . . . . .
1,421
' 1,342
| —
79 + 5 ,»
Summa.
216,1041191,214
[24,890 13 pCt
Eine Abnahme derCarrespondenz ist also nur mitSpanien (i4pCt.),
Portugal (5 pCt.), Frankreich (16 pCt.) und Rom (30 pCt.) zu con-
statiren. Was die beiden letztgenannten Staaten anbetrifft, so er¬
klärt sich die Verminderung des Verkehrs mit Frankreich genügend
durch den Krieg von 1870, und mit Rorti — durch die Einverleibung
der, päpstlichen Staaten,
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374
Nicht ohne Interesse ist auch der Nachweis der Vertheilung der
Depeschen nach Monaten.,
Inländische
Depeschen
■ Ausländische
Depeschen
Summa
Januar.
173,243
i 13,240
185,483
Februar .
159.285
1 13,381
172,666
März -.
167,168
16,738
183,906.
April...
162,308
18,520
180,828
Mai.
186,334
21,941
208,275
Juni ..
184,119 1
22,825
206,944
Juli .
18 t,390
24,070
205,460
August.
18^,928 ;
, 19,961
205,889
September.
' 176,619
» 9,793
196,412.
October.
17 * 5,437 !
18,198
194,635
November ........
164,030
14,827
. »78,857
December..
169,714 !
12,610
182,324
Summa . .
2,089,575
216,104
2,301,679
Man sieht, dass die ausländischen Correspondenz einen bei Weitem
Constanteren Character aufweist, als die inländische. Vom März an
beginnt eine allmähliche Steigerung, die ihrenHöhepunct im Juli und
August erreicht; dann sinkt die Anzahl der Depeschen in steter Progres¬
sion bis zum Schluss des Jahres. Die grössereBewegung im I^aufe
der Sommermonate erklärt sich, sowohl durch den lebhafteren Ver¬
kehr, als auch durch die in dieser Jahreszeit häufigeren Reisen ins
Ausland. Die inländische Correspondenz ist, wie gesagt, bedeutend
grösseren Schwankungen unterworfejn: am stillsten ist 'der Februar,
am lebhaftesten sind die Sommermonate, namentlich der August.
In Bezug auf die Thätigkcit der einzelnen Stationen im Jahre 1870
stellt sich auf 14 Hauptlinien (welche mehr als 100,000 Depeschen
im Jahre befördern:) .
, - die Zahl der Depescheh . . , 3,730,027
auf den übrigen 490 v , 3,862,300
, * • Zusammen 7,593,327.
Von» den erstgenannten 14 Stationen hatten Depeschen 5
St. Petersburg L886,572 Rostow am Don . . ■*
Moskau. .;. . . . ;. 631,218
Warschau . . . f . 317,185
Odessa . .282,969
Charkow.255,724
- 227473
I£asan . . . ,, ( v ... 198,427^;
Libau , . . . ., . . ,.-.168,404
Shitomir. . . ... . . 166,733
Riga. T49 ,667
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J »
Nishnij-Nowgorod . . 115,602 Kijew. * . .
Tiflis 114,989 Ssaratow . .
Von den übrigen Stationen sind verzeichnet :
111,663
103,401
14
Stationen von
88000 bis 50000
27
,,
1,
50000 „
25000
64
»>
25000 „
IOOOO
92
1»
IOOOO „
5000
200 „
11
5000
1000
46
weniger wie iooo
so dass in ganz Russland im Durchschnitt jeder Apparat 6205 De¬
peschen beförderte. ,
Ucber die Wirksamkeit der Stadttelegraphen in St Petersburg und
Moskau geben folgende Daten Auskünfte:
Anzahl j Zahl aller
der 'gewechselten
Stationen^ Depeschen
I ' .~
Zahl der aus¬
gehenden
Depeschen
St. Petersburg. 1
Nikolajewsche Eisenbahn . . ,
1
• j
I !
1
42,280
39,890
Winterpalais.
I
8.143
4,186
Warschauer Eisenbahn .....
I
5.7 38
5/580
Anitschkow Palais ......
I
1,119
610
Stationen des Stadttelegrapheri
27
241,497
114,030
Summa . .
31
298,777'
1 163,796
- ; ’ * ■ | f
Moskau .
;
Nikolajewsche Eisenbahn . . ..
I
10,984
1 • 7,519 ,
Nishnii-Nowgoroder Eisenbahn
I
4-252. ,
1 3,016
Stationen des Stadttelegraphen
*9
82,464
1 32,356
' " ' * Summa . .
1 21
1 97.700
' 42 , 89 i '
^ 1 - ' ' ■ ■ < ■ *.
Das Budget des Telegraphendepartements weist für 1870, eine Brut*
toeinnahme von3,753,096 Rbl. auf, 374,oioRbl. mehr als im vorher¬
gehenden Jahre, wo dieselbe 3,379,086 Rbl. betrug. Die Ausgaben
beliefen sich auf 2,727,008 Rbl., gegen 2,465,975 Rbl. im Jahre 1*869,
somit eine Mehrausgabe von 261,033 Rbl. Auf Anlegung neuer Li¬
nien sind .1870—366,148 Rbl. verwandt worden. Die Reineinnahme^
des Jahres 1870 belauft sich auf 1,026,088 Rbl. tmd ubersteigt um
112,977 Rbl. die des vorhergehenden Jahres.
Vetgjleicht man die Summe der Reineinnahme piit der Za^l der
beförderten Telegramme, so ergiebt sich eine durchschnittliche Ein-
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376
Rahme Von i Rbl. 44 Kop. auf jede inländische Depesche und 1 Rbl.
«>5 Kop. auf jede ausländische. Die Bruttoeinnahme per Drähtwerst
hingegen beträgt 45 Rbl. 58 Kop., die Kosten derselben — 53 Rbl.
12 Kop. Die Reineinnahme per Drahtwerst beläuft sich somit auf
12 Rbl. 46 Kop.
Ein paar Worte noch, bevor wir schliessen, über die 1870 stattge¬
fundenen Reclamationen. Derselben wurden im Ganzen 390 wegen
Verstümmelung und nicht rechtzeitiger Besorgung geltend gemacht,
und zwar 92 in Betreff inländischer Und 298 in Betreff ausländischer
Depeschen. Aus der Zahl der Reclamationen wurden 245 begründet
befunden und den Reclamanten eine Totalsumme von 895 Rbl.
80 Kop. resfituirt.
Zur Bevölkerungsstatistik des
Europäischen Russlands.
Nachstehende Tabellen sind dem, im Laufe des verflossenen Jahres
erschienenen, Jahrbuch des statistischen CentralcomiteV) entnommen
und erheben blos den Anspruch, Einzelnes aus dem reichhaltigen
Inhalt desselben in einer etwas gedrängteren Form mitzutheilen.
Folgende Gesichtspuncte sollen es namentlich sein, auf die wir die
Aufmerksamkeit des Lesers zu lehken beabsichtigen; das Verhältniss
des Flächeninhaltes des Landes zu der Anzahl der Einwohner, (Dich-
tigkeitsgrad der Bevölkerung), das Verhältniss der ländlichen zu der
städtischen Population und endlich die Vertheilung der Einwohner nach
Ständen und nach religiösen Bekenntnissen. 1
' I. • 1 1 1 1
Das Europäische Russland (50 russische und io polnische Gouver¬
nements) besass gegen Schluss des Jahres 1867 eine Gesammtbeyöl-
keruqg von 69,36^,541 Seelen, die sich auf einem Flächenfaume
# ) C^THCTHHeckiii Bpe*ei«HHKT> Poccifickoft HMnepiu. BhinycKi* nepBbift TT (Statis¬
tisches Jahrbuch des russischen Reiches )
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377
von 4,816,157,3 QWerst oder 87,485,53 geographische □Meilen
vertheilte. Das ergiebt im Durchschnitt 16,« Seelen per pWerst oder
792 Seelen per □Meile.
Es ist aber mit solchen Durchschnittszahlen im Grunde nicht das Ge¬
ringste ausgedrückt; in Russland, in einem noch bei Weitem höheren:
Grade als in den übrigen europäischen Ländern, können Durchschnitts-
ziffern nur dazu dienen, die grellsten Gegensätze zu verdecken und •
durch einen farblosen Gesammtbegriff die interessantesten localen
Verschiedenheiten zu maskiren. Kein anderer europäischer Staat
besitzt in seinem Bereiche so enorme Abstufungen ini Grade der
Bevölkerungsdichtigkeit wie das russische Reich, welches in seinen
weiten Grenzen so unendliche ethnographische und klimatische Ver-
schiedenheiton aufzuweisen hat und so mannigfaltige Gegensätze in
Cultur, Sitte, Nationalität und Bildungsgrad seiner Bevölkerung offen¬
bart. Die günstigst bevölkerten Zonen Russlands lassen sich zu den!
mittelst gut angesiedelten Territorien Europas rechnenj die Theile
des Reiches hingegen, in denen die Bevölkerungsdichtigkeit ihr Mi-,
nimum erreicht, dürfen überhaupt nur mit den am allerdünnsten be-'
völkerten Gegenden der Erde verglichen werden. !
Verhältnissmässig am dichtesten bevölkert sind die zehp polnischen
Gouvernements: auf ein Territorium von 107,435,7 □Werst, oder
2,220,4 geographische □Meilen, finden wir dort eine Bevölkerung
von 5,765,607 Seelen; das ergiebt einen Durchschnitt v)on 53,1 Ein¬
wohner pro QWerst, oder 2,569 Einwohner pro □Melle. Die am
stärksten bevölkerten Gouvernements — Warschau und Kalisch —
haben sogar 3378 und 3048 Bewohner pro □Meile aufzuf^eisen. Von
den russischen Gouvernements sind es namentlich di^, ih denen die
Industrie einen höheren Grad der Verbreitung gefunden-hat und die,;
d eren günstige Bodenculturverhältnisse einer grösserer^ Menschen-*;
masse die Subsistenzmittel zu sichern im Stande ist, weldhe die dich¬
teste Bevölkerung besitzen; so namentlich, Moskau -- 2777 Ein¬
wohner pro □Meile, Kijew — 2316, Poltawa — 221 Kqrsk —
2103, Tula — 2054, Charkow — 1902. — Diese Thei e des russi-j
sehen Reiches sind im Ganzen günstiger angesiedelt als es sogar| ;
einige Länder Deutschlands (Mecklenburg-Schwerin und Strelitz) 1
sind. Sie übertreffen' ferner die Durchschnittszahl der Bevölkerung;
Schwedens, Norwegens, Dänemarks und Spaniens. % ".. !
, Folgende Tabelle giebt in absteigender Progression c en Dichfig-j
keitsgrad der Bevölkerung der russischen Gouvernements an:
25
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3 7 8
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379
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380
/
II.
Ein weitererGesichtspunct, den es nicht uninteressant ist herverzu-
heben, ist der des Verhältnisses der Bevölkerung des platten Landes
zu der der Städte, oder vielmehr der städtischen Ansiedelungen.
Hervorgehoben muss jedenfalls werden, dass sich dieses Verhältniss
eigentlich noch ungünstiger für die städtische Bevölkerung heraus¬
stellt, als es folgende Tabelle zeigt. Von den circa 1000 städtischen
Ansiedelungen, die officieil mit dieser Benennung bezeichnet werden,
kann ein nichtunbedeutender Theil in die Categorie der Dörfer gerech¬
net werden, sowohl in Hinsicht auf die geringeEinwohnerzahl,als auch
in Anbetracht der Lebens- und Beschäftigungsweise der Bevölkerung.
Viele Kreisstädte sind nichts mehr als grössere Dorfschaften, die
ihrer Zeit zu Städten erhoben wurden, um künstliche administrative
Centren zu bilden. Es lassen sich über ioo sogenannte Städte, auf-
zählep, die weniger als 1000Bewohner besitzen; etwa 150, derenEin-
wohnerzahl zwischen 1000 und 2000 Seelen schwankt; eine annä¬
hernd gleiche Anzahl, die nicht volle 300O Einwohner haben. Die
meisten Städte Russlands, etwa 230, haben von 5000 bis io,oqo
Bewohner. Städte mit mehr als 10,000 Einwohnern giebt es in Russ¬
land nur 140. Aus dieser Zahl besitzen nur 6 über 100,000 Ein¬
wohner, 3 — von 75 — 100,000; 5 — von 50 — 75,000; 6 von
40 — 50,000; 9 von 30 — 40,000 ; 22 — von 20 — 30,000 und
endlich 89 — von 10 — 20,000 Einwohner.
Ferner ist zur richtigen Beurtheilung des ia Rede stehenden Ge¬
genstandes noch zu bemerken, dass in den Städten, namentlich in
den grösseren, sich eine nicht geringe Anzahl flottanter Bevölke¬
rung aufhält, die entschieden in die Categorie der ländlichen zu
rechnen ist, da sie sich nicht dauernd in den Städten fixirt, sondern
sich nur zeitweilig dort aufhält, nie die vollkommene Fühlung mit
der ländlichen Heimath verliert und früh oder spät in dieselbe zu¬
rückkehrt. Ein nicht unbedeutender Theil der Bevölkerung St. Pe¬
tersburgs besteht namentlich aus derartigen Elementen. Diese beiden
Umstände dürfen bei Betrachtung der nachstehenden Tabelle nicht
aus dem Auge gelassen werden. *
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38i
Nummer
Gouvernements
u
*0 £
2
Auf jede städtische
Ansiedelung kommen
Bevölkerung
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[ tM eilen
QWerst
in den
Städten
auf d<
Land
m
e
I
Warschau ....
55
4,7
277,7
365,920
559,719
2
Kalisch.
52
183,7
>37,556
463,479
3
Piotrkow.
50
4 >*
205
180,161
455,312
4
Moskau.
l6
37.7
1,847
514,157
1,16462 7
5
Keletzk.
41
4 >*
202
89,821
380,479
6
Podolsk.
«7
44,6
2,174
128,797
1,817,964
7
Plotzk.
29
6,4
3*3
96,561
346,065
8
Ssuwalki.
28
7>7
378
103,944
407,226
9
Kijew.
12
7,1
3,732
232,674
1,911,602
IO
Ljublin * . , . .
60
4 ,»
246
158,071
501,412
II
Radom.
62
3,7
i ,745
123,539
375,313
12
Poltawa.
18
50,«
2,432
162,755
1,839,363
13
Lomsha.
30
6,9
334
106,856
349,573
14
Kursk.
18
49.*
2,389
125,739
1,741,120
15
Tula.
12
46,7
2,265
109,451
1,044,841
l6
Ssedletzk ....
43
5,6
28 6
116,120
388,486
l 7
Charkow.
17
5,6
2,813
2 I 479 2 4
1,466,562
18
Rjäsan.,
12
63,6
3,081
73 , 3 o 8
1,364,984
19
Orel.
12
70,«
3,420
179,664
1,407,349
20
Kaluga.
14
40
1,930
100.395
883,860
21
Woronesh ....
12
99,6
4,824
103,194
1,965,804
22
Tambow.
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88,8
4,466
152,335
1,903,443
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Pensa .
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103,380
1,094063
24
Tschernigow . .
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146,763
1,413,615
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Bessarabien . . .
10
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3,189
209,898
842,115
26
Kasan.
15
74,4
3,599
129,393
1,540,944
27
Jarosslaw ....
12
54
2,610
93-443
905,940
28
Kowno.
9
82,3
3,965
87,253
1,043,995
29
St. Petersburg. .
13
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2,987
638,486
522,444
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Wladimir ....
16
55,3
2,675
91,106
1,147,945
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Nishnij-Nowgor.
13
79 1
3,436
83,909
1,179,004
32
Grodno.
25
28,1
1,362
124,510
834,342
33
Ssimbirsk ....
9
98,6
4,830
70,198
1,122,312
34
Wilna
9
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4,148
108,458
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5,257
126,564
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15
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Kurland.
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532,884
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4,086
81,261
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282,993
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Archangelsk . . .
12
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54.379
33,776
242,003
m.
Aus der Gruppirung der Bevölkerung nach Ständen lassen sich
in gewisser Hinsicht ähnliche Schlüsse ziehen, wie aus der Betrach¬
tung des Verhältnisses von städtischer und ländlicher Population.
Trotzdem, dass durch die Aufhebung der Leibeigenschaft, so wie
überhaupt durch die in den letzten Decennien obwaltenden gesell¬
schaftlichen Strömungen, der Unterschied der Stände viel von seiner
früheren Schroffheit verloren hat, kann eine Untersuchung wie die
gegenwärtige doch noch immer von hohem Interesse sein.
Jene Tendenz kann es wohl mehr oder weniger bewirkt haben,
einzelne künstliche Standesunterschiede abzuschwächen, die z. B.
welche den erblichen vom persönlichen Adel scheidet, ferner die,
welche die verschiedenen Classen der städtischen Bevölkerungs¬
gruppen von einander trennt $ sie vermögen jedoch nicht — und
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38 3 •
werden noch lange nicht im Stande sein, es zu thun — jene, man
möchte sagen, natürlichen Unterscheidungen aufzuheben, die durch
die verschiedenartigen Beschäftigungsweisen der Bevölkerungs¬
gruppen gegeben sind. • Die Fluctuation, in die die russische Ge¬
sellschaft dadurch gerathen ist, dass die Gesetzgebung dem Uebef-
gang aus einem Stande in den arideren alle Freiheit giebt, äussert
ihren Einfluss doch nur auf einen verschwindend kleinen Theil der
Population; die Masse der Bevölkerung verbleibt noch in den
Grenzen jener gelockerten Verbände. Dass jene leisen Strömungen
und jene numerisch oft unbedeutend erscheinenden Uebergänge aus
einem Stande in den andern von hoher Bedeutung sind, geben wir
unbedingt zu; die Verfolgung und das Constatiren derselben bietet
dem Culturhistoriker ein schätzenswerthes Material. Uns jedoch
verbietet die Natur der gegenwärtigen Arbeit ein näheres Eingehen
auf die Bewegung der Ständegruppen der Bevölkerung, da wir*nur
im Auge haben, einen kurzen Ueberblick über den gegenwärtigen
Status der Population zu bieten. I
Diesem Zweck mag folgende Tabelle entsprechen, bei welcher,
wie auch bei der vorhergehenden, die Gouvemeriients in der
Reihenfolge der ersten unserer Tabellen geordnet sind, was ge¬
schieht, um die Vergleichung der verschiedenen in denselben
hervorgehobenen Gesichtspunkte zu erleichtern. 1
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26
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386
Drücken wir die soeben angeführten Gesammtziffen in Procent¬
sätzen aus, so ergeben sich folgende Resultate:
Bauern 80,8 pCt., Städtische Bevölkerungsclassen 9,», Militärischer
Stand 5,3, Leute, deren Standeszugehörigkeit nicht festgestellt ist
1,7, Geistlicher Stand 0,9, Erblicher Adel 0,8, Persönlicher (Dienst-)
Adel 0,4, Ausländer o,a pCt. der Gesammtbevölkerung.
Der Bauernstand ist im Grunde noch stärker vertreten als in der
Tabelle angegeben. Scheiden wir aus der Ziffer der militärischen Be-
völkerungs-Classen die circa 500,000 Mann, die in Friedenszeit im
Europäischen Russland sich bei den Fahnen befinden, so erhalten
wir etwa 3,200,000 Seelen, die dem Bauernstände hinzugefügt wer¬
den müssen, damit sich dessen wahre Stärke herausstellt. Nach
dieser Berechnung würde der Bauernstand etwas mehr als 85 pCt.
der Gesammtbevölkerung Russlands ausmachen.
Die in der Rubrik ,,städtische Gassen“ angeführte Bevölkerung
lässt sich in folgende Bestandteile zerlegen:
Erbliche Ehrenbürger 25,460. — Persönliche Ehrenbürger 19,764.
— Kaufleute 416,033. — Kleinbürger (M^maHe) 4,942,001., — Mit¬
glieder der städtischen Gilden 256,655.
Auf dem städtischen Gebiete, mehr noch als auf allen übrigen,
haben die Gassenunterschiede ihre frühere Bedeutung eingebüsst.
Die neue Städteordnung hat nicht mehr wie die frühere jene Glie¬
derung der Stadtbewohnerschaft zur Voraussetzung; dieselbe ent¬
behrt somit der gegenwärtigen Bedeutung und besitzt ein mehr
historisches Interesse. Dieser eng mit der Geschichte unserer
Städteentwickelung verwandte Stoff soll übrigens in nächster Zeit
an diesem Ort der Gegenstand einer eingehenden Abhandlung sein.
IV.
Zum Schluss lassen wir hier noch eine Tabelle über die Verkei¬
lung der Bevölkerung nach dem religiösen Bekenntnisse folgen.
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3 »7
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) Die unter dieser Rubrik in den polnischen Gouvernements aufgeführte Bevölkerung gehört der griechisch-unirten Confession an.
*) Die in den polnischen Gouvernements angegebenen Heiden sind Zigeuner.
Griechisch- Armeno- Römische Mqhame-
Gouvernements , 1 Sectirer Gregoria- Protestanten Juden Heiden Summa
Orthodoxe I ner Katholiken daner
388
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•) In den polnischen Provinzen Griechisch-unirte 220.260.
3*9 ..
In Procentsätze übertragen ergeben diese Gesammtbeträge fol¬
gendes Verhältnis:
Griechisch-Orthodoxe 76,7, Sectirer 1,3, Armeno-Gregorlaner O,os
Griechisch-Unirte 0,3, Römische Katholiken 10,4, Protestanten 3,60,
Juden 3,7, Mühamcdaner 3,5, Heiden 0,4 pCt.
Territorial vertheilen sich die Anhänger der genannten Bekennt¬
nisse in folgender Weise: die centralen Provinzen desReiches sind in
einer bei Weitem überwiegenden Weise von einer griechisch-ortho¬
doxen Bevölkerung angesiedelt; um dieselbe gruppiren sich die An¬
hänger der übrigen Confessionen und Religionen, und zwar die Prote¬
stanten in den nordwestlichen Baltischen Provinzen, die Katholiken
in den lithauischen, polnischen und südwestlichen Gouvernements. Die
muselmännischen Elemente haben ihren Hauptsitz im Osten, haupt¬
sächlich im Südosten des Reiches. Endlich finden wir den bei
Weitem stärksten Contingent der jüdischen Bevölkerung in den west¬
lichen und einigen südlichen Provinzen Russlands.
J. R. Aspelin’s archäologische Forschungen im süd¬
lichen Oesterbotten und im alten Biarmien.
Im Helsingforser „Morgonbladet“ (Das Morgenblatt) finden wir in
dcnNNr. 248 bis 250 (24 — 26. October 1872) einen aus Perm, vom
13. September d. J.datirten „Brief in die Heimath“ (Bref tillhemlandet)
des finnländischen Archäologen J. R. Aspelin. Die erwähnte Helsing¬
forser Zeitung hat diesen Brief aus der in finnischer Sprache erschei¬
nenden Monatsschrift „Kirjallinen Kuukauslehti“ (Literarisches
Monatsblatt) entlehnt. Herrn Aspelin s Thätigkeit auf dem Gebiete
antiquarischer Forschung war bis 1871 dem südlichen Oesterbotten
gewidmet. In dem eben genannten Jahre erschien in der finnischen
Zeitschrift „Suomi“ (II. Serie. Th. IX, S. 1 — 234) die Frucht seiner
in der erwähnten Gegend angestellten archäologischen Untersuchun¬
gen („Kokoilemia muinaistutkinon allala. I. Etelä-Pohjanmaalta“ —
„Archäologische Sammlungen. I. Aus dem südlichen Oesterbotten“.
Referent ist der finnischen Sprache unkundig, verdankt aber der
Güte des Herrn Verfassers, ausser persönlichen Mittheilungen, ein
in deutscher Sprache abgefasstes Resume dieser von 78 Zeichnungen
auf 22 Tafeln und einer Karte vom südlichen Oesterbotten in den
Jahren 1550 — 60 begleiteten ausführlichen Abhandlung. Letztere
enthält die Zusammenstellung und Untersuchung des archäologi-
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scheji Materials, welches in älterer Zeit, seit 1674, durch Sorge der
Regierung und älterer Forscher und in jüngster Zeit durch den Ver¬
fasser selbt gesammelt worden ist. In den Jahren 1868 und 1869 führte
der letztere zwei Forschungsreisen im südlichen Oesterbotten, bis
Neu-Carleby im Norden, aus.
Hier müssen wir uns begnügen, den Inhalt der Arbeit des Herrn
Aspelin in wenigen Worten anzudeuten. Bei dem allgemeinen Inte¬
resse, welches in unserer Zeit das sogenannte „vorhistorische“ Alter¬
thum findet, glauben wir den Lesern der „Russischen Revue“ eine,
wenn auch nur kurze Mittheilung über Herrn Aspelins Forschungen
nicht vorenthalten zu können. Die Ueberreste des Steinalters sind,
nach dem Verfasser, in der erwähnten Landschaft ziemlich zahlreich.
Es werden von ihm nicht weniger als 272 hier gefundene Steingeräth-
schaften beschrieben, von denen allein 213 von ihm selbst aufge¬
funden sind., Doch mit Recht weist er nicht Hie steinernen Gerät¬
schaften dem Steinalter Finnlands zu, so z. B. nicht die ovalen
Schleifsteine für Pfeile, w f elche in den dänischen Moosfunden und
den skandinavischen Gräbern des ältern Eisenalters zahlreich auf-
treten. Auch den durch 22 Fundstücke repräsentirten Steinhammcr
entschliesst er sich nicht, dem Steinalter bestimmt zuzuschreiben.
Noch weniger einige Hammeräxte und Senksteine. Spuren von Woh¬
nungen und Gräbern, die dem Steinalter angehören dürften, haben
sich im südlichen Oesterbotten nicht gefunden. Dagegen lassen
sich zwei Werkstätten steinerner Gerätschaften nachweisen. In
der einen tetr das verarbeitete Material Kieselschiefer, in’ddr ahsdein
Syenit, weicher im Lande zwar nicht anstehend, wqM aber in losen
Steinen auftritt. Las Material zu den schneidenden Stein^eräth-
schaften (Meissei, Messer) lieferten meist folgende Steinarten: Kiesel¬
schiefer, Lehmschiefer, Diorit; seltener: Talkschiefer, Chloritschiefer,
Sandstein, Kalkstein, Serpentin, Grünstein und Syenit. Für keulen¬
artige Gerätschaften wurden Porphyr, Glimmer und Gneis gewählt.
Aus Flint verfertigte Gerätschaften sind aus dem südlichen Oester¬
botten bisher nicht bekannt geworden, obgleich sie im nördlichen
Vorkommen. Der Feuerstein trit in Finnland in Knollen nicht
auf. Die seltenen Funde von aus dieser Steinart gefertigten Gerät¬
schaften scheinen den Beweis für einen, wenn auch geringen Ver¬
kehr zwischen Finnland und dem südlichen Skandinavien in vorhi¬
storischer Zeit zu geben.
Im Gegensätze zu den von Professor Grewingk in Dorpat („Das
Steinalter der Ostseeprovinzen 41 . 1865) untersuchten Verhältnissen be¬
steht die Mehrzahl der im südlichen Oesterbotten aufgefundenen
steinernen Gerätschaften aus schneidenden Werkzeugen. Von
Aexten hat man 71 Exemplare, von Gradmeissein 60, von Hohlmeis-
seln 40. Selten sind die Messer, noch viel seltener die Pfeilspitzen,
da sie aller Wahrscheinlichkeit nach aus Knochen angefertigt wur¬
den. Doch auch solche sind bisher nicht anfgefunden, worden, eben
so wie gar keine Fabricate aus Holz, welche dem Steinalter zuge¬
schrieben werden könnten. Obwohl verschiedene Formen von keu-
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Unförmigen Geräthschaften in der von Herrn Aspelin untersuchten
Landschaft aufgefunden sind, so ist hier doch die in den Ostsee¬
provinzen gewöhnliche Form der Streitäxte fast unbekannt. Häufiger
tritt sie an der Südküste Finnlands auf.
Die mit Thierköpfen verzierten steinernen Keulen, welche nach
des Verfassers Meinung von der bronzenen Cultur der permischen
Gegenden herzustammen scheinen, so wie auch die westeuropäi¬
schen Formen der Hämmer ausgenommen, scheint eine fast vollkom¬
mene Uebereinstimmung zwischen den Formen des Steinalters in
Olonez und denen des finnländischen Steinalters zu herrschen.
Die Bronzeperiode berührt der Verfasser auf wenigen Seiten (77
bis 79), da nur zwei Funde (siehe H . J. Holmbettfs Förteckning och
Afbildningar af Finska Fornlenmingar. im IX. Heft der von der finni¬
schen Gesellschaft der Wissenschaften herausgegebenen Sammlung
,,Bidräg tili Finlands Naturkännedom, Etnografi och Statistik. Hel-
singfors, 1863, 8°, 39 SS. mit XX Tafeln und 1 Karte) Spuren von
ihr aufweisen. Die Seltenheit der Funde, meint der Verfasser, sei
kein Grund; die Existenz der Bronzeperiode in Finnland zu leugnen,
denn man müsse in Betracht ziehen, dass daselbst die archäologi¬
sche Forschung bisher ziemlich lahm gelegen habe. Das Zeitalter
der Steinhämmer, welches in Skandinavien für den Uebergang vonder
Stein- zurBronzeperiode als bezeichnend vielleicht angesehen-werden
könne, sei im westlichen Finnland häufig vertreten und deute auf ei¬
nen nicht unbedeutenden Einfluss westlicher Cultur in der für den
Westen angenommenen Bronzezeit. Ausserdem komme dabei noch
ein Umstand in Betracht. In Finnland findet sich nämlich eine Art
von steinernen Grabhügeln, welche, so viel bisher bekannt, auf den
Alands-Inseln und längs der westlichen Küste des Festlandes von
Neu-Carleby bis Abo und östlich an der Südküste bis Helsingfors
beobachtet sind. Von diesen Hügeln, welche theils mit, theils ohne
steinerne Grabkisten Vorkommen, sind nur die im südlichen Oester-
botten auftretenden ihrem Inhalte nach untersucht und beschrieben;
doch ergab sich aus verchiedenen einzelnen Forschungen, dass die
Bestattungsart im südlichen Finnland dieselbe war wie in Oester¬
botten. Aehnliche Grabhügel fänden sich auch in Schweden ziemlich
häufig und erstreckten sich längs seiner östlichen Küste nördlich bis
Norrland und wiesen im südlichen Theile Funde auf, welche der Bronze¬
periode angehören, wogegen die Funde im nördlichen Theile der
Eisenperiode angehören. Während die im südlichen Oesterbotten
untersuchten Grabhügel als der älteren Eisenperiode angehörig zu
betrachten seien, habe man in der Provinz Nyland in einem auf einer
Anhöhe gelegenen Grabhügel, der mündlichen Mittheilungen zufolge
seiner Construction nach ganz zu den österbottischen stimme,
ein Bronzeschwert vorgefunden. •
Das ältere Eisenalter, welches durch die erwähnten Grabhügel,
soweit sie bisher untersucht worden sind, repräsentirt ist, scheint,
nach Herrn Aspelin’s Ansicht, eben so wie in Schweden , die Zeit
nach Christi Geburt bis um das Jahr 700 zu umfassen. Diese Grab-
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3?2
hügel bestehen aus Feldsteinen von konischer Form; ihr Durch¬
messer beträgt 7 — 19 Meter, ihre Höhe 0,5 — 2,8 Meter. Nach
ihrem Abtragen findet sich ihre Peripherie durch einen einfachen
oder doppelten Steinkreis angedeutet. (2 Abbildungen, Fig. 51 und
53, veranschaulichen ihre Form). Innerhalb dieses Kreises finden
sich die Knochenüberreste der verbrannten Leichen, entweder in
einer Steinkiste aufgehäuft, oder auch zerstreut, wie sie nach der
Verbrennung zurückblieben. Zuweilen finden sich mehrere Stein¬
kisten in einem Grabhügel, wie auch verschiedene Gruppen von
Knochenstücken Vorkommen, wenn die Steinkiste fehlt. Nicht selten
ist der Grabhügel um einen oft in der Erde festsitzenden Centralstein
aufgeworfen, welcher bisweilen mehrere Ellen aus dem Hügel her¬
vorragt. Gewöhnlich findet sich eine Knochenanhäufung am Fusse
dieses Mittelsteins, eine andere oder mehrere an der Peripherie des
Hügels. In der mit kleinen verbrannten Knochenstücken vermischten
Erde finden sich Werkzeuge aus Eisen, Schinucksachen aus Bronze,
zuweilen auch goldene und silberne, und Perlen verschiedener Art.
Fig. 39 (ein eiserner Celt), 41 und 42 (Schwerter), 59 und 62 (Fibeln),
so wie Fig. 58, 60, 6i, 63 — 66 bringen die Abbildungen von Ge¬
genständen, welche diese Art Gräber aufzuw.ejsen haben. Hält man #
die in früherer Zeit angeführten Funde von goldenen Ringen mit der
Auffindung zweier byzantinischen Solidi des Zeno (+491) und Pho-
kas (4.610) zusammen, so ist man, nach des Verfassers Meinung,
geneigt, die durch die beschriebenen Grabhügel vertretene Cultur-
periode für dieselbe zu halten, wie die durch ihren Goldreichthum
im Norden ausgezeichnete Solidi-Pcr\pde. Ein im historischen
Museum auf bewahrter Fund aus einer an solchen Grabhügeln reichen
Gegend des südlichen Oesterbottens (siehe Fig. 68 — 72) weist unter
seinen, übrigens meist fragmentarischen Gegenständen, Bruchstücke
einer Fibel von gothländischer Form (Fig. 70) auf, welche dem Ende
des älteren Eisenalters zugeschrieben wird. Während dieser Pe¬
riode, so wie auch während der von ihm angenommenen Bronze r
periode habe, nach des Verfassers Meinung, ein Theil der West-
und Südküste Finnlands, wahrscheinlich eine gothische Bevölkerung
gehabt, eine Annahme, welche auch durch die Skandinavischen
Sagen, welche von einem Verkehr zwischen Schweden und Finnland
in vorhistorischer Zeit berichten, unterstützt werde. Da aber diese
Urkundep das Land ,,Finnland^' nennen, so wäre für jene Zeit eine
lappische Bevölkerung im Innern des Landes anzunehmen, denn
,,Finn“ ist der ursprüngliche germanische Name für „Lappe“. Die
heutigen Bewohner Finnlands, welche den Lappen ihren gegen¬
wärtigen Namen gegeben und mit dem Lande auch ihren Namen
geerbt haben , werden in den ältesten Urkunden, je nach den ver¬
schiedenen Volksstämmen Quaner, Samer, Tawaster und Karelier
genannt. Die von den Lappen im Innern des Landes zurückgelas-
senert festen Wohnsitze sind noch wenig untersucht. Gewöhnlich
bestehen sie aus länglichen Vertiefungen in der Erde und recht¬
winkligen Steinsetzungen mit einem Feuerheerd in der Mitte. In
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diesen Grabhügeln hat man bisweilen eiserne Hacken angetroffen.
Das jüngere Eisenalter, mit dem achten Jahrhundert beginnend,
hat zu seinen Repräsentanten die gegenwärtige Bevölkerung, die
nach des Verfassers Ansicht wahrscheinlich allmählich einwanderte
und die frühere Küstenbevölkerung gänzlich verdrängte (oder sich
assimilirte?), denn selbst in den Küstenlandschaften, wo Schweden
wohnen, auch im südlichen Oesterbotten, finden sich alterthümliche
finnische Ortsnamen. Die Festsetzung der Schweden an den Küsten »
hatte die Eroberung Finnlands durch diese Nation zur Folge.
Im jüngeren Eisenalter begruben die heidnischen Finnen ihre
Todten ohne Lcichenbrand in der Erde und, wenn man der Sage
trauen darf, in heiligen Hainen. Von Gräbern ist aus diesem Zeit¬
alter bisher nichts untersucht worden. Doch wird demselben ein ein¬
zelner Fund, bestehend aus Lanzenspitzen und einem Beil (abge¬
bildet F*ig. 43 — 47) vom Verfasser zugewiesen. Nach den Tradi¬
tionen fand die Einwanderung der finnischen Bevölkerung von Ta-
wastland aus statt.
Wie auf dem Gebiete der Sprachforschung die wissenschaftliche
Welt Finnlands ihre Untersuchungen nicht auf die Grenzen ihres
Vaterlandes aJlein beschränkt, sondern auch den entfernteren* ver¬
wandten Volksstämmen ihre besondere Aufmerksamkeit zugewendet
hat — wir erinnern nur an M. Castren und A . Ahlqiäst , welche ihre
linguistisch-ethnographischen Untersuchungen bis zum Ural und über
denselbenhinaus ausdehnten—, ebenso betrachtet man es gegenwärtig
in Finnland als.eine Forderung der Zeit, die antiquarischen For¬
schungen auf die entlegeneren Wohnsitze finnischer Volksstämme
auszudehnen. Mit einem solchen Aufträge ist zunächst Herr Aspelin
von der Finnischen Literärischen Gesellschaft betraut. Um sich zu
seiner antiquarischen Forschungsreise vorzubereiten, war er vom vori¬
gen Herbst an bis zum Mai dieses Jahres abwechselnd in St. Petersburg
und Moskau beschäftigt, mit dem in die ,,tschudische“ Alterthums¬
kunde einschlagenden Theil der russischen Literatur sich vertraut
zu machen, so wie auch die in den genannten Städten in öffentlichen
und privaten archäologischen Sammlungen vorhandenen, soge¬
nannten „tschudischen“ Alterthümer zu untersuchen. Im December
1871 hatte Referent das Vergnügen, den eifrigen jungen Gelehrten
auf dem zweiten in St. Petersburg abgehaltenen Congress russischer
Archäologen kennen zu lernen. Anfang Juni begab sich Herr As¬
pelin nach Kasan, um mit dem arhäologischen Cabinet der dortigen
Universität bekannt zu werden, so wie auch mit dem durch seine
linguistischen und archäologischen Forschungen in West Sibirien
bekannten Dr. W. Radlow in wissenschaftlichen Verkehr zu treten.
Wie wir aus dem Anfangs dieser Zeilen erwähnten Briefe des Herrn
Aspelin erfahren, begab er sich im August in das Wjatkasche Gou¬
vernement, zunächst nach Jelabuga (an der Kama). In der Nähe
dieser Stadt ist eine aus sehr alter Zeit herrührende heidnische Be-
gräbnissstätte, und zwar beim Dorfe Ananjino, am Kama-Ufer,
gelegen. Dieser altheidnische Begräbnissplatz ist der russischen wis-
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394
senschaftlichen Welt seit 1859 bekannt, wo die im Jahre 1858 leider
aber nicht von ganz kundiger Hand dort angestellte Ausgrabung im
,,Boten“ der Kaiserlich Russischen Geographischen Gesellschaft
(Bd.29) beschrieben wurde. Obgleich nur einen Tag gegraben worden
war, erwies sich die Ausbeute doch als eine sehr reiche, sowohl an
Menschen-Schädeln und Thierknochen, als Waffen, Utensilien und
Schmucksachen. Während die irdenen Gefässe aus groben Mate¬
rial roh geformt waren, bekundete sich am grössten Theil der Waffen
und Schmuckgegenstände, besonders an den aus Bronze angefer¬
tigten, eine nicht geringe technische Fertigkeit und ein ziemlich
entwickelter Geschmack. Gegenstände aus edlen Metallen (Gold
und Silber) fanden sich nicht vor. Der Bestattung war unzweifelhaft
Leichenbrand vorhergegangen. Es war nur in einem der grösseren
von zwei Hügeln gegraben worden; der kleinere, in jedem Frühjahr
von den Fluthen bespülte Hügel war im Jahr 1865, wo Referent den
Ort besuchte, zum Theil. noch erhalten. Es wurde auf der Stelle des
grösseren Hügels noch Nachlese gehalten, so wie auch ein Theil des
kleineren Hügels untersucht und aufgedeckt. Wegen der späten Jah¬
reszeit, in welche der Besuch des Referenten fiel, konnten von ihm
nur zweiTage der Ananjinoschen Begräbnisstätte gewidmet werden.
Bei den Bauern des Dorfes fanden sich ebenfalls noch niedrere aus
ihr herrührende Gegenstände vor. Herr Aspelin hat nun wieder von
Neuem Nachlese gehalten, theils bei einer von ihm angestellten Aus¬
grabung, theils bei den Bauern, die im Frühjahr, wenn die Fluthen
zurückgetreten sind, viele Gegenstände auf der Grabstätte finden.
So hatte auch ein Moskauer Gelehrter, der noch vor der im Jahre 1858
unternommenen Ausgrabung hier gefundene Gegenstände aus
Bronze und Eisen erhalten, im Jahre 1870 bei den Bauern von Anan- _
jino wieder mehrere Alterthümer erworben. Es wäre im höchsten
Grade wünschenswerth , dass Herr Aspelin, welcher sich dem Stu¬
dium der finnisch-ugrischen Archäologie speciell gewidmet hat, zum
nächsten Frühjahr die Mittel erhielte, die Grabstätte bei Ananjino
gründlich zu untersuchen. Der erwähnte Moskauer Gelehrte hat in
einer umständlichen Abhandlung, die im Anfang dieses Jahres in den
„Arbeiten des ersten Congresses russischer Archäologen in Moskau
im Jahre 1869“ und auch besonders, 38 SS. 4° mit 2 Tafeln Abbil¬
dungen erschienen ist, die bis 1870 bekannt gewordenen Funde aus
Ananjino beschrieben, so wie auch seine Ansicht über das Zeitalter,
welchem die Grabstätte angehören könnte, ausgesprochen. Er weist
sie dem Brdnzealter zu, wobei er uns etwas zu stärk n Rougemont ,
dem Verfasser des Buches: „Die Bronzezeit , oder die Semiten im
Occidenf^ influencirt scheint. Es sind zu viele Eisenwaffen in der Grab¬
stätte von Ananjino gefunden worden, als dass letztere dem Bronze¬
alter zugeschrieben werden könnte. Wenn im Nordosten Russlands
auch in vorhistorischer Zeit das Eisen lange unbekannt gewesen
sein mag, so kann man, wenigstens bei dem gegenwärtigen Stande
antiquarischer Forschung, hier noch nicht Stein- Bronze- und Eisen¬
alter unterscheiden. Diese Dreitheilung der vorhistorischen Zeit hat
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überhaupt etwass Missliches, auf welches Ländergebiet man sie auch
anwenden will; sehr bedenklich scheint sie uns aber, wenn man das
gleichzeitige Bestehen jedes dieser drei Zeitalter für mehrere Länder
oder ganze Welttheile annimmt.
Herr Aspelin begab sich von Jelabuga die Kama hinauf nach Perm
und dann nach Tscherdyn und dessen Umgebungen. Bei seiner
diesjährigen Reise hatte er, und gewiss mit Recht, nur eine Recö-
gnoscirurig seines künftigen Forschungsgebietes im Auge.- Er sammelte
Nachrichten über Funde von Alterthümern und berichtet in seinem
Briefe über einige höchst interessante Stücke, so über einen altrö¬
mischen Silberbecher. Bekanntlich enthält die hier in St. Petersburg,
im Besitze des Grafen Sergius Stroganow befindliche Sammlung
permischer Alterthümer mehrere Silbergefässe, welche auf den
permischen Gütern des Grafen gefunden sind und, nach ihren Formen
und Verzierungen zu urtheilen, auf dem Wege des Handelsver¬
kehrs aus den verschiedensten Weltgegenden an ihre Fundstellen
gelangt waren. Eben so bekannt sind die Münzfunde aus dem Gou¬
vernement Perm, welche bactrische, sassanidische, byzantinische
und kufischeMünzen aufwiesen. Auch bisher unbekannte und noch nicht
bestimmte asiatische Silbermünzen, die vorislamitisch zu sein scheinen,
hat der permische Boden, namentlich in der Nähe der Flüsse, gelie¬
fert. Endlich befinden sich von dort in unsern Sammlungen silberne
und bronzene Gegenstände , die bis über die Periode des Umlaufs
in Russland mit kufischer Schrift geprägten Geldes hinaus¬
reichen.
Herr Aspelin versucht in seinem Briefe in die Alterthumskunde
Permiens oder Biarmiens etwas Licht zu bringen und stellt Vermu¬
thungen über die Reihenfolge seiner Cultürbeziehungen zu andern
Ländern auf.
Da in der Grabstätte von Ananjino edleMetalle gar nicht vertreten,
und andererseits aus solchen gefertigte Gegenstände, die in die glän¬
zendsten^) Zeiten griechischer und römischerKunst hinaufreichten in
dem Gouvernement nachzuweisen seien, so, meint Herr Aspelin, müsse
jener Begräbnissplatz älter als die erwähnte Zeit sein. *) Eben so
werde durch den Umstand, dass die Formen der Pfeilspitzen, die
man an der Kama einführte, griechischer Form seien; angeefcutet,
dass der Handel hierher (d. h. zur Kama), vom schwarzen Meere aus
sich möglicher Weise längs der Wolga und Oka hinaufgezogen
habe, da man im Moskauer Gouvernement Alterthümer aus dem
Bronzealter dieser Gegend v der Kama-Gegertd?) angetroffen habe.
Was 9 die aus Eisen angefeftigten Gegenstände aus dem erwähnten
Begräbnissplatze betreffe, so seien sie nur Messer von der Form des
neuen Eisenalters *) und geschmiedet. Da das in der Sprache des
Biarmervolkes für Eisen vorkommende Wort kord aus dem Persi¬
schen (richtiger Iranischen) wo karta Messer bedeutet, entlehnt ist,
so könne man annehmen, dass-das Eisen in MeSserform durch Ver-
*) Auch Lanzen spitzen und Dolche aus Eisen sind dort gefunden.
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mittelung irgend eines iranischen Volkes noch vor der Völkerwan¬
derung, welche mongolische Volksstämme (Türken?) an die untere
Wolga führte, dem Biarmervolke auf dem friedlichen Wege des
Handels bekannt geworden-sei. Möglich wäre es, dass dieses irani¬
sche Volk die Skythen am Pontus gewesen, welche neulich von ei¬
nem deutschen Forscher (der Verfasser meint Müllenhof) als solches
nachgewiesen sind. Dies sei um so interessanter, als die in Rede
stehende Begräbniss-Stätte, in welcher eine Einwirkung des biar-
misch-sibirischen Bronzezeitalters auf alle Formen zu bemerken sei,
solche Schmucksachen aufweise, die als die wichtigsten Kennzeichen
finnischer Gräber im nördlichen Russland, von Perm bis zur Ostsee,
zu betrachten seien.
Ferner findet Herr Aspelin in dem Leichenfelde von Ananjino
den Beweis dafür, dass das Eisenalter des finnisch-ugrischen Volks*
Stammes, wenn auch nicht früher, so doch zu derselben Zeit wie dem
germanischen Volksstamme bekannt geworden sei. Das Hallstätter
Leichenfeld (in der Nähe von Ischl), nach seiner Ansicht die älteste
Begräbniss-Stätte aus .Deutschlands Eisenalter, habe wenigstens
gewisse Bronzespiesse geliefert, welche von derselben Form seien, wie
die von Ananjino. Gleichwohl böten, einige Geräthe aus der Grab¬
stätte von Ananjino, wie die Pfeilspitzen und die zapfenförmigen
Schleifsteine, andere Gründe für die Zeitbestimmung.
Herr Aspelin bedauert, dass er die, 3 — 4 Werst von Iljinsk an
der Tscholwa gelegene Grabstätte noch nicht habe untersuchen
können, da es für ihn von besonderem Interesse gewesen wäre, aus
eigener Anschauung mit der Bestattungsweise der Biarmier bekannt
zu werden, um so mehr, als die Bestattungsweise des finnisch-ugri¬
schen Volkes Verschiedenheiten, besonders im Eisenalter, aufweise.
Einstweilen müsse ersieh mit dem, was Andere gewonnen, begnügen.
Indessen hätte seine Reise vergangenen Sommer ihm doch mehr ge¬
boten, als er erwartet hätte. Als einen Hauptgewinn von derselben
betrachtet er den Umstand, dass ihm der Zusammenhang zwischen
dem Eisenalter der Biarmier und dem der westlichen Finnen klar
geworden sei, — ein Zusammenhang, den Graf A. Uwarow, der beste
Kenner des finnischen Forschungsgebietes, als er mit Herrfl Aspelin
sich über die Merjänengräber sich unterhalten, nicht habe finden
können. Dieser Zusammenhang beweise, meint Herr Aspelin, dass
das biarmische Eisenalter sich aus dem biarmisch-sibirischen Bron¬
zealter entwickelt habe. In Sibirien sei bis zum Jenissei im Osten
keine Spur eines Steinalters gefunden. Das Volk jenes Bronzealters
wäre mit der Kenntniss, Bronze zu bereiten und Kupfer zu schmel¬
zen, aufgetreten, und seine Sitze hätten sich über das weite Länder¬
gebiet zwischen Kama und Jenissei erstreckt. Mehrere Formen seines
Bronzealters bewiesen, dass es aus derselben Heimath ausgezogen
sei, wie seine Brüder im westlichen Europa. Die Uebereinstimmung
in der Form der Aexte, oder der sogenannten Celte könnte keine zufäl¬
lige;?) sein. Beider Bronzealter (des nordasiatischen und des westeuro¬
päischen?) Ursprung wäre auch wahrscheinlich aut das südwestliche
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Asien zurückzuführen. Gewisse am Jenissei gefundene, mit erhabe¬
nen bildlichen Darstellungen versehene Spiegel bewiesen, dass das
nach Sibirien geflohene Volk seinen Bedarf an Geräthschaften so¬
wohl aus China als aus dem südwestlichen Asien bezogen habe. Wie
lange aber das Bronzezeitalter dieses Volkes gewährt habe, sei nicht
möglich zu bestimmen, doch müsse bemerkt werden, dass die Zahl
der Gräber am Jenissei sehr gross sei.
Die östlichen, dem Finnischen verwandten Sprachen, fährt Herr
Aspelin fort, bewiesen, dass irgend wo ein iranisches Volk den öst¬
lichen finnisch-ugrischen Völkern Eisen in Form von Messern ver¬
schafft habe *). Da man bisher Exemplare solcher Messer fremder
Form blos in der Kama-Gegend gefunden, und zwar zusammen mit
Formen des Bronzealters, so schliesst er, dass das Eisen zuerst im
Biarmerlande bekannt geworden und von hier, aber meist in den
alten Formen des Bronzealters, seine Benutzung sich bis^zum Jenissei
verbreitet habe. Gleichzeitig wäre aber auch das Volk aus den Je¬
nissei-Gegenden verschwunden (?) und erst, längere Zeit später,
so scheine es, träten Culturformen ganz anderer Art auf — allem
Anscheine nach — kirgisische.
Herr Aspelin ist der Ansicht, dass die Forscher nur auf Grund
der Kenntniss' der archäologischen Verhältnisse der biarmischen
Gegend Schlüsse ziehen dürften in Betreff des friedlichen Ueber-
gangs vom Bronzealter zu dem geschichtlichen Eisenalter. Westlich
vom Ural kenne man, so viel ihm bekannt, keine ungemischten Grä¬
ber des Bronzealters, während solche Gräber östlich von diesem
Gebirge, zum Beispiel im Jekaterinenburgischen Kreise, anzutreffen
wären. Doch seien Funde von aus dem Bronzealter herstammenden
Gegenständen im europäischen Biarmerlande zahlreich gewesen.
Kaum dürfte daher die Frage gelöst werden, ob die Ansiedelung
der Kama-Gegend begonnen habe, äls das Volk sich Bronzewerk¬
zeuge aus dem Osten verschaffte, weil im Ural zahlreiche tschudische
Kupfergruben angetroffen werden.
Unter Biarmerland versteht Herr Aspelin, wieerzumSchlus.se
seines Briefes angiebt, bis auf Weiteres nur die Kamagegend als ei¬
nen Cultur-Mittelpunkt. Die Grenzen dieser Cultur zu bestimmen,
sei sehr schwer, da die ihr zugehörigen Funde, ausser jener Gegend,
über ein grosses Gebiet zerstreut seien, so im westlichen Sibirien, im
alten Bulgarenland, im westlichen Wjatka-Gouvemement, ander
Oka, Pinega und Petschora. Viele Gründe sprächen dafür, dass der
finnische Volksstamm vor seiner ersten Wanderung — eine Ansicht,
zu der Referent, wie Herr Aspelin bemerkt, auch neigt **) — die un-
*) Die westlichen Finnen haben für Eisen das Wort rauda, welches germanischen oder
slawischen (vergl. russ. pyda ) Ursprungs ist, — die östlichen das oben angeführte korä ,
welches iranischen Ursprungs ist.
* # ) Ich sprach mich gegen ihn dahin aus, dass bei den ostfinnischen Völkern mehrere
Metallnamen ausser dem Eisen, auch für Silber und Gold, welche von einem iranischen
Volke entlehnt seien, daraufhindeuteten, dass diese Ostfinnen an der untern Wolga
mit Iraniern in früher Zeit in Berührung gekommen freien
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tere Wolga und den Handel hier beherrscht habe. Erst im Eisenalter
sei der finnische Stamm ins westliche Biarmerland gewandert. Um
* dafür an eine Zeitbestimmung zu denken, sei das westliche archäolo¬
gische Material noch zu wenig untersucht, so z. B. in Livland, wo
neben Gegenständen, die der finnischen Cultur eigentümlich wären,
sich Formen fänden, die den germanischen Bogenspannern an-
‘gehören.
Bei seinen weiteren Forschungen, denen Herr Aspelin, wie aus
unserem Referat zu ersehen, die breiteste Grundlage gegeben,
wird er gewiss einzelne seiner Ansichten modificiren und in mancher
Hinsicht zu festeren Ueberzeugungen, als es bisher möglich war,
gelangen. Hypothesen sind auf allen Forschungsgebieten förderlich,
wenn man sie nur an jeder neuen Thatsache, auf die man stösst, von
Neuem prüft*
Wir freuen uns, dass die Studien, denen wir uns vor einigen Jahren
nur gelegentlich widmeten, einen so eifrigen und umsichtigen Ver¬
treter , wie Herr Aspelin es ist, gefunden haben. Es bleibt uns nur
zu wünschen übrig, dass er seinen Eifer für die Alterthumskunde
der finnisch-ugrischen Völker, ohne durch irgend welche Hindernisse
beengt zu werden, vollkommen zu genügen immer Gelegenheit habe.
Zunächst wünschen wir ihm, dass er zur gründlichen Untersuchung
des in antiquarischer Hinsicht so merkwürdigen Flussgebietes der
Kama bald die Möglichkeit finde. P. L.
Eieine Mittheilungen.
(Russlands Handelsverträge mit den Herrschern der
mittelasiatischen Chanate). Unter dieser Ueberschrift bringt
der „Regierungs-Anzeiger“ (Nr. 258) folgende Mittheilung: Von der
Zeit an, dass Russland zur Aufrechterhaltung der Ruhe und Ordnung
in den ihm schon lange unterworfenen Kirgisensteppen, welche uns von
den mittelasiatischen Ghanaten trennen, endlich zu kriegerischen
Maassregeln gegen seine Nachbarn gezwungen und in die Noth-
wendigkeit versetzt war, beträchliche territoriale Erwerbungen zu
machen, begannen verschiedene Organe der ausländischen Presse
uns Eroberungspläne zuzuschreiben, die gegen England gerichtet
sein und die Ruhe der britischen Herrschaft in Ostindien bedrohen
sollten. Derartige Ansichten wurden ungeachtet der wiederholten
offenen Erklärungen des Kaiserlichen Ministeriums und so beruhi¬
gender Aeusserungen seitens Englands von einem beträchtlichen
Theile des lesendenPublicums, sogar in Russland, gern aufgenommen.
Erst in der letzten Zeit hat sich, wie es scheint, mehr und mehr ein
richtiges Verständniss unserer Thätigkeit in Mittelasien und der dort
von uns verfolgten Ziele geltend gemacht, was zumTheil der Verbrei¬
tung richtigerer Mittheilungen über clie geographischen und ethno-
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399 .
graphischen Verhältnisse in unseren dortigen Grenzländern zu
danken ist.
Mit der Herstellung der gewünschten Ruhe und einer gewissen
bürgerlichen Ordnung in unseren Kirgisensteppen hat sich unser
Handel mit den mittelasiatischen Chanaten in Folge der relativen
Gefahrlosigkeit der Karawanenstrassen bedeutend gehoben. Bevor
wir Taschkent einnahmen, befand sich der Handel fast ausschliesslich
in den Händen der Bucharen und Khokander, d. h. Nicht-Russen,
die wegen unserer Manufacturerzeugnisse nach Russland kamen und
sich dabei nicht nur einer vollständigen Sicherheit ihrer Person und
ihres Eigenthums, sondern auch noch verschiedener Vorzüge
vor unseren Kaufleuten erfreuten. Unsere Kaufleute dagegen
wurden, wenn sie sich in die benachbarten Chanate begaben,
nicht nur von ihren Nebenbuhlern, den eingeborenen Kaufleuten
und Handeltreibenden, sondern auch hauptsächlich von den localen
Regierungen auf jedem Schritte bedrängt, welche letzteren von
ihnen das Doppelte des von dem Schariat für die Muselmänner
festgesetzten Zolles erhoben; abgesehen von den übrigen Be¬
drückungen und der vollständig zügellosen YVillkühr der Behand¬
lung, denen unsere Landsleute seitens der Zolleinnehmer und der
städtischen Behörden ausgesetzt waren. Es war eine absolute Noth-
wendigkeit, einen solchen Zustand der Dinge abzuändern , der so
unvörtheilhaft für unsere Handeltreibenden und zugleich mit der
Würde und der Macht Russlands unvereinbar war. Deshalb stellte
die Kaiserliche Regierung beider im Jahre 1867 erfolgten Begrün¬
dung des turkestanschen Gouvernements für unsere fernere Thä-
tigkeit in Mittelasien ein ganz bestimmtes Programm auf: In Hinsicht
auf die neueroberten Länder — Einführung einer geregelten Ver¬
waltung und Herstellung gesetzlicher Ordnung; in Hinsicht auf die
benachbarten Chanate — Anknüpfung freundschaftlicher diploma¬
tischer Beziehungen mit den Herrschern und Gleichberechtigung der
russischen Kaufleutc im Handelsverkehr mit diesen Chanaten.
Zur Ausführung dieses Programmes waren die unermüdlichen
Bemühungen des General-Adjutanten von Kaufmann dahin ge¬
richtet, eine Annäherung zwischen uns und den benachbarten
Herrschern und eine gewisse bürgerliche Gesetzmässigkeit in der
Thätigkeit ihrer Regierungen herbeizufuhren. Der erste, welcher
sich unserem moralischen Einfluss unterwarf, war der Chan von
Khokand, welcher als unser nächster Nachbar die Unmöglichkeit
eingesehen hatte, sich mit Russland in einen Kampf einzulassen und
welcher nach kurzen Unterhandlungen sich zur Annahme der ihm
für den freien Handelsverkehr vorgeschlagenen Bedingungen einver¬
standen erklärte. Am 13. Februar 1868 besiegelte Chudajar-Chan,
der Beherrscher vonKhokand, nach einigem durch die kriegerischen
Parteien in Khokand veranlassten Schwanken zum Zeichen seines
vollen Einverständnisses die beiden ihm zugesandten Exemplare der
gegenseitigen Verpflichtungen, von denen das eine Exemplar nach
Taschkent zurückgesandt wurde. Damit war der Grund zu unserer
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400
weiteren Annäherung an dieses Chanat und zu der Entwickelung
unseres dortigen Handels gelegt.
Der Wortlaut des oben genannten Documentes ist folgender:
Gegenseitige Verpflichtungen in Betreff des Handels
zwischen Russland und dem ChanatvonKhokand.
I. Alle Städte und Dörfer des Chanats Khokand stehen ohne Aus¬
nahme den russischen Kaufleuten offen, ebenso wie alle russischen
Märkte den Handeltreibenden aus Khokand zugänglich sind.
II. Den russischen Kaufleuten wird es freistehen, in den Städten
von Khokand, wo sie es wünschen, ihre Karawansereien zu haben, in
denen sie allein ihre Waaren aufspeichern können. Dasselbe Recht
gemessen die Kaufleute aus Khokand in russischen Städten.
III. Zur Beaufsichtigung des regelrechten Handelsverkehrs und
der gesetzmässigen Erhebung des Zolles wird den russischen Kauf¬
leuten das Recht zugestanden, in allen Städten des Chanats Kho¬
kand, wenn sie es wünschen, Handelsagenten (KapaBaHT>-6aiim) zu
haben. Die Kaufleute aus Khokand haben dasselbe Recht in den
Städten des turkestanschen Gebietes.
IV. Von allen Waaren, welche aus Russland nach Khokand, oder
von da in das europäische und asiatische Russland gehen, wird eben¬
soviel Zoll erhoben, wie in dem turkestanschen Gebiet d. i. 2 ] /s pCt.
von ihrem Werthe; in jedem Falle nicht mehr, als von den Musel¬
männern, die Unterthanen Khokands sind, erhoben wird.
. V. Die russischen Kaufleute haben mit ihren Karawanen freien
und sichern Durchzug durch das khokandsche Gebiet in die dasselbe
begrenzenden Länder, ebenso wie die Karawanen aus Khokand russi¬
sches Gebiet frei passiren können.
Diese Verpflichtungen sind bestätigt und am 29. Januar 1868 in
Taschkent unterschrieben und untersiegelt worden von dem General-
Gouverneur von Turkestan und Kommandirenden der Truppen des
turkestanschen Militärbezirks, General-Adjutanten von Kaufmann I.
Als Zeichen der Annahme dieser Verpflichtungen durch die Re¬
gierung von Khokand hat Seid-Muhamed-Chudajar-Chan dieselben
am 13. Februar 1868 in Khokand mit seinem Siegel versehen.
Es sind seitdem mehr als vier und ein halbes Jahr vergangen;
während dieser Zeit haben sich unsere freundschaftlichen Bezie¬
hungen nicht nur zu Chudajar-Chan, sondern auch zu der Bevöl¬
kerung von Khokand bedeutend befestigt, und sie haben diese, wie
es scheint, bereits dahin gebracht, dass sie unsere Nachbarschaft
und Freundschaft zu schätzen weiss und in ihnen seinen eigenen
Vortheil und seine eigene Sicherheit sieht.
Schwieriger war es, mit dem Emir von Buchara ein Einverständ¬
nis zu erzielen.
Als ihm zuerst die gegenseitigen Verpflichtungen zur Bestätigung
vorgelegt wurden, welche für unsere Kaufleute nur diejenigen Rechte
beanspruchten, deren sich die bucharischen Kaufleute schon längst
in Russland erfreuten, träumte er noch von Rache für die im Jahre
1866 erlittene Niederlage, und im Winter 1867/68, zu derselben
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Zeit, %l 9 in Taschkent in dieser Angelegenheit mit seinem Abge¬
sandten Unterhandlungen gepflogen wurden, bereitete er sich mit
aller Kraft vor zu einem neuen Kampfe mit Russland. Der für ihn
ungünstige Feldzug des Jahres 1868 brächte ihn soweit zur Vernunft,
dass er die neuen ihm gestellten Bedingungen, welche den von uns
mit Khokand abgeschlossenen Verpflichtungen ähnlich waren, aa-
nahm. Aber dieser Vertrag blieb eine Zeit lang ein todter Buch¬
stabe, bis der Emir durch so deutliche Beweise, wie die an ihn er-*
folgte Rückgabe von Karschi (im November 1868) und von Schah-
rissäbs (im August 1870) sich überzeugte, dass es unser wahrer
und aufrichtiger Wunsch sei, mit ihm in Freundschaft zu leben
und unsere Besitzungen nicht weiter auszudehnen. Gegenwärtig
ist in Bezug auf unsern Handel nyt der Bucharei in Wirksamkeit
folgender
Handels - Vertrag ,
vorgelegt Sr. Hoheit dem Emir von Buchara, Seid-Musafar, durch
den General-Adjutanten von Kaufmann.
I. Allen russischen Unterthanen, welchem Glaubensbekenntnisse
sie auch angehören mögen, steht das Recht zu, Handelsreisen nach
Buchara und je nach ihrem Wunsche in alle bucharische Städte zu
machen, ebenso, wie es bis zu dieser Zeit allen Unterthanen des
Emirs von Buchara frei stand ^ind auch in Zukunft frei stehen wird,
im ganzen russischen Reiche Handel zu treiben. .
II. Seine Hoheit der Emir verpflichtet sich, streng darauf zu achten,
dass die innerhalb der Grenzen seines Gebiets sich befindenden russi¬
schen Unterthanen mit ihren Kärawanen und überhaupt ihrem ge-
sammten Eigenthum unversehrt bleiben und keiner Gefahr aus¬
gesetzt sind.
Die nun folgenden §$ 3, 4, 5 und 6 dieses Vertrages entsprechen
genau den §$ 2, 3, 4 und 5 der mit Khokand Uebereinkunft.
Dann heisst es weiter: Dieser Vertrag wurde von dem General-
Gouverneur von Turkestan und Kommandirenden der Truppen im
turkestanschen Militärbezirk, General-Adjutanten Kaufmann L,
unterschrieben, untersiegelt und am 11. Mai aus Ssamarkand ab¬
gesandt.
Zum Zeichen der Annahme untersiegelte der Emir Seid-Musafar
dieses Uebereinkommen in Karschi am 18. Juni 1868.
NachdemderEmirdiesenHandelsvertrag bestätigt hatte, war er An¬
fangs nicht sonderlich bemüht, ihn auch in der Praxis durchzuführen
und von einigen unserer Kaufleute, welche bald nach Einstellung der
Feindseligkeiten mit ihren Karawanen nach Buchara kamen, wurde,
entgegen der Bestimmung von § 5, ein doppelt so hoher Zoll er¬
hoben, als von den Muselmännern. Die zu viel entnommene Abgabe
wurde jedoch auf Verlangen des General-Gouverneurs von Turke¬
stan, mit Berufung auf den abgeschlossenen Vertrag, in derFolge zu¬
rückerstattet.
Während die Unterhandlungen mit Khokand und Buchara geführt
wurden, versuchte man unsererseits auch, geregelte und freund-
27
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402
schaftliche Beziehungen mit Chiwa ins Leben zu rufen, aber alle un¬
sere Bemühungen und die wiederholten Versuche einer Annäherung
an dieses Chanat führten nicht zu dem gewünschten Ziele, und dienten
nur dazu, die wirkliche Stimmung der Regierung von Chiwa klar zu
legen. Wir verlangten weiter nichts, als die Befreiung russischer Un-
terthanen aus chiwascher Gefangenschaft und freien und sichern Zu¬
tritt für unsere Kaufleute in die Städte des Chanats. Aber
diese gerechten und mässigen Forderungen wurden bald mit Still¬
schweigen beantwortet, bald abschlägig beschieden und zugleich
mit den unsinnigsten Gegen-Forderungen begleitet. So kann aber die
Lage dieser Angelegenheit nicht bleiben, und um so weniger, als
die Ruhe und die Ordnung unserer Orenburgschen Steppe direct ab¬
hängig sind von unseren Beziehungen zu Chiwa. «
Es bleibt uns noch übrig, einige Worte über den Handels-Vertrag
zu sagen, welchen der General-Gouverneur von Turkestan im Juni
dieses Jahres mit dem Herrscher von Dshiti-Schar*) Jakub-Beg, abge¬
schlossen hat.
Bis zum Jahre 1865 gehörte Dshiti-Schar, d, hi das chinesische
Turkestan oder die Kaschgarschen Besitzungen, zum chinesischen
Reiche, und vom 2. November 1860 ab war diese Provinz Kraft des
Pekinger Vertrages unserem Handel geöffnet und war es uns gestattet,
in Kaschgar unsera eigenen Consulzu haben. Nachdem Jakub-Beg das
Land erobert hatte, konnte er von uns nur unter der Bedingung ge¬
duldet werden, dass er die Verpflichtungen übernahm, welche die
von ihm gestürzte Regierung gegen uns eingegangen war. Nicht
wenig Geduld und Mühe war nöthig, um nicht durch Waffenge¬
walt, sondern durch diplomatische Verhandlungen die Anerkennung
des Rechtes unserer Kaufleute zu erlangen, in allen Städten von
Dshiti-Schar frei Handel treiben zu dürfen. Im Juni dieses Jahres
nahm Jakub-Beg endlich die ihm durch den General-Gouverneur von
Turkestan vorgelegten, von diesem Unterzeichneten Vorschläge über
den freien Handelsverkehr an und versah dieselben zum Zeichen
seiner Zustimmung am 8. Juni mit seinem Siegel. Das Uebereinkom-
men selbst stimmt vollständig mit denen überein, die mit Buchära
und Khokand abgeschlossen sind.
Es ist einiger Grund vorhanden zu glauben, dass Jakub-Beg es mit
der Annahme dieses Vertrages aufrichtig gemeint hat und dass er
in allen Angelegenheiten, welche unsere Kaufleute (betreffen, danach
handeln wird. An einem seiner Nachbarn, dem Sultan von Kuldsha,
hat er gesehen* wohin Eigensinn und Hinterlist im Verkehre mit uns
führen. Bei einem ; andern, dem Chan von Khokand, hat er, wie er
selbst in seinem Briefe an den General-Adjutanten von Kaufmann
sagt, sich fest überzeugt, ,,dass er, nachdem er Frieden und Freund¬
schaft mit Russland geschlossen, weder Schaden noch Unterdrü¬
ckung erfahren habe, sondern dass im Gegentheildie kleinen Staaten
durch das mächtige Russland Ruhe erlangen. “
# ) Sieben-Städte.
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4ö3
(Baron A. W. Kaulbars* Reise nachOst-Turkestari im
Frühsonämer 1872). Im Anschluss an den vorstehenden Artikel
theilen wir nogh mit, dass in der gewöhnlichen Monatssitzung der
Kaiserlichen Geographischen Gesellschaft, welche am i. November
unter* dem Vorsitze des Vicepräsidenten Grafen Lütke stattfand und
welcher auch der zur Zeit hier weilende General-Gouverneur von
Turkestan, Generäl-Adjutant von Kaufmann, beiwohnte, der Führer
der an Jakub-Beg wegen des Abschlusses eines Handelsvertrages
abgesandten Expedition, Major Baron A. W. Kaulbars, einen Sehr
interessanten und äusserst lebendigen Vortrag hielt über seine Reise
nach Kaschgar. Seinem Reiseberichte schickte der Vortragende
einige Bemerkungen über die geographischen und ethnographischen
Verhältnisse dieses neuen central-asiatischen Reiches voraus. Dabei
erwähnte er der ihm seit 1868 vorangegangenen russischen Be¬
sucher dieses Landes, nämlich des Kaufmanns Chludow, das Kapi¬
täns P. /. Rernthal und eines Agenten des Handelshauses Njetft-
tsckinow . (Auch das Handelshaus Rusnezow schickte Karawanen,
abör unter der Leitung eines Tataren, nach Kaschgar, und zwar in
den Sdmmem 1869 und 1870). Bis zu diesem Frühjahr hatte Jakub-
Beg bekanntlich sich wenig geneigt gezeigt, mit den Vertretern
unserer Regierung iii Turkestan auf freundlichen Fuss sich zu setzen,
oder die Handelsbeziehungen der Einwohner russischen Gebietes
zu denen seines Landes zu begünstigeh uiid zu fördern. Daher
kam im Anfang April sein Brief an den General von Kaufmann, in
-welchem er dem Wünsche nach’ freundschaftlichen Beziehungen zu
Russland Ausdruck gab, ganz unerwartet. Um dieselben anzubähnCn
und durch einem Handelsvertrag zu befestigen, beschloss derGeneral-
Gouverneur, eine Gesandtschaft nach Kaschgar zu schicken. Mit
dieser Mission wurde, wie auch aus den Tagesblättern bekannt,
Baron Kaulbars betraut. Ihm würden beigegeben: Kapitän Scharn¬
horst, Ssotnik Kolokolzow, Unterlieutenant Starzew, N. J. Tschany-
schew; ferner Herr M. N. KolCssnikoW, dem General v. Kaufmann
auftryg, ausführliche Notizen über die Production und den Handel
des Siebenstädte-Gebietes zu sammeln, und Herr Paramonow, als Ver¬
treter der Kaufmannschaft von Taschkent Und der turkestanschen
Abtheilung der Gesellschaft zur Förderung der russischen indu¬
striellen und Handels-Interessen. Ausserdem war in Baron Kaulbars’
Gefolge noch der ehrwürdige Greis Jakub-bai, ein Einwohner von
Taschkent. ' *
Den 22. April (4. Mai) Verliess die Gesandtschaft Tokmak, am
nördlichen Abhange des Thian-schan gelegen. Die Gesellschaft
ging zum Naryn-Flusse getheilt auf zwei Verschiedenen Wegen.
Baron Kaulbars mit den Herren Scharnhorst und Kolokolzow schlugen
den westlichen Weg durch die Schlucht Buam ein, der Topograph
Starzew mit Tschanyschew, Kolessnibow, Paramonow und Jakub-bai
sich östlichen über den Schamsi-Pass. Am Naryn vereinigte man
den und War in Begleitung von 12 Kosaken am 9. Mai am Felsen
' 27*
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_ 40 *._ _
Tai'n-Tübe, beim Turagartu-Pass, 30 Werst südlich vom See Tscha-
tyr-Kul. Der Uebergang über den Tasch-Rabat war sehr b^schwier-
lich wegen der strengenKälte und des Unwetters, die hier herrschten.
Der über 11,000 Fuss über dem Meeresspiegel gelegene Tschatyr-
Kul war noch mit Eis bedeckt Hier, wo man Rast hielt, «wurden
vom Kapitän Scharnhorst astronomische und magnetische Beob¬
achtungen vorgenommen.
Am Fusse der nördlichen Ausläufer des den See von Süden um-
schliessenden Gebirges war man auf die erste Patrouille des Kasch-
garschen Grenzpikets gestossen. Sie ward von einem Pendscha-
baschi geführt und erwartete die Gesandtschaft.
Die Anwesenheit in Kaschgar dauerte einen Monat, bis zum 15.
(27.) Juni. Die Aufnahme von Seiten Jakub-Begs war eine sehr
gastfreundliche. Baron Kaulbars gelang es, für sich und seine Be¬
gleitung freie Bewegung# in Kaschgar und dessen Umgegend bei
Jakub-Beg zu erwirken, welcher russischen Reisenden und bekannt¬
lich auch den Engländern, die ihn besucht haben, gegenüber in die¬
ser Beziehung sehr ängstlich war. Anfangs weigerte er sich auch
dies Mal, seine Einwilligung zu den Spazierritten der Mitglieder der
Gesandtschaft zu geben, indem er vorgab, dass er Conflicte mit den
Einwohnern befurchte. Da aber Baron Kaulbars auf seinem Wunsche
bestand, so liess Jakub-Beg von seinem Weigern ab.
Die Gesandtschaft wohnte auch einem Manöver der in und um
Kaschgar stationirten Truppen bei. Jakub-Beg hat auch ein chinesi¬
sches Regiment, welches von Ma-dalai (d. i. Ma-da-lae oder M* der
grosse Herr) befehligt wird. Die Geschütze der Artillerie ruhten
auf englischen Lafetten. Die Officierc bei derselben sind Afghanen
und Hindu. Das Commando ist das englische, ln der Infanterie
werden kleine Geschütze (Tai für genannt) gebraucht, welche auf
den Schultern zweier Soldaten ruhen/ Der Hintermann wird beim
Abfeuern von einem dritten, welcher das Geschütz richtet, mit dem
linken Arm gestützt und ein vierter giebt Feuer.
Auch die Kasernen der chinesischen Truppen wurden besucht
(am 31. Mai), ebenso das Fort von Kaschgar. Nachdem der Tractat
von Jakub-Beg unterzeichnet war, hatte die Gesandtschaft am i^.Juni
die Abschiedsaudienz, bei welcher alle Mitglieder reich beschenkt
wurden. Baron Kaulbars erhielt zwei Pferde, die andern Herren ein
Pferd, ausserdem Jeder ein reiches Ehrenkleid, einen Ballen Teppiche
und einen Ballen Seidenstoffe., Die Kosaken erhielten auch
jeder ein Ehrenkleid. Am 15. (27.) Juni, als die Gesandtschaft auf-
hrach, erschien Jakub-Beg selbst, um ihr eine glückliche Reise zu
wünschen.
Auf der Rückreise wurde der vom Kapitän Reinthal im Jahre 1868
zurückgelegte Weg genommen.
Herr Kolessnikow T blieb noch zurück, um Jarkend zu besuchen.'
Die Einwilligung zu dieser Excursion gab Jakub-Beg sehr ungern;
er meinte sogar, der Reisende könpte Raubanfällen ausgesetzt sein.
Es wurde aber auf der £eise Kpkpsnikow’s von Seiten des Baron
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Kaulbars bestanden, und so wurde sie nun auch von Ersterem mit
vollem Glück ausgeführt. Herr Kolessnikow (er ist der erste russi¬
sche Besucher von Jarkend) kehrte dann über Khokand nach Tasch¬
kent zurück, wo die russische Gesandtschaft und ein Abgesandter
des Jakub-Beg im Anfang Juli bereits eingetroffen waren.
Herrn Kolessnikow’s Reisebericht wird demnächst auch veröffent¬
licht werden.
Der Vortrag des Herrn v. Kaulbars war reich geschmückt * mit
interessanten Streiflichtern über den Culturzustand des Landes. Es
sei uns gestattet, der Curiosität wegen, eins wiederzugeben. Die
Bewirthung, so erzählt Herr v. Kaulbars, war äusserst opulent. War
aber einmal eine Audienz bei Jakub-Beg nicht sehr freundlicher
Natur gewesen, so reducirte sich die Zahl der Gerichte sehr be¬
trächtlich, wogegen sie sich wieder auf ihr früheres Niveau hob,
wenn die Audienz einen angenehmen Character gehabt hatte.
Die günstigen Verhältnisse, unter welchen Baron Kaulbars und
seine Gefährten in Kaschgar verweilten, lassen hoffen, dass ihre aus¬
führlichen Berichte, sobald sie publicirt sein werden, über das öst¬
liche Turkestan, w elches in letzter Zeit die Aufmerksamkeit der
Männer der Wissenschaft und der Publicisten besonders fesselt, viel
Neues bringen werden. Jedenfalls kanH man behaupten, dass durch
die erfolgte Annäherung der Herrschers von Kaschgar an Russland
der wissenschaftlichen Beobachtung und dem Handelsverkehr ein
neues Gebiet geöffnet ist.
(Auszug aus den Sitzungsberichten der II. Section der Kaiserlichen
Akademie der Wissenschaften f für Russische Sprache und Literatur ]
während der Monate April bis Septe?nber 1872).
Akademiker J. J. Ssresnetvski verlas eine Abhandlung über die
alte Uebersetzung der Pandekten durch Nikon Tschernogorez, nach
drei Handschriften des XIL—XIV. Jahrhunderts: dem Jarosslawschen,
Synödal- und Tschudow-Codex. Nachdem er den Inhalt der Pan¬
dekten besprochen und Jeden der drei Codices beschrieben, wendet
der Verfasser seine Aufmerksamkeit der Sprache dieser Ueber-
setzung zu. Untet Anderem erweist sich, dass viele der in allen
drei Handschriften gebräuchlichen Wörter, sow ohl der Lautform als
der Bedeutung nach, russische sind. Auch, treten Wörter auf, die
im altrusstschen Volksleben eine Bedeutung hatten, wie z. B. das
Zählen der Werth« nach wewerizy ( Beeepnuu), wjechschy (B'fcxuibi)
und rjesanp (p'bsaHbf), der Entfernung nach Wersten (Bepcra) u.s*w.
Ein Auszug aus dieser Abhandlung soll als Beilage zum Sitzungs¬
bericht, die Abhandlung selbst in den „Nachrichten über ünbekannte
und Iwenig «bekannte Denkmäler“ (Cß'fczrfeHi* h aatfimut o nenmb-
cTÄ4lx'bH MeaoÄ8B^CTH«xi- naMnri'Hintaxi») veröffentlicht werden.
In der ersten Sitzung nach den Ferien gab Akademiker J. K. Grot
dem Gefühle der Trauer Ausdruck über den schmerzlichen Verlust,
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406
den die Classe durch den Tod ihres Mitgliedes, des Akademikers
P. P. Pekarskij , erlitten. In seinem 45. Jahre (am 12. (24,) Juli d. J.)
ward der unermüdliche Gelehrte genöthigt, seine, wenn auch junge,
doch nicht minder fruchtbare wissenschaftliche Thätigkeit zu be-
schliessen, nachdem er erst vor neun Jahren in die Akademie ge¬
treten war. Wie viele weit; angelegte Arbeiten bleiben jetzt unvoll¬
endet! Die zahlreichen Schriften des so früh Geschiedenen waren
vorzüglich der Geschichte der Bildung in Russland, besonders seit
den Zeiten Petersdes Grossen, gewidmete Nicht lange vor seinem
Hingange war von ihm die Herausgabe der vom Akademiker Ar-
ssenjew zur Geschichte desXVIlI. und XIX. Jahrhunderts gesammel¬
ten Materialien besorgt; worden, und der Tod ereilte ihn, wo ein um¬
fangreicher Band (der zweite) der Geschichte der Akademie fast im
Drucke vollendet ist» Herr Grot theilt der Classe mit, dass der
Druck dieses Bandes bald vollendet sein wird und dass nur der Index
zu ihm auszuarbeiten sei.
. Akademiker Ssresnewskij berichtet über eine unlängst erschienene,
sehr bemerkenswerthe Arbeit von A. N. Popow , welche den Titel
führt * „OnHcame pyKonnceft n KaTajion» KHUrtb nepKOBHOft neuaTK
ÖHÖJiioxeKH A. H. X^yflOBa“, d. i, Beschreibung der Handschriften
und der in Kirchenschrift gedruckten Bücher in der Bibliothek von
A. I. Chludpw. Mit Chludow’s Bibliothek ist auch die HancUchrif-
tensammlung von ; A I. JLobkow vereinigt, sowie auch diejenigen
Manuscripte, welche A. Hilferding aus der Bulgafei und UusiMace^
donien mitgebracht hatte. Das dieser reichen Privatbibliothek ge¬
widmete Werk Popow’s hat, nach dem Urtheile Ssresnewskij’s, eine
besondere Bedeutung, weil es als ein Handbuch beim Studium des süd¬
slawischen und russischen Schriftenthums dienen könne. Es bleibe
zu wünschen übrig, dass die Beschreibung der Handschriften durch
palaeographische Facsimile ergänzt werde. Herrn Ssresnewskij’s
Referat wird in den Sitzungsberichten gedruckt werden.
Akademiker A . Th. Bytschkow empfahl zum Druck die Ergän¬
zungen des Herrn Schein zum’ Wörterbuch 1 von W. /. Dahl, 'der in
diesem Herbst verstorben ist. Akadetniker Groi verlas der Classe
einen Nekrolog dieses ihres Corrfespondenten, mit Auszügen aus an
ihn gerichteten Brieferr desselben»' '
Der Classe wurde vörgeiegt der 8. Band der „Russischen Histori¬
schen Bibliographie* für das« Jähr 1862/ dessbn Druck ih r diesem
Sommer beendet ist. Es. Wurde beschlossen, beitn Fleribtti der Aca*-
demie 1 darauf anzuträgen^ daiss idem BibHothekarsgehüHen Ä. P\
Lsmbik) dessen Fleiss .di^ » wissenschaftliche Weit diese nützliche
Arbeit verdankt, auchVdie Ausarbeitung der Bibliographie für 'die
nächsten Jahre (1863 Überträgen Werde. « 1 ;!
Akadetniker SsresfiewsJ&j ''theilt aus einem Briefe PJ Av Iiawhrwa-
kij’s mit, dass* es Herrn Pawlowskij gelungen • sei, <' den für; 'verloren
gehaltenen Theil der Ssuprassl^schen« Handschrift (ans »dem »XI^ Jahr¬
hundert) aufzufiuden. / t j , t f , t r ;.r- f , v, , § r f {
’• 1 '" ’’ '* ‘ •. ' ■ 1 1 • (; i . i - * \K1 I . »i» -'lo ' I* )
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407
(Neue Specialkarte des Europäischen Russlands.) Von
dieser neuen, von der Kriegstopographischen Abtheilung des Kafeerl.
Generalstabs publicirten vortrefflichen Karte, die im Maassstabe von
I : 420,000 gezeichnet und auf 144 Blätter berechnet ist, sind bis
jetzt 64 Blatt erschienen. Dieselben umfassen die Gouvernements:
St. Petersburg, Ostseeprovinzen, Pleskau, Kowno, Wilna, Witebsk,
Grodno, Minsk, Mohilew, Ssniölensk, Wolhynien, Tschemigow,
Kursk, Orel, Wononesh, Tambow, Pensa, Kijew, Charkow, Kamenez-
Podolsk, Poltawa, Jekaterinosslaw, Chersson, das Täurische und
Bessarabische Gebiet und Theile der Gouvernements: Archangelsk,
Olonez, Kaluga, Rjäsar^, Ssimbirsk, Ssaratow, Ssamara, Astrachan
und des Gebietes der Donischen Kosaken, d. h. ungefähr die west¬
lich und südlich von Moskau gelegenen Theile des europäischen
Russlands, mit Ausschluss von Finnland, *und dann noch nördlich:
die Gouvernements Archangelsk und Olonez. Die Karte ist un¬
streitig eines der bedeutendsten Werke, welche seit langer Zeit auf
kartographischem Gebiete erschienen sind; sie Stützt sich, soweit
irgend möglich, auf specielles neuestes Original-Material, zeichnet
sich durch grosse Vollständigkeit und Genauigkeit äus und hält die
glückliche Mitte zwischen den unzureichenden Generalkarten und
topographischen Specialkarten. Die technische Ausführung lässt
nichts zu wünschen übrig und der Preis pro Blatt 50 Kop., mit colo-
irrten Grenzen 60Kop., ist mässig. Wir empfehlen diese neue Karte,
von der jedes Blatt einzeln zu haben ist, aufs Angelegentlichste.
Literaturbericht.
y(ulius) Iverstn. Medaillen, geprägt auf die Thaten Peter 7 s des Grossen. Festschrift,
• durchweiche zurFeierdes zweihundertjährigen Gedächtnisstages der Geburt Peter’s
des Grossen am 30. Mai 1872 um I Uhr einladet im Namen des Allerhöchst
▼erordneten Directorii der Schulen. der St. Petri-Kirche der Director der Schulen
Mag. H. Graff. St Petersburg 1872. XXVII -f 66** # SS. mit XII Tafeln and einer
Titel* Vignette. > ,
JO: UepctHö . Meaajm Ha A'haHi* HnnepaTOpa IleTpa BeJiutaro arb Bocnonmame Atjx-
coTOJi-feTis co ah* poacAema IIpeo6pa30BaTeJi* Poccim n3AaHHbia JOaiem» Haep-
I ceHowb. Co6* 1872. XXV + 63*« SS. 4 0 mit XU
-De^ Herr Verfasser, Lehrer der alten Sprachen an der hiesigen,
1762 gegründeten Deutschen Hauptschule zu St.> Petri und Mitglied
der archäolögischen Gesellschaften zu St. Petersburg und Odessa,
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408
sowie der Gesellschaft der Geschichts- und Alterthumsforschung
der Ostsee-Provinzen, widmet seit einer Reihe von Jahren mit viel
Liebe und Eifer seine Mussestunden dem Studium der russischen Nu¬
mismatik. Ai^sser einzelnen Aufsätzen (unter andern Beschreibungen
mehrerer Münzfunde aus dem westlichen Russland) in den Schriften
der hiesigen Kaiserlichen Archäologischen Gesellschaft, liegt uns
von ihm ein hier im Jahr 1870 *in deutscher Sprache veröffentlichter
,, Bei trag zur russischen Medaillenkunde. 160 bisher unedirte, Privat¬
personen ertheilte, Medaillen.“ (88 SS. 80 mit 1 Tafel) vor. In dem¬
selben Jahre veröffentlichte er in russischer Sprache die Beschreibung
der in ebengenannter Schrift aufgeführten, von der Kaiserin Katha¬
rina II. einigen Personen des Donischen Kosakenheeres verliehenen
Medaillen (26 SS. kl. Q. mit 1 Tafel).
Die gegenwärtig in russischer und deutscher Ausgabe uns vor¬
liegende Gelegenheits-Schrift ist in der Hoffnung verfasst, „dem
Kenner und Liebhaber manche Aufklärung zu geben, dem Sammler
aber die Möglichkeit zu liefern, Original von Copie mit grösserer
Bestimmtheit zu unterscheiden“ (Einl. S. III). Ohne den Anspruch
auf eine genügende Beantwortung zu erheben, behandelt der Ver¬
fasser in der Einleitung folgende fünf Fragen: 1. Welche Medaillen
der Zeit Peter des Grossen waren Belohnungsmedaillen? 2. Aus
welchem Metalle waren die Original-Medaillen derZeit? 3. WelchesMa-
terial bieten uns Miinzcabinette und Literatur? 4. Wer sind die Me¬
dailleure der Zeit und woher kommen die vielen Copien der Medaillen
auf die Thaten Peter des Grossen? 5. Wo finden sich die Originale
zu den beschriebenen Medaillen?
Die bedeutendste Sammlung russischer Medaillen in St. Petersburg
ist die der Kaiserlichen Eremitage, die in jüngster Zeit durch den
Ankauf der an seltenen Denkmünzen aus Petrinischer Zeit reichen
Schrot /'sehen Sammlung noch einen werthvollen Zuwachs er¬
halten hat.
Von seiner eigenen Sammlung sagt der Verfasser (S. VIII):
„Meine eigene Sammlung, die an Zahl der seltenen Gepräge ziem¬
lich reich ist, hätte nie zu bedeutender Vollständigkeit gelangen
können, wenn ich nicht, meinen Verhältnissen gemäss, auch Me¬
daillen in schlechtem Metalle aufgenommen hätte. Diese, von be¬
deutenden Sammlern, wie z. B. von dem Herrn Schroll, mit grösster
Verachtung übersehen, fiefen desto billiger in meine Hände und
brachten, neben manchen Gold- und Silberexemplaren, mir eine
Menge verschiedener .und seltener Gepräge zu“.
Auf S. 1 — 64 beschreibt der Verfasser 56, an Lebzeiten Peter
des Grossen, geprägte Medaillen, zum Theil nach Copien». Nr. 57
ist die auf den Tod Peter des Grossen geprägte Penkmünze. In
einem Anhänge ($. 64 -r- 66 der deutschen* S.63-T- 65 der rus§i-
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sehen Ausgabe) bespricht er sieben Medaillen, die zum Andenken
Peter des Grossen in späterer Zeit geschlagen sind. Beide Aus¬
gaben schliessen mit einem „Nachweis des zn den Abbildungen ge¬
hörigen Textes“ und dem „Inhaltsverzeichnis«“.
Bocto’ihwü CuopnBic-b. Tomt> I. Bbiuycicb nepBhiü. Cno. 1872. 8°.
Orientalische Sammlung Band I. Erste Lieferung. St. Petersburg. 202 SS. 8 °.
Während der Jahre 1852 — 1866 sind mit Allerhöchster Gcneh-
migung vom Asiatischen Departement des Ministeriums des Aeussern
vier Bände der „Arbeiten der Mitglieder der Russischen Geistlichen
Mission“ (Tpyau 'weHOBi> PocciftcKofi ÄyxoBHott MwcciH bt> Ilc-
kmh'Jj, in-8<>., Bd. I, 1852 — 489 SS.; Bd. II, 1853 — 491 SS.; Bd. III,
1857 — 473 SS. mit 2 Tafeln; Bd. 4 V, 1866 — 460 SS.) herausge¬
geben worden.
Die in der Ueberschrift genannte Sammlung ist gewissermaassen
eine erweiterte Fortsetzung der oben erwähnten „Arbeiten“, deren
drei erste Bände in Berlin, 1858, in deutscher Uebersetzung, in zwei »
Bänden, heausgegeben werden sollten, von denen aber nur der
erste Band uns bekannt ist. Ausser Abhandlungen von Mitgliedern
der Pekinger Mission, wird sie noch anderweitiges Material zur
Kenntniss von Asien, über welche das Asiatische Departement ver¬
fügt, bringen und ebenso von demselben herausgegeben werden. In
der gegenwärtigen ersten Lieferung finden wir die Arbeiten zweier
Mitglieder der Pekinger: Geistlichen Mission, des Archimandriten
Palladius und des Hieromonachen Jnvlampij. Der erste lieferte
(S. l — 64) eine Abhandlung über „die alten Spuren des Christen¬
thums in China, nach chinesischen Quellen“ und die Uebersetzung
aus dem Chinesischen einer alten chinesischen historischen Ueber-
lieferung von Tschingis-chan (S. 149 — 202), — der letztere: die
Uebersetzung der Memoiren eines Chinesen über Annam S. 67
bis 145).
Ehe wir über den Inhalt dieser drei Beiträge zur Geschichte und
Erdkunde von Ost-Asien berichten, halten wir es für angemessen,
einige Worte über den Inhalt des vierten Bandes der „Arbeiten der
Pekinger Russischen Geistlichen Mission“ zu sagen*
Voran steht in diesem Bande (S. 1 — 258) die Familiengeschichte
derjuen — (Mongolen Dynastie, übersetzt aus dem Chinesischen, ,
wo sie den Titel „Juen-tschao-mi-schi führt. Ursprünglich ist sie in
mongolischer Sprache abgefasst gewesen, denn, wie ein hiesiger
Orientalist bei Gelegenheit der Anzeige des IV. Bandes der „Ar¬
beiten“ sich ausdrückte, nur „ein echter Steppenbewohner, ein No¬
made vom Kopf bis zu Fuss, ein solcher nur konnte der Verfasser
dieseh Erzählung sein:, wer es aber <wai* y bleibt uns unbekannt“.
„Ueber die welterschüttemden Thaten Tschingis-chans wind hier in
demselben Tone berichtet, wie etwa über den durch das Vieh des
einem Nontactenstamines an den* Weiden eines andern angerichteten
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4io
Schadens. Vom Anfang bis zum Ende des Werkes herrscht eine epi¬
sche Ruhe, endlos wie die unabsehbare Weite der mittelasiatischen
Ebenen, ohne alles Pathos“. Die Abfassung dieser Schrift wird von
einem chinesischen Kritiker auf das Jahr 1240 verlegt, was auch nicht
zu bezweifeln ist. Ins Chinesische wurde sie zu Ende des XIV. Jahr¬
hunderts übersetzt. Sehr werthvoll sind die Anmerkungen des rus¬
sischen Uebersetzers. Dann folgt die Uebersetzung des „Tagebuches
der Reise Tschang- Tschuns in den Westen“, mit Beilagen und An¬
merkungen, ebenfalls von Palladius geliefert. Fast um dieselbe Zeit
(1867) erschien im Journal Asiatique die französische Ueber¬
setzung dieses für die Geschichte und Geographie Mittelasiens in der
ersten Hälfte des XIII. Jahrhunderts wichtigen Documentes. Die
Reise des Mönches von der Secte der Tao-sse ging von China über
Transoxiana bis an die Grenzen von Indien/ auch die Rückreise
wird beschrieben. Das von einem Begleiter des Tschang-Tschun
geführte Tagebuch ist meist sehr präcis, dass ein moderner Rei¬
sender in der Beschreibung selbst unbewohnte Localitäten leicht
wieder erkennt Auch hier sind die Anmerkungen des gelehrten
Sinologen ein kostbarer Schatz, wenn auch mitunter Irrthümer in der
näheren Bestimmung der Reiseroute des Mönches Vorkommen. Am
Schluss des Bandes, (S. 437 — 460) finden wir eine Arbeit des Va¬
ters Palladius: „Ueber denMuhammedanismus in China“. Noch ist der
dem zweiten Beitrage beigelegten chinesischen Karte von Dscha-
gatai, Kiptschak und Iran, die aus den Jahren 1329 —- 1331 stammt,
zu erwähnen. *
Der die Geschichte des Christenthums in China betreffende Auf¬
satz in der „Orientalischen Sammlung“ hatte in den „Arbeiten“ zu
Vorläufern zwei Aufsätze des verstorbenen Hieromonachen P. Zweet -
kow\ Ueber das Christenthum in China“ (Bd. III. S. 183 — 204),
wo Nachrichten über die Beziehungen Chinas zu Byzanz und über
die Einführung der christlichen Lehre in China aus chinesischen hi¬
storischen Schriften mitgetheilt werden, und,,Ueber das nestorianische
Denkmal des VII. Jahrhunderts“ (S. 205 — 212) aus derselben Fe¬
der. Gründlicher als sein Vorgänger behandelt diesen Gegenstand
Vater Palladius, obgleich er sich meist an die chinesischen Quellen
hält. Die nestorianische Inschrift von Ssi-an-fu (der einstmaligen
Residenz der Than~ Dynastie, welche im Jahre 781 nach Christi an¬
gefertigt wurde, ist von chinesischen Alterthumsforschern mehrfach
j herausgegeben und commentirt worden. Die Redaction des chine¬
sischen Theils ist, nach Palladius* Ansicht, von einem gelehrten Chi¬
nesen, der sehr belesen und mit dem monumentalen Styl vertraut
waf, gemacht. „Während die skeptischen Kritiker des Abendlandes
sich abmühten, die Fälschung dieser christlichen. Urkunde aus
China zu beweisen/ indem sie sie für ein Machwerk der Jesuiten
hielten, und die einheimischen Christen bei dem unerwarteten Funde
eines Zeugnisses für das hohe Alterthum der Einführung ihrer -Reli¬
gion.in t ihrem Vaterlande Jubelten; gingen die chinesischen Gelehrten
ohne , Jeden Zweifel an die Echtheit der Urkunde, weil sie ihnen
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4U
eine oft in China sich, wiederholende Thatsache war, an ein gewis¬
senhaftes Aufsehen in ihren Chroniken der Zeugnisse, welche dieses
neu entdeckte (es war nach Einigen in den Jahren 1573 — 1619, nach
Andern zwischen 1628 und 1643) Denkmal unterstützen könnten.
Die von ihnen angestellten Untersuchungen haben unleug£>ar das
Vorhandensein, des Christenthums zur Zeit der Than-Dynastie be¬
wiesen“ (S. 11 — 12). Neben Manichäern (Moni) und Mazdajag-
niern (Parsen, Chaen-sehen) werden auch Christen (' Da-tsin Byzan¬
tiner) in einem Denkmal, das aus der Zeit der erwähnten Dynastie
sich erhalten hat, genannt. Spätere unkritische chinesische
Schriftsteller haben die I'a-fsin (Christen) und Chilenischen (Parsen)
zusammengeworfen, andererseits haben chinesische Muhammedaner
die Benennung Moni für sich in Anspruch nehmen wollen, und darin
Imani (arabisch von Iman Glaube) wie sie ihre Religion nennen,
sehen wollen, um dadurch die zweifelhafte Existenz derselben zur
Zeit der Than-t)y nastie zu stützen, ln einer besondern Beilage stellt der
Verfasser die chinesischen Nachrichten über das Manichfierthum und
den Mazdaismus zusammen, festere sollen schon im VI. Jahrhundert in
China aufgetreten sein. Positive Nachrichten erwähnen ihrer un^er dem
Jahre 732. Im Jahr 768 wurde für die idgnrischen Moni ein Kloster
in der Hauptstadt erbaut. Die Benennung Chaen-sehen wurde, im Al-
terthume in China keiner bestimmten Religion beigelegt. Man kann
nur so viel behaupten, dass Ufsprtmglidh mit diesem Namen Gei¬
ster bezeichnet wurden, welche das gemeine Volk und Fremde ih
China verehrten (S.* 53 — 54); Später erst, als sich freie und häufige
Beziehungen Chinas zum Westen: festgestlellt hatten, gab man 1 diesen
Namen der Religion Zoroasters lind speciefl dem Geiste des Feuers.
In der Geschichte der Wei-Dynastie, welche in der ersten Hälfte des V.
Jahrhunderts gegründet wunde, geschieht zum ersten Mal dieser Re¬
ligion Erwähnung. Damals wurden auch Tempel zu f Ehren des
Gkaen+stken errichtet. Mit dem Aufkommen der Than-Dynastie Wer¬
dern die Nachrichten* über den Clfe^rw-Glauben zahlreicher. ! Der
Feueraltäre 1 der Guebern wird dann* unter’ * verschiedenen Benen¬
nungen erwähnt: Chu-chdentsd (der* Tempel des barbarischen Chaen),
Chaen^su (TomptI > zu Ehren des i Chaen), Bo-ssu^stü (Klöster der
Perser) und sogar Später geschieht der Guebem unter
deni Jahre 845 ErWähnmtg. ^ ^ ^
H* ■ r-l ur. • t* ■ ' • 1 . •: * . f» -u■ - .\ :* . 'I > ,
Die christliche Religion war, zu Zeiten des Herrscherhauses 77 jwW, än-
fartgs unter dem : Namen, der; Religion der Bo-ssü^ oder ider Perser,
bekannt; und zwar, nachdem: Namen des Vaterlandes ihrer «Bekenner,
später Aitfter i dem, Namen d £>(ht$in . oder der Römer, < dn einem
Ediete vom Jahre *745 heisst ea, däss „die heiligen 1 Schriften und der
Glaube der i£o*ssü aus Mtfrtstn stammen“ (S., 15)4 DenUrsprung des
letzteren Namens {Da~tsiu grpsse /Tsin),für das Römische Reich
hält* der Verfasser für räthselhaft*. doch führt er ; Einiges am * Was als
Ergänzung zu dena^ was »westeuropäische Sinplogdn darüberbeige*
branht (haben, dißmmrkann, Zun;Zeit ,de$rT>jwrt stritt bekanntfichnfür
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Da-tsin der Name Fu-lin auf aus den gr. Wort für Stadt nach der
gewöhnlichen Ansicht, nach dem Verfasser aus dem Namen der
Franken .
Die in der Inschrift von Ssi-an-fu erwähnte Erbauung eines christ¬
lichen Klosters ip dieser Stadt im Jahre 638, wird in einer im Jahre
1076 verfassten und im Jahre 1787 herausgegebenen Beschreibung
von Tshan-an , wie früher Ssi-an-fu hiess, bestätigt.
Eine koreanische Quelle berichtet, dass zur Zeit der 7 han t unter
der Regierung des Tai-tsun , aus dem Reiche Da-tsin ein Gesandter
kam, um (dem chinesischen Herrscher) heilige Schriften vorzulegen.
Von dem Bestehen des Christenthums in China in der Zeit zwischen
der 7 %#/*-Dynastie und der der Juen (Mongolen) giebt es nur
schwache Andeutungen. Nach ihrer Erwähnung geht der Verfasser
über zu den Nachrichten über die Zeit der letzteren Dynastie. Der
Raum erlaubt es uns nicht ihm dabei hier zu folgen. In der zweiten
Beilage zu seiner Abhandlung erklärt er die Namen der privilegirten
Stände, welche zur Zeit der Mongolen-Dynastie gleiche Rechte mit
den Christen genossen und deren in Urkunden häufig Erwähnung
geschieht. Nach den Beilagen folgen auf S. 62 — 64 einige An¬
merkungen des Professors W. W, Grigorjcw zu der Abhandlung des
Vaters Palladius.
Die,, Memoiren eines Chinesen über Annam“ stammen aus dem
Jahre 1835 und bieten ein geographisches Interesse.
Die historische Schrift über Tschingis-chan ist unter der Mon-
golen*Dynastie abgefasst. Eine nähere Angabe der Zek ihre? Ab¬
fassung fehlt uns. Sie führt den Titel: Ckuan juen sehen wu tsin
dschen lu — Beschreibung der persönlichen Feldzüge des heilig-i
kriegerischen {Herrschers) der erlauchten (Dynastie) Juen» Sie be^
steht in einer unvollständigen Biographie Tsdiingis-ohans und ist»
nach des russischen Ueberselzers Meinung, äuf Grund mongolischer
Documente in den spätesten Jahren der Joen abgefasst Bekannt
wurde sie erst in der Mitte des vorigen Jahrhunderts. Eir\ chincsi--
scher Gelehrter der Neuzeit unternahm den sehr entstellten Text
zu reinigen. Nach seiner .Redaction» die ini Drucke aber nicht er-
schienen ist,, ist die gegenwärtige russische Uebersetzung gemacht
und in derselben wird uns eine Quelle zugänglich^ welche als Vari¬
ante und Ergänzung derfrüher veröffentlichten BiographieTschingis-
chans dienen kann* . \ • ,
Am Schlüsse dieser kurzen Adteeige de? ersten Lieferung d et
„Orientalischen Sammlung* glauben wir Um Namen aller Freunde
und Bearbeiter der Geschichte des Orients flicht allein den Männern,
dercU^ Fleiäse und Wissen wir die hier veröflfentltehten'Beiträge
verdanken v Sondern auch dem aufgeklärten * Vorstande der> Bei
borde, welche für deren Veröffentlichung * sorgte und •eiuffidi
demMaime, der dett Druck leitete unsere aufrichtige «Erkennt*
lichkeit aussprechen ztr müssen Wenn auch Letzterer in seine?
liebenswürdige* Bescheidenheit sich ‘nicht* genannt hat* so können
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wir doch nicht umhin, dem um die Förderung unserer Kennt¬
nisse mittelasiatischer Verhältnisse in neuer und alter* Zeit stets
eifrig bemühten Baron Fr. v. Osten-Sacken unsern besondern Dank
für die sorgfältige Leitung des Druckes des hier angezeigten Buches
darzubringen. Wir hoffen, dass er auch ferner dieses für die Wissen¬
schaft nützliche Unternehmen fordern wird. P. L.
C. Sa dl er. Peter der Grosse als Mensch und Regent. Eine Characterstudie St.
Petersburg 1872. 8°. 298 S.
Der Verfasser, der schon früher zwei Schriften über Peter den
Grossen veröffentlichte, nämlich: „Onw tt» HCToptmecKaro onpae-
AaHijj IleTpa I npoTUB?» oö&üizeHie H r hKOTopuxi> coBpeMeHHbixi>
inicaTejiett C.-IIeTep6ypn> 1866.“ und „Die geistige Hinterlassen-
schaft Peter I, als Grundlage für dessen Beurtheilung als Herrscher
und Mensch“, hat das vorliegende, in deutscher Sprache gedruckte
Buch „dessen Manen zu seinem 200jährigen Geburtstage, am 30. Mai
1872,“ gewidmet. Die Schrift zerfällt in zwei Hauptabtheilungen,
von denen die erste Peter's Entwickelung , die zweite sein Wirken be¬
handelt. In der ersten Abtheilung stellt der Verfasser die Urtheile
der Zeitgenossen und der Nachwelt über den grossen Reformator
Russlands kurz zusammen, giqbt dann einen gedrängten Ueberblick
über die Lage des Reiches bei Peter’s Regierungsantritt und die bei
seinem Tode, behandelt seine Entwickelung als Kind und Jüngling
und die auf seinen Reisen ins Ausland und schildert s£ine Steilung zu
den Bojaren, Altgläubigen, Strelitzen und zu seiner Stiefschwester
Sophie. Die zweite Abtheilung des Buches, über Peters Wirken ,
beginnt mit einem kurzen Ueberblick seines politischen, diplomath
sehen und kriegerischen Verhaltens zu Lande und zur See, giebt
dann einen Einblick in seine Gesetzgebung und Handelspolitik, sein
Wirken für Kunst und Wissenschaft und für die Aufklärung und
Bildung seines Volkes und behandelt darauf ausführlicher die Stellung
und das Verhalten Peter’s zu Catharina und Alexej. Aus dem
Vorhergegangenen zieht der Verfasser dann Schlussfolgerungen auf
Peter’s Character und Eigenschaften und giebt in einem Anhang eine
Zurückweisung einiger entehrenden Anklagen ausländischer Schrift¬
steller gegen Peter und Catharina.
Der Autor hat die vorhandenen Quellen in ausgedehnter Weise
Lenutzt, und, wie es scheint, hat ihm auch ungedrucktes und bisher
unbenutztes 'Material zur Disposition gestanden. Auf Grund des
letzteren widerlegt er auch u, A. die von Schlosser und später von
Scherr (nach Pöllnitz Memoiren) gegebene Erzählung über einen
Vorgang mit der Herzogin von Mecklenburg. Es handelte sich für
den Verfasser, wie er in der Einleitung sagt, wesentlich darum, Peter
als Menschen darzustellen, und es lässt sich nicht leugnen, dass seine
Darstellung grosses Interesse gewährt. Die einschlägige neuere
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russische Literatur, die über viele Dinge aus jener Zeit manchen
neuen Aufschluss geboten, hat der Autor sorgsam verwerthet, und
wenn er seinen Helderi auch nicht vorf allen Vorwürfen rein waschen
will, so ist es ihm doch darum zu thün, das bisher so vielfach irre
geleitete, befangene und falsche Urtheil über Peter zürechtzustellen,
wobei er sich auf Grund seiner dtirten Quellen aüch gegen Her¬
mann, Schlosser u. A. wendet. Das Buch ist ein empfehlenswerter
und dankenswerter Beitrag zur Literatur über Peter den Grossen.
—n.
Elenaente der politischen Oetonomie von J. Babst. Moskau 1872. (Hsjiosceme Hanajit»
nomaffihiecieot »kohowii. H. EaöcTa, Mocua 187a.)
Von diesem Werke des bekannten Professors der Moskauer Uni¬
versität liegt bis jetzt blos die erste Lieferung vor; in derselben
giebt uns der Autor eine Auseinandersetzung über die Elementar¬
begriffe der Volkswirtschaft, desgleichen einen sehr anziehend ge¬
schriebenen geschichtlichen Abriss der Entwickelung der national-
öconomischen Wissenschaft. — Die‘Darstellungsweise des Herrn
Babst müssen wir als eine durchaus gelungene bezeichnen*, der Styl
des Werkes ist durchweg anmutig und leicht, die erläuternden Bei¬
spiele sind gut gewählt und nicht selten mit grossem Geschick spe-
cifisch russischen Verhältnissen entnommen. — Eine nähere Be¬
sprechung des Inhaltes dieses Werkes müssen wir bis zurti Er¬
scheinen der folgenden Lieferungen hinausschieben; soviel jedoch
ist schon aus dem Lesen der ersten ersichtlich, dass Herr Babst
seiner früheren historischen Richtung treu geblieben ist. Es ist zu
hoffen, dass dieses neue Werk in Russland die Zahl der Adepten
dieser für die moralisch-politischen Wissenschaften so fruchtbaren
Richtung vergrössCrn wird.
Russische Bibliographie.
MeJIbHMKOBl, H. 11. O’iepKH npoH3BO40TBa 6yMam AepeBa bt>
Poccin. Cn6. in-8°, 13 cTp., 1 ji. ci o6pa3n;aMH öyMarn h 4 ji. uepT.
(Melnrkow, N. P. Die Anfertigung des Papiers aus Holz in Russland.
St.' Petersburg. 8°. 14 S. mit Mustern u. 4 Tafeln Abbildungen.)
Ordert o Ä'httcTBiRX'B H. BojibHaro SKOHOMnuecxaro 06 m,ecTBa
3a 1871 r. Cn6. in-8°, 90 CTp. (Pc: cht über die Thätigkeit der
Kaiserl. freien Oekortomischen Gesellschaft imj. 1871. St. Peters¬
burg. 8°. 90 S.V
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415
B 0 A 06030 BI, B. ÄpeBHaa pycocaa jiHTepaTypa or£ Hanajia rpaMOT-
hocth ao JIoMOHocoßa. Cn6., in-8°, IV.-f- 350 cTp. (Wodowosow, W.
Aeltere russische Literaturgesch. von Beginn der Schriftkunde bis
Lomonossow. St. Petersburg. 8 Ü . IV-f-350 S.)
IlaMHTHaa KHHÄKarieTpoKOBCKoft ryöepHin Ha i 872 r.rieTpoKOBT>.
in-8°, 205 CTp., 9 Taöji. h i KapTa. (Jahrbuch des Piotrokowsky-
schen Gouvernements für d. Jahr 1872. Petrokow. 8°. 205 S., 9
Tabellen u. 1 Karte.)
TeHNaAN, rpnropiH. Pycacia khhhchbis p^äkocth. Bn6jiiorpa<i>H-
necKift ciihcokt> pyccKiixi» pisAKHxi> KHnn>. Cn6. in-8°, VI + 150
CTp. (Germadf, Gr. Russische Bücherseltenheiten. Bibliographisches
Verzeichniss der russischen seltenen Bücher. St. Petersbg. 8°.
VI+S.150.)
. IlaMHTHaH KHHMCKa JIioöjiHHCKoft ryöepHin Ha 1872 ro;n». JI106-
jihht». . in-12°, XLVII +199 CTp. h 1 KapTa. (Jahrbuch des Lub-
linschen Gouvernements auf das Jahr 1872. 12°. XLVIL + 199 S.
und I Karte.)
JlK>6oiiyApOBi>, H- O npoHCXOÄAemH h 3HaneHin hmchh PjiaaHb.
4 0 . 32 CTp. (Ljubomudrow, N. Ueber die Entstehung und die Bedeutung
des Namens Rjäsan. Rjäsan. 4 0 . 32 S.)
Tpy^M BpocjiaBCKaro TyöepHCKaro CTaTHCTHHecxaro KoMHTeTa
H 3 A. noAt peÄ. A. K. «Porejia. Bbin. VI. üpocjiaßjib. 8 Ü . 168 CTp. h
8 ji. Taöji. (Die Arbeiten des statistischenComites des Jarosslawschen
Gouvernements, herausg. unter Redaction von A. Vogel. Liefg. 6.
8°. 168 S. und 8 Tabellen.)
Tapcl», A- K. SanncKH BoeHHaro. EejuieTpHCTHnecitie onepKH, pa3-
cKa3bi h KapTHHbi BoeHHaro öbiTa. 8°. 1 4. 284 CTp. (Giere, D. K.
Denkwürdigkeiten eines Militairs. Belletristische Umrisse, Erzäh¬
lungen und Bilder aus dem Militairleben. St. Petersburg, 8°. 1 -\-
284 S.) *
IlHTHAecjJTHJi'fcTie rpaac/iaHCKoft h yneHoft cjiyacöbi M. II. Iloro-
AHHa (1821 —1871). MocKBa. in-8°, 124 CTp. (Das 50 jährige Dienst-
Jubiläum M. P. Pogodins (1821 — 1871). Moskau 8°. 124 S.)
BefiHÖeprb, fleTpv PyccKia Hapo^HbiH irfccflH o6i> HßaHi Bacnjibe-
BHH'h rpo3HOM*b. Bapiuaßa. in-8°. V 4- 134 CTp. (Weinberg, P. Russi¬
sche Volkslieder über Iwan Wassiljewitsch den Grausamen. War¬
schau. 8°, V 4- 134 S.)
ApXHBT» khh3h BopoHitOBa. Kh. V. ByMarH rpa<i>a AjieKcaHapa
PoMaHOBHHa BopoHH,oBa. 4 . I. MocKBa, in-8 ü , 479 ci*p. (Archiv des
Fürsten Woronzow. Band V. Die Papiere des Grafen Alexander Ro¬
manowitsch Woronzow. Theil I. Moskau, 8°. 479 S.)
TeHi», BüKTOpi». KyjibTypHbia pacxeHbi m ÄOMaumiH mchbothbiji
bt> hxt» nepexoA'h H 3 i> A 3 in bi> Tpeniio h bi» IjTajiiio, a TaiüKe h bt>
ocTajibHyio Eßpony. HcTopuKo-JiHHrBucTHHecKie 3CKH3bi. IlepeB.
CT» H±M. Ü3A- A. Ca 30 H 0 BHHT» H E. JlHMÖeKT».' in-8°. 379 CTp.
(Hehn, V. Culturpflanzen und Hausthiere in ihrem Uebergang aus
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Asien nach Griechenland und Italien sowie in das übrige Europa.
Historisch-linguistische Skizzen. Aus d. Deutschen übersetzt von
Ssasonowitsch u. Lrmbeck. St. Petersburg. 80. 379 S.)
CßyHKe, Otto, yueörnncb 4>H3io;ioriH. Ct» h^sm. nepeß. JIhtbhhobt»,
noA*b PeA. H. CfeneHOBa. Bwn. I. Cn6. in-8°. VIII + 226 cTp.
(Funke, o. Lehrbuch der Physiologie. Aus dem Deutschen von
Litwinow unter der Redaction von Ssetschenow. Liefg. I. 8“.
VIII 4 226 S.).
OfijieHtiyprb, A/ibdeprb. PyKOBOAcxßo hcpbhmxt» 6ojrfc3Heft.
IlepeBOÄ. ct> H'hM. rioAX» peA. B. Hexoßa. Bbin. I: HeBpo3bi HyecT-
Byromaro annapaTa. Cn6. in-8\ 277 exp. (Eulenburg, A. Handbuch
der Nervenkrankheiten. Aus dem Deutschen von W. Tschechow.
Liefg. I. Neurosen des Gefühlsapparates. 8°. 277 S.).
reTTHepi», I". HcTopifl Bceoömeft AHxepaxypbi XVIII B'biea. T. III.
H'fcMeuica« jiHTepaTypa. Kh. I. HepeB. FlbinHHa h A. FLrfcmeeBa
MocKBa. in-8°, 383 exp. (Hettner, H. Allgemeine Literaturgeschichte
des XVIII Jahrhunderts. Band III. Die deutsche Literatur. Buch I.
Uebers. von Pypin und Pleschtschejew. Moskau. 8°. 383 S.)
ycMHCKÜ) 8. uepBMB cJiaBÄHCKiH MOHapxin Ha c r feBepo- 3 anaA , fe
Cn6. in-8°, IX 4 270 crp. (Uspensky, Th. Die ersten slawischen Mon¬
archien im Nord-Westen. St. Petersburg, 8°. 270 f IX S.).
Ctpohmhv A. Ilo.iHXHKa KaKi> Hayica. C116. in-8“, 530 CTp. (Stronin,
A. Die Politik als Wissenschaft. St. Petersburg 8“. 530 S.)
BaCHAbHKttOBl), A. Kh. O caMoynpaBJieHin. CpaBHHxejibHbift oÖ3opx»
pyccKHxx. h HHocxpaHHbixi» 3 eMCKnxi» h oömecxBeHHbix'b ynpeac-
AeHift. 2 xo\ia. H 3 A. 3-e. Cn6. in-8°, XLII 470 h 550 crp. (Wassil-
tschikow, A., Fürst, Ueber die Selbstverwaltung, vergleichende Ueber-
sicht der russischen und ausländischen gesellschaftlichen und Land¬
schafts-Institutionen. 2 Bde. 3 Ausg. St. Petersburg. 8“. XLII. 470
und 5 50 S.)
Erdmann, K. Das Güterrecht der Ehegatten nach dem Provinzial¬
recht, Liv- Est- und Kurlands. Dorpat, 8°. 258 S.
EoöpOBCKaa, C. A. CymHocxb cHcxewbi OpeöeAH h npHM'feHeHie ea
bt> H'feKoxopbixi» A'bxcKHX'b caAaxi». MocKBa, in-8°. 92 exp. (Bo-
browsky- S. L Das System Fröbel’s und seine Anwendung in einigen
Kindergärten Deutschlands. Moskau. 8°. 92 S.)
KanyCTHHT», M. Mcxopia npaßa. Macxb i.üpocJiaBAb, 8° IV+ 274
exp. (Kapustin, M. Rechtsgeschichte. Band 1 . Jorosslaw. 8° 274 S.)
OccnnOB*, A. BpanHoe npaßo ApeBHaro Bocxoica. Bbin. 1. Ka3aHb.
8° IV + 207 exp. (Ossipow, A. Das Eherecht des alten Orients. Lie¬
ferung 1,Kasan, 8° IV + 207 S.)
Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Rottoer.
Ao3ik»jicho uen3ypoH3.C-rierepf>yprb 22-ro no«öpa 1872 ro.*a.
Buchdruckerei von Röttokr & Schneider. Newsky-Prospect No. 5.
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Die polytechnische Ausstellung in Moskau
im Jahre 1872.
Die industriellen und die Productions-
verhältnisse Russlands
als Schlussartikel.
In der allgemeinen Uebersicht der Moskauer polytechnischen Aus¬
stellung dieses Jahres, welche ich in dem i. und 2. Hefte der
,,Russischen Revue“ gegeben habe, musste ich schon hervorheben,
dass diese Ausstellung, so interessant und lehrreich sie in vieler Be¬
ziehung auch war, doch durchaus kein nur einigermaassen genügen¬
des Bild des gegenwärtigen industriellen Zustandes Russlands bot.
Die russischen Industriellen hatten sich, wie mehrfach angedeutet,
dieser Ausstellung gegenüber im letzten Momente sehr kühl ver¬
halten und keineswegs die Hoffnungen gerechtfertigt, die man an
ihre Betheiligung knüpfte. Die meisten Industriezweige waren zwar
vertreten, jedoch nur so unvollständig, dass der Fremde, welcher
diese Ausstellung besuchte, Begriffe über die Entwickelung der
russischen Industrie in sich aufnehmen musste, welche den factischen
Verhältnissen nur wenig entsprechen konnten. Ich glaube in diesen
Umständen eine Berechtigung zu findet]!, im vorliegenden Schluss¬
artikel über die polytechnische Ausstellung Moskaus vorzugsweise
von Dem zu sprechen, was diese Ausstellung nicht enthielt, mit
andern Worten, die vielen Lücken, welche sie zeigte, nachträglich
durch eine objective Darlegung des gegenwärtigen Zustandes der
russischen Jndustrie in kurzer aber übersichtlicher Weise auszufullen.
In einem grösseren Werke % über die russische Industrie, dessen
zweiter und letzter Band in kürzester Zeit der Oeffentlichkeit über¬
geben werden wird, habe ich die industriellen Verhältnisse Russlands
in allen Details behandelt und verweise ich daher Diejenigen, welche
sich für diese Details interessiren sollten, auf das angegebeneWerk. *)
Hier beabsichtige ich nur eine auf vieljähriges Studium basirte all¬
gemeine Kritik über die einzelnen Zweige der gesammten russischen
Industrie zu geben, und diese Kritik durch statistische Zahlen, so
_✓
*) F. Matthäi. Die Industrie Russlands. 2 Bände. Leipzig bei Herrn. Kries.
1872 und 1873.
28
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4i 8
weit mir solche durch officielle Quellen zugänglich sind, zu vervoll¬
ständigen. Ich kann es aber nicht unterlassen, darauf hinzuweisen,
dass die Gewerbestatistik Russlands, gleich derjenigen der meisten
übrigen Staaten, immerhin noch sehr wenig zuverlässiges Material
bietet. Die Angaben, welche gewissermaassen auch als „officielle“
Geltung haben, sind nicht das Resultat objectiven Forschens Unbe-
theiligter und daher auch Unparteiischer, sondern stammen grossen-
theils nur von den Fabrikanten und Industriellen selbst her, welche
nicht immer ein Interesse daran finden, über die Ausdehnung und
die Betriebsverhältnisse ihrer Unternehmen einen authentischen Be¬
richt zu erstatten. Man vergleiche nur die Angaben, welche die
Industriellen alljährlich obligatorisch dem Handels- und Manufactur-
Departement einreichen müssen mit denen, welche sie bei andern
Gelegenheiten, z. B. der letzten St. Petersburger Manufactur-Aus-
stellung, gemacht haben und man wird finden, dass diese Angaben
trotzdem, dass sie sich auf ein und dasselbe Betriebsjahr und auf
ein und dasselbe Etablissement beziehen, sehr bedeutend von ein¬
ander abweichen.
Die Statistik, namentlich die Gewerbestatistik, ist, so sehr man
dies auch bedauern muss, noch sehr weit davon entfernt, eine popu¬
läre Wissenschaft zu sein. Ein grosser Theil der Industriellen, und
dies gilt nicht nur von den russischen allein, betrachtet noch immer
die Statistik als ein fiscalisches Mittel einer späteren Steuererhebung
und diese Herren machen daher für officielle Zwecke möglichst
niedrige Angaben, so dass man in Folge davon mit Recht annehmen
kann, dass unsere officiellen Exposes über die industriellen Produc-
tionsverhältnisse hinter der Wirklichkeit nicht unbedeutend Zurück¬
bleiben. Dessen ungeachtet sind wir jetzt gezwungen, faute de
mieux, uns derselben zu bedienen. Nach dem Vorausgeschickten
werden wir daher gut thun, sie als Minimalangaben zu betrachten.
Es ist erfreulich, dass beim letzten internationalen statistischen
Congress zu St. Petersburg die Frage wegen Begründung einer den
Vrhältnis sen mehr entsprechenden Gewerbestatistik wiederholt
verhandelt wurde (S. „Russ. Revue“ Heft 2 , S. 202) und steht
daher zu erwarten, dass in Zukunft uns ein Material zu Gebote
stehen werde, welches den wirklichen Verhältnissen mehr entspricht,
als das gegenwärtig gesammelte. Vor allen Dingen wird es aber
darauf ankommen, die Gewerbetreibenden davon zu überzeugen,
dass die Angaben, welche man von ihnen fordert, nicht fiscalischen,
sondern eben nur wissenschaftlichen und gemeinnützigen Zwecken
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4*9
zu dienen haben, mit andern Worten, man muss darnach streben,
die Statistik in Wirklichkeit zu einer populären Wissenschaft zu machen.
Um die nachfolgenden Erörterungen in mehr systematischer
Weise durchzufuhren, folge ich bei denselben der Classificirung der
Erzeugnisse der Industrie, wie eine solche bei der letzten St. Peters¬
burger Manufactur-Ausstellung Geltung fand. Gerade in dieser Be¬
ziehung Hess die letzte Moskauer Ausstellung so viel zu wünschen
übrig, dass ein fortwährendes Herüberspringen aus einer in die
andere Industriebranche nothwendig sein würde, wollte man den
Moskauer Gruppen folgen. Ich habe mir auch nur zum Ziele ge¬
steckt, die rein industriellen Verhältnisse des Europäischen Russ¬
lands, jedoch mit Einschluss der von ihnen kaum zu trennenden
Verhältnisse der Urproduction, insoweit es sich hierbei um indu¬
strielle Grundstoffe handelt, zu erörtern. Dass ich die Montan-In-
dustrie von den übrigen Zweigen der Industrie nicht trenne, bedarf
wohl um so weniger einer Entschuldigung, als die Producte der¬
selben zu den wichtigsten industriellen Hülfsmitteln und Basen ge¬
worden sind.
A. Industriezweige, welche sich mit der Herstellung von
Gespinnsten und Geweben aus verschiedenen Faser¬
stoffen befassen.
i) DIE FLACHSrlNDUSTRIE.
Schon der Umstand, dass Russland so grosse Quantitäten ge¬
hechelten Flachses, Werges und Leinsamens exportirt, dass z. B.
im Jahre 1868, das noch keineswegs zu den hervorragendsten Export¬
jahren in dieser Beziehung zu zählen ist, der Exportwerth der eben
genannten Artikel (58,051,305 Rbl.) den vierten Theil des Werthes
des russischen Gesammtexports (209,529,778 Rbl.) überstieg,
weist darauf hin, dass in keinem Lande Europas die Flachsindustrie
eine so weite und gesicherte Grundlage finden dürfte, als gerade
in Russland. So grosse Dimensionen nun auch dieser Industrie¬
zweig angenommen hat, so entspricht seine Ausdehnung und
quantitative wie qualitative Leistung doch noch keineswegs
der natürlichen Grundlage, welche der russischen Flachsindustrie
zu Gute kommt und dieselbe zur ersten der Welt machen
könnte. Man unterschätzt in dieser Beziehung die Kraft
des Landes, und Industriezweige, wie z. B. die Baumwollen-
28*
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420
Industrie, die keineswegs einen so urwüchsigen Boden unter sich
haben und trotzdem Fabricate von hohem technischem Werthe
liefern, bieten den Beweis, dass es russische Industrielle zu den her¬
vorragendsten Leistungen bringen können, wenn sie sich ihrer Auf¬
gabe bewusst sind und das Ziel, welches sie verfolgen, nur mit
Energie verfolgen. Warum sollte die russische Flachsindustrie in
ihrer Sphäre nicht dasselbe leisten können, was die Baumwollen-
Industrie leistet? Man ist der Ansicht, dass Russland nur in der
Herstellung von mehr grober Waare, von Sackleinen, Segeltuch,
gröberen Leinwänden etc. seine industrielle Aufgabe erblicken soll,
weil es derartige Fabrikate schon jetzt in grösseren Quantitäten
nach dem Auslande absetzt. Nichts berechtigt aber zu der
Ansicht, dass sich dieser Export nicht auch auf feinere
Artikel ausdehnen üesse, wenn sich die russischen Indth
striellen nur ernstlich bemühen wollten, dieselben herzustellen,
wozu ihnen die Mittel vollständig geboten sind. Selbstverständlich
müssten in diesem Falle auch die Landwirthe der Industrie Vor¬
arbeiten und ihr einen Flachs zur Verfügung stellen, der? sich noch
mehr zur Herstellung feinerer Gespinnste eignet, wie der bis heute
von ihnen in grossen Quantitäten cultivirte. Dass sie auch dies im
Stande sein werden, beweist der Umstand, dass der russische Saat¬
lein nach allen Flachsbau treibenden Gegenden Europas geht und
auch heute noch als der beste allgemeine Geltung findet. Die russi¬
sche Industrie kann keine dankbarere Aufgabe finden, als die Flachs¬
industrie in allen ihren verschiedenen Zweigen auf die Höhe der Zeit
zu erheben und in Verfolgung dieser Aufgabe muss sie dahin ge¬
langen, nicht blos für ihre Sackleinwand und für ihr Segeltuch, son¬
dern auch für alle andern Flachsfabricate sich die Weltmärkte zu
erschliessen. Wären der russischen Flachsindustrie nur die halben
Mittel zugewendet worden, welche der Baumwollenindustrie in so
reicher Fülle zugeflossen sind, sie müsste heute weit höher stehen
als diese letztere und würde bereits einen ausserordentlich fördern¬
den Einfluss auf die Handelsbeziehungen Russlands zum Auslande
geübt haben.
Es gab in den letzten Jahren (nach dem Jahrbuche des Finanz¬
ministeriums von 1869 und nach dem statistischen Atlas der Gross-
industrie des Europäischen Russlands von D. A. Timirjasew) in
Russland:
14 Flachsspinnereien, welche 7500—8600 Arbeiter beschäftigten
und eine Production im Werthe von ca. $['2 Millionen Rbl. lieferten.
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421
103 Leinwandfabriken *), welche 19,100 Arbeiter beschäftigten
und eine Production im Werthe von ca. 6 Millionen Rbl. lieferten.
Für ein Land, das für 58 Millionen Rubel Flachs und Flachs¬
samen exportirt, muss der hier namhaft gemachteWerth vonLeinen-
fabricaten (ca. 6 Millionen) so niedrig erscheinen, dass man ihn
kaum für nur annähernd richtig halten dürfte. In der That hat sich
auch die Production der meisten Fabriken so gesteigert, dass man
heute den Werth der durch die Grossindustrie Russlands erzeugten
Leinwandfabrikate auf 8 bis 8 Vs Millionen Rubel* veranschlagen
kann. Einzelne Fabriken, z. B. die von Hielle & Dietrich in Zyrar-
dowo beiWarschau erfreuen sich heute eines jährlichen Productions-
werthes, der den im Jahrbuche angeführten allein um (2 Million
Rubel übersteigt. Ausserdem gehört die Flachsindustrie zu den¬
jenigen Erwerbszweigen, welche noch in grossen Verhältnissen als
sogenannte Hausindustrie betrieben werden, deren Production sich
der statistischen Berechnung entzieht.
Als Hauptsitz der fabrikmässigen Flachsspinnereien sind die'
Gouvernements Wladimir mit 2, Wologda mit I, Kostroma mit 5,
Livland mit 1, Rjäsan mit 1, St. Petersburg mit 1 und Jarosslaw
mit 2 Fabriken anzusehen. Die 103 Lcinwandwebereien (incl.
Segeltuch-^ Sackleinwand- und Damastwebereien) vertheilen sich
auf die Gouvernements Archangel 1, Wladimir 36, Wologda 3,
Witebsk 1, Kaluga 3, Kostroma 13, Moskau 2, St. Petersburg 5,
Twer 2, Tschernigow 25 und Jarosslaw 6 Fabriken. Der Haupt¬
sitz der Flachsindustrie ist das Gouvernement Wladimn^ mit einer
jährlichen Production im Werthe von über 2 1 s» Millionen Rubel; ihm
zunächst stehen die Gouvernements St. Petersburg (981,642 Rbl.),
Jarosslaw, Kostroma, Moskau und Wologda. Die grössten
Flachsspinnereien giebt es dagegen in den Gouvernements
Kostroma (2,611,470 Rbl. Productionswerth) — nach Timirjasew —
und Jarosslaw (1,308,000 Rbl.).
Die aufSeite 87 der „RussischenRevue“ angeführtenlndustriellen,
*) Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt für das Gesammtgebiet Russlands 94
Leinwandfabriken auf, welche zusammen 19,100 Arbeiter beschäftigen und eine Pro¬
duction im Werthe von 5,925,697 Rubel liefern sollen. Unter denselben befindet sich:
1 finnländische Fabrik mit 745 Arbeiter und 525,000 Rbl. Productionswerth und
5 polnische Fabriken „ 1184 ,, ,, 587,067 ,, ,,
Timiijasew dagegen fuhrt für das Europäische Russland (mit Ausschluss Polens und
Finnlands) 97 Leinwandfabriken an, welche 11,236 Arbeiter beschäftigen und eine
Production im Werthe von 4,931,407 Rubel liefern sollen.
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422
welche die Moskauer Ausstellung mit Fabrikaten aus dem Gebiete
der Flachsindustrie beschickt hatten, gehören zu den hervorragen¬
den in dieser Industriebranche, obgleich es noch eine grosse Anzahl
Anderer giebt, welche den genannten ebenbürtig zur Seite
gestellt werden können. Es würde hier zu weit fuhren, dieselben
aufzuzählen. Was die technischen Leistungen der Flachsindustrie
im Allgemeinen anbelangt, so kann die Maschinenspinnerei als ent¬
wickelt bezeichnet werden, besonders seitdem durch die Association
grössere Capitalien beschafft worden sind, um die Etablissements
mit allen nur möglichen Hülfsmitteln auszustatten. Die Norsk’sche
Leinenmanufactur (Gouvernement Jarosslaw) — Spinnerei und
Weberei — beschäftigt 2000 Arbeiter, arbeitet auf 21,000 Spindeln
und 160 mechanischen Webstühlen und liefert eine Production im
Werthe von 1,700,000 Rbl. Die T. D. Sotow’sche Spinnerei
(Kostroma) — 17,000 Spindeln —hat es zu einer solchen von
1,200,000 Rbl. gebracht. — Lieferten die Landwirthe den Spinne¬
reien besser zugerichteten Flachs, so würden die russischen Ma¬
schinenspinnereien-im Stande sein, ein Fabricat zu liefern, welches
d em ausländischen nicht nachsteht. Letzteres gilt auch von den
Sackleinwänden, dem Segeltuch und den gröberen und mittelfeinen
Leinwänden. In hochfeiner Leinwand, sowie in der Damastweberei
steht Russland dem Auslande aber noch nach, trotz der Vervoll¬
kommnung der letzten Jahre und dem anerkennenswerthen Bestre¬
ben einzelner Fabrikanten. Nichts desto weniger kann man sagen,
dass der russischen Flachsindustrie die Zukunft gehört, wenn sie in
derselben Weise fortarbeitet, wie es in den letzten 10 Jahren ge¬
schehen ist. Die Industriellen werden dadurch für ihren eigenen
Vortheil sorgen, gleichzeitig aber auch im Interesse Russlands
arbeiten.
2) Die Hanf-Industrie.
Von ihr gilt nahezu dasselbe, was von der Flachsindustrie gesagt
wurde. Sie gehört zu den naturwüchsigen Industriezweigen Russ¬
lands und hat als solcher ebenfalls eine grosse Zukunft. Als
Centrum der Hanfcultur kann das Gouvernement Orel angesehen
werden. Auch in den nördlichen Theilen der Gouvernements Kursk
und Tschernigow, im Gouvernement Ssmolensk, sowie im südwest¬
lichen Theile des Gouvernements Kaluga wird Hanf in grosser Aus¬
dehnung und von trefflicher Qualität cultivirt. Russland exportirt
davon über 3J/1 Millionen Pud. Die Hanfcultur hat in den letzten
10 Jahren wenig Fortschritte gemacht, und ist, wie mancher
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423
andere wichtige landwirtschaftliche Culturzweig, in eine unliebsame
Stagnation gerathen. Die Hanf Industrie, namentlich die Hanf¬
spinnerei, wird noch grossentheils als häusliches Gewerbe betrieben.
Auch die Fabriken, welche die Hanfspinnerei betreiben, sind weder
zahlreich, noch von sehr bedeutendem Umfange. Es giebt deren im
Ganzen 18, von denen 7 (mit 602 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 245,945 Rbl.) auf das Gouvernement Orel, 2 (236 Ar¬
beiter und 120,800 Rbl.) auf das Gouvernement Ssmolensk und 9
(mit 1175 Arbeitern und einem Productionswerth von 900,500 Rbl.)
auf das Gouvernement Twer fallen. Die grösste Fabrik dieser
Branche ist die von K. & F. G. Nemilow in Rshjew (Gouvernement
Twer) mit 260 Arbeitern und einer Production im Werthe von
270,000 Rbl.
Zahlreicher sind die Tau- und Seilerwaarenfabriken, unter welchen
es, wenn auch in geringer Zahl, Etablissements der hervorragendsten
Art giebt Das Jahrbuch führt deren für das Gesammtgebiet Russ¬
lands 142 mit 3219 Arbeitern und einer Production im Werthe von
3,261,586 Rubel an, von denen 9 auf Finnland, ebensoviel auf den
Kaukasus (Eriwan) und 7 auf Sibirien entfallen, welche letzteren
aber sämmtlich von so geringer Leistungsfähigkeit sind, dass sie
kaum den Namen „Fabrik 14 verdienen. Timirjasew dagegen führt
für das Europäische Russland 121 Fabriken mit 2,282 Arbeitern und
einer Production im Werthe von 2,902,226 Rubel auf. Die meisten
Seilereien befinden sich in den Gouvernements Witebsk (20), Ar-
changel und Perm (ä 17), St. Petersburg (10), Nishnij-Nowgorod und
Twer (ä 9); die grössten jn St. Petersburg (W. Hoth, A. Kasalet &
Söhne, A. P. Ssasonow), Jarosslaw (N. M. Shurawljew in Rybinsk)
und in Rshjew, Gouvernement Twer, (K. & F. G. Nemilow, Mylni*
kow-Gluschkow u. A.). Nur N. M. Shurawljew (Seite 87) hatte von
allen Fabriken als alleiniger Aussteller von Taufabrikaten die Mos¬
kauer Ausstellung beschickt. Im Verhältniss zu der Hanfproduction
Russlands ist die Taufabrikation, trotz dem, dass sie äusserst loh¬
nende Resultate liefert, doch im Ganzen wenig entwickelt. Die bei
Weitem überwiegende Zahl d^rFabriken ist so klein, dass der Werth
ihrer jährlichen Production die Summe von 1000 Rubel noch nicht
immer erreicht. Dagegen steigt dieser Werth beiW. Hoth (St. Peters¬
burg) auf 807,000 Rubel, bei A. Kasalet & Söhne (ebendaselbst) auf
250—500,000 Rubel, bei N M. Shurawljew auf 800.000 Rubel etc.
Man ersieht hieraus, dass die Taufabrikation, wo sie eben fabrik-
mässig betrieben wird, grosse Leistungen aufzuweisen hat. In
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4*4
Russland gehört sie zu den Industriezweigen, welche einer grossen
Ausbreitung würdig sind und die vollständig den Verhältnissen des
Landes entsprechen. Die Qualität der aus den St. Petersburger
Fabriken hervorgehenden Taue ist eine hohe und ihr Absatz nach
dem Auslande könnte noch bedeutend gesteigert werden.
3) Die Baumwollen-Industrie.
Wenige Industriezweige haben sich in Russland derart und so
rasch entwickelt, wie dies die Baumwollenspinnerei und Weberei
gethan hat. Obgleich die Begründung derselben von ausländischen
Unternehmern ausging, nachdem die noch in die letzten Jahre des
vorigen Jahrhunderts zurückreichenden ersten Versuche der Grün¬
dung von Baumwollenspinnereien fehlgeschlagen waren,- so fanden
sich doch auch bald russische Unternehmer, und Capitalisten, welche
Baumwollenspinnereien und Webereien mit einem grossen Auf-
wande von Capital errichteten. Fast alle derartigen Unternehmun¬
gen floriren bis auf den heutigen Tag, und wenn man auch nicht in
Abrede stellen kann, dass die Baumwollenindustrie keineswegs zu
denjenigen Betriebszweigen gehört, welche in Russland einen natur¬
wüchsigen Boden haben und welche nur der Schutzzoll gross ge¬
zogen hat und auch für die Zukunft nur erhalten kann, so muss man
auf der andern Seite doch zugestehen, dass sich kein anderer Indu¬
striezweig nicht nur so rasch entwickelt, sondern auch technisch so
ausgebildet hat, wie die russische Baumwollenindustrie. Freilich
ist diese Entwickelung und Vervollkommnung auf Kosten von 80
Millionen Menschen erfolgt, welche durch den Zolltarif zu einer in-
directen Steuer verurtheilt sind, die schwer genug zu tragen ist, da
sie auf einem der nothwendigsten Lebensbedürfnisse, dem der täg¬
lichen Kleidung, lastet. Diese Steuer ist aber noch nicht das
Schlimmste an der Sache. Die Baumwollenindustrie trägt durch
ihre gegenwärtige, man kann wohl sagen unnatürliche Entwickelung
die Schuld, dass mit so grosser Zähigkeit an dem Systeme des
Schutzzolles fest gehalten werden muss, denn an eine Beseitigung des¬
selben ist nicht zu denken, ohne dass auch die Baumwollenindustrie
durch sie betroffen würde. Das Capital, welches in diesem Industrie¬
zweige angelegt ist, beträgt viele Hunderte von Millionen und es
läge allerdings eine grosse Verantwortung darin, dasselbe möglicher¬
weise gänzlich zu gefährden.
* Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums beträgt die Zahl der
Baumwollenspinnereien imGesammtgebieteRusslands (mit Polen und
Finnland) 67, welche 43,778 Arbeiter beschäftigen und eine jähr-
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425
lidhe Production im Werthe von 53,322,170 RbL liefern. Timiijasew
giebt die Zahl dieser Spinnereien mit Ausschluss von Polen und
Finnland auf 48 an (37,483 Arbeiter und 39,389,844 Rubel Prpduo
tionswerth).
Die Centralpunkte dieser Baumwollenspinnereien sind St Peters¬
burg, Mfcskau und das Gouvernement Wladimir. Ausserdem giebt
es noch grosse Spinnereien in den Gouvernements Rjäsan* Twer,
Estland und Jarosslaw. Die bedeutendsten Manufacturen sind in
und um St Petersburg, grossentheils Actienuntemehmen. Der
Werth der jährlichen Production schwankt per Etablissement zwi¬
schen 400,000 Rubel und 4 Millionen Rubel. Die St. Petersburger
Spinnereien verarbeiten grossentheils nur amerikanische Baumwolle,
während die Spinnereien in den inneren Gouvernements die ameri¬
kanische Baumwolle mit asiatischer mischen. Um nur ein Beispiel
anzuführen, so beschäftigt die Krähnholmer Manufactur ca. 2000
Arbeiter und standen im Jahre 1870 — 172,284 Spindeln imBetrieb,
doch sollte die Zahl dieser letzteren durch Zubau noch um 60,000
vermehrt werden
Baunvwollenwebereien giebt es im Europäischen Russland mit Aus¬
schluss Polens 586 mit 60,378 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 30,137,336 Rubel. Für Polen zählt Timirjasew in seinem
nächst erscheinenden 3. Hefte seines statistischen Atlases noch 1171
Baumwollwebereien mit 11,720 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 6,573,660 Rubel auf. Finnland besitzt nach derselben
Quelle 5 Baumwollspinnereien und Webereien mit 3638 Arbeitern
und einer Production im Werthe von 1,626,623 Rubel.
Die-meistenBaumwollenwebereien giebt es in den Gouvernements:
Moskau . . 371 mit 22,75oArbeitern u.10,018,835 Rbl.Prodqctionsw.
Kostroma. 73 „
3,761
»> ff
3,869,205 „
Wladimir . 60 „
23,894
ff ff
7,872,554 „
Twer ... 28 „
3-164
•f ff
2,557,571 »
Rjäsan . . 21 ,,
2,103
ff ff
921,138 „
St. Petersburg 9 „
2,298
ff ff
3,220,814 „
Die Zahl der Zitzfabriken ist
: aus folgender Tabelle (nach Timir-
jasew) zu ersehen:
Zahl der
Werth der jährlichen
Gouvernements
: Fabriken
Arbeiter
Production in Rubeln.
Wladimir . .
69
9,244
11,467,454
Kostroma . .
I
200
183,000
Moskau . . .
57
14,207
12,167,200
St. Petersburg
5
8u
1,666,772
Twer ....
I
314
1,144,000
Summa
• 133
24,776
26,628,426
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426
Diese Angaben dürften genügen, um den Lesern ein übersicht¬
liches Bild über die grossartige Entwickelung der russischen Baum¬
wollenindustrie zu gewähren. Trotzdem dürften diese Angaben
die Wirklichkeit noch nicht erreichen, da dieser Industriezweig
gerade in den letzten Jahren einen gewaltigen Aufschwung genommen
und seine Production, wenn auch nicht verdoppelt, doch afisehnlich
gesteigert hat. Wie gross diese Productionssteigerung gewesen ist,
geht daraus hervor, dass auf der letzten St. Petersburger Ausstel¬
lung 28 grössere Baumwollenspinnereien, Webereien und Zitz¬
fabriken gegenüber den hier tabellarisch angeführten Angaben
48,000 Arbeiter mehr beschäftigten und eine um 32,981,420 Rbl.
höhere Production lieferten. (S. meine „Industrie Russlands“).
Um nur ein Beispiel anzuführen, so betreiben Sawwa Morosow &
Söhne in verschiedenen Fabriken die Spinnerei, Weberei und
Druckerei (Zitzfabrikation) und beschäftigen auf denselben nach ihren
eigenen Angaben bei einem jährlichen Productionswerth von
6,800,000 Rbl. — 35,000 Arbeiter!
Was die technischen Leistungen der Baumwollenindustrie anbe¬
langt, so verdienen dieselben alles Lob. Der russische Metkal
steht dem ausländischen nicht nach, und wenn auch das Ausland
feinere Gewebe, z. B. Mousseline, Batiste u. dgl. in höherer Qualität
herstellt, wie dies die russischen Industriellen thun, so hat dies ein¬
fach seinen Grund darin, dass diese letzteren sich mit derartigen
Fabrikationen überhaupt noch wenig befassen, da die russischen
Baumwollenwaaren hauptsächlich den Zweck haben, die Bedürfnisse
der niederen Volksklassen zu decken. Diesen Zweck erfüllen sie
auch in hohem Grade; sie sind haltbar und in der Farbe echt.
Namentlich ist die Türkischrothfärberei in Russland ziemlich ent¬
wickelt und giebt es grosse Etablissements, wie z. B. das von L.
Rabeneck im Kreise Bogorodsk (Moskauer Gouvernement) — jetzt
Actiengesellschaft — die sich ausschliesslich nur mit dieser Art
von Färberei beschäftigen. Auch die Zitzdruckerei hat sich sehr
ausgebildet und liefert Fabrikate, welche denen des Auslandes nicht
nachstehen. Gegenüber diesen Vorzügen bleibt das russische Fa¬
brikat aber immer theurer wie das gleichwerthige ausländische und
es ist eben nur dem hohen Schutzzoll zu danken, dass die russische
Baumwollenindustrie im Stande ist, den ausländischen Fabrikaten
gegenüber selbst im Inlande die Concurrenz zu behaupten.
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4*7
4) Die Schafwollen-Industrie.
Weit mehr dem Character des Landes entsprechend, gehört die
Wollindustrie zu den wichtigsten und weit verbreitetsten In¬
dustriezweigen Russlands. Obgleich, wie die übrigen Branchen der
landwirtschaftlichen Viehzucht, auch die Schafzucht ihre Bestände
reducirt hat, so zählt doch Russland zu den Staaten Europas, welche
die grössten Bestände an Schafvieh aufzuweisen haben. Nach dem
landwirthschaftlich-statistischen Atlas des Domänenministeriums gab
es im Europäischen Russland im Jahre 1864: 11,655,000 feine
(Merino-) und 32,516,000 ordinäre Schafe, in Summa demnach einen
Bestand von 44,171,000 Stück. Bis zu dem genannten Jahre und
auch noch eine Reihe Jahre darauf vermehrte sich der Schafstand in
Russland, namentlich der der Merinoschafe von Jahr zu Jahr j in den
letzten Jahren zeigte sich jedoch eine Verminderung desselben, was
mit den übrigen landwirtschaftlichen Verhältnissen in Ueberein-
stimmung steht. Auch der sich verringernde Wollexport deutet
auf diese Abnahme des Schafstandes hin, denn dieser Export hatte
sich in den letzten 10 Jahren von 1,033,263 Pud (im Jahre 1861) auf
'920,609 Pud (im Jahre 1870) successive reducirt, während gleich¬
zeitig der Import ausländischer Wolle, grossentheils Merinowolle,
welche als Halbfabrikat, gekrempelte und gefärbte Wolle, nach Russ¬
land eingeführt wurde, von 77,760 Pud (1861) auf 255,733 Pud (1870)
stieg. Letzteres deutet auf eine erweiterte Ausdehnung der russi¬
schen Wollenindustrie, welche in der That auch stattgefunden hat.
Da die Wollspinnerei in Russland gleich der Flachs- und Hanf¬
spinnerei vorzugsweise als häusliches Gewerbe betrieben wird, an¬
dererseits auch mit einzelnen Wollstoffwebercien in Verbindung
steht, so giebt es verhältnissmässig sehr wenig Etablissements,
welche sich selbstständig mit diesem Industriezweige beschäftigen.
Timiijasew führt in seinem Industrieatlas für das Europäische Russ¬
land nur 30 Wollspinnereien an, welche 3217 Arbeiter beschäftigen
und eine jährliche Production im Werthe von 2,605,656 Rubel liefern
sollen. Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums kommen
hierzu noch 15 Wollspinnereien mit 337 Arbeitern und einer Pro¬
duction im Werthe von 743,000 Rubel des Zarthums Polen, so dass
es demnach im Gesammtgebiete Russlands 45 Wollspinnereien mit
3554 Arbeitern und einer Production im Werthe von 3,348,656 RbU
geben würde. Diese geringe Production lässt sich, eben nur dadurch
erklären, dass sie sich nur auf die Leistungen von fabrikmässig be¬
triebenen Wollspinnereien bezieht.
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42 ®
Wollstoffivebereien giebt es:
Zahl der Werth der jährlichen
.Fabriken 'Arbeiter Production in Rubeln
im Europäischen Russland . . . . 147 21,816 12,566,960
im Zarthum Polen.564 3,204 2,169,118
im Grossfürstenthum Finnland . , 6 46 7,783
Summa. . 717 25,066 14,743,861
Die meisten und grössten Fabriken befinden sich im Moskauer
Gouvernement: 128 mit 20,025 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 11,351,502 Rubel, dann in St. Petersburg 8 mit 1,123
Arbeitern und 678,864 Rubel Productionswerth. Die polnischen Fa¬
briken sind, wie aus obiger Zusammenstellung schon ersichtlich,
zwar sehr zahlreich aber auch sehr klein und mit wenigen Ausnahmen
hinsichtlich ihrer Production sehr wenig leistungsfähig. In den
Städten Lodz und Pobjanitze giebt es Wollstoff fabriken von grösserer
Bedeutung, darunter 4, die eine jährliche Production im Werthe von
230,000—500,000 Rubel aufzuweisen haben. Dagegen steigt der
Werth dieser jährlichen Production bei Grjasanow & Labsin auf
1 Million Rubel, bei Armand & Söhne (beide im Moskauer
Gouvernement) auf 3 { /i Millionen, während es in demselben Gou¬
vernement noch eine grössere Anzahl von Fabriken giebt, die jähr¬
lich flir 600,000 Rubel fabriciren.
Tuchfabrikation . Tuchfabriken giebt es
»
Zahl der
Wert!» der jährlichen
' Fabriken
Arbeiter
Production in Rubeln
im Europäischen Russland . . .
• 432
66,519
33,691,415
in Sibirien ..
• 4
498
217,486
im Zarthum Polen .
. 284
3.78s
3,038,807
im Grossfürstenthum Finnland .
. 8
129
. 49-853
Summa .
00
n
70.931
36,997,561'
Die zahlreichsten Tuchfabriken befinden sich im Gouvernement
Grodno: 114 (4,147 Arbeiter und 4,183,565 Rubel Productions-
werth), Podolien: 77 (784 Arbeiter und 334,525 Rubel Productions-
werth), Moskau: 52 (18,045 Arbeiter und i4,i5i,i2 5RubelPro-
ductionswerth), Ssimbirsk: 21 (10,487 Arbeiter und 2,575,860 Rubel
Productionswerth), Kijew: 21 (1,013 Arbeiter und 504,501 Rubel
Productionswerth), Tschemigow. 19 (5,173 Arbeiter und 2,603,856
Rubel Productionswerth), Pensa; 18 (5,834 Arbeiter und 1,202,283
Rubel Productionswerth), Ssaratow: 12 (3,261 Arbeiter und
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719,800 Rubel Productionswerth) und Tambow: 10 (4,361 Arbeiter
und 804,890 Rubel Productionswerth). Nächstdem giebt es noch
im St. Petersburger und im Liv- und EstländischenGouvememet sehr
bedeutende und renommirte Tuchfabriken (Baron Stieglitz, Wöhr¬
mann & Sohn, Baron Ungern-Sternberg u. A.) Auch im Zarthum
Polen (Chr. Moes) und in Finnland giebt es Etablissements von her¬
vorragender Leistungsfähigkeit.
Die Tcppichfabrikalion. Teppichfabriken bestehen nach Timir-
jasew in Russland 9 mit 625 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 398,725 Rubel. Mit Ausnahme einer einzigen kleinen
Fabrik entfallen die sämmtlichen Teppichwirkereien auf das Gou¬
vernement Moskau. Jedenfalls ist die Leistung dieser Fabriken in
Wirklichkeit grösser als die oben angegebene, und kann man den
Werth ihrer gegenwärtigen Production um mindestens 40 pCt. höher
annehmen, indem derselbe schon 1870 — 565,000 Rubel betrug.
Ausser den hier aufgezählten giebt es noch im Zarthum Polen zwei
kleinere Teppichwirkereien.
Im Allgemeinen wird es nicht zu bestreiten sein, dass die russi¬
sche Wollstoffweberei und Tuchfabrikation grosse Fortschritte ge¬
macht hat, und so verhältnissmässig klein die Zahl der russischen
Aussteller auf der letzten Moskauer Ausstellung auch gewesen sein
mag, so zeichneten sich doch ihre Fabrikate durch hohe Qualität
aus. Die, Seite 87 der „Russischen Revue“, aufgeführten Namen
gehören mit zu den ersten Industriellen Russlands. Namentlich
die Tuchfabrikation hat, was die Erzeugung feiner Tücher anbelangt,
grosse Fortschritte aufzuweisen und die Wöhrmann’schen, Stieglitz-
schen, Ungern-Sternberg’schen, Jokisch’schen, Moes’schen etc.Tuche
können sich m einzelnen Sorten getrost mit den ausländischen
messen. Auch die Teppichfabrication leistet Brauchbares, (die
grösste Fabrik ist die von Flandin & Co. (Gouvernement Mos¬
kau, Kreis Klin in Wassiljewka), doch wird sie immer noch grosse
Anstrengungen zu machen haben, um auf ein gleiches Niveau mit
der ausländischen zu gelangen.
Filzfabriken zählt das Jahrbuch des Finanzministeriums 77 auf, mit
295 Arbeitern und einer jährlichen Production im Werthe von
70,585 Rbl. Die meisten davon (55) entfallen auf das Gouvernement
Nishnij-Nowgorod. Sämmtliche Fabriken sind nur von untergeord¬
neter Bedeutung.
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430
5) Die Seiden-Industrie.
Bei Besprechung der Productionsverhältnisse des Kaukasus undTur-
kestans (3. und 4. Heft d. Bl.) habe ich bereits auf die Wichtigkeit
dieser Länder für die Seidenzucht hingewiesen. Ich habe daher nicht
nöthig nochmals auf die guten Eigenschaften der kaukasischen und
turkestanschen Rohseide zurückzukommen. Der ganze Süden von
Russland ist für die Cultur des Maulbeerbaumes und daher für die
Seidenraupenzucht geeignet. Dieselbe kann in allen Gouvernements
südlich von Moskau mit Erfolg betrieben werden und Faben sich
ihrer vorzugsweise die deutschen Colonien Südrusslands bemächtigt.
Aber auch noch weit nördlicher gedeiht der Maulbeerbaum, was
durch die Maulbeerplantagen und die gewonnene Rohseide des Herrn
Mankowski im Wilnaschen Gouvernement bewiesen wird. Dass
sich die Seidenraupenzucht in Russland noch mehr ausdehnen liesse,
wie es der Fall ist, versteht sich von selbst, doch ist wenig Aussicht
vorhanden, dass dies in Wirklichkeit geschehen werde, wenn nicht
die Regierung in dieser Beziehung aufmunternd eingreift.
So reich nun auch die Production Russlands an Cocons ist oder
richtiger gesagt, sein könnte, von so geringer Leistungsfähigkeit sind
die inländischen Abhaspelanstalten und Seidenspinnereien. Das
Jahrbuch führt nur 4 solcher Etablissements an, welche auf Podoiien
entfallen, alle übrigen (133) gehören dem Kaukasus an. Mit einigen
Seidenwebereien sind allerdings auch noch Seidenspinnereien ver¬
bunden; ihre Anzahl und Leistungsfähigkeit entspricht aber den
Bedürfnissen keinesweges und die russische Seidenindustrie ist daher
genöthigt, einen nicht unbedeutenden Theil der ihr nothwendigen
Seiden aus dem Auslande zu beziehen, während die russische Rohseide
wiederum nach dem Auslande zur Weiterverarbeitung geschickt
wird.
Wenn auch bei Weitem noch nicht so entwickelt, wie die übrigen
Zweige des Manufacturwesens, so erscheint doch bereits die russische
Seidenindustrie entwickelt genug, um zu den besten Hoffnungen
zu berechtigen. Giebt es doch bereits im Europäischen Russland
81 Seiden- Atlas- und Sammtwebereien, welche 6,598 Arbeiter be¬
schäftigen und eine jährliche Production im Berthe von4,2Ö3,o36Rbl.
liefern. Hierzu kommen noch 3 Warschauer Fabriken mit 100 Arbei¬
tern und einer Production im Werthe von 94,200 Rbl. und 112 aller¬
dings sehr kleine kaukasische Etablissements mit einer Production
von 59,025 Rbl., so dass die Gesammtproduction Russlands nach
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43 1
Timirjasew und dem Jahrbuche des Finanzministeriums die Werth-
summevon4>4i6 f 26i Rbl. repräsentirt. Es lässt sich aber mit Bestimmt¬
heit annehmen, dass diese ofFiciellen Daten den gegenwärtigen Produc-
tionsverhältnissen nicht mehr entsprechen, ja nach den Anhaltspunkt
ten, welche in dieser Beziehung die letzte St. Petersburger Ausstellung
geboten hat, darf man annehmen, dass der Werth der gegenwärtig
in Russland fabricirten Seidenstoffe zwischen 7 und 8 Millionen Rbl.
variirt. Der Hauptsitz der russischen Seidenindustrie ist wiederum
Stadt und Gouvernement Moskau, wo es 72 grössere Seidenstoff¬
fabriken giebt, darunter Etablissements , wie z. B. das der Gebrüder
Ssolowjew, welche einen jährlichen Umsatz von 700,000 Rbl. er¬
zielen. Fabriken mit einemUmsatz von 250,000—400,000 Rbl. giebt
es eine grössere Anzahl. Die Moskauer Fabriken beschäftigen sich
namentlich mit der Fabrikation von verschiedenen Seidenstoffen,
von Atlas (mit Baumwolleneinlage) und von Sammet, welcher ins¬
besondere die oben genannte Ssolowjewsche Fabrik obliegt. In
schweren Seiden-und Möbelstoffen liefert Mosch jugiii in Moskau und
die Fabrik der Gebrüder Kondraschjew Hervorragenderes, wenn man
auch den russischen Möbelstoffen den Vorwurf macht, dass sie nicht
haltbar in der Farbe sein sollen. Als Moskauer Specialität ist noch
die Fabrikation von Brocaten und Kirchenstoffen crwähnenswerth
und zeichnen sich in dieser Branche namentlich die Herrn A. & W.
Ssaposchnikow aus, (Seite 87 der ,Russischen Revue“) deren Fabri¬
kate nicht nur in ganz Russland), sondern auch im Auslande Aner¬
kennung finden. Auch St. Petersburg hat treffliche Seidenfabriken
aufzuweisen und sind es hier besonders Modestoffe und verschieden¬
artige schwarze Seidenstoffe, Fai, Sarge, gros d’Ecosse und Atlase,
welche producirt werden. Es giebt 7 derartige Fabriken in St. Pe¬
tersburg, deren jährlicher Umsatz zwischen 100,000 Rbl. und 400,000
Rubel variirt. In Livland (Riga) existirt nur die Fabrik von Karins,
mit einem Umsatz von 50,000 Rbl.; dagegen giebt es noch in Polen
drei grössere Seidenfabriken, 2 in Lodz und 1 in Warschau. Als lan¬
desüblicher Seidenstoff, der namentlich im Moskauer Gouvernement
und Im Kaukasus in grossen Quantitäten erzeugt wird, kann der ge¬
streifte Kanaus angesehen werden, dessen Qualität dem Preise ent¬
spricht und der sich durch besondere Dauerhaftigkeit auszeichnet.
Seidenbandfabriken giebt es nach Timirjasew im Europäischen Russ¬
land nur 7 (nach dem Jahrbuche 8) mit 342 Arbeitern und einer jähr¬
lichen Production im Werthe von 249,830 Rbl. Die Leistungen die¬
ser Industriebranche sind geringer wie die der Seidenstoffweberei,
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und wird das Ausland in dieser Beziehung, noch lange ein grosses
Uebergewicht behaupten. Nur in einfachen Fabrikaten kann daher
auch die russische Seidenbandweberei die Concurrenz, und zwar
auch nur in dem durch den Zoll geschützten Inlande, behaupten.
6) WlRKWAAREN- UND TRICOTAGEFABRICATION.
Auch dieser Industriezweig hat in den letzten Jahren eine weit
grössere Ausdehnung gewonnen, als zu jener Zeit, aus welcher
statistische Nachrichten veröffentlicht sind. Im statistischen Indu-
strieatlas sind für Russland io Fabriken angeführt mit 245 Arbeitern
und einer Production im Werthe von nur 144,961 Rbl. Die Hälfte
dieser Fabriken befand sich im St. Petersburger Gouvernement. Auf
der letzten St. Petersburger Manufacturausstellung waren aber
5 Fabriken vertreten (darunter mehrere neue), welche allein schon
eine Production im Werthe von 445,00x5 Rbl. lieferten. Seitdem die
Rundstühle auch in Russland Eingang gefunden, hat sich die Wirk-
waarenfabrication stark vermehrt, und es stehen sehr ansehnliche
Fabriken im Betriebe, abgesehen von einer grossen Anzahl kleiner
Etablissements, welche ihr Gewerbe in einem mehr handwerksmässi-
gen Umfange betreiben. Da der Zoll für ausländische Wirkwaaren
ohne Abstufungen dem Gewichte nach erhoben wird, so kann die
russische Industrie mit den feineren ausländischen Wirkwaaren, von
denen ein grösseres Quantum auf ein Pfund geht, nicht concurriren,
und die Folge davon ist, dass die russischen Industriellen sich
grossentheils nur die Herstellung gröberer Wirkwaaren, namentlich
solcher aus Wollengarnen, angelegen sein lassen. Eine Ausnahme
hiervon machen nur Hielle & Dietrich in Warschau (Zyrardowo),
W. P. Kersten in St. Petersburg und L. Volkmann & Co. in Riga,
welche nicht nur feinere Wollen- und Baumwollengarne, sondern
auch selbst Seide verarbeiten. Jedenfalls ist dieser Industriezweig
noch erweiterungsfähig und hat dieselbe Berechtigung wie die
Baumwollenindustrie, mit welcher er das Gemeinsame hat, den
grössten Theil des zur Fabrication erforderlichen Rohstoffes aus dem
Auslande zu beziehen.
7) Rosshaare, Schweinsborsten, Bettfedern.
Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt die Fabriken oder
Etablissements, welche sich mit dem Reinigen und Sortiren der
Rosshaare und Schweinsborsten befassen, nicht getrennt auf, wahr¬
scheinlich wohl aus dem Grunde, weil es viele Etablissements giebt,
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433
welche diese beiden Industriezweige gemeinsam betreiben. Die An¬
gaben über die Productionsverhältnisse sind übrigens auch jeden¬
falls veraltet, denn das Jahrbuch führt für 34 Fabriken nur eine Ge-
sammtproduction im Wcrthe von 1,448,388 Rbl. auf, während z. B.
im Jahre 1868 die Rosshaare für die Werthsumme von 618,425 Rbl.,
Borsten für 3,131,506 Rbl., beide zusammen also in Summa für
3,749,931 Rbl. exportirt wurden, und der inländische Consum doch
ebenfalls noch grosse Anforderungen stellt. Heute kann man wohl den
Werth der jährlichen Production von für den Handel vorbereiteten
Rosshaaren und Schweinsborsten auf 14—16 Millionen Rbl. ! ) veran-
- schlagen, um so mehr als die Borstenpreise in den letzten Jahren
sehr im Preise gestiegen sind. Die meisten Etablissements, welche
sich mit der Herrichtung und dem Sortiren von Rosshaaren und
• Schweinsborsten beschäftigen, befinden sich in St. Petersburg
nämlich: 8 (meistens für Rosshaare), dann in Tschernigow: 6
(grossentheils für Borsten), Wladimir: 5 (Rosshaare), Kaluga: 4
(Borsten), Moskau, Twer und Tula ä 3.
Auch das Ankäufen, Einsammeln, Reinigen und Sortiren von Bett¬
federn bildet in Russland einen Industriezweig, mit welchen sich eine
ganze Reihe von Etablissements beschäftigen und werden jährlich
6 — 8000 Pud davon exportirt. Leider fehlen nähere statistische
Angaben über die Betriebsverhältnisse.
B. Producte aus dem Innern des Bodens (mit Ausnahme
der Metalle), Hölzer und Holzfabricate.
8) Baumaterialien und andere hierher gehörende Fabrt-
CATE AUS NATÜRLICHEM UND KÜNSTLICHEM STEIN, STEINHAUEREI
Steinschleiferei etc.
Ich verweise zunächst auf das, was ich über diese Industriezweige
bereits im I. Hefte der „Russischen Revue“ Seite 80 und im II. Hefte
Seite 167 u. f. gesagt habe, und erwähne hier nur, dass es iin Jahre
1866 nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums in Russland gab:
Arbeiter Production im Werthe
von Rubeln
8 Alabasterfabriken (Gypsbrennereien) 87 ' 129,051
146 Kalkbrennereien .14Ö (?) 357 * 48 *
2117 Ziegelbrennereien .. (?) 2,932,167
39 Dachziegel- und Thonröhrenfabriken 139 690,500
179 Holzschneide-und Sägefabriken . . . 179 3*886,798
Es wurden im Jahre 1871 exportirt: Rosshaare 45,298 Pud im Werthe von
1,298,233 Rubel, Schweinsborsten 98,607 Pud im Werthe von 9,860/, 00 Rubel.
29
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Dass sich die Zahl dieser Etablissements seit dieser Aufstellung
bedeutend gesteigert und dass namentlich auch die Leistungs¬
fähigkeit derselben sich sehr gehoben hat, kann als selbstverständlich
angesehen werden. Hinsichtlich der Cementfabriken, deren Zahl
das Jahrbuch nur auf 3 angiebt, habe ich bereits Seite 168 den
Nachweis ihrer bedeutenden Ausdehnung geliefert. Die in Folge
der grösseren Nachfrage steigenden Preise aller Baumaterialien
haben die Speculation wach gerufen, und in Folge davon sind in
den letzten Jahren bedeutende Etablissements entstanden. Nament¬
lich Kalkbrennereien sind mehrseitig angelegt worden und liefern
bei den hohen Kalkpreisen die günstigsten Resultate. — Ueber die
Steinschleiferei habe ich bereits im 1. Hefte Seite 80 gesprochen.
Sie gehört zu den Industriezweigen, welche Russland eigenthümlich
sind und findet ihre Begründung in dem Reichthum des Landes an
schleifbaren Mineralien.
9) Brennmaterialien aus dem Erdreiche.
. a) Kohlen .
Des grossen Holzreichthums Russlands habe ich schon bei Ge¬
legenheit der allgemeinen Besprechung der Moskauer Ausstellung
(Heft 2. S. 146 etc.) gedacht. Trotzdem haben nicht nur die un¬
gleiche Vertheilung des russischen Waldlandes, sondern auch die
im Laufe der Zeiten eingetretene Devastirung dieses letzteren Russ¬
land gezwungen, die Beschaffung andern Brennmaterials ins Auge
zu fassen. Glücklicherweise ist Russland auch an diesem letzteren
nicht arm und namentlich sind es seine Kohlenlager, welche berufen
sind, dieses Land vor einem Mangel an Brennmaterial zu schützen.
Seitdem Russland nach allen Richtungen hin mit Eisenbahnen
durchzogen ist, hat die Kohlenindustrie an Bedeutung dadurch ge¬
wonnen, dass nun die Möglichkeit geboten ist, einen billigeren
Kohlentransport zu bewirken, der ohne Eisenbahnen ausserhalb der
Grenzen der Möglichkeit, liegt. Einige Eisenbahnen danken sogar
lediglich diesem Zwecke ihr Entstehen. — Für verschiedene Zweige
der russischen Industrie ist die Benutzung von Kohlen ein Gebot der
Selbsterhaltung geworden. Ohne eine solche Benutzung würde
z. B. ein Theil der uralschen Hüttenwerke schon nach wenigen
Decennien ihren Betrieb beschränken, wenn nicht eins*ellen müssen,
denn nach der Ansicht von Autoritäten reichen die Holzvorräthe in
mehreren Gegenden des Urals nur etwa noch auf 25 Jahre, wenn sich
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die Hüttenwerke ausschliesslich nur des Holzes als Brennmaterial be¬
dienen würden. Mehrere Zuckerfabriken (in Tula und Kijew) ver¬
wenden jetzt schon Kohlen als Brennmaterial, andere aber, denen
solche noch nicht zur Verfügung stehen, müssen der Zukunft etwas
trüben Blickes entgegensehen, indem sie nicht mehr über die zum
Fabrikbetriebe nothwendigen Holzvorräthe disponiren können. Sie
müssen sich also ebenfalls anderes Brennmaterial verschaffen, um das
mangelnde Holz zu ersetzen.
Nach den „Tableaux statistiques d l’industrie des mines en Russie
en 1868 par C. Skalkowsky, Ingenieur des mines — St. P£tersbourg
1870“, herausgegeben vom Bergdepartement, verfügt Russland über
9 grosse oder minder grosse Kohlenbassins. Es sind dies*.
1. Das Bassin von Moskau (umfassend die Kohlenlager der Gou¬
vernements Nowgorod, Twer, Moskau, Tula, Rjäsan, Orel und
Ssmolensk).
Es befinden sich in diesem Bassin 11 Kohlengrubendistrikte, die
im Jahre 1868 eine Ausbeute lieferten von.2,967,334 Pud
(5 neue Gruben waren im genannten Jahre noch
im Bau begriffen).
2. Das Bassin von Kijew-Jelissawetgrad.
3 Gruben, von denen 2 im Bau begriffen, lieferten
im Jahre 1868. 90,540 „
3. Das Donezbassin.
a ) Im Gebiete des Donischen Kosakenheeres,
umfasst 6 Grubengebiete und lieferte 1868
an Kohlen 9,480, an Anthracit 5,403,534 Pud 5,413,014 „
b) Im Gouvernement Jekaterinosslaw 3oKohlen-
grubendistricte, in welchen 4 Gruben mo-
' mentan ausser Betrieb standen, mit einer
Production von 2,362,236 Pud Kohlen und
52,400 Pud Anthracit.2,414,646 „
4. Das Bassin des Ural (4 Grubendistricte, von
denen 1 Grube ausser Betrieb stehend). 323,645 „
5. Das Bassin des Zarthums Polen.
ä) Gruben der Krone (5 Districte) Steinkohlen 6,680,671 „
b) Privatgruben (4 Districte) Steinkohlen . . . 8,539,730 ,,
6) Bassin von Kusnetzky — Gouvernement Tomsk
— (1 Grube). 188,167 „
7. Bassin des Territoriums der sibirischen Kirgisen
(5 Gruben, von denen 1 ausser Betrieb stehend) . . 382,414 ,,
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8. Bassin des östlichen Sibiriens (i Grubengebiet) 333,880 ,,
9) Bassin des Kaukasus (2 Grubengebiete) liefern
zus. 198,000 Pud, wovon 60,000 Pud Lignite • v . . 198,000 ,,
Zusammen . . . 27,532,141 Pud.
Darunter Stein- und Braunkohlen .... 21,925,657 Pud
Anthracit.. 5,455,944
Bituminöser Schiefer und Lignite . . .' . 150,540 „
Diese Zusammenstellung zeigt, welche Bedeutung namentlich die
Bassins im Zarthum Polen und das weit ausgedehnte Donezbassin
haben. Von letzterem theilt General von Helmersen mit, dass unter
den hunderten, in der Westhälfte dieses Bassins aufgeschlossenen
Flötzen sich 44 bauwürdige mit einer Gesammtmächtigkeit von 112
Fuss befinden, und dass diese Flötze nach sorgfältiger Abschätzung
ein Quantum von 414 Milliarden Pud guter Kohle liefern können,
wenn man sie auch nur bis zu der verhältnissmässig geringen Tiefe
von 100 Lachter abbauen wollte. Im östlichen, den Donschen
Kosaken gehörenden Antheil, dürfte der Vorrath an guter Kohle
noch bedeutender sein.
Im Moskauer Bassin (bei Tula) wird nun, seit die Eisenbahn von
Tula nach Wjasma und die Zweigbahn von dieser nachjelez be¬
stätigt sind, die Kohlenindustrie sehr bald einen gewaltigen Auf¬
schwung nehmen und einer sehr günstigen Zukunft entgegensehen
können. Nahe beiMosJvau gelegen, im Herzen Russlands, ist für diese
Kohle die Möglichkeit leichterer Beförderung in die P'abrikdistricte
Central-Russlands gegeben. Sie wird auch dadurch noch gewinnen,
als sich vielfach Eisenstein neben der Kohle findet.
Dass demnach Russland genügende Kohlenvorräthe besitzt, steht
ausser Zweifel. Ebenso gewiss ist es, dass sich intelligente und
materielle Kräfte finden, um die russischen Kohlenlager zu exploi-
tiren. Der Schwerpunkt der russischen Kohlenindustrie beruht auf
der zu schaffenden Möglichkeit einer billigen Verfrachtung, welche
nur durch die Eisenbahnen vermittelt werden kann. Die Lösung
der Eisenbahnfrage wird daher auch die Lösung der Kohlenfrage
bedingen.
Gegenüber der oben nachgewiesenen inländischen Production ist
der Import ausländischer (englischer) Kohlen bedeutend genug.
Derselbe betrug im Jahre 1868 — 35,217,000 Pud. Im Jahre 1870
stieg dieser Import sogar auf 51,583,006 Pud. Dieser Import wird
grossentheils durch das Bedürfniss der St. Petersburger Fabriken
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hervorgerufen. Dieselben sind gezwungen, ihren Bedarf aus Eng¬
land zu decken, weil der Eisenbahntransport die inländischen Kohlen
so vertheuern würde, dass die englischen Kohlen, trotz ihrer an¬
sehnlichen Preissteigerung, doch noch immer weit billiger zu stehen
kommen, wie dies bei den inländischen der Fall sein würde.
b] Torfindustrie .
Missglückte Versuche mit der Exploitirung Von Torfmooren,
welche im Laufe der letzten 20 Jahre sowohl im Moskausphen wie
im Tulaschen Gouvernement und auch anderwärts gemacht worden
sind, haben die Torfindustrie, und zwar zum grossen Nachtheile der
Consumenten von Brennmaterial in solchen Misscredit gebracht, dass
heute jeder Capitalist vor einem derartigen Unternehmen zurück¬
schreckt. Dies ist um so mehr zu bedauern, als sich sowohl in Moskau
wie in St. Petersburg und in den Zuckerrübendistricten der Torf
als Brennmaterial hoch verwerthen Hesse. In der Nähe von St. Pe¬
tersburg giebt es treffliche Torfmoore, welche sich leicht bearbeiten
lassen und die ein Torfmaterial enthalten, welches an holler Qualität
seines Gleichen sucht, das aber immer noch einer entsprechenden
Ausnützung vergebens harrt. In neuester Zeit, namentlich seit
dem so unverhältnissmässigen Steigen der englischen Steinkohlen¬
preise und nachdem sich die Fabrication von Kugeltorf als eine
leichte und zweckmässige bewährt hat, scheint es allerdings, als pb
sich derartige Unternehmungen in grösserem Maassstabe anbahnen
würden. Wir können den Unternehmern nur Glück dazu wünschen,
gleichzeitig aber auch dem Lande, denn es ist jedenfalls zu bedau¬
ern, dass man bis jetzt angestanden hat, sei es aus Vorurtheil oderaus
Misstrauen, ein treffliches Brennmaterial einer rationellen Benutzung
zu unterziehen.
9 #
10) Glas, Fayence, Porcellan; Thonwaaren etc.
a) Die Glas fabrication .
Nach dem Jahrbuche des Finanzministeriums giebt es im ganzen
russischen Reiche 222 div. Glasfabriken mit 10,748 Arbeitern und
einer jährlichen Production im Werthe von 3,798,158 Rbl Davon y
entfallen:
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Werth der jährlichen
Froduction in Rubeln.
2,806,984
776,194
120,309
79,671
15,OCX)
Die grösste Anzahl von Glasfabriken befindet sich im Gouver¬
nement Wladimir (27)7 dann folgen die Gouvernements Wolhynien
(21), St. Petersburg (16), Livland (9), Twer (9;, Wjatka, Nishnij-
Nowgorod, Nowgorod und Ssmolensk (ä 7), Orel, Rjäsan und Ssim-
birsk (ä 6), Wilna und Perm (ä 5) u. s. w. Ueberhaupt giebt es in 30
Gouvernements des Europäischen Russlands Glasshütten, woraus schon
hervorgeht, dass dieser Industriezweig verhältnissmässig stark be¬
trieben wird. Die höchste Production (819,776 Rbl.) wird im Gou¬
vernement Wladimir erzielt, dann folgen Orel mit 440,000 Rbl.,
St. Petersburg mit 359,997 Rbl., Ssmolensk mit 228,075 Rbl,
Twer mit 210,719 Rbl. u. s. w. Die meisten Fabriken liefern nur
ordinäre Glaswaaren, namentlich Fenster- und Bouteillenglas und
ist die quantitative Production einzelner Hütten sehr bedeutend.
So produciren die Fabriken von Kostjerjew in den Gouvernements
Jarosslaw und Wladimir jährlich 6 Millionen Flaschen und 2000 Ki¬
sten Fensterglas. In der Fabrication feinerer Glaswaaren, nament¬
lich von Tafelgeschirr und Crystall liefern die schon grösseren Fa¬
briken von Ssinowjew (St. Petersburg und Twer), J. *S. Malzow
(Rjäsan und' Wladimir) und S. J. Malzow (Orel und Ssmolensk) Her¬
vorragenderes. Letzterer besitzt 8 verschiedene Glashütten, welche
eine jährliche Production irn Werthe von gegen 1 1 /% Million Rbl. liefern
und 1800 Arbeiter beschäftigen. Die drei hier genannten Glasfa¬
briken sind übrigens die grössten in Russland. Die Kaiserliche Glas-;
fabrik in St. Petersburg ist ihren Leistungen nach wohl die hervor¬
ragendste, doch nimmt dieselbe, gleich der Kaiserlichen Porcellan-
fabrik, eine so exceptionelle Stellung ein, dass man sie kaum mit
den übrigen Fabriken, bei welchen der zu realisirende Geschäfts¬
gewinn nothwendig in den Vordergrund tritt, in Vergleich ziehen
kann. Die finnländischen Fabriken, obgleich zahlreich, sind meist
von kleinerem Umfange, doch erfreuen sich die finnländischen Fa-
v bricate ihrer Billigkeit wegen eines guten Rufes. Weit bedeutender
in ihrer Production sind die polnischen Fabriken, unter denen es
Zahl der
Fabriken Arbeiter
Auf die Gouvernements des
Europäischen Russlands ... 123 935 2
auf das Zarthum Polen .... 22 787
auf das Grossfürstenth. Finnland 61 294
auf Sibirien. 15 315
auf den Kaukasus . 1 ?
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einzelne giebt, wie z. B. die der Gebrüder W. & E. Gordlitschky,
welche in Crystall- und geschliffenen Glaswaaren gute Fa-
bricate liefern. Uebrigens hatten sich die russischen Glasfabrikanten
in sehr auffallender Weise von der Moskauer Ausstellung fern ge¬
halten; nur der obengenannte Herr Kostjerjew, und wenn ich nicht
•irre, Herr S. J. Malzow, hatten dieselbe beschickt. Sollten sie ge¬
fürchtet haben, mit ihren Fabricaten zu sehr hinter den ausländischen
zurückzubleiben? So grosse Fortschritte die russische Glasfabri-
cation auch gemacht hat, so vermag sie allerdings noch nicht, weder
hinsichtlich der Qualität noch des Preises, mit der ausländischen
Glasindustrie zu concurriren.
b) Die Porcellan-, Fayence - und Thomvaarenfabrication .
Nach dem Jahrbuche giebt es in Russland und Polen 28 Porcellan-
fabriken mit 2580 Arbeitern und einer jährlichen Production im
Werthe von 1,042,054 Rubel, von denen 16 Fabriken auf das Mos¬
kauer, 4 auf das Wolhynische, 3 auf das Warschauer, je 2 auf das
St. Petersburger und Wladimirsche Gouvernement und I auf Liv¬
land entfallen. Neuerdings ist nicht nur die Zahl der Fabriken,
sondern auch die Productionsleistung gestiegen. So hat die be¬
kannte Firma Siemens Halske im Nowgoroder Gouvernement
eine Porcellanfabrik eröffnet, die Anfangs nur Isolatoren für Tele-,
graphenleitungen arbeitete, neuerdings abgr auch alle möglichen
Geschirre liefert. Auch in Helsingfors (Finnland) giebt es eine
Porcellanfabrik, welche das Jahrbuch nicht berücksichtigt, die von
W. Andsten, mit einer jährlichen Production im Werthe von
42,000 Rubel. Ausser den hier genannten giebt es noch zwei be¬
deutende Fabriken, die von Kusnezow (Livland und Wladimir) —
Umsatz 626,000 Rubel —, und von E. Gardener (Moskau) -- Um¬
satz ^00,000 Rubel —, welche die Porcellanfabrication in Verbin¬
dung mit-der Fayencefabrication betreiben. Die grösste russische
Porcellanfabrik, zugleich diejenige, deren Fabricate nach denen der
Kaiserlichen Porcellanfabrik in St. Petersburg das grösste Re-
nomme gemessen, ist die der Gebrüder Kornilow mit einem jähr¬
lichen Umsatz von 165,000 Rubel. Die Porcellafle dieser Fabrik
kommen, bis auf die hohen Preise, den ausländischen Fabricaten
noch am nächsten. Im Allgemeinen gilt aber von der Porcellan¬
fabrication, was von der Glasfabrication gesagt wurde. Uebrigens
kann man heute den Werth der Gesammtproduction auf I l /s Mill.
Rubel veranschlagen.
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Fayencefabriken giebt cs nach der mehrfach angeführten Quelle
44 mit 1032 Arbeitern und einem jährlichen Productionswerth von
angeblich nur 359,590 Rubel, dagegen weist das Jahrbuch 616
Thonwaarenfabriken und Töpfereien auf, welche 1715 Arbeiter be¬
schäftigen und eine Production im Werthe von 400,084 Rubel
liefern sollen. Diese Angaben scheinen, selbst w T enn man den ge¬
ringen Werth der Fayence- und namentlich der Töpferwaaren in
Anschlag bringt, doch zu niedrig gegriffen. Auf die 44. Fayence¬
fabriken würde nur eine Durchschnittsproduction im Werthe von
8170 Rubel per Fabrik, auf die Thonwaarenfabriken eine solche von
ä 649 Rubel entfallen, und dies scheint doch in Berücksichtigung
der russischen industriellen Verhältnisse eine zu geringe Production
zu sein. Man muss immer bedenken, dass durch derartige Fabricate,
wie gerade die hier in Rede stehenden, der Bedarf von 80 Millionen
Menschen gedeckt werden muss, und das kann mit der oben ange-'
führten Production nicht geschehen. #
11) Holz-Industrie.
Der Export von rohen und ungearbeiteten Hölzern, sowie von
Brettern, Schiffs- und andern Bauhölzern nimmt von Jahr zu Jahr zu,
und erreichte in der letzten Zeit eine Höhe von 13 bis 14 Millionen
Rubel jährlich. Der trefflichen Schiffsbauhölzer habe ich schon bei
Besprechung der Forstabtheilung der Moskauer Ausstellung Er¬
wähnung gethan. Russland hat durch einen massenhaften und
ziemlich unsystematischen Export dieser Hölzer das Capital .ange¬
griffen, das durch seine Waldungen repräsentirt wird, anstatt nur
die Zinsen dieses Capitals zu benutzen. Es wird daher dringend
nothwendig, für die Zukunft diesen Fehler zu vermeiden. Auch er¬
scheint es höchst wünschenswerth, auf den Export zugerichteter und
bearbeiteter Hölzer noch mehr Gewicht zu legen, als. es bisher ge¬
schehen ist. Dies wird aber nur dadurch möglich, dass eine gere¬
gelte Forstcultur allgemein eingeführt und mit dieser der Betrieb
forstvtfirthschaftlich - technischer Nebengewerbe eingeführt wird^
Auch hierüber habe ich mich Seite 150 d. Bl. fluchtig ausgesprochen.
Mag auch die Zahl der Sägemühlen in Russland bedeutend sein .
so entscheidet die Zahl allein doch nicht, sondern lediglich die Lei
stungsfähigkeit dieser Mühlen, und letztere lässt im Allgemeinen
noch sehr viel zu wünschen übrig. Die Gromow’schen, Bernadaki-
schen, Wölirmann’schen Dampfsägemühlen etc. liefern den Beweis
der Lucrativität derartiger Etablissements. — Auch andere Zweige
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der Holzindustrie, wie z. B. die Böttcherei (Fassbinderei) haben
sich keineswegs noch in der Weise entwickelt und herausgebildet,
wie dies möglich wäre.
Die Tischlerei ist zwar sehr, verbreitet, doch erhebt sie sich tnit
wenig Ausnahmen nur über den handwerksmässigen Betrieb.
Namenlich muss es auffallen, dass im Zweige der Bautischlerei,
welche doch jedenfalls einen Betrieb in grossartigerem Maassstabe
gestattet, nur sehr wenige Etablissements vorhanden sind, welche
durch Bearbeitung des Holzes mittelst Maschinen ihren Betrieb zu
erweitern streben. Wir haben in dieser Beziehung nur erst Anfänge
zu registriren. Für Möbeltischlerei giebt es namentlich in St. Peters¬
burg einige grössere Etablissements, welche sich bereits über dea
handwerksmässigen Betrieb erheben, so die N. Stange’sche, früher
Tuhr’sche Tischlerei, mit einem jährlichen Umsatz von 319,000
Rubel, die Lizeray’sche mit einem Umsatz von 150,000 Rubel etc.
Auch einig* Etablissements für Billardtischlerei gehören hierher.
Die Anwendung von Holzbearbeitungsmaschinen' ist aber keines¬
wegs noch so verbreitet, wie dies wünschenswerth wäre und im
Interesse der Industriellen läge.
C. Producte aus dem Pflanzen-, Thier- und Mineral¬
reiche, welche einer chemischen Bearbeitung unter¬
zogen sind.
12) Chemische und Farbewaarenfabriken, Zündholz-
FABRICATION ETC.
Nach Timirjascw giebt es im Europäischen Russland mit Aus¬
schluss Polens und Finnlands 278 Fabriken, welche sich mit der
Erzeugung von verschiedenartigen chemischen Fabricaten, als:
Chemiealien, FarbewaaVen, cosmetischen Mitteln, von Essig, künst¬
lichen Mineralwassern; Zündhölzchen, Lacken verschiedener Art und
Siegellack beschäftigen, 6000 Arbeiter unterhalten und eine jähr¬
liche Production im Werthe von ca. 7 Millionen Rubel liefern.
Hiervon sind 96 wirkliche chemische und Färbt waarenfabriken
mit 2,570 Arbeitern und einer Production im Werthe von 4,747,075
Rubel. Das Jahrbuch dagegen, dessen Angaben aus früheren-
Jahren stammen, macht für Gesammtrussland 102 derartige Fabriken*
namhaft, von denen 8 mit 418,720 Rubel Productionswerth auf den
Kaukasus, 7 mit 532,720 Rubel Productionswerth auf das Zarthum
Polen und 3 kleine Fabriken auf Finnland entfallen.' Wie wenig
diese Fabriken im ßtande sind, den inländischen Bedarf zu decken,
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442
geht daraus hervor, dass Russland sehr bedeutende Quantitäten
ausländischer Chemiealien und Farbewaaren importirt, so im
Jahre 1870 für 13,416,973 Rubel Farbewaaren und für 4,233,185
Rubel Chemiealien für den Gebrauch inländischer Fabriken. Dem¬
nach würde aus dem Auslande nahezu der vierfache Betrag der¬
artiger Waaren noch importirt werden, den Russland im Stande ist,
in seinen eigenen Fabriken zu erzeugen. Dennoch ist die Leistungs¬
fähigkeit einzelner russischen Fabriken sehr bedeutend. So liefern
u. A. Maljutin Söhne zu Dochtorow (Moskauer Gouvernement) jähr¬
lich für 21/2 Millionen Rubel Chemiealien, Krapp und andere Farbe¬
waaren, demnach mehr wie die Hälfte der oben angeführten Ge-
sammtproduction, woraus schon hervorgeht, dass selbst die Timir-
jasew’schen Angaben nicht mehr den gegenwärtigen Productions-
verhältnissen entsprechen. Die Annahme von Buschen’s, dass der
Werth der jährlichen Production von Chemiealien und Farbewaaren
aller Art die Höhe von 8 Millionen Rubel erreicht, dürfte % daher kaum
zu hoch gegriffen sein. In volkswirtschaftlicher wie in industrieller
Beziehung wäre namentlich die Erzeugung künstlichen Sodas von
grosser Wichtigkeit, da sich Russland in Bezug auf diesen wichtigen
Hülfsstoft noch in der vollsten Abhängigkeit von England befindet,
- indem der Import englischer Soda sehr bedeutend ist, beispiels-
„ weise im Jahre 1870 — 910,706 Pud betrug. Die Anfänge, welche
man in Russland mit der Fabrication von Soda gemacht hat,' stehen
trotz des grossen Salzreichthums Russlands noch sehr vereinzelt
da, und beschränken sich erst auf 2 bis 3 Fabriken. Es unterliegt
gar keinenl Zweifel, dass die Sodafabrication in grösseren Verhält¬
nissen nicht nur in Russland ausführbar, sondern auch sehr nutzbar
und lucrativ sein dürfte. Ueber die Salzprgduction Russlands" hat
die ,,Russische Revue“ im 1. Hefte S. 100 bereits authentische
Nachrichten gebracht. Unter die chemischen Fabricate, welche*
einen mehr speciell russischen Character tragen, gehört das Eier-
Albumift, welches in Kasan und Moskau fabricirt wird, und das eben
nur in Gegenden gewonnen werden kann, welche so reich an Hüh¬
nereiern sind, .wie die Wolgagegenden Russlands. Seitdem man
übrigens in Russland angefangen hat, Blutalbumin in grösserem
Maassstabe (in den Schlächtereien von St. Petersburg und Moskau)
' zu fabriciren, tritt die Eieralbuminfabrication schon sehr in den
Hintergrund.
Mit der Entwickelung der russischen Industrie im Allgemeinen
wird auch die Fabrication von Chemiealien und Farbewaaren Hand
% •
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443
in Hand gehen müssen, wenn nicht im Industrieleben Russlands
eine sehr fühlbare Lücke entstehen soll. &
Die Fabrication von Zündhölzchen ist verhältnissmässig weit ent¬
wickelter als die andern Zweige der chemischen Production, und
giebt es nur im Europäischen Russland allein 79 derartige Fabriken
mit L 955 Arbeitern und einer Production im Werthe von 452,555
Rubel. Hierzu kommen noch einige grössere Fabriken Finnlands
und Polens, so dass der Werth der jährlichen Production auf höher
als */* Million Rubel steigt. Die BjörneborgscWzn Streichhölzer sind
berühmt und werden auch nach dem Auslande exportirt; dasselbe
gilt auch von russischen Fabricaten.
Cosmctische Erzeugnisse stammen vorzugsweise aus St. Peters¬
burger, Moskauer und Warschauer Fabriken. Im Europäischen
Russland giebt es im Ganzen 25 solcher Fabriken mit über 500
Arbeitern und einer Production im Werthe von 1 */» Million Rubel.
Von diesen Fabriken entfallen nur 4 kleinere nicht auf St. Petersburg
und Moskau. In Warschau befinden sich überdem noch 3 grössere
Fabriken cosmetischer Mittel und Präparate.
Ziemlich entwickelt ist die Fabrication verschiedenartiger Lacke,
und würde dies wahrscheinlich in noch umfangreichererWeise derFall
sein, träten dem nicht die in Folge der Branntweinaccise hervorgeru¬
fenen hohen Spirituspreise hindernd entgegen. Man zählt in Russ¬
land 29 Lackfabriken, undTimiijasew giebt den Werth ihrer jährlichen
Production mit 489,143 Rbl. an, was ihren heutigen Leistungen nicht
mehr entspricht. Heute werden schon für wenigstens I Million Rbl.
Lacke in Russland fabricirt. Auf der letzten St. Petersburger Aus¬
stellung waren 10 Fabriken vertreten, welche zusammen eine Pro¬
duction im Werthe von 727,000 Rubel lieferten. Diese Vergleiche
sind deshalb von hohem Interesse, weil sie beweisen, wie rasch sich
alle Zweige der russischen Industrie entwickeln, und wie sehr
sie ihre Production vön Jahr zu Jahr steigern. Uebrigens kann
Russland hinsichtlich der Fabrication von feinen Lacken nicht mit
dem Auslande concurriren und die feinen französischen und eng¬
lischen Lacke sind auch heute noch der russischen Industrie unent¬
behrlich.
13) Talg-Industrie.
Russland gehörte zu den Ländern, welche den meisten Talg er- -
zeugten und exportirten. Heutehaben Talgproduction so wieTalgex-
port bedeutend abgenommen. Man hat zum grossen Theil das un-
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wirtschaftliche Nicderschlachtcn ganzer grosser Rindvieh- und
Schatheerden, lediglich zum Behufe der Talggewinnung, aufg^ge-
ben, und dies würde jedenfalls als ein Fortschritt zu betrachten sein,
wäre nicht die Verminderung der Viehbestände die in anderer Bezie¬
hung weniger erfreuliche Ursache davon. Diese Umstände erklären
auch zugleich das Sinken des Talgexportes. Eine andere Ursache
findet dieses letztere in der zunehmenden Concurrenz Amerikas,
dessen Talgexport sich von Jahr zu Jahr vergrössert. Nicht nur, dass
man in England, Oesterreich und Preussen schon überseeischen
Talg anstatt des russischen verarbeitet, es findet der amerikanische
Talg sogar schon Absatz bis nach Warschau. Während noch vor
8—io Jahren ausRussland 4*,2 MillionenPudTalg ausgeführt wurden,
war diese Ausfuhr im Jahre 1871 nach und nach schon auf
931,976 Pud gesunken. Eine erfreuliche Ursache dieses Sinkens ist
aber auch der Umstand, dass die russische Industrie selbst heute
weit mehr Talg verarbeitet wie in früheren Jahren. Die Stearin- und
Seifenfabrication haben grosse Dimensionen angenommen, und die
P'abrication von Talglichtern hat sich mindestens nicht vermindert.
In sehr vielen Etablissements geht diese letztere mit der Fabrication
von Seife Hand in Hand. Dies ist wohl auch die Ursache, dass die
russischen Statistiker, z. B. Timirjasew, beide Industriezweige Ge¬
meinsam aufführen. Letzterer giebt die Zahl der Seifen- und Lichter¬
fabriken im Europäischen Russland.auf 874 mit 2,734 Arbeitern und
eine Production im Wert he von 6,606,325 Rbl. an. Das Jahrbuch
dagegen berechnet die Zahl .der Seifenfabriken allein für Ge-
sammtrussland, inclusive Polens, des Kaukasus und Sibiriens, auf
353 mit einer jährlichen Production im Werthe von 4,892,107
Rubel. — Grössere oder minder grosse Seifensiedereien giebt es # in
allen Theilen Russlands, die meisten in Tobolsk (32), Tambow und
Eriwan (29), Perm (22), Tomsk (17), Archangelsk (16), Kursk, Ssara-
tow und Tiflis (ä 11), Moskau, Woronesh, Orel und Stawropol (ä 10),
Rjäsanund Wolhynien (8), St. Petersburg, Charkow, Jekaterinosslaw,
Ssamara, Warschau und Irkutsk (ä 6) etc. Die höchste Production
liefern die Gouvernements Moskau (über 1 Million Rbl.), St. Peters¬
burg (4 bis 500^000 Rbl.), Chersson und Kursk (2 bis300,000 Rbl.).
Die Kybersche Seifenfabrik in Moskau allein liefert eine jährliche
Production im Werthe von 700,000 Rbl. Die Krestownikow’sche
Stearin- und Seifenfabrik in Kasan wohl eben eine solche, wenn nicht
eine noch höhere. Die Kasanschen Seifen gemessen eines besonderen
Renomm6e§. Die russische Seifenfabrication ist von hoher Wichtigkeit
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und verdient die vollste Aufmerksamkeit der russischen Industriellen.
Gelingt es, die ihr nothwendige Soda im Lande zu erzeugen, so sind
bei ihr alle Bedingungen erfüllt, welche man an eine gesunde Indu¬
strie stellen kann und es ist dann auch zu hoffen, dass russische
Seife ein sehr bedeutungsvoller Exportartikel werden dürfte.
Nahezu dasselbe gilt von der Stearin/ab rication. Das Jahrbuch
führt 16 Stearinfabriken mit 2137 Arbeitern und einer Production von
7,337,642 Rbl. huf. Timirjasew berechnet den Werth der jährlichen
Production der 10 russischen Fabriken auf 5,190,290 Rbl. Nach den
Angaben aber, welche der grösste Theil der Stearinfabrikanten gele¬
gentlich der letzten St. Petersburger Ausstellung gemacht hatte, erhebt
sich die jährliche Production sämmtlicher Stearin fab riken auf die
Werthsumme von 10,768,269 Rbl. In letzterer Summeistallerdings auch
der Werth der Seife mit einbegriffen, welche aus dem Olein als Ne-
benproduct gewonnen wurde. Jedenfalls zeigt diese letzte Angabe
aber, dass die Stearinfabrication in Russland grosse Dimensionen
angenommen hat, wenn auch die Zahl der Fabriken selbst keine
sehr bedeutende ist. Die grösste und leistungsfähigste Stearinfabrik
(ohne Seifenfabrik) ist die St. Petersburger Newski-Fabrik (Kasalet
& Co ) mit einer jährlichen Production im Werthe von 3,900,000 Rbl.,
dann folgt die Stearin- und Seifenfabrik der Gebrüder Krestownikow
in Kasan (2,460,000 Rbl.), die Gesellschaft der Kaletowschen Lichte
in Moskau (1,150,000 Rbl.), die Moschninsche Fabrik im Moskau-
schen Gouverrtement, Dorf Martjarow und die Petrowsche Fabrik in
Jelez (ä 600,000 Rbl.), die Gawisskische Actiengesellschaft in Wy-
borg (300,000 Rbl.) u/A. Ausserdem giebt es auch noch Fabriken
im Gouvernement Minsk, Perm und Wjatka, und 5 Fabriken im
Zarthum Polen. Trotz der ansehnlichen Steigerung der Stearinfa¬
brication in Russland, ist doch der Export von Stearin und Stearin¬
lichtern im Ganzen ein unbedeutender, was um so mehr zu beklagen
ist, als in früheren Zeiten russische Stearinlichte zu den gesuchten
Artikeln auch ausserhalb Russlands zählten.
14) Oelfabrication.
v. Buschen berechnet den Werth der jährlich in Russland ge¬
pressten verschiedenartigen Oele auf 1 1 ‘/4 Millionen Rbl. Die Haupt¬
masse des producirten Oeles bildet das Hanf- und Leinöl, welche
auch, so wie das Sonnenblumenöl, als Exportartikel eine hervorra¬
gende Rolle spielen. Dieser Export ist aber nicht gleichmässig hoch,
und namentlich in den letzten Jahren zeigt sich eine Abnahme des-
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selben. Im Jahre 1868 exportirte Russland über seine Europäische
Zollgrenze noch 143,622 Pud Hanf- und Leinöl (689,385 Rbl.), 1869
fiel dieser Export auf 69,910 Pud und 1870 sogar auf 2081 Pud.
Sonnenblumenöl wurdeim Jahre 1868—21,974 Pud (94,489 Rbl.) ex-
portirt, 1870 dagegen gar keines. Der Consum von Oel ist in Russ¬
land sehr bedeutend und als Ursache davon kann die lange Fasten¬
zeit angesehen werden. Die stärkste Oelfabrication wird im Gouver¬
nement Kursk betrieben, in welchem es 42 grössere Oelfabriken
und 150 landwirtschaftliche Oelmühlen giebt. Aber ausserdem
existiren in St. Petersburg, Moskau, Riga, Odessa u. a. O. sehr be¬
deutende Etablissements, welche nicht nur für den iünern Consum,
sondern auch für den Export arbeiten. Ich erwähne nur die St. Pe¬
tersburger russische Dampfölfabrik (Kasalet & Co.), welche jährlich
100, (XX) Pud Leinöl und 300,000 Pud Oelkuchen, beides im Werthe
von 800,000 Rbl. producirt, mit starker Dampfkraft und auf 12 hy¬
draulischen Pressen arbeitet. Unter den Odess^er Oelmühlen ist die
von M. J. Bljumski, unter den Rigaer die von K. Schmidt, und
unter den Warschauern die von J. R. Bornstein hervorzuheben.
15) Naphthagewinnung.
Da dieselbe nur auf den Kaukasus und auf Turkestan entfällt,
so verweise ich auf das, was ich hierüber bei Besprechung der kau¬
kasischen und turkestanschen Productionsverhältnisse (im 3 und 4.
Hefte der „Russischen Revue“) gesagt habe.
16) Leder, Lede-rfabricate & Pelzwaaren.
Der grosse Viehreichthum Russlands bedingt auch einen entspre¬
chenden Reichthum an Rohleder, das zu den bedeutendsten Export¬
artikeln Russlands gehört. Dieser Export überwiegt auch bedeutend
den von bearbeitetem Leder; während von letzterem (vorzugsweise
Juchten) 1868 — 40,239 Pud (für 615,249 Rbl.), 1869 — 28,430 Pud
und 1870—27,303 Pud exportirt wurden, belief sich der Export von
Häuten (Rohleder) 1868 auf 343,143 Pud (2,386,355 Rbl.), 1869 auf
358,660 Pud und 1870 auf 176,038 Pud. Vom Jahre 1861 bis 1868
war der Export von Rohleder uni 131%, der von beärbeitetem Leder
nur um 300/0 gestiegen. Dies characterisirt die russische Lederin¬
dustrie und zeigt, dass sie keineswegs gleichen Schritt mit der Ent¬
wickelung der ausländischen Lederindustrie gehalten hat, denn sonst
müsste auch der Export von bearbeitetem Leder bedeutender sein,
als es der Fall ist.
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447
Nach Timirjasew giebt es im Europäischen Russland (ohne Polen)
Zahl
der
Höhe der Production
Fabriken
Arbeiter
in Rubel
Gerbereien.
2,584
> 1.545
14,906,797
Saffianfabriken.
35
1,164
>,245,163
Sämischlederfabriken . .
77
179
46,393
Lacklederfabriken ....
9
206
259,400
Hierzu kommen noch
nach dem Jahrbuche des
Finanzministeriums im Zar-
tkürn Polen:
2,705
13.094
> 6 , 457,753
Gerbereien etc.
272
1,259
1,894,638
Im Grossf. Finnland . . .
32
114
60,765
In Sibirien.
219
998
1,825,714
Im Kaukasus.
75
> 99 ')
120,170 SO
dass im Gesammtgebiete
/
Russlands existiren ....
3,303
15,664
20,359,040.
Schon diese Zusammenstellung genügt, um darzuthun, dass die
Bearbeitung von Leder einen der bedeutendsten Industriezweige
Russlands bildet, indem kein anderer eine so grosse Anzahl von ihm
eigentümliche Etablissements aufzuweisen hat. Die grösste Anzahl
derselben befindet sich in den Gouvernements Warschau (239), To-
bolsk (139), Ssaratow (127), Wolhynien (121), Perm (117), Nishnij*
Nowgorod (104), Witebsk (100). Die höchste Production dagegen
liefern die Gouvernements St. Petersburg, Warschau, Tobolsk, Orel,
Moskau, Wjatka, Kasan, Twer (sämmtlich über 1 Million Rbl. jähr¬
lich). Die Fabrication von rothen und schwarzen Juchten hat die
russische Lederindustrie berühmt gemacht, trotzdem ist aber nur ein
sehr geringer Theil der fabricirten Leder exportfähig, da das Ausland
weit höhere Ansprüche an die Qualität des Leders stellt, wie das
Inland. Es können nur etwa 15 — 200/0 der erzeugten Lederwaaren
exportirt werden, obgleich das Ausland weit höhere Preise gewährt
wie das Inland. Dieser Umstand zeigt mehr als alles Andere, dass
die russische Lederindustrie trotz des Renommes, dessen sie sich
erfreut, noch keineswegs eine hohe Entwickelungsstufe erreicht hat;
er erklärt zugleich aber auch, warum der Export von bearbeitetem
*) Theilweise unbekannt.
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448
Leder so sehr hinter dem von Rohleder zurückbleibt. Das Ausland
würde bereitwilliger Käufer von russischem Juchtenleder sein, wenn es
nur im Stande wäre, solches in erforderlicher Quantität und Qualität
zu erhalten. In anderen Ledersorten als Sohlenleder, Deckenleder,
Riemenleder, Chagrin- und namentlich Lackleder steht das russi¬
sche Fab ricat dem ausländischen noch sehr bedeutend nach, obgleich
ein grosser Theil der russischen, namentlich der Warschauer Fa¬
briken alle Anstrengungen macht, die berührten Lederindustriezweige
nach Kräften auszubilden. Es findet daher auch noch ein lebhafter
Import der oben genannten Ledersorten aus dem Auslande statt.
Saflfianleder wird in guter Qualität in Russland, namentlich in Moskau
erzeugt. Das Kasansche Chagrin- (Ziegen-) Leder ist von hoher Qua¬
lität und deshalb gesucht, doch wird es nur in geringer Quantität
erzeugt. In der Bearbeitung von Pferdeleder ist Russland auffallender-
weise noch zurück, trotz des grossen Reichthums an Rohleder dieser
Art. Dagegen ist man in der Bearbeitung von Füllenleder, als Hand¬
schuhleder, ziemlich weit und versteht man dasselbe so zuzurichten,
dass ma^i es vom Ziegenleder kaum zu unterscheiden vermag. Der
Hauptsitz der Juchtenlederfabrication ist das Gouvernement Ko-
stroma und gilt der dortige juchten als der beste. Neuerdings liefern
aber auch St. Petersburger und Kasansche Fabriken guten Juchten.
In der Saffianfabrication zeichnet sich besonders Moskau aus;
die dortige J. Schuwalow’sche Fabrik verarbeitet jährlich gegen
Million Häute zu Saffianleder, und liefert eine jährliche Pro¬
duction im Werthe von 860,000 Rbl. Die grösste Lederfabrik Russ¬
lands ist die der Gebrüder Ssawin in der Stadt Ostraschkow (Gou¬
vernement Twer). Sic beschäftigt 700 Arbeiter und erzielt eine
jährliche Production im Werthe von I Million Rbl. Die meisten und
bedeutendsten Lederfabriken giebt es in St. Petersburg. Die Fabri¬
ken von N. Brussnizyn (806,000 Rbl.), F. Jegorow (450,000 Rbl.)
A. Schwerkow (422,500 Rbl.), J. Küssow Söhne (300,000 Rbl.),
R. Kamjentschikow u. Th. Hausch (ä 250,000 Rbl.), endlich die Ge¬
sellschaft der Wladimirschen Lederfabrik sind die bedeutendsten.
Sehr tüchtige und hervorragende, dabei ihrer Fabrication nach
vielseitige Fabriken giebt es in Warschau. Die Lederfabriken von
Temler & Schwede (Umsatz 610,000 Rbl.), K. Schlenker (356,100
Rubel), Pfeifer (225,000 Rbl.), Lidke (200,000 Rbl.), Fröhlich
(126,000 Rbl.) sind Etablissements c**;ten Ranges.
Ein anderer wichtiger Zweig der Lederindustrie ist die Leder¬
zurichtung zu Stiefelschäften, welche sich ebenfalls vorzugsweise
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in St Petersburg concentrirt hat. Die russischen Stiefelschäfte aus
Juchtenleder bilden einen gesuchten Exportartikel, können aber,
wenn man an einer guten Qualität festhält, kaum in der gewünschten
Menge producirt werden. Kalblederne Schäfte eignen sich dage¬
gen trotz ihrer trflflichen Qualität nicht zum Export, da sie sich für
diesen Zweck zu theuer stellen.
Die Schuhwerkfabrication selbst hat als fabrikmässig betriebener
Industriezweig in Russland noch keine Bedeutung, obgleich genü¬
gende Veranlassung hierzu vorläge. Die Etablissements, welche ge-
wissermassen sich das Ansehen solcher Fabriken geben, lassen bei
einer Masse kleinerer Meister arbeiten, welche ihr Gewerbe rein
handwerksmässig betreiben. Dagegen wird in vielen Gegenden
Russlands, namentlich im TwerSchen Gouvernement, die Schuh¬
macherei als ein sehr verbreiteter häuslicher Industriezweig betrieben,
ja sie hat bereits den Character einer „Gemeindeindustrie“ ange¬
nommen. In Kymra (Gouvernement Twer) wird jeden Sonnabend
eine Art Messe oder Jahrmarkt abgehalten, auf welcher die St. Pe¬
tersburger und Moskauer Schuhwaarenhändler ihre Magazine
füllen.
Die Handschuhfabrication, früher fast ausschliesslich nur in den
Händen von Franzosen, geht nach und nach in die von Russen und
Deutschen über. Der Zollverhältnisse wegen werden im Ganzen wenig
fertige französische und auch Wiener Handschuhe importirt, um so
mehr aber zugeschnittenes Handschuhleder, welches namentlich in
St. Petersburger Etablissements fertig genäht wird. Hier befinden
sich auch mehrere Etablissements für Handschuhe aus Füllenleder;
das sonstige Handschuhleder kommt grösstentheils aus dem Aus¬
lande. Ausser in St. Petersburg giebt es noch in Moskau und War¬
schau bedeutendere Etablissements für Handschuhfabrication. Die
grösseren derselben liefern jährlich io bis 15000 Dutzend Hand¬
schuhe im Werthe von 140 bis 150,000 Rbl. Eine bedeutendere Fabrik
zur Erzeugung von Handschuhledei^, zugleich mit einer Handschuh¬
macherei verbunden, ist die y von A. Prostow in Charkow, welche
jährlich 1150,000 Stück Handschuhlcder (Felle) — Füllen- Ziegen-
und Schwedischleder — liefert.
Pelzwaarenfabrication . Bekanntlich ist Russland, namentlich aber
Sibirien reich an edlen Pelzthieren. Die sibirischen Zobel, Biber und
Hermeline behaupten noch immer den ersten Platz. Russland expor-
tirt daher auch jährlich an 40,000 Pud diverser Pelzwerke im Werthe
von I Million Rbl. Der Export fertiger Pelzwaaren ist jedoch un-
30
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bedeutend. Nichts destoweniger kann die Kürschnerei als ein sehr
entwickelter Industriezweig angesehen werden, in welchem hier mehr
geleistet wird, wie im Auslande. Wenn es auch keine so grossen
Pelzhandlungen giebt wie in London oder selbst in Leipzig, so giebt
es doch in St Petersburg und Moskau Etablissements von der aller¬
grössten Bedeutung; so erzielt z. B. M. J. Odnuschewski in St. Pe-
tersburg einen jährlichen Umsatz von 700,000 Rbl. und beschäftigt
200 Arbeiter. Im Allgemeinen aber kann die Kürschnerei nicht als
ein Zweig der russischen Grossindustrie angesehen werden und die
einzelnen Werkstätten haben eine weit grössere Geltung als Handels-,
wie als Industrieetablissements.
17) Kautschuk- und .Gutta-Perchafabricate,
Wachsleinwand.
In der Actiengesellschaft der russisch-amerikanischen Gummima-
nufactur besitzt St Petersburg ein Etablissement ersten Ranges, das
mit jeder ausländischen derartigen Fabrik concurrirenkann. Vielleicht,
dass diese letzteren in derFabrication chirurgischer Hülfsmittel etwas
weiter sind, da diese noch vielseitig aus dem Auslande nach Russland
importirt werden. Die obengenannte Manufactur liefert alle Erzeug¬
nisse, welche in die Gummiwaarenfabrication einschlagen und erzielt
einen jährlichen Umsatz im Werthe von 1 V2 Millionen. Eine zweite,
auch in grossem Maassstabe angelegte Fabrik ist noch im Baue be¬
griffen. Die Fabrik von E. Lerch in Moskau beschäftigt sich vorzugs¬
weise mit der recht gelungenen Anfertigung von Gummi-Gespinnst
zu Stiefeleinsätzen etc., und fertigt deren über 600,000 Arschinen
jährlich. Eine kleinere Gummiwaarenfabrik giebt es nur noch in
Riga.—Mit der Anfertigung von Wachsleinwand, Wachstuch (Klionka)
und wasserdichten Stoffen beschäftigen sich nur 7 Fabriken, unter
denen die bedeutendste die von A. W. Huck in »St. Petersburg ist,
da ihr Fabricat den gleichwerthigen ausländischen an wenigsten
nachsteht. Im Allgemeinen aber ist letzteres beim russischen Fa-
bricate der Fall. Ein bedeutenderes Etablissement zum Wasser¬
dichtmachen von Leinwand und Segeltuch zu Wagendecken etc., ist
das von N. Müller in St. Petersburg.
18) Papier-Fabrication, Tapeten-Fabrication.
Die hohen Papierpreise in Russland stehen in directem Wider¬
spreche mit den verhältnissmässig niedern Lumpenpreisen, welche
letztere auch Veranlassung geworden sind, dass grosse Quan¬
titäten dieser Lumpen alljährlich aus Russland nach dem Aus¬
lande exportirt werden. Auch die Zahl der Papierfabriken ist
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keine geringe und fast jedes Gouvernement weist eine oder
mehrere derselben auf. Viele dieser Etablissements sind mit den
besten Hülfsmitteln ausgestattet, so dass sie auch in ‘ ihren
Leistungen, wenigstens was die Fabrication gewöhnlicher Papier¬
sorten anbelangt, kaum hinter denjenigen ausländischer Fabriken
Zurückbleiben. Unter solchen Umständen scheinen die hohen Papier¬
preise kaum gerechtfertigt, wenn sie sich auch durch die hohen
Eingangszölle erklären, welche auf den ausländischen Papieren
lasten. Ungeleimte Papiere zahlen 2 Rbl., geleimte 3 Rbl. Zoll
per Pud, also 50 bis 75°/o ihres Werthes. Dass trotzdem nicht
unbedeutende Quantitäten ausländischen Papieres nach Russland im-
portirt werden, liefert den Beweis, dass die russische Papierfabri-
cation ihrer Aufgabe noch nicht gewachsen ist. Wäre der Eingangs-'
zoll niedriger, der Import ausländischer Papiere würde ein sehr be¬
deutender sein, um so mehr, als der Papierconsum in Russland von
Jahr zu Jahr steigt und die inländische Papierfabrication den Anfor¬
derungen, welche an sie gestellt werden, durch gleichzeitige Steige¬
rung ihrer Production nicht entspricht. Unter diesen Umständen
wurde, namentlich in der letzten Zeit, mehrfach in der russischen
Presse fiir eine gleichzeitige Reduction des Eiilgangszolles fiir Papier
und eine entsprechende Steigerung des Ausgangszolles für Lumpen
plaidirt, wenn auch bisher (und wir möchten im Interesse der Bildung
sagen leider) ohne Erfolg.
In 36 Gouvernements des Europäischen* Russlands giebt es 'nach
Timirjasew)
Papierfa- *
Arbeiter
Jährliche Production
in Sibirien . . .
Nach dem
briken
*34
3
8,054
32
im Werthe von
5,522,181 Rbl.
2,137
im Zarthum Polen
Jahrbuche
16
776
584,655
Im Grossfürsten¬
thum Finnland,
des Finanz¬
ministeriums
7
324
174,373
Summa
160
9,176
6,283,346 Rbl.
Diese Angaben in Betreff des Zarthums Polen und Finnlands ent¬
sprechen den gegenwärtigen Verhältnissen in keiner Weise. Von deü
16 polnischen Fabriken sind die Betriebsverhältnisse von 5 grösseren
Fabriken genau bekannt, und diese letzteren allein liefern schon eine
jährliche Production im Werthe von 635,000 Rbl. Ebenso lieferten
im Jahre 1870 zwei finnländische Fabriken, die von Frenkel & Sohn
und die Terwakosser Actiengesellschaft eine Production im Werthe
von 490,000 Rbl. Man kann demnach, da auch die meisten russi-
30*
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452
sehen Fabriken ihre Production in den letzten Jahren sehr ansehnlich
gesteigert haben, den Werth des jährlich in Russland producirten
Papieres auf 8 Vs bis 9 Millionen veranschlagen.
Die meisten Papierfabriken giebt es in den Gouvernements: Kaluga
15, St. Petersburg 12, Moskau 10, Wjatka 9, Wilna und Wladimir ä 7,
Livland und Ufa ä 6, Tschernigow, Jarosslaw und Wolhynien ä 5,
Kostroma, Kursk, Orel und Ufa ä 4, Nowgorod, Perm, Ssmolensk
und Charkow ä 3 etc. Die grössten Fabriken giebt es dagegen in
den Gouvernements St. Petersburg (Umsatz über 1 Vs Million),
Kaluga (1 Million), Livland ( l /a Millionen), Nowgorod (V2 Million),
Jarosslaw (400,000), Moskau (350,000), Pensa (300,000), Wladimir
und Wolhynien (250—300,000 Rubel). — Die grösste und zugleich
eine der besten Papierfabriken Russlands ist die Gesellschaft der
Troitzki-Kondrowoer Papierfabrik (W. Howard & Co.) im Dorfe
Kondrowo des Kalugaschen Gouvernements. Diese Fabrik erzeugt
jährlich 300,000 Ries diverser Papiere, darunter auch bessere Brief¬
papiere im Wcrthe von 800,000 Rubeln und beschäftigt hierbei 800
Arbeiter. Unter den St. Petersburger Fabriken ist die der Gebrüder
Wargunin die bedeutendste und dürfte hinsichtlich ihrer jährlichen
Production der vorgenannten kaum nachstehen. Derselben Firma
gehört die ebenfalls sehr bedeutende Uglitscher Papierfabrik (Gou¬
vernement Jarosslaw). Ein leistungsfähiges und renommirtes Eta¬
blissement ist auch die Rigaer Papierfabrik (Actiengesellschaft) mit
einer jährlichen Production im, Werthc von 400,000 Rbl. Sehr be¬
liebt wegen ihrer guten Qualität sind auch die finnländischen
Papiere, namentlich die aus den beiden oben genannten Fabriken.
Von den polnischen Fabriken ist die grösste die von J. Eppstein im
Kreise Gostynin des Warschauer Gouvernements.
Im Allgemeinen ist die Qualität der russischen Papiere nicht
schlecht, und da man hier noch immer weniger Holzmasse dem
Papierzeuge zusetzt, wie gegenwärtig im Auslände (aus welchem man
theilweisc noch diese Holzmasse bezieht), so ist das russische Papier
weniger brüchig als das ausländische. Andererseits geht ihm aber
der Körper und die Weisse des letzteren ab. In feinen Briefpapieren
jst Russland noch am Weitesten zurück, und kann daher das ausländi¬
sche Fabricat nicht entbehren. Auch in feineren Druckpapieren
leistet das Ausland weit mehr, doch hindert hier der hohe Eingangs¬
zoll den Import.
An guten Pappfabriken ist in Russland entschiedener Mangel,
indem es nur sehr wenige derartige Fabriken giebt. Neuerdings hat
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453
A. Neumann eine solche in St. Petersburg angelegt, vorzugsweise
wohl zur Erzeugung seiner trefflichen Dachpappen. In Finnland, sowie
im Nowgorodschen Gouvernement hat man neuerdings Fabriken zur
Erzeugung von Holzmasse angelegt. Die älteste derselben ist die im
Jahre 1863 gegründete von W. Passburg in Okulowki (Nowgo-
roder Gouvernement). Es ist ganz zweckmässig, dass man sich bei
den immer steigenden Lumpenpreisen diesem Industriezweige zu¬
wendet, da noch ein entschiedener Mangel an einem Surrogate
herrscht. Die Papierfabrik der Expedition zur Anfertigung von
Staatspapieren (S. 162 d. Bl.) fertigt Hanfpapier, das sich durch be¬
sondere Haltbarkeit auszeichnet.
Die Tapetenfabrication ist ziemlich entwickelt, und die russischen
Tapeten sind, wenn auch nicht unbedeutend höher im Preise als die
ausländischen, doch von guter Qualität. Viel hat zur Entwickelung
dieses Industriezweiges der Umstand beigetragen, dass man in Russ¬
land, namentlich in allen Städten und selbst auf dem Lande, alle
Zimmer tapeciert, was im Auslande nicht allenthalben der Fall ist.
Man zählt in Russland 26 Tapetenfabriken; davon entfallen 20 auf
die Gouvernements des Europäischen Russlands, 3 auf Polen und 3 auf
Finnland. Die meisten (11) und zugleich grössten Fabriken giebt es in
St. Petersburg, dann folgt Moskau mit 7 und Warschau mit 3 Fabri¬
ken. Die grösste Fabrik in Russland ist die St. Petersburger Com¬
pagnie der Tapetenfabrik Camuset (Productionswerth 200,000 Rbl.),
dann folgt Götschy mit einem Umsatz von 100,000 Rbl. Die Mos¬
kauer Fabriken sind weit kleiner. Von Warschauer Fabriken ist die
bedeutendste die von A. Vetter & Co. (Umsatz 45,000 Rubel) und von
finnländischen die von G.Riks mHelsingfors (Umsatz 65,000 Rubel).
Der Werth der Gesammtproduction Russlands an Tapeten kann auf
800,000 bis 1 Million Rubel veranschlagt werden.
Die fabrikmässig betriebene Buchbinderei zeigt erst Anfänge. Es
giebt in St. Petersburg, Moskau und Riga Etablissements, welche
schon in grösseren Verhältnissen die Buchbinderei, namentlich die
Anfertigung von Comptoirbüchern etc. betreiben. So liefert z. B.
I. Rumänin in Moskau jährlich 100,000 Stück solcher Bücher im
Werthe von 70,000 Rubel. A. Lomkowski in St. Petersburg ver¬
kauft jährlich für 100,000 Rubel Comptoirbücher, Portefeuilles und
andere Buchbinderarbeiten und beschäftigt 100 Arbeiter. A. Frei¬
berg (Firma A. Lyra) in Riga reiht sich den Vorgenannten hin¬
sichtlich der Productionsleistung an. Trotzdem ist man in Russländ
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noch weit davon entfernt das zu leisten, was das Ausland im fabrik-
mässigen Betriebe leistet. Dagegen aber ist die russische Arbeit,
wenn auch theurer, doch im Einzelnen haltbarer und solider, anderer¬
seits aber auch weniger geschmackvoll.
D. Erze» Metalle und daraus gefertigte Fabricate.
19) Gusseisen, Schmiedeeisen und Stahl.
Die Qualität des russischen, namentlich des Uralschen Eisens ist
ganz vorzüglich und kann letzteres an Güte dem englischen und
schwedischen Eisen zur Seite gestellt werden. Die grosse Entfer¬
nung der russischen Eisenwerke von den Centralpunkten der In¬
dustrie und der immer fühlbarer werdende Mangel einer Eisenbahn,
welche einen billigen Transport des Eisens aus dem Ural nach der
Wasserstrasse der Kama und Wolga vermitteln könnte, ist die Ur¬
sache, dass das treffliche Uralsche Eisen von der russischen Industrie
noch nicht in dem Verhältnisse benutzt werden kann, wie dies die
grossartigen Productionsverhältnisse gestatten würden. Die russi¬
schen Industriellen benutzen daher noch vielseitig ausländisches,
namentlich englisches Eisen, das sie theilweise, je nach Verhältniss
ihres Bedarfs, zollfrei einführen.
Die russischen Eisenhüttenwerke werden officiell in folgende Berg
bezirke eingetheilt, aus welchen zugleich diejenigen Gouvernements
zu ersehen sind, in welchen sich Eisenwerke in abbauenswerthem Zu¬
stande befinden:
1) Uralische Kronshütten und ausseruralische Kronshütten -— 13
Werke. -— 2) Hütten des Kabinets Sr. Majestät der Kaisers (Altai,
Nertschinsk) — 3 Werke. 3) Privatwerke im Uralschen Bergbezirk
jm Gouvernement Perm, Ufa, Orenburg und Wjatka — 53. 4) Mos¬
kauer Bergbezirk a ) I.Bergbezirk: Gouvernement Wladimir, Nishnij-
Nowgorod, Tambow und Kostroma, b) 2. Bergbezirk: Gouvernement
Kaluga, Rjäsan, Orel, Pensa und Tula — 29. 5) Andere Hütten¬
werke des Reiches: a) Privathütten im Kaukasus — 1, b) Hütten¬
werke, welche nicht zum Ressort des Bergdepartements gehören
(Westliche Provinzen) — 8, c) Privathütten in Sibirien — 2.
6) Kronshüttenwerke im Zarthum Polen — 7. 7) Privathütten im
Zarthum Polen — 6. 8) Privathütten in Finnland — 17.
Im Ganzen giebt es demnach nach Skalkowsky im Gesammt-
gebiete Russlands 139 Eisenhüttenwerke, welche im Jahre 1868 eine
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455
Production von 16,600,101 Pud Schmiedeeisen und von 3,187,644
Pud Gusswaaren lieferten. Von dieser Production entfallen auf die
Hüttenwerke der Krone.
., des Kabinets Sr. Maj estät
des Kaisers.
Privathüttenwerke im Uralschen Berg¬
bezirk .
Privathüttenwerke im Moskauer Berg¬
bezirk .
Hüttenwerke nicht zum Ressort des
Bergdepartements gehörend:
Westliche Provinzen.
Privathütten in Sibirien . . .%.
Kronshüttenwerke im Zarthum Polen
Privathütten „ „ „
„ in Finnland.
Schmiedeeisen
Pud
1,672,009
67,188
10,353.925
2,574,969
247,454
200,554
458,061
105,050
920,891
Gusseisen
Pud
231,450
6,652
1,783,676
1,074,025
27,255
18,144
46,442
Schon aus dieser kurzen Zusammenstellung geht die überwiegende
Bedeutung des Ural für die russische Eisenproduction hervor.
Ueber die weitere Verarbeitung der obigen Production zu raffinir-
tem Eisen giebt Skalkowsky für das Jahr 1868 folgende Daten:
Eisen in Barren,
Stab-, Sorteneisen
Eisenblech
Schmiede- und
(fer en barres, verges
aller Gattungen
Gussstahl
Kronshütten.
et d’ecliantillon)
820,172
119,224
104,497
Hüttenwerke des Kabi¬
nets Sr. Majestät des
Kaisers.
15,516
3,051
251
Privathütten im Ural .
5,306,195
2,570,569
64,842
„ ,. Mos¬
kauer Bergbezirk . .
1,358,103
98,476
92
Privath. im Kaukasus .
4,384
—
—
„ in Sibirien . .
56,828
—
1,382
Hütten, welche nicht
zumRessort desBerg-
Departements gehö¬
ren: westl. Provinzen
•1,859,102
314,017
200,100
Kronshütten im Zar¬
thum Polen.
270,118
19,276
_
Privathütten im Zar¬
thum Polen.
188,772
12,400
_
Privathütten in Finnland
634,067
—
77,565
Summa . .
10,513,860
3,137,009
447,229
13,650,869 Pud
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An Fabricaten wurden in den russischen Eisenhüttenwerken im
Jahre 1868 erzeugt:
Stahlkanonen.
1,820 Pud
Lafetten und Apparate ....
4,295 „
6,115 Pud
Gusseiserne Kanonen ....
72,627 „
Artilleriemunition.
408,006 „
Schiffspanzer.
Bearbeitetes Gusseisen im
22,625 ,,
Kupolofen.
992,000 „
ImFlammen-(Reverberir-)ofen
339 , 99 * »
Summa . f .
1,3 r-991 Pud
Sonstige Eisenfabricate . .
461,040 Pud
„ Stahlfabricate . .
3 8 9.305 Stück
»» „
8,741 Pud
Handwaffen.
17,749 Stück
Zubehör. 19,788 „
Skalkowski führt weiter an, dass im Jahre 1868 im Betriebe stan¬
den: 1039 Hütten für Eisengewinnung, 137 für Eisenguss und
209 Eisen- und Stahlfabriken, sowie dass 207 Hoh-, 434 Puddel-,
577 Fein-, 876 Heerd-, 707 Stahl-, ausserdem aber noch i56Kupol-
und 82 Flammen-Oefen in Benutzung standen.
Die grosse Bedeutung der uralschen Eisenhütten wurde bereits
hervorgehoben. Es kommt daselbst Braun- und Rotheisenstein und
in der Kohlen- und Perm’schen Formation auch hin und wieder
Thon- und Spatheisenstein vor; das Hauptquantum der vorkommen¬
den Eisenerze bildet aber der dem Ural eigenthümliche treffliche
Magneteisenstein. Die beiden grossen Erzberge der Wyssokaja-
Gora und der Gora-Blagodat konnten bisher als die Hauptfund¬
stätten dieses letzteren gelten, inzwischen hat man aber fast in der
ganzen Ausdehnung des Urals, namentlich auf dessen östlichen Ab¬
hängen neue Magneteisensteinlager entdeckt, und es steht zu er¬
warten, dass die Reihe der Fundorte noch keineswegs abgeschlossen
ist. Aus dem Magneteisenberge Wyssokaja-Gora allein werden
jährlich 8 Millionen Pud Eisenerze (mit 66 bis 70 pCt Roheisen¬
ausbringen) gewonnen. Die ganze Mächtigkeit dieses Berges wird
von Tunner auf 16 Millionen Cubikklafter ä 200 Pud — 33,000 Mill.
Pud berechnet. Das wirkliche Quantum soll jedoch noch grösser
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457
sein. Der letztgenannte Berg, sowie der Gora-Blagodat sind nebst
ihrer nächsten Umgebung im Stande, noch auf 1000 Jahre hinaus
jährlich über 30 bis 40 Millionen Pud sehr reicher Magneteisensteine
zu liefern.
Es würde mich zu weit führen, noch weiter in die Details der russi¬
schen Eisenproduction und seines Eisenhüttenwesens einzugehen.
Ich will nur erwähnen, dass alle Zweige der productiven Eisen¬
industrie in Russland vertreten sind. Die meisten Eisenhütten er¬
zeugen Schmiedeeisen in allen gangbaren Sorten und Formen-
Neuerdings haben sich mehrere grosse Hütten- und Eisenwerke
(Demidow, Putilow u. A.) derFabrication von Eisenbahnschienen zu¬
gewendet, ohne jedoch dadurch einen massenhaften Import aus¬
ländischer Schienen entbehrlich zu machen. Auch die Eisenblech-
fabrication wird in grosser Ausdehnung betrieben, und in der Fa-
brication von Glanzblechen steht Russland unübertroffen da. Die
Stahlfabrication, namentlich die Gussstahlfabrication, weist grosse
Fortschritte auf, wie denn überhaupt in den meisten Zweigen der
Eisenproduction und -Industrie solche zu bemerken sind. Das russi¬
sche Hüttenwesen gebietet über grosse Hülfsmittel, nur eines, zu*
gleich aber das nothwendigste mangelt ihm noch: eine Eisen¬
bahn, durch deren Vermittelung es seine reiche Production den
übrigen Theilen Russlands und der Industrie zugänglich machen
würde.
20) Eisen- und Stahlfabricate.
Die Sensenfabricaiian und die Fabrication blanker Waffen . Man
sollte meinen, dass in einem Agriculturstaate wie Russland die
Sensen- und Sichelfabrication grosse Dimensionen angenommen
haben müsse. Dem ist aber nicht so. Nur wenige Hüttenwerke
haben sich diesem Industriezweige zugewendet. Es werden jährlich
noch ca. 100,000 Pud Sensen aus dem Auslande nach Russland
importirt. Und doch eignet sich das uralsche Eisen ganz vortreff¬
lich zur Fabrication von Sensen, Die Artinsker Kronshütte liefert
jährlich bei 30,000 Stück Sensenblätter zu ä 45 bis 50 Kop. Auch
in Slatoust werden noch Sensen fabricirt. A. M. Mosjagin (Gou¬
vernement Twer Ostaschkow) liefert jährlich 80,000 Stück Sensen
und 35,000 Stück Sicheln. Hiermit scheint aber auch die Zahl der
russischen Sensenhämmer nahezu erschöpft zu sein. Blanke Waffen
werden vorzugsweise in der Slatouster Waffen- und Gussstahlfabrik
(Kronshütte, Gouvernement Perm) in grösserem Maasstabe und von
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45 ?
guter Qualität fabricirt. Es wurde oben angeführt, dass im Jahre
1868 gegen 18,000 Stück fabricirt worden seien.
Die Messerwaarenfabrication wird nicht nur in grösseren Fabriken
und Werkstätten, sondern auch genossenschaftlich als Gemeinde¬
industrie betrieben. In letzterer Beziehung bieten besonders die
Dörfer Wormsa und Pawlowa im Gouvernement Nishnij-Nowgorod
und das Dorf Watsch im Gouvernement Wladimir Interesse. Im
Dorfe Wormsa betreiben die zeitweilig verpflichteten Bauern des
Grafen Scheremetjew mit 902 Arbeitern die Stahlwaarenfabrication.
In der Wolost Pawlowa wird dieser Industriezweig ebenfalls als
häusliches Gewerbe betrieben un<i 1645 Arbeiter, welche sich mit
demselben beschäftigen, liefern eine jährlicheProduction im Werthe
von 128,296 Rubel. Das Jahrbuch des Finanzministeriums führt
12 grössere Messerfabriken an, welche 2160 Arbeiter beschäftigen
und eine Production im Werthe von 458,395 Rubel liefern sollen.
Diese Angaben erscheinen auch noch heute ziemlich zutreffend,
woraus sich ergiebt, dass dieser Industriezweig kaum an Ausdehnung
gewonnen hat Die meisten Messerwaarenfabriken befinden sich im
Kreise Gorbatow des Gouvernements Nishnij-Nowgorod. Die grösste
und renommirteste derselben ist die der Gebrüder Sawjalow in
Wormsa; sie beschäftigt 800 Arbeiter und liefert eine jährliche Pro¬
duction im Werthe von 200,000 Rubel. Eine ebenfalls beachtens-
werthe Fabrik ist die von D. Kondratow im Dorfe Watsch (Kreis
Murom, Gouvernement Wladimir) mit einem Umsatz von 100,000
Rubel. Ausser den beiden genannten bringt es nur noch die Fabrik
von F. Warypajew in Pawlowo (s. o.) zu einem jährlichein Umsatz
von 60,000 Rubel. Alle übrigen Fabriken sind von weit geringerer
Leistungsfähigkeit. Finnland besitzt in seiner Fiskar’schen Fabrik
(E. v. Julin) ein hervorragenderes Etablissement dieser Art.
Fabricatian von Handfeuerwaffen . Die grössten Gewehrfabriken
sind Kronsfabriken. Eine der bedeutendsten ist die Tulasche Fabrik
und die zuSsestrorjezk, welche mit allen nothwendigen Hülfsmitteln
ausgestattet sind. Die neue, im Bau begriffene Gewehrfabrik zu
Tula, dürfte wohl die bedeutendste, jedenfalls die am besten einge-
richte überhaupt werden. Von Privatfabriken ist die Libauer Ge¬
wehrfabrik der Herren Meinhardt, Ronnefeld & Schmelzer erwähnens-
werth. Dieselben arbeiten für das Kriegsministerium und haben
vorzugsweise die Gewehre alter Form in Hinterlader umzuarbeiten,
wodurch ihnen eine mehrjährige umfassende'Thätigkeit gesichert ist.
Auch die Nobefsche mechanische Fabrik zu St. Petersburg arbeitet
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459
Müitärgewehre. — Die Anfertigung von Jagdgewehren erfolgt in
kleineren Etablissements, unter denen das von F. Wischnewski eines
der bedeutendsten (Umsatz 50,000 Rbl.) ist. Ihre Hauptthätigkeit
besteht darin, die aus dem Auslande bezogenen Gewehrtheile hier
zusammenzusetzen und zu adjustiren.
Die Schlosserei ist ein über ganz Russland verbreiteter Industrie*
zweig, der jedoch nur ausnahmsweise fabrikmässig ^trieben wird.
Von allgemeinem Interesse ist, dass auch sie als gemeinschaftliche
oder vielmehr gemeindeweise betriebene Industrie in den Gouver¬
nements Nishnij-Nowgorod, Tula und Wladimir nicht ohne Bedeu¬
tung ist. Namentlich ist es die Fabrication von Vorlegeschlössen!,
welche nicht nur ganze Gemeinden, sondern ganze Districte der ge*-
nannten Gouvernements beschäftigt. — Ein Zweig der Schlosserei
hat auch in Russland eine grössere industrielle Bedeutung gewonnen,
die Fabrication feuerfester Cassen- und Dokumentenschränke, mit
der sich sehr bedeutende Etablissements befassen. In St. Peters¬
burg, Riga, Warschau giebt es Fabriken dieser Art von grosser
Leistungsfähigkeit.
21) Kupfer, Messing, Zink.
Kupfer . An reinem Kupfer in Barren und in Blechen werden jähr*
lieh im Gesammtgebiete Russlands circa 300,000 Pud gewonnen.
Nach C. Skalkowsky gestaltete sich im Jahre 1868 diese Production
wie folgt:
Production an reinem Kupfer.
Kronshütten des
Ural (2 Hütten-
Kupfererz
in Barren
Pud Pfund
ln Kupferblech
Pud Pfund
werke).
Hüttenwerke des
Cabinets Sr. Ma¬
jestät des Kai-
1, 204,826
29.273 5
7,088 23
sers (1) ....
Privathütten des
367,976
33.197 —
Ural (18) .
Privathütten der
sibirischen Kir¬
5,669,848
151,165 34
23,860 23
gisensteppen (7)
Privathütten des
283,235
30,461 26
— —.
Kaukasus (14) .
Privathütten Finn¬
449,821
22,314 131/«
2,13013V*
lands (1) . . . .
106,380
1,646 —
— —
8,092,086 268,078 18 30,949 6
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460
Die grössten Kupferwerke sind die P. Demidowschen zu Nishnij-
Tagilsk. Im Jahre 1869 wurden daselbst 3,206,824 Pud Kupfererz
geschürft, welche eine Reinausbeute an Kupfer von 102,557 Pud
ergaben. Als das beste Kupfer in Russland gilt das von W. A.
Paschkow, insbesondere das der Bogojawlensker Kupferhütte mit
einer jährlichen Ausbeute von 200,000 Pud Kupfererz. (S. überdem
Kaukasus III. Heft d. R. R.).
Kupferindustrie . Mit derselben beschäftigen sich nach dem Jahr¬
buche des Finanzministeriums 168 Fabriken mit 3,232 Arbeitern
und einer Production im Werthe von 2,292,706 Rbl. Die meisten
Fabriken befinden sich im Gouvernement Tula (50), von denen 49
auf Kreis und Stadt Tula entfallen. Diese Fabriken beschäftigen
sich grösstentheils mit der Fabrication der bekannten russischen
Theemaschinen — Ssamowars. — Die übrigen Gouvernements ran-
giren in folgender Reihenfolge: Moskau (12 Fabriken), Wladimir
und Finnland (ä 9), Nishnij-Nowgorod und Jarosslaw (ä 7), Wolhy¬
nien, Podolien, Perm und Tiflis (ä 6), Eriwan (5), Livland und
Zarthum Polen (ä 4) etc. Hinsichtlich der Höhe der Production
nimmt Moskau den ersten Platz ein, dann folgen Tula, Wladimir,
Tiflis, St Petersburg, Eriwan etc. Die russische Kupferindustrie
leistet in den Branchen, in welchen sie arbeitet, ganz Annerkennens-
werthes, wenn sie sich, wie aus obigen Zahlenverhältnissen hervor¬
geht, auch noch nicht zu einem grossen fabrikmässigen Betriebe
emporgeschwungen hat. Der handwerksmässige Betrieb herrscht
daher im Ganzen noch vor. Namentlich liegt noch die fabrikmässigs
Erzeugung von Kupfergeschirren darnieder, trotzdem, däss letztere
in Russland eine so allgemeine Verwendung finden.
Zink wird nur im Zarthum Polen, und zwar auf 3 Kronshütten und
3 Privathütten gewonnen. Die Gesamratproduction des Jahres 1868
betrug 188,259 Pud Rohzink und 35,812 Pud Blattzmk. Von dieser
Production geht ein sehr grosser Theil als Exportwaare ins Ausland.
Im Jahre 1868 betrug dieser Export 162,768 Pud. Dagegen wurden
im gleichen Jahre aus dem Auslande über die Europäische Grenze
nach Russland importirt Zink in Barren 76,594 Pud und in Blechen
10,043 Pud. Hieraus resultirt, dass Russland selbst im Ganzen nur
ca. 150,000 Pud Zink consumirt, was in Anbetracht seiner grossen
Bevölkerung als ein sehr geringer Verbrauch angesehen werden
muss.
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4ßi
22) Bronce, imitirte Bronce und Kupfercompositionen.
Hinsichtlich der Broncefabrication verweise ich auf das, was ich
in meinem Generalbericht über die Moskauer Ausstellung S. 169 der
„Russischen Revue“ gesagt habe, und will hier nur noch einige An¬
gaben über die Neusilber- (Melchior-) Fabrikation hinzufugen. Die
Zahl derartiger Fabriken ist im Ganzen beschränkt, wenn auch die
Leistungsfähigkeit der vorhandenen eine recht bedeutende ist* Auf
der letzten St. Petersburger Manufactur-Ausstellung begegneten wir
7 Melchiorfabriken, und da das Jahrbuch nur 2 anfuhrt, so ist anzu¬
nehmen, dass diese 7 Fabriken die Gesammtzahl der m Russland
existirenden bilden. Es waren dies die Fabriken von J. Fraget
(350—380,000 Rubel Productionswerth und 270—280 Arbeiter), der
Gebrüder Buch (175,000 Rubel und 180 Arbeiter), von L. Norblin
& Co. (120,000 Rubel und 200 Arbeiter), sämmtlich in Warschau;
von A. Katsch (125,000 Rubel und 90 Arbeiter in St Petersburg,
und die 3 kleinen Moskauer Fabriken von W. Lebejugin, E. Pekin
und F. Gerber, welcher letztere doch immerhin schon eine Production
im Werthe von 15,000 Rubel erzielt. Die hervorragendsten Lei*
stungen weisen J, Fraget und Gebrüder Buch in Warschau amd A.
Katsch in St. Petersburg au£ und ist ihrFabricat dem ausländischen
vollkommen gleichzustellen. Die Fraget’sche Fabrik wurde im
Jahre 1824 auf Veranlassung des damaligen Ministers des Innern für
Polen, des Grafen Mostowski, gegründet, und die Fabrik der Ge¬
brüder Buch stammt aus dem Jahre 1829 und wurde dieselbe von
dem Erfinder der Neusilbercomposition, Henninger, angelegt. Mit
beiden Fabriken verbindet sich demnach ein gewisses historisches
Interesse.
23) Sieber und Blel
Es giebfc nur wenige Silberfundstätten in Russland, keine einzige
im Europäischen Theile. Am Reichhaltigsten ist das zum Cabinet
Sr. Majestät des Kaisers gehörende Berggebiet des Altai mit einer
jährlichen Ausbeute von 1,056 bis 1,060 Pud Silber, dann die Silber¬
minen von Nertschinsk. Das Kronsbergwerk Alaghir (Kaukasus)
lieferte in den letzten Jahren nur eine Ausbeute von 12 Pud 15 Pfund,
während die Privatminen der Kirgisensteppen seit dem Jahre 1864,
wo sie noch 38*/a Pfund Silberausbeute gaben, nur noch auf Blei
bearbeitet werden. Im Ganzen gewann man im Jahre 1868 nach
Skajkowsky 1,092 Pud 18 Pfund Silber und da letzteres allenthalben
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46a
an Blei gebunden ist 100,324 Pud 32 V2 Pfund Blei. Von letzterem
gewann man
in den Hüttenwerken des Altai .
94,476 Pud
—
Pfund
„ von Nertschinsk
2,545 ,,
12 7s
' M
„ von Alaghir . .
3,240 „
—
„ der sibirischen
Kirgisensteppe
63 ,,
20
>»
Während die Silberausbeute, abgesehen vot\ einigen Schwan¬
kungen, seit dem Jahre 1860 (1,092 Pud 35 Pfund) demnach ziemlich
gleich geblieben ist, lässt sich ein sehr bedeutendes Steigen der
Bleiausbeute nachweisen. In den Jahren 1830 bis 33 betrug die
jährliche Bleiausbeute durchschnittlich 44,000 Pud; 1860 war die¬
selbe auf 54,000 Pud gestiegen. Seit dem eben genannten Jahre ist
sie demnach um 85, seit dem Jahre 1830 um 127 °/o gestiegen.
Trotzdeirf genügt diese Production dem) inneren Cohsum nicht
und mussten im Jahre 1868 noch 388,100 Pud importirt werden,
wogegen nur 340 Pud Blei exportirt wurden.
Von der Silberindustrie wird weiter unten die Rede sein. Die
Bleiindustrie ist wenig entwickelt. Die Privatindustrie verarbeitet
nur in sehr unbedeutenden Verhältnissen dieses Metall und benutzt
es namentlich zur Fabrication von Schrot, zu Legirungen und zur
Bleiweissfabrication. Mit der Schrotfabrication beschäftigen sich
mehrere Fabriken ia St. Petersburg, Moskau und Charkow, ohne
es jedoch zu einer bedeutenden Production gebracht zu haben.
Ausserdem werden in St. Petersburg (von den Gebrüdern Gaidukow)
noch dünne Bleibleche und Bleistaniole fabricirt.
24) Gold und Platina.
Seit dem Jahre 1754 bis zum Jahre 1869 wurden in Russland
43,935 P u 6 Gold im Werthe von 615,090,000 Rbl. S. gewonnen.
Der Goldbergbau ist, weil nicht einträglich, ganz eingestellt worden.
Alles jetzt gewonnene Gold ist Waschgold. Int Jahre 1868 belief
sich die Goldausbeute auf 1,711 Pud 16 Pfund 50 Solotnik8o72 Doli«
Davon entfielen auf 3 Golddistricte der Krone in runden Zahlen
90 Pud 15 Pfund, auf 2 zum Cabinet Sr. Majestät gehörende Di-
Stricte 170 Pud 13 Pfund, auf 12 Districte des östlichen Sibiriens,
3 des westlichen Sibiriens und 3 Districten im Ural, welche von
Privaten ausgebeutet werden, 1,450 Pud 27 Pfund. Ausgewaschen
Wurden im genannten Jahre 1*177,288,224 Pud goldhaltigen Sandes*.
Hierbei fanden 56,216 Arbeiter Beschäftigung und standen 993
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Wäschen in Betrieb. Im Jahre 1870 war nach dem Bergjoumale
die Zahl der Wäschen bereits auf 1034 und die Ausbeute an Gold
auf 1874 Pud 19 Pfund gestiegen. Nach den bisherigen Erfahrungen
steht noch eine weitere Steigerung bevor, um so mehr, da auch im
nördlichen Finnland Goldsandlager entdeckt worden sind, welche
der Bearbeitung werth erscheinen, und auch bereits in den letzten
Jahren eine nicht unansehnliche Goldausbeute gewährt haben.
Platina wird vorzugsweise in sehr wechselnden Quantitäten in den
Platinaseifen von Nishnij-Tagilsk (P. Demidow) gewonnen. Das
höchste Quantum 135 Pud 39 x j% Pfund fällt auf das Jahr 1865. Im
Jahre 1869 betrug die Ausbeute daselbst 128 V* Pud; seit dieser;Zeit
ist sie nicht unbedeutend zurückgegangen. Ausser in den Demidow-
schen Werken, wird noch auf den Werken der Fürstin Putera-Radoli
Platina in nicht unbedeutenden Quantitäten (1868: 7 Pud 22 Pfund)
gewonnen. Auf der Kronshütte Mijassk hat man zuletzt im Jahre
1865 —7 Pfund 29Solotnik Platina gewonnen,doch scheint man dort
den Betrieb ganz eingestellt zu haben. Sämmtliche Lagerstätten des
Platina befinden sich im Ural.
25) Silber-, Gold- und Juwelierarbeiten.
Schon auf der letzten Pariser Weltausstellung war man durch die
russischen Gold- und Silberarbeiten überrascht. Die letzten Aus¬
stellungen zu St. Petersburg und Moskau zeigten in dieser Bezie¬
hung noch mehr. Das Jahrbuch des Finanzministeriums weist im
Gesammtgebiete Russlands 27 Fabriken oder vielmehr Werkstätten
und Fabriken nach, welche sich mit der Fabrication von Silber-
waaren befassen, 587 Arbeiter beschäftigen und eine Production
im Werthe von 655,945 Rbl. liefern sollen. Wie wenig diese Anga¬
ben den heutigenLeistungender russischenSilberwaarenfabriken ent¬
sprechen, geht daraus hervor, dass W. J. Ssasikow allein in seiner
Moskauer und St. Petersburger Fabrik eine jährliche Production im
Werthe von 750,000 Rbl. aufzuweisen hat Er beschäftigt bei dieser
Production 200 Menschen und verarbeitet jährlich 20,000 Pfund
Silber. A.M. Postnikow in Moskau macht in selbst fabricirten Silber-
waaren einen Umsatz von 250,000 Rbl, und P. A. Owtschinikow
ebendaselbst, dessen schöne Fabricate wir auf der Moskauer Aus¬
stellung zu bewundern Gelegenheit hatten, dürfte heute einen ähnlich
entsprechenden Umsatz erzielen. Auch in St Petersburg giebt es
bedeutende ähnliche Fabriken, und erwähne ich nur die des eng¬
lischen Magazins. Die Herstellung von Silberfabricaten kann daher
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4 6 4 . ;>i ,
als ein in Russland jedenfalls sehr entwickelter Industriezweig ange¬
sehen werden. Zu bemerken ist noch, dass sie als ein selbstständiger
Gewerbszweig anzusehen ist, der nichts mit den Werkstätten der
Goldarbeiter und Juweliere zu thun hat; sie kann im Gegentheil mit
vollem Rechte als ein Zweig der Grossindustrie, und zwar der Fabrik¬
industrie angesehen werden. Den Gesammtwerth der heut^ in
Russland erzeugten Silberfabricate kann man mindestens auf ca. 2
Millionen Rubel schätzen.
Goldfabricate und Juwelierarbeiten. Obgleich die derartigen Fa-
bricate nicht eigentlich zum Gebiete der Grossindustrie gehören, so
hat doch die letzte Moskauer Ausstellung gezeigt, dass es daselbst
Etablissements giebt, welche die Goldschmiedekunst ganz fabrik-
massig betreiben. Auch in -St. Petersburg giebt es Werkstätten,
welche man mit den Namen von Fabriken bezeichnen kann. Leider
aber entzieht sich der Betrieb derselben der statistischen Berechnung
und somit bin auch ich des Mittels beraubt, näher auf diesen Indu¬
striezweig einzugehen. Ich will nur bemerken, dass namentlich die
St. Petersburger Juweliere selbst unter ihren ausländischen Fach¬
genossen einen hohen Rang einnehmen, und dass, was die Brillanten¬
fassung anbelangt, die St. Petersburger Juweliere nur etwa noch
von den Londonern übertroffen werden.
E. Instrumente verschiedener Art, Apparate und
Maschinen.
Masckinenfabrication .
Nachdem ich schon in der allgemeinen Uebersicht über die Mos¬
kauer polytechnische Ausstellung (S. 151 d. Bl.) Mittheilungen über
die grösseren landwirtschaftlichen Maschinenfabriken gemacht habe,
beschränke ich mich hier darauf, einige Andeutungen über die
Maschinenfabrication inRussland im Allgemeinen zu geben. Timir-
jasew fuhrt in seinem nächsterscheinenden 3. Hefte seines mehr¬
genannten statistischen Atlas auf, dass es in Russland 154 Maschi¬
nenbau- und mechanische Fabriken (mit Giessereien) giebt, welche
33>736 Arbeiter beschäftigen und eine Production im Werthe von
32,592,879 Rbl. liefern. Hierzu kommen noch im Zarthum Polen 36
Maschinenfabriken mit 1,491 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 1,296,338 Rbl. und im Grossfürstenthum Finnland 13
Maschinenfabriken mit 1,808 Arbeitern und einer Production im
Werthe von 885,881 Rbl., demnach für Gesammtrussland 203 Fa¬
briken mit 37,035 Arbeitern und einer jährlichen Production im
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4<*5
Werthe von 34,774,698 Rbl. Die grösste Anzahl dieser Fabriken (37
mit einer Jahresproduction im Werthe von über 20 Millionen Rbl.)
befindet sich im Gouvernement St Petersburg, fast ausschliesslich
in der Hauptstadt selbst; dann folgt Moskau mit 28 Fabriken
( 7 >°& 3 * 9(>7 Rbl. Umsatz). Der Ausbau der russischen Eisenbahnen
hat mächtig dazu beigetragen, den russischen Maschinenbau zu
entwickeln. Während in den früheren Jahren alle zum Eisenbahnr
betriebe nothwendigen Maschinen aus dem Auslande verschrieben
werden mussten, liefern schon heute inländische Fabriken einen,
wenn auch noch kleinen Theil derselben. Ausserdem beschäftigen
sich noch viele derartige Fabriken mit der Herstellung von Dampf-
und andern Maschinen, deren die übrigen Fabriken als Betriebs¬
mittel bedürfen.
Die meisten Eisenbahnen haben ihre eigenen .MaschinenWerk¬
stätten, auf welchen nicht nur alle nothwendigen Reparaturen vorge¬
nommen, sondern auch selbst neue Maschinen und Locomotiven
gebaut werden. * Eine der bedeutendsten dieser Eisenbahnfabriken
ist die der grossen Eisenbahngesellschaft zu St Petersburg mit
einer jährlichen Production im Werthe von 1,781,00a Rbl. Derseh
ben Gesellschaft gehört auch die ehemalige Herzoglich Leuchten«
berg’sche Fabrik in St. Petersburg und die grosse Maschinenbau¬
werkstätte zu Kowrow (Gouvernement Wladimir), letztere ebenfalls,
mit einem Productionswerth von über 1 Million Rbl* (s. u.). Der
gleichen Betriebsleistung erfreut sich die Werkstätte der Dünaburg-
Witebsker Eisenbahn zu Dünaburg. Von Privatetablissements sind,
als besonders hervorragend namhaft zu machen die Maschinenbau-
und Eisengussfabrik der Gebrüder Struve in Kolomna (Gouverne¬
ment Moskau), welche nur für Eisenbahnen arbeitet und im Loco¬
motiven- und Waggonbau, so wie in Eisenconstruction für Brücken
Ausgezeichnetes leistet Die Fabrik beschäftigt 2000 Arbeiter und
liefert eine Jahresproduction im Werthe von 2Millionen Rbl. Die
Fabrik der russischen Gesellschaft für Maschinen- und Hüttenbam
in St. Petersburg hat schon über 40 Locomotiven geliefert. Die
S. J. Malzow’sche Fabrik bei Brjansk (Gouvernement Prel) baut
ebenfalls Locomotiven. — Mit dem Bau von Eisenbahnwaggons
beschäftigen sich namentlich die Gebrüder Struve in Kolomna^
welche jährlich 1200 Stück Güterwaggons liefern, die Kowrower
Werkstätte der Grossen Eisenbahngesellschaft, die Komissarow-
Schule in Moskau, Lilpopp, Rau & Co. in Warschau u. A. Es ent
stehen fast jährlich neue derartige Etablissements.
3 *
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466
Im Allgemeinen hat Russland im Zweige des Maschinenbaues
gute Fortschritte aufzuweisen, wenn auch diese Fortschritte noch
nicht im Verhältnisse des inländischen Bedarfes stehen. Im Jahre
1870 wurden 2,488,758 Pud Maschinen und Maschinentheile im
Werthe von 21,827,889 Rub. nach Russland importirt. Vom Jahre
1861 bis 1870 hatte sich der Werth der jährlich importirten auslän¬
dischen Maschinen um 153 pCt gesteigert.
F. Nahrungsmittel.
Mehl, Stärke , Zucker,
Ueber die Ausdehnung der Mühlenindustrie fehlen eingehende
statistische Nachrichten. Das Jahrbuch führt, ohne weitere Details zu
geben, nur an* dass es im Jahre 1866 in Russland 2176 Mehlmühlen
gegebenhabe, welche 7,707 Arbeiter beschäftigten und eine jährliche
Production im Werthe von35,755,347 Rbl. geliefert haben. Der grösste
Theil dieser Mühlen sind Wassermühlen von einfachster, theilweise
sehr primitiver Bauart. Die Dampfmühlenindustrie fängt nur verhältniss-
mässig langsam an, Boden zu gewinnen, obgleich die wirthschaftlichen
Verhältnisse Russlands diesen Industriezweig ausserordentlich begün¬
stigen und eine recht umfassende Entwickelung desselben dem
Lande nur zum grossen Vortheile gereichen würde. Im Zarthum
Polen ist die Dampfmühlenindustrie mehr entwickelt als in Russland
und giebtes dort ansehnliche Etablissements; in Russland herrschen,
äuch bei grösseren Betrieben, noch die Wassermühlen vor.
Stärkefabriken giebt es nach dem Jahrbuche 59 mit 622 Arbeitern
und einer Production im Werthe von 269,723 Rbl. Dass diese An¬
gaben den gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr entsprechen,
geht schon daraus hervor, dass 7 Stärkefabriken auf der letzten
St. Petersburger Ausstellung den Werth ihrer jährlichen Production
auf 335, OCX) Rbl, angaben, also um 65,277 Rbl. mehr, wie das Jahr¬
buch für sämmtliche 59 Fabriken berechnet. Die meisten Fabriken
befinden sich in den Gouvernements Tula (13), Twer (12) und Wo-
ronesh (10). Die grössten Fabriken befinden sich im Gouvernement
Twer, dann in St. Petersburg, deih Ssamaraschen und Poltawaschen
Gouvernement. Die grösste Fabrik ist die von J. P. Stalow (mit
einem Umsatz von 125,000 Rbl.) in Kaljasin (Gouvernement Twer),
wo sich noch andere grosse Fabriken befinden. Auch die Stärke?
fabrication gehört zu den Industriezweigen, welche einer weitern
Ausdehnung fähig und würdig wären.
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4 6 _ 7 _
Die Rübenzukerfabrication .
Die Zahl der Rübenzuckerfabriken hat sich in den letzten Jahren
nicht vermehrt, sehr bedeutend aber die Leistungsfähigkeit der
einzelnen Etablissements. Die kleinern Zuckerfabriken verschwinden
nach und nach, wie dies in der Natur der Sache liegt, und räumen den
grösseren das Feld. Nur Fabriken mit Dampfbetrieb und leistungs¬
fähigen Pressen können heute noch grosse pecuniäre Resultate
erzielen. Die russische Rübenzuckerindustrie hat einen hohen Grad
von technischer Entwickelung erreicht; weniger befriedigend dagegen
ist die Cultur der Zuckerrübe, die mit vielen Hindernissen zu
kämpfen hat, obgleich es in den Grenzen der Möglichkeit liegt,
diese Hindernisse grösstentheils zu besiegen. Es giebt in Russland,
inclusive Polen, 309 in Betriebe stehende Zuckerfabriken, welche
in der Campagne von 1867 bis 1868 den normalmässigen Zucker¬
ertrag von 5,290,640 Pud producirten. In Wirklichkeit ist aber die
Zuckerproduction höher, da alle Fabriken einen höheren Ertrag als
den normalmässigen erzielen, und kann man die Production daher
(nach Timirjasew) aüT mindestens 7,376,291 Pud, im Gesammt-
wertli von 36,881,455 Rbl. annehmen. Sämmtliche Fabriken be¬
schäftigen 92,931 Arbeiter. Die grösste Zahl (69 mit einem Produc-
tionswerth von 20,367,035 Rbl.) befindet sich im Kijewschen Gou¬
vernement, dann in den Gouvernements Tschernigow (38 mit
1,293,316 Rbl. Productionswerth), Podolien (34 mit 3,346,335 Pro-
ductionswerth), Charkow (24 mit 2,375,855 Rbl.), Kursk (19), Tula
(17), Bessarabien (12), Tambow und Woronesh (ä io;,- Orel (8),
Pensa (7), Wolhynien und Mohilew (ä 5), Rjäsan (3), Ssaratow und
Minsk (ä 2), Kaluga (1). Im Zarthum Polen giebt es im Ganzen
43 Fabriken mit einem Productionswerth von 4,020,840 Rbl. Hin¬
sichtlich der Productionsverhältnisse der Jahre 1869 und 1870 ver¬
weise ich auf die S. 101 d. Bl. gemachten Angaben, welche zugleich
den Fortschritt constatiren, welchen die Rübenzuckerfabrication
in Russland gemacht hat. — Ich werde übrigens später Gelegenheit
finden, in einem selbstständigen Artikel auf die Wichtigkeit der Rüben¬
zuckerindustrie für Russland zurückzukommen, und erwähne hier
nur noch, dass es ausser den oben angeführten Rohzuckerfabri¬
ken in Russland noch 3 t Zuckerraffinerien mit 8763 Arbeitern und
einer Production im Werthe von 34 > 2 ^ 2 > I 5 ^ Rbl. giebt; im Zarthum
Polen 22 Zuckerraffinerien mit einer Production im Werthe
5,726,000 Rbl.
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468
Die grösste Anzahl dieser Raffinerien (8) fällt ebenfalls auf das
Gouvernement Kijevv, ä 5 auf Moskau und Podolien, 4 auf St. Peters¬
burg, 3 auf Charkow und auf Minsk, je I auf Orel, Pensa, Tschemi-
gow und Tula. Die meisten polnischen Raffinerien befinden sich im
Gouvernement Warschau (10), dann in Radom (4), Piotrkow (3),
Ljublin(2),Kalisch,Kjeletzk und Sjedletz(ä 1). SämmtlicheRaffinerien
verarbeiten jetzt inländischen Sandzucker. In Finnland giebt es un¬
weit den StädtenHelsingfors und Abo 2 Raffinerien, welche grossen-
theils ausländischen Sandzucker verarbeiten.
G. Getränke.
a) Branntweinbrennereien .
In der Brennerciperiode 1867 und 1868 gab es Brennereien:
Spiritusproduction
Zahl der Grade wasserfreier
Fabriken. Spiritus.
im Europäischen
Russland in 45
Gouvernements 2,952 2,198,171,6620
im Zarthum Polen 488 ?
im Grossfürsten¬
thum Finnland 3 (?) ?
Werth der jährlichen
Production in Rubel.
54,954,300
10,564,415
116,053
65,634,768
Die grösste Anzahl weisen auf die Gouvernements: Kijew 224,
Wolhynien 213, Podolien und Witebsk ä 166, Minsk 147, Tscher-
nigow 146, Livland 136, Grodno 132, Kurland und Poltawa ä 123,
Wilna 113 und Charkow 110; die der Leistung nach grössten
Fabriken dagegen Pensa (Productionswerth 4,223,400), Woronesh
(4,090,000), Charkow (3,767,400), Kijew, Podolien, Ssaratow und
Wjatka (2 bis 300,000 Productionswerth).
Das grosse Quantum des fabricirten Spiritus wird auch fast aus¬
schliesslich imLande selbst consumirt, da derExport ein, wenn auch
steigender, doch immerhin verhältnissmässig geringer ist. Im Jahre
1870 wurden 647,516 Pud (ä 2 Rbl.) 40 gradiger Branntwein expor-
tirt. Im Interesse Russlands wäre es zu wünschen, dass es in der
Lage wäre, diesen Export noch zu steigern, wozu aber wenig Aus¬
sicht ist, da schon im Jahre 1871 der Export wieder sehr gesunken
ist. Die Fabriken verkaufen ihren Spiritus an die Destillateure, welche
denselben nochmals reinigen und in trinkbarenBranntwein umarbeiten.
Leider fehlen mir detaillirte statistische Angaben über die Destilla-
en inRussland, doch ist ihre Zahl eine enorm grosse. Die Hauptsitze
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dieses Industriezweiges sind St. Petersburg, Moskau, Riga und
Warschau. Es giebt in St. Petersburg Destillationen, die einen
Umsatz von 2 bis 3 Millionen Rubel machen. Das Jahrbuch des
Finanzministeriums giebt für das Jahr 1866 die Zahl der Destilla¬
tionen in Russland, mit Ausschluss von Polen und Finnland, auf
1160 an. Seit dem Jahr 1863 hatte sich die Zahl der Destillationen
um ca 70 pCt. vermehrt.
b) Bierbrauereien. .
Das Jahrbuch führt die Zahl der Bierbrauereien für 1867 ohne
Polen und Finnland mit 1683 an. In den grossrussischen Gouver¬
nements gab es deren 284, in West- und Südwestrussland 897, in
den Ostseeprovinzen 492, im Donschen Kosakenlande 10 und in
Sibirien 16. Der grösste Theil dieser Brauereien liefert ein Bier,
das mit den bessern Bieren der Neuzeit wenig gemein hat. Nur in
den Hauptstädten und einzelnen Gouvernementsstädten braut man
bessere Biere nach bairischer Methode und das rasche Wachsen
der Production der grösseren, namentlich der St. Petersburger
Brauereien beweist, dass das russische Publicum anfängt, an diesen
bessern Bieren Geschmack zu finden. DieKalinkinbrauerei (St. Peters¬
burg) producirt jährlich gegen 2 Millionen Wedro, die Bavaria¬
brauerei I Million. Auch in einigen GouvemementsstädUn wie Riga,
Twer, Warschau und in Finnland wird ein gutes Bier gebraut. Ueber
die Gesammtproduction an Bier stehen mir keine genauen Angaben
zur Disposition, jedoch berechnet v. Buschen diese Gesammt¬
production auf 9 Millionen Wedro. Nachdem aber der Bierconsum
in Russland sich ganz ausserordentlich gesteigert, kann diese An¬
nahme der Wirklichkeit nicht mehr entsprechen. Ausser den oben
angeführten 1683 Brauereien gab es 1867 noch im Europäischen
Russland (ausser in Polen und Finnland) 233 und in Sibirien 11
Brauereien, die sich ausser mit der Bierbrauerei noch mit der Fabri-
cation von Meth beschäftigten. Demnach steigt die Gesammtzahl
auf 1927 Brauereien, zu welchen noch 169 Methbrauereien kommen.
Der Hauptsitz der Methbrauerei ist übrigens das Zarthum Polen,
Kurland und die westlichen Provinzen Russlands.
•
c) Tabakfabricatian.
Ich schliesse meinen Ggncralbericht über die industriellen Pro-
ductions-Verhältnisse Russlands mit einem Industriezweige, der
schon deshalb nicht ohne Bedeutung ist, weil er wenigstens einen
Theil seiner Basis in der landwirthschaftlichen Production Russlands
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findet. Die russische Tabakscultur ist aller Beachtung werth und
würde es verdienen, dass sich ihr tüchtige und zahlreiche Cultur-
kräfte zuwendeten. Im Jahre 1868 belief sich die Zahl der Tabaks¬
plantagen auf 75,342, die Ausdehnung des mit Tabak bestellten
Areals auf 34,9881/2 Dessjätinen (148,724 preuss. Morgen) und die
erzielte Tabaksproduction auf 2,384,894 Pud. Der meiste Tabak
wird in den Gouvernements Poltawa, Tschernigow und Ssamara, der
beste in Bessarabien producirt. Von russischem Tabak wurden im
Jahre 1870 — 82,323 Pud für 411,615 Rubel an Blättertabak und
5,747 Pud für 212,639 Rubel an geschnittenem Rauchtabak exportirt
Dagegen wurden aber importirt 173,506 Pud Blättertabak für
3,643,638 Rubel 'und für 817,034 Rubel Cigarren. Schon hieraus
ergiebt sich, dass die russischen Tabakfabriken grosse Quantitäten
russischen Tabaks verarbeiten, wenn auch nur zu den niedrigsten
Fabricaten. Im Jahre 1867 gab cs inRussland (mitAusschluss Polens
und Finnlands) 317 Tabakfabriken, welche zusammen für 4,391,086
Rbl. Tabaksbanderolen verbrauchten. Danunder Werth der Banderole
ungefähr dem 3. Theil des Werthes des mit ihr verschlossenen
Fabricates entspricht, so lässt sich für das genannte Jahr der
Werth der von den russischen Tabaksfabricanten gelieferten Fabri-
cate auf 13,173,258 Rubel berechnen. In Wirklichkeit stellt sjch
aber der Werth hoher, da die Banderolen nicht immer die ent¬
sprechende Verwendung gefunden haben. Da nun aber der Ver¬
brauch sehr gestiegen ist — im Jahre 1870 verbrauchten nur 29
St. Petersburger Fabriken für Papiros und türkischen Tabak allein
für mehr als I Million Rubel Banderolen — so geht hieraus hervor,
dass auch der Werth der Tabaksfabricate in gleichem Verhältniss
gestiegen sein muss. Die meisten Fabriken giebt es in Chersson
(36), dann in St. Petersburg (29), Kijew (26), Podolien und Taurien
(a 19), Moskau und Wolhynien (ä 18), Bessarabien (12), Charkow,
Tambow, Orel, Grodno (ä 11) etc. Die St. Petersburger Fabriken
arbeiten sowohl Cigarren wie Papiros und Rauchtabake, die Rigaer
zeichnen sich besonders durch Cigarrenfabrication aus. Im Süden
Russlands werden vorzugsweise türkische Rauchtabake und Papiros
fabricirt. Das mit dem 1. Januar d. J. in Wirksamkeit getretene
neue Reglement dürfte in Betreff der Tabakfabrication nicht ohne
Einfluss sein und zur Folge haben, dass nach und nach die kleineren
Fabriken eingehen, dagegen die grösseren ihren Betrieb noch er¬
weitern. Die Regierung hoflt dadurch die Controle hinsichtlich des
mit der Accise belasteten Fabricates zu erleichtern.
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47 *
Ich glaube in Vorstehendem ein, wenn auch flüchtiges, doch ziem¬
lich zutreffendes Bild der russischen Industrieverhältnisse geliefert
zu haben. Wir begegnen in demselben einer schon bedeutenden
Entwickelung der russischen Industrieverhältnisse, wenn auch hin
und wieder die Abwege hervortteten, auf welche einzelne Zweige
der Industrie gerathen sind, i Wir können hoffen, dass es einer ge¬
sunden, den factischen Verhältnissen Russlands entsprechenden
Handelspolitik gelingen wird, die russische Industrie auf den richti¬
gen Weg zurückzufiiren, was nur im Interesse dieser letztem liegen
Würde. F. MATTHÄI.
Die Pferdezucht in Russland.
Ein kurzer Ueberblick
von
J. V. Moerder.
Das erste Auftreten des Pferdes in Russland verliert sich im
Dunkel der Zeiten; die geschichtlichen Ueberlieferungen beweisen
aber, dass die Slaven immer grosse Liebhaber und Verehrer des
Pferdes waren. Die Verwendung desselben im grösseren Maass¬
stabe gehört der zweiten Hälfte des eilften Jahrhunderts an, wo
Russland zum eigentlichen Staate wird. Berühmt war schon die
Reiterei des Grossfürsten „Oleg“, und nicht nur die Grossfürsten,
sondern auch die Bojaren hatten seit je her zahlreiche Marställe. In
den späteren Zeiten, als die Landbewohner gezwungen wurden, dert
Grossfiirsten Pferde für die Kriegsreiterei zu stellen, wurden jene
genöthigt, sich mit Pferdezucht zu beschäftigen. Die bei ihnen
vorherrschende Race stammte, wie zu vermuthen ist, aus Asien.
Die Pferdezucht wurde in Russland vom Staate stets unterstützt,
lange Zeit aber ohne jegliche systematische Maassregel. Ungemein
vermindert sich die Zahl der Pferde im dreizehnten Jahrhundert
während des Einfalles der Mongolen, und nur nach geraumer Zeit
bemerkt man wieder allmählich einen Aufschwung der Pferdezucht.
Im fünfzehnten Jahrhundert, unter Iwan III., wurde das erste Krons¬
gestüt, Choroschew, bei Moskau gegründet, und fast gleichzeitig
4
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472
wurden ähnliche Gestüte, sowohl vom Staate, als auch von den Bo¬
jaren und den Klöstern gestiftet* Diese Zeit kann man als den An¬
fang einer geregelten Pferdezucht in Russland bezeichnen; bis zum
achtzehnten Jahrhundert lassen sich indessen nur schwache Fort¬
schritte in derselben nachweisen. Im Jahre 1511 führte der Gross-
fiirst Wassily Iwanowitsch eine besondere Verwaltung ein, bekannt
unter dem Namen „Konjuschennoy-Prikas“, welche an der Spitze
aller Hofmarställe und Staatsgestüte stand. Glanz und Reichthum
des russischen Hofes Hessen sich vor Allem auch an schönen Pferden
und dem ganzen Gespann erblicken. Während der Regierung Iwan
des Grausamen wie auch seines Sohnes Feodor machte die Pferde¬
zucht sichtbare Fortschritte; es wurden u. a. in Dörfern viele Ge¬
stüte vom Staate eingerichtet, die man Konjuschennni-Slobody“
nannte. Die Pferde dieser Gestüte waren noch vorherrschend
orientalischer Race; Pferde europäischer Racen kamen nur als
Seltenheit vor; in späteren Zeiten brachten diese Gestüte dem Staate
grosse Einkünfte» Einen bedeutenden Aufschwung nimmt die Pferde¬
zucht zurZeitdesZaren Alexej Michailowitsch; ihm eigentlich gebührt
das Verdienst einer geregelten Organisation der Staatsgestüte. Zu
seiner Zeit zählte man allein an 50,000 Pferde, die dem Hof gehör¬
ten. Zar Alexej liess sehr viele der schönsten asiatischen Hengste
ankaufen und schenkte eine besondere Aufmerksamkeit den liv- und
estländischen Pferden — Klepper genannt —, welche er zahlreich
in die Gouvernements Wjatka und Kasan befördern liess. Als sein
Sohn Peter der Grosse den Thron bestieg, befand sich die Pferde¬
zucht im besten Aufschwünge. Klein-Russland allein war im Stande,
dem Staate an 60,000 Pferde zu stellen; die Gegenden des Don und
die Steppen des Ural lieferten bis an 20,000 Pferde und unzählbare
Heerden von Pferden konnte man in den Gegenden des Kuban und
in Sibirien finden. Zu dieser Zeit befanden sich die besten Krons-
. gestütc in den Gouvernements: Kasan, Asow und Kijew. Im Jahre
1720 errichtete Peter der Grosse in Astrachan noch ein Gestüt, in
welchem die schönsten persischen Hengste und tscherkessischen
Stuten sich befanden. Unter Anna Iwanowna macht die Pferde¬
zucht grosse Fortschritte; zu ihrer Zeit ward im Jahre 1733 eine
Kanzlei des Hofmarstalles eingerichtet, und im Jahre 1739 wurden
wieder zehn neue Gestüte gegründet. In den Kronsgestüten zu jener
Zeit finden wir folgenden Bestand:
Im Bronnitzkyschen Gestüte (Gouvernement Moskau) 100 Stuten
und alle Beschäler: Reitschlag. — Im Charkpwschen Gestüte: ioq
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473
Mutterstuten und alle Beschäler: grosse Wagenpferde. — Im Gaw-
rilowschen Gestüte: 120 Mutterstuten.—Im Danilowschen Gestüte
(Gouvernement Kostroma): 2170 Hengste und Stuten; alle deutscher
Race. — Im Gestüte Sidorowo (Gouvernement Kostroma): 130
Beschäler und Mutterstuten. — Im Gestüte Wsegoditsche (Gou¬
vernement Wladimir): 209 Beschäler und Mutterstuten, alle Rappen.
— Im Skopinschen Gestüte (Gouvernement Rjäsan): 1000 Stuten
von dunklem Haar. — Im Gestüte Powschino (Gouvernement
Moskau): 20 Mutterstuten, TscheremissischerRace, kleinen Wuchses.
— Im Gestüt Bogoroditzk (Gouvernement Tula): Pferde allerlei
Racen. — Im Gestüte Scheksowo: 80 Mutterstuten und alle Be¬
schäler scheckig und ausserdem Beschäler, Schimmel, Dänischer
Race. — InPakechrino waren sortirte junge Reit- und Wagenpferde,
die dem Hofe zugehörten.
Im Jahre 1732 zählten die Kronsgestüte an 318 Beschäler, 1320
Mutterstuten und 832 Füllen; ausserdem 961 -Wagenpferde, 287
Pferde für verschiedenen Gebrauch; im Ganzen also 3718 Pferde.
Im Jahre 1740 aber stieg diese Zahl auf 4414 Pferde von Arabischer,
Englischer, Spanischer, Persischer, Türkischer, Neapolitanischer,
Dänischer, Deutscher, Tscherkessischer Abkunft und von inländi¬
scher Race. Dieser Aufschwung rief nun im Allgemeinen grosse
Fortschritte hervor und im Jahre 1750 findet man schon über zwanzig
Privat-Gestüte, deren Zahl sich unter der Regierung Catharina II.
sehr bald vermehrte. Unter diesen waren mehrere besonders be¬
rühmt, wie das vom Grafen Orlow-Tschesmensky, vom Grafen
Flubow u. a. Am Ende des achtzehnten Jahrhunderts steigt die
Zahl der Privat-Gestüte auf 250.
Nach den Kriegen, welche den Anfang des neunzehnten Jahr¬
hunderts bezeichnen, erfuhr die Verwaltung des Gestütwesens eine
neue, bessere Organisation. Im Jahre 1819 wurden die Krons¬
gestüte auf Befehl des Kaisers Alexander II. in Gestüte des Hofs
und in Militär-Gestüte getheilt, und im Ganzen eine jährliche Summe
von 757,248 Rubel Assignaten für sie ausgeworfen. Im Jahre 1843
wurden die Militärgestüte aufgehoben und statt dieser andere Ge¬
stüte gegründet, deren hauptsächliches Ziel in der Verbesserung der
Pferderacen in Russland bestand.
Im Jahre 1845 wurden von der Krone die berühmten Privat-
Gestüte: das Chränowoische vom Grafen Orlow, das Gestüt des
Grafen Rostopschin und das des Herrn Amensky angekauft. Vom
Staate unterstützt, vermehrten sich die Privat-Gestüte immermehr,
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und schon in der ersten Hälfte dieses Jahrhunderts besass Russland
900 Privat-Gestüte. Auf der Pariser Ausstellung im Jahre 1867
fanden die russischen Pferde anerkannt den hervorragendsten
• Beifall.
Von den inländischen Pferden Russlands sind folgende Racen zu
nennen;
Die Kirgisen-Pferde —klein an Wuchs, aber kräftig und gewandt.
Pferde , die man in den Thälern von Sibirien findet, in den Um¬
gegenden des Altai-Gebirges — sie gleichen sehr dem Kirgisischen
Pferde, sind aber grösser, breiter und geeigneter, allerlei Anstren¬
gungen zu ertragen.
Die Kahnüken-Pferde an der Wolga und dem Kaspischen Meere,
dann zwischen den Flüssen Kuma und Manytsch. Diese Pferde sind
wild, schwer zu bändigen, sehr stark, gewandt und im Stande, Ent¬
behrungen der mannigfachsten Art zu ertragen.
Die Pferde der Baschkiren werden sowohl in Thälern als auch in
Gebirgen gebraucht und sind tauglich als Reit- und Anspannpferde.
Sie sind einheimisch in den Gouvernements: Orenburg, Ufa, Ssamara
und Perm. N
Die Pferde des Don bilden zwei Racen: einheimische und ver¬
edelte. Sie sind besonders vortrefflich als Reitpferde und laufen
mit grosser Schnelligkeit.
Die Ukrainschen Pferde , die hauptsächlich für die Cavallerie be¬
nutzt werden, besitzen auch alle nöthigen Eigenschaften eines guten
Reitpferdes.
Die Tscherkessen-Pterde aus dem Kaukasus, eher klein als gross,
aber stark, im höchsten Grade leicht und gewandt, voll Energie,
dabei zahm und gehorsam.
Die Estländischen Klepper bilden eine besondere Race und sind
seit uralten Zeiten in den Ostseeprovinzen heimisch; vor ungefähr
30 Jahren gab es noch sogenannte Doppelklepper y durch das viele
Kreuzen sind diese jedoch ausgeartet. Die Klepper sind kräftig und
haben einen vortrefflichen Trab.
Die Finnländischen Pferde, unter dem Namen „Schwedki“ be¬
kannt, gleichen sehr den Kleppern, sind von kleinem Wüchse, auch
kräftig und sind ebenfalls gute Traber. Schliesslich sind noch zu
erwähnen die sogenannten Wjätki, das Pferd der Obwa , Imud y
Mezen und das Bitjugscke Pferd. *
Zur Veredlung der Racen in den Gestüten nehmen die arabischen
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und englischen Pferde die erste Stelle ein. Die berühmtesten Be¬
schäler der Kronsgestüte waren: „Birmingham“ von Filo da Pouta,
„Göneral-Chass£“ von Acteon, „Henriade“ von Voltaire, „Coronatiori“
von Sir Hercule, „Djerid“von Sultan, „Vantromp“ von Banerkost,
„Studower“ von Be-Midletoti, „Rifleman“ von Toutchonej dann
noch Lord Fauconberg, Costriel, Longdoun, Kontinua, El-Hadm,
Roman. Das Gestüt zu Chranowoi besitzt Stuten, welche von
Priam, Touchstone, Defense, Jerry und The-Sadler abstammen.
Die bemerkenswertheste inländische Race ist die sogenannte
„Orlowsche“, entstanden durch methodische Kreuzung arabischer
und englischer mit dänischen und holländischen Pferden. Der
Graf Orlow besass die Beschäler: Balaban, Sultan, Sennietanka,
Fackel und Flasan. Als das im Jahre 1802 vom Grafen Rostopschin
im Gouvernement Woronesh gegründete Gestüt nach Chranowoi
übergefiihrt wurde, besass es die berühmten englischen Vollblut-
Hengste: Cadi. Dragoüt, Caimak und Richan. Alle anderen Ge¬
stüte in Russland haben ihr Dasein diesen zwei primitiven Racen,
vom Grafen Orlow und Rostopschin, zu verdanken.
Die zur Zeit bestehenden Kronsgestüte sind folgende:
I. Gestüt zu Chränowoi (Gouvernement Woronesh, Bezirk von
Bobrow) im Jahre 1845 gekauft von der Gräfin A. A. Orlow-Tsches-
mensky. Es besteht aus drei Abtheilungen: in der ersten sind 4
Beschäler und 40 Mutterstuten — englische Vollblut-Pferde, in der
zweiten nur Pferde vom Reitschlage und in der dritten: Traber.
II. Gestüt zu Bjälowodsk im Gouvernement Charkow, Bezirk von
Starobjelsk. Unter diesem Namen sind vier Gestüte zu verstehen,
von welchen ein jedes eine besondere Gattung Pferde stellt:
A. Das Gestüt von lerkulsk , welches eines der ältesten Gestüte ist.
Vor Zeiten, als noch die Gestüte in H,of- und Militär-Gestüte getheilt
waren, gehörte dasselbe zu diesen letzteren und lieferte nur grosse
Cavallerie-Pferde. Heute aber züchtet es grosse und kleine Last-
und Wagenpferde; es enthält 12 Beschäler und 150 Mutterstuten.
B. Gestüt von Streletzk. Hier werden Pferde für die leichte
Cavallerie gezüchtet. — Bestand: Beschäler und 150 Mutterstuten.
C. Gestüt von Limarew . In diesem Gestüte befinden sich nur
arabische und anglo-arabische Pferde. Es enthält 4 Beschäler und
20 Mutterstuten. Bei diesem Gestüt besteht ein Depot von 160
jungen Pferden, die alljährlich aus den Gestüten Streletzk undNowo-
Alexandrowsk übergeführt werden.
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D. Gestüt von Nowo-Alexatidrowsk, früher Alexeiwsky genannt.
Es züchtet Halbblut-Reitpferde und enthält 12 Beschäler und 150
Mutterstuten.
III. Gestüt und Depot zu Janow in Polen, Gouvernement Sjedletz,
Bezirk von Bjiela. Dieses Gestüt sowie auch das Depot wurden vom
Kaiser Alexander I. gegründet und sie enthielten damals iqo Mutter¬
stuten und 55 Beschäler gemischter Racen. Jetzt aber hat das Ge¬
stüt 5 Beschäler und 60 Mutterstuten und das Depot 80 Beschäler.
IV. Gestüt zu Orenburg. Hier werden Pferde von inländischen
Racen gezüchtet; die Paarung wird jedoch ganz den He'ngsten über¬
lassen, da das Beschälen der Mutterstuten nicht aus der Hand, son¬
dern im Freien in den Tabunen geschieht. Dieses Gestüt enthält
12 Beschäler und 100 Mutterstuten.
Ausser den genannten Gestüten existiren noch Depots für Be¬
schäler und besondere Stallungen, wo Kreuzungen mit Kronshengsten
und Stuten von Privat-Personen stattfinden.
Diese Depots sind folgende:
1) Das Depot in Potschinki, Gouvernement Nishnij-Nowgorod,
Bezirk von Bukjanow, 158 Beschäler.
2) Depot in Chränowoi, Gouvernement Woronesh, Bezirk
Bobrow, 110 Beschäler.
3) Depot in Jelissawetgrad, Gouvernement Chersson, in der Stadt
Jelissawetgrad selbst, 100 Beschäler.
4) Depot in Tambow.
5) Depot in Charkow.
6) Depot in Ssmolensk.
7) Depot in Kamenez-Podolsk; die letzten vier Depots befinden
sich in den Hauptstädten der genannten Gouvernements.
8) Depot in Limarew, Gouvernement Charkow, im Bezirk von
Starobjelsk.
In den fünf letztgenannten Depots befinden sich stets 60 Beschäler.
9) Depot in Janow in Polen, 80 Beschäler.
10) Schliesslich das Depot in Moskau — 10 Beschäler der besten
Abstammung. Hierzu gehört ein Zweig-Depot, das sich in
Nowgorod befindet.
Stallungen, wo Kreuzungen der Kronsbeschäler mit verschiedenen
Stuten stattfinden, sind in den Gouvernements Wilna, Perm und
Poltawa; im Ganzen giebt es solcher Stallungen drei und in jeder
derselben befinden sich 60 Beschäler.
1000 Kronsbeschäler decken jährlich bis 12,000 Stuten.
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Rennvereine, Vereine des Trabrennens, die Resultate beim Last¬
schleppen, sowie auch locale Pferde-Ausstellungen werden vom
Staate reich unterstützt. Die Hauptverwaltung des Reichs-Gestüt¬
wesens vertheilt zu diesem Zwecke jährlich eine Summe von 86,000
Rubel. Die verschiedenen Rennvereine ihrerseits geben für den¬
selben Zweck 64,000 Rubel aus; Alles in Allem werden also jährlich
150,000 Rubel hierfür verwandt.
Der Pferdehandel im engeren Sinne wird vorzüglich auf den
Pferdemärkten betrieben. Der Umsatz auf diesen Märkten ist sehr
beträchtlich, so dass die Zahl derjenigen Pferde, die von Züchtern
aus Gestüten und Tabunen gekauft werden, vergleichsweise nicht
sehr gross ist. — Um eine richtige Vorstellung vom Pferdehandel in
Russland zu gewinnen, ist es nothwendig, speciellere Daten über die
Pferdemärkte kennen zu lernen. Im ganzen Europäischen Russland
zählt man 356 zerstreut liegende Orte, an welchen Pferdehandel be¬
trieben wird. An diesen Orten werden jährlich 1073 Jahrmärkte
abgehalten. Nach Monaten sind diese Märkte sehr ungleich ver¬
theilt; die meisten finden im Juni, die wenigsten im December statt;
namentlich aber imr
Januar.
65
Februar .....
82
März.
81
April.
69
Mai.
104
Juni.
148
Juli.
63
August.
94
September ....
121
October.
113
November ....
73
December ....
60
Wenn wir aber die Vertheilung der Jahrmärkte nach den Jahres¬
zeiten betrachten, so finden wir eine regelrechte Stufenfolge. Auf die
Wintermonate fallen 207 Jahrmärkte, auf die Frühlingsmonate 254,
auf die Sommermonate 305, auf die Herbstmonate 307.
Allen 356 Jahrmarktsorten werden zum Verkauf über 300,000
Pferde verschiedener Gattungen zugeführt.
Nehmen wir, gestützt auf verschiedene Angaben, an, dasä auf den
Jahrmärkten von dieser Anzahl zwei Drittel verkauft werden, und
setzen wir den Durchschnittspreis eines Pferdes auf 60 Rubel, so
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erhalten wir die Summe von 12,000,000 Rubel, welche annähernd
den jährlichen Umsatz auf den Pferdejahrmärkten Russlands be¬
zeichnet.
Nach den eingegangenen Berichten beträgt die G$sammt-Anzahl
der Pferde des Europäischen Russlands mit Inbegriff des Weichsel-
Gebiets 19,266,667. Wenn der Durchschnittspreis eines Pferdes
auf 40 Rubel angeschlagen wird, so ergiebt sich für ihren Gesammt-
Werth die Summe von 770,666,680 Rubel.
In der Gesammtzahl der Pferde befinden sich an Mutterpferden
in den Gestüten 77,678, in den Steppen etwa 640,000 und unter den
Bauerpferden etwa 850,000. Ihre jährliche Zuzucht erreicht fast
eine Million, was zur gesammten Pferdezahl beinahe 5 pCt. v aus¬
macht. Dieser jährliche Zuwachs genügt für die Bedürfnisse des
Staates und Landes und deckt auch die Ausfuhr ins Ausland, nach
Europa und Asien.
Wir lassen diesen Mittheilungen noch einige Worte über die
Privat-Gestüte folgen. Im Ganzen giebt es 44 Gouvernements, in
welchen sich Gestüte befinden, und zwar sind dieses hauptsächlich
die östlichen und südlichsten Gouvernements; die nördlichen und
nord-westlichen Gouvernements haben gar keine Gestüte aufzu¬
weisen. Im Ganzen zählt man 2650 Privat-Gestüte. Die meisten
Gestüte (321) hat das Gouvernement Tambow, die wenigsten (1)
das Gouvernement Nowgorod. An Beschälern zählt man in allen
diesen Gestüten gegen 7151, an Mutterstuten 77,678. Die meisten
Beschäler (2005) hat das Land der Donischen Kosaken, die wenig¬
sten (nur einen) das Gouvernement Wologda aufzuweisen. Auch die
meisten Zuchtstuten (26,734) befinden sich im Lande der Doni¬
schen Kosaken, die wenigsten (9) im Gouvernement Wologda. —
Was den Einfluss betrifft, den die Gestüte auf die Veredelung der
sämmtlichen Pferde Russlands ausüben, so kann man wohl behaupten,
dass er ein höchst wohlthätiger ist. Die Zeit wird es lehren, wie
viel die Haupt-Verwaltung des Reichsgestütwesens vermocht hat,
die Pferdezucht im Reiche zu fördern und welche sichere Grund¬
lagen dieser Zweig der Landwirtschaft seit 1859, ungeachtet der
Crisis, die das russische Gestütwesen in Folge besonderer und ganz
fremder Ursachen traf, gewonnen hat Jetzt aber lässt sich schon
sagen, dass in Folge bedeutender Abnahme der Privat-Gestüte und
der Entwickelung der Pferdezucht unter den kleinen Landbesitzern
und Bauern einige Racen in der Nachzucht wohl theilweise an ihren
Vorzügen: verloren, sich ^aber in der Masse nicht verringert haben.
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Die verhältnissmässige Wohlfeilheit der Pferde, die mehr gebräuch¬
liche Gattung, die auf die Jahrmärkte unserer mittleren und süd¬
lichen Gouvernements gebracht wird, beweist, dass wir Pferde im
Ueberfluss haben und im Falle stärkerer Nachfrage kein Mangel
beim Ankäufe eintreten kann. Es wurde schon erwähnt, dass die
Remonte der Cavallerie auch als sichergestellt zu betrachten ist,
weil wir, ausser der bedeutenden Pferdezucht in unseren südlichen
Gouvernements, auch im Orenburgschen, am Don, über ungeheure
Massen verfügen können, die allerdings weniger schön sind, dagegen
aber durch unschätzbare Vorzüge für die Kriegstüchtigkeit sich aus¬
zeichnen.
Schliesslich wollen wir noch erwähnen, dass die grosse Flächen-
Ausdehnung Russlands der Pferdezucht besonders zu Gute kommt
und dass je mehr die vorzüglichen Eigenschaften des russischen
Pferdes Anerkennung Anden werden, um so mehr auch der Handel
mit demselben steigen müssen wird.
Statistische Notizen über das Königreich Polen.
1. Das Gouvernement Ssuwalki.
In Folge der neuen, durch Allerhöchsten Ukas vom 19. (31.) De-'
cember 1866 eingeführten, Organisation des Königreichs Polen ha¬
ben die früher über dasselbe gesammelten statistischen Daten man¬
nigfache Veränderungen erlitten; die administrative Einrichtung des
Landes ist jetzt eine andere. Aus den bis zum Jahre 1866 bestehenden
fünf Gouvernements sind zehn geworden, die natürlich in anderen
Bedingungen sich befinden als die früheren. Eine neue, übersichtliche
Beschreibung des Landes, auf Grund genauer, statistischer Ermitte¬
lungen scheint daher um so mehr von Nöthen, als überhaupt in den
letzten Jahren die Statistik Fprtschritte gemacht hat und die For¬
schungen jetzt gewissenhafter geführt werden. Als ein Beweis hier¬
für kann angeführt werden, dass, während noch vor wenigen Jahren
die Bevölkerung des ganzen Königreichs Polen auf nicht ganz fünf
Millionen Seelen angegeben wurde, dieselbe gegenwärtig auf beinahe
sechs Millionen berechnet wird. Da es nun höchst unwahrscheinlich
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ist, dass sie sich um fast eine Million vermehrt haben könnte, muss
angenommen werden, dass die früheren Volkszählungen ungenau
waren. Gegenwärtig beschäftigt man sich angelegentlich mit der
Statistik des Königreichs Polen. Mit der Zeit werden wohl über¬
sichtliche Beschreibungen aller einzelnen Gouvernements erscheinen,
aus denen sich ein festes Urtheil über die gegenwärtige Lage des
Landes wird gewinnen lassen. Vorläufig haben wir jedoch erst die
Beschreibung des jetzigen Gouvernements Ssuwalki; die ein Beamter
der dortigen Gouvernements-Regierung, Herr M. J. Kirkor, in einem
von ihm herausgegebenen Jahrbuche geliefert hat. Indem wir uns
Vorbehalten, die anderen Gouvernements später folgen zu lassen,
wollen wir diesmal, mit dem Gouvernement Ssuwalki beginnend, aus
dem Buche des Herrn Kirkor das Wichtigste hier zusammenstellen.
Vorher aber müssen wir der allgemeinen Uebersicht halber bemerken,
dass das Königreich gegenwärtig in administrativer Beziehung in
nachbenannte Gouvernements zerfallt: Warschau (254,3 Q.-M.),
Kalisch (197,5 Q.-M.), Piortkow (212 Q.-M.), Radom (223,8Q.-M.),
Keletzk (170,4 Q.-M.), Lublin (294,3 Q.-M.), Sjedletz (249,2 Q.-M.),
Plozk (188 Q.-M.), Lomsha (207 Q.-M.), Ssuwalki (227 Q.-M.).
Das gegenwärtige Gouvernement Ssuwalki besteht" aus dem
grösseren Theil des früheren Gouvernements Augustowo, während
ein kleinerer Theil desselben zum Gouvernement Lomsha geschlagen
wurde; es stellt den nördlichsten Theil des Königreichs Polen dar und
grenzt im Norden an das Gouvernement Kowno, im Osten an die
Gouvernements Wilna und Grodno, im Süden an das Gouvernement
Lomsha und im Westen an das Königreich Preussen. Mit den
übrigen diesseitigen Gouvernements hängt es nur durch einen
schmalen, mehrere Meilen langen Pass zusammen. Die Oberfläche
des Landes beträgt 1,158,444 Dessjätinen oder 227 Q.-M. Ueber
dn Viertel der gesammten Bodenfläche oder 270,000 Dessjätinen ist
mit Wald bedeckt, 27,000 Dessjätinen nehmen Gärten ein, 481,800
Ackerland und der Rest besteht aus Wiesen, Gebüschen, Gewässern
und Sümpfen.
Das Gouvernement zerfällt in nachfolgende sieben Kreise: Ssuwalki,
Augustowo, Sejny, Kalwarya, Mariampol, Wolkowyszki und Wlady-
slawör. Die Ausdehnung derselben ist nicht gleichmässig und wech¬
selt von 22 Qf-M. (Wolkowyszki) bis zu 40 Q.-M. (Sejny). In diesen
sieben Kreisen giebt es ausser der Gouvernements-Hauptstadt und
den Kreis-Städten nur noch drei andere Städte, 15 Marktflecken*
3,403 Dörfer und 1*890 Vorwerke, zusammen 5,293 bewohnte Ort-
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schäften. Hiervon sind 2,064 Dörfer Eigenthum der Regierung, 1339
Dörfer Privat-Eigenthum. Im Gouvernement bestehen 55 Allerhöchst
mit Dotationen vergebene Majorate.
In administrativer Beziehung ist das Gouvernement Ssuwalki in
zehn städtische und 94 Land-Gemeinden eingetheilt. Die Re¬
gierungs-Forsten zerfallen in zwölf Forst-Aemter. In Bezug auf die
Gerichtspflege bestehen im Gouvernement vier Friedens-Gerichte,
ein Polizei-Gericht (in der Stadt Kalwarya), ein Civil-Tribunal in der
Stadt Ssuwalki. Ein Criminal-Gericht besitzt das Gouvernement nicht
und werden die Criminal-Processe vom Criminal-Gericht in Plozk
abgewickelt, was natürlich mit verschiedenen Nachtheilen ver¬
bunden ist
Die Bev'ölkerufig ist aus verschiedenen Elementen zusammengesetzt
und bildet daher in ethnographischer Beziehung ein nicht uninte¬
ressantes Bild. Sie besteht aus Lithauern, Polen, Russen, Deutschen,
Tartaren, Zigeunern und Juden. Im nördlichen Theile des Gouver¬
nements wohnen Lithauer, im südlichen Polen. Unter diesen letz¬
teren verdient der Stamm der „Kurpie“ im Kreise Augustowo beson¬
dere Erwähnung. Gegenwärtig ganz mit den Polen verschmolzen,
bieten sie dennoch in Character, Sitten und Gebräuchen manches
Besondere, das auf eine anderweitige Abstammung hindeutet. Es
wird auch in der That angenommen, dass das kleine Völkchen der
„Kurpie“ ursprünglich einer der umwohnenden polnischen Bevöl¬
kerung fremden Abstammung ist, aber bis jetzt sollte es den Nach¬
forschungen der Geschichtsschreiber und Archäologen nicht gelingen,
seine Herkunft unumstösslich festzustellen. Während Einige die An¬
sicht vertreten, dass die ,,Kurpie“ Vorjahrhunderten aus den Kar¬
pathen eingewandert und eines Stammes mit den dortigen Gebirgs¬
bewohnern sind, mit denen sie in der That in manchen Sitten und
Gebräuchen Aehnlichkeit haben sollen, behaupten Andere, dass in
vorhistorischen Zeiten der Grüne-Urwald (gegenwärtig Urwald von
Nowogrod genannt) Zufluchtsort aller Derjenigen war, welche aus
verschiedenen Ursachen aus der Heimath flüchten mussten. Diese
Flüchtlinge wären demnach die Stammväter der „Kurpie“. Viel wahr¬
scheinlicher jedoch als diese, klingt eine dritte Ansicht, die nämlich,
dass in früheren Jahrhunderten, ja sogar noch im XIV. Jahrhundert,
der Urwald von Nowogrod zum Verbannungsorte für Verbrecher aus
den umliegenden Ländern diente (also eine Art Verbrecher-Colonie
bildete). Die „Kurpie“ wären somit Nachkommen der damaligen
Exilirten. Alles das sind aber, wie gesagt, nur vage Annahmen und
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eine endgültige Aufklärung der Sachlage ist erst zu hoffen. In frü¬
heren Zeiten waren die „Kurpie“ sehr kriegerisch und bekannt als
äusserst verwegene und geschickte Parteigänger; von ihren Waffen
trennten sie sich niemals. In Friedenszeiten beschäftigten sie sich
mit Bienenzucht und Jagd. Ackerbau betrieben sie gar nicht. Erst
in neuerer Zeit wurde ihnen das Waffen-Tragen verboten und da ihre
früheren Urwälder stark gelichtet, müssen sie auch zum Ackerbau
Zuflucht nehmen.
Einen zweiten nicht uninteressanten Bruchtheil der Bevölkerung bil¬
den die zur FilopowskischenSecte gehörigen russischen „Starovierzen“
(Altgläubigen), die sich schon vor mehreren hundert Jahren im süd¬
lichen Theile des Gouvernements niedergelassen haben, wie dies aus
einem von ihnen aufbewahrteti, im Jahre 1571 in Lemberg von
Johann Feodorowitsch Chodkiewitsch herausgegebenen Buche er¬
hellt. Die Niederlassungen der Starovierzen sind sporadisch unter
der einheimischen Bevölkerung zerstreut. Die erste soll im Kreise
Sejny, in der Nähe des Dorfes Lipin gegründet worden sein. Gegen¬
wärtig bewohnen die Starovierzen fünf Dörfer, und zwar Giebokiröw
im Kreise Ssuwalki, Pogorzelcy im Kreise Sejny, Piawne ruskie, Ra-
sztabal und Szury im Kreise Augustowo. Sie gemessen vollständige
Freiheit in Bezug auf die Ausübung ihres Cultus, haben sowohl ihre
Sprache als auch Sitten erhalten und beschäftigen sich mit Land¬
wirtschaft, Gartenbau und Leinwandfabrication, in welcher letzteren
sie es zu einer hohen Stufe der Vervollkommnung gebracht haben.
In den neuesten Zeiten mehren sich unter ihnen dieUebertritte zu der
Sekte der Jedinovierzen, und zwar traten in den letzten Jahren zu der
genannten Secte 800 Starovierzen über. Die Jedinovierzen siedelten
sich in den Dörfern Nikolajewo, Alexandrowo und Pokrowskie an;
in Petrowskie besitzen sie eine Kirche.
Bekenner des griechisch-unirten Glaubens giebt es im Gouver¬
nement Ssuwalki ebenfalls; sie gehören zur griechisch-unirten Diöcese
Chelm, bewohnen zum grösseren Theil den Kreis Augustowo und
besitzen daselbst neun Kirchen.
Unter diesen Elementen der Bevölkerung sind noch die Tartaren
zu erwähnen, die hier seit Jahrhunderten angesiedelt sind und trotz¬
dem sie am muhamedanischen Glauben festhalten, polnische Sprache,
Sitten und Gebräuche angenommen haben. Sie wohnen meistentheils
in den Kreisen Kalwarya und Wolkowyszky und besitzen im Dorfe
Winksznupe eine Moschee. Die Zahl der Juden im Gouvernement
ist sehr beträchtlich. Die Mehrzahl der Städte ist fast ausschliesslich
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von ihnen bewohnt, aber auch auf dem Lande sind sie zahlreich ver
treten; sie beschäftigen sich mit Handel und Handwerken. Eine
kleine Anzahl sporadisch im Lande zerstreutet Zigeuner vervollstän¬
digt die bunte Zusammensetzung der Bevölkerung.
Eine-genaue Eintheilung der Bewohner nach der Nationalität ist
schwierig, weil es in vielen Fällen unmöglich wird zu bestimmen, ob
Jemand zum polnischen oder lithauischen Stamme gehört. Nach
dem Religions-Bekenntnisse getheilt, zählt die Bevölkerung i, 184 Grie¬
chisch-Orthodoxe, 4,79oStarovierzen, 9,709Griechisch-Unirte,386,373
Römisch-Katholische, 34,071 Lutheraner und Reformirte, 87,839
Juden, 223 Muhamedaner, oder zusammen 532,372 Köpfe, darunter
260,689 männlichen und 271,683 weiblichen Geschlechts. Das in der
obigen Zahl mitinbegriffene Militär zählt 7,883 Mann. Nach den Stän¬
den berechnet zählt das Gouvernement: 193 Weltgeistliche (sammt
Familien), 33 Kloster-Geistliche, 1,272 Personen, welche zunt Erb-
Adel des Kaiserreichs und 7,731 Personen, die zum Erb-Adel des
Königreichs Polen gehören, 913 Kaufleute, 79,980 städtische Bürger,
417,150 Bauern, 8342 Colonisten, 1,738 fremdländische Unterthanen,
6,680 beurlaubte oder verabschiedete Soldaten, 7883 im Dienst be¬
findliche Soldaten und45ö Personen, die in obigeCategorien nichtein
bezogen werden können. Die Gesammt-Bevölkerung stellt sich somit
wie obenauf 532,372Köpfe. Der weitab grösste Theil der Bewohner,
fast 4 /5 derselben, bekennt sich zum römisch-katholischen *Glauben.
Wenn wir den Stand der Bevölkerung im Jahre 1870, auf welchen
die vorerwähnten Zahlen sich beziehen, mit den drei vorhergehenden
Jahren vergleichen, so erhalten wir nachfolgende Resultate: Im Jahre
1867 zählte die Bevölkerung 511,170 Seelen, im Jahre f868—515,924,
im Jahre 1869 — 517,357. Seit dem Jahre 1867 hat sich dem¬
nach die Einwohnerzahl des Gouvernements Ssuwalki um 440
vermehrt. Im Jahre 1871 wurden 3,404 Ehen geschlossen,
geboren wurden 9,784 Knaben und 9,342 Mädchen; der Zu¬
wachs betrug zusammen 19,126 Köpfe. Es starben 6,257 Män¬
ner, 6,210 Frauen. Die Abnahme bettägt 12,467 Individuen.
Wenn wir nun diese Ziffern mit den entsprechenden des Vorjahrs
vergleichen, so finden wir, dass die Bevölkerung sich wiederum um
7,129 Personen, oder um 1,36 0/0 vermehrt hat. Die Zunahme resul-
tirt hauptsächlich aus dem Ueberschuss der Geburten über die To¬
desfälle, welcher sich mit 6,659 beziffert. Im Jahre 1871 wurden im
Vergleich mit dem Vorjahre 562 Ehen mehr geschlossen.
In Bezug auf geographische Lage , Klima , Boden und Industrie
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4»4
unterscheidet sich das Gouvernement Ssuwalki sehr bedeutend von
den andern neun Gouvernements des Königreichs Polen. Nur durch
einen, engen Pass gegen Süden mit dem Gouvernement Lomsha ver¬
bunden, breitet es sich mehr gegen Norden aus, ist zwischen
Preussen und den Gouvernements Grodno, Wilna und Kowno wie
eingezwängt und bildet somit die äussersten nördlichen Marken des
Königreichs. Was die Fruchtbarkeit des Bodens anbelangt, gehört»
das Gouvernement Ssuwalki im Vergleich mit den übrigen zu den am
wenigsten bevorzugten. Das Klima ist bedeutend rauher und die
Industrie am wenigsten entwickelt.
In topographischer Beziehung kann das Gouvernement Ssuwalki
in zwei Hälften getheilt werden, eine nördliche und eine südliche,
die unter einander wiederum sehr verschieden sind, sowohl was den
allgemeinen Character des Landes wie auch die Eigenschaften des
Bodens, den Stand des Ackerbaus und die Anzahl der Seen und
Wälder anbelangt.
Das Klima dieses Landes ist zwar gemässigt, aber in Folge der
nördlichen Lage, wie gesagt, viel rauher als in den anderen Theilen
des Königreichs. Der mittlere Stand der Temperatur beträgt
+ S»o R. In Folge der klimatischen Verhältnisse und der localen
Eigentümlichkeiten des Bodens steht der Ackerbau', welcher 4 /& der
Bewohner den Lebensunterhalt gewährt, auf einer nur sehr mittel-
mässigen Stufe der Entwickelung. Bei den Bauern ist noch die
Dreifelder-Wirthschaft im Gebrauch, die Gutsbesitzer und Pächter
grösserer Ackerflächen führen nach und nach das System der Rota¬
tion ein. Zum Düngen der Felder wird Viehdünger verwendet,
jedoch ist in den Kreisen Augustowo und Sejny versuchsweise Torf¬
düngung eingeführt, die sich auf Sand-Boden sehr gut bewähren
soll. Das Ackerland beträgt, wie gesagt, 481,000 Dessjätinen, die
hauptsächlich mit Roggen aber auch mit Weizen, Gerste, Wicken,
Hafer und Kartoffeln bebaut werden. Auf die Production dieser letz¬
teren wird besondere Sorgfalt verwendet
Auf vielen grossem Gütern bildet der Betrieb von Branntwein-
Brennereien eine nicht unwesentliche Aushülfe bei der Landwirt¬
schaft. Man producirt hier den Branntwein meistenteils aus Kar¬
toffeln, aber nur wenige Gutsbesitzer betreiben diesen Industrie¬
zweig in grösserem Umfange , weil es ihnen schwer, ja unmöglich
ist, mit den Brennereien im Gouvernement Lomsha zu concurriren,
die das Product zu viel billigeren Preisen auf den Markt im benach¬
barten Departement Ssuwalki bringen können. Aus diesem Grunde
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48s
hat denn ^auch im Allgemeinen die Branntwein-Production in diesem
letzteren abgenommen, so dass die Zahl der im Betrieb stehenden
Brennereien im verflossenen Jahre von 102 auf 82 gesunken ist.
Uebrigens ntag die Verminderung der Production ausser in den oben
erwähnten Ursachen zum Theil auch in der Abnahme der Consum-
tion ihren Grund finden und zwar führt auf diese Vermuthung der
Umstand, dass gleichzeitig die Zahl der Bier-Brauereien um acht
gestiegen ist. Sie betrug nämlich 32 im Jahre 1870, gegenwärtig
dagegen 40. Es. muss hierbei bemerkt werden, dass nicht allein im
Gouvernement Ssuwalki, sondern auch in allen übrigen Gouverne¬
ments des Königreichs in letzterer Zeit eine Abnahme des Brannt¬
wein-Consums und eine Zunahme des Bier-Verbrauchs constatirt
worden. Es bewährt sich somit auch hier die alte Erfahrung, dass
nämlich die Bauern viel arbeitsamer und nüchterner werden, sobald
sie Grundeigenthümer geworden.
Die Landwirthschaft beschränkt sich mit wenigen Ausnahmen
auf die Production der eigentlichen Kornfrüchte und Kartoffeln. Mit
dem Anbau von Flachs, Oelsaaten, Zuckerrüben befassen sich die
Eigenthümer grösserer Land-Güter gar nicht, die Bauern dagegen
nur im beschränkten Umfange, soweit es ihre eigenen häuslichen
Bedürfnisse erheischen. Obst- uxid Gemüse-Gärten sind gänzlich
vernachlässigt. Die Bauern beschäftigen sich mit deren Cultivirung
gar nicht. Eine Ausnahme hiervon bilden die Starovierzen, deren
Dörfer in den Kreisen Sejny und Ssuwalki von schönen Obst- und
Gemüse-Gärten umgeben sind; auch giebt es deren auf einzelnen,
aber bei Weitem nicht allen adeligen Gütern. Erst in neuester Zeit
zeigen sie Spuren einer grösseren Liebe zur Gartenwirthschaft.
Hier und da sind Pflanzungen von Obstbäumen angelegt worden.
Die Artfänge dieser Cultur sind namentlich in den Kreisen Augu-
stowo und Kalwarya sichtbar.
Die Zahl der Mühlen ist nicht gross. Sie beträgt nur acht Dampf¬
mühlen und 66 Wasser- und Windmühlen.
Die Viehzucht\ die hier noch am besten gedeihen könnte, steht
ebenfalls auf keiner hohen Stufe. Was z. B. die Pferdezucht anbe¬
langt, so besitzt das Gouvernement Ssuwalki kein Regierungs-
Gestüt, dafür hat es aber fünf Privat-Gestüte, von denen sich einige
eines guten Rufes erfreuen. Man berechnet, dass auf jede Familie
(vier Personen) der ländlichen Bevölkerung im Durchschnitt ein
Pferd kommt, ausserdem t 1 2 Stück altes und 2 Stück junges Horn¬
vieh. Schaafe von veredelter Race werden nur von wenigen reichen
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Gutsbesitzern gehalten. Die Wolle, die nicht im Lande verbraucht
wird, geht theilweise nach Preussen, theilweise nach den angren¬
zenden Gouvernements des Kaiserreichs. Die Federviehzucht ist
wenig entwickelt, die Bienenzucht im Verfalle. Früher war in diesen
Gegenden die Zucht der wilden Wald-Bienen sehr verbreitet und
der Handel mit Honig und Wachs bildete den hauptsächlichsten
Industriezweig der Bewohner; das hat aber aufgehört, nachdem es
sich herausgestellt, dass die wilden Bienen in den Wäldern grossen
Schaden anrichten. Gegenwärtig, werden sie nur noch in den
Wäldern des Kreises Mariampol geduldet. Sie liefern einen sehr
schönen, angenehm riechenden, weissen Honig, aus dem in Köwno
ausgezeichneter Meth bereitet wird.
Ausschliesslich dem Ackerbau hingegeben, beschäftigt sich die
ländliche Bevölkerung mit Industrie gar nicht. Einestheils fehlt es
ihr an dem hierzu nöthigen Unternehmungsgeist, anderen Theils mag
auch die bedeutende Entfernung von den grösseren Industrieheerden
des Königreichs oder Kaiserreichs Schuld daran sein. Insofern jedoch
überhaupt industrielle Thätigkeit sich hier vorfindet, ruht sie in den
Händen der jüdischen Bevölkerung. Auch die Handwerke werden
fast ausschliesslich von dieser letzteren betrieben und dass dies mit
dem Handel gleichfalls der Fall ist, versteht sich von selbst. Während
die einheimische christliche Bevölkerung nur allein dem Ackerbau
obliegt, zeigen die Juden, wie überall so auch hier, eine ungemeine
Rührigkeit; sie versehen die Landlcute mit den ihnen nöthigen
Waaren, besorgen den Transport dieser Waaren so wie der Landes-
producte. Die Juden sind Entrepreneure bei allen öffentlichen Ar¬
beiten und besorgen alle Lieferungen für die Regierung, sie haben
ausserdem die Mehrzahl der Schänken in Pacht, so wie viele Mühlen
und Seen, welche letztere sich durch grossen Reichthum an Fischen
auszeichnen, die nicht allein nach den benachbarten Gouvernements,
sondern auch nach Warschau ausgeführt werden.
Den einzigen Industriezweig, mit dem sich die ländliche Bevölkerung
in etwas grösserem Maassstabe beschäftigt, bildet die Tuch- und
* Leinweberei. Das hier verfertigte Tuch ist von ordinairer Gattung
und nur für den häuslichen Verbrauch berechnet, die Leinwand
hingegen oft von grosser Güte und Feinheit. Die Bewohner sind zur
Leinweberei sehr geschickt und da auch Boden und Klima zur Flachs-
cultur sich wohl eignen, ist es sehr Schade, dass dieser Industrie¬
zweig nicht mit grösserer Energie betrieben wird. Es sind in dieser
Beziehung mehrere Versuche gemacht worden, ohne bis jetzt nen*
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nenswerthe Resultate erzielt zu haben. Jedoch sind immerhin 29,679
Spinnstühle thätig. Die jährliche Production an Tuch beträgt 48,000
Arschinen im Werthe von 22,000 Rbl Die Leinwandproduction
beträgt jährlich im Durchschnitt gegen 1 V a Millionen Arschinen,*
im Werthe von 250,000 Rbl. Eine etwas grössere Lcinwandfabrik
befindet sich auf dem Gute Dobrowola, Kreis Wladystawöw. Von
anderen Fabriken existiren im Gouvernement zwei Baumwollen-
Spinnereien, 4 Färbereien, 50 Gerbereien, 1 Seifenfabrik, 11 Talg-
schmelzereien, 8 Stärkefabriken, 46 Ziegeleien, 3 Topffabriken, 24
Kalköfen, 31 Theerhütten, 16 Oelfabriken und 7 Essigfabriken. Der
Productionswerth aller dieser Industrieanstalten ist verhältnissmässig
unbedeutend.
Von andern Etablissements verdienen hier noch erwähnt zu wer¬
den: die Gasfabrik auf der Eisenbahnstation Wirballen, auf der
Linie Wilna-Königsberg; ferner die Gusseisenfabriken in Sztabina,
Kreis Augustowo, und Szeiwia. Kreis Wolkowyszky. Die jährliche
Production dieser beiden, 22 Arbeiter beschäftigenden Anstalten
repräsentirt einen Werth von 16,000 Rubel. Sie produciren Acker-
baugeräthe, Dampfmaschinen, Spritzen u. s. w., welche meistens
nach andern Gouvernements ausgeführt werden.
Der Handel steht auf einer sehr niedrigen Stufe der Entwickelung
und verspricht auch für die Zukunft keineh'besonderen Aufschwung,
sowohl wegen der geographischen Lage des Gouvernements, als
auch wegen Mangel an Eisenbahnen, Capitalien und Unternehmungs¬
geist. Die Haupthandelspunkte sind Ssuwalki, Augustowo und das,
Kowno gegenüber, am Niemen gelegene Aleksota. Als Ausfuhr¬
artikel dienen ausschliesslich die Rohproducte der Landwirtschaft,
wie z. B. Getreide, Flachs, Leinsamen, Holz, Häute, Wolle u.dgl.m.
Eingeführt werden, zum grössten Theil aus dem Auslande: Eisen,
verschiedene Fabrikerzeugnisse, Galanteriegegenstände, Farben,
Erzeugnisse aus Glas und Fayence, ferner Heringe, Wein, Jucker
und andere Colonialwaaren.
Grössere Jahrmärkte giebt es im Gouvernement gar nicht, dafür
werden kleinere Märkte, meistens an Festtagen in den Städten';und
Marktflecken abgehajten. Dergleichen Märkte giebt es im Jahre 120.
Der Werth der auf ihnen ausgebotenen Waaren wird im Durch¬
schnitt auf 800,000 Rubel berechnet. Hiervon wird für ungefähr
600,000 Rubel verkauft. . .
An Forsten hat das Gouvernement Ssuwalki bis jetzt noch keinen
Mangel. Dieselben bedecken im Gegentheil den vierten Theil des
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Bodens. Das Waldareal beträgt 270,320 Dessjätinen, von denen
182,904 der Regierung gehören und der Rest von ungefähr 88,216
Dessjätinen theils Commune-, theils Privateigenthum ist. Von diesen
letzteren gehören über 16,217 Dessjätinen den Majoratsherren. Die
Forsten der Regierung sind nach wissenschaftlichen Grundsätzen
eingerichtet und werden rationell verwaltet. Im Bezirke eines jeden
Forstamtes existiren Baumschulen zur Verbreitung edlerer Baum¬
gattungen. Die Privatwaldungen sind dagegen ganz und gar ver¬
wahrlost. Trotz des grossen Werthes, welchen in gegenwärtigen
Zeiten die Forsten repräsentiren, haben eine rationelle Forstwirth-
schaft nur äusserst wenige Privatbesitzer eingeführt.
Von der gesammten Bodenfläche des Gouvernements Ssuwalki
nehmen die Gewässer den 7. Theil ein, und zwar kommen auf die
Flüsse 7,296 Dessjätinen, auf Seen 50,991 Dessjätinen und 26,763
auf Sümpfe. Das Gouvernement ist demnach sehr wasserreich.
Dieser Umstand sowie die niedrige Lage des Landes hat viele For¬
scher auf die Vermuthung geführt, dass ehemals diese Provinz von
den Wogen der Ostsee bedeckt war. Es sind auch in der That vor
Jahren die Bestandteile eines phönicischen Schiffes aus grosser Tiefe
in der Erde ausgegraben worden. Die hiesigen Flüsse und Seen
gehören theils zum Flusssystem des Niemen, theils zu dem der
Weichsel. Die Zahl der Seen beträgt zusammen 480, von denen 440
zum Flusssystem des Niemen und 40 zu dem der Weichsel gehören.
Unter den Flüssen nimmt der Niemen, welcher im Osten und
Norden die Grenze des Landes bildet, die erste Stelle ein. Er ist
schiffbar auf der ganzen Länge seiner Berührung mit dem Gouver¬
nement Ssuwalki. Von den zum Flusssystem der Weichsel ge¬
hörigen Flüssen ist der Bobr der bedeutendste; unter seinen Neben
flüssen sind zu nennen: Netta, Stawiska, Jastrzebianka Als Ver¬
bindungen zwischen dem Flusssystem der Weichsel und des Niemen
dient der Canal von Augustowo. Früher von grosser Bedeutung in
handels-politischer Beziehung, hat er jetzt zum grösseren Theil seine
Wichtigkeit verloren.
An Verkehrsstrassen besitzt das Gouvernement eine Seitenlinie
der Warschau-St Petersburger Eisenbahn von Kowno bis zur
preussischen Grenze, in der Länge von 85 Werst, ferner zwei Chaus¬
seen I. Classe; die Kownosche und Königsberger in der Länge von
zusammen 193 Werst, und schliesslich zehn GubemiähChausseen in
der Länge von 496 Werst.
In Bezug auf die Volksbildung bestehen im Gouvernement 163
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verschiedenartige männliche und weibliche Lehranstalten, darunter
zwei Knaben- und ein Mädchen-Gymnasium, ein Lehrerseminar mit
damit verbundener Muster-Elementarschule, 141 einclassige Ele¬
mentarschulen und 25 städtische Schulen. Die Zahl der Schüler in
diesen Lehranstalten betrug äm l. Januar 18^2 — 6596, darunter
5164 Knaben und 1405 Mädchen. Dem Religionsbekenntnisse
nach wurden die Schulen besucht von 118 Griechich-Orthodoxen, 50
Jedinovierzen, 326 Griechisch-Unirten, 69 Starovierzen, 3714 Katho¬
liken, 1370 Evangelischen, 7 Muhamedanern und 915 Juden.« Nach
den Ständen zerfallt die Schuljugend in: 478 Kinder von Edelleuten
und Beamten, 12 Kinder von Geistlichen, 1626 Kinder von Stadtbür¬
gern Und 4453 Kinder von Bauern.
Die sanitären Verhältnisse hängen wie überall so auch hier mit
dem Clima in unmittelbarem Zusammenhang. Im Allgemeinen ist
das Clima gesund, mit Ausnahme etwa der sumpfigen Niederungen,
in denen besonders im Herbst Fieber vorherrschen. Von der Cholera
wird das Gouvernement öfter heimgesucht, nur die Hauptstadt
Ssuwalki ist in so glücklidier Lage, dass diese Epidemie dort fast
unbekannt ist. Unter der jüdischen Bevölkerung herrscht Aussatz,
unter der lithauischen Weichselzopf und ein Magenleiden, das sie
„gumbos“ nennt, und welches ihr eigen zu sein scheint. Die schwere
hölzerne, von den Lithauern getragene Fussbekleidung verursacht
Plumpfüsse, welche viele unter ihnen zum Militärdienst untauglich
machen.
Das Gouvernement besitzt fünf Civilspitäler , von denen zwei in
Ssiiwalki und je eins in Mariampol, Kalwarya und Sejny. Ausserdem
existirt ein Spital beim Gefängniss in Kalwarya, und ist neuerdings
in Augustowo ein jüdisches Spital errichtet worden. Aerzte giebt
es 27 und zwar 15 im Dienste der Regierung und 12 private.
Privat-Apotheken existiren 12.
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Kleine Mittheilungen.
(Auszug aus den Protocollen der physico - mathematischen Classe der
Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften für April-September 1872).
In der Sitzung am 4. April legte der Vice-Präsident der Akademie,
Akademiker V. J. Bunjakowski ’, der Classe seine für die „Memoires“
bestimmte Abhandlung „Consid^rations sur quelques singularitcs
dans les constructions de la geometrie non-enclidienne“ vor, welche
seitdem im XVTII. Bde. der „Memoires“ der Akademie (No. 9) ge¬
druckt erschienen ist. Akademiker O. /. Ssonurw las eine „Sur les
vitesses virtuelles d’une figure invariable, assujeties ä des ^quations
de conditions quelconqnes de forme lineaire“ betitelte Abhandlung
vor, welche im ,,Bulletin“ der Akademie publicirt ist ( 1 \ XVIII
S. 161 — 184). Sie knüpft an das Memoire von Manheim „Sur le
d^placement d’une figure de forme invariable“ an. Akademiker
D. M. Perewoschtschikow las eine Abhandlung „Ueber das Integriren
logarithmischer Functionen“ („MHTurpHpoBaHte jiorapneMimecKHX'b
«*>yHKidö u ), welche im ersten Buche des XXL Bandes der .,3anHCKH“
(„Sapisski“) der Akademie (S. 87— 106) abgedruckt ist. Die Aka¬
demiker Otto Struve und A. N. Ssazvitsch legten der Classe eine
astronomische Abhandlung eines jungen Gelehrten, des Herrn
5 . Glasenapp , betitelt „Observations des satellites de Jupiter“ vor
und empfahlen sie zum Druck im „Bulletin“ der Akademie (er¬
schienen im B. XVIII, S. 80—102). Die Akademiker B. S. Jakobi
und H . L Wild berichteten über die Abhandlung des Herrn Perneth:
„Die periodischen Aenderungen des Luftdruckes in St. Petersburg
nach 50jährigen Beobachtungen“ und empfehlen ihren Druck im
„Meteorologischen Repertorium“, welches unter Leitung des Herrn
Akademikers Wild von der Akademie herausgegeben wird.
Einer Commission, bestehend aus dem Vice-Präsidenten der
Akademie und den Akademikern P. L. Tschcbyschau , 0 . L Ssomow
und D. M. Perewoschtschikcnv , wurde die von Herrn Heinrich
Kjelkijew tsch y Gutsbesitzer in Podolien, eingesandte Abhandlung über
das Verhältniss zwischen den Differenzialen erster, zweiter, dritter
und vierter Ordnung zur Prüfung übergeben.
Vorgelegt wurde der Classe das Werk von Plantamour: Nouvelles
experiences faite avec le pendule ä reversion et determination de la
pesanteur ä Gen£ve et au Righi-Kulm, welches der Kaiserl. Russische
Gesandte beim Schweizerbunde, Geheimrath Giers, an die Akademie
gesandt hatte.
Das Cornite der Kopernikanischen Gesellschaft der Wissenschaft
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und Kunst in Thom benachrichtigt in einem Circular, dass am
7. (19.) Februar 1873 der 400jährige Geburtstag von Kopernikus
gefeiert werden solle und dass die Gesellschaft beabsichtige, zu diesem
Feste das Werk des grossen Astronomen ,jde revolutionibus orbium
coelestium welches gegenwärtig eine bibliographische Seltenheit
sei, neu herauszugeben. Diese Ausgabe solle nach Format und
innerer Anordnung eine möglichst treue Reproduction der Nürn¬
berger Ausgabe von 1543 werden; was aber die äussere Ausstattung
derselben betreffe, so solle sie den gegenwärtigen Fortschritten der
typographischen Kunst vollkommen entsprechen und die erste Aus¬
gabe sein, welche das Manuscript des Kopernikus mit diplomatischer
Treue wiedergiebt Es wurde beschlossen, dass die Bibliothek der
Akademie auf ein Exemplar subscribire.
Akademiker PA. W. Chvssjctnikow theilte der Classe mit, dass die
Pariser Societe d’acclimatisation ihm die Medaille erster Classe für
seine Bemühungen um die künstliche Fischzucht in Russland zuer¬
kannt habe.
In der Sitzung am 2. Mai zeigte der Beständige Secretär der
Classe den Tod zweier ihrer correspondirenden Mitglieder an: des
am 25. März in Reval verstorbenen Admirals Baron B. W. Wrangell ,
welcher seit 1828 Correspondent für die mathematischen Wissen¬
schaften war, und des am I. April n. St. in Tübingen verstorbenen
und imj. 1854 erwählten Correspondenten für die biologischen
Wissenschaften H. Mokl.
Akademiker Ph. W. Owssjannikow legte der Classe eine von ihm
und H. Tschirjczv ( l lnpbeBi>) verfasste Abhandlung vor „Ueber den
Einfluss der reflectorischen Thätigkeit der Gefässnervencentra auf
die Erweiterung der peripherischen .A:tc::en und auf die Secretion
in der Submaxillardrüse“. Es wurde ihr Druck im .,Bulletin“ der
Akademie beschlossen.
Akademiker A. M. Butlerow trug seine Abhandlung „Sur Tackle
trim&hylacetique, une variete isomerique nouvelle de Tackle vale-
rique“ vor, welche im „Bulletin“ (Band XVIII, S. J02—108 er¬
schienen ist.
Die Akademiker I. 1 . Sinin und A . M. Butleroiu empfahlen zum
Druck im „Bulletin“ folgende Aufsätze: 1) Ueber die Einwirkung
desChlorsuccinyTs auf Benzoin, von Frau Adel. Lukanin (s. Bd. XVIII,
S. 72—75); 2) Sur Tethyle-trimethylformene, une variet6 isomerique
du hexane, von Gorjainow (s. Bd. XVIII, S. 75—76); 3) Sur la for-
mation du chlorure de butyle tertiaire au moyen de Tisobutylene,
von Salesskij (s. Bd. XVIII, S. 77—78); 4) Sur la transformation de
Tamylene en un alcool amyiique, au moyen de Tackle sulfurique,
von Flavisxij (s. Bd. XVIII, S. 78—79) und 5) Action du bromure
d’aeetyle, brom£ sur le zincmethyle, von Shdanow , (s. Bd. XVIII,
S. 80—82).
Das Ehrenmitglied der Akademie Alexander von Middendorff
hatte der Classe eine Abhandlung „Nachträge zur Kenntniss des
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Nordcapstromes“ eingesandt, deren Druck im „Bulletin“ beschlossen
wurde (s. Bd. XVIII, S. i—5).
Den Akademikern B. S. Jacobi und H. /. Wild wurde von der
Classe die Durchsicht der vom Ehrenmitgliede der Akademie Adiek
aus Tiflis eingesandten Abhandlung des Herrn N'öschel „Einige
Worte über die Verdunstungsmesser und über einen von mir con-
struirten Atmometer“ übertragen. '
Einer aus den Akademikern Fr. Brandt , Pk. W. Owssjanmkozv,
Leop . von Schrenk, Alexander Strauch und 7 A: Schmidt zusammen¬
gesetzten Commission wird die vom bekannten russischen Zoologen
W. Kowalewskij aus Berlin eingesandte Abhandlung „Sur TAnchi-
therium aurelianense Cuv. et sur Thistoire palöontologique du
cheval“ zur Durchsicht und Berichterstattung übergeben. Ferner
werden den vier ersten der genannten Akademiker zur Durchsicht
und Berichterstattung übergeben die Abhandlungen: 1) des Dr.
Alex. Brandt >,Ueber die Cyamiden des Zoologischen Museums der
K. Akademie der Wissenschaften“ und 2) des Dr. Knock „Ueber
Missbildungen betreffend die Embryonen des Salmonen- und
Corregonus-Geschlechts.
Akademiker O . /. Ssotnow übergab der Classe seine eben (in
russischer Sprache) im Druck erschienene Kinesiometrie , welche den
ersten Theil seines Cursus der rationellen Mechanik bildet, Akade¬
miker N. I. Kokscharow die Forschung seiner „Materialien zur Mine¬
ralogie Russlands“, Band VI, S. 97—208 und Tafeln LXXV 1 II bis
LXXXII. Vom correspondirenden Mitgliede der Akademie A.
Popow in Kasan wurde seine in den „Gelehrten Abhandlungen“ der
Kasaner Universität gedruckte Abhandlung „Ueber denReflex eines
senkrechten Strahles auf einer horizontalen Ebene“ (o6t> oTpa-
»eHin oTB'hcHoll CTpyn Ha ropH 30 HTajibHott iuiockocth) der Classe
vorgelegt, ferner: zwei vom russischen diplomatischen Agenten in
Aegypten eingesandte Exemplare des in italienischer Sprache in
Alexandrien imj. 1872 gedruckten Werkes von Idotn Vittoris über
das Verhältniss der Peripherie des Kreises zum Diameterj der erste
Band der „Annali“ der R. Scuola normale superiöre in Pisa, ein¬
gesandt vom Director der Schule, Betti, welcher den Schriften¬
austausch mit der Akademie wünscht. Es wird beschlossen, der
genannten Anstalt das „Bulletin“ der Akademie vom laufenden
Bande an zu senden.
Akademiker Fr. Brandt berichtete über Darbringungen an das
Zoologische Museum ddr Akademie: 1) vom russischen Consul in
Wardö in Norwegen, Herrn Skanke einer kleinen Collection von
Vogeleiern und eines Vogelnestes, 2) von W. /. Basilezuskij — eines
schönen ausgestopften schwarzen Fuchses aus den Umgegenden
von Jenisseisk, 3) vom Inspector der hiesigen, Handelsschule H.
Selkeim — eines Exemplares der Paradisea magnifica, und 4) vom
Akademiker Alexander Strauch — eines Pyknogoniden vom Nörd-
ufer Lapplands, welchen Herr Jarshinskij (s. „Russische Revue“
Heft 3, S. 293) mitgebracht hatte. * > >'•>
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Akademiker /. B . Jacobi las „Ueber eine galvanische Eisenreduc-
tion unter Einwirkung eines kräftigen electromagnetischen Solenoids“,
welche Abhandlung im „Bulletin“ erschienen ist (s. Bd. XVIII,
S. ii—18).
In der Sitzung am 23. Mai theilte der Beständige Secretär der
Classe das am 29. April n. St. in Paris erfolgte Ableben ihres cor-
respondirenden Mitgliedes Duhamel mit
DerVice-Präsident V. Bunjakowski zeigte in der Classe einen
von ihm erfundenen Rechnenapparat zum Behufe mechanischer Aus¬
führung der Addition und Subtraction mehrstelliger Zahlen vor.
Akademiker Fr. Brandt las „Ueber die Reste eines in Italien bei
Aque in den untern Schichten des mittleren Miocän entdeckten
jungen Squalodons“, welche Notiz im Bulletin“ (Bd. XVIII, S. 31)
erschienen ist. Akademiker H. /. Wild berichtete über seine fiir die
„Memoires“ der Akademie bestimmten „Metrologischen Studien“
in denen er einige auf das metrische Maass- und Gewichtssystem
bezüglichen Fragen behandelt und die seitdem im XVIlI.Bde., No. 8
erschienen sind. Akademiker K. L Maximowicz las seine Abhand¬
lung „Diagnosis plantarum novarum Japaniae et Mandshuriae.
Decas duodecima“, welche im „Bulletin“ erschienen ist (s.Bd. XVIII,
S. 35—72). Akademiker Alexander Strauch las seine für die *,M6-
moires“ der Akademie bestimmte Monographie „Die Schlangen des
Russischen Reiches“, in der er alle bisher aus Russland bekannten
Schlangenarten, deren Zahl sich auf 36 beläuft, behandelt. I Art
gehört zu den Scolecophidia, 25 Alten zu den Azemiophidia und
10 zu den Toxicophidia. Unter ihnen sind 4 neue Arten, welche
der Verfasser ausführlich beschreibt. Am Schluss der Monographie
wird die geographische Verbreitung der einzelnen Arten behandelt,
wobei das von Schlangen bewohnte Terrain des Russischen Reiches
in 4 Gebiete getheilt wird, von denen jedes durch bestimmte, ihm
ausschliesslich zukommende Ophidienartcn characterisirt ist. Das
er^te dieser Gebiete, das europäische, erstreckt sich südlich bis zum
Fusse des Kaukasus, östlich bis zum unteren Laufe der Wolga und
weist 9 Arten auf, von denen eine giftig ist — Coluber quadri-
lineatus Pall — und für dieses Gebiet characteristisch ist^ das heisst
ausschliesslich in ihm vertreten ist. Das zweite, das transkauka¬
sische Gebiet, welches auch das Kaukasus-Gebirge umfasst, ist sehr
reich an Schlangen: es weist 21 Arten auf, von denen 5 giftig urid
9 ihm ausschliesslich angehören. Das dritte, das westsibirische
Gebiet, umfasst-alle Länder zwischen dem Kaspi-See und dem
Baikal und besitzt nur 16 Arten, von denen 7 ihm allein eigen sind.
Das letzte, das ost-sibirische Gebiet, welches sich vom Baikal bis zu
den Ostufern Sibiriens erstreckt, unterscheidet sich wesentlich von
den ersten drei Gebieten und weist viel Uebereinstimmung mit der
Ophidien-Fauna Japans und des nördlichen 1 China auf. Es besitzt 9
Arten, von denen 3 giftig sind, 2 (Elaphis diene Pall, und Vipera
berus L.) der -europäisch-asiatischen Fauna angehören und 7 sonst
nur in Japan und im nördlichen China auftretem
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Akademiker Th* Schmidt las seine Abhandlung „Ueber die Pefre-
facten der Kreideformation von der Insel Sachalin“, welche in den
„M^raoires“ der Akademie erscheinen wird.
Die Akademiker Brandt , Schrenk und Strauch empfehlen zum
Druck (im „Bulletin“) die Abhandlung des Dr. Ai Brandt über die
Cyamiden des zoologischen Museums, (gedruckt im „Bulletin“,
Bd. XVIII, S. 113 — 133), in welcher eine neue Art, Cyamis Kess-
leri, eines Parasiten des Walfisches, beschrieben wird. Sonst werden
noch 9 Arten dieser an Arten armen Gruppe krebsartiger Thiere
besprochen. Die Akademiker Otto Strvve und A. N, Ssawitsch
empfahlen zum Druck im „Bulletin“ die Abhandlung des Hm. Lm-
demünn „Vorläufige Resultate in Pulköwa angestellter photometri¬
scher Beobachtungen“ (gedruckt im „Bulletin“ Bd. XVIII, S. 31—35).
Den Akademikern Brandt, Owssjanmkow, Schrenk und Strauch werden
zur Begutachtung übergeben: 1) eine Abhandlung des correspon-
direnden Mitgliedes Prof. Grübet „Ueber eine Variante des vom
Musculus semitendinolus abgehenden Musculus tensor fasciae
surales“, 2) „Studien über den Amphioxus lanceolatus“, von Prof.
Dr. Ludtü. Stieda in Dorpats Den Akademikern N. N. Siniti, B. 5 .
Jacobi und H. WM wird die Begutachtung einer Abhandlung von
H. Dorand „Zur Kritik der Ozonbeobachtungen“, den beiden letzt¬
genannten Herren Akademikern die Begutachtung der Zeichnung
und Beschreibung eines vom Ingenieur-Technologen Twerskoi
erfundenen Apparats zur Messung von Meerestiefen, Bestimmung
des Wasserdrucks und zur Heraufschaffung von Wasser vom Boden
des Meeres übergeben.
Akademiker Strauch las seine „Abhandlung“ Ueber die in Russ¬
land einheimischen Eidechsen-Arten aus der Gattung Stellio Daud.,
in welcher er nachweist, dass ausser der in Transkaukasien und
Persien vorkommenden Art Stellio caucasius Eichw., im Russischen
Reich noch zwei Arten dieser Gattung leben, und zwar: Stellio
himalayanus Steind., von welchem P1 FecUschenko ein Exemplar in
Turkestan gefangen und die von Lehmann im Anfänge der vier¬
ziger Jahre vom Oalyk-tan gebrachte Art Stellio Lehmanni, welche
neue Art auch in den Umgegenden von Khodschend gefunden
worden ist. Die Abhandlung des Herrn Strauch wird im „Bulletin“
erscheinen.
Es wird derClasse ein Brief von Perrey inLoriene, Departement du
Morbihan, vom 15. Mai, mitgetheilt, in welchem derselbe bei Ueber-
sendung seiner Abhandlung „Notes sur les tremblements de terre
ert 1869, avec Supplements pour les ann£es ant&ieures de 1843 ä
1868“, die Akademie um diejenigen ihrer Publicationen bittet, in
welchen Besprechungen von Erdbeben sich finden. Der Beständige
Secretär wird beauftragt Herrn Perrey für die Mittheilung seiner
Abhandlung zu danken und seinen Wunsch zu erfüllen.
Akademiker H. WM legte die Protocolle der Metercommission
aus den Jahren 1869 bis 1872 vor und berichtete über seine letzte
Reise nach Paris und über die Berathungen des vorbereitenden
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Comites, welchem die Untersuchung der Frage von den Prototypen
der Maasse und Gewichte des metrischen Systems überwiesen war.
An der auf den 12/24 September in Paris anberaumten Ver¬
sammlung der Metercommission nahmen Seitens der Akademie
Theil die Herren Jacobi, Struwe und Wild.
Akademiker K. J. Maxtntowicz machte der Classe den Vorschlag,
dem Conservator des Botanischen Cabinets der Akamedie, K. Th .
Meinshausen , Reisegeld zu erwirken, damit er die vom verstorbenen
Akademiker Ruprecht und ihm (Meinshausen) unternommene gründ¬
liche Erforschung der Flora des St. Petersburger Gouvernements
in den Flussgebieten der Norowa, Luga, Pljussa und des Qredesh in
diesem Sommer fortsetzen könne. Die Classe stimmte diesem Vor¬
schläge bei. Darauf berichtete derselbe Akademiker, dass er für
das botanische Museum eine Sammlung von Pflanzen, die im jahre
1871 Herr Hall am Oregon veranstaltet hat, durch Vermittelung
des Herrn Aza Grey in Cambridge erworben habe.
Eine Abhandlung des correspondirenden Mitgliedes der Akademie
Alex . Bunge in Dorpat „Ueber Hypogomphia, eine neue Labiaten¬
gattung aus Taschkend“ wurde von den Akademikern K. J. Maximo -
wicz und N. J. Shelesnow zum Druck im „Bulletin“ der Akademie
empfohlen. Diese bisher unbekannte Pflanze ist in einer Beziehung
sehr merkwürdig: sie ist von den mehr als 2500 Arten umfassenden
Labiatae die einzige, bei welcher vollkommen nicht das hintere,
sondern das vordere Paar der Staubbeutel entwickelt ist. Durch dieses
Merkmal nähert sie sich der australischen Gruppe der Prostantherae
aus der Familie der Labiaten; in ihrem allgemeinen Typus gleicht
sie aber mehr den europäischen oder asiatischen Formen dieser
Familie.
Akademiker Gregor von Heltnersen theilte der Classe mit, dass er
in Betreff der Frage über eine Wasserleitung für Wassili-Ostrow
einen Aufsatz abgefasst habe, welchen er in der russischen „St. Peters¬
burger Zeitung“ abzudrucken gedenkt
In der Sitzung vom 5. September zeigte der Beständige Secretär
den Tod des Correspondenten der Akademie, Mitgliedes des Instituts
und Directors des Pariser Observatoriums Ch. E. Delaunay, an.
Die Akademiker, denen die Begutachtung der Abhandlung des
Professors Kowalewski über das Anchitherium aurelianense (s. oben
S. 492) aufgetragen war, empfehlen ihre Aufnahme in die „Me-
moires“ aer Akademie, wünschen aber, dass der Verfasser zu seiner
Arbeit noch eine kurze Zusammenstellung seiner Beobachtungen
der Entwicklungsstufen der Gattungen Palaeotherium, Anchithe¬
rium, Hiparion und Equus hinzufüge. •— Akademiker Owssjannikow
berichtet, dass Herrn Stiedds Arbeit (s. obenS. 494) die erste gründ¬
liche anatomische Untersuchung aller Organe des durch seinen
Bau höchst interessanten Amphioxus lanceolatus enthalte. Nicht
nur die grobe Anatomie dieses Fisches sei dargelegt, sondern auch
die feinsten Theile seines Baues seien beschrieben. Zu bedauern sei
nur, dass die Untersuchung nicht an frischen, sondern in Spiritus
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aufbewahrten Exemplaren angestellt ist. Derselbe Akademiker
empfahl in seinem und im Namen der übrigen Mitglieder der biolo¬
gischen Section der Classe zum Druck im „Bulletin“ i) Professor
Metschnikow s „Vorläufige Mitteilung über die Embryologie der
Polydesmiden, 2) Dr. Alex . Brandts Aufsatz: „Ueber ein grosses
fossiles Vogelei aus der Umgegend von Chersson“.
Herr Jenkins aus London sendet der Classe, nebst zwei ge¬
druckten Abhandlungen ,i) More light; a dream in Science, London
1869, 2) VVhat is matter, London 1869) handschriftliches Memoire
„Sur la natu re et la Constitution de la Terre et des corps celestes“
ein, welches dem Akademiker A N. Ssawitsch zur Begutachtung
übergeben wird. Demselben wird auch die Durchsicht des vom Di-
rector der Wilnaer Sternwarte eingesandten Jahresberichts für 1871
aufgetragen.
Akademiker Fr . Bratidt theilte der Classe einen Abdruck seiner
im LXV. Bande der Sitzungsberichte der Wiener Akademie erschie-
neuen Abhandlung mit: „Bemerkungen über die untergegangenen
Bartenwale (Balenoiden), deren Reste bisher im Wiener Becken
gefunden wurden“. Demselben wird auch zur Begutachtung über¬
geben der Brief des Admirals Possiet aus der Capstadt vom 26 Juni
(8 Juli), in welchem derselbe der Akademie mittheilt, dass der Pro¬
fessor der Rochester-Universität Henry A. Wond beabsichtige, dem
Zoologischen Museum der Akademie drei Büffelhäute und ein Büffel¬
skelet darzubringen, wofür er, wenn es möglich sein sollte, eine
Sammlung russischer Mineralien sich ausbitte.
Auf Allerhöchste Verordnung sind der Akademie übergeben die
von Seiner Kaiserlichen Hoheit dem Grossfürten Alexej Alexan-
drowitsch aus Amerika eingesandten Karten und Bulletins meteoro¬
logischer Beobachtungen, welche auf den Posten der Dislocation
✓ der Armee der Vereinigten Staaten angestellt werden. Es wird
bestimmt dieselben der Bibliothek des Physikalischen Central-Obser-
vatoriums zu übergeben.
Akademiker N. /. Kokscharow überreichte der Classe im Namen
des Beständigen Secretairs der Neapolitanischen Akademie der
Wissenschaften, des Senators Scacc/u ,, zwei gedruckte Abhandlungen:
1) Sülle forme cristalline di alcune compocti di tuene, 2) Dei cristalli
di solfate di Rome.
In der Sitzung vom 19. September legte derselbe Akademiker
der Classe vor eine Karte des Vesuvs, den er in diesem Sommer
besucht hatte und las eine Abhandlung „Ueber Afterkrystalle des
Malachits aus den Turjinschen Kupfergruben im Ural“. Diese Ab¬
handlung wird im „Bulletin“ erscheinen. Die zur Begutachtung von
Professor Grubers Abhandlung „Ueber eine Variante des Musculus
tensor fasciae suralis“ (s. oben S. 494) ernannte Commission empfahl
dieselbe zum Druck ira „Bulletin“ (s. Bd. XVIII, No. 2).
Akademiker A . N.Ssawitsch referirte über den Bericht der Wilnaer
Sternwarte für 1871. Gegenstand der Thätigkeit der dortigen Astro¬
nomen waren: Beobachtungen an der Sonne mittelst eines Photo-
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497
liographen und eines sechszolligen Refractors, Beobachtungen der
Verfinsterungen der Jupiter-Trabanten und photometrischc Unter¬
suchungen über die relative Lichtstärke einiger Sterne. Hervorge¬
hoben wurde vom Referenten die äusserst gelungene Ausführung
der photographischen Bilder. Ausser astronomischen Arbeiten
wurden, wie auch früher, meteorologische Beobachtungen .ange¬
stellt und das Observatorium unterstützte die örtliche Section der
Geographischen Gesellschaft bei der Errichtung meteorologischer
Stationen. Die Classe verfügte den Druck des Berichtes in der russi¬
schen Ausgabe der akademischen Abhandlungen ( 3 anncKH „Sapiski“)
und die Uebergabe der Abdrücke der photographischen Aufnahme
der Sonne an die Sternwarte in Pulkowa. Dem Director des Wilnaer
Observatoriums, Hrn. Smysspw wurde der Dank der Akademie für
seine sorgfältige Leitung der Anstalt votirt.
Das correspondirende Mitglied der Akademie, Professor Merklin
hatte für die akademische Bibliothek je ein Exemplar seiner in russi
scher und deutscherSprache in zweiter Auflage erschienenen „Unter¬
weisung zum Untersuchen verdächtiger Blecken, für Acrzte und
Juristen 1 * so wie der botanischen Abtheilung des Catalogs der
Bibliothek der Kaiserlichen Medico-Chirurgischen Akademie einge-
sandt.
(Das Demidow’sehe Juristische Lyeeum in Jarosslaw.
Im Jahre 1803 bestimmte Paul Grigorjewitsch Demidow seine im
Gouvernement Jarosslaw belegenen Güter (mit 3500 Bewohnern)
sowie ein Capital von 100,000 Rubel zur Gründung einer höheren
Lehranstalt in der Stadt Jarosslaw. Der ursprüngliche Plan des
Spenders dieser bedeutenden Gabe ging dahin, in Jarosslaw eine
Universität errichtet ziT sehen. Der damalige Cultusminister Graf
Sawadowski hielt es indessen für unmöglich, diesem Wunsche
Demidows nachzukommen, weil die dargebrachten Mittel trotz ihrer
relativen Grösse doch zur Erreichung des Zieles nicht ausreichen
konnten. Er begnügte sich daher mit einem Mittelding von Univer¬
sität und Gymnasium, das den Namen „Jarosslawsche Demidow’sche
Schule für höhere Wissenschaften* * erhielt und setzte folgenden
Lehrplan fest: Russische, Griechische und Römische Literatur und
Sprache, Philosophie, Natur- und Völkerrecht, Reine und Ange¬
wandte Mathematik, Naturgeschichte, Politische Geschichte nebst
den Hülfswissenschaften, Politische Oeconomie und Finanzwissen¬
schaften. 1805 wurde dieses Programm bestätigt und blieb bis 1834
in Kraft, wo die Anstalt den Namen Lyeeum erhielt und in Bezug
auf den Lehrplan der staatswissenschaftlichen Facultäten einigen
deutschen Universitäten einigermaassen nachgebildet wurde. Einige
nicht speciell zur Sache gehörige Gegenstände, wie Mathematik,
33
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Russische Literatur, Lateinische Sprache wurden indessen beibe¬
halten. 1845 wurde die Philosophie gestrichen und an deren Stelle 7
ein Lehrstuhl für Technologie und Agronomie errichtet. Die Be¬
schränktheit der Mittel jedoch einerseits, welche nicht erlaubte, die
gehörige Anzahl Professoren anzustellen, und die steigenden An¬
forderungen andererseits bewirkten, dass der durch die Liberalität
eines Privatmannes ins Leben gerufenen Bildungsanstalt völliger
Verfall drohte. Unter diesen Umständen wurde im Jahre 1866 durch
den noch jetzt fungirenden Unterrichts- und Cultusminister
Grafen D. A. Tolstoj die Reorganisation der Anstalt in Angriff ge¬
nommen. Der Minister entschied sich für die Verwandlung des
Lyceums in eine selbstständige juristische Facultät, weichein jeder
Beziehung den juristischen Facultäten der russischen Universitäten
gleich gestellt werden sollte. Nachdem dieser Vorschlag die Aller¬
höchste Bestätigung erhalten hatte, und der erforderliche jährliche
Zuschuss von einigen 30,000 Rbln. zu den 16,000, welche die Demidow-
sche Stiftung an Zinsen abwirft, bewilligt war, konnte die feierliche
Eröffnung des rcorganisirten „Dcmidow’schen Juristischen Lyceums“
am 30. August 1870 erfolgen. Der Bericht über die Thätigkeit der
Anstalt liegt in dem officiellen Theil der drei ersten Hefte ihres Jahr¬
buchs J ) vor, und Referent entnimmt ihm noch folgende Notizen:
Von den durch die provisorischen Statuten bestimmten 10 juristischen
Cathedern sind 7 besetzt. Drei jüngere Kräfte sind zur Vorberei¬
tung für von ihnen zu übernehmende Lehrstühle mit Reiscstipendien
ins Ausland bedacht worden. Die Zahl der Studenten belief sich
am 1. Januar 1872 auf 139, von denen 27 Stipendien (incl. einmalige
Unterstützungen und Vorschüsse) im Gesammtbetrage von 2643
Rubeln erhielten. Die Mittel zu diesen Stipendien etc. werden von
dem „Jarosslawer Verein für Unterstützung hilfsbedürftiger Stu¬
denten des Lyceums“ aufgebracht, dessen Capital sich am 1 .Juli 1872
auf 4600 Rubel belief. Die Bibliothek bestand am I. Januar 1872
aus 3399 Nummern, in 7356 Bänden.
Der nicht officielle Theil der drei vorliegenden Hefte des Jahr¬
buchs enthält, ausser einigen kleinen Artikeln Antrittsvorlesungen
u. dgl., folgende grössere Abhandlungen mit besonderer Pagi-
nation, von denen bei ihrer Beendigung Separatabzüge erscheinen
werden: 1) Chrestomathie zur Geschichte des Russische^ Rechts von
Wladimirski Budanozv (XpHCTOMaTia 110 ncTopitt pyccKaro npaßa).
Erste Lieferung 227 pp. (Heft 1 u. 2 des Jahrb.). Der Herr Ver¬
fasser giebt den mit kritischem und bibliographischem Apparat ver¬
sehenen Text folgender Denkmäler des russischen Rechts: Friedens¬
verträge der Russen und Griechen unter Olega. 911, und unter
Igor a. 945. Prawda Russkaja. Friedensvertrag der Nowgoroder
*) BpeMemuiKi. Acmhaohckoio lOpeaMHecKaro JIuae*. Kmrra I, 2 h 3, d. i. Jahrbuch
des Demidow’schen Juristischen Lyceums. Band I—3. Jarosslaw 1871 — 72. 8“.
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_499 _
mit den Deutschen a. 1195. Vertrag des Ssmolenskischen Fürsten
Mstislaw Dawidowitsch mit Riga, Gothland u. d. deutschen Städten
a. 1229. Testament des Nowgoroders Kliment aus d. 13. Jahrh.
„Ustavnaja Gramota“ des Grossfürsten Wassilij Dmitriewitsch ver¬
liehen den Bewohnern der Dwinaländer. Die Pskowsche Ssudnaja
Gramata. Die Nowgorodsche Ssudnaja Gramata. Vertrag Now¬
gorods mit Casimir IV. Wladimir’s Ustav über die geistlichen Ge¬
richte. Jarosslaw Wladimirowitsch’s Ustav über dieselben. — Die
beiden folgenden Lieferungen sollen Auszüge aus den wichtigsten
juristischen Denkmälern der folgenden Perioden d. russ. Geschichte
bringen, entsprechend dem Plane des ganzen Werkes, — die Stu-
direnden mit einem handlichen und nicht theuren Hülfsmittel zum
Quellenstudium des russischen Rechts zu versehen. 2) N. N . Wo-
roschilow . Kritische Uebersicht der Lehre von der Theilung der
Staatsgewalten (451 pp. Heft 1, 2, 3 d. Jahrb.). 3) AI. N. Rapustin .
Cursus der Rechtsgeschichte (240 pp. Heft 2 u. 3 d. Jahrb.) Fort¬
setzung folgt.) 4) Die Wissenschaft vom Staate, als Gegenstand der
höheren Fachbildung von N. K . Nelidow (p. 115—219 des 3. Heftes
des Jahrb.), welche einen interessanten Einblick in die Entwickelung
der russischen Universitäten unter Nicolaus I. erlaubt.
(Die Naturforscher-Gesellschaft von Neu-Russland).
War Odessa durch Verkehr und Handelsthätigkeit bisher die weitaus
bedeutendste Stadt des südlichen Russlands gewesen, so hat sich in
jüngster Zeit durch die Gründung einer Universität daselbst auch
das wissenschaftliche Leben zu entfalten begonnen und verschiedene
gelehrte Gesellschaften ins Leben gerufen. Zu letzteren rechnet auch
die 1871 begründete „Naturforscher-Gesellschaft“ von Neu-Russland,
die sich zu ihrer nächsten Aufgabe die genauere Erforschung der
Naturerzeygnisse von Neu-Russland gesetzt hat, und bei der Reg¬
samkeit, die sie in der kurzen Zeit ihres Bestehens bereits bewiesen,
wohl zu der Hoffnung berechtigt, sie werde in Gemeinschaft mit
der Neu-Russischen Universität eine neue Epoche für die Natur¬
wissenschaften des Südens von Russland inauguriren. Der unlängst
erschienene Rechenschaftsbericht giebt für die Thätigkeit der Ge¬
sellschaft in dem zweiten Jahre ihres Wirkens die erfreulichsten Be¬
lege: von der botanischen Abtheilung sind die nördlichen Theile
des Taurischen Gouvernements durchforscht und die, im vorigen
Jahre begonnene Bearbeitung der Dnjestr-Flora im mittleren Bessa-
rabien durch neu hinzugekommenes Material vervollständigt worden,
während die Zoologen der Gesellschaft sich der Fauna der Krim
zuwandten und nebenbei das Zustandebringen einer zoologischen
Sammlung (unter anderem von 70 Fischarten aus der Bucht von
Ssewastopol)sich angelegen sein Hessen. Die Vertretung naturwissen¬
schaftlicher Kenntnisse als ihre weitere Aufgabe erfassend, hat die
Gesellschaft sich nun auch ein Organ geschaffen, das dazu bestimmt
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Google
33
500
ist, ihre wissenschaftlichen Arbeiten über den engen Kreis der Pro¬
vinz hinaus zu einem Gemeingut für Fachmänner und Freunde der
Naturwissenschaften zu machen. Dasselbeführt den Titel: ,, 3 anncKH
HoBopocciftcicaro OömecTBa EcTecTBonncanejietPf (Memorien der
Naturforscher-Gesellschaft von Neu-Russland) uud ist bis jetzt davon
erschienen Band I, Lieferung i, mit drei lithographirten Tafeln.
Odessa, 1872. 8°. Ausser dem Jahresbericht und den Protocollen
der Gesellschaft enthält diese Lieferung folgende Arbeiten.
J. F. Koschtschug: Entwickelungsgeschichte von Callithamnion
Daviesii Lyngb. und vonPorphyra LaciniataAg.—E. F. Klimenko:
Ueber die Pyro-Traubensäure.—N. K. Ssredinskij: Materialien zur
Flora von Neu-Russland undBessarabien.—I.M.Ssjetschenow. Einige
Bemerkungen über die Wirkung schnell auf einander folgender Er¬
schütterungen des Sehnervs. — S. K. Kusnetzow: Ueber Protein¬
stoffe.
Gleichzeitig mit dem ersten Band der Memoiren hat die Gesell¬
schaft unter russischem Titel als: ,,erste Beilage zum 1. Bande“ eine
umfassendere, auf den Gegenstand sehr sorgfältig eingehende Mono¬
graphie von Eduard von Lindemann: „Onepin> <j>jiophi XepcoH-
cicott TybepHin“ (ProdromusFlorae Chersonensis), Odessa, 1872, 8°.
veröffentlicht. Der Text, in lateinischer Sprache, umfasst 229 S.,
zählt 100 Familien unter den Phanerogamen, 3 unter den Crypto-
gamen auf, und wird mit einem russisch und deutsch geschriebenen
Vorworte und einem übersichtlichen Verzeichnisse des zu behan¬
delnden Gegenstandes eingeleitet (Seite I—LXII), so wie mit einem
alphabetischen Register abgeschlossen. Diese Monographie, die der
Verfasser als eine Ergänzung zur Flora Rossica von Ledebour be¬
trachtet wissen will, erhält in einer gleichfalls gesonderten zweiten
Beilage zum Bandei der Memoiren einen Anhang: „Cnncoicb
ynoTpeÖHTejibH'fctiiiiHX'b pacjeHift XepcoHCKoö 4>jiopi>i,“ (Index
plantarum usualium Florae Chersonensis), in welchem Herr von Lin¬
demann nicht nur die officiellen, sondern überhaupt alle practisch
verwerthbaren Pflanzen verzeichnet.
Literatur bericht.
B, Ee 3 odpd 3068 . rocyAapcTBeHHhiH aoxoam PocciH, nx-n KJiaccH^itKaiiifl, BburkuiHee co-
CTOHnie h ABiiKeHie 1866—1872. ( W.Bcsobrasow . Die russischen Staatseinnahmen,
deren Classification, gegenwärtiger Zustand und Bewegung 1866 — 1870).
Dieses Werk, welches in französischer Uebersetzung des Autors x )
1 Revenus publics de la Russie, leur Classification, leur Situation actuelle et lcur mou-
vement, in den Memoiren der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften. (Folge VII,
Band XVUI, No. 9.)
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auch dem nicht russisch lesenden Publicum zugänglich ist, be¬
reichert in erfreulichster Weise die Masse des schätzenswerthen
statistischen Materials, welches wir in letzter Zeit den eifrigen Be¬
mühungen des statistischen Centralcomites verdanken. Die von
Herrn Besobrasow zusammengestellten Tabellen bieten einen ausführ¬
lichen Einblick in die Bewegung der russischen Staatseinnahmen
während des fünfjährigen Zeitraums von 1866—1870; die streng¬
wissenschaftliche Classification, die der Arbeit zu Grunde gelegt ist,
sowie die zahlreichen erläuternden Anmerkungen, tragen nicht
wenig dazu bei, das Werk auch für Diejenigen vollständig verständ¬
lich zu machen, die mit den Eigenthümlichkeiten des russischen
Steuersystems wenig oder gar nicht bekannt sind.
Die Classification, die der Autor in einer ausführlichen Eipleitung
motivirt, ist folgende: Alle Staatseinnahmen theilt derselbe inSteuem
(im weiteren Sinne) und in solche Einnahmen, die in der industriellen
Thätigkeit des Staates ihre Quelle haben. Die ersteren zerfallen
ihrerseits in Steuern im engeren Sinne und in Gebühren. Diese
Eintheilung erklärt sich sowohl in Hinblick auf juristische, als auch
auf financielle und volkswirtschaftliche Gründe; die Steuern erhebt
der Staat auf Grundlage des ihm angehörenden Besteuerungsrechtes
zum Zwecke der Deckung allgemeiner Ausgaben und der Pro¬
duction gemeinnütziger Güter; die Gebühren werden ebenfalls auf
Grund eines allgemeinen Besteuerungsrechtes erhoben, jedoch als
Aequivalent für specielle Dienste des Staates, die die Unterhaltung
besonderer Institutionen erfordern.
Die industriellen Einkünfte des Staates lassen sich in zwei Haupt¬
gruppen eintheilen: Regalien und industrielle Staatseinnahmen iqi
engeren Sinne, als da sind: Einkünfte aus den Staatsdomänen und
sonstigem Staatsvermögen, Veräusserung desselben und schliesslich
Einnahmen aus industriellen Unternehmungen des Staates.
Neben der angedeuteten Classification finden wir in Herrn Beso-
brasow’s Buch noch eine zweite, der man unbedingt wissenschaft¬
lichen Werth zuerkennen muss und die eine besondere Bedeutung
für russische Verhältnisse besitzt; das ist die Eintheilung der Staats¬
einkünfte in solche, die von der Centralgewalt unmittelbar erhoben
werden, und solche, die ^in Form von Beiträgen von juristischen
Personen, Corporationen und mehr oder minder autonomen Landes-
theilen an den Staatsschatz geleistet werden und deren Quelle <Jem
directen Einfluss der Centraladministration nicht unterworfen ist.
Die Hauptcategorie dieser Art von Einnahmen besteht aus den Bei¬
trägen an den Staatsschatz seitens des Grossfürstenthums Finnlands
(welches bekanntlich in financieller Hinsicht eine vollkommene Au¬
tonomie geniesst), der Gou\*ernementslandschaften (Setnstwo), der
städtischen und ländlichen Gemeinden, der Kosakendistricte und
einiger anderer Corporationen. Ausser den Beiträgen rubricirt der
Autor in die in Rede stehende Categorie noch die Schenkungen an
den Staat und die zufälligen Einnahmen, d. h. solche, die in keiner
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5° 2
Weise der Gegenstand der Voraussicht oder der financiellen Be¬
rechnung sein können. *)
Als Hauptquelle, aus welcher die Ziffern der Tabellen geschöpft
sind, giebt uns der Verfasser die Rechenschaftsabschlüsse des
Reichscontroleurs an. (Dieselben werden, beiläufig bemerkt, in
letzter Zeit auch in deutscher und französischer Sprache vom Finanz¬
ministerium veröffentlicht.) Ausserdem jedoch theilt uns der Autor
in der Einleitung mit, dass er auch sonstiges, dem Publicum meistens
unzugängliches Material benutzt hat und dass es ihm nur auf diesem
oft sehr mühsamen Wege gelungen ist, sich über die wissenschaft¬
liche Bedeutung mancher namentlich untergeordneter Zweige des
Staatseinkommens Klarheit zu verschaffen. .
Zu dem Inhalte der Tabellen selbst übergehend, heben wir aus
dem reichhaltigen Material derselben einige specielle Gesichts¬
punkte hervor.
Die Gesammtsumme der Staatseinnahmen Russlands betrug seit
dem Jahre 1866: 2 )
1866 .418,285
1867 .463.397
1868 .469,987
1869 .498,283
1870 517,176
Das ergiebt eine Durchschnittssumme von 473,426,000 Rubeln und
eine Steigerung von 23 pCt für den ganzen in Rede stehenderi
Zeitraum.
Dieselbe Steigerung, die sich in der Gesammtsumme der Ein¬
nahmen erblicken lässt, können wir auch in den einzelnen Zweigen
des Einkommens, mit nur sehr wenigen Ausnahmen, constatiren.
In wirklich erheblichem Maassstabe verringert haben sich nur die
oben besprochenen subsidiären, von der Centralverwaltung Unab¬
hängigen, Staatseinnahmen (um 61 pCt.), einige staatsindustrielle
Einnahmen: Staatsbahnen (26 pCt.), Bergwerksbetrieb und Metall-
production (34 pCt.), Salinenbetrieb und Salzverkauf (46 pCt.) und
diverse andere commercielle und industrielle Unternehmen des
Staates (80 pCt.).
Das Nähere über diese Steigerungen giebt in übersichtlicher
Weise nachstehende Tabelle:
') Z. B. die im Laufe des Jahres 1869 in Turkestan erhobenen Kriegscontributionen.
2 ) Alle angeführten Summen sind sowohl in diesem Artikel als auqh in Herrn Beso*
bjrasow's Werke in Tausenden von Rubeln angegeben.
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503
! Procentsatz
Durchschnitts- ^ # Zunahme
Ziffer für denj oder Ver-
Zeitraum von | minderung
lfi ~ lC _ während
.866-1870 , mnfJaliren
Voranschlag
des
/ahres 1871
Procentalisches
Verhältn. zur
Gesammteinn.
a. Grundlage d.
Voranschlages
1 von 1871
Steuern.
Directe .
Personalsteuer (vor¬
wiegend Kopfsteuer)
71,331 + 14
72,705
13,9
Vermögenssteuer . .
27.125 + 36
31,618
6
Indirecte.
Zölle.
aö. iic _i_ 26
42,211
149,943
8
28,7
Getränkeaufschlag
(Accise und Patent¬
steuer) .
138,189 + 33
Tabaksteuer.
7,201 + 35
8,086
I,»
Zuckersteuer.
1,853 +289
2,723
0,5
Salzaccise.
6,724 -j- 26
8,260
1,6
Gebühren.
i) Als Aequivalent für
gerichtlichen und
administrativen
Schutz derPersonen
u. des Eigenthums
(Stempelpapier,Re-
gistrationsgebühr.,
Pässe, Gerichts¬
höfen) .
1
1
1
•
>4,330 + 23
15,401
3
2) Als Aequivalent für
Dienste des Staates
auf öconomischem
Gebiete (Wegegel¬
der und Schiflfs-
abgaben, Remune¬
ration für Land¬
messungen, Staats¬
gestüte u. s. w.) . .
1
1 1
1 ' ;
: 1
2,459
ii
2,752 |
0,5
3) Als Aequivalent für
Dienste des Staates
auf dem sittlichen
und intellectuellen
Gebiete (Einnahmen
der Lehranstalten
und der vom Staate
herausgegebenen
Publicationen) . . .
Cr»
O
+
er»
O
i
■
2,479
0,4
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504
\
| Procentsatz
Durchschnitts- d Zunahme
Ziffer für den 1 oder Ver-
Zeitraum von Minderung
_o~ ,c, rt während
1866-1870 fünf Jahren
Voranschlag
des
Jahres 1871
Procentalisches
Verhältu. zur
Gesammteinn.
a.Grundlaged.
Voranschlags
1 von 1871
4). Als Aequivalent für
diverse Dienste des
Staates (Diplome,
Attestate u. s. w.)^.
1.356
+ 25
4,648
0,:,
Industrielle Ein¬
nahmen des Staates
Regalien.
Post.
8,773
+ !3
9,808
i,s
Telegraphen.
2,737
-I-292
4,342
0,8
Münzregal.
3,803
+114
5,049
0,9
Lotterieregal.
228
+ 12
202
Spielkartenfabrication
18
0
18
Schiesspulverfabricat.
. 457
■ j- 28
758
0,1
Herrenlose Güter . .
IOI
0
80
Oeffentliche Anzeigen
325
_ 2 r
328
Industrielle Einnah -
men im engeren Sinne .
Ertrag des Staats¬
vermögens
a) des unbeweglichen
:
*
42,694
+ 9
45,066
8,6
b) des beweglichen
*,595
+ 28
6,811
M
Veräusserung von
Staatseigenthum . .
4 ,i 55
+ 356
15,316
%
1 2,9
.Rückzahlung dem
Staate geschuldeter
Summen.
45,997
+ 84
i
47,566
9 >i
Industrielle Unter¬
nehmungen des
Staates .......
39,989
1 -
36,648
7
Einnahmen , deren Quelle
von der Centrahm %val-
tung unabhängige ist.
Beiträge an den Staats¬
schatz .
2,796
— 73
4,073
f*
0,7
Schenkungen an den
Staat.
18
‘ — 30
218
Zufällige Einnahmen .
7,146
, — 53
: 4,610
0,8
Digitized by L^ooQle
505
In absteigender Progression je nach dem procentaüschen Ver¬
hältnis zur Gesammtsumme geordnet, ergeben die einzelnen Zweige
des Staatseinkommens folgende Gradation-/
I. Getränkeaufschlag . . . 28,7
2. Personalsteuer.13,»
3. Rückzahlung dem Staate
geschuldeter Summen . 9,1
4. Ertrag vom unbeweglichen
Staats vermögen. 8,6
5. Zölle. 8,0
6. Industrielle Unternehmun¬
gen des Staates ..... 7,0
7. Vermögenssteuer .... 6,0
8. Gebühren als Aequivalent
für gerichtlichen und ad¬
ministrativen Schutz der
Persoifcn und des Eigen¬
thums . 3,0
9. Veräusserung von Staats¬
eigenthum .. 2,9
10. Post. 1,8
11. Salzaccise. 1,6
12. Tabaksteuer. 1,6
13. Ertrag vom beweglichen
Staatsvermögen . . . . 1,3
14. Gebühren als Aequivalent
für diverse Dienste des
Staates .... *. 0,9
15. Lotterieregal. 0,9
16. Münzregal ... 0,8
17. Zufällige Einnahmen . . o,$
18. Beiträge an den Staats¬
schatz . 0,7
19. Gebühren als Aequivalent
für Dienste des Staates auf
öconomischem Gebiete . 0,5
20. Zuckersteuer. .. 0,5
21. Gebühren als Aequivalent
für Dienste des Staates auf
dem sittlichen und intellec-
tuellen Gebiet. 0,4
22. Schiesspulverfabrication 0,1
3amicKH HMneparopcKOä AKajeMiii Hayieb. Tomi> Auaauacb nepaoft/ KuHwica I.
C.-necep6ypaT>, 1872. 8°.
Abhandlungen („Sapisky**) der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Ild. XXI.
1. Heft. St. Petersburg, 1872. S. I —198. Mit Beilage No. I—II SS., No. 2 bis
LVI+236 SS. 8°.
Die St. Petersburger Akademie der Wissenschaften giebt jährlich
zwei Bände in vier Heften ihrer Abhandlungen in russischer Sprache
unter obenstehendem Titel heraus.
Das gegenwärtige Heft enthält: drei Reden, welche in der feier¬
lichen Sitzung der Akademie am 31. Mai dieses Jahres, zum zwei-
hundertjährigen Jubiläum Peters des Grossen gehalten wurden. Es
sind die Reden: 1) des Akademikers Otto Stnroe — Ueber die Verr
dienste Peter’s des Grossen um die mathematische Geographie Russ¬
lands (S. 1 — 19), 2) des Beständigen Sekretärs, Akademikers
K. S . Wesselowskij.— Ueber Peter den Grossen als Stifter der Aka¬
demie der Wissenschaften (S. 20 — 30), und 3) des Akademikers
Digitized by L^ooQle
So6
J. K. Grol — Ueber Peters^des Grossen Verdienste um die Auf¬
klärung in Russland (S. 31 — 86). Seines bedeutenden Interesses
wegen geben wir den Inhalt dieser drei Reden hier kurz an.
Das Ehrenmitglied der Akademie Carl Emst von Baer hatte zur
Feier des zweihundertjährigen Geburtstages des grossen Reforma¬
tors Russlands den Druck seiner Schrift „Peters des Grossen Ver¬
dienste um die Erweiterung der geographischen Kenntnisse“ be¬
endet l ). Akademiker Struve führt im Beginn seiner Rede an, dass
der allgemein verehrte Nestor der Naturwissenschaften in der ge¬
nannten Schrift nachgewiesen habe, wie sehr alle während der Re¬
gierung Peter’s ausgeführten geographischen Unternehmungen den
Stempel seines Characters an sich trügen, und dass der leitende
Gedanke zu jeder derselben immer von ihm selbst ausgegangen wäre.
Bei seiner Thronbesteigung fand der Zar keine wissenschaftlichen
Mittel vor, er musste sie gelbst erst schaffen. Die Früchte der
meisten seiner geographischen Unternehmungen zu erblicken, war
ihm nicht vergönnt; sie reiften unter den Regierungen seiner Nach¬
folger und gereichten ihnen zum Ruhm. Herr von Baer hat in seiner
gewohnten Bescheidenheit in der genannten Schrift sich darauf
beschränkt, diejenigen geographischen Unternehmungen Peter's
historisch vorzustellen, welche die Erkenntniss der Landesbeschaffen¬
heit des Reiches zum Ziele hatten, also in dasjenige Wissensgebiet
einschlugen, auf welchem der ehrwürdige Verfasser auf seiner lang¬
jährigen wissenschaftlichen Laufbahn so vielfach und so fruchtbar
zum Nutzen der Wissenschaft und des Vaterlandes gewirkt hat.
Die daher entstandene Lücke in Hinsicht auf die mathematische
Geographie und die Kartographie des Reiches und der angren¬
zenden Länder versucht Redner durch eine kurze Skizze der ein¬
schlagenden Arbeiten auszufüllen.
Erst im XVI. Jahrhundert hebj; sich etwas der Schleier, * welcher
über der Erdkunde Russlands lag. Bis dahin waren nur die Nord¬
gestade des Pontus durch die italienischen Karten des XIII. Jahr¬
hunderts, ferner Polen und die baltischen Länder durch die Handels¬
beziehungen Gross-Nowgorods zur Hansa bekannt gewesen. Es
wird die von Magin in Bologna im Jahre 1596 herausgegebene
Karte, ferner die Karte Isaak Massds (1612), der seine Materialien
in Russland sammelte und der Reise durch Russland nach Persien
von Olearius f so wie der „Grossen Zeichnung“ (Bojibinoft l IepTeMO>)
erwähnt. Massa’s Karte stützte sich, wie der Redner meint, wahr¬
scheinlich auf dieselben Materialien wie die für uns verlorene
„Grosse Zeichnung“, deren Anfertigung er mit Karamsin in die
Zeit des Zaren Fedor Iwanowitsch setzt. 1687 erschien des Amster¬
damers Nicolai Wilsen Karte, welche' für die Kartographie Russ-
Sie ist wegen Verzögerung in der Ausführung der für sie bestimmten Karten
noch nicht erschienen. Sobald sie erscheint, werden wir nicht säumen, sie in diesen
Blättern anzuzeigen.
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lands epochemachend ist. Peter der Grosse trat auf seiner Reise
nach Holland in die nächsten Beziehungen zu Witsen, welcher 1717
starb, als Peter zum zweiten Mal Amsterdam besuchte.
Nach der Einnahme von Asow im Jahre 1696 Hess Peter eine
Karte des Dons anfertigen, worauf die Aufnahme des Asowschen
Meeres erfolgte und 1701 war die Karte desselben gestochen. Sie
ist als die erste Probe einer vaterländischen Kartenausgabe zu be¬
trachten. Sie wurde aber nicht veröffentlicht, wahrscheinlich wegen
der Aufschrift, die schwerlich den Beifall Peters hatte („Super Ga-
ramantes et Indos proferet regnum“), und existirt nur noch im
Archiv des Hydrographischen Departements und erschien später,
aber ohne die prahlende Aufschrift, in des Admirals Cruys hollän¬
dischen Atlas des Dons nebst zwei Karten des Schwarzen Meeres,
welche den Italienern entlehnt sind, und einer Karte des Marmora-
Meeres. Dann folgte eine Karte des Schauplatzes des Krieges mit
der Türkei zwischen Don und Dnjepr, welche sich auf die vom
Artillerie-Hauptmann, späteren Feldmarschall Bmce ausgeführten
Aufnahmen stützte. Nach der Eroberung Ingermanlands wurde
in russischer Sprache eine Karte dieser neuen Provinz auf Grund¬
lage der früheren schwedischen Karten derselben herausgegeben.
Ihre Zusammenstellung wird vom Redner in das Jahr 1703 gesetzt.
Mit dem Namen Petersburgs ist auf ihr die Insel bezeichnet, auf
welcher damals der Bau der Peter-Pauls-Citadelle begann. Unmit¬
telbar darauf folgte eine Karte des Königreichs Polen und des
Grossfürstenthums Lithauen. 1714 erschien zum Nutzen der Zög¬
linge der Navigationsschule (seit 1715 ,;See-Akademie“) der aus
12 Karten bestehende Atlas der Ostseeoder des „Waräger-Meeres“
(„Kmrra paaM^pHaa rpa^ycHbixi» Kapx'b Ocn>- 3 ee hjih Bap£»c-
cKaro Mopn u ) welcher sich hauptsächlich auf ausländische Quellen
stützte. Im folgenden Jahre wandte Peter der Grosse seine Auf¬
merksamkeit dem Kaspisehen Meere zu. Koshin , Vau- Verden und
Ssoimonow sammelten das Material zu der Karte, welche alle bis¬
herigen Vorstellungen von der Gestalt des Kaspischen Meeres besei¬
tigte. Erst aus ihr erfuhr man, dass die Längenausdehnung des Kaspi¬
schen Meeres nicht von W. nach O., sondern von S. nach N. gehe.
Sie wurde vom Monarchen der Pariser Akademie mitgetheilt,
welche zwei Jahre früher ihn zu ihrem wirklichen Mitgliede gewählt
hatte. Durch seinen Leibarzt Blumentrost, dem spätem ersten Prä¬
sidenten der Akademie der Wissenschaften, Hess Peter der Pariser
Akademie auch alle merkwürdigenNachrichten über Sibirien mittheilen.
Die Karte des Kaspischen Meeres wurde später von Ssoimonow im
Einzelnen zu einem Atlas ausgearbeitet, welcher 1731 erschien.
1717 war Peterschon an die Ausführung eines längst gefassten Vor¬
habens gegangen — nämlich die Anfertigung einer Landkarte des
ganzen Staates. Es wurden mehrere Geödeten, die in der See-
Akademie gebildet waren, in verschiedene Provinzen geschickt, um
Specialkarten anzufertigen. Bis zum Jahre 1721 war ihre Zahl auf 30
gestiegen. Die Specialkarten wurden dem Senat eingeliefert, ausser-
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dem wurde auch eine Menge von geographischem Material durch
einzelne Expeditionen und Reisen gesammelt, sowohl im Innern
des Reiches als auch in den angrenzenden Ländern. Es sind hier zu
erwähnen: die Arbeiten Gärbcrs, Messerschtnidfs und Strahlen -
berg s — , die Nachrichten über Persien, Chiwa und Buchara, die
Peters Gesandte in diese Länder, Florio Benevini , sammelte, die
Expeditionen von Buchholz und Licharew zum Irtisch und in die Kir¬
gisensteppe zur Aufsuchung eines Weges nachjarkend, die Gesand-
schaft Unkozvskt s zu den Kalmüken, die Reisen von Isbrant Ides ,
Adam Br mit, Lorenz Lange , Ismailoiv und S. W. Ragusinski nach
China. Fast alle genannten Männer erhielten ihre Instructionen
persönlich vom Kaiser und berichteten auch meist direct an ihn.
Die Ausarbeitung des Atlas war dem Obersecretär des Senats
huan Kiriloiv aufgetragen. Die erste Karte des Atlascs (es waren
ihrer bei der Beendigung — im Jahre 1734 — 14 Specialkarten und
1 Generalkarte), war erst im Jahre 1726, also bereits nach dem
Tode Peter’s gestochen. Doch Peter’s Verdienste um die Geographie
schliessen nicht mit seinem Tode. Eine seiner letzten Thaten war
die eigenhändige Abfassung einer Instruction an den Capitän
Behring zur Untersuchung Kamtschatkas und zur Lösung der
Frage, ob Asien mit Amerika Zusammenhänge. Von Peter war
auch der Gedanke jener, wie C. E. von Baer sich äussert, in den
Annalen der Wissenschaft beispiellosen gelehrten Reisen nach
Sibirien, welche die Regierungen der Kaiserinnen Anna und Elisabeth
verherrlichten. Dabei muss als ein besonderes Verdienst Peter’s aner¬
kannt werden, dass er sich klar bewusst war, wie alle Bemühungen
um die Erdkunde erst dann eine Bedeutung erhalten, wenn sie auf
wissenschaftlicher Grundlage ruhen und dass er in Anbetracht dessen
die zweckentsprechenden Mittel ergriff. Zu diesen gehört die Be¬
rufung Joseph De FIsle's in die zu eröffnende St. Petersburger Aka¬
demie als Astronomen. Seit jener Zeit ward die weitere Bearbeitung
der Karte Russlands in die Hände der höchsten gelehrten Körper¬
schaft des Reiches gelegt. Bei der Akademie wurde auf De l’Isle’s
Initiative ein besonderes geographisches Departement errichtet, wo
ihre Ausbildung erhielten: Krassilnikow, Popow , Jsslenjew und an¬
dere Geödeten, denen wir die ersten genauen Ortsbestimmungen in
den entferntesten Theilen des Kaiserreiches verdanken. Durch die
Bemühungen der Mitglieder der Akademie, besonders Heinsius ,
Winsheim , unter der Leitung Leonhard Eulers , warde der vor¬
treffliche Atlas angefertigt, welchen die Akademie 1745 herausgab
und der bis zum Anfang dieses Jahrhunderts in Gebrauch blieb. In
ihm haben wir die Verwirklichung der Wünsche und Entwürfe
Peters des Grossen in Betreff der Kartographie Russlands.
Herr Akademiker Wesselowskij hob zunächst in seiner Rede
hervor, dass die Gründung der Akademie in engster Beziehung zu
dem Geiste und der Bedeutung der Reformen stehe, durch welche
Peter der Grosse in seinem Vaterlande ein neues Leben geweckt
habe. Wie Alles, was er unternahm, tragt auch diese Schöpfung den
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Stempel seines persönlichen Characters an sich. Als einen glän¬
zenden Zug aller Thaten Peter’i des Grossen bezeichnete der Redner
die Genialität, mit der er die Mittel wählte, die ihn seinen Zielen ent¬
gegen führen sollten. Die Natur hatte ihn mit freigebiger Hand aus¬
gestattet. Ein ungewöhnlicher Scharfsinn und eine ausserordent¬
liche Tiefe der Ueberzeugung vereinigten sich in ihm mit Willens¬
kraft und Thatendurst. Peters klarer Geist, durch den er über
seiner Nation stand und in mancher Hinsicht seinem Zeitalter voran¬
geeilt war, hatte begriffen, dass ohne Wissenschaft wahre Grösse
eines Volkes nicht möglich sei und dass, ohne sie in seinem Lande
heimisch zu machen, diejenigen Institutionen, die er zur Erneuerung
des staatlichen Lebens seiner Unterthanen in’s Leben rief, nicht ge¬
sichert sein könnten. Durch eine Entlehnung der nöthigen Kennt¬
nisse von Aussen, durch Uebersetzungen fremdländischer Bücher,
durch Berufung von Ausländern in den russischen Staatsdienst und
andere ähnliche Maassregeln, war für die Bedürfnisse des ersten
Augenblicks gesorgt; doch das Alles hätte nicht hingereicht, um
Russland auf der Höhe zu erhalten, auf welcher er es zu sehen
wünschte. Diese Einsicht weckte in ihm den Gedanken von der
Nothwendigkeit selbstständiger Beschäftigung mit der Wissenschaft
in seinem Vaterlande und einer Verpflanzung des Wissens des
Westens auf dessen Boden. Auch hier blieb er wie in andern Fällen
nicht bei halben Maassregeln stehen, und so sehen wir denn, wie in
seinem Geiste allmählich der Gedanke reift — in einem Lande, wo
cs noch keine Gelehrte, keine Universitäten, keine Gymnasien gab,
eine Anstalt zu gründen, welche zugleich Gymnasium und Univer¬
sität und höchste gelehrte Körperschaft wäre.
Der Redner schildert weiter, wie Peter wissenschaftliche Hülfs-
mittel sammelt, erwähnt seiner Besiehungen zu Leibnitz , zur Pariser
Akademie, zu Chr . Wolff , der Absendung des kaiserlichen Biblio¬
thekars Schumacher nach Frankreich, Deutschland, Holland und
England (im Jahre 1721), wobei demselben der Auftrag wurde, mit
Gelehrten Correspondenz darüber zu fuhren, wie eine Gesellschaft
der Wissenschaft zu gründen sei. Im Anfang des Jahres 1724
erhielt Blumentrost den Auftrag, das Project zu einer Akademie zu
schreiben, welches* der Leibarzt am Ende Januar in russischer
Sprache dem Kaiser vorlegte. Es ist höchst wahrscheinlich, dass
die wesentlichen Theile dieses Projects dem letzteren selbst ange¬
hören und dass Blumentrost nur die Redaction der ihm mündlich
mitgetheilten Gedanken ausführte.
Während er sich mit der Gründung der Akademie beschäftigte,
reifte in Peter’s klarem Geiste die Ueberzeugung, dass die Wissen¬
schaft an und für sich, in ihrer abstracten Bedeutung, überall und
besonders in einem Lande wie Russland, Gegenstand der Beschäf-
tigung nur eines kleinen Kreises, durch die Fürsorge der Regierung
dazu aufgemunterter Männer sein könne.
Ebenso wollte er, indem er dem damaligen Stande der Bildung
bei uns Rechnung trug, dass das von ihm zu gründende obere Colle-
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gium zugleich ein Centrum sei, aus welchem die Wissenschaftauf dem
Wege der Lehre und practischer Anwendung ins Leben dringe. Um
diesen Zwecken zu entsprechen, sollte die Akademie aus drei eng
mit einander verbundenen Theilen bestehen: i) aus der Akademie,
deren Mitglieder „um die Vervollkommnung der Künste und Wissen¬
schaften sich zu bemühen“, ferner nötigenfalls durch ihre Kenntnisse
die Behörden zu unterstützen, und für die Verbreitung und Ein¬
führung „der freien Künste und Manufacturen u zu sorgen hatten;
2) aus der Universität, in welcher die Akademiker öffentliche Vor¬
träge über ,,die Künste und Wissenschaften“ zu halten hätten, und
3) aus dem Gymnasium, „wo die Adjuncten oder Eleven der Aka¬
demiker Jünglinge in den Elementen der Wissenschaften zu unter¬
richten und sie zum Eintritt in die Universität vorzubereiten oder zu
Lehrern künftiger Schulen auszubilden hätten. Es war Peter nicht
vergönnt, die Eröffnung der Institution zu erleben, an deren Grün¬
dung sein Geist so eifrig gearbeitet. Nach dem Zeugnisse eines Zeit¬
genossen übertrug er auf seinem Todtenbette seiner Nachfolgerin
die Verwirklichung seiner Entwürfe in Betreff der Akademie, welche
anderthalb Jahre nach seinem Tode, am 29. December 1726, in
öffentlicher Sitzung feierlich eröffnet wurde. Mit ihr wurden bereits
damals die ,,Kunstkammer“ und die Bibliothek Peters, aus welchen
sich später die jetzigen Museen und die Bibliothek der Akademie
entwickelten, vereinigt.
Eine ebenso eingehende als anziehende Characteristik Peter’s des
Grossen als Menschen, Regenten und historische Persönlichkeit
finden wir in der Rede des Akademikers Grot, Der beschränkte
Raum für eine Anzeige gestattet uns nicht, diese umsichtige und lei¬
denschaftslose ßeurtheilung des Characters und der reformatori-
schen Thätigkeit des unsterblichen Mannes unsern Lesern vorzu¬
führen. Doch wollen wir eines Zuges in der gefeierten Persönlich¬
keit Peter’s, auf den der Redner aufmerksam machte, erwähnen.
„Selbstherrscher übe? Millionen, vereinigte er, vielleicht in Folge
eines besonderen Bedürfnisses seiner genialen Natur oder auf Grund
eines tief durchdachten Planes, mit der Herrscherwürdc den Charac-
ter einer privaten Persönlichkeit: die Ehren und die Rolle des Mon¬
archen übergiebt er einem Unterthanen, selbst tritt er in die Reihen
nicht nur der gewöhnlichen Bürger, sondern der Arbeiter; führt
mechanische Arbeiten fast in allen Zweigen technischer Fertigkeit
aus; verschmäht zuweilen nicht den bedungenen Lohn; singt in der
Kirche im Chor; fährt in Moskau um Weihnachten das Christkind
preisen; macht den Dienst von den niedrigsten Graden an durch;
erscheint vor dem vermeintlichen Caesar in der Eigenschaft eines
Unterthanen; empfängt aus den Händen seiner Grossen Belohnungen
und correspondirt mit vertrauten Personen als einer ihres Gleichen.“
„So zeigt sich uns Peter auf dem Throne als eine ganz ausnahms¬
weise und beispiellose Erscheinung in der Geschichte: nichts Aehn-
liches treffen wir bei andern Völkern. Man hat Grund anzunehmen,
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dass Peter so nicht aus Laune, sondern mit Absicht handelte, — um
einem wenig gebildeten Volke, welches bis dahin alle Grösse in
äusserem Glanze, alles Glück in müssigem und sorglosem Leben
sah, als Beispiel zu dienen.“
Nach den eben besprochenen drei Reden finden wir im gegen¬
wärtigen Hefte der „Sapiski“ 4) eine mathematische Abhandlung
des Akademikers 1). M. Perewoschtschikow (S. 87 — 106) über das
Integriren logarithmischer Functionen (MirrerpHpoBaHie jiorapne-
MHHecKHX'b <j>yHKu,iß, (s. oben S. 490); 5) einen Aufsatz des Ge-
hülfen des Directors des Wilnaer Observatoriums, Berg , über den
Photometer Schwerd’s und über die Absorption des Lichts durch
die Atmosphäre, für den Wilnaer Horizont (S. 107 — 112); 6) den
Bericht über die fünfzehnte Zuerkennung der Preise des Grafen
Uwarow, welche am 25. September in einer öffentlichen Sitzung
stattfand (S. 113 — 141); 7) Berichte über die Sitzungen des Ple¬
nums und der drei Classcn der Akademie während April — Sep¬
tember dieses Jahres (S. 142 — 193)- Auszüge aus den hier abge¬
druckten Sitzungsberichten der drei Gassen gaben wir im 4. Heft
der „Russischen Revue“ S. 405—406 und in diesem Heft S. 490
u. flg. Den Schluss des Heftes bildet 8) ein Aufsatz des Akademikers
/. /. Ssrcsncivsky über die Pandekten des Nikon Tschcrnogorez nach
einer alten Ucbersctzung (s. Heft 4. S. 405).
Die Beilagen zu diesem Heft bringen uns: No. 1 die russische
Ausgabe der von der „Russischen Revue“ in Heft 3 in deutscher
Ausgabe gegebenen Abhandlung des Ehrenmitgliedes der Akademie
5 . A . e Gcdeonow über die Raphaelischc Marmor-Gruppe „ein
todter Knabe, getragen von einem Delphine“, und No. 2 eine
ebenfalls in die Kunstgeschichte einschlagende, umfassende Arbeit
von D . Rowinskij: Wörterbuch der in Russland gestochenen Por-
traits (CjiOBapb pyccKHX'b rpaBnpoBaHHbixT> nopTpeTOBT»). Die
Beilagen zu den „Sapiski“ sind auch einzeln im Buchhandel zu
haben. Wir werden daher diese von gründlichen Studien und ausser¬
ordentlichem Fleisse zeugende Schrift in einem der nächsten
Hefte der „Russischen Revue“ besprechen.
Russische Bibliographie.
O Haiueft BoeHHoft pe4>op]vrfe cl sKOHOMimecKÄ tohkh ap'femH.
MocKBa. 8° 50cTp. (Ueber unsere Militairreform vom öconomischen
Standpunkte. Moskau. 8° 50 S.)
ÄpceHbeBb 4>. A., 3bipnHe h uxt oxothhhbh npoMbic;u>i. MocKBa.
8° 65 CTp. (Arssenjew, F. A. Die Syijänen und ihre Jagd-Gewerbe.
Moskau. 8° 65 S.)
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513
TpuropOBiim», A* B. ftopaöjib PeTBH3aHi>. Toä'b B'bEßpoirfe h Eb
poneftcKHX'B Mopxxi». C.-II6. 8° 391 cTp. (Grigorowitsch, D. W. Das
Schiff Retwisan. Ein Jahr in.Eurbpa und in den europ. Meeren. St.
Petersburg. 8° 391 S.)
flAPHHueß'b, H, M. PyccKax oöuijHHa bt> TiopM'h h ccbiJirk C-.IT6.
8° VII + 719 exp. (Jadrinzew, N, M. Die russische Gemeinde im Ge-
fängniss und im Exil. St. Petersburg. 8° VII + 719 S.)
Ky3HenoBi, M. C. PyccKo-HdsMeitKiH BoeHHo-TexHHHecKin cjioßapb.
C.-II6. 8 Ü 499 CTp. (Kusnetzow, J. S. Russisch-deutsches militairisch-
technisches Wörterbuch. St. Petersburg. 8° 499 S.) %
llyTeBOAMTeJib B1 > cbhtoü rpa4i> IepycajiHMi> ko rpo6y TocnoAHio
H npOMHMl» CBHTbIM'b MisCTaMT» BocTOKa M Ha Cimaft. C'h pnc. H no-
jiHTun. KieBT». 8° 208 CTp. (Führer zur heiligen Stadt Jerusalem, zum
heiligen Grabe und den übrigen heiligen Qrten des Orients und nach
dem Sinai. Mit Zeichnungen. Kijew. 8° 208 S.)
tfrpMKeHl», A. PuMCKix KaTaxoMÖbi h naMXTHHKH nepBOHanajibHaro
xpncTiaHCKaro HCKyccTBa. H. 1. MocKBa. 8° 189 CTp. (Fricken, A. Die
römischen Katakomben und die Denkmäler der Anfänge der christ¬
lichen Kunst. Th. I. Moskau. 8° 189 S.)
KpecTOBCKiM, B. Ha 3anaAi5 h Ha boctokIs. C.-II6. 8° 359 CTp. (Kre-
stowsky, W. Jm Westen und im Osten. St. Petersburg. 8° 359 S.)
MaKapOBi, C. noB'bcTH h3t> pyccKaro 6brra. Ob 6 pncyHKaMif.
C.-EI6, 8° 252 CTp. (Makarow, S. Erzählungen aus dem russischen
Leben. Mit 6 Abbildungen. St. Petersburg. 8° 252 S.)
TpayTUiOJlA'b, T. Ochobli reojioriH. H. I. TeoreHla h reoMop<j>ix.
(Trautschold, G. Elemente der Geologie. Theil I. Geogenie und Geo-
morphie.)
Tiüie, Mb. CoßpeMeHHoe cocroxHie napoßbix-b mojiotobt>. (Thieme,
Iw. Gegenwärtiger Zustand der Dampfhammer).
ycOAbließi», A. 0. Othcti> cHÖnpcKaro Oiyrfejia PyccKaro Teo-
rpa<i>HnecKaro OömecTBa. (Usolzew, A. Th. Bericht der Sibirischen
Abtheilung der Kaiserlichen Russischen Geographischen Gesell¬
schaft für das Jahr 1871.)
Tpy äh .flpocjiaBCKaro TybepHCKaro CTaTHCTHnecKaro Komhtctb.
(Die Arbeiten für die Statistischen Comit^s des Jarosslawschen Gou¬
vernements.)
POBMHCHiif, A- Cjioßapb pyccKHXT> rpaßnpoBaHHbixT> nopTpeTOBi».
(Rowinsky, D. Verzeichniss der russischen in Stich erschienenen
Portraits.)
St. Petersburger Kalender für das Jahr 1873.
C( 5 pOHHKT> CB r hÄ'tHifi O npaBOCJiaBHbTX’L MHCCUDCb H Ä'bHTeJIb-
hocth üpaBOCJiaBHaro MuccioHepcKaro OömecTBa. (Sammlung von
Berichten über die Missionen und die Thätigkeit der rechtgläubigen
Missionsgesellschaft).
Herausgegeben und redigirt unter Verantwortlichkeit von Carl Rüttger.
Ao 3 BOJieHO ueHaypoio. C-rieTep^ypn», 22 -ro Aeraöpa 1872 roAa.
Buchdruckerei von Röttger & Schneider, Newsky-Prospect No. 5.
Digitized by
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